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TOBOWYO
GESCHICHTE
DER
FRANZÖSISCHEN LITTERATUR
IM
XVII. JAHRHUNDERT
VON
FERDINAND LOTHEISSEN.
ERSTER BAND.
MIT EINER BIOGRAPHIE DES VERPASSERS.
ZWEITE AUFLAGE.
c^
WIEJS.
DRUCK UND VERLAG VON CARL GEROLD'S SOHN.
1897.
La
i297
Xji.
Inhalt des ersten Bands.
I. Teil.
Die Zeit des Übergangs. Seite
Vorwort V
Ferdinand Lotheisen VII
Einleitung 1
I. Die französische Litteratur zur Zeit der letzten Valois .... 14
II. Frankreich unter Heinrich IV 24
Politisches und sociales Leben ''^'^
Geistiges Leben 36
III. Malherbe 49
IV. Mathurin Regnier und Theodor Agrippa d'Aubigne 63
V. D'Urfe und der Schäferroman 87
VI. Das Hotel Rambouillet 98
VII. Die Ausbildung der Prosa. Balzac und Voiture 107
VIII. Die Lyrik 133
IX. Richelieu und die Akademie 157
X. Die dramatische Litteratur 174
Begründung einer Kunstbühne. Italienische und spanische Ein-
flüsse 174
Anfänge eines volkstümlichen Dramas. Alexandre Hardy. . . 193
Vordringen des Marinismus auf dem Theater. Die galante Ko-
mödie 201
Das regelmäßige Schauspiel , „ . 214
XI. Schlußbetrachtung 230
II. Teil.
Die Litteratur unter dem Einfluß der aristokratischen
Gesellschaft.
Einleitung 237
I. Leben und Bildung der vornehmen Gesellschaft 252
II. Die Ideale der Zeit 278
Seite
III. Die Pävalen Corneilles 293
IV. Corneilles Jugend (1606—1636) 320
V. Der Cid 361
VI. Der Streit über den Cid 376
VII. Die Höhezeit Corneilles (1636-1652) 389
VIII. Spätere Thätigkeit Corneilles und letzte Lebensjahre .... 435
IX. Corneilles Ideen über das Drama. — Sein Stil nnd poetischer Cha-
rakter 462
X. Botrou und Du Ryer 478
XI, Die Bühne und die Aufführungen 491
XII. Die philosophische Arbeit. Descartes ö09
XIII. Gegenströmungen. Der Skeptieismus. Die Satire und die Burleske . 537
Vorwort.
J_Jie vorliegende neue Auflage von Ferdinand Lotheißens
Geschichte der französischen Litteratur im siebzehnten Jahr-
hundert V7urde nach dem Handexemplar des verstorbenen Ver-
fassers besorgt, der nachträgliche Verbesserungen und Ergän-
zungen darin einzuzeichnen pflegte. Auf Grund derselben wurde
der alte Text korrigiert; an einzelnen Stellen ergänzt, und auch
das Kegister v\?urde für diese Auflage neu gemacht und vielfach
verbessert.
Ferdinand Lotheißen hat als Schriftsteller und Mensch ein
so gutes Andenken bei Schülern und Freunden hinterlassen,
daß man wol annehmen durfte, eine Geschichte seines Lebens
werde ihnen allen willkommen sein. Auf den folgenden Blättern
ist eine solche auf Grundlage seiner Briefe und Tagebücher ver-
sucht worden: nicht um seine Bedeutung als Gelehrter ins volle
Licht zu stellen, das ist schon von Berufeneren besorgt worden,
sondern um von dem Menschen Lotheißen zu erzählen, dessen
Seelenadel es auch bewirkte, daß seine Litteraturgeschichte nicht
bloß eine lehrreiche, sondern auch eine fesselnde und bildende
Lektüre wurde, die sich den besten Werken deutscher Geschichts-
schreibung würdig anreiht.
Wien, November 1896.
Dr. M. Necker.
FERDINAND LOTHEISSEN.
1.
rerdinand Lotheißen wurde am 20. Mai 1833 in Darmstadt
als der zweite Sohn des Eechtsanwalts Johann Friedrich Lotheißen
geboren. Eechtsanwalt Lotheißen (1796—1859) war ein überaus thätiger
Mann, der im Großherzogtume Hessen ein ehrenvolles Andenken hinter-
ließ. Seit dem Jahre 1836 im Staatsdienste, rückte Johann Friedrich bis
zum Hofgerichtspräsidenten vor und machte sich besonders verdient
durch die Erledigung des weitläufigen Verlassenschaftsprozesses nach
dem Herzog Georg Karl von Hessen, der sich seit dem Jahre 1827
fortschleppte, bis er 1853 Lotheißen übertragen wurde und dieser
ihn in den wenigen Jahren bis zu seinem Tode vollständig abwickelte.
Neben seiner reichen amtlichen Thätigkeit hatte er aber immer noch
Zeit und Kraft zur Verwaltung von Ehrenämtern gefunden ; er war viele
Jahre lang Mitglied und schließlich (1856 — 1858) Präsident der zweiten
Kammer der Stände, die ihn auch zum Director der Staatsschulden-
tilgungskassa gewählt hatte. Seine Gattin Sophie war eine Tochter des
Geheimrats und großherzoglicben Baudirektors Klaus Kröncke, der eine
Autorität im Wasserbaufache war und sich um die Rheinregulierung so
viel Verdienste erwarb, daß ihm ein ehrendes Denkmal an Ort und
Stelle gesetzt wurde. Von seiner Seite aus kam der künstlerische Sinn
in die Söhne seiner Tochter Sophie Lotheißen. Es war für dieselben
der Verkehr mit dem großväterlich Kröncke'schen Hause immer eine
freudige Abwechslung von der etwas geschäftlichen Nüchternheit im
eigenen Vaterhause. Doch ließ es Johann Friedrich Lotheißen an Sorg-
falt in der Erziehung nicht mangeln. Die Söhne erhielten frühzeitig
.Unterricht im Englischen und Französischen und hatten schon jung
Gelegenheit, das vortreffliche Darmstädter Theater häufig - zu besuchen.
Ferdinand, der spätere Biograph Molieres, wuchs in einer theaterfreudigen
Stadt heran, in der über schauspielerische Kunstfragen von der jungen
Welt mit großem Eifer geredet, gestritten und geschrieben wurde. Im
Darmstädter Hoftheater konnte er schon als Gymnasiast die Bekannt-
schaft der hervorragendsten deutschen Schauspieler und Schauspielerinnen
machen, die dort gastieiten. Der Kreis seiner Jugendfreunde bestand
aus künstlerisch angeregten Naturen; einer darunter, Reinhard Hall-
wachs, widmete sich auch berufsmäßig der Bühne, wurde ein Schüler
X
Emil Devrients in Karlsruhe, starb aber früh, bevor er noch zur
Blüte gelangte. Ein anderer Jugendfreund Ferdinands war sein viel
älterer Vetter Otto Müller, der Komanschriftsteller, der 1845 mit seinem
„Bürger" die Eeihe der litterarhistorischen Komane eröffnete, die ihm zu
den ersten Erfolgen verhalfen und auch den litterarischen Ehrgeiz Loth-
eißens erweckten. Mit Otto Müller, der Ferdinand um mehrere Jahre über-
lebte (t 1894), blieb er sein ganzes Leben lang in inniger Freundschaft
verbunden, die sich in kritischen Zeiten bewähren sollte.
Nach Absolvierung des Gymnasiums in Darmstadt bezog Loth-
eißen die Universität Göttingen 1851, wo schon sein um zwei Jahre
älterer Bruder Hermann die Kechte studierte. Am liebsten hätte der
dichterisch angeregte Jüngling alle Wissenschaften studiert, sowol die
des Geistes als die der Katur. Seine Neigungen zogen ihn in gleich
starker Weise zu beiden hin. Aber sein Vater hatte trotz seiner um-
fänglichen Thätigkeit als Rechtsanwalt, Staatsbeamter, später auch als
Spezialdirektor der Feuerversicherungsgesellschaft „Deutscher Phönix"
für das Großherzogtum Hessen (1851 — 1858) keineswegs Reichtümer
gesammelt; die Studien der drei heranwachsenden Söhne kosteten
auch Geld. Darum mußte sich Ferdinand früh für einen Beruf ent-
scheiden : er wählte den Lehrstand und studierte klassische Philologie.
In Göttingen blieb er vier Semester und hörte die Vorlesungen von
Schneidewin (Lateinische Syntax; Griechische Elegiker; Sophokles); Her-
mann (Cicero; Demosthenes; Juvenal; römische Litteraturgeschichte) ;
Wieseler (Griechische und römische Symbolik und Mythologie): Müller
(Paläographie und Diplomatik; Grammatik der althochdeutschen Sprache;
Nibelungenlied); Waitz (Geschichte des deutschen Volkes) und Griese-
bach (Allgemeine Naturgeschichte, Physiologie und Anatomie der Pflanzen).
1853 — 1854 verbrachte Lotheißen zwei Semester in Berlin, wo er
mit besonderem Fleiße die Vorlesungen von Böckh, Haupt, Lipsius,
Waagen hörte; 1855 in Gießen, der hessischen Landesuniversität, die
damals nicht sehr in Blüte stand, aber mit Rücksicht auf den ange-
strebten Dienst im Großherzogtum nicht umgangen werden konnte.
Lotheißen war von ursprünglich sehr zarter Körperbeschaffenheit
und hatte in seinen jungen Jahren sich durch viele Krankheiten durch-
zuschlagen. Sie setzten seinem großen Lerneifer manche Schranke und
waren auch der Grund für die ruhigere Gestaltung seines Studenten-
lebens, als es bei seinem sonst frischen und phantasiereichen Wesen
vielleicht geworden wäre. Er durfte nicht viel trinken und sich keine
körperlichen Anstrengungen zumuten. In Gottingen war er aber doch
XI
noch Mitglied eines Corps (Saxonia). Zu den dauernden Freundschaften,
die er dort schloß, gehört die mit dem nachmals zu so hohem Ansehen
gelangten Archäologen Conze. mit dem er im Kolleg bei Waagen, und
dann nach langer Trennung als Docent an der Wiener Universität (1871)
wieder zusammentreffen sollte. Das Studentenleben in Gießen stieß Loth-
eißen wegen seiner Leere und Rauheit ab, denn inzwischen war er
schon in Berlin gewesen, wo er unter der Fülle der Anregungen der
großen Stadt vollends aus dem Sturm und Drang hinausgewachsen war.
Mit einer wahren Leidenschaft bemühte sich Lotheißen , aus dem
Berliner Aufenthalt Nutzen für seine allgemeine Bildung zu ziehen. Er war
nichts weniger als einer jener Brodstudenten, die sich damit begnügen, ihr
Pensum zu erledigen, um nur bald die Prüfungen überstehen und in ein
Amt oder Ämtchen unterkriechen zu können. Theater, Konzerte. Museen,
Kunstausstellungen, Malerateliers, Gesellschaften suchte er mit Begier
auf, ohne darum seine Collegien im geringsten zu vernachlässigen. Von
allem Gesehenen machte er sich ausführliche Aufzeichnungen, die zum Teil
in Tagebuchblättern erhalten sind, und die in ihrer jugendlichen Frische die
ganze, idealistisch hochstrebende Persönlichkeit des einundzwanzigjährigen
Jünglings uns vor Augen stellen. Das neue Museum besuchte er in jeder
freien Stunde, die zwischen den Vorlesungen lag, oft dreimal des Tags
und bemühte sich , hinter das Geheimnis der Schönheit antiker Plastik
zu kommen. „Eine einzige Stunde ^ schrieb er am 27. Juni 1854 in
sein Tagebuch — fördert uns weit in der Ansicht der Kunst. Ich fühle
mich glücklich in diesen Kunstbestrebungen, umsomehr, da ich mir
keinen Vorwurf zu machen habe, wenn ich sie eifrig treibe, denn meine
Lehrer selbst haben mir dazu geraten. Wenn ich nur meine anderen
Fachstudien nicht vernachlässige, und das thue ich ja nicht. Ich habe
mit Mühe mein Interesse an den Naturwissenschaften etwas zurück-
gedrängt (o daß man überhaupt ein Interesse an etwas Edlem zurück-
drängen muß!) und bin froh, hier einen reichlichen Ersatz zu finden.
0 warum ist die Zeit zu gering, der Geist zu schwach, alles, alles
Wissenswürdige neben einander zu treiben ! Der arme Mensch muß aber
zufrieden sein, wenn er mit Nichtachtung alles anderen in einem Zweige
des unendlichen Wissens und Schaffens zur Höhe gelangt." Die Vor-
lesungen des Geographen Ritter, die ihn sehr anzogen, konnte Loth-
eißen zu seinem Leidwesen nur selten besuchen.
Von den Antiken ging er dann oft in die Ateliers der damals in
Berlin nicht zahlreich lebenden neuen Maler und Bildhauer: Hosemann,
Kasalowsky, Schubert, Teschner, Franz, Härtung, Dietrich. Er ließ sich
XII
von den Künstlern in die Technik ihrer Kunst einweihen , da er schon
damals wußte, daß ohne diese Kenntnisse das ästhetische Betrachten
ein mangelhaftes Wissen ist. Doch alle diese Aufzeichnungen abzu-
drucken, würde zu weit führen. Nur ein Tagebuchblatt, welches für die
spätere Eichtung seines politischen Bekenntnisses sehr bezeichnend ist,
mag hier folgen. Nach einem Besuche der königlichen Kunstkammer
schrieb Lotheißen am 22. November 1854 in sein Tagebuch:
„Unter allen historischen Erinnerungen zog mich wirklich nur
der alte Fritz an und das was ihn anging. Hier konnte ich mich des
Eindrucks nicht erwehren und wollte auch nicht, den sonst solche
Eeliquien nicht leicht auf mich machen, da es doch meist gar kleinlich
ist. Doch war Friedrich der Einzige'- ein wahrhaft großer König, und
schon ehe ich ihn würdigen konnte, wie jetzt, schon in meiner frühesten
Jugend war er mein Liebling, mein Ideal. Und so ließ ich mich gern
wieder von den alten Jugenderinnerungen durchziehen, als ich vor
Eeliquien des Mannes stand, für den ich einst so glühend schwärmte.
Freilich, wenn man das Hemd zeigt, worin er starb und Ähnliches, so
ist das mehr widerlich als ärgerlich."
Schon aus diesen wenigen Mitteilungen wird erhellen, wie hoffnungs-
voll und lebensfreudig dieses Dasein einsetzte, was für eine breite
Grundlage allgemeiner Bildung sich Ferdinand Lotheißen in seinen
Studienjahren legte. Er begann auch schon in dieser Zeit litterarisch
thätig zu sein und lieferte mehrere Beiträge für die Wiener Monatsschrift.
Nichts spricht mehr für die Bedeutung und anziehende Kraft
eines jungen Mannes, als die Freundschaften, die er in den Universitäts-
jahren zu knüpfen imstande war. Lotheißen war von einer Schar von
Freunden umgeben, die ihm noch viele Jahre treu blieben. Zu den
Berliner Freunden gehörte unter anderen Eobert Billroth, der früh ver-
storbene Bruder des berühmten Chirurgen Billroth, zu dem Lotheißen
später in Wien in freundschaftliche Beziehungen trat. Von Darmstadt
her war ihm der später durch sein Buch über Werther und seine Zeit
bekannt gewordene Gelehrte Appell innig verbunden. Die anderen Freunde
Dalton, Hornung, Crößmann, Schauenburg traten aus ihren Lebens-
stellungen später nicht in die weitere Öffentlichkeit.
Als aber Lotheißen nach der Gießener Promotion am 14. März
1856 (ohne mündliche Disputation, auf Grundlage einer Arbeit über
die Gestalt des Parasiten in der alten Komödie) mit den Universitäts-
studien fertig war, da atmete er doch erleichtert auf. Dies läßt
wenigstens ein Tagebuchblatt schließen, das er am 10. Dezember 1857
XIII
in Frankfurt a. M. schrieb, als ihm sein jüngster Bruder Eduard die
angenehme Nachricht brachte, daß er nun die Prüfungen alle glücklich
überstanden hätte. „Ich bin unendlich froh", heißt es da, „daß wir die
Universität nun alle (drei Brüder nämlich) hinter uns haben. Der Zu-
stand derselben scheint mir eben im höchsten Grade zerrüttet und un-
haltbar. Die Universitäten seien mit der allgemeinen Bildungsstufe der
Nation im Widerspruch; sie seien in eine unhaltbare Stellung geraten
— das ist nicht bloß eine allgemein verbreitete Phrase, sie ist auch
in vieler Beziehung eine Wahrheit. Früher waren die Universitäten die
einzigen Hüter und Bewahrer der Bildung und ein Stück derbster
Eoheit mochte man dabei eher übersehen. Heute, wo das Leben im
stärkeren Wogenschlag die Universitäten mehr und mehr bei Seite
schiebt, müßten sie sich umsomehr bestreben, eine walire Burg der
höheren idealistischen Bildungsrichtung zu sein. Da schmerzt es mich
dann und mein Sinn wendet sich von ihnen ab, wenn ich solche Er-
zählungen wie heute von Eduard höre, wonach Leute aus den ersten
Familien in Darmstadt betrunken am Boden liegend, sich balgen und
beißen. Solche Leute sind oft sehr liebenswürdig und fein in ihrem
Äußern, aber doch roh in ihrem Innern, und wenn sie dann berufen
werden, die höheren Staatsstellen zu übernehmen, so sind sie die rechten
Männer, wie mau sie wünscht: gefügig und ohne höheren Blick, denn
„zum Teufel ist der Spiritus", wenn überhaupt je welcher da war. Was
hilft es, wenn dann in späteren Jahren auch guter Wille und Ernst
eintreten möchte?"
Und gelegentlich einer Charakteristik seines Freundes Appell, der
sich als Autodidakt emporarbeitete und Lotheißens aufrichtige Achtung
gewann, obwol Appell noch für die christliche Romantik schwärmte, die
nicht nach seinem Geschmacke war, bemerkte Lotheißen:
„Ein Autodidakt kann einseitig sein und auch sehr lücken-
haft, aber meist bewahrt er sich besser das Leben und Feuer der Be-
geisterung. Übrigens ist am Ende ein jeder mehr oder weniger Auto-
didakt. Ich gestehe, daß mir die Vorlesungen der Universität sehr
wenig genutzt haben; kaum daß sie mir Anregung gaben." (26. No-
vember 1857.)
In späteren Jahren dachte Lotheißen freudig an die Universität
zurück und fühlte sich jung mit der Jugend, die er gerne um sich sah.
Zunächst ist zu erwähnen , daß er nach der Promotion in eine
schwere Krankheit verfiel, in einen Typhus, der ihn für längere Zeit
ans Krankenzimmer fesselte und im Sommer 1856 einen Aufenthalt im
XIV
Bad Ems nötig machte. Im Schuljahr 1856/57 machte Lotheißen
seinen „Acceß"' am Darmstädtei- Gymnasium, wie man das Probejahi
dort nennt. Aber es wird wol seine noch lange nicht gefestete Gesund-
heit gewesen sein, die ihn veranlaßte, eine Stelle als Erzieher im Hause
des reichen Großhändlers und Weingutbesitzers von Mumm in Frank-
furt a. M. anzunehmen. Der junge Gelehrte mußte sich sehr schonen;
er war blutarm, konnte nicht lange sprechen. Als Erzieher hatte er
doch weniger Anstrengung als am Gymnasium, und mit zwei Knaben
konnte er leichter fertig werden, als mit einigen Dutzend einer Schulklasse.
Zum Erzieher war Lotheißen wie geschaffen, weil er Energie und Milde
vereinigte. Über die Aufgaben und Pflichten des Erziehers enthalten die
Tagebücher einige Bemerkungen. So schrieb er am 18. Xovember 1857 :
„Meine Natur und Überzeugung führt mich in der Behandlung zur
Milde, zumal bei einem Charakter, der durch Heftigkeit früher einge-
schüchtert worden ist. Mit dem Schreckenssystem ist es freilich leichter zu
regieren, aber auch ohne Erfolge. Zumal beim Heranwachsenden muß man
mit Gründen kommen, nicht überall, aber doch oft; muß man mit ruhiger
Art die Vernunft anwenden, muß man etwas Spielraum für eigene
Selbständigkeit gewähren. Doch habe ich dabei die festesten Grenzen,
die ich unter keiner Bedingung überschreiten lasse. So erwirbt man
sich mit der Milde auch Liebe und zeigt zugleich Festigkeit und Achtung
vor den Gesetzen. Meine Schüler wissen, wie leid es mir thut. zu
strafen ; wenn ich es dennoch thue, so macht es ihnen um so viel mehr
Eindruck. Glücklicherweise kommt es nur selten vor."
Diese hier ausgesprochene Überzeugung hat Lotheißen immer fest-
gehalten ; er konnte sich als Erzieher nicht besser porträtieren.
Der Aufenthalt im Mumm'schen Hause gestaltete sich ihm sehr
angenehm. Es war ein großes Haus, worin Künstler und Männer von
Rang verkehrten. Lotheißen verstand es, sich die Achtung des Vaters
seiner Zöglinge zu erwerben und seine Stellung würdig und angenehm
zu gestalten. Er schildert Herrn v. Mumm als einen tatkräftigen Geschäfts-
mann , der Sinn für künstlerische Bestrebungen hatte und naturwissen-
schaftlich nicht gewöhnlich unterrichtet war: so recht eine Gestalt aus
der Zeit des aufstrebenden Eealismus. Aber gerade der war dem jungen
Gelehrten, der unbefriedigt von den Universitäten geschieden war. ein
neues und fessselndes Element, das ihm sowol im Leben als auch in der
Kunst (bei Courbet, von dem drei Bilder in Frankfurt ausgestellt waren)
entgegentrat, und mit dem er sich vertraut zu machen strebte. In
Frankfurt nahm Lotheißen jene Richtung auf den Realismus, die ihn zum
XV
Studium der modernen Philologie nach dem der altklassischen führte, und
die ihn zum Verfechter des modernen Sprachunterrichtes in den Keal-
schulen als ungefähres Äquivalent der in ihnen nicht gelehrten klassischen
Sprachen machte.
"Während seines Aufenthaltes im Mumm'schen Hause konnte sich
Lotheißen keiner einzelnen wissenschaftlichen Arbeit ausschließlich widmen.
Einmal litt er noch an den Folgen seiner schweren Erkrankung, dann
ließen ihm die übernommenen Pflichten doch nicht soviel Muße, um
etwas Größeres unternehmen zu können : er hatte die zwei Knaben in
allen Gegenständen zu unterrichten und das ging nicht ohne eigene ge-
wissenhafte Vorbereitung ab. Und endlich war er innerlich auch noch
nicht so weit fertig, um sich für einen einzelnen Zweig der V^issen-
schaft entscheiden zu können. Er hegte auch noch immer dichterische
Pläne und bosselte au einem Lustspiel (das sich nicht erhielt). Aber
darum blieb er doch nicht müßig. Er las viele Historiker: Rankes Ge-
schichte Europas im 17. Jahrhundert, Gervinus Geschichte des 19. Jahr-
hunderts, Häussers Zeitalter der Befreiungskriege, und machte sich
überall kritische Notizen. Dazu studierte er die Vorläufer Shakespeares.
und um sich im Französischen zu üben, worin er noch nicht sattelfest
war, las er unter anderem Dumas' Monte Christo, bei dem er es freilich
nicht lange aushielt. Er hatte überhaupt damals noch kein rechtes Ver-
hältnis zur französischen Litteratur, stand den Franzosen noch zu sehr-
in der Befangenheit des eifrig national gesinnten deutschen Parteimannes
gegenüber. Seine Sympathien waren damals und in den folgenden Jahren
vornehmlich den Engländern zugewandt, mit denen er sich stammverwandt
fühlte. ,.Ich bin nordischer", schrieb er nach einem Gespräch mit Appell
ins Tagebuch, der seine Begeisterung für Calderon und Dante geäußert
hatte. Zu jener Lektüre trat noch das eifrige Studium des Spanischen.
Außerdem konnte er seine alten Neigungen für Naturwissenschaften be-
friedigen. Der berühmte Erfinder der Schießbaumwolle, Dr. Eudolf
Böttger, lebte zu der Zeit in Frankfurt a. M. und hielt in seinem
Laboratorium Vorlesungen mit Experimenten, die viel besucht wurden
und auch Lotheißen anzogen. Aber alle diese Lektüre und Studien,
zu denen noch der Besuch der Bilderausstellungen, Theater und Kon-
zerte kam, füllten den stillen Erzieher im Frankfurter Kaufmannshause
noch lange nicht aus. Er besah sich auch das unmittelbare Leben und
Treiben der Stadt und suchte sich einen Begriff von ihr selbst zu ver-
schaffen. Zu dem Zweck studierte er auch die Frankfurter Stadtgeschichte
und entwarf Skizzen zu einem Essay darüber. Und in den Bemerkungen,
XVI
die er über den Charakter der Frankfurter niederschrieb, tritt zu Tage,
wie sehr ihm ihr weltliches und weltmännisches Wesen wol im Contrast
zu der Hof- und Beamtenstadt Darmstadt und zu den Schulmännern der
Universitätsstädte gefiel. So schrieb er unter anderem:
„Als ich so am Fluß (Main) entlang schritt, rechts die moderne
Riesenarbeit (der Verbindungsbahn), links die lange, stolze Straße mit
so manchen altertümlichen Spitzen, Erkern und Türmen, und hoch
darüber der Dom — da begriff ich, dass ich anfing, Frankfurt gerne
zu haben. Es ist eine alte, geschichtlich interessante Stadt, denkwürdige
Erinnerungen findet man in jeder Straße, bei jedem Schritt. . . . Aber
Frankfurt ist auch eine schöne Stadt. Welch eine Fülle großer Paläste,
stolzer Wohnungen, reicher Läden ! Man gehe um die St?dt durch die
herrlichen Anlagen, wie so leicht keine Stadt sie aufzuweisen hat, und
betrachte den Kranz der Villen. Zwischen all dem bewegt sich ein volles,
rasches Leben. Altes und Neues stößt zusammen und die Gegenwart
erfreut sich am Nutzen desselben.... Die Stadt ist reich und darnach
hat sich ihr Charakter gebildet. Die Bewohner sind lebhaft, feurig, leicht ;
ein sanguinisches Temperament. Die Großartigkeit ihres Handels, die
Bedeutung ihres Eeichtums erwecken in ihnen große Ideen und Pläne
und der Mut der Ausführung fehlt ihnen nicht. Wieviel große Unter-
nehmungen sind eben im Gang. Der kühne Verbindungsbau der Bahn-
höfe durch den Main, die neue Wasserleitung, das Zuchthaus. Man pro-
jektiert einen zoologischen Garten und einen Glaspalast für Ausstellungen
und Konzerte; man geht an eine Erweiterung und Verschönerung der
Stadt, und unterdessen baut der Einzelne in wirklich überraschender
Anzahl. Man sieht, die Hauptrichtung geht auf das materielle Wohlsein,
den Glanz und den Luxus eines wohlhäbigen Lebens, wie dies in einer
Hauptstadt natürlich ist. Wer aber deshalb den Frankfurtern Kunstsinn
absprechen wollte, würde sich irren. Allerdings muß die Kunst für die
meisten in modernem Schmuck erscheinen, aber wo fände man das
nicht? Es ist die Eichtung der Zeit. Die Leute sind nicht arm an
Bildung. Zwar fehlt ihnen bis hinauf in die höchsten Kreise das eigent-
liche Wissen, eine gründliche Schulbildung, aber mehr als genug wird
diese durch die Welterfahrung, durch die Reisen, durch die modernen
Sprachen ersetzt. Und mit großem Eifer giebt sich der Frankfurter der
Pflege der Kunst hin. Kunstverein, das Stadel" sehe Institut, das besetzte
Theater, die vielen gediegenen Konzerte legen Zeugnis davon ab. Tiefes
Eindringen braucht man nicht gerade zu erwarten, aber es macht sich
doch, man freut sich über das sichtliche Gedeihen...."
XVII
Dieses Hinausstreben Lotheißens über den traditionellen schön-
geistigen Menschen in Deutschland, über das Ideal der klassischen
Litteratur tritt auch in einer interessanten Aufzeichnung über die
Courbefschen Gemälde hervor, die in Frankfurt ausgestellt und Gegen-
stand lebhafter Debatten auch im Mumm'schen Hause waren. ,. Professor
Becker (der bekannte Maler) sprach sich (bei Mumms) heftig gegen den
cynischen Geist aus, der aus den Bildern rede. Freilich ist Becker ein
Hauptvertreter der allzu zierlichen Düsseldorfer Seitdem habe ich
die drei besprochenen Bilder (zwei Jagdstücke und das Mädchen, Ge-
treide durchsiebend) noch einmal betrachtet und studiert. In dem Jagd-
stück ist die Durchsicht durch den Wald prachtvoll, aber allerdings
manches verzeichnet, so die Beine des stehenden Jägers, so das Reh, das
Eehfell zu sein scheint. Die Schneelandschaft ist allerdings nu'- deco-
rativ gemalt, fast geschmiert, obgleich alles, selbst die schmutzigen
Schatten, überaus wahr ist. Und trotz allem diesem Fehlerhaften spricht
sich doch ein kräftiger Sinn in diesen Bildern aus, zeigt sich oft wunder-
bare Farbenharmonie, und überhaupt eine Behandlung der Farbe, die
nicht gewöhnlich ist. Alle anderen Bilder verschwinden dagegen, obwol
sie groß und ausgeführt sind." Freilich: ein absoluter Parteigänger des
Realismus ist Lotheißen nie geworden; die an der Antike geschulten
Augen behielten ihren Geschmack für das ganze Leben; aber er wuchs
doch in seine Zeit hinein und hielt nicht zu den Düsseldorfern
Diese Aufzeichnung über Courbet schließt mit den Worten: „Aber Gott
bewahre uns doch dafür, dass solcher Realismus in der Kunst herr-
schend werde.'' Und eine andere Aufzeichnung vom 8. Dezember 1857
lautet :
„Die Poesie und der Realismus des Kaufmannstandes dringt schon
mit solcher Macht auf die jungen Gemüter ein, dass ich es für eine
meiner Hauptaufgaben halten muß, den letzten Funken der Poesie nicht
ganz erlöschen zu lassen. 0 jetzt erkenne ich den Vortheil einer klas-
sischen, einer Gymnasialerziehung, wo der Jugend edle, warme Gefühle
und Ideale geweckt werden. Wer in seiner Jugend aber sich schon mit
Kurszetteln und Wechseln abgeben muß , der findet selten jenen Auf-
schwung. Ich lese in der Dinstagsstunde jetzt „Iphigenie" vor. Es
könnte vielleicht etwas früh für meine Schüler erscheinen, allein ich er-
kläre sie sorgfältig und eingehend. Zu diesem Vortrag habe ich mich
mit großem Fleiße vorbereitet , und wenn mir nur ein Teilchen Frucht
sich zeigt, so will ich zufrieden sein. Ich habe in meinem sechzehnten
Jahr Iphigenien sehr verebrt und geliebt. Freilich, andere Verhältnisse,
b
XVIII
andere Sitten. Aber was ich meine Schüler nicht in dieser Art kennen
lehre, bleibt ihnen, fürchte ich, für immer unbekannt."
Xeben diesen Beschäftigungen mit Geschichte, Kunst und Litteratur
interessierten Lotheißen, den Sohn eines Kammerpräsidenten, der von
Jugend auf politische Luft geatmet , auch die politischen Vorgänge der
Zeit. Frankfurt war noch der Sitz des Bundestags, Herr von Bismarck
der Vertreter Preußens daselbst, und die politische Luft war schon
sehr gespannt durch die Rivalität Preußens und Österreichs in Deutsch-
land, durch den Kampf für oder wider die Befreiung Schleswig-Holsteins
vom dänischen Joche, durch die Handelskrise in Hamburg im Winter
1857 auf 1858. Ich hebe nur zwei Xotizen aus dem Tagebuche hervor,
die auf Lotheißens spätere Politik hindeuten.
12. November 1857. ..Eine letzte Gelegenheit ist der Bundes-
versammlung gegeben , sich in den Augen des Patrioten zu rehabilitieren.
Das Schicksal der Herzogtümer ist in ihre Hand gelegt; versäumt sie
auch diesmal, Kraft, Energie und deutschen Sinn zu zeigen, so werden
nur wenig Jahre vergehen, und eine Revolution wird sie unwider-
bringlich zertrümmern. Man erwartet sich so wenig von dem Bundestag,
daß er sich durch ein richtiges Vorgehen eine gewisse Popularität sehr
leicht erringen könnte. Doch das wäre das erstemal.
3. November. Meine Hauptlektüre in der Geschichte ist jetzt Ger-
vinus Geschichte des 19. Jahrhunderts. Seine Behandlungsart ist in-
teressant und geistreich , aber ich habe schon einen oder den andern
Grundsatz gefunden, der mich stutzig machte und der mir nur da zu
stehen scheint, um die heutigen „Gothaer" zu verteidigen. Gervinus
nennt Bd. I, S. 11, eine große geschichtliche Erfahrung, daß — bei aller
Selbsttätigkeit — die Bescheidung in Verhältnisse und Schicksal das beste
sei, daß die Bourbonen z. B., so lange sie auf ihr Ziel mit Macht
unter Napoleon lossteuerten , alles sich verdorben hatten , daß sie aber
alles erreichten , als sie sich mit ergebender Entsagung fügten ! Das
finde ich stark. Nicht daß, sondern wie sie handelten, hat ihre an-
fängliche Tätigkeit zu nichte gemacht. Die Idee liegt nun zu nahe, daß
z. B. Schleswig sich ergebend fügen solle, um etwas zu erreichen. Die
Professoren mit ihrer Theorie! Übrigens stelle ich Gervinus recht hoch."
Das Frankfurter Tagebuch bricht mit dem Januar 1858 ab; es
langweilte schließlich seinen Schreiber und er hatte das Bedürfnis,
größere Arbeiten zu machen. Es waren vornehmlich englische Geschichts-
und Litteraturstudien, die er betrieb. Im ganzon sieht man, daß sich hier
der Beruf mehr eines Schriftstellers im weiteren Sinne . als der eines ge-
XIX
lehrtpn Spezialisten vorbereitet. Lotheißen hatte den Trieb, mit seiner Zeit
in Fühlung zu bleiben, seinen Anteil an der Bewegung der großen Nation
zu nehmen. Sein Ideal war damals und auch noch viele Jahre später
die freie Existenz des Schriftstellers, nicht der Beruf des Lehrers. Mit
den Feuilletons, die er jetzt und in den nächsten zwei Jahren in ver-
schiedenen Zeitungen veröffentlichte, hatte er sich einen guten Namen
gemacht. In einer Notiz vom 30. Juli 1860 verzeichnet Lotheißen,
daß ihn Bruno Bucher, der für die Wiener Zeitung wirkte und in Süd-
deutschland reiste, zu Beiträgen auffordern ließ. In dieser Zeit war Loth-
eißen Mitarbeiter des Frankfurter Journals, der Blätter für litterarische
Unterhaltung, der Grenzboten und später ein ständiger Mitarbeiter der
Frankfurter Zeitung. Seine Mitarbeiterschaft an der Wiener Monats-
schrift führte zu freundschaftlichen Beziehungen mit dem Fürsten Georg
Czartoryski : einem für Kunst und Litteratur begeisterten Manne, der den
Ehrgeiz hatte, in Wien eine kritische Zeitschrift zu schaffen, sich auch
viele Jahre mit ihr plagte und viel Geld für sie opferte. Seine Zeit-
schrift „Rezensionen" war in den ersten Sechziger Jahren ein ange-
sehenes Organ in der Wiener Tageslitteratur, und Lotheißen hat
auf Anregung des Fürsten den weiten Weg von Hessen nach Wien
öfter gemacht, um sich hier als Redacteur niederzulassen. Doch immer
scheitelten diese Versuche an dem Unvermögen des Blattes, dem Redakteur
eine finanziell gesicherte Existenz zu verschaffen. Die Beziehungen zum
fürstlichen Freunde hatten indes zur Folge, daß Lotheißen schon früh-
zeitig seine Blicke nach Österreich wendete, wohin er schließlich durch
eine merkwürdige Verkettung der Umstände gelangte — nicht als Re-
dakteur, sondern als Professor.
Den ersten Besuch in Wien machte Lotheißen im Jahre 1858,
nachdem er aus dem Mumm'schen Hause geschieden war, worin er doch
nicht allzulange bleiben mochte. Die Fahrt blieb ohne Resultat. Sich
dem unsicheren Leben von der Feder anzuvertrauen, lag nicht in der Art
eines Sohnes des hessischen Hofgerichtspräsidenten. Lotheißen kehrte
also sofort nach Darmstadt zurück, bewarb sich im Mai 1858 um eine
vacante Lehrstelle für Geschichte und klassische Philologie am Gymnasium
zu Büdingen am Fuße des Vogelberges in Hessen. Bei seinen vor-
trefflichen Qualificationen erhielt er auch alsbald die Anstellung, zunächst
für fünf Jahre, wie es das Gesetz vorschrieb, nach deren Ablauf und
erprobter Fähigkeit er definitiv angestellt werden sollte. Mit Beginn
des neuen Schuljahres trat Lotheißen sein Amt in Büdingen an, das
für seinen ganzen Lebenslauf von entscheidender Bedeutung werden sollte.
b*
^x
II.
Büdingen, die wälderreiche Eesidenz der mediatisierten Fürsten
Ysenburg . ■«ar eine kleine Stadt, mit all den Eigentümlichkeiten einer
solchen im Guten und im Üblen, wie es die Verhältnisse in der Enge
überall mit sich bringen: arm an Erwerbsquellen, mit scharf geson-
derten Parteiungen, mit seinem Klatsch und Tratsch neben familiärer
Gemütlichkeit. Aber es hatte auch ein damals sehr angesehenes Gym-
nasium, und dieses hatte seit 1829 einen Mann von ungewöhnlicher
Begabung zum Directör, den berühmten Übersetzer der Tragödien des
Sophokles Georg Thudichum. Dieser Mann war im Grunde seines
Wesens ein Dichter, und zwar ein echter, charaktervoller, im Goethe'schen
Sinne naiver Lyriker, der mit seiner universellen Bildung und der That-
kraft seines Naturells einen wahren Zauber auf alle ausübte, die in
seinen Kreis traten. Aus sehr schwierigen Verhältnissen hatte sich
Thudichum, der 1818 als Gymnasiallehrer und Pfarrer und zugleich als
Erzieher eines Ysenburgischeu Prinzen nach Büdingen gekommen war,
mit unermüdlicher Kraft zu einer im ganzen hessischen Lande ange-
sehenen Stellung als Pädagog, Theologe und Politiker emporgeschwungen.
Ihm hatte das Büdinger Gymnasium den großen Ruf zu verdanken, den
es zu der Zeit besaß, als Lotheißen dahin kam. Thudichum war ein
Genie als Erzieher; die großen Menschen hingen ihm nicht weniger
als die kleinen an. Sein kinderreiches Haus — drei Söhne und drei
Töchter, diese durch Schönheit und Geist in gleicher Weise ausgezeichnet
— war der Mittelpunkt der Büdinger Gesellschaft, und die freundschaft-
lichen Beziehungen des Vaters zum fürstlich Ysenburgischeu Hause
wurden von den Kindern beiderseits weiter gepflegt. An dem Direktor
Thudichum war trotz seines Lebens in der Kleinstadt, trotz seiner stets
recht bescheidenen Verhältnisse , die ihn zu viel Arbeit ums gemeine
Brot zwangen, doch nichts kleines, nichts kleinliches. Er war ungeachtet
seiner aufrichtigen, christlichen Gläubigkeit ein Schüler Goethes, mit
dessen Poesie er sich so erfüllt hatte, daß auch seine Verse das Gepräge
Goethe'scher Euhe, Klarheit und Natur erhielten. Voller Vertrauen und
Hingabe scharten sich nicht bloß die zahlreichen Schüler des Gym-
nasiums, sondern auch die Einwohner von Büdingen um diesen Mann,
den seine gelassene Heiterkeit und warme Verständigkeit nie verließ.
Thudichum war ein Meister der Rede auf der Kanzel, auf dem Katheder,
auf der Tribüne. Wäre es ihm gelungen, wie er anstrebte und woran
XXI
ihn nur die launische Glücksgöttin des Wahlloses hinderte, als Abge-
ordneter in die Paulskirche oder den norddeutschen Reichstag oder nach
1870 in den Deutschen Reichstag zu gelangen, so wäre er vielleicht
mit einer einzigen seiner klassischen Reden über die hessische Local-
berühmtheit weit hinausgewachsen. (Vgl. Friedrich Thudichum, Allge-
meine deutsche Biographie.)
Auch Lotheißen empfand die anziehende Macht dieser großen
Persönlichkeit, die da im entlegenen Büdingen segensreich wirkte. War
doch dieser universal gebildete Direktor ein Mann so recht nach seinem
Sinn! Und als vollends die jüngste, schönste und vielumworbene
Tochter desselben, Luise Tudichum dem neuen jungen Gymnasiallehrer
ihr Herz schenkte und sich schon wenige Monate nach seiner Über-
siedlung nach Büdingen mit ihm verlobte (10. Februar 1859), da
war er in die glücklichste Zeit seines Lebens gekommen. Am 24. Mai
1860 fand die Vermählung statt, der eine Hochzeitsreise nach London
folgte : eigentlich eine Studienreise, denn seinen zweiwöchentlichen Auf-
enthalt in der großen Stadt benützte er nicht bloß dazu, um sich
ihre Sehenswürdigkeiten anzusehen, sondern auch, um Studien im
Britischen Museum zu machen.
Gleich nach der Rückkehr (6. Juli 1860) begann wieder die Arbeit,
die sich im Bestreben, dem neuen Hausstand eine recht solide Grund-
lage zu schaffen, recht mühselig gestaltete. Neben dem Unterricht am Gym-
nasium (Geschichte durch alle Klassen , Griechisch , Lateinisch , später
noch Englisch) gab Lotheißen auch Privatun terricht und versuchte einen
Curs von Vorlesungen über englische Geschichte einzurichten. Im Herbst
1862 hatte er nicht weniger als 39 Unterrichtsstunden in der Woche
zu geben. Damit mutete sich der körperlich zart gebaute Mann wol zu
viel zu, und mancher Seufzer über die Zurückdrängung seiner eigenen
litterarischen Production entrang sich ihm. So schrieb er am 4. Januar
1862: »Ich fühle mich isoliert. Die reiche Bibliothek in Darmstadt,
das bischen lebendigere Treiben ließ mich das sehr empfinden". Die
Enge der Stadt Büdingen machte sich ihm bald fühlbar. Dabei hielt
Fürst Czartoryski mit Briefen aus der Redaktion der Rezensionen immer
den Gedanken an eine litterarische Stellung im großen Wien wach, und
die Unzufriedenheit des ins Joch gespannten Schriftstellers wuchs in
der Stille, bis sie auf einem anderen Felde in einer That zum Ausbruch
kam, die sein Leben radikal veränderte.
In diesen ersten Jahren des ereignisreichen siebenten Jahrzehnts
unseres Jahrhunderts nahm die deutsche Einheitsbewegung immer ent-
XXil
schiedenere Formen an. Friedrich Wilhelm IV. starb, sein Bruder Prinz
Wilhelm bestieg den preußischen Thron, Bismarck trat alsbald in den
Vordergrund , der Gegensatz zwischen Partikularismus und Einheits-
forderung verschärfte sich, und nirgends dürften die Gemüter mehr er-
regt gewesen sein, als im kleinen Hessen, weil sich hier mit der natio-
nalen auch die liberale Gesinnung gegen das partikularistsch-reaktionäre
Ministerium Dalwigk vereinigte. Daß Lotheißen national und freiheitlich
gesinnt war, wissen wir schon aus seiner Universitätszeit ; auch Direktor
Thudichum stand auf Seiten der Nationalliberalen, damals hessische
Fortschrittspartei genaunt. Er war schon 1849 Mitglied der hessischen
Ständekammer und gehörte zu jenen Abgeordneten , mit denen Dalwigk
im Streite lag, weil sie dem nicht konstitutionellen Ministerium, das
dem Landtag gegen den klaren Wortlaut der Verfassung keine Eechnung
ablegen wollte, das Budget verweigerten. Thudichum mußte seine
politische Opposition als Staatsbeamter büßen; das Ministerium Dalwigk ver-
weigerte ihm mehrere Jahre die ihm zukommende Besoldungsaufbesserung.
Als nun Lotheißen in seiner Eigenschaft als Schwiegersohn des oppo-
sitionellen Abgeordneten und Schuldirektors sich in Büdingen auch öffentlich
als fortschrittlicher Parteimann bekundete , so war das keine Förderung
für ihn in den Augen des hessischen Ministeriums , und bald fand sich
eine Gelegenheit, wo man ihn die Ungnade spüren lassen konnte.
Im August 1862 fand die Wahl der Wahlmänner für die Landtags-
wahl in Büdingen statt und Lotheißen sorgte mit seinem Freunde, dem
praktischen Arzte Dr. Emanuel Marcus (einem gesinnungstüchtigen und
charaktervollen Parteimann, der seither in Frankfurt a. M., in hohem
Ansehen bei den Kollegen und der Bevölkerung lebt), dafür, daß liberale
Männer gewählt wurden, und zwar mit enormer Majorität gewählt. Damit
begann seine öffentliche politische Stellungnahme und die Unzufriedenheit
der Regierung mit ihm. Denn natürlich kam ihr alsbald die Geschichte
zu Ohren. ,,Auf dem Ministerium fanden sie es , unbegreiflich', daß ich
so auftreten konnte, da ich noch keine fünf Jahre angestellt bin. Sie
begreifen nicht, daß ein Mann nach Überzeugung und Ehrgefühl handeln
kann, auch wenn er seine Stellung gefährdet", lautet eine Tagebuchnotiz
Lotheißens vom 22. September 1862. Er mußte nun in vielen kleinen
Quälereien die üble Laune der Regierung in Darmstadt fühlen. Anfangs
September 1862 war er mit Urlaub „in Familienangelegenheiten" nach
Wien gereist. Da er länger als acht Tage, nämlich zehn ausgeblieben war
und der Direktor ihm aus eigener Macht auch keinen längeren Urlaub hätte
bewilligen dürfen, so kam aus Darmstadt eine Rüge an die Direktion,
XXIII
obwol ein Präzedenzfall im Jahre vorher bei einem anderen Mitglied
des Lehrkörpers ohne Tadel abgelaufen war. Ende des Schuljahres 1862
nahm Direktor Thudichum Abschied von der Anstalt, trat in Ruhestand,
übersiedelte nach Darmstadt. Lotheißens Situation wurde damit in
Büdingen noch ungemütlicher, aber er ließ sich's nicht sehr anfechten.
Im Mai 1863 verzeichnet er: „In einer Geschichtsstunde ermahn ich
kurz , eifrig die Geschichte zu lernen , weil man sonst die Gegenwart
nicht verstehen könne, und achtzehnjährige junge Leute müßten doch
schon ein Interesse an der Entwicklung und der Geschichte ihres Vater-
landes haben. Das wird gleich denunzirt, und nach zwei Stunden
heult ein Kollege wieder von „Selbstbetrug" u. s. w. Ich sehe, daß
man immer weiter geht, wenn ich mich nicht wahre, und so habe ich
tüchtig die Zähne gezeigt. " Man versuchte es auch in fieundlicher Form,
ihn politisch kalt zu stellen, indem man ihm eine Gehaltszulage in Aus-
sicht stellte. „Ich entgegnete, ich solle doch meine Überzeugung nicht
verkaufen?" Zum Höfling hatte er keine Neigung, wie folgender Ein-
trag vom 26. Juni 1862 bezeugt:
„Morgen soll der Großherzog auf eine Stunde zum Besuch hierher-
kommen. Alles ist in Aufregung und schmückt. Es ist ganz recht und
konstitutionell, daß der Landesherr gefeiert wird, und muß auch so von
„Sr. k. Hoheit getreuen Opposition" geschehen. Und doch mutet mich
mancherlei sonderbar dabei an. Das Gymnasium , Lehrer und Schüler
will ihn am Schulgebäude erwarten , ein Begrüßungsgedicht ihm über-
reichen. Man wollte es mir zuschieben, doch dankte ich. Ich kann nun
einmal die alten abgelebten Formen nicht leiden ... So sprachen wir
neulich vom Doktorat. Wenn ich nicht muß^ brauche ich meinen Doktor
nicht und hätte nichts dagegen, wenn alle diese Zöpfe auch fielen".
Am meisten verargt wurde Lotheißen der Umgang mit Dr. Marcus,
der, populär und einflußreich, eine überaus lebhafte Agitation für den
Nationalverein entwickelte uud den Darmstädtern unbequem ward, ohne
daß man dem unabhängigen Arzt etwas anhaben konnte. Auf die Vor-
stellungen des neuen Direktors erwiderte Lotheißen: „Marcus ist ein
Universitätsfreund von mir, ferner ist er ein gebildeter Mensch, der
sich für vieles interessiert, dessen Umgang angenehmer und fördernder
ist, als der anderer, mögen sie wie immer heißen. Ihm steht im Weg,
daß er Jude ist. Ich bin stolz darauf, daß ich diesen Unterschied
nicht achte. Zuletzt hat uns noch die Politik zusammengeführt; er ist
infolge seines Auftretens für meinen Schwiegervater angefeindet worden,
und es war meine Pflicht, bei ihm zu stehen."
XXIV
Und der Schluß dieser ganzen Reihe von kleinlichen Vorwürfen,
die man dem oppositionellen Gymnasiallehrer zu machen hatte, war,
daß man seine provisorische Anstellung am Ende des ersten ab-
laufenden Quinquenniums trotz seiner anerkannten Tüchtigkeit als
Lehrer, nicht in eine definitive verwandelte. „Wir beauftragen Sie"
— hieß es in dem Erlaß der großherzoglich hessischen Ober-Studien-
direktion an den Büdinger Gymnasialdirektor Haupt vom 8. August
1863 — „dem Gymnasiallehrer Dr. Lotheißen zu eröffnen und ihn auf-
zufordern, bei Vermeidung sofortiger Entlassung, unverzüglich einen
Eevers dahin auszustellen, daß er sich die Widerruflichkeit seiner An-
stellung nach Maßgabe des §39 des Landtagsabschieds. . . auf weitere
fünf Jahre, vom Tag des Ablaufs seiner ersten fünf Dienstjahre an ge-
rechnet, gefallen lasse."
Also eine Maßregelung in unverhüllter Form, und als ihr Grund
wurde nachträglich in einem amtlichen Schreiben bezeichnet: „Das Ver-
halten des Dr. Lotheißen bei der Landtagswahl im vorigen Herbst,
wonach derselbe in einer öffentlichen Versammlung das Programm des
Nationalvereines vorgelesen und empfohlen und dadurch zu dem Be-
schlüsse mitgewirkt habe, daß keiner zum Wahlmann gewählt werden
solle, der nicht dem Programm des Nationalvereins zustimme."
Uns mutet dieses Schreiben ganz besonders merkwürdig an. In
Hessen gab es doch damals schon eine Verfassung und das Recht eines
jeden Bürgers auf freie politische Meinungsäußerung war gewährleistet.
Hier wurde aber auch nicht im geringsten Hehl daraus gemacht, daß
man einen Gymnasiallehrer, dessen Thätigkeit allgemeine Anerkennung
fand, bloß wegen seiner unbequemen politischen Gesinnung strafe und
überdies bloß auf Mittheilungen anderer hin, ohne ihn selbst zu be-
fragen oder zu verhören! Dabei unterlief der Motivirung noch ein Fehler,
denn Lotheißen hatte bei der W^ählerversammlung vom 12. August 1862
gar nicht das Programm des Nationalvereines vorgelesen.
Lotheißen war sofort nach Empfang dieses Bescheides entschlossen,
auf sein Amt zu verzichten. Er stand zunächst allerdings mit der Frau
und zwei Kindern brodlos da und mußte unter anderem auch jene
Pläne von einem Hauskauf fallen lassen, die er gerade jetzt gehegt
hatte. Allein er erklärte dem Gymnasialdirector in der letzten münd-
lichen Auseinandersetzung, die sie hatten: ,,Mein Betragen werde ich
nicht ändern ; man möge mir das Amt ganz nehmen , so fühle ich
doch die Kraft in mir, in der Welt fortzukommen. Ich möchte nicht
von mir so denken, wie ich von denke, der anfangs sich liberal
XXV
gestellt, dann bei der Entscheidung feig sich umgekehrt hatte. Ich
müßte mich sonst verachten." Und dieser ebenso mutige als charakter-
volle Schritt verfehlte nicht, Aufsehen in ganz Hessen zu machen und
brachte dem Opfer seiner politischen Überzeugung Zustimmung von
allen Seiten.
Gerade zu dieser Zeit kam aus Genf, wo Lotheißens Schwager
Karl Thudichum das Erziehungsinstitut La Chätelaine leitete, die Nach-
richt, daß sich dessen Eigentümer Roediger, der Schwiegervater Karls,
zurückzuziehen gedenke. Lotheißen wurde eingeladen, als Theilhaber dem
Institut beizutreten. Er ging auf den Vorschlag ein und im October
1863 war er schon mit Frau und Kindern in Chätelaine einquartiert.
IlL
Es war eine der besten Eigenschaften Ferdinand Lotheißens,
sich an jedem Wohnorte, in den ihn das Schicksal versetzte, mit dem
genius loci aufs- innigste vertraut zu machen. Wir sahen ihn schon als
zwanzigjährigen Studenten in Berlin bestrebt, nicht bloß aus den Vor-
lesungen an der Universität, sondern auch aus den Kunstinstituten in
der Stadt Nutzen für seine Bildung zu ziehen und nicht im engen
Kreis der Kollegen zu verharren. Als er in Frankfurt a. M. lebte, stu-
dierte er Natur und Geschichte der alten freien Reichsstadt und strebte
nach einer Gesammtanschauung ihrer Individualität, schrieb die Theater-
briefe an die Wiener Monatsschrift, die Abhandlung über Frankfurt
u. dergl. In Büdingen, wo doch eine so große Last von Schulpflichten
auf seinen Schultern ruhte, hatte er doch noch immer Zeit gefunden,
an der politischen Bewegung theilzunehmen. Es war eben nicht seine
Art, sich auf die vier Wände der Bücherstube zu beschränken und in
der papiernen Welt völlig aufzugehen. Seinem geistvollen Wesen war
die Mitarbeit an dem Treiben der Zeit ein Bedürfnis; und edelster Ehr-
geiz trieb den begabten Mann, der sich schon in diesen Jahren einen
guten litterarischen Namen als kritischer Essayist geschaffen hatte,
dahin, ein Leben im höheren Stile als dem des einfachen Berufsmenschen
zu führen. Die Leiden, die er infolge dieses höheren Strebens auf sich
nahm, ertrug er mit frischem Mute.
So mußte denn auch die Übersiedlung nach Genf tief einschnei-
dend auf die weitere Entwicklung seines so empfänglichen Geistes
XXVI
wirken. Ei- fühlte sich ja wie in eine neue Welt versetzt, die ihn
zunächst durch ihre Neuheit aufs lebhafteste anzog. Natur und Land-
schaft waren im malerischen Genf am See und mit dem Montblanc im
Hintergrunde anders, als in Büdingen. Die Menschen waren anders,
auch die tägliche Umgangssprache war anders. Weit in die Ferne ge-
rückt waren die leidenschaftlichen Kämpfe des deutschen Vaterlands um
seine Einheit; nur sehr wenige deutsche Zeitungen waren in Genf sicht-
bar. Hier lebte man wie in einer Idylle; hier herrschte die selbstbe-
wußte Euhe eines kleinen, aber zufriedenen Staatswesens. Auch der
Beruf Lotheißens war jetzt zum Teil ein neuer geworden. Bisher
war er nur Lehrer gewesen, jetzt war er, als Mitdirector von La Chäte-
laine, auch ein Stück Geschäftsmann geworden und mußte sich um die
administrativen und ökonomischen Sorgen des sechzig Zöglinge beher-
bergenden Instituts nicht minder als um die pädagogischen Pflichten
kümmern.
In alle diese neuen Verhältnisse verstand es Lotheißen, sich
mit seinem elastischen Naturell rasch einzuleben. Kam er nicht ohne
Bangen nach Genf, weil er sich dabei auch eine große finanzielle
Sorge aufgebürdet hatte, so griff er doch mit Mut und Lust seinen
neuen Beruf an. Für das Schulmeistern war er nie recht begeistert,
aber die Jugend liebte er stets und war ein guter Erzieher. Allmählich
fand er auch einen angenehmen Kreis von Menschen zum geselligen
Verkehr; seine junge, schöne, heitere und thatkräftige Frau Luise war
selbst ein anziehender Mittelpunkt in jeder Gesellschaft, in die sie trat.
Zu den Freunden, die sich Lotheißen hier erwarb, zählte, um nur
einen bekannten Namen zu nennen, der Naturforscher Karl Vogt, der
an der Genfer Hochschule wirkte, aber gleichzeitig auch der evangelische
Pfarrer und der jüdische Rabbiner. Groß freilich konnte der Kreis, in dem
sich Lotheißen in Genf bewegte, nie werden, denn die einheimischen Pa-
trizierfamilien gewähren keinem Zugewanderten Eintritt in ihre Kreise.
„Der Genfer verschließt sich jedem, dessen Familie nicht schon hundert
Jahre das Gebiet des Cantons bewohnt", klagt Lotheißen in einem
seiner Briefe. Seine Aufnahme als membre honoraire in die Societe na-
tionale de Geueve (21. Januar 1869) änderte nichts an dieser Isolierung,
in der er sich bei verzagter Stimmung recht einsam, wie Robinson auf
wüster Insel fühlen konnte. Dies wurde auch mit eines der Motive, die
ihn schließlich antrieben, von Genf fortzukommen.
Von den bedeutendsten Folgen ward aber sein Studium der fran-
zösischen Sprache und Litteratur, wozu ihn zunächst das praktische
XXVII
Bedürfnis veranlaßte. Es ist doch ein Unterschied, ob man eine Sprache
nur für den gelehrten Gebrauch, oder ob man sie im täglichen Uqi-
gang beherrschen lernt. Das fühlte Lotheißen sofort, er warf sich
darum mit aller Kraft auf das Studium des Französischen und ließ die
bis dahin mit so großem Eifer betriebenen Studien englischer Litteratur
und Geschichte zum Bedauern seiner Freunde unbenutzt liegen. Der
genius loci nahm ihn ganz gefangen. Er hörte ja den ganzen Tag
französisch sprechen ; mit den Schülern der Chätelaine unternahm er Öfters
Ausflüge in die Nähe (nach Chamounix z. B.) und auch weiter ins
Frankreich hinein und lernte so französisches Volk und französische
Sitten und Zustände aus eigener Anschauung kennen. Im Frühjahre 1865
machte er eine Fahrt der Ehöne entlang bis nach Marseille, ein Jahr
später durchwanderte er die Provence. Zu der genauen Kenntnis Süd-
frankreichs, auf der sein schönes Buch: „Die Königin von Navarra"
beruht, legte Lotheißen hier den Grund. Seine Eeiseeindrücke ver-
wertete er in Feuilletons, die er für die Frankfurter Zeitung schrieb
(April 1866). Die einzelnen Aufsätze über die Provence goß er dann
ganz um zu einem kleinen selbständigen Werk (nach Art etwa des
Gregorovius über Corsica), worin sich die Schilderung von Natur und
Geschichte des Landes zu einem schönen Ganzen vereinigte. Aber er
fand keinen Verleger dafür, und es blieb ungedruckt liegen. Das
sauber geschriebene Manuscript ist noch erhalten.
Überhaupt entwickelte Lotheißen gerade in der Genfer Zeit
einen großen Fleiß als Feuilletonist. Er war nach zweijähriger Probe
zu der Ansicht gelangt, daß es ihm nicht gegeben sei, ganz in der
Thätigkeit von Institutsvorstehern aufzugehen, daß ihm noch Zeit übrig
bleiben müsse zu litterarischer Beschäftigung. Darum verzichtete er nun
auf die Stellung eines Mitdirectors, wurde bloß Lehrer der Anstalt und
wußte sich die Ergänzung seiner Einnahmen mit der Feder zu verschaffen.
So entstanden die zahlreichen Feuilletons in der Frankfurter Zeitung und
auch in anderen angesehenen Blättern, die seinen Namen in der Tages-
litteratur der Jahre 1865 — 1869 aufs vorteilhafteste bekannt machten. Um
nur einen Begriff von der umfangreichen Arbeit zn geben, die Lotheißen
damals (1866 — 67) leistete, seien nur die Stoffe erwähnt, die er behandelte:
„Preßfreuden in früherer Zeit", die Presse unter dem Drucke Napoleons I. ;
„EinMuster-Unterthan" ; über das Journal de Barbier 1718 — 1763 (anläß-
lich der neuen Ausgabe von 1866). Samuel Smiles „Selbsthilfe". Der
Suezkanal. Alfred de Vignys Tagebücher (3 große Aufsätze). Jules Favre.
P. Hevses „glücklicher Bettler". Henri Taines „Graindorge". Gachards
XXYIII
„König Philipp und Don Carlos''. Das Ghetto in Rom. Der Friedens-
congreß in Genf (September 1867). Keratrys „La Contreguerilla fran-
^aise au Mexique". „Bilder aus dem italienischen Theater" (6 Aufsätze),
Eduard Laboulaye Dies nur ein kleiner Tbeil der behandelten Stoffe,
ungerechnet die munteren Plaudereien, welche die Frankfurter Zeitung mit
besonderem Vergnügen druckte. Die Feuilletons über Gestalten aus der
französischen Litteratur waren aber die bedeutendsten, und zumal da-
mals, vor dreißig Jahren, wo das deutsche Correspondentenwesen in
Paris noch nicht so entwickelt war, wie heute, von großem Werte.
Denn Lotheißen schöpfte aus dem Vollen. Er hatte sich in der reichen
Bibliothek der societe de lecture in Genf, wo die französische Litteratur
der letzten siebzig Jahre fast vollständig vertreten war, gründlich um-
gesehen; mit einer anmutigen leichtflüssigen Form verband er die Ein-
sicht des Kulturhistorikers. Es war ihm redlich darum zu thun, ver-
mittelnd zwischen Deutschland und Frankreich zu wirken, auf die hoch
gespannte politische Stimmung, welche dem großen Kriege von 1870
lange vorherging, mildernd einzuwirken. Diese Tendenz verfolgte er in
dem bedeutendsten Essay dieser Reise, im Feuilleton über Jules Favre.
Er schickte es mit einem Briefe dem auf der Höhe seines Ruhmes
stehenden Führer der rupublikanischen Opposition gegen Napoleon IIL
zu, der seine Friedensliebe und Achtung der deutschen Nation und ihrer
Einheitbestrebungen in der Adreßdebatte des Jahres 1866 öffentlich aus-
gesprochen hatte: „La France tiendra la main ä TAllemagne", hatte
Favre gesagt ; „ eile lui dira que desinteresse desormais de toute espece de
projets de conquete, eile se sent assez forte pour faire avec eile une
loyale alliance. ... Nous voulons etre pacifiques, sachons tout d'abord
d'etre libres." Diese Worte hatten im gut deutsch gesinnten Loth-
eißen, der nun auch für die Franzosen sich erwärmt hatte, gezündet,
und er schrieb Favre :
„Oui, Monsieur, avec une France liberale et pacifique, ne luttant
avec une AUemagne unie, libre et pacifique aussi, que par le terrain de
progres et de l'humanite — voilä la politique que tous les hommes eclaires
devraient souhaiter et preparer, autant qu"il est en leur pouvoir. Voilä
aussi la raison pour laquelle j'ai ecrit mon article: j'ai voulu montrer ä
mes lecteurs l'image d'un patriote fran^ais et d'un grand orateur qui
ne connalt pas de haine contre une nation voisine, qui au contraire
parle eloquemment pour l'alliance des deux peuples."'
Auf dieses Feuilleton und diesen Brief antwortete Jules Favre
umgehend am 17. März 1867 Folgendes:
XXIX
„Merci, Monsieur, pour toute bienveillante Sympathie. Je crois n'en
etre pas tout-ä-fait indigne si j'interroge mon desir ardent de main-
tenir la paix entre les nations qui forment la grande famille Europeenne
en developpant en elles le sentiment de la liberte qui seul peut les
garantir de lüttes sanglantes et d'effroyables dechirements.
Malheureusement rAlleraagne s'ecaite de cette voie de salut — eile
semble se placer sous le regime du sabre et de s'armer contre nous.
De son cöte notre gouvernement humilie par les derniers evenements
cherche une aventure. Tout ceci m'inquiete fort et dans la tres-humble
partie qu'il m'est donne de prendre ä cette redoutable question, il ne
dependra pas de moi que les deux peuples n'echappent aux mauvaises
tendances de leurs chefs.
Je ne conserverai pas moins avec une grande Sympathie pour la
noble Allemagne un souvenir tres-vif de votre bienveillauce et vous prie
d'accepter en echange l'expression de mes sentiments devoues.
ce 17 mars 1867. Jules Favre.
Der Brief bietet ein gutes Stimmungsbild aus der schwülen Ge-
witterluft der Zeit vor dem Kriege. Zwei Idealisten feindlicher Nationen
versuchen, sich über die Köpfe der Anderen hinweg die Hände zu
reichen — aber es kann nicht zu mehr als dem Austausch persönlicher
Artigkeiten kommen.
Die angestrengte Thätigkeit als Lehrer und Schriftsteller konnte
nicht ohne Eückwirkung auf Lotheißens zarte körperliche Beschaffenheit
bleiben, zumal da noch manche Enttäuschungen (im Kriege 1866, wo
er sich als politischer Journalist versuchte) dazu kamen, und die
Versuche, aus dem schönen, aber doch entlegenen Genf fortzukommen,
fehlschlugen. Um sich zu erholen verbrachte Lotheißen mit seiner Fa-
milie den Winter 1867 — 1868 in Florenz, wo er in der erhöhten
Stimmung des sorgenlosen Sichgehenlassens in einer Welt von Schön-
heit und Poesie auch einen ßoman für die Frankfurter Zeitung schrieb.
Aber schließlich gewährte ihm diese Thätigkeit als Feuilletonist
weder geistige noch materielle Befriedigung. Der Eigenthümer der Frank-
furter Zeitung, Herr Leopold Sonnemann, hatte wohl den Plan, seinen
besten Feuilletonisten nach Frankfurt zu berufen und ihm die Redaktion
des Feuilletons zu übertragen, aber er kam nicht zur Ausführung. In
wie gutem Angedenken Lotheißen bei dem Blatte verblieb, zeigte sich
noch zwanzig Jahre später, als es in liebenswürdiger Weise den in-
zwischen zu hohem Ansehen gelangten Schriftsteller neuerdings zur
Mitarbeiterschaft einlud. Es geschah ein halbes Jahr vor seinem
XXX
Tode. Lotheißen hatte das Feuilletonschreiben schon seit Jahren auf-
gegeben.
Der Florentiner Aufenthalt brachte ihm indes jene Erfrischung
der seelischen und leiblichen Kräfte, die er gesucht hatte. Die Gesell-
schaft, in der er sich dort bewegte, war auch sehr anregend. Lebhaften
Verkehr pflegte er im Hause des Ministers Peruzzi, dessen geistvolle
und energische Frau die ihr seelisch verwandte Gattin Lotheißens mit
Wärme an sich heranzog. Er befreundete sich auch mit Ludmilla Assing,
die seit Jahren in Florenz lebte. Und vollends fand sein für die Werke
bildender Kunst so empfängliches Gemüt daselbst Genuß in Fülle.
Nach Genf zurückgekehrt faßte er den Entschluß, statt der
Feuilletons ein größeres zusammenhängendes Ganzes zu schaffen, eine
Darstellung der französischen Litteratur im neunzehnten Jahrhundert,
die er für eine litterarische Xothwendigkeit hielt. Denn das deutsche
Publikum kannte wohl die Xamen der berühmtesten französischen Dichter,
verband jedoch nicht viel Wissen mit diesen Namen. Aber einmal in die
historische Forschung hineingeraten, mußte er zur rechten Erklärung
der fi-anzösischen Romantik bis in die Revolutionszeit zurückschreiten,
und der Plan erweiterte sich ihm zu einem Werke von drei Bänden.
Es ist der Entwurf eines Briefes vom 8. Mai 1870 erhalten, den Loth-
eißen an seinen alten Freund Otto Müller in Begleitung des Manu-
scriptes seiner „Geschichte der französischen Litteratur und Gesellschaft
während der Revolutionszeit" abschickte; und da sprach er sich folgender-
maßen aus:
„Die französische Litteratur ist in Deutschland kaum bekannt.
Man kennt zwar einzelne große Namen sehr gut, allein die Entwicklung,
das innere eigentümliche Streben der französchen Litteratur ist dem
großen deutschen Publikum unbekannt. Wie sehr es sich aber dafür inter-
essieren kann, wenn man es ihm in richtiger Form erzählt, beweist
uns Hettners Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Meine Idee
war daher, die Geschichte der französischen Litteratur unseres Jahr-
hunderts, d. h. hauptsächlich die romantische Schule in einer gefälligen
und deshalb doch nicht minder gründlichen Darstellung zu schildern.
Die französischen Romantiker sind die einzigen, welche vorwärts strebten,
während unsere deutsche romantische Schule in vieler Hinsicht eine
traurige Reaction aufwies. Die besten interessantesten Namen dieser in
sich höchst bedeutenden Zeit sind in Deutschland kaum gekannt, und ich
bin überzeugt, daß eine richtige Schilderung ein großes Publikum finden
wird, welchem es den Blick in eine neue Welt eröffnet.
XXXI
„Während ich aber den Anfängen der romantischen Schule nach-
forschte, sah ich mich immer mehr auf die Zeit der Eevolution hinge-
führt, und ich erkannte zuletzt, daß ich den Rahmen meines Werkes
erweitern, daß ich die französische Litteratur seit 1789 behandeln müsse.
Zudem wurde mir klar, wie die anscheinend in litterarischer Hinsicht so
arme Zeit ein großes kulturhistorisches Interesse gewinnen müsse, wenn
man nur etwas tiefer eindringe und den Einfluß , den Eevolution und
Litteratur gegenseitig auf einander ausgeübt haben, hervorzuheben strebe.
Die öde Zeit belebt sich dann mit einem Male, eine Menge Charakter-
bilder tauchen auf, wir finden die litterarische Bewegung des folgenden
Jahrhunderts im Keime sich jetzt schon, im Chaos, vorbereiten; wir
finden mit einem Male die Presse und das Theater in einer bis dahin
unerhörten und seitdem auch nicht wieder erlebten Aufregung, ja wir
finden selbst durch all den Tumult und Lärmen hindurch die Accente
wahrer inniger Poesie! Diese Elemente zu einem litterarhistorischen
Kulturbild zu vereinigen , galt wol der Mühe wert ; zu zeigen , wie in
dieser hochfliegenden begeisterten, leichtsinnigen Welt gleichzeitig die
Gemeinheit und der Egoismus sich breitmachen konnten; wie die
furchtbarsten Widersprüche sich vertrugen und man tagsüber kalt-
blütig Ströme von Blut vergießen sah, um sich abends im Theater
an einer rührenden Idylle melancholisch zu stimmen — das reizte
mich, und ich sah zugleich, daß eine Litteraturgeschichte der Ee-
volution jeder französischen Litteraturgeschichte unseres Jahrhunderts vor-
angehen muß.
„Daß ich in meiner Darstellung gründlich bin, und daß ich stets
auf die Quellen zurückgegangen bin, zeigt meine Arbeit; zum Glück
stehen mir hier (Genf) Hilfsmittel zu Gebot, wie man sie selten sonst-
wo finden kann — Paris ausgenommen. Ich habe mich dabei bestrebt,
trotz aller Gründlichkeit und Genauigkeit für einen großen Kreis von
Lesern zu schreiben....
„Der zweite Band meines Werkes wird die Geschichte ,des Direk-
toriums und der Kaiserzeit umfassen, ebenfalls ein sehr umfassendes
Gebiet, auf dem Namen wie Stael, J. de Maistre, Chateaubriand oben-
anstehen, dem ich aber wiederum sein Hauptinteresse dadurch zu geben
suche, daß ich dieselben im Zusammenhang mit ihrer Zeit und in ihrem
Werden, nicht als abgetrennte zufällig damals existierende Individuen
behandle. Denn die Litteratur eines Volkes entwickelt sich nicht nach
den Launen des Zufalls, sie folgt einem Gesetz innerer Entwicklung —
und das zu finden ist eine Hauptaufgabe des Litterarhistorikers.
XXXII
„Um mich über meine Stellung zu ähnlichen Werken auszusprechen.
Ich kenne nur zwei, die hier in Betracht kommen können. Hettner
und Julian Schmidt. Hettner ist ein sehr verdienstvolles Buch, aber an
Rivalität ist nicht zu denken, mein Werk ist eher eine Fortsetzung
desselben. , . . Julian Schmidt hat eine französische Litteraturgeschichte
seit 1789 geschrieben, aber nach Fächern; man verliert dadurch jegliches
Bild der Zeit. Zudem ist die französische Litteratur nicht seine Stärke ;
er scheint das Buch als Nebenarbeit verfaßt zu haben, und ich glaube,
es ist sehr wenig bekannt geworden."
So weit wäre alles recht gut und schön gewesen, wenn nicht der
deutschfranzösische Krieg dazwischen getreten wäre. In dieser Zeit war
in Deutschland kein Verleger für eine französische Litteraturgeschichte
zu finden, und Lotheißens Buch mußte auf die Veröffentlichung warten bis
er nach Wien übersiedelte und dort die Bekanntschaft des angesehenen
Verlegers Moritz Gerold machte, der es anfangs 1872 publizierte. Aber
gut war es doch, das Lotheißen dieses Werk vollendet hatte, denn es
diente ihm als Habilitationsschrift an der Wiener Universität und ward
der Grundstein seiner angesehenen Stellung im litterarischen und päda-
gogischen Leben Wiens.
IV.
In der Mitte der Sechziger Jahre machte sich in Oester reich das
Reformbedürfnis der Realschulen lebhaft fühlbar. Sie waren ursprünglich
zu dem Zwecke geschaffen worden, um allen jenen jungen Bürgersöhnen,
die keinen gelehrten Beruf ergreifen wollten, Gelegenheit zu geben, sich
in einer kürzeren Zeit als das Gymnasium forderte (in 6 statt 8 Jahren)
eine Summe von praktisch wertvollen Kenntnissen, inbesondere in den
Realien, Mathematik und Naturwissenschaften zu erwerben; zugleich
aber sollten die Realschulen auch als Vorbereitungsanstalten für die
polytechnischen Hochschulen dienen. Sie vereinigten also damals die
Ziele der heutigen Gewerbeschulen und der allgemeinen Bildnngsan-
stalten. Das war jedenfalls zuviel, der Lehrzweck konnte nicht erreicht
werden, Schüler und Lehrer seufzten unter der Last der Aufgaben, und
infolge dessen begann die Arbeit an der Reform dieser Anstalten. Zu-
erst im Kreise der Realschullehrer selbst, bald aber auch unter Mit-
wirkung und Führung des Unterrichtsministeriums; inbesondere des
Ministers Hasner, der sich für die Reform des ganzen österreichischen
Schulwesens so große Verdienste erworben hat. Am 8. August 1868
XXXIII
legte Hasner sämtlichen Landtagen einen Gesetzentwurf über die Neu-
ordnung der Kealschule vor, der ihre Aufgabe sofort im ersten Para-
graph klar feststellte, indem er erklärte: „Der Zweck der Realschule
ist in erster Linie eine allgemeine Bildung mit besonderer Berücksich-
tigung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen zu gewähren."
Also allgemeine Bildung ohne Nebenrücksichten auf Gewerbe u. dergl.
war nun der Zweck der Realschulen. Die Zahl der Schuljahre wurde
bald darauf von sechs auf sieben erhöht, als Abschluß der Studien
analog dem Lehrplan der Gymnasien die Maturitätsprüfung eingeführt,
und die Realschullehrer, die bis dahin in einem niedereren Range standen,
als die Gymnasiallehrer, wurden diesen gleichgestellt. Notwendigerweise
mußte nun auch in das System der allgemeinen Bildung der Sprach-
unterricht als formales Unterrichtsmittel eingeführt werden, und man
entschied sich für die modernen Sprachen, für das französische in allen 7,
und das englische in den 3 oberen Klassen. Damit war die Notwen-
digkeit der Anwerbung geeigneter Lehrkräfte gegeben. Da die einheimi-
schen für den Bedarf nicht ausreichten, wurden geeignete Persönlich-
keiten aus dem Ausland berufen, und in weiterer Folge dieser Real-
schulreform wurden an den Universitäten Wien und Prag Seminare für
romanische und englische Philologie zur Heranbildung von Lehrern in
den modernen Sprachen eingerichtet. Bei dieser Reformthätigkeit wurde
Lotheißen nach Österreich berufen.
Durch Vermittlung Rudolf Iherings, der mit dem Justizminister
Glaser befreundet war, war er schon im August 1869 dem österreichi-
schen Unterrichtsministerium als bewährte Lehrkraft empfohlen worden.
Es kam dann noch die wirksame Fürsprache seines angesehenen Freundes,
des Fürsten Georg Czartoryski hinzu, und nach einigen Verhandlungen
konnte am 20. Juni 1870 Dr. Adolf Beer, damals Ministerialrat im
Unterrichtsministerium, der sich insbesondere um die Reform der Mittel-
schulen große Verdienste erwarb, und der auch Lotheißen viel Wohlwollen
bekundete, demselben mitteilen, dass seine Ernennung zum Realschul-
lehrer gesichert sei. Auch als geeigneter Leiter des genannten Seminars
für französische Sprache und Litteratur war schon zu dieser Zeit Loth-
eißen in Aussicht genommen worden. Eine Habilitation an der Wiener
Universität musste aber, wie ihm angedeutet wurde, vorhergehen. An-
fangs Juli erfolgte denn auch seine offizielle Ernennung zum Professor
der französischen Sprache an der k. k. Oberrealschule auf der Land-
straße in Wien. Am 11. Juli legte er in Wien den Diensteid ab, und
nun ward er ein Österreicher, nachdem er seit so vielen Jahren freund-
XXXIV
schaftliche Beziehungen zu Österreichern gepflegt und in Wien seine
litterarischen Erstlinge veröffentlicht hatte.
Wie es bei allen neuen Unternehmungen zu gehen pflegt, so hegte
man vielfach auch von den Erfolgen des modernen Sprachunterrichts in
den Kealschulen übergroße Erwartungen. Er erfüllt ja auch in der
That seinen pädagogischen Zweck, wenn er auch nicht, wie die in-
zwischen gemachten Erfahrungen lehren, all das leisten kann, was man sich
anfiinglich von ihm versprach. Für die Ausführung der leitenden Ideen
der damaligen Unterrichtsreform war indes Ferdinand Lotheißen so ge-
eignet, wie kaum ein anderer; denn er teilte damals selbst die Über-
zeugungen von dem großen pädagogischen Wert des modernen Sprach-
unterrichts. Auch er war als Lernender und Lehrer von der klassischen
Philologie ausgegangen und im Laufe seiner Studien und pädagogischen
Praxis zu Ansichten gelangt, die mit denen der Wiener Reformer über-
einstimmten. Das wird aus dem folgenden ersichtlich werden.
Im Januar 1867 hatte er in der „Frankfurter Zeitung" ein
Feuilleton über die Insel Kandia veröffentlicht, die damals im Aufstand
gegen den Sultan war und den Anschluß an Griechenland anstrebte.
Hier sprach er die Meinung aus, dass die alten Griechen wol nicht
viel anders, als die Neuhellenen gewesen sein dürften, mag nun Fall-
merayer mit seiner Theorie von dem vorwiegend slavischen Blut der
Neugriechen Eecht haben oder nicht. Und er schloß diese Auseinander-
setzung mit einem ironischen Seitenblick auf die Philologen : „die in
ihrem Zorne schrecklich sein können, und die in ihren Fehden durch-
aus nicht mit attischer Feinheit kämpfen." Es war nämlich gerade zu
der Zeit viel Zank in der philologischen Welt, und Lotheißens tadelnde
Bemerkung hatte ihre gute Berechtigung. Aber er mußte wol vermuten,
daß sein Schwiegervater Georg Thudichum, der doch auch ein Philo-
loge war, und den er so hoch verehrte, den kleinen Ausfall nioht an-
genehm empfinden könnte. Denn er ergriff in einem Briefe aus Genf,
13. Januar 1867 die Gelegenheit, sich über seine „ketzerischen Ideen"
des Näheren und mit aller Offenheit auszusprechen. Diese Äußerung ist
für seine Gesinnung so bezeichnend, daß sie hier citiert werden muß.
Er schrieb:
,. . . . Ich war nie ein wirklicher Philologe , konnte mich nie für
Cicero begeistern und habe manchmal ganz absonderliche Gedanken über
das heutige Gymnasialstudium. Ich bewundere, wie nur Einer, die
Größen der klassischen Litteratur und möchte um keinen Preis Homer,
Sophokles oder Horaz aus der Schule verbannt haben — aber ich meine
XXXV
manchmal, wenn man das Studium der alten Sprachen beschränkte uml
dafür die modernen wissenschaftlich betriebe, wenn man die deutsche
und französische Grammatik, die deutschen, englischen und französischen
Schriftsteller vornähme und erklärte — es käme mehr dabei heraus.
Ein Massillon, ein Chatam, ein Mirabeau , Berryer, Favre wiegen einen
Isokrates, einen Cicero auf, haben größeren Einfluß auf die Jugend,
denn sie stehen uns näher. Die Griechen hatten nur ihren Homer und
ihre griechischen Dichter, an denen sie sich bildeten." Und um seine
Meinung durch ein Beispiel zu erhärten, legte er diesem Briefe die
Abschrift eines Passus aus der Predigt Massillons an den jungen König
Ludwig XIV. bei, desselben Eedners, über den er auch in seiner
Litteraturgeschichte zehn Jahre später so warm schrieb.
Bei diesen Überzeugungen, die Lotheißen lange hegte, bevor er
nach Wien kam, läßt es sich leicht vorstellen, mit welchem Feuereifer
er in den neuen Pflichtenkreis trat, der seiner Gesinnung so sehr ent-
sprach, und wie gern er die Organisierung des französischen Sprach-
unterrichts in den Realschulen betrieb. Es blieb auch daher nicht bloß
bei seinem Lehramt an der genannten Realschule, die als die Muster-
realschule des Reiches galt. Schon ein halbes Jahr nach seiner Über-
siedlung nach Wien, am 20. Februar 1871 wurde er zum Prüfungs-
commissär für Reallehramtscanditaten seines Faches ernannt, und noch
im selben Jahre habilitierte er sich an der Wiener philosophischen Fa-
cultät für neuere französische Litteratur auf Grundlage seiner Schrift „Litte-
ratur und Gesellschaft in Frankreich zur Zeit der Revolution 1789 — 1794."
Sie erschien im Druck anfangs 1872 im Verlage von Carl Gerolds Sohn
in Wien. Am 5. November 1871 wurde ihm die venia legendi ertheilt.
Im selben Semester konnte er schon das französische Seminar mit einem
Proseminar eröffnen, und am 22. Mai 1872 erfolgte seine Ernennung
zum definitiven Vorstand des Seminars zugleich mit Professor Dr. Adolf
Mussafia.
Man sieht: die ersten Jahre des Wiener Aufenthalts gestalteten
sich für Lotheißen aufs verheißungsvollste. Und nach der Kenntnis seines
ganzen elastischen und arbeitsfrohen Wesen, die wir schon haben, wird es
nicht verwundern zu hören, daß er sich mit der Erfüllung der Amts-
geschäfte allein nicht genug sein ließ. Er trat auch sofort mit littera-
rischer Production hervor und knüpfte in der Wiener Gesellschaft Ver-
bindungen an, die sich bei seinen eigenen und den Vorzügen seiner
geistreichen Frau bald sehr lebhaft und zum Teil auch intim gestalteten.
Er hatte in Wien am Fürsten Czartoryski, an Professor Conze, an Ihe-
XXXVI
ring, an Heinrich Laube and an dem ihm verschwägerten hochange-
sehenen Dichter Moritz Hartmann alte gute Freunde, zu denen bald
viele neue hinzutraten. Der letztgenannte vermittelte Beziehungen zur
„Neuen Freien Presse", so daß Lotheißen in den ersten Jahren seines
Wiener Lebens viele Feuilletons über französische und deutsche Litteratur
in dem großen Blatte veröffentlichte; einzelne Kapitel seines Buches
über die französische Eevolutionslitteratur wurden 1871 daselbst zuerst
gedruckt. Dann schrieb er Feuilletons für den „Wanderer", den Fürst
Czartoryski angekauft hatte, aber nur mehr kurze Zeit halten konnte.
Und als unter Friedrich Uhls kundiger Leitung die „Wiener Abend-
post" mit einer litterarischen Beilage ins Leben trat, da übernahm
Lotheißen das ständige Referat über französische Litteratur und besorgte
auch manche redaktionelle Geschäfte, wie die Einladung hervorragender
Schriftsteller zur Mitarbeiterschaft an der „Abendpost". Außer den kri-
tischen Aufsätzen über die neuen Erscheinungen der französischen Litte-
ratur veröffentlichte er in diesem Blatte auch mehrere größere und
wertvolle Studien über deutsche Dichter, und zwar gelegentlich der
Gesamtausgaben der Werke Bauernfelds, Alfred Meißners, Moritz
Hartmanns, Otto Müllers (1873 — 74). Und es ist sehr zu bedauern, daß
er keine Sammlung dieser kritischen Arbeiten veranstaltete, denn in
ihrer knappen Form sind sie stets gehaltreich und geben scharf um-
rissene Charakterbilder einzelner Gestalten oder ganzer Perioden. Als
Kritiker war Lotheißen immer milde im Ausdruck, doch unzweideutig
klar im Urteil. Vor allem aber war er streng sachlich; selbst wo er
persönliche Angriffe zurückzuweisen hatte, ließ er sich nicht zu anderen
als ganz objectiven Erwiderungen hinreißen. Und dennoch hatte er un-
gesucht, trotz seiner so milden Natur, Gegner unter jenen Pedanten,
die sich daran stießen, daß der gelehrte Privatdocent gleichzeitig ein
beliebter und anmutiger Mitarbeiter von Zeitschriften war. Später, als
Lotheißen seine Bücher publizierte, gefielen sich dieselben Gegner darin,
ihm L-rtümer in ganz nebensächlichen Einzelheiten vorzuwerfen, über
den edlen und bedeutenden Geist des Ganzen aber mit Schweigen hin-
wegzugehen. Als wäre Schönheit der Darstellung eine so äußerliche und
wertlose Eigenschaft bei einem Litteraturhistoriker, und nicht vielmehr
eine schwer erreichbare und wertvolle Kunst! Nichts spricht mehr für
den Wert, den man in litterarischen Kreisen den Aufsätzen Lotheißens
beimaß, als daß er Einladungen zur Mitarbeiterschaft von allen Seiten
erhielt und seine Thätigkeit auf eine größere Zahl von Zeitschriften
verbreiten mußte.
XXXVII
Abel' schließlich gewährte ihm diese Production selbst keine Be-
friedigung! Er machte sich über ihre Dauerhaftigkeit keine Illusionen.
„Dem Journalisten wie dem Schauspieler flicht die JSTachwelt Kränze",
schrieb er in dieser Zeit einmal, und darum entschloß er sich bald,
schon im Sommer 1875, die Resultate seiner umfangreichen Studien der
französischen Litteratur in einem größeren Werke zusammenzufassen.
Einige Zeit schwankte er zwischen zwei Plänen: einer Geschichte der
Litteratur im siebzehnten Jahrhundert und einer Biographie Molieres ;
beide Stoffe hatte er schon für seine Vorlesungen an der Universität be-
arbeitet. Schließlich entschied er sich dafür, vorerst die Litteratur-
geschichte in Angriff zu nehmen und am Ende des Jahres 1875 war
er mit seinem Programm im Reinen.
Doch ging die Arbeit nicht ohne Schwierigkeiten von statten. Lotii-
eißens Entschluß, an Stelle der bisher so gern geschriebenen Essays ein
großes Werk zu schaffen, war nicht bloß eine Folge litterarischen Ehr-
geizes, sondern auch des Bedürfnisses nach Erhebung durch eine größere
Leistung. Er hatte jenen Entschluß im traurigsten Jahre seines Lebens
gefaßt, wie er in einer Aufzeichnung vom Sylvester 1875 dieses Jahr
bezeichnete. Zu Anfang 1875 war ihm sein erster Sohn Friedrich im
Alter von zwölf Jahren gestorben. Lotheißen liebte seine Familie mit
leidenschaftlicher Zärtlichkeit; nur ihretwegen hatte er so viel Fleiß auch
außer dem Amte entwickelt. Den Tod seines Sohnes konnte er lange
Zeit nicht verschmerzen; in trüben Stunden trat ihm immer wieder das
Bild des geliebten Kindes vor Augen. Da sollte ihn eine große Aufgabe
mit allen ihren Ansprüchen auf Vertiefung in die Vergangenheit über
sich selbst hinausheben.
Aber es blieben ihm auch weiterhin keine Sorgen erspart. Es
lagert von nun an etwas wie der Schatten einer Tragödie auf diesem
Gelehrtenleben. Je mehr Ansprüche der rastlose Mann an sich selbst
stellte, je mehr Widerstand er seinen körperlichen Gebresten leistete —
er litt viel an Migräne und seine Brust war seit jeher zart und em-
pfindlich — umso härter verfuhr das Schicksal 'mit ihm, umsomehr
Prüfungen brachte es ihm.
Wenn Lotheißen in seiner Litteraturgeschichte dem skeptischen
Pessimismus Larochefoucaulds zustimmt, oder wenn er in der Biographie
Molieres den „Misanthrope" mit Nachdruck feiert und überhaupt den
tragischen Ausgang dieses glanzreichen Dichterlebens ergreifend darstellt,
so hört man aus der Erzählung vernehmlich das eigene Gemüt Loth-
eißens mittönen. Moliere war nicht am wenigsten auch darum sein
XXXVIII
Lieblingsdichter, weil er vom Leben so enttäusclit ward und dennoch
in den Formen der guten Gesellschaft, als ein ganzer Mann den Kummer
seiner Seele zu bemeistern wußte. Das war nach Lotheißens Geschmack.
Auch er litt, duldete und schwieg — wofern ihn nicht seine Bücher
verrieten. Und dieses bekämpfte Leid, das sich nicht äußerte, gab im
Vereine mit der Milde und Güte , die seinem Wesen von jeher eigen
waren, der Persönlichkeit Lotheißens in seinen letzten Lebensjahren, auf
der Höhe seiner litterarischen Production, ein eigenes Gepräge.
Keines der Bücher, die nun in ziemlich rascher Folge entstanden,
konnte Lotheißen in gänzlich sorgenfreier Stimmung schreiben. Gleich
bei der Entstehung seiner Litteraturgeschichte begann die Zeit seiner
Sorgen. Seine geliebte Frau fing an zu kränkeln und ihr Leiden zog
sich viele Jahre hin,, bis sie in der Krankheit unterging. Das war
das schlimmste Leid, das den Gelehrten treffen konnte. Dazu kam
noch, daß der Gegensatz, in dem er sich, wie wir oben gesehen haben,
zur Philologie befand, nicht ohne Wirkung auf seine akademische Stellung
blieb. Seine Thätigkeit als Vorstand des französischen Seminars fand
zwar die volle Anerkennung des Ministeriums, mit Kücksicht auf seine
Kollegien an der Lniversität wurde ihm der Unterricht an der Real-
schule allmählich erleichteit. Die Zahl der Schüler, die zu Lotheißen in
ein warmes persönliches Verhältnis traten, vermehrte sich von Jahr zu
Jahr. Aber es dauerte dennoch Jahre, bis er am 5. September 1881
zum Extraordinarius seines Faches befördert wurde. Die lange Dauer
dieses Vorrückens hat er schmerzlich empfunden. Aber schließlich hin-
derte ihn all dieser Kampf mit einem unfreundlichen Schicksal nicht,
an seinen Büchern mit Hingabe und Begeisterung zu arbeiten und sich
immer höhere wisenschaftliche Ziele zu stecken.
Bei der Erinnerung an diese schwere Zeit muß der Biograph Loth-
eißens einer edlen und innigen Freundschaft gedenken, die ihn mit
einem leider nur zu früh verstorbenen Manne von ausgezeichneter Herzens-
und Geistesbildung verband, der auch in der Wiener Gesellschaft das
beste Angedenken hinterließ. Es war dies der Advokat Dr. Ludwig
Weißel, der durch seinen sprühenden Witz, seine anmutigen Verse,
seine proven^alische Erzählung „der Mönch von Montaudon", seine
Reiseberichte aus dem Süden sich auch in der litterarischen Welt einen
guten Namen sicherte. Leider machte sich in Dr. Weißel ein tückisches
Leiden merkbar, das ihn zwang, die Winterszeit fern von Wien, im milderen
Klima Roms oder Genfs zu verbringen, und das auch seinem Leben
schon im Alter von 44 Jahren ein Ende setzte (16. Januar 1886).
XXXIX
Lotheißen war es noch vergönnt, die Übersetzung Anakreons, die Weißel
hinterlassen hatte, herauszugeben und mit einem herzlichen biographischen
Vorwort zu versehen (Leipzig 1886).
Indes hatte er mit seiner Geschichte der französischen Litteratur
im XVn. Jahrhundert sofort nach der Ausgabe des ersten Halbbandes im
Frühsommer 1877 großen Erfolg. Einer der bedeutendsten Kenner und
Kritiker Frankreichs und seiner Litteratur, Karl Hilleb r and, zu dem
Lotheißen in gar keinen persönlichen Beziehungen stand, veröffentlichte
am 21. August 1877 im Feuilleton der „Xeuen Freien Presse" eine
überaus lobende Besprechung des Buches, das er nach Form und Inhalt
als eine Musterleistung pries. Wenige Wochen vorher war im Juli-Heft
der „Westminster Review" eine ebenso anerkennende Besprechung er-
schienen, von einer gleichfalls persönlich fremden Seite, und die darum
unseren Historiker nicht minder erfreute. Da sie weniger bekannt
wurde, so dürfen wir sie aus ihrer Verborgenheit holen und hier ab-
drucken. Sie lautet:
„We welcome from Vienna the frist part of a history of the
,french Literature in the Seventeenth Century' by Herr Lotheißen, who is
already favourably known by his sketch of social France during the
revolutionary period. The portion of the work which we have received,
contains an admirable introductory sketch, criticisms of Malherbe,
Eegnier, d'Aubigne, d'ürfe, Guez de Balzac and Voiture, and a vivid
description of the famous circle of the Hotel Eambouillet. All the chapters
are good, and the last named is perhaps the best. The sketch of
d'Aubigne, his remarkahle writings and his still more remarkable career
is of very great interest. . , L. is more just to Malherbe than most
critics have been. On the other band he speaks with au unusual com-
mendation of d'Urfe, whose .Astree', duU and artificial as it may now
seem, was certainly an epoch-making book. Herr Lotheißen adds to the
careful labour of the best German critics a vigorous and lively style.
We have found this history a most engrossing work, and shall look
for the remaining parts with eager interest" . . .
Indes würde es den Rahmen dieser biographischen Einleitung weit
überschreiten, wenn wir das Schicksal dieser Litteraturgeschichte und
der anderen Bücher, welche Lotheißen schrieb, in aller Ausführlich-
keit verfolgen wollten. Eine Kritik und Charakteristik Lotheißens als
Litteraturhistoriker ist in dem Essay, den Anton Bettelheim als Ein-
leitung in die aus dem Nachlasse desselben erschienenen Aufsätze „Zur
Culturgeschichte Frankreichs im XVII. und XVIII. Jahrhundert (Wien,
XL
Carl Gerolds Sohn 1889) schrieb, in so trefflicher Weise geleistet, daß
hier am besten nur darauf verwiesen werden kann. Wir dürfen uns
daher auch über die fernere litterarische Thätigkeit Lotheißens kürzer
fassen.
Im Herbst 1878 und 1879 hielt sich Lotheißen zum Zweck seiner
Studien in Paris auf, wo er in der Bibliotheque nationale und im Archiv
des Theatre francais Forschungen machte.
Nach Vollendung des zweiten Bandes der Litteraturgeschichte, der
1879 erschien, unternahm er die Monographie: „Moliere. Sein Leben
und seine Werke": eine Arbeit, die er so recht con amore vollendete,
und die in geschmackvoller Ausstattung 1880 im Verlage der litte-
rarischen Anstalt Eütten und Löning in Frankfurt a. M. erschien. Sie
ist ein kunstvoller Essay in erweiterter Form und hat ohne Zweifel auch
zu der erneuerten Wertschätzung Molieres, die seitdem in Deutschland
merklich zutage trat, beigetragen. In dem Verzeichnis wertvoller Werke,
das Anton E. Schönbach seinem ausgezeichneten Buche : „Über Lesen
und Bildung" augefügt hat, ist Lotheißens „Moliere" in der Reihe der
Biographien angeführt.
Dann aber ging er an den Abschluß seiner Litteraturgeschichte,
deren dritter und vierter Band 1883 und 1884 erschienen. Mit der Be-
deutung des Stoffes stieg auch die Kraft und Schönheit der Darstellung,
und meines Erachtens ist Lotheißen nirgends größer als in den letzten
Kapiteln des Werkes, die Eacine, den Charakter der französischen
Tragödie und schließlich die Memoirenlitteratur mit dem ihm so sym-
pathischen strengen Moralisten Saint-Simon behandeln.
Ein Jahr darauf erschien im Verlage von B. Ellischer in Leipzig
eine Sammlung kleiner Essays : „Bilder und Historien zur Sittengeschichte
Frankreichs", und unmittelbar nach Abschluß seiner Litteraturgeschichte
des siebzehnten Jahrhunderts machte er sich an die Geschichte der
Königin Margarethe von Navarra, die sich zu einem umfassenden Kultur-
bild der französischen Reformationskämpfe im sechzehnten Jahrhundert
gestaltete. Das Buch erschien im Verein für deutsche Litteratur in
Berlin 1885. Und nun nahm Lotheißen die Geschichte der französischen
Kultur im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert in Angriff', deren
Material in den Kollegienheften seiner Vorlesungen schon größtentheils
bearbeitet dalag. Aber er kam nicht weiter als über die ersten ein-
leitenden Kapitel hinaus, die später in seine Sammlung nachgelassener
Essays aufgenommen wurden. Tief zu bedauern ist, daß er nicht mehr
dazu kam, die Biographie Voltaires zu schreiben, mit dem er sich schon
XLI
seit Beginn seiner französischen Studien in Genf gern beschäftigte, und
über den er in seinen Vorlesungen mit tiefer Sympathie für seine
humanistischen Bestrebungen zu sprechen pflegte.
Im Winter 1886 — 1887 stellten sich die ersten Anzeichen der
schweren Krankheit ein , die diesem arbeitsreichen Leben ein Ende
machen sollte. Sie wurde bald als das erkannt, was sie in Wahrheit
war , als die Bright'sche Krankheit. Im Sommersemester 1887 mußte
Lotheißen, schon sehr geschwächt, seine Vorlesungen unterbrechen, und
die Leiden dauerten das ganze Jahr hindurch, bis ihn am 19. Dezember
1887 der Tod von ihnen erlöste. M. N.
I. Th.eil.
Die Zeit des Übergangs.
1600—1636.
Einleitung.
l'as 17. Jahrhundert war für Franki'eich eine Zeit des Ruhms
und der Größe. Von König Heinrich IV. und nach dessen Tod von
Richelieu in seiner Einheit befestigt, nahm das Land unter Ludwig XIV.
einen besonderen Aufschwung und erreichte in seiner Machtstellung gegen
außen eine zuvor nie geahnte Höhe. Je rascher die spanische Welt-
herrschaft verfiel desto unwiderstehlicher erhob sich Frankreich als neue
Vormacht Europas, und in den letzten Decennien des 17. Jahrhunderts
stand es unbestritten als der erste und entscheidende Großstaat des
Kontinents da. Es war für Frankreich eine Zeit blendender kriege-
rischer Erfolge, deren Ruhm durch die schweren Unglücksfälle der fol-
genden Zeit zwar verdunkelt werden konnte, deren Gewinn aber nicht
verloren ging. Es war eine Zeit uneingeschränkter königlicher Macht-
vollkommenheit und jenes höfischen Glanzes, der bald das Ideal der
meisten europäischen Hofhaltungen werden sollte. Gleichzeitig trieb auch
der französische Volksgeist eine Fülle der edelsten Blüten, und so fehlte
nichts, um ein neues augusteisches Zeitalter heraufzuführen. Denn das
schönste Denkmal seiner Größe errichtete sich Frankreich in seiner
Litteratur, welche damals zur klassischen Höhe emporstieg, die Werke
ihrer Dichter weit über die Grenzen des Landes hinaustrug, und die
französische Sprache, in Schärfe, Klarheit und Schönheit der Form voll-
endet, zur allgemein herrschenden Sprache der Gebildeten in Europa erhob.
Es ist ein schönes Vorrecht klassischer Dichtkunst, daß sie einen
Strahl ihres Glanzes auf ihre ganze Zeit fallen läßt, dieselbe in ihrer
Bedeutung erhöht und gleichsam adelt. So erging es auch dem Frank-
reich des 17. Jahrhunderts, dessen Größe doch in vieler Hinsicht nur
äußerlich, nur scheinbar war. Wenn man sich von dem glänzenden Bild,
das besonders die Epoche Ludwigs XIV. bietet, nicht blenden läßt, son-
dern genauer zusieht, so entdeckt man bald, daß die bestechende Schön-
heit so mancher Erscheinung nur eine Lüge, nur eine Maske ist, welche
recht häßliche Gestalten verbergen soll.
Das 17. Jahrhundert bekundet einen deutlich wahrnehmbaren Still-
stand in der natürlichen Entwicklung des französischen Volks- und
Lotlieißen, Gesch. d. franz. Litteratur. 1
Staatslebens; es ist nur eine große Episode, eine gewaltsame Reaktion
gegen die Ideen und den Gang des vorhergegangenen Jahrhunderts.
Kaum mag in der langen Reihe der Jahrhunderte, die wir seit
dem Sturz der alten Welt zählen, eines größer und bedeutsamer ge-
wesen sein als das sechzehnte. Mit ihm begann eine neue Phase in der
Entwicklung der Menschheit ; es ist die neue Zeit, welche sich mit ihm
erhebt, mit den neuen Fragen und Bestrebungen, welche seitdem die
Menschheit bewegen. Wir kämpfen heute noch denselben Kampf, den
das 16. Jahrhundert begonnen, und die höchsten Probleme menschlichen
Wissens, an welchen unsere Zeit sich abmüht, haben auch jene große
Epoche schon beschäftigt. Der Geschichtschreiber soll freilich noch
kommen, der selbst so reichen Geist und so umfassende Kenntnisse hätte,
daß er in einem Gesammtbild die Arbeit des 1(3. Jahrhunderts in seiner
unendlichen Mannigfaltigkeit auf allen Gebieten des menschlichen Lebens,
in Religion und Philosophie, in Kunst und Wissenschaft, auf dem staat-
lichen wie socialen Feld zusammenfassen könnte. Unter den Ländern,
welche die regste Thätigkeit bekundeten, stand Frankreich in erster
Reihe. Mochte Italien es durch seine Kunst, seine höfische Kultur, seine
reichere Poesie übertretfen, moclite Spanien in der Dichtung wie in der
Politik und im Krieg sich überlegen zeigen, mochte Deutschland in den
religiösen Kämpfen vielfach die Leitung übernehmen, so entwickelte sich
doch in Frankreich auf allen Gebieten zugleich ein so reiches Leben,
wie vielleicht in keinem andern Land zu jener Zeit. Frankreich, von
der Natur begünstigt, war trotz aller schweren Erfahrungen ein wohl-
habendes Land. Der Adel, der noch nicht zum Hofadel herabgedrückt
war, erwies Kraft und Talent; noch heute zeugen viele Schlösser im
schönsten Renaissancebau von der edlen, stilgerechten Kunst jener Zeit;
es sind Bauten, mit welchen die nüchternen Werke der Epoche Lud-
wigs XIV. nicht verglichen werden können. Der Handel war wie die
Industrie in raschem Aufschwung. Mit ihnen erwuchs ein kräftiges,
seines Werts sich bewußtes Bürgertum, das seinen Anteil an der
Verwaltung und Führung des Vaterlands beanspruchte. Das Wieder-
aufleben des klassischen Altertums trug die schönsten Früchte und
reifte in ungeahnter Entwicklung die geistigen Kräfte des Volkes. Die
französischen Universitäten erfreuten sich europäischen Rufs; Rechts-
lehrer wie Cujacius, Philologen wie Muretus, Lambinus, Henricus Ste-
phanus, übten unberechenbaren Einfluß aus. und ähnlich wie in Frank-
reich gestaltete sich das geistige Leben auch in den anderen Staaten
Westeuropas.
Wie arm erscheint dieser Regsamkeit gegenüber das 17. Jahr-
hundert, dessen hauptsächlichstes Bemühen nur auf Zurückdrängen und
Eindämmen jener gewaltigen geistigen Strömung gerichtet war. England
allein machte hierin eine Ausnahme. Umso entschiedener trat die Re-
aktion in Frankreich und Deutschland auf, nachdem in diesen beiden
Ländern auch der Kampf am lebhaftesten geführt worden war.
Dieser Kampf, der, genau betrachtet, das letzte Ringen zwischen
Mittelalter und Neuzeit darstellt, spitzte sich zu zwei großen Gegen-
Sätzen zu. Es kämpfte die Reformation gegen den Papismus, der ent-
weder feudale oder republikanisclie Föderalismus gegen das Princip der
absoluten Monarchie und des Centralismus. Um die Mitte des 16. Jahr-
hundeits war die Hälfte des Deutschen Reichs für Rom verloren, und
in Frankreich schien ein ähnlicher Sieg der reformatorischen Bewegung
bevorstehend. Der Triumph der Reformation in Frankreich aber hätte
den Sturz der päpstlichen Herrschaft in den anderen Ländern Europas
fast unvermeidlich nach sich gezogen. So wurde denn Frankreich das
Schlachtfeld, auf welchem zunächst die Entscheidung gesucht wurde.
War erst Roms Ansehen in Prankreich wieder gefestigt, so mochte man
•dann mit mehr Hoffnung auf Erfolg auch den Kampf in Deutschland
wieder aufnehmen. Alle Kräfte wurden angespannt, alle Leidenschaften
entztigelt, alle Mittel, selbst die verwerflichsten, angewandt, um zu dem
erwünschten Ziel zu gelangen. Eine Reihe furchtbarer innerer Religions-
kriege verwüstete während mehr als 30 Jahren das blühende französische
Land. Als dann endlich der Friede auf die Dauer hergestellt, das Über-
gewicht der katholischen Religion in Frankreich gesichert und die könig-
liche Autorität aufs neue befestigt war, verstrichen nur wonige Jahre
und derselbe verheerende Kampf kam in Deutschland zum Ausbruch.
Der blutige Krieg wurde in beiden Ländern noch durch die Ver-
mischung der religiösen mit politischen Fragen verbittert und erschwert.
Ganz besonders trat dies in Frankreich zu Tage. Dadurch, daß in
Deutschland die Protestanten ihre Sache den Landesfürsten anvertrauten,
und diese ihrerseits zum Teil durch die Hoffnung auf größere Unab-
hängigkeit vom Kaiser und durch die Aussicht auf reichen Gewinn
durch die Konfiskation der geistlichen Güter getrieben wurden, gestaltete
sich der Krieg in politischer Hinsicht hier mehr zu einem Kampf zwischen
Kaisergewalt und fürstlicher Autorität. Anders aber in Frankreich. Die
Hugenotten wurden dort bald zu einer republikanischen Organisation
gedrängt, und neben der religiösen Streitfrage handelte es sich in Frank-
reich auch darum, ob die Monarchie der Republik weichen solle; ein
Kampf, der die Leidenschaften ganz anders erregen mußte, als ein
Krieg von Fürsten gegen Fürsten.
Demokratische und republikanische Ideen waren ohnehin schon
lange in Prankreich heimisch. Das Elend der englisch -französischen
Kriege hatte mit der Finanznot auch den Versuch der Steuerpflichtigen
gebracht, durch Abgeordnete aus ihren Reihen eine strenge Aufsicht
über die Verwaltung zu führen, und dem Bürger- und Bauernstand ent-
schiedenen Einfluß auf die Regierung des Landes zu sichern. Allein
diese Versuche waren alle fehlgeschlagen, hauptsächlich weil der eigent-
liche Bürgerstand, der zunächst zum Träger der demokratischen Ideen
berufen gewesen wäre, in sich selbst noch zu schwach und zu sehr zer-
splittert war. Die Ideen jedoch, die damals laut geworden waren, hatten
sich nicht verloren. Das zeigte sich deutlich, als im Jahr 1484 unter
der Regentschaft Annas von Bretagne die Reichsstände nach langer
Zwischenzeit einmal wieder berufen wurden. Selbst die Bauern betei-
ligten sich damals an der Wahl der Vertreter, und in der Versammlung
der Reichsstände stimmte man nach Köpfen ab, was dem dritten Stand
ein bedeutendes Übergewicht gab. Bei den Beratungen enthüllte sich
sofort ein besonderer Geist. Man hörte Sätze aussprechen, wie den, daß
die königliche Macht nicht erblich, sondern nur ein Amt sei. welches
das souveräne Volk verleihe. Die demokratische Bewegung schien mit
neuer Kraft aufzuleben. Ihr zu steuern, wurde ein altes Mittel angewandt,
das bis in die neuesten Zeiten oft erprobt worden ist, aber meist nur
auf kurze Zeit geholfen hat. Die Yalois führten das Volk zum Krieg
über die Alpen nach Italien, berauschten es mit kriegerischem Ruhm
und ließen Ländererwerb, sowie reiche Beute verführerisch vor seinen
Augen glänzen. Die pracht- und kunstliebende Zeit der Renaissance fand
einen Hauptförderer in Franz I. , dem wetterwendischen, liebenswürdigen,
leichtsinnigen Fürsten. Doch aller Glanz des Hofes und die verführeri-
schen Künste eines neuen reizvollen Lebens, wie es Italien lehrte, ver-
mochten nicht, die immer mächtiger wogende Bewegung der Geister zu
hemmen. Bald verband sich mit den demokratischen Ideen auch das Ver-
langen nach kirchlicher Reform, das Bedürfnis einer sittlichen und reli-
giösen Läuterung.
Die Reformatoren betonten das Recht der Gemeinde und fanden
mit dieser Forderung festen Halt bei dem Bürgerstand, der sich in den
Städten schon zu einer gewissen Unabhängigkeit emporgearbeitet hatte.
Dazu kam die wachsende Kenntnis des klassischen Altertums,
das mit der Erinnerung an die einst so blühenden Gemeinwesen in
Griechenland und Italien die Verbreitung republikanischer Ideen wesent-
lich förderte. So wurde die Litteratur im 16. Jahrhundert vielfach revo-
lutionär. La Boetie gab in seiner Schrift: „Von der freiwilligen Knecht-
schaft" seiner Verwunderung darüber Ausdruck, daß so viele Menschen
sich blindlings und ohne Widerstand dem Willen eines einzigen unter-
werfen. Seine Schrift machte großen Eindruck, und als unter den letzten
Valois Hugenotten sowohl wie Liguisten abwechselnd die Waffen gegen
den König ergriffen, ging man bald noch weiter. Ein Jahr nach der
Bartholomäusnacht einigten sich die ihrer Führer beraubten Hugenotten
von Languedoc und der Guyenne zu einer republikanischen Föderation.
Flugschriften predigten allerorten republikanische Grundsätze. In seinem
Buch: „Franco-Gallia" erklärte Francois Hotman, die Königswürde sei
in den früheren Zeiten in Frankreich durch Wahl vergeben worden, die
allgemeine Versammlung der Nation stehe über dem König, denn sie
allein sei befugt, Gesetze zu geben, Steuern auszuschreiben, über Krieg
und Frieden zu entscheiden. In anderen Schriften wurden die Valois
laut des Treubruchs geziehen, da sie das System der türkischen Despotie
in Frankreich heimisch machen wollten, und man klagte laut über ihren
sittenlosen Lebenswandel und ihre Verschwendung, während das Land
von Schulden und Steuern erdrückt wäre. Xicht die Hugenotten allein
sprachen so. Auch die einsichtigen Katholiken mißbilligten offen die
ganze Regierungsweise. Das zeigte sich deutlich auf den Versammlungen
der Reichsstände, welche die Könige notgedrungen von Zeit zu Zeit
beriefen. Der dritte Stand, das Bürgertum, enthüllte dabei merkwür-
lüge Bestrebungen. In den Forderungen, die er bei der Versammlung
der Reichsstände zu Orleans im Jahr 1561 aufstellte, verlangte er,
daß die Geistlichen, selbst die höchsten Würdenträger, vom Klerus und
vom Volk gemeinsam gewählt werden, daß die Einkünfte der Kirche
zum großen Teil dazu verwendet werden sollten. Schulen und Kranken-
häuser zu errichten. Er verlangte ferner Wahl der Richter, Verminde-
rung der Feiertage. Aufhebung der Zollschranken zwischen den einzelnen
Provinzen des Landes, Befreiung des inneren Handelsverkehrs von jeder
Hemmung, Einführung eines Systems, das dem Freihandel nahe kommt,
für den Verkehr mit dem Ausland, gleiches Maß und Gewicht für ganz
Frankreich , Minderung der Feudalgerechtsame u. s. w. Der König hatte
die Reichsstände nur berufen, um sich Geld bewilligen zu lassen, und
war nicht gesonnen, solchen Forderungen Gehör zu geben. Er entließ
die Versammlung in Ungnade. Aber noch in demselben Jahr traten die
Abgeordneten der' 13 großen Gouvernements in Pontoise zusammen,
und auch dort betonte der dritte Stand seine W^ünsche nach durchgrei-
fenden Reformen. Kein Geistlicher solle künftighin mehr Sitz im welt-
lichen Rat des Königs haben, solange nicht der Klerus auch der welt-
lichen Gerichtsbarkeit unterstehe und solange er einem Fremden Gehor-
sam schwöre. Der dritte Stand verlangte ferner volle Gewissensfreiheit,
Änderung des Finanzsystems, Bewilligung der Steuern durch die Reichs-
stände, welche zu diesem Behuf periodisch zusammentreten müßten,
Verkauf eines großen Teils der Kirchengüter und Besoldung der Geist-
lichkeit durch den Staat.
Auf der Versammlung der Reichsstände zu Blois (1576) wider-
standen die Abgeordneten des dritten Standes unter der klugen und
kraftvollen Führung des gelehrten Jean Bodin allen Lockungen und
Drohungen des Königs. Bodin, der Vorläufer Montesquieus, ist als Ver-
fasser eines Werks über den Staat und dessen Natur rühmlich bekannt,
und zu bemerken ist, daß er und seine Partei Katholiken waren, daß
die Hugenotten nicht einmal eine Einladung zu dieser Versammlung er-
halten hatten. Bei der Lage der Dinge, der gänzlichen Ohnmacht Hein-
richs III. , schien somit der schließliche Sieg jener politisch so hoch
bedeutsamen Ideen wahrscheinlich genug. Allein diese ganze Bewegung,
dieses kühne Hervortreten des gebildeten, freisinnigen Mittelstands findet
sich nur in der ersten Zeit der Bürgerkriege. Das steigende Elend, die
wachsende Verwilderung verdrängten bald alle Fragen dieser Art. Das
Bürgertum , das sich bis dahin materiell stets mehr gekräftigt hatte,
und geistig so hoch stand, daß es die ganze reformatorische Bewegung
<les 16. Jahrhunderts hatte hervorrufen können, sah sich am Schluß
■der Bürgerkriege noch einmal niedergeworfen und seiner Hofi"Qungen
beraubt.
Das 17. Jahrhundert ist im wesentlichen nur eine Reaktion gegen
die Bestrebungen der früheren Zeit. Dieser Umstand darf bei seiner
Beurteilung nicht übersehen werden ; ein volles Verständnis der Epoche
Ludwigs XIV. ist ohne Kenntnis dieses Verhältnissos kaum möglich.
Nur so begreifen wir auch, warum das 17. Jahrhundert in seinen
Bestrebungen scheitern mußte. Es wollte die absolute Monarchie für
alle Zeiten errichten, und führte zum Sturz des Königtums; es ge-
dachte die Glaubenseinheit durchzusetzen, und leitete zum religiösen In-
differentismus oder zum Unglauben; es wollte Frankreich zur alleinigen
Macht und Größe in Europa erheben , und stürzte es in unsägliches
Unglück. Nur in der Litteratur führte das 17. Jahrhundert für Fi'ank-
reich eine Blütezeit klassischer Vollendung herauf. Aber selbst dieser
schönste Kuhm Frankreichs wurde nur mit schweren Opfern erkauft, wie
wir bei späterer Gelegenheit nachzuweisen haben; denn die Reaktion hat
auch auf dem Gebiet der schönen Künste ertötend eingegriffen. Bedenkt
man, daß auf Zeiten großer nationaler Erregung, tiefgehender politi-
scher oder socialer Arbeit eines Volkes häufig eine Periode besonders
fruchtbaren geistigen Schaffens folgt, so wundert man sich nicht, in
Frankreich nach den Stürmen der Bürgerkriege ein solches Aufblühen
der Litteratur zu tinden. Mußte sie doch für viele verlorene Güter Er-
satz bieten! Wohl aber muß es auffallen, dass die klassische Zeit der
französischen Litteratur ein so jähes Ende fand, nachdem sie sich kaum
in ihrer Größe gezeigt hatte. Die klassische Litteratur war unvermerkt
auf falsche Bahnen geraten, und es ist keine tollkühne Behauptung,
wenn man auch hierin den Einfluß jenes hemmenden Systems sieht,
ohne welchen die französische Litteratur Frankreichs im 17. Jahrhundert
sich zu einer noch viel höheren Bedeutung aufgeschwungen hätte. Diese
Reaktion aber ging nicht von einem Mann allein aus; so groß der Einfluß
des Hofes auch war, er genügte nicht, eine ganze Litteratur in ihrem Cha-
rakter umzuwandeln. Es war vielmehr die ganze Nation, welche diese geistige
Richtung eingeschlagen hatte, eine deutliche Folge der Niederschmetterung
des freigesinnten Bürgertums während der langen Religionskriege.
Das Bürgertum brauchte fast ein volles Jahrhundert, um wieder
zu dem Punkt zu gelangen , auf dem es zur Zeit der ersten Religions-
kriege gestanden hatte. Das 18. Jahrhundert nahm dann die Arbeit des
16. wieder auf; umso energischer und stürmischei-, je länger die Ent-
wicklung gehemmt worden war, und umso durchgreifender und leiden-
schaftlicher, je mehr die oberen Stände in der Reaktionszeit an Kraft
eingebüßt hatten, ohne doch ihre Ansprüche zu verringern. So wird es
klar, daß die französische Revolution nur gewaltsam realisiert, was die
Bürger des 16. Jahrhunderts langsam auf friedlichem Weg hatten er-
reichen wollen. Die „Franco-Gallia" des Franyois Hotman wurde zum
„Contrat social", die Versammlung der ehrenfesten Abgesandten des
dritten Standes zum Konvent.
Gedanken und Anschauungen, die oft völlig unterdrückt erscheinen,
erhalten sich wie in geheimer Strömung unter der Oberfläche, bis günsti-
gere Zeiten kommen, in welchen sie mit einem Mal zur Verwunderung
vieler mit neuer Macht hervorbrechen und den Sieg erlangen.^)
1) Man vergleiche neben den größeren Werken über die französische
Geschichte besonders F. T. Perrens, La democratie en France au moyen äge.
Ouvrage couronne par l'Institut. 2. Ausgabe. 2 Bände. Paris, Didier & Co., 1875.
ün berechenbar waren die Polgen dieser Kriege für Frankreich wie
für Deutschland. Wie der Ausgang des Kampfes in jedem Land ver-
schieden war, so gestalteten sich auch dessen Ergebnisse, politische und
ethische, in jedem Land in anderer, fast entgegengesetzter Weise.
Der dreißigjährige Krieg hat für Deutschland auf den ersten Blick
ungleich schlimmere Folgen, als die Religionskriege für Frankreich. Nach
dem westfälischen Frieden ist das Deutsche Reich dem Zerfall nahe,
die kaiserliche Autorität nur noch ein Schatten, und die Auflösung des
einst so mächtigen Staatswesens nur noch eine Frage der Zeit. Auf
Jahre hinaus liegt alles zu Boden ; eine tödliche Erschöpfung folgt dem
langen Kampf, überall oft'enbart sich traurige Ohnmacht. Die Ver-
wüstungen sind so furchtbar und so ausgedehnt, der Verlust an Menschen-
leben so ungeheuer, daß Deutschland ein Jahrhundert lang in schwerem
Siechtum krankt, währenddessen sogar das nationale Bewußtsein zu
ersterben droht und nichts gedeiht, als der Hochmut und die Eng-
herzigkeit der kleinen, nun beinahe unabhängigen Landesfürsten. Diese
brüsten sich in künstlich geschaffeneu Residenzen und werfen bewun-
dernde Blicke nach Versailles, denn ihre einzige Sorge ist, den Luxus
und die Etikette des französischen Königshofs in lächerlich kleinlicher
Weise nachzuäffen.
Die Idee des Vaterlands schrumpft zusammen; die Sprache selbst,
die reiche, geschmeidige, poesievolle Muttersprache des Volkes ist bedroht,
so sehr wird sie mit fremden Brocken, lateinischen und französischen
Wendungen verunstaltet. Bei der Ohnmacht des Volkes wächst der klein-
liche Geist des Junkertums und die Beamtenherrlichkeit. Der beschränkte
Unterthanen verstand wird nie mehr betont als in dieser armseligen Zeit.
Alles wird klein in kleinlichen Verhältnissen. Wie schwer wird es da
selbst dem kräftigsten Geist, sich aus solchen Banden loszureißen,
solche Hemmungen zu überwinden.
Gerade aber weil das Band , welches die einzelnen Staaten des
Deutschen Reichs zusammenhielt, schon vor dem großen Krieg nur
noch lose gewesen war, behielt der Kampf in Deutschland trotz der
Religionsfrage mehr den Charakter eines Kriegs gegen äußere Feinde.
Selbst im Beginn; der Feldzug des Markgrafen von Baden gegen den
bayrischen Tilly erweckte nicht den Abscheu, den ein Bürgerkrieg her-
vorrufen muß. Die Scharen des Koadjutors von Halberstadt und des
Grafen von Mansfeld lebten vom Raub und verheerten auf ihren Kreuz-
und Querzügen katholische und protestantische Länder mit größter Un-
parteilichkeit. Einzig der böhmische Krieg ist ein Bürgerkrieg und hat
in seinem Gefolge Hinrichtungen und Konfiskationen. Später tummeln
sich dänische, schwedische, spanische, italienische und französische Kriegs-
völker auf deutschem Boden. Zudem war das Reich derart geschieden,
daß der Norden im allgemeinen protestantisch, der Süden katholisch
war. So schrecklich die verwilderte Soldateska in dem unglücklichen
Lande auch hausen mochte, so war es doch kein Kampf zwischen Nach-
barn, Brüdern, Stadt- und Landesgenossen. Das schützte den Volks-
charakter. Und aus dem verderblichen Krieg rettete sich Deutschland
ein kostbares Gut, das auch über die folgende schwere Zeit glücklich
hinausbalf und die bessere Zukunft verbürgte. Die Gedanken- und Ge-
wissensfreiheit war das Palladium, das sich die protestantischen Länder
gesichert hatten. Wol mochte sie im einzelnen, im Streit der Meinungen
oft verletzt werden, im ganzen blieb das Kecht der freien Forschung
bewahrt. Der Sinn für wissenschaftliches Streben verschwand nie ganz
von den deutschen Universitäten. Hatte sich der dreißigjährige Krieg
auch manchen dieser Anstalten verderblich erwiesen, so wurden dafür
andere Hochschulen, meistens in protestantischen Ländern, errichtet. Diese
wurden zu neuen Mittelpunkten , von welchen sich das Licht in immer
weitere Kreise verbreitete . und welche somit die geistige und politische
Wiedergeburt Deutschlands vorbereiteten.
Ganz anders in Frankreich. Dort hatte der Religionskrieg alle
Schrecken des Bürgerkriegs angenommen. Fast in jeder Stadt standen
sich zwei haßerfüllte Parteien gegenüber. Man führte keinen ehrlichen
Krieg miteinander, sondern sann nur darauf, wie man den Gegner
vernichten könnte, sei es auch durch Mord und Verrat. Die Greuel-
thaten der ersten französischen Revolution erscheinen klein, wenn mau
sie mit den entsetzlichen Vorgängen der Religionskriege vergleicht.
Beiden Parteien, Katholiken und Hugenotten, gebührt der Vorwurf un-
menschlicher Thaten, wenn auch die Liguisten. unter der Führung der
Guisen, sich besonders darin hervorgethan haben. Wie man später in
der Revolutionszeit die Königsgräber zu Saint-Denis schändete, so ver-
wüstete ein fanatischer Pöbel zwei Jahrhunderte zuvor die Ruhestätte
Wilhelms des Eroberers zu Caen, des Herzogs Rollo und des Königs
Richard Löwenherz zu Rouen , Ludwigs XL zu Clary, die Gräber der
Bourbon-Vendume und der Valois-Angouleme. In Toulouse wütete ein
fünftägiger Straßenkampf zwischen den Bürgern der Stadt. Auf der einen
Seite standen die Protestanten und die mit ihnen verbündeten Studenten,
auf der andern die Katholiken und einige Abteilungen königlicher
Truppen. Letztere siegten, und Hunderte von Hugenotten, die infolge
einer Kapitulation die Waffen niedergelegt hatten, wurden gegen das
gegebene Wort zum Tod geführt. Der Kern der Toulouser Bürgerschaft
war vernichtet. Ähnlich ging es an vielen Orten. Der Herzog von Guise
ließ kalten Bluts die protestantischen Bewohner von Vassy in zwei-
tägigem Gemetzel umbringen und die Leichen ins Wasser werfen. Die
Mordsucht drang bis in die höchsten Kreise. Die Könige aus dem Hause
Valois gaben darin ein trauriges Beispiel. Der Herzog von Anjou er-
zählte selbst, wie er von seinem Bruder, König Karl IX., erdolcht zu
werden fürchtete, und als er später den Thron bestieg, sah er seinen
Bruder Alen^on gegen sich verschworen. Brüder kämpften gegen Brüder,
und immer wilder loderten die Leidenschaften empor. Kaum ist es nötig,
hier an die Bartholomäusnacht zu erinnern , in welcher nach mäßiger
Schätzung über 2000 Opfer zu Paris fielen, während in den darauffol-
genden Tagen an 20.000 Menschen in den Provinzen gemordet wurden.')
') Martin, Histoire de France, IX, p. 327
Wie die Septembriseurs im Jahr 1798 zu Paris die Kerker erbrachen
und die Gefangenen niedermetzelten, so stürmten 1572 zu Lyon einige
hundert Banditen unter Führung städtischer Beamten das Gefängnis
und erschlugen die dort eingeschlossenen Hugenotten. Papst Pius V. gab
dem Grafen Santa Fiore, den er mit 6000 Mann zu Hilfe nach Frank-
reich schickte, den Befehl, keinem Hugenotten das Leben zu schenken.^)
Ähnliche Ermahnungen, die Ketzer auszurotten, schrieb Pius an Katha-
rina von Medici (1569), wie er das Jahr zuvor dem Herzog von Alba
anempfohlen hatte, mit seinen löblichen Handlungen in Belgien fortzu-
fahren und sich damit den Himmel zu verdienen. So ist es denn kein
Wunder, daß der Meuchelmord ein gewöhnliches Mittel wurde, sich seines
Gegners zu entledigen. König Karl setzte auf Colignys Haupt einen
hohen Preis, und der Diener des Admirals wurde im Jahr 1569 gehängt,
weil man ihn im Verdacht hatte, daß er seinen Herrn habe vergiften
wollen. Karl IX. belohnte Maurevert, den Meuchelmörder des tapferen
Hugenottenführers de Moy. mit einem hohen Orden. Das ist derselbe
Maurevert, der am 22. August 1572 auf Coligny schießt und damit die
Bluthochzeit einleitet. Conde, das Haupt der Hugenotten, gerät in Ge-
fangenschaft und fällt gleich darauf waffenlos unter der Kugel eines im
Dienst Anjous stehenden Schweizer Hauptmanns. So oft in jener Zeit
der Tod einen Menschen von Bedeutung wegrafft, erhebt sich ein grauser
Verdacht; so bei dem Hinscheiden der Königin Jeanne d' Albret von Na-
varra, so bei dem Tod d'Andelots, Colignys Bruder, des Kardinals Chä-
tillon, des Marschalls Vieilleville, selbst noch bei Gabrielle d'Estrees.-)
Nichts Ähnliches zeigt sich in Deutschland während des dreißigjährigen
Kriegs. Nur Wallenstein fällt durch Mord, vielleicht auch Gustav Adolf
und, durch französisches Gift, Bernhard von Weimar. Doch sind diese
letzten Fälle nicht bewiesen, und hervorheben muß man. daß die Mörder
niemals von der Gegenpartei gedungen waren, daß der Meuchelmord nicht
als gute W^affe gegen die Feinde angesehen wurde. Im französischen
Bürgerkrieg dagegen fielen fast alle Führer durch Mord: Conde, Coligny,
der Herzog von Guise, Heinrich III. und schließlich auch noch Heinrich IV.
Das mußte auch auf die folgenden Geschlechter verderblich nachwirken.
Doppelt folgenschwer wurde nun für Frankreich bei der furchtbaren
Niederlage des Bürgertums auch die Schwächung des Adels. Nicht nur
waren die demokratischen Bestrebungen des dritten Standes vereitelt,
auch die feudalen Sondergelüste wurden niedergeschlagen und das König-
tum, das seinen Sieg mit Klugheit und Energie zu benutzen verstand,
«rhob sich mit einem Mal bis zur unumschränkten Machtvollkommenheit.
Welch ein Gegensatz zwischen den letzten Valois, die, ein Spielball der
Parteien, kaum noch den Schein der königlichen Macht besaßen, und
den auf sie folgenden Bourbonen, deren geringste Laune als Befehl galt!
Diese Entwicklung zeigt deutlich, welche Hauptrolle selbstsüchtige
Politik auch hier in den Religionskriegen gespielt hat. Für einen großen
') Martin IX, 250 if. Catena, Vie de Pie V, p. 85.
2j Martin, IX, 297 u. 298; X, p. 502.
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Teil des Volkes war die Glaubensfi-age allerdings eine Gewissenssache ;
für die Führer war sie oft nur ein Vorwand, um persönliche Absichten
zu verhüllen. Die Valois und ihre Mutter, Katharina von Medici, waren
durchaus nicht frommgläubig, wenn schon sie viel auf Amulette, Zauber-
künste und astrologische Wissenschaft hielten. Die Guise strebten offen
nach der Krone, und was Heinrich von Navarra über den Wert der
Religion dachte, zeigt sein mehrmaliger Glaubenswechsel.
Gestützt auf den ohnehin nach regelmäßiger und gleichartiger Ge-
staltung der Verhältnisse strebenden Charakter des französischen Volkes,
mußte diese Entfaltung der königlichen Macht ein Resultat geben, welches
den in Deutschland allmählich sich entwickelnden Zuständen völlig ent-
gegengesetzt war.
Das französische Königtum duldete neben sich keinerlei selb-
ständige Macht, keine auf sich beruhende Größe. Der Adel, der früher
eine besondere Macht im Staat besessen hatte, wurde von Heinrich IV.
in vorsichtiger, von Richelieu in entschiedener W^eise seiner politischen
Bedeutung beraubt und von Ludwig XIV. endlich zum unterwürfigen,
nichtssagenden Hofadel herabgedrückt, der nur dazu diente, den Glanz
des Königs zu erhöhen. Ihm den Verlust seiner Unabhängigkeit weniger
fühlbar zu machen, ließ man dem Adel eine Menge gesellschaftliciker
und materieller Vorrechte. Was aber eine Wohlthat sein sollte, wurde
erst recht die Ursache seines Verderbens. Eine Klasse, die so große
Privilegien durch keinerlei Verdienste, durch keinerlei Arbeit für das
Gemeinwohl vergessen machte, mußte in den Augen des Volkes immer
tiefer sinken, jedes Ansehen, jeden Halt verlieren. Darin eben zeigte
sich die verderbliche Nachwirkung der Bürgerkriege. Ein Adel, wie der
englische, war in Frankreich bald nicht mehr möglich. Ein Abgrund
trennte die begünstigten Klassen und das eigentliche Volk. Ein so ge-
mäßigter Schriftsteller, wie Montesquieu, konnte doch schon 1721 sagen:
„Ein großer Herr ist ein Mann, der den König sieht, mit den Ministern
spricht, der Ahnen, Schulden und Pensionen hat".
Schärfer noch hatte schon früher Lord Bacon die Überlassung
aller Gewalt an einen einzigen getadelt. -Ein Mann, der die einzige
Ziffer unter Nullen sein will, ist der Ruin eines Zeitalters." In diesen
Worten liegt die völlige Verurteilung Ludwigs XIV. und seines Systems.
Wenn andere Fürsten die Macht des Adels zu brechen suchten,
stützten sie sich in ihrem Vorgehen auf das Bürgertum. Nichts Ähn-
liches findet man im 17. Jahrhundert. Schwer geschädigt, gedemütigt,
mit seinen politischen Ansprüchen höhnisch zurückgewiesen, so trat das
Bürgertum aus den Religionskriegen hervor. Eine lange und langsame
Arbeit begann für dasselbe aufs neue. Es galt, die Kräfte wieder zu
sammeln. Allmählich nur stieg die Wohlfahrt des Volkes wieder, und
diese ermöglichte die weitere Verbreitung der Bildung, der freieren Ideen.
Doch erst im 18. Jahrhundert traten die Folgen dieser Erstarkung deut-
lich zu Tage. Während des 17. Jahrhunderts giebt das Bürgertum wol
eine Reihe von Gelehrten und gebildeten Männern; es erheben sich aus
seinen Reihen die größten Dichter, die Frankreich je besessen ; aber
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diese alle arbeiten nur für Hofkreise, für die Welt des Adels und der
hohen Gesellschaft. Nur eine so bevorzugte Stellung konnte damals die
nötige Muße und jene Freiheit des Geistes gewähren, die für die
höheren Genüsse des Lebens allein empfänglich macht. Aus der Eeihe
des Bürgertums wählt der König seine Minister, wie überhaupt alle
Beamten, welche nicht allein repräsentieren, sondern auch arbeiten müssen.
Mau findet Bürgerliche überall, wo geistige Anstrengung, Studium und
Wissen nötig ist, so in der Justiz, in der Verwaltung, in der Technik.
Allein das ist Berechnung des Herrschers, Gnade, und als Stand be-
deutet das Bürgertum noch nichts. Es hat weniger Einfluß auf die
Geschicke des Landes als hundert Jahre zuvor; es hat nur Pflichten,
keine Rechte. Vom Landvolk aber ist gar keine Rede.
So stand die königliche Macht allein und unumschränkt, aber im
Grunde auch auf nichts gestützt. Welche Gefahren das mit sich brachte,
ist klar. Unsäglich war das Elend, welches infolge der schlechten
Verwaltung, der beispiellosen Bedrückung, und zuletzt auch der unglück-
lichen Kriege überall herrschte, ganze Dörfer aussterben und weite Landes-
strecken veröden ließ. Aber größer noch waren die sittlichen Gefahren
für das Volk, Gefahren, welche aus einem System erwuchsen, das sich
die^ Unterdrückung jedes selbständigen Willens, jeder geistigen Freiheit
zum Ziel gesetzt hatte. Denn so weit mußte es kommen. Mit rauher
Hand wurden die letzten Reste provinzialer Selbstverwaltung hinweg-
gefegt, und wer anders dachte, als wie es von oben her gestattet war,
fand bald keine Stätte mehr in Frankreich. Descartes verließ seine
Heimat, die Jansenisten wurden mit Gewalt zum Schweigen gebracht
und ihre Lehre unterdrückt, die Protestanten durch Dragoner in die
Messe getrieben oder beraubt und in die Fremde gejagt. Wer vermag
nachzuweisen, welche'n Schaden der Charakter der Nation dadurch erlitt,
welches Leben, welche geistige Kraft die klassische Litteratur Frankreichs
gewonnen hätte, wenn die freie Entwicklung der Intelligenz nicht ge-
hemmt worden wäre.
So aber vereinigte der König nicht allein die politische Macht in
seiner Hand; er strebte selbst die Geister zu beherrschen. Dazu mußte
ihm auch die Litteratur helfen, die er in den Kreis seines Hofes zog
und sich völlig dienstbar machte. Denn außer ihm gab es kein Heil.
Während unter Heinrich IV. von feinerem geselligen Leben noch kaum
die Rede war. und unter Ludwig XIII. der Hof nichts weniger als maß-
gebend in Sachen des Geschmacks und der Sitte erschien, hatte sich
Ludwig XIV. die Gesellschaft bereits ganz unterworfen. Unter ihm gab
der Hof den Ton an und der König stand in seinem Mittelpunkte,
einer Gottheit gleich, der man nur mit Scheu und Ehrfurcht nahen
konnte. Damals war es, daß die französische Gesellschaft jene Feinheit
der Form annahm, jene Würde und jenen Anstand, der sich in allen
ihren Äußerungen findet und welchen zuerst die Marquise von Rambouillet
erstrebt hatte. Das Leben der höheren französischen Gesellschaft von
der Mtte des 17. Jahrhunderts an bis zur Revolution erscheint zwar
einseitig, doch in sich harmonisch; nichts störte, nichts verunstaltete;
12
vornehm und fein, geschmackvoll in seiner Weise, war es nicht ohne
Größe. Was hätte stören können, wurde fern gehalten, und man schuf
sich eine Wahrheit, da man die echte Wahrheit und ^Natur nicht er-
tragen mochte. Man glaubte zur antiken Einfachheit und Würde zurück-
zukehren, während man doch völlig modern blieb.
Selbst die Sprache folgte dem Zug der Zeit. Auch hier machte
sich die Centralisation und ihre nivellierende Herrschaft geltend. Unter
der feilenden, stets sich selbst mäßigenden und regelnden Arbeit der
um die Sonne königlicher Gunst kreisenden Schriftsteller verarmte sie
zusehends. Die feine, bewegliche, reiche Sprache der früheren Zeit wurde
vornehm, etikettemäßig, symmetrisch, aber auch elegant, stilvoll, vor-
nehm und dabei groß, klar und sicher, ein Abbild der Zeit, in der sie
entstand. Im ganzen betrachtet, war die Bildung des Jahrhunderts mehr
formal, mehr äußerlich; es war eine prächtige Blüte, aber es fehlte oft
der Kern. Unter der schönen Form, in der bezaubernden klassischen
Sprache fehlte es häufig an belebenden fruchtbaren Ideen. Das wird uns
sofort klar, wenn wir die Ideale des 17. Jahrhunderts mit dem ver-
gleichen, was die folgenden Generationen bewegte. Diderot spricht ein-
mal von den kleinmütigen „Jahrhunderten des Geschmacks", von den
Jahrhunderten, die nur auf Schönheit sehen und welchen „die Kühnheit
des Geistes" fehlt. \)
Diese Kühnheit fand sich erst später, als der stolze Bau des un-
umschränkten Königtums zerbröckelte und die Arbeit einer früheren Zeit
wieder aufgenommen wurde.
Die Philosophie der Aufklärung, welche das 18. Jahrhundert kenn-
zeichnet, erinnert in vielen Punkten an die Sophisten Griechenlands.
Wußten sie auch Demokrits großartige Philosophie, auf der sie fußten,
nicht weiter auszubilden, so bezeichneten sie dennoch einen Fortschritt.
„Das Material der empirischen Wissenschaften", sagt Lange in seiner
trefflichen Geschichte des Materialismus, „wurde durch die Sophisten
popularisiert. . . Die Poesie sank unter ihrem Einfluß von ihrer idealen
Höhe herab und näherte sich in Ton und Inhalt dem Charakter des
Modernen. Verwicklung, Spannung, geistreicher Witz und Rührung
machten sich mehr und mehr geltend."^)
Die Sophisten beschleunigten den Auflösungsprozeß, der das alte
Athen bedrohte. Scharfe Denker, traten sie gegen den starren Partiku-
larismus der kleinen Staaten auf, und indem sie sich in kosmopoliti-
schem Sinn mehr an die ganze Menschheit wendeten, gaben sie der
griechischen Demokratie jene Kraft, welche sie zur Herrschaft führte.
Ähnlich erhob sich die Philosophie des 18. Jahrhunderts gegen die Tra-
ditionen der Epoche Ludwigs XIV. Nur zeigte sich die revolutionäre
Arbeit, welche die staatlichen und socialen Verhältnisse Frankreichs
1) In seinem Artikel „Encyclopedie" in der Encyklopädie : „II u'appar-
tient qu'ä ua siecle philosophe de tenter une Encyclopedie, parce qua cet ouvrage
demande partout plus de hardies.se dans l'esprit qu'on n'en a communement
dans les siecles pusillanimes du goüt."
2) Lauge, Geschichte des Materialismus, Bd. I, S. 37.
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bedrohte, lange Zeit als Freundin der klassischen Litteratur und ihrer
ererbten Weise. Mochte dieselbe mit ihrem aristokratischen Charakter
und ihrer in die neue Zeit nicht mehr recht passenden zurückhaltenden
Manier auch erstarrt, ja lebensunfähig erscheinen ; ernstlich angegriffen
sah sie sich doch erst lange nach der Revolution. Wie sie der größte
Ruhm des 17. Jahrhunderts war, so blieb auch ihre Herrschaft lange
noch aufrecht, als schon die meisten Schöpfungen einer früheren Zeit
gestürzt waren. Das spricht für eine große innere Kraft und nötigt selbst
dem Gegner Achtung ab, der sich mit ihrem Charakter am wenigsten
zu befreunden vermag.
Diese Litteratur, die schönste Frucht eines Jahrhunderts, in welchem
sich Frankreich zu einer dominierenden Stellung auf dem Kontinent
emporschwang, soll den Gegenstand der nachfolgenden Darstellung bilden.
Das Kulturbild, das wir zu entwerfen versuchen, wird seine Bedeutung
darin haben, daß es eine Entwicklung schildert, welche nicht allein für
Frankreich von höchster Wichtigkeit war, sondern auch für das Geistes-
leben und die Geschmacksrichtung von ganz Europa auf lange Zeit hin-
aus bestimmend wurde.
I.
Die französische Litteratur zur Zeit der letzten
Valois.
Mit dem 17. Jahrhundert beginnt eine neue wichtige Epoche für
Frankreich. Bereits lassen sich auf dem staatlichen wie auf dem socialen
Gebiet die Formen des modernen Lebens erkennen. Auch in der Litte-
ratur setzt man gewöhnlich den Beginn der neuen Zeit in den Anfang
dieses Jahrhunderts, indem man die Reformarbeit Malherbes als Aus-
gangspunkt der klassischen Entwicklung betrachtet. Nicht mit Unrecht,
wenn man nur die äußere Form, die Sprache, ins Auge faßt. Die geistige
Richtung aber war schon lange gegeben, und Malherbe hat wenig oder
gar keinen Einfluß auf sie geübt. Der entscheidende Wendepunkt in
der Geschichte der französischen Sprache und Litteratur ist schon
50 Jahre früher zu suchen, als Joachim du Bellay die Hoheit der
französischen Sprache verkündete und dem Volk deren Ausbildung als
nationale Pflicht empfahl. Will man aber nicht so weit zurückgreifen,
so bleibt, um den Beginn der neuen Litteraturepoche zu bezeichnen, nur
das denkwürdige Jahr, in welchem Corneille seine Zeitgenossen mit dem
,.Cid" überraschte und ihnen durch die Schönheit seiner markigen, hin-
reißenden Sprache und noch mehr durch die geistige Hoheit seines
Dramas bewies, daß das lang ersehnte Ziel endlich erreicht war. Der
lange Zeitraum, der zwischen du Bellay und Corneille liegt, war dagegen
eine Epoche des Tastens, des Versuchens, mühevoller Arbeit und lang-
sam fortschreitender Entwicklung, bietet aber unseres Erachtens keine
Geiste sthat, welche als entscheidend für eine neue Richtung gelten könnte.
Zum Verständnis der Litteratur im 17. Jahrhundert scheint des-
halb ein kurzer Überblick über die verschiedenen Hauptströmungen im
litterarischen Geschmack der vorhergehenden Zeit fast unentbehrlich.
Stürmisch und reich an wechselvollen Begebenheiten ist die Ge-
schichte dieses merkwürdigen Jahrhunderts, und denselben Charakter
trägt auch seine Litteratur. Sic bietet eine solche Mannigfaltigkeit der
Erzeugnisse, solche Gegensätze in den einzelnen Werken, solchen Reich-
tum geistiger Kraft, daß wir moderne Menschen, die wir durch unsere
Erziehungsmethode alle mehr oder weniger denselben Schliff erhalten
haben, einem einzigen Volk diese Vielseitigkeit und diese in ihrer Laune
oft so eigentümliche Originalität kaum zutrauen mögen.
Wir unterscheiden in der damaligen Litteratur drei Hauptrich-
tungen, welche nebeneinander hergehen, nicht selten aber auch sich
miteinander verbinden. Zuvörderst ist der nationale, echt französische
15
Geist zu nennen, der, einem frisch sprudelnden Quell vergleichbar, munter
und frei sich giebt, wie er ist, und unbekümmert um fremdes Vorbild
€chte Poesie in volkstümlicher Art bietet. Neben ihm machte sich der
Einfluß des klassischen Altertums geltend, dessen Herrschaft sich umso
entschiedener gestaltete, je vertrauter man mit ihm wurde; und endlich
fand man in den Ländern mit der stammverwandten Sprache, in Spa-
nien und Italien, ein gewinnendes Vorbild. Italien, das zu dem glän-
zenden Ruhm seiner Vergangenheit noch besonders den Zauber moderner
Kunstvollendung, fesselnder Poesie und gewinnender Geselligkeit fügte,
errang in allen Fragen des Geschmacks eine kaum bestrittene Autorität.
Das 16. Jahrhundert pflegte mit Vorliebe alle jene Gattungen der
Litteratur, welche nach dem Ausspruch vieler französischer Kritiker wahr-
haft dem nationalen Charakter entsprechen, so besonders die Ballade,
die poetische Epistel, die schalkhafte Erzählung, das Rondeau, das Ma-
drigal, das Epigramm. Epos und Tragödie sind trotz großartiger Erfolge
auf dem Gebiet der letzteren doch nicht aus dem französischen Volks-
geist hervorgegangen und sind daher niemals eigentlich volkstümlich
geworden. Umso mehr aber das Lustspiel, das wir denn auch lange vor
der klassischen Zeit, vor der Begründung des regelmäßigen Theaters,
in hoher Gunst und eifrig bearbeitet finden. Wie die Meisterwerke der
späteren Zeit, so zeigen auch schon die ungestalten Spiele des 15. und
16. Jahrhunderts den unerschöpflichen Reichtum des Volkes an erhei-
ternden Einfällen, charakteristischen Scenen, scharfen Anspielungen und
derbem Witz.^)
Es ist dabei merkwürdig zu beobachten, wie sehr der Volksgeist
sich durch alle Jahrhunderte gleich erhält und selbst mächtige fremde
Einflüsse nach kurzen inneren Schwankungen überwindet. Ein Volk mag
uns zeitweilig als ein anderes, fremdes entgegentreten, weil es zufällig
eine bis dahin mehr verborgene Seite seines Charakters eine Zeit lang
entschiedener betont; im Grunde bleibt es immer dasselbe. Wir hatten
schon Gelegenheit, die Franzosen der Reformationszeit mit den Franzosen
des vorigen Jahrhunderts zu vergleichen und manche auffallende Ähnlich-
keit hervorzuheben. Sie scheinen sich dagegen von ihren Landsleuten im
siebzehnten Jahrhundert umso deutlicher zu unterscheiden. Doch ist
dies in der That nur scheinbar, nur äußerlich. Die Züge, welche die
Zeitgenossen Ludwigs XIV. charakterisieren, flnden sich auch in den
Franzosen der anderen Epochen wieder. Immer zeigen sie dieselbe Vorliebe
für Klarheit und Witz, dieselbe Feinheit und denselben Geschmack, sowie
das gleiche Gefallen an der Welt und dem heiteren Lebensgenuß. Das
schließt männlichen Ernst, Begeisterung uud Hingebung für eine große
Sache bei dem Volk nicht aus, wenn es auch liebt, lachend und heiter
an die Erfüllung seiner Aufgabe zu gehen.
An der Spitze der populären Litteratur, die den nationalen Charakter
am deutlichsten aufweist, standen Clement Marot und Rabelais. Beide
1) Es ist bezeichnend, daß der Unterrichtsminister Waddington im
Sommer 1876 in einer Rede, die er im Conservatorium hielt, die komische Oper
für die nationalste Bühne Frankreichs erklären konnte.
16
beherrschten die erste Hälfte ihres Jahrhunderts. Beide waren echt
volkstümlich , wenn auch der erstere im Dienst des Hofes stand und
der andere in den klassischen Studien heimisch war. Rabelais, der nichts
mit seinem kecken Spott verschont und unter der Maske des Scherzes
oft tiefernste Gedanken verbirgt , ist der geniale Vertreter des derben,
übermütiger Laune sich hingebenden Volksgeistes. Er hat darum seine
Bedeutung für alle Zeiten bewahrt. Marots Ruhm mußte etwas verblassen,
sobald die Verhältnisse, in welchen er lebte, sich änderton. Aber umso
charakteristischer ist er gerade für seine Epoche.
Wie schon sein Vater, so stand auch er dem König Franz zu
persönlichem Dienst nahe, begleitete ihn ins Feld, wurde an seiner Seite
bei Pavia gefangen und teilte eine Zeit lang seine Haft in Spanien.
Die Gedichte, die er an den König richtete, sei es, weil er Geld brauchte,
sei es, weil er aus leidenvoller Haft im Gefängniß befreit sein möchte,
verraten schon durch ihren Ton, daß er oft mehr seines Fürsten
Vertrauter als Diener war. Des Königs Schwester, die geistvolle Margarete
von Navarra, in deren Dienst er später trat, war seine besondere Be-
schützerin und wurde als solche häufig von ihm gefeiert.
In dem heiteren Kreis, der diese beiden glänzendsten Sprossen
des Hauses Valois umgab, leuchtete Marot durch sein eigentümliches
kräftiges Naturell, seine gesunde Laune, seine scharfe Zunge, seine
naive, frische Auffassung hervor. Von den Dichtern des Altertums kannte
er gerade so viel als nötig war, seinen Geschmack etwas zu läutern,
ohne daß deren Einfluß mächtig genug gewesen wäre, ihm seine Origi-
nalität zu rauben. Als würdiger Vorgänger Molieres, Lafontaines und
Voltaires steht er an dem Eingang der neueren französischen Poesie.
Leider erlebte er noch den Beginn der religiösen Streitigkeiten, das An-
schwellen des Hasses und der Verfolgungssucht. Königin Margarete
vermochte ihn nicht zu schützen, und er endete sein Leben in der
Fremde, in Turin (1544), weil die Sorbonne ketzerische Ansichten bei
ihm entdeckt haben wollte. Vergebens wandte sich Marot an König
Franz um Schutz der Wissenschaft und des Gedankens. „Science n'a
haineux que l'ignorant!" rief er. Aber Franz war kein zuverlässiger
Freund ; zumal in der Folge, als er mit zerrüttetem Körper immer mehr
den inneren Halt verlor und selbst von Neuerungen sich ängstlich ab-
wandte, die er früher begünstigt hatte. Auch Rabelais starb zu rechter
Zeit (1553). Für sein lautes Lachen, seinen Spott gab es fürder so bald
keinen Platz mehr in Frankreich.
Die Mitte des Jahrhunderts bezeichnet auch in anderer Hinsicht
einen Wendepunkt. Es ist eine auffallende Thatsache, daß mit dem
Steigen der religiösen Leidenschaften in Frankreich das Anwachsen des
■italienischen Einflusses und damit auch der klassischen Studien zu-
sammenfällt.
Seit Karls VIH. Italienerzügen waren italienische Ideen und Lebens-
formen immer mächtiger über die Alpen gedrungen. Doch stieg der Ein-
fluß Italiens zur Höhe erst mit Katharina von Medici, welche sich mit
König Heinrich IL vermählte. Seitdem herrschte in Frankreich italie-
17
nische Sitte, italienischer Geschmack, ja selbst italienische Sprache und
Litteratur wurden daselbst heimisch.
Man verlangte seitdem am französischen Hof ein feineres Wesen,
die Kunst höfischer Geselligkeit, welche die Gemütsroheit keineswegs
ausschließt. Es schliffen sich die äußeren Formen des Umgangs ab, wäh-
rend gleichzeitig unter dem Einfluß desselben Italiens das Herz ver-
härtete. Das zeigte sich deutlich unter den letzten Valois. Die erste
Hälfte des Jahrhunderts läßt noch mehr die strotzende Lebenslust, das
üppige Kraftgefühl der herrschenden Klasse erkennen. Mit der vollen
Freude am Leben stürzt sich der Adel, nach dem Beispiel seines Königs
Franz, in den Taumel des Genusses. Was das Leben verschönen kann,
ist ihm willkommen in seiner jugendlich sinnlichen Kraft; nur darf es
die Gedanken nicht beschweren. Franz L schwärmt von den Rittern der
Heldensage, er möchte jene Heroenzeit wieder heraufbeschwören, die er
aus den alten Liedern und Romanen kennt. Er sammelt seine Mannen
um sich, aber auch die Sänger, die auf seinen Ton eingehen; sie alle
bemühen sich, die Welt des Rittertums zu kopieren, haben ihre sinn-
reichen Wahlsprüche und schmachten pflichtgemäß in Liebe zu einer
Dame. Franz I., Heinrich IL, Karl IX., Heinrich III., sie alle sind er-
fahren in der Kunst des Sonetts, sie verstehen es, ein elegantes Madrigal
zu schmieden, ein zierliches Liebesliedchen zu reimen. Wenn auch viel-
leicht ein höfisch gewandter Dichter bescheiden hilfreich dabei hinter
ihnen stand, so beweisen diese königlichen Versuche doch, in welcher
Richtung der Geschmack sich bewegte. Selbst Heinrich IV., der das
Leben sonst so praktisch auffaßte, ein echter Kriegsmann und ein
schlauer Politiker, ebenso stürmisch wie wetterwendisch in seiner sinn-
lichen Liebe, ahnte die Macht einer wohlgebauten Strophe und sang sein
Lied an die „schöne Gabrielle".^)
Die Valois gaben sich gern als Mäcene. Man rühmte den feinen
Geist, die Bildung und Liebenswürdigkeit der Königin von Navarra,
Margarete von Valois-Angouleme, welche an ihrem kleinen Hof ein reiches
geistiges Leben zu erwecken wußte. Es paßt zu den vielen Seltsamkeiten
des Jahrhunderts, daß man für die Religion das Schwert zog und doch
so gleichgiltig gegen sie war, daß man die kirchlichen Ämter oft ohne
Rücksicht auf die Tauglichkeit der Kandidaten verlieh. Octavien de Saint-
Gelais wurde von Karl VIII. zum Lohn für eine Ballade zum Bischof
von Angouleme erhoben, und sein Sohn, Mellin de Saint-Gelais, erhielt
von Franz I. für seine Poesien die Abtei von Notre-Dame des Reclus
zugewiesen. So erhielt Rabelais die Pfarre von Meudon, Amyot die Abtei
Bellozane. Karl IX. ehrte die Verdienste Ronsards, indem er ihm die
Einkünfte mehrerer Stifter zuwies; Joachim du Bellay war im Begriff,
den Bischofssitz von Bordeaux zu besteigen, als er vor der Zeit starb.
^) Lettre de Henri k Gabrielle, 21. Mai (ohne Jahresangabe, wahrschein-
lich 1597): „ces vers vous represeuteront mieul.\ ma couditiou et plus agreable-
ment que ne ferait la prose. Je les ay dictez, non arrangez." Diese Worte be-
ziehen sich wahrscheinlich auf das bekannte Lied, das einige dem Dichter
Du Caurroy zuschreiben.
Lotheißen, Gesch. d. frnnz. Litteratur. o
18
und Philippe Desportes galt als der reichste Abt seiner Zeit. Wie der
Bischof in dem 18. Jahrhundert oft nichts weiter war als ein eleganter
Hofmann/) so auch in jener Zeit. Der Hof wimmelte von einer Menge
galanter Abbes, die nichts weniger als kirchlichen Sinn hatten, welche
Liebes- und Trinklieder dichteten, in schmeichelnden oder beißenden Epi-
grammen Meister waren und gelegentlich eine derbe Blasphemie nicht
scheuten. Schwung der Gedanken und Tiefe der Empfindung findet man
nicht auf solchem Weg, wohl aber förderten diese Hofdichter die Aus-
bildung der Sprache und die Eleganz des Ausdrucks. Sie suchten es den
italienischen Vorbildern gleichzuthun, bewunderten aber begreiflicherweise
jene Dichter am meisten, die, gleich ihnen in der Hofluft heimisch, in
der Verherrlichung eines fürstlichen Kreises durch zierlich aufgeputzte
Verse ihren Ruhm suchten. Die italienische Litteratur war auf Abwege
geraten und die französischen Dichter, welche ihr nachfolgten, konnten
umso weniger richtig gehen.
Zu diesem Einfluß der manierierten Dichtung Italiens gesellte sich
noch ein anderer, der nicht minder mächtig war. Die Kenntnis des
Altertums, der griechischen und römischen Litteratur, hatte sich in weitere
Kreise verbreitet. Übersetzungen hatten die Werke der Alten auch
weniger gelehrten Leuten zugänglich gemacht. Man sah sich plötzlich
vor einer Welt, deren Schönheit und Größe, deren harmonische Ausbil-
dung überwältigend wirkte, und deren künstlerischer und poetischer Wert
die Früchte, welche die nationale Poesie in Frankreich bis dahin ge-
zeitigt hatte, weit übertraf. Es ist natürlich, daß man sich jener fremden
Litteratur zuwandte und von ihr zu lernen trachtete.
Der Einfluß der altklassischen Litteratur ist kaum abzumessen. Er
formte die Sinnesart der Menschen und ihr ästhetisches Gefühl um,
wobei anfangs eine gewisse Verwirrung nicht immer vermieden werden
konnte; er machte sich nicht minder in der Ausbildung der Sprache, in
der Weiterentwicklung der Litteratur fühlbar.
Die Versuche, die Werke der Alten zu übersetzen, machten die
Unbeholfenheit der Muttersprache klar; aber sie ermunterten auch, der-
selben größere Geschmeidigkeit zu geben, um sie den feinen Wendungen
der ausgebildeten Sprachen von Hellas und Rom anzupassen.
Diese Arbeit konnte nur die ersprießlichsten Folgen haben. Die
französische Sprache lernte sich bewegen, sie wurde allmählich fähig,
nicht allein den geeigneten Ausdruck für poetische Anschauungen zu
finden; sie erwies sich auch, was ein weiterer Fortschritt ist, als ge-
nügend starkes und brauchbares Instrument für die Prosa. Nun wurde
es möglich, sie an Stelle des Lateinischen öffentlich zu gebrauchen.
Franz I. führte durch eine Verordnung im Jahr 1ÖH9 die französische
Sprache als Gerichtssprache ein, und bestimmte sie ebenfalls zum Ge-
brauch bei allen Vorträgen an dem von ihm gegründeten College de
France. Das Gefühl, daß die Sprache reif sei und eine glänzende Epoche
in der Litteratur sich eröffne^ war allgemein.
^) Vergl. Taine, La France contemporaine, l'vol.: rancien regime, p. 11)8 ff.
19
Wenige Jahre später tj'at Calvin mit seiner „Institution chrestienne"
auf und schuf die französische Prosa, wie Luther durch seine Bibel-
übersetzung die deutsche geschaffen hatte.
In jene Zeit fällt auch das denkwürdige Manifest, in welchem sich
eine neue Schule kundthat. Ronsard und seine Anhänger, die Plejade,
versuchten es, die Traditionen der antiken Poesie mit der modernen
italienischen Weise zu versöhnen ; sie sahen das große Ziel einer klassi-
schen Litteratur vor sich und setzten alle Kräfte ein, es zu erreichen.
Ihr Streben entsprach dem Wunsch und dem Gefühl der Gebildeten,
und darin liegt mit ein Grund der allgemeinen Anerkennung, welche sie
so schnell errangen.
Das Manifest der neuen Schule war von Joachim du Bellay, dem
talentvollsten Freund Ronsards, verfaßt und erschien im Jahr 1549
oder 1550; es war dies seine berühmte Schrift von dem Adel der fran-
zösischen Sprache („Tlllustration de la langue fran9aise")- Darin spricht
du Bellay es aus, daß der Franzose auf das Studium und die freie Nach-
ahmung der Alten, der Spanier und Italiener angewiesen sei, wie ja
auch die alten Römer ihre ungefüge Sprache nach dem Vorbild der
Griechen ausgebildet und umgeformt hätten, ohne dabei ihre originelle
Kraft einzubüßen. Der Dichter werde nicht geboren, sondern erlange
seine Kunst durch fleißige Arbeit. Diese Worte sind bedenklich und
verraten den Mangel an Schöpfungskraft, an dem die ganze Plejade
litt. Für du Bellay sind poetisches Genie und Gelehrsamkeit verschiedene
Äußerungen einer und derselben Kraft. Wer litterarischen Ruhm er-
werben will, muß in seinem Zimmer eingeschlossen bleiben und studieren.
Verächtlich wendet sich du Bellay von den älteren französischen Dichtern,
von Marot u. a. ab, denn diese können nicht mit ihrem Wissen prunken.
Die alte nationale Poesie, die Rondeaux, Balladen und Chansons, gelten
bei ihm nicht. Er weist auf Griechen und Römer hin, und verlangt
von den französischen Dichtern Elegien, Eklogen, Oden, Satiren, drama-
tische und epische Werke, wohlgefügt und und von antikem Sinn be-
lebt. Er ruft zum Kreuzzug gegen Griechenland auf, nicht um dessen
Herrschaft zu stürzen, sondern in dem Sinn, daß seine Landsleute sich
die Schätze der griechischen Sprache und Litteratur aneignen, daß sie
als reiche Beute einen Schatz passend gewählter Ausdrücke und Wen-
dungen gewinnen und die heimische Sprache damit bereichern. Durch
die Verschmelzung der antiken mit der modernen Kultur werde dann
auf französischem Boden ein neues_,Mustervolk erstehen, die Gallogriechen.
Was Joachim du Bellay in seiner Schrift lehrte, das suchten Ron-
sard und seine Freunde praktisch durchzuführen, und der glänzendste
Erfolg lohnte ihr Streben. Bei Hof angesehen, von den Freunden der
Poesie hochgeehrt, von Tasso bei seinem Besuch in Paris (1571) um
sein Urteil gebeten, galt Ronsard ein halbes Jahrhundert lang als das
größte Genie Frankreichs, als ein Dichterkönig, der die Litteratur seines
Landes zur klassischen Höhe geführt habe. Diese Begeisterung ist leicht
zu erklären. Das antike Gewand seiner Dichtungen täuschte. Die Plejade
bot in reichster Mannigfaltigkeit Oden in Pindars Manier, Elegien, wie
20
sie Tibiill gesungen, anakreontisch gestimmte Lieder. So glaubte man
in ihren Reihen einen Piudar. TibuU, Anakreon zu sehen. Eonsard be-
gann sogar ein Epos: „Die Franciade", in welcher er die Erlebnisse
eines mythischen Königs Francus besang. Francus, ein Sohn Hektors,
führt nach dem Fall von Troja sein Volk nach Gallien und gründet
dort ein neues Reich. Offenbar wollte Ronsard durch diese Erfindung
die Verwandtschaft des französischen Geistes mit dem Geist des alten
Griechenland hervorheben. Sein Heldengedicht ist eine getreue Nach-
ahmung der Aneide und erregte gerade deshalb Bewunderung.
Noch begreiflicher wird die Begeisterung, welche Ronsard bei seinen
Zeitgenossen erweckte, wenn man seine Dichtungen unbefangen prüft,
und sieht, wie er die Sprache durch den Adel des Ausdrucks, durch
eine gewisse Pracht der Diktion gehoben hat. Sie verdankt ihm eine
Menge neuer, sehr glücklich gebildeter Ausdrücke, die volles Bürger-
recht erlangt haben. ^) Ronsard spricht allerdings eine gelehrte Sprache,
und viele Fremdwörter, die er einzuführen suchte, haben sich als wider-
spenstig erwiesen und sind dem französischen Volk nie mundgerecht ge-
worden. Der Vorwurf, seine Muttersprache mit fremdem Ballast beschwert,
sie durch zu viel fremde Elemente entstellt zu haben, ist zwar nicht
unbegründet, trifft ihn jedoch weniger als manche seiner Nachahmer,
welche die Irrtümer des Meisters übertrieben. Boileaus Wort, Eonsard
habe griechisch und lateinisch in französischer Sprache geredet, ist des-
halb nicht ganz gerecht.^)
Ronsards Einfluß erwies sich ferner in der Reform der Metrik.
Er gab der französischen Lyrik eine Anzahl neuer, zum Teil wohlgefäl-
liger Rhythmen und führte den Wechsel der männlichen und weiblichen
Reime ein, eine Regel, die seitdem für den Alexandriner zum festen
Gesetz ward. Eonsard griff überhaupt diesen Vers wieder auf, bildete
ihn aber um vieles freier und leichter, als er später in der klassischen
Zeit erscheint. Er hat ferner durch seine Bearbeitung des aristophanei-
schen „Plutus" den Anstoß gegeben, das regelmäßige Theater in Frank-
reich zu begründen. Sein Freund und Gesinnungsgenosse Etienne Jodelle
gilt als der älteste Dichter des Dramas in seinem Vaterland.
So war eine Grundlage geboten, auf der man nur rüstig hätte
fortbauen können, um zu Bedeutendem zu gelangen. Selbst den Versuch
einer Akademie hatte man gewagt. Wie Eichelieu später, so gab schon
1570 Karl IX. die Erlaubnis zur Stiftung einer Gesellschaft, die für
die Ausbildung und Eeinheit der Sprache sorgen sollte. Die Verhältnisse
waren offenbar danach angethan, eine Entfaltung der schönen Litteratur,
1) Viele Wörter, die man als Schöpfungen Corneilles bezeichuet, reichen
auf die Dichter des 16. Jahrhunderts zurück. So z. B. invaincu, das sich bei
Garnier und [d'Aubigne findet, punisseur, impenetrable , inexorable u. a. m.
Vergl. Corneille in der Ausgabe von Marty-Laveaux, Band XI (lexique), pre-
face, S. 12 ff., sowie unter den einzelnen hier angegebenen Wörtern.
^) Boileau, Art Poetique, eh. I. v. 126: „Mais sa muse, eu fran^ais par-
lant grec et latiu..." Siehe ferner: Henri Etienne, „de la precellence de la
langue franoaise" und „du nouveau langage fran^ais italianise".
21
wie sie sich 100 Jahre später zeigte, schon damals zu ermöglichen. Der
lange Stillstand, der in der Entwicklung plntzlich eintrat, war nicht
natürlich. Die Geschichte belehrt uns, daß ein jedes Volk seine Sprache
in mühsam langer Arbeit ausbilden muß. Ist dieselbe aber einmal bis
zu einem gewissen Grad durchgearbeitet, beginnt das Volk in ihr ein
kostbares Besitztum zu erblicken, dann erreicht sie auch in raschem An-
lauf die Höhe klassischer Vollendung. Ein solcher Zeitpunkt aber war
für Frankreich im 16. Jahrhundert gekommen. Ronsard hatte eine große
Aufgabe, und wenn ihm auch die letzte Weihe des Genies fehlte, so hat
es doch nur die Ungunst der Zeiten verhindert, daß er nicht selbst noch
die von ihm ersehnte große Zeit erlebte. Erst Corneille löste die Auf-
gabe, die 60 Jahre zuvor schon gestellt war.
Denn die Not der Zeiten wurde während der Keligionskriege
immer größer und die geistige Spannkraft des Volkes erlahmte immer
mehr. Die Valois begünstigten nur eine Poesie, welche den leichten
Lebensgenuß verherrlichte, den Großen schmeichelte und, jedem ernsten
Gedanken abhold, den wichtigen Fragen des Tags gegenüber sich gleich-
giltig verhielt. Liest man Dichter wie Desportes, so ahnt man nicht,
welche Not das Land bedrückte, welcher Haß in den Gemütern glühte.
Der strenge Historiker de Thou klagt darüber schon bei Gelegenheit
einer Charakteristik Heinrichs 11. und seiner Zeit. Wenn man von diesem
verdorbenen Zeitalter spreche, so dürfe man, meint er, die französischen
Dichter nicht übersehen, die ihr Talent mißbrauchten, die jungen Leute
von ernsten Studien abzögen und den Geist der Jugend, das Gemüt der
Frauen durch ihre unsittlichen Lieder vergifteten.
Gegenüber dieser Schule der leichtfertigen eleganten Hofpoesie
atmeten die Werke der hugenottisch gesinnten Dichter den vollen Ernst
des Gemüts, das sich in dem Alleinbesitz der Wahrheit wähnt und mit
dieser Überzeugung öfter dem Eifer und die Kampflust des Fanatikers ver-
bindet. Ein Beispiel der letzteren Art bietet der leidenschaftliche Agrippa
d'Aubigne, in dessen Gedichten ein düsteres Feuer glüht, und die Schrecken
der Zeit in entsetzlichem Bild sich enthüllen. D'Aubigne bildet den Über-
gang zu der Litteratur des 17. Jahrhunderts, und wir werden ihn neben
Mathurin Regnier, dem sorglosen Satiriker, noch eingehender betrachten.^)
Ausschließlich seiner Zeit angehörig und ganz von biblischem Eifer erfüllt,
erscheint dagegen Guillaume de Salluste, Seigneur du Bartas, dessen Ruhm
bald weithin erklang und dessen Hauptwerk: „Die Schöpfung der Welt"
oder „Die Woche" in alle europäischen Sprachen übersetzt wurde. Weit-
schweifig und überladen, aber voll tiefen Ernstes und religiöser Empfin-
dung, bietet dieses episch-didaktische Gedicht eine Mischung von allen
möglichen Ingredienzien und wird durch seine Weitschweifigkeit schwer-
fällig und ermüdend. Die wirklich poetisch gefühlten Schilderungen, die
sich darin finden, können diesen allgemeinen Eindruck nicht aufheben.
Doch das französische Volk müßte seinen Charakter eingebüßt
haben, wenn es, hineingezerrt in das selbstsüchtige Treiben der Parteien
1) Siehe Abschnitt IV dieses Bands.
22
und in dem Kampf ehrlicher Überzeugungen mit allen Kräften beteiligt^
in dem Wirbel jener Zeit seine angeborene Heiterkeit verloren hätte.
Durch alles Elend hindurch hatte es sich seinen Mutterwitz und seinen
leichten Sinn als kostbares Gut zu bewahren gewußt.
So finden wir neben und über den Parteien stehend eine Anzahl
von Männern, welche sich von blinder Leidenschaftlichkeit frei erhalten,
die mit scharfem Blick die Fehler ihrer Landsleute erkennen und ein-
sehen, daß innerhalb und außerhalb der trojanischen Mauern gesündigt
wird. Die Trauer über das Unglück des Vaterlands erfüllt sie jedoch
nicht mit lähmender Melancholie. In dem Moment der letzten entschei-
denden Krise treten sie in den Kampf ein, um den Frieden herzustellen.
Ihre Waffe ist schneidig, denn sie handhaben die Satire in vernichtender
Weise. Sie wissen, daß das ermüdete Volk den Frieden ersehnt, daß auf
den Ausbruch der Leidenschaften die Ernüchterung gefolgt ist, und so
treten sie nun im geeigneten Augenblick lachenden Mundes zu den Strei-
tenden heran und entlarven die Ehrgeizigen, die in der Zerrüttung des
Vaterlands ihr Glück suchen.
Heinrich IV. hat bei seiner Aufgabe, Frankreich zu beruhigen,
keine besseren Bundesgenossen gehabt als Jean Passerat, Nicolas ßapin,
Pithou und deren Freunde, welche in der geistsprühenden „Satire Me-
nippee" die letzten Fanatiker des Widerstands überwanden. Passerat ist
zugleich ein echter Vertreter des gesunden französischen Bürgertums,
mit seinem derben Humor, seinem praktischen Sinn, seiner unerschöpf-
lichen Laune, seiner unermüdlichen Arbeitskraft. Einer der gelehrtesten
Männer seiner Zeit, blieb Passerat einfach, kräftig, natürlich, und hat
die französische Lyrik mit einigen der frischesten Lieder bereichert.
Neben den Patrioten der .Satire Menippee" stehen noch zwei
Männer, welche (\ev Schmuck ihres Jahrhunderts sind, La Boetie und
Montaigne. Beide gehörten zu jener geringen Anzahl von Menschen, die
freien Geistes über ihre Zeit hinausblicken und inmitten des Gezänks
der Gegenwart, unbeirrt von den kleinlichen Interessen des Tags, ihre
eigenen Bahnen wandeln. La Boetie, den ein früher Tod hinwegraffte,
war erfüllt von antikem, stoischem Geist, als er sein feuriges Buch :
„Von der freiwilligen Knechtschaft" schrieb. Montaigne dagegen gesteht
wie der athenische Philosoph, daß er nichts weiß und nichts wissen
kann. Wie klein erscheinen ihm daher jene Kriege um den Glauben, wie
arm erscheint ihm des Menschen ganzes Thun. Doch er wendet sich
deshalb nicht verächtlich von demselben ab. er verfolgt ihn auch nicht
mit satirischer Laune. Mild lächelnd blickt er auf ihn herab und beob-
achtet ihn in seinen Tugenden wie in seinen Schwächen mit philoso-
phischer Kühe, ohne Begeisterung, aber auch ohne Haß. So wird er in
seinen „Essais" der Vorbote einer in späteren Zeiten auftretenden Welt-
anschauung, die nichts mehr von Fanatismus wissen will, einer Welt-
anschauung, die freilich weniger für das thätige Leben geeignet ist, ja
die zum energischen Handeln fast unfähig macht. Montaigne hat in der
Litteratur seiner Zeit seinen besonderen Platz, entfernt von den anderen.
Aber das Bild des stürmischen 16. Jahrhunderts wäre nicht vollkommen.
23
wenn nicht das ruhige Antlitz des Philosophen über die Kämpfe des-
selben hinausblickte, gleichwie der stille Mond über die stürmisch wo-
genden Wasser der aufgeregten See.
Das 16. Jahrhundert hatte wie im Staat und in der Kirche, so
auch in der Litteratur energisch nach einem bewußten Ziel gestrebt. Es
hatte in angestrengter Arbeit sein System verfolgt, bis der allgemeine
Niedergang alle Kräfte lähmte und besonders jede gemeinsame geistige
Arbeit erschwerte.
Darum sehen wir die Litteratur des 17. Jahrhunderts in völliger
Systemlosigkeit beginnen. Sie erinnert in dieser Hinsicht an die Litte-
ratur des heutigen Frankreich. Nach den Kämpfen des Klassicismus mit
der romantischen Schule und dem endlichen Sieg der letzteren trat zu-
erst eine Stagnation ein, auf welche bald völlige Anarchie folgte. Jeder
Dichter und Schriftsteller bildet sich heute sein eigenes System, und
das Publikum nimmt alles an, was ihm geboten wird. Von bestimmter
entschiedener Strömung des Geschmacks wird noch lange keine Eede sein.
Eine ähnliche Erscheinung sieht man zur Zeit Heinrichs IV. Nach
der Erschlaffung der letzten Jahre galt es, sich zu sammeln, eine neue
staatliche und sittliche Ordnung zn begründen, die Gesellschaft neu zu
bilden, bevor an eine kräftige Entwicklung der Litteratur, überhaupt an
geistigen Fortschritt gedacht werden konnte.
Bei der Darstellung der Litteraturgeschichte Frankreichs im
17. Jahrhundert haben wir uns deshalb zunächst mit dieser ersten
Periode, der Zeit der Vorbereitung und des Übergangs, zu beschäftigen.
Sie umfaßt die Regierung Heinrichs IV. und seiues Nachfolgers bis in
die dreißiger Jahre, zu welcher Zeit ein plötzlicher Aufschwung statt-
fand, der endlich zu dem seit einem Jahrhundert erstrebten Ziel hinan-
führte.
II.
Frankreich unter Heinrich IV.
Politisches und sociales Leben.
Heinrich IV. steht an der Scheide zweier Jahrhunderte. So darf
es uns nicht wundernehmen, wenn seine Kegierung vielfach schwan-
kenden Charakter trägt. Sie kann sich dem gewaltigen Eintiuß des ver-
gangenen Jahrhunderts nicht entziehen und schlägt doch gleichzeitig
Bahnen ein, welche zu völlig neuer Entwicklung führen müssen. Das
Jahrhundert des großen geistigen und religir>sen Kampfes, das Jahr-
hundert der Reformation, der Kunstblüte, der großen Thaten wie der
entsetzlichen Verbrechen, der gewaltigen finsteren Charaktere wie der
schwachen, verkommenen Wüstlinge war zu Ende gegangen. Ein neues
Jahrhundert, schwächer in seinem Wollen, geregelter in seinem Leben,
kleiner in seinen Charakteren, harmonischer in seinem Wesen, erötfnete sich.
Die Regierungszeit Heinrichs IV., welche die letzten Jahre des
scheidenden und die ersten des anbrechenden Jahrhunderts umfaßte, war
recht eigentlich eine Übergangszeit und trug ein doppeltes Gesicht gleich
dem Januskopf, der gleichzeitig in die Vergangenheit und in die Zu-
kunft blickt. Heinrich selbst war in seinem Wesen der echte Sohn des
16. Jahrhunderts. Thätig und abgehärtet, lebensfroh und kriegslustig,
dabei sinnlich, verschlagen und wenn es galt auch falsch, so hatte er
den weiten Weg zum Thron glücklich zurückgelegt. Einmal aber im
Besitz der Krone, streifte er den Charakter des mittelalterlichen Kriegs-
herrn, der ihm augehaftet hatte, ab, verschmähte die bis dahin übliche
Regierungsweisheit, und erschien in seinen Grundsätzen, seinen Bestre-
bungen, seiner fast unbeschränkten Machtfülle als der erste moderne
König. Mit der Thronbesteigung der Bourbonen begann eine neue Zeit,
nicht allein für Franki-eich, sondern auch für Europa. Neue Anschauungen
und neue politische Lehren kamen nun zur Geltung. Das Volk hatte zu
sehr gelitten, als daß es nicht vor allem friedliche Ordnung und Sicher-
heit verlangen sollte. Diese aber konnte es nach der Lage der Dinge
damals nur von einem kraftvollen König erwarten, der Machtfülle genug
besaß, um die ehrgeizigen und selbstsüchtigen Bestrebungen einzelner
niederhalten zu können. So gewann die Idee von der Notwendigkeit
einer unumschränkten monarchischen Gewalt rasch an Boden, und Hand
in Hand mit der Erstarkung des Königtums ging die energisch durch-
geführte Centralisation. Soll der König wirklich überall seinen Willen
gleichmäßig durchsetzen können, so muß die Regierung derart organi-
25
siert seiD , daß alle Fäden der Verwaltung in einem Centralpunkt zu-
sammenlaufen, und daß jedes Rädchen der großen Maschine je nach dem
Willen des Meisters in Bewegung gesetzt oder gehemmt werden kann.
Damit ist aber eine tiefgreifende Änderung in der Entwicklung
des Nationalgeistes verbunden. Die Individualität eines einzelnen wird
maßgebend. Es erhebt sich ein König, der die Nation in sich verkör-
pert glaubt; eine Hauptstadt, in welcher sich bald alles, was Talent
und Streben hat, zusammenfindet, und deren Laune den Geschmack des
ganzen Landes beherrscht; eine Klasse, welche das Land im Namen
und Auftrag des Königs verwaltet und trotz ihrer bescheidenen Stellung
doch langsam und unmerklich zur herrschenden Kaste wird: so stellt
sich das Ergebnis der großen politischen Änderung dar. Die Mannig-
faltigkeit der Erscheinungen schwindet, der oft reizvolle Gegensatz der
Charaktere macht einer größeren Einförmigkeit Platz, aber gerade diese
stärkere Ähnlichkeit der Erscheinungen und Charaktere hat den Vorteil,
daß bei dem gleichmäßigen Streben aller nach demselben Ziel ein größerer
Fortschritt bewerkstelligt, eine wohlthuende Harmonie ermöglicht wird.
Nur vor einer großen Gefahr gilt es sich zu hüten; die Harmonie gleich-
artiger Bildung darf nicht zum starren Formalismus und zur toten
Äußerlichkeit herabsinken. Doch diese Gefahr lag beim Beginn des
17. Jahrhunderts noch fern, und die größere Centralisation führte zu-
nächst zu einer entschiedeneren nationalen Prägung des Volkscharakters.
Je enger die einzelnen Provinzen miteinander verknüpft wurden und
je mehr sie sich dadurch kennen lernten, umso leichter verschmolz die
Bevölkerung zu einer einzigen bedeutungsvollen Nation.
Ist aber einmal eine Idee zur Macht gelangt, so vermögen selbst
große Gegenströmungen nicht, sie zu erschüttern. Im Gegenteil, an dem
Widerstand, den sie findet, erstarkt sie oft zu besonderer Kraft. So ge-
schah es auch mit der Lehre von der königlichen Machtvollkommenheit.
Als nach der Ermordung Heinrichs IV. Maria von Medici die Regent-
schaft übernahm und in ihrer Schwäche den Gewinn der früheren Regie-
rung zu gefährden schien, als die feudalen Herren wieder das Haupt
erhoben und noch einmal hoffen mochten, sich nach dem Vorbild der
Fürsten des Deutschen Reichs allmählich in kleine, unabhängige Herrscher
umzuwandeln, zeigte es sich bald, daß ein mächtigerer Wille in Frank-
reich sich geltend machte. Nicht Marias, nicht Ludwigs XIII. Macht
zwang die aufständischen Großen zum Gehorsam zurück, sondern der
Widerwille des Volkes, das sich in keinen Bürgerkrieg mehr fortreißen
ließ und die Macht des Königtums nicht geschwächt wissen wollte. Je
größer sich die Unbotmäßigkeit des hohen Adels zeigte, umso fester
wurde im Volk die Ansicht von der Notwendigkeit königlicher Macht-
fülle. Königtum und Staatsidee verwuchsen bald zu einem einzigen Be-
griff, so sehr, daß selbst der dritte Stand seine früheren republikani-
schen Ansichten vergaß und in der Festigung der königlichen Autorität
sein Heil suchte. Als der Marschall d'Ancre auf Befehl des jugendlichen
Königs Ludwig im Jahr 1617 im Hof des Louvre von einigen Leib-
gardisten angehalten und meuchlings erschossen worden war, erklärte
26
das Pariser Parlament den ganzen Vorgang für gerechtfertigt. Der König^
stehe über dem Gesetz. Da er befugt sei, die Gesetze zu erlassen und
die Formen der Justiz zu bestimmen, so könne er dieselben auch ändern
oder sich völlig von der Beobachtung derselben dispensieren. Noch mehr:
bei der feierlichen Schlußsitzung der Reichsstände im Jahr 1614 erklärte
Miron. der energische, die Freiheiten des Volkes sonst eifrig verteidigende
Redner des dritten Standes, die Könige seien an keine anderen Gesetze^
gebunden als au die ihres eigenen Willens. Diese sonderbare und ge-
fährliche Lehre wurde vom Bürgertum verteidigt, da es im Kampf des
Königs gegen den Feudaladel und mehr noch gegen den Ultramonta-
nismus entschieden zu dem ersteren hielt. Aus den Religionskriegen
hatte es eine gründliche Abneigung gegen die Herrschaft Roms mit-
gebracht und trachtete vor allem danach, den Staat vor dieser Gefahr
zu bewahren. Dies aber schien zunächst nur durch die Stärkung der
königlichen Gewalt möglich.
Die monarchische Bewegung jener Zeit ist doppelt auffallend, weil
sie nicht in Frankreich allein sich äußerte. Auch in anderen Ländern
stieg die Macht der Fürsten, und freigesinnte Männer scharten sich um
dieselbe zu ihrer Verteidigung. So bekämpfte Hugo Grotius in zwei
Schriften die Ansprüche der Kirche auf die Oberhoheit über den Staat.
Er sprach sich geradezu für das umgekehrte Verhältnis aus. und be-
hauptete das Recht des Staats, in äußeren Angelegenheiten der Kirche-
das letzte Wort zu sprechen. Dabei lehrte er den absoluten Gehorsam,
zu welchem die ünterthanen ihrem Fürsten gegenüber verpflichtet wären.
Grotius glaubte ganz consequent zu sein. Die altgriechische und römische
Tradition, die um jene Zeit so hoch in Ehren stand, lehrte ihn die
volle Hingabe des einzelnen an sein Land, die Hoheit des Staats über
jedes andere Interesse. Der Staat aber schien Grotius in dem Monarchen
verkörpert. Wo daher ein König unbeschränkte Macht besitze, sei jeder
Widerstand gegen seinen Willen ein Verbrechen; nur da, wo die Macht
des Landesfürsten durch Gesetze beschränkt sei, könne sich der Unter-
than innerhalb der gegebenen Schranken dem Gebot des Herrn zu wider-
stehen erlauben. Das Recht der Selbstwehr, die Revolution, war damit
für jedes Volk beseitigt. Grotius schien zu vergessen, daß die Völker,
welchen er ein gewisses Recht gesetzlichen Widerstands gestattete, diese
sie schützenden Gesetze in früherer Zeit hatten ertrotzen müssen. Bei
einem Holländer, dessen Volk sich kaum erst durch blutigen Kampf
von dem Joch seiner spanischen Bedrücker freigemacht hatte, war diese
Lehre gewiß doppelt auffallend, umsomehr, als Grotius sich in sonstigen
Fragen als freigesinnter Mann bewährte und für seine Überzeugung
selbst im Kerker duldete.') Es zeigt dies nur, wie sehr das Rechts-
bewußtsein in Europa geschwächt war, zum großen Teil infolge der
Niederlagen, die das Bürgertum in Frankreich betroffen hatte. Der
^1 „De imperio summarum potestatum circa sacra", 1616 von Grotius
geschrieben, aber erst nach seinem Tod 164:7 zu Paris veröffentlicht. AhnUch
spricht er sich aus in seiner Oratio iu senatu Amstelodamu IX. Calendas Majas
1616 habita. S. Grotii Opera theol. III, p. 177 ff.
27
dreißigjährige Krieg, der bald darauf in Deutschland ausbrach, sollte
diese gefährlichen Doktrinen vom Eecht des Bestehenden und dem un-
beschränkten Herrschertum vollends für lange Zeit befestigen. Für Frank-
reich insbesondere ist es bezeichnend, daß die Reichsstände zum letzten-
mal im Jahr 1614 berufen wurden. Seitdem verlangte der König nicht
mehr nach dem Rat der Abgeordneten des Volkes, der lästigen Vertreter
des dritten Standes.
In der ersten Zeit wurde diese königliche MachtvoUkommenlieit in
ganz Frankreich als eine Wohlthat für das Land empfunden. Hein-
richs IV. Autorität machte sich in höchst günstiger Weise auf allen
Gebieten des öffentlichen Lebens geltend.
Furchtbar war die Verwüstung des Landes. Alle Verhältnisse waren
zerrüttet und das Volk hatte materiell und moralisch eine erschreckende
Einbuße erlitten. In seiner Leichenrede auf Heinrich entwarf Bischof
Fenoillet ein ergreifendes Bild von der Lage, in der sich Frankreich
befand, kurz bevor die Ligue unterlag und der König allgemein aner-
kannt wurde. Er nennt Frankreich eine blutige Schaubühne, auf der
die gerechte Strafe Gottes zum Vollzug gekommen sei. Damals habe die
Zwietracht in den Familien, der Aufstand in den Provinzen geherrscht;
Raubgesindel habe jede Sicherheit auf dem Land untergraben, Sitten-
verderbnis und Gottlosigkeit seien überall heimisch gewesen. Parteiungen
hätten das Volk zerrissen, die Geistlichkeit sei ausschweifend, der Adel
herrschsüchtig, die Justiz käuflich, die Unordnung im ganzen Land
heimisch gewesen.')
Diese traurige Schilderung entsprach nur zu sehr der Wahrheit.
Der Landbau. früher in so blühendem Zustand, genügte kaum noch zur
notdürftigen Ernährung des Volkes. Die fortwährenden Raub- und Plün-
derungszüge der sich bekämpfenden Armeen hatten die schönsten und
fruchtbarsten Gegenden in Wüsteneien verwandelt. Heinrich IV. selbst
gibt die traurigste Bestätigung für diese Zustände des Elends. In der
Einleitung zu seiner Erklärung vom 16. März 1595 sagt er, daß die
Landleute wegen der fortwährenden Heimsuchungen ihre gewohnte Be-
schäftigung aufgegeben , ja ihre Wohnungen verlassen hätten . so daß
der größte Teil der Meierhöfe und fast alle Dörfer unbewohnt und leer
ständen.^) Die Menschen waren zum Teil verdorben, im Elend ver-
1) Fenoillet, oraison funebre de Henri IV: „La France etait im theatre
couvert de sang sur lequel la justice de Dieu prenait une vengeance terrible
de nos fautes. Car ne voyant rien que la divisioii dans les familles, la sedition
dans les provinces, le brigandage aux champs, l'impurete aux m'eurs, l'atheisme
en la vie, l'heresie en plusieurs endroits, la charite morte, la devotion eteinte,
la licence en l'ordre ecclesiastique , les brigues parmi le peuple, la tyrannie
parmi la noblesse, la corruption dans la justice, et toutes les parties de ce
grand royaume altere'es par la debauche, il foudroyait tout cela des coups de
sa tempete. Tel etait l'etat de la France au temps que notre grand monarque
lui fut envoye pour la sauver."
^) Declaratiou du 16 mars 1595, preambule: „...les vexations auxquelies
ont ete en butte les laboureurs, leur ont fait quitter et abandonner non seule-
ment leur labour et vaccation ordinaire, mais aussi leurs maisons; se trouvant
maintenant les fermes censes et quasi tous les villages inhabitez et deserts."
28
kommen; ein anderer Teil hatte sich in die Städte gezogen und dort
zum Wachstum der Armut und der Krankheiten beigetragen. In der
Zeit von fünf Wochen starben im Jahr 1596 zu Paris im Hotel Dieu
über 400 Personen meist vor Erschöpfung und Hunger.^)
Wie der Landbau, lag auch die Industrie danieder. In der ersten
Hälfte des 16. Jahrhunderts hatte sie einen erfreulichen Aufschwung
genommen und neue Quellen des Reichtums eröffnet. Tuchwebereien,
Glas- und Lederfabriken blühten besonders. Aber die Kriege hatten alles
wieder zerstört. Provins z. B., ein Städtchen unweit Paris, hatte früher
1800 Webstühle gehabt, nach dem Krieg gingen keine vier mehr. Von
allen Tuchfabriken bereitete nur noch eine einzige, zu Eouen, Tuch von
feinerer Art. Drei Vierteile aller zur Kleidung nötigen Gegenstände, vom
Hut angefangen bis herab zu den Schuhen, mußten aus dem Ausland
bezogen werden, und während man in Paris in früheren Jahren bis zu
600 000 Stück Tuch alljährlich gefärbt hatte, fand man jetzt in der-
selben Zeit kaum ein Sechstel dieser Bestellungen.^)
Der ganze Staatsorganismus war in Auflösung begriffen. Die öffent-
liche Schuld, die im Jahr 1560 etwa 4o Millionen Livres betragen hatte,
wurde im Jahr 1602 auf die für jene Zeiten unerhörte Summe von bei-
läufig 300 Millionen berechnet. Nimmt man die Livre zu 2 • 7 Franken
heutigen Gelds, so stellt sich die Schuldenmasse auf über 800 Millionen
Pranken, und wenn man den damaligen Geldwert in Anschlag bringt,
auf etwa 2 — 3 Milliarden. Von einer jährlichen Einnahme von 25 Mil-
lionen Livres hatte der Staatsschatz mehr als drei Fünftel an Zinsen
abzugeben. Dabei erlag das Volk unter der Last der Abgaben, so daß
es ihm selbst bei angestrengter Arbeit nicht möglich war. ein halbwegs
erträgliches Leben zu führen. Heinrich unternahm es, diese Übelstände
zu beseitigen und die drohende Gefahr völligen Ruins von Prankreich
abzuwenden. Wie ihm dies, von seinem treuen Freund Sully unterstützt,
gelang, erzählt die Geschichte. Durch strenge Maßregeln wurde Ordnung
in die Finanzen gebracht, so daß die Einkünfte fast auf das Doppelte
stiegen, obwohl man die drückendsten Steuern ermäßigt hatte. Eine Reihe
von Verordnungen schützte den Landmann und ermutigte ihn, seine
Arbeit wieder aufzunehmen. Künftig sollte kein Bauer mehr wegen
Schulden oder rückständiger Steuern verhaftet, seine Tiere, sein Haus-
und Ackergerät nicht gepfändet werden dürfen. Der Handel mit Getreide
und Wein wurde freigegeben, die Ausfuhr dadurch belebt, und indem
infolge derselben die Preise stiegen, wuchs der Wohlstand der ländlichen
Bevölkerung. Frankreich ist ein von der Natur so gesegnetes Land,
seine Bevölkerung ist so fleißig und anstellig, daß es sich auch nach den
härtesten Schlägen rasch erholt, sobald ihm nur einige Jahre friedlicher
Arbeit gegönnt sind. Das zeigte sich auch unter Heinrich. Die Industrie
neu zu beleben, neue Fabrikszweige zu begründen, war des Königs Haupt-
1) Lestoile, Registres-journaux de Henri IV, p. 269 ff.
2) Siehe Poirson, Eist, de Henri IV, II. Band, p. 41, wo die materielle
Lage Frankreichs zur damaligen Zeit sehr eingehend geschildert wird. \'ergl.
auch Martin, Hist. de France, XI, p. 461.
29
sorge. Er berief italienische uud holländisciie Arbeiter, ließ Maulbeer-
pflanzungen anlegen, und bald war die Seidenindustrie begründet, die
Weberei wieder in Aufschwung. Neue Straßen, Brücken. Kanäle erleich-
terten den Verkehr; auf den Wasserstraßen wurden alle Hemmungen
beseitigt, jede drückende Abgabe aufgehoben. Damals auch begannen
die ersten Versuche, in den Städten eine bessere Gesundheitspolizei ein-
zuführen, durch Beleuchtung der Straßen denselben größere Sicherheit
zur Nachtzeit zu geben. Auch dachte Heinrich zuerst an eine Kolonial-
politik und unternahm es, Kanada zu einer französischen Provinz um-
zuwandeln. Er begünstigte ferner die Bildung einer ostindischen Handels-
gesellschaft; welche den Verkehr mit dem fernen Orient beleben wollte.
Nicht geringer war des Königs Sorgfalt für das Heer, das er mit großen
Kosten in eine nationale Armee verwandelte, sowie er auch die Festungen
umbaute, die Galeerenflotte vermehrte. Für alle diese großen Unter-
nehmungen fand Sully immer Geld in der Staatskasse, und konnte trotz
der großen Ausgaben noch viele Millionen im Schatzamt sammeln, um
der Not künftiger Zeiten vorzubeugen.
Der Erfolg dieser unablässigen vielseitigen Thätigkeit entsprach
denn auch den Erwartungen. Die äußeren Folgen der langen Kriege
waren bald verwischt, Wohlstand und Ordnung wieder im Lande hei-
misch. Der Landmann zumal befand sich bald in besserer Lage, wenn
auch des Königs Wort von dem Huhn, das jeder Bauer Sonntags im
Topf haben müsse, noch nicht zur Wahrheit wurde. Der Zustand der
französischen Landbevölkerung war wahrscheinlich zur Zeit Heinrichs IV.
besser und menschenwürdiger als im 18. Jahrhundert, wo sie die Folgen
der glorreichen Regierung des vierzehnten Ludwig zu ertragen hatte,
und infolge der Nachlässigkeit und Verschwendung der folgenden Re-
genten immer tiefer ins Elend versank.')
Wären nur auch die moralischen Verwüstungen, welche der dreißig-
jährige Bürgerkrieg im Gefolge gehabt hatte, so leicht und so erfolgreich
zu bekämpfen gewesen I
Allein es war ein Geschlecht erwachsen, das den Segen eines
dauernden Friedens nicht kannte, das alltäglich Zeuge gewesen war von
Blutthat und Vergewaltigung, das im Wirbel der Leidenschaften das
Gefühl für Recht und Unrecht, Gutes und Böses fast verloren hatte. Hier
konnte nur langsame Besserung erwartet werden; eine neue Generation
konnte unter besseren Umständen vielleicht wieder kräftiger werden,
richtiger und strenger denken, edler und menschlicher fühlen lernen.
1) Man vergleiche die Ausführungen über die Lage der französischen
Bauern in den früheren Jahrhunderten in Tocquevilles Mei^^terwerk : L'Ancien
Eegime et la Revolution. Paris, Levy, 1860. 4me edit., chap. XIL — C. Dareste
de la Charanne, Histoire des classes agricoles en France, p. 472 fF., 494 und be-
souders p. 499. Massillon schrieb als Bischof von Clermont im Jahr 1740 au
den Kardinal Fleury: „Les peuples de nos campagues vivent dans une misere
aifreuse, sans lit, sans meubles; la plupart uieme, la moitie de Tanuee, man-
quent du pain d'orge ou d'avoine qui fait leur unique nourriture, et qu'ils sont
obliges de s'arracher de la bouche et de celle de leurs enfants pour payers leurs
impositions."
30
König Heinrich selbst gab in moralischer Hinsicht kein gutes Bei-
spiel. Mit Recht gilt er noch heute als der beste aller französischen
Herrscher, und Frankreich ist ihm großen Dank schuldig. Aber er gab
doch auch zu einer Zeit, wo ein Bild sittlich reinen Lebens auf dem
Thron dringend nötig war, das Beispiel großer Sittenlosigkeit, ja er
scheute sich in seiner sinnlichen Leidenschaft nicht, dem moralischen
Gefühl seines Volkes offen Hohn zu sprechen. Solche Verirrungen mögen
bei dem am Hof Karls IX. und Heinrichs IH. erwachsenen, im Feld-
lager heimischen Mann wohl erklärlich, ja selbst entschuldbar sein ; man
muß nichtsdestoweniger sagen, daß Heinrich durch sein Beispiel einen
verderblichen Einfluß auf den französischen Adel und somit auf sein ganzes
Volk ausgeübt hat. Sein feuriger Sinn, seine Liebschaften, seine Flatter-
haftigkeit sind bekannt. Am längsten fesselte ihn noch die schöne Gabrielle
d'Estrees, deren Tod im Jahr 1599 ihn zwar tief erschütterte, aber
doch nicht hinderte, kurze Zeit nachher für Henriette d"Entragues in
Liebe zu erglühen. Henriette, die später zur Marquise de Verneuil er-
hoben wurde, schloß mit Heinrich den seltsamsten Vertrag, den je ein
König abgeschlossen haben mag. Heinrich hatte gerade damals die Schei-
dung Ton seiner Gemahlin Margarete von Valois in Rom durchgesetzt.
Daraufhin verkaufte sich das Fräulein von Entragues an den König für
die Summe von 100 000 Thalern und ließ sich noch außerdem das
schriftliche Versprechen geben, daß Heinrich die Ehe mit ihr eingehen
werde, für den Fall, daß sie ihm binnen einer bestimmten Frist einen
Sohn schenke. Trotz dieses Versprechens und während Henriette ein
Kind unter dem Herzen trug, verhandelte der König in Florenz über
seine Vermählung mit Maria von Medici. Zum Glück für ihn erfüllte
seine Geliebte die ihr auferlegte Bedingung nicht, und Maria zog un-
gehindert als Königin im Louvre ein. Aber Heinrich löste deshalb sein
Verhältnis zur Marquise nicht. Die Favorite hatte ihre Wohnung im
königlichen Palast, der König lebte offen wie in Bigamie und führte
sozusagen doppelte Hofhaltung.') Dabei begnügte er sich nicht mit seinen
beiden Frauen, sondern suchte noch andere Abenteuer nebenher, sowie
die Königin und die Marquise sich ebenfalls mit anderen Liebhabern
über Heinrichs Treulosigkeit zu trösten wußten. Es kam zu den derbsten
Scenen zwischen König und Königin ; die Marquise vergaß sich eines
Tags so weit, daß sie die Hand zum Schlag gegen Heinrich erhob.
Kurz, es war ein öffentlicher Skandal. Ebenso auffallend benahm sich
1) Siehe das neueste Werk über Heinrich: Berthold Zeller, „Henri IV et
Marie de Medicis, d'apres des documents nouveaux tires des archives de Florence
et de Paris", Paris 1877, Didier & Cie. Darin wird nach dem Bericht eines
Florentiner Gesandten von der peinlichen Scene erzählt, in welcher der König
das Fräulein von Entragues seiner jungen Gemahlin vorstellte. (S. 99.) „Le roi
dit ä la reine: Cette femme a ete ma maitresse et veut etre aujourd'hui votre
humble servante. Tandis qu'il pronon9ait ces paroles, Mademoiselle d'Entragues
prit la rohe de la reine et flechit le genou pour la baiser. Le roi, trouvant
qu'elle ne s'etait pas assez inclinee, lui prit la main et la tira rudement presque
jusqu'ä terre Le roi fit diner la marquise ä la table de la reine eu eom-
pagnie des princesses qui avaient assiste ä l'entrevue."
31
Heinrich in den letzten Jahren seines Lebens, als er sich um die Gunst
der Prinzessin Charlotte von Conde bewarb und seinen Hofpoeten Mal-
herbe zärtliche Lieder für sie dichten ließ. Als Conde seine Gemahlin
heimlich nach Belgien brachte, geriet der 56 jährige Monarch außer sich
und beschleunigte den Ausbruch des Kriegs am Rhein vielleicht nur
deshalb, weil er hoffte, dabei auf irgend eine Weise des flüchtigen Paars
habhaft zu werden.
Der erste Bourbon war in diesem Punkt das Vorbild fast aller
seiner Nachfolger, zum großen Schaden des Landes. Überlegt man ferner,
daß Heinrich dreimal, nicht aus Überzeugung, sondern aus zumeist persön-
lichen oder politischen Gründen, die Religion wechselte und damit ein
Beispiel von Gesinnungslosigkeit gab, so mag man ermessen, welchen
Einfluß er auf die sittliche Hebung des französischen Volkes ausüben
konnte.
So sehen wir denn auch den Adel des Landes tief in Roheit und
Ausschweifung versunken, ein trauriges Vermächtnis der vergangenen
Zeiten. Während aber Heinrichs Tugenden bei weitem seine Schwächen
aufwogen, konnte der hohe Adel sich nicht auf seine Verdienste berufen,
um sein wüstes Leben vergessen zu machen. Da er besiegt aus dem
großen Kampf hervorgegangen war, hatte er jeden Halt verloren und
erschlaffte immer mehr. Er hatte die politische Stelle, die er früher inne
gehabt, eingebüßt, und in dem wilden Treiben der letzten Zeit auch die
Kraft schwinden sehen, sich eine neue einflußreiche Stellung in dem
modernen Staat zu erringen. Sein einziges Ziel war nur noch ein reicher
Besitz, Habsucht die Triebfeder seiner Handlungen. Wenn er sich zum
Widerstand gegen die Regierung fortreißen ließ, ja zur Empörung schritt,
so brachte ihn eine Summe Gelds aus dem Staatsschatz immer bald zur
Unterwerfung. Die Geschichte jener Jahre kennt nur wenige ehrenvolle
Ausnahmen.
Die politische Unfähigkeit des Adels zeigte sich noch einmal recht
schlagend bei der Versammlung der Reichsstände im Jahr 1614. Dort
standen sich Klerus und dritter Stand gegenüber, und der Adel hätte
leicht eine dominierende Stellung einnehmen, mit einem Mal das alte
politische Ansehen wieder erlangen können. Statt dessen ließ er sich von
der Geistlichkeit ins Schlepptau nehmen und dankte als politischer Paktor
immer mehr ab. Der spätere Krieg der Fronde ändert nichts an diesem
Urteil. Damals, wie schon früher, leitete den hohen Adel kein Princip,
sondern nackter Egoismus.
Der lange Krieg mit seinem Blutvergießen hatte die Gemüter ver-
wildert, die Menschen an rasche Gewaltthat gewöhnt. Sein Leben aufs
Spiel setzen, in wildem Streit die Waffen kreuzen, galt der ruhelosen
vornehmen Jugend als Unterhaltung. Galante Abenteuer oder Ehren-
händel waren ihre einzige Beschäftigung, sobald der Krieg sie nicht mehr
rief. Der Begriff der Ehre gestaltet sich in solchen Zeiten gar sonderbar.
Der Raufbold war der Held des Tags, der Liebling der Damen. Kein
Tag verging, ohne daß nicht ein oder mehrere Duelle, oft mit tödlichem
32
Ausgang, stattgefunden hätten.') Die meisten vornehmen Familien waren
in Trauer und die Duellsucht wurde zur wahren Krankheit. Griffen doch
selbst die Sekundanten zu den Waffen und fochten miteinander, um
nicht iinthätig dem Kampf zusehen zu müssen. Im Jahr 1607 berech-
nete man, daß seit Heinrichs Thronbesteigung etwa 4000 Edelleute im
Duell gefallen waren; die Zweikämpfe, die nur mit Verwundungen ge-
endet hatten, waren nicht zu zählen. Heinrich hatte schon 1602 das
Duell bei Todesstrafe verboten, allein die schwere Strafandrohung hatte
nichts genützt, da man sich nicht entschließen mochte, sie auszuführen.
Das Übel stieg indessen fortwährend, und ein neues königliches Edikt
vom Jahr 1609 bestimmte, daß bei Ehrenhändeln die Streitenden sich an
den König oder dessen Stellvertreter zu wenden hätten. Dieser würde
alsdann entscheiden, ob ein Zweikampf nötig wäre oder nicht. Der Be-
leidiger wurde mit schwerer Geldbuße bedroht; wer sich aber gegen den
Willen des Königs schlage und seinen Gegner töte, solle das Leben
und ein ehrliches Begräbnis verwirkt haben. Diese Strenge half wohl
ein wenig, zumal Heinrich an zwei Duellanten seiner Leibgarde ein
strenges Exempel statuieren ließ. Aber bald erwachte die Duellwut von
neuem, und wir werden sehen, daß sowohl Richelieu, als auch Anna
von Österreich und Ludwig XIV". gegen dieselbe kämpfen mußten.
Vom frevelhaft herbeigeführten Duell bis zum überdachten Mord-
anfall ist nur ein Schritt. In der That hörte man damals fortwährend
von Hinterhalt und Meuchelmord aller Art. Nach der Ermordung
Heinrichs IV. wurde darum auch der Verdacht laut ausgesprochen, daß
Ravaillac von sehr hoher Seite zu seiner grausen That angestiftet
worden sei.
Ebenso bezeichnend für die Sitten jener Zeit ist es, daß sich Edel-
leute ohne Scham ihren Gönnern als Werkzeuge zu einer Mordthat an-
bieten konnten. Der hochmütige Günstling der Regentin Maria, der
Marquis d'Ancre, wagte eines Tags, den Prinzen von Conde, seinen
Gegner, in dessen Palast aufzusuchen. Conde hatte gerade eine Anzahl
ihm ergebener Edelleute bei sich zur Tafel, und konnte dieselben nur
mit Mühe davon zurückhalten, die gute Gelegenheit zu benutzen und den
1) In einem satirischen Werk aus der Zeit Ludwigs XIII., dem „Baron
Faeneste" von d'Aubigne, wird über das Duell viel geredet. Unter anderm wird
dort erklärt, was man bei Hof unter „Raffines" versteht. Das sind die berühm-
testen Duellisten, Leute, welche sich wegen eines Augenzwinkerns, eines zu leicht
erwiderten Grußes schlagen, die sich tödlich beleidigt glauben, wenn man ihren
Mantel streift oder neben ihnen ausspeit. Ein solcher „ßaftine" schlägt sich,
auch wenn er erkannt hat, daß man ihn nicht hat beleidigen wollen. Der Baron
Faeneste erzählt von zwei Edelleuten, die sich begegnet seien, wobei der eine
alsbald den andern gefordert habe. Auf dem Kampfplatz angekommen, habe der
Beleidiger gefragt: „Sind Sie nicht der und der aus der AuvergneV" „Bewahre,"
habe der andere erwidert, „ich bin aus der Dauphine und heiße so und so."
„Aber sie seien doch einmal auf dem Platz gewesen, so habe Ihre Ehre es er-
fordert, zu kämpfen!" — und sie hätten sich gegenseitig getötet.
D'Aubigne, „Faeneste", Teil I, Kap. 9, S. 42, ed. Merimee.
Über d'Aubigne und den „Baron Faeneste" siehe Abschnitt IV dieses
Bands.
33
Marquis niederzumachen. Bald darauf fiel derselbe unter den Kugeln der
von Ludwig XIII. bestellten Mörder.
Nur langsam konnte sicji ein solcher Zustand bessern. Der Fort-
schritt der friedlichen Arbeit, die Verbreitung der Kultur, das Auf-
blühen der Wissenschaften bannten allmählich den bösen Geist. Die
höheren Kreise fanden mit der Zeit Geschmack an einem feineren, ge-
selligen, geistig anregenden Leben, und auch die schönen Künste übten
ihren sittigenden Einfluß.
Wol wäre es zunächst Sache des Hofes gewesen, diese edlere
Geselligkeit zu begründen. Aber dazu war weder Heinrich noch die
schwerfällige Medicäerin geschaffen. Heinrich liebte den einfachen, derben
Ton, wie ihn das Feldlager lehrt, und wenn er auch Wissenschaft und
Kunst ehrte, deren Vertreter schützte und belohnte, so mochte er selbst
nicht viel davon wissen. Ein frecher Witz, ein derber Spaß fanden alle-
zeit gute Aufnahme bei ihm. Ein beliebter Possenreißer jener Zeit,
Gros-Guillaume, wurde öfters mit seinen Gefährten in den königlichen
Palast berufen, um Heinrich zu erheitern. Gros-Guillaume mußte ihm
unter anderm eine sehr drollige Scene vorspielen, in welcher die Gas-
cogner verspottet wurden. Heinrich lachte sich herzlich über die Posse
aus, die ihn doch verspottete, und machte sich eines Tags das Vergnügen,
bei einer solchen Vorstellung den Marschall Eoquelaure, auch einen Gas-
cogner, auf seinem Schoß zu halten und sich an dessen Ärger über die
frechen Ausfälle der Komödianten zu ergötzen.') Zeigt sich Heinrich
hier auch von seiner gemütlichen Seite, so sieht man doch, daß er für
die Beförderung einer feineren Geselligkeit nicht geeignet war, selbst
wenn sein Privatleben eine weniger tiefe Störung erlitten hätte. Auch
sein Sohn, Ludwig XIII., war nicht dazu geschaffen, und der Hof bildete
keineswegs den Mittelpunkt der Gesellschaft, wie dies allerdings später
der Fall war. Zur Zeit Ludwigs XIII. fand sich vielmehr die höhere
Geselligkeit hauptsächlich in den Salons einer feinen Dame, der Marquise
von Eambouillet, von deren Verdienst später die Kede sein wird.
Spanien und Italien hatten damals fast gleich starken Einfluß auf
die Entwicklung des französischen Volkes. Das italienische Element hatte
schon seit Ludwig XII. und Franz I. an Boden gewonnen, und mit
Katharina von Medici war auch die italienische Verderbtheit über die
Alpen gezogen. Aber auch Spanien war immer mehr hervorgetreten.
Man blickte in Frankreich auf das Nachbarland als auf eine weltgebie-
tende Macht, die einen mit Vorliebe, die anderen mit Abscheu, je nach
dem politischen und religiösen Standpunkt. Aber während der Politiker
in der spanischen Diplomatie das unübertroffene Muster von Feinheit
und Kraft erkannt, der Kriegsmann die spanischen Armeen wegen ihrer
1) Tallemant des Reaux, Historiettes, 3™e ed. par M. M. Monmerque &
Paiilin, Paris. Paris, Techener 1854. Band I, S. 38: „üne autre fois, le roy le
tenait entre ses jambes tandis qu'ii faisait jouer ä Gros-Guillaume la farce du
Gentilhomme gascon. A tout beut de champ, pour divertir son maitre, le Ma-
reschal faisoit semblant de se vouloir levei- pour aller battre Gros-Guillaume.
et Gros-Guillaume disait: „Cousis, ne bous fachez."
Lotheißen, Gesch. d. franz. Lilteratur. o
34
Disciplin und vollendeten Kriegskunst bewunderte, während selbst die
Hoftracht, trotz der Feindschaft der beiden Länder, spanisch wurde, und
eine Menge spanischer Ausdrücke sich in die Sprache der Waffenkundigen
einschlich, drang die milde Sprache Italiens und seine Dichtung mit
ihren weichen Rhythmen unwiderstehlich über die Alpen vor. Die italie-
nische Litteratur befand sich damals auf einem bedauerlichen Irrweg,
sie war süßlich und verziert. Aber gerade diese Eigenschaft bahnte -ihr
um so schneller den Weg zu den Nachbarn, die aus den Greueln des
Kriegs sich retteten, und aufatmend nach wahrem Frieden und nach
Milde und Gesittung sich sehnten. Zudem finden halbgebildete Nationen
immer am meisten Gefallen an der Unnatur solcher gekünstelten Dich-
tungen.
Maria von Medici brachte italienische Sprache, italienische Sitte
und Mode völlig zur Herrschaft am Pariser Hof; die beste italienische
Schauspielertruppe ließ sich für mehrere Jahre in Paris nieder, sowie
sich auch im Gefolge Marias der Dichter Kinuccini befand, der sich
durch seine prachtvollen, im Geschmack der Zeit antikisierenden Opern
„Daphne", ,.Eurydice", „Arethusa" u. a. m. einen Namen gemacht hatte.
Es gehört mit zu den charakteristischen Zeichen der französischen
Entwicklung im 17. Jahrhundert, daß gerade in den Zeiten nach den
Keligionskriegen der geistliche Stand umso rascher an Macht und Bedeu-
tung gewann, je schneller der Adel sank. Kichelieu und Mazariu waren
die leitenden Staatsmänner während eines Zeitraums von über 40 Jahren.
Im 16. Jahrhundert vielfach verwildert und seinem geistlichen Beruf
häufig ganz entfremdet, zeigt sich der Klerus schon unter Heinrich IV.
von ernsterem Geist beseelt und in würdigerer Haltung. Der König ließ
bei der Besetzung erledigter Bischofsitze größere Vorsicht walten, und
bahnte so eine heilsame Reform von oben an. Auch lud er den berühmten
Bischof von Genf, Franz von Sales, zur Predigt nach Paris ein, und
stellte ihn somit seinem Klerus gewissermaßen als Vorbild auf. Die
Kanzelberedsamkeit gewann an Inhalt und Form. Schon nannte man
als tüchtige Redner de Besse und den 1608 zum Hofprediger er-
nannten Valladier. Der Bischof von Montpellier, Fenoillet, stütze sich
in seinen Predigten zuerst wieder auf das Evangelium, und lehrte jene
Art geistlicher Beredsamkeit, welche 20 Jahre später von Jean de
Lingendes und dem geistvollen Jesuiten Timoleon Cheminais ausgebildet,
in der letzten Hälfte des Jahrhunderts von den Meistern des Worts,
von Flechier, Bourdaloue, Bossuet und Fenelon, zur Vollendung geführt
werden sollte.
Der dritte Stand endlich trat unter der Regierung Heinrichs und
Ludwigs XIII., wie schon gesagt, kaum hervor. Aus seinen Reihen
ergänzte sich zwar der größte Teil der Verwaltungsbeamten, selbst der
Richterstand; denn der sogenannte Gerichtsadel entstammte doch haupt-
sächlich dem Bürgertum, sowie auch die Gelehrten, die große Mehrzahl
der Dichter und Schriftsteller bürgerlicher Abkunft waren. Aber der
dritte Stand als solcher bedurfte nach den schweren Schlägen des kaum
beendigten Jahrhunderts noch einer langen inneren Arbeit, bevor er
35
wieder zur Geltung kam. Politisch hatte er für lange Zeit abgedankt.
Selbst auf der Versammlung der Reichsstände im Jahr 1614 war der
dritte Stand fast nur durch Eechtsgelehrte und Advokaten vertreten,
während sich das eigentliche Bürgertum, das früher kräftigen Anteil am
politischen Leben genommen hatte, nun ganz verdrängt sah.
Will man das Privatleben des Pariser Bürgertums in treuem Abbild
kennen lernen und den Geist erforschen, der es im ersten Drittel des
17. Jahrhunderts beseelte, so nehme man die „Plaudereien der Wöch-
nerin" zur Hand. Es ist dies eine Sammlung von Satiren, die das wohl-
habende Bürgertum jener Zeit in seinem Thun und Denken zeichnet.
Nach einer von alters her üblichen Sitte empfing damals jede
Wöchnerin, festlich aufgeputzt in ihrem Bett, die Damen ihrer Bekannt-
schaft. Die ganze Wohnung wurde dazu aufs reichste geschmückt, und
eine Tafel mit Speisen und Getränken stand für die Gäste bereit. Diese
Besuche dauerten in wohlhabenden Häusern mehrere Tage und veran-
laßten oft bedeutenden Aufwand, reizten aber auch von jeher die Spott-
lust der Satiriker.
Der unbekannte Verfasser der „Plaudereien" erzählt in der Ein-
leitung, wie er nach schwerer Krankheit wegen völliger Herstellung seiner
Gesundheit zwei Ärzte um Eat befragt habe. Der eine derselben habe
ihm die Landluft empfohlen, der andere aber heiteres Lachen als das beste
Heilmittel erklärt. Er solle deshalb recht oft das Theater besuchen oder
sich eine Komödie im wirklichen Leben vorspielen lassen. Vielleicht sei
eine Dame seiner Verwandtschaft gerade in die Wochen gekommen und
empfange den Besuch ihrer Bekannten. An diese Dame möge er sich
wenden und sie bitten, ihn ungesehen das Geplauder der Besucherinnen
zuhören zu lassen. Dieser letztere Rat habe ihm am besten gefallen;
er habe seine Bitte geeigneten Orts vorgetragen und sie gewährt ge-
sehen. Darauf teilt er nun die Unterhaltungen mit, die er an acht
verschiedenen Tagen in seinem Versteck gehört und aufgezeichnet hat.
Zu diesen Plaudereien finden sich Frauen jeglicher Lebensstellung ein,
vornehme und geringe, reiche und arme, alte und junge, fromme und
lebenslustige; Frauen von Kaufleuten, Advokaten, Notaren, Räten,
Eechnungsbeamten und Buchhändlern; gut katholische Frauen und Huge-
nottinnen, selbst die Marquise von Verneuil wird einen Moment unter
den Besucherinnen gesehen. Damit ist nun Gelegenheit geboten, die ver-
schiedensten Verhältnisse zu berühren. Das Zünglein der Damen arbeitet
Ott in unbarmherziger Weise, und besonders sind es die Gerichtsbeamten,
die Advokaten, die wucherischen Finanzleute, welche übel dabei weg-
kommen. Auch die Frauenwelt wird nicht geschont, und manches Ge-
ständnis gewagt, da man sich unbelauscht glaubt. Zwischen den bos-
haften Klatschereien und dem nichtssagenden Neuigkeitskram werden ab-
wechselnd auch einmal Vorfälle der Politik und Fragen der Religion
behandelt, wenn auch nur vorübergehend, und immer, dem Charakter
der Sprechenden gemäß, mehr in persönlicher als in allgemeiner Weise.
Nur einmal erhebt sich eine Alte aus dem Bürgerstand zu einem schwang-
vollen Angriff gegen die Reformierten, welche den Bürgerkrieg wieder
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zu entzimden sich nicht scheuten, obwohl sie volle Freiheit des Glaubens
erhalten hätten. Nur von Kunst und Poesie ist niemals die Rede, und
doch feierte man damals Malherbe als großen Dichter, doch begeisterte
man sich für d'ürfes Roman „Asträa", doch waren Sprache und Litte-
ratur in rascher Entwicklung begriffen. Aber alle diese Genüsse waren
noch Vorrecht der hohen aristokratischen Klassen. Der Kreis, der sich
um die Wöchnerin bildet und lebhaft, frisch darauf losplaudert, aber
nur einen engen Gesichtskreis hat, bildet den geraden Gegensatz zu den
vornehmen, nach geistiger und litterarischer Bedeutung strebenden, oft
aber auch pedantisch-langweiligen Gesellschaften, die um jene Zeit in
Mode kamen: ein Gegensatz, den der Verfasser der „Plaudereien" viel-
leicht absichtlich gesucht hat.*)
Das geistige Leben.
Daß sich ein Volk nach einer Periode der Trübsal und schwerer
Heimsuchungen zu besonderer Thätigkeit aufschwingt, sobald es wieder in
Ruhe aufatmen kann, ist eine häufig beobachtete Thatsache. Auch in
Frankreich heilte nach dem wiedergewonnenen Frieden der materielle
Aufschwung die schlimmsten Wunden, die der Krieg dem Volkswohl-
stand geschlagen hatte, in kurzer Zeit. Aber auch auf dem geistigen
Gebiet entwickelte sich ebenfalls eine nicht unbedeutende Bewegung.
Das geistige Leben war auch während der Bürgerkriege nicht
völlig im Land erloschen; es hatte sich nur auf engere Kreise zurück-
gezogen. Während draußen der Kampf wütete, fand die Wissenschaft
immer noch ihre Stätte in dem friedlich stillen Gemach einiger Gelehrter.
Doch war sehr viel verloren gegangen, und was Heinrich IV. für die
Stärkung des geistigen Lebens that, zeigte sich mehr in der Wiederauf-
richtung dessen, was früher bestanden hatte, als in neuen Schöpfungen.
Er selbst hatte kein großes persönliches Interesse an den Werken
des Geistes, soweit Wissenschaft und Poesie sie zeitigten; sein Geschick
hatte ihn von Jugend an Bahnen geführt, die weit davon ablagen. Allein
er war zu einsichtig, um nicht den Wert der geistigen Arbeit zu schätzen
und ihren Einfluß auf die Größe und Macht einer Xation zu verkennen.
So that er sein Möglichstes zur Hebung und Belebung der wissenschaft-
lichen Arbeit, ermunterte und belohnte auch, wenn schon im minderen
^) »Les caquets de raccouchee". Die ersten vier „Plaudereien" erschienen
1622, jede für sich als kleine Broschüre gedruckt, in 8° von 24 oder 32 Seiten.
Die Satire dieser ersten Stücke ist jedenfalls am schärfsten. Die folgenden
„Tage" rühren wahrscheinlich von anderer Hand her. Im Jahr 1(323 wurden
acht Stücke zu einem „Recueil general des caquets de raccouchee" vereinigt.
(200 Seiten.) Die Satire fand großen Absatz und wurde in den folgenden Jahren
noch mehrmals aufgelegt. Ein neuerer Abdruck erschien 1845 zu Metz, und ein
zweiter, bearbeitet von Ed. Fournier, mit einer Einleitung von Le Roux de Lincy,
in der Bibliotheque Eizevirienne (Paris, Jannet, 1855).
Maß, die neu erwachende Litteratur. Die Stimmung des Volkes kam ihm
bei diesem Streben zu Hilfe; es regte sich überall der Eifer, Neues zu
schaffen, Fehlerhaftes zu bessern, kurz: nachzuholen, was während so
vieler Jahre versäumt worden war.
In diesem Sinn hatte Heinrich schon 1595 eine Reform der Unter-
richtsanstalten angeordnet. Dachte man auch nicht an eine von Grund
aus zu ändernde Ordnung des Unterrichtswesens, so war doch viel zu
thun, wollte man nur eine Reihe von Mißbräuchen, die sich allmählich
eingeschlichen hatten, beseitigen. Zunächst galt es, eine Neuorganisation
der Pariser Universität durchzuführen, da diese den Mittelpunkt alles
öffentlichen Unterrichts in Prankreich bildete, und während der Unruhen
der Ligue außerordentlich gelitten hatte. Eine königliche Kommission,
in welcher unter anderen Achille de Harlay und der berühmte Geschicht-
schreiber de Thou saßen, arbeitete in mehrjährigen sorgfältigen Beratungen
die neuen Ordnungen aus, die dann im Jahr 1600 mit Bewilligung des
Parlaments veröffentlicht wurden. Das Wesen der Universität, wie es
sich im Lauf des Mittelalters ausgebildet hatte, war in denselben bewahrt,
und der Geist der neuen Zeit offenbarte sich nur in einzelnen Bestim-
mungen. So zeigt sich deutlich das Streben, die Universität unabhängig
von Rom hinzustellen. Die Ordensgeistlichkeit, welche das gehorsamste
Werkzeug des Papstes war, sollte fürderhin nur eine beschränkte Anzahl
von Lizentiaten-Diplomen erwerben können. Denn diese berechtigten zur
Erteilung des höheren Unterrichts und eröffneten den Weg zu den hohen
Kirchen würden. Durch jene Maßregel wollte man den weltlichen Klerus
gegen das Vordringen der Mönche schützen. Zudem sollte jeder, der
einen akademischen Grad erlangen wollte, zuvor geloben, die Gesetze des
Landes zu befolgen, dem König und der Obrigkeit zu gehorchen. Die
Freiheit der gallikanischen Kirche wurde somit aufs neue befestigt.
Das College de France war während des Kriegs vollständig auf-
gelöst worden und seine Professoren hatten sich zerstreut. Heinrich
berief sie wieder zu ihrer früheren Thätigkeit, sicherte ihre Stellung
und ließ zur Erleichterung der Studien die reichhaltige königliche Bücher-
sammlung, die bis dahin in Fontainebleau stand, nach Paris bringen,
wo sie zur öffentlichen Benutzung freigegeben wurde. (1595.)
An diese heilsamen Maßregeln schloß sich die Reform der Mittel-
schulen, in welchen wieder auf das Studium der klassischen Schriftsteller
zurückgegriffen wurde. Die früher gebrauchten, in barbarischem Latein
geschriebenen Lehrbücher wurden verdrängt, und diese Rückkehr zu den
wahren Quellen der Bildung und des Geschmacks mußte die wichtigsten
Folgen für die Ausbildung der Muttersprache haben.
So drängte am Schluß des 16. Jahrhunderts alles zu einem ein-
zigen großen Ziele hin.
Noch war freilich viel zu thun. Der Fortschritt, zumal in den
exakten Wissenschaften, war langsam. Bacon von Verulam war mit
seiner großen That, welche eine gänzliche Umwälzung in der Behandlung
der Naturwissenschaften heiboiführte. noch nicht hervorgetreten. Noch
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hatte er die neue Ära des Wissens und Denkens nicht begründet, noch
hatte er nicht die sorgfältige Beobachtung, das Experiment, an die Stelle
phantasiereicher Spekulation gesetzt. Immerhin aber hatte sich Franyois
Viet durch Anwendung der Buchstabenrechnung in der Algebra und
Geometrie ein großes Verdienst erworben.') Neben ihm mögen noch
Eiolan Vater und Sohn genannt werden. Von ihnen machte sich der
letztere, der seit 1604 Professor der Anatomie und Botanik am College
de France war, durch vielfache Secierungen des menschlichen Körpers
in der Geschichte der Anatomie einen Xamen. In der Botanik arbeitete
besonders Kicher du Belleval, welcher auch im Auftrag des Königs nach
italienischen Vorbildern den ersten botanischen Garten Frankreichs, den
zu Montpellier, anlegte. Auch Olivier de Serres verdient hier erwähnt
zu werden, denn sein Werk: „Theatre d'agriculture'' war lange hoch-
geschätzt und trug seiner Zeit viel zur Hebung der Landwirtschaft bei.
Ungleich bedeutender waren die Erfolge, welche während der Regie-
rungszeit Heinrichs auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft erzielt wurden.
Zwar war die Zeit der großen philologischen Gelehrsamkeit mit dem
16. Jahrhundert zu Ende gegangen, allein die Tradition lebte doch noch
lebendig fort. Josef Scaliger (1540 — 1609) gehörte sogar noch zur großen
Schule; aber auch Männer wie Casaubonus (1559 — 1615) und Salmasius
(1588 — 1658) hielten die ihnen überlieferte Wissenschaft aufrecht. Der
eigentliche Fortschritt zeigte sich dagegen hauptsächlich in der Behand-
lung der französischen Sprache. Die Übersetzungen klassischer Autorea
beweisen dies deutlich. Du Vair, Mitglied des Pariser Parlaments, ein
feingebildeter Mann, übertrug mit Glück einige der berühmtesten Reden
des Demosthenes und des Cicero, um seinen Landsleuten, und mehr noch
seinen Berufsgenossen, ein Muster gerichtlicher Beredsamkeit zu geben.
Er selbst hatte sich bei der Versammlung der liguistischen Reichsstände
in Paris als Redner voll Kraft und Schwung erwiesen, und seine theore-
tischen Ausführungen, die er in einem Werk über die Beredsamkeit nieder-
legte, waren verständig und klar. Auch Malherbe gab zVei wichtige
Übersetzungen, auf welche wir später noch zurückkommen werden.
Alle diese Übersetzungen waren eine Frucht der großen und nach-
haltigen Bewegung, welche die weitere Ausbildung und Vervollkommnung
der französischen Sprache zum Ziele hatte. Seit du Bellays Schrift: „Von
dem Adel der französischen Sprache'' hatte sich das Interesse an der
Muttersprache in immer weiteren Kreisen verbreitet, hatte sich gesteigert
und endlich auch die Beachtung und Hilfe der Sprachgelehrten gefunden.
Wie Henricus Stephauus mit seinem griechischen Wörterbuch den klassi-
schen Studien eine neue Grundlage gegeben hatte, so arbeitete der ge-
lehrte Nicot sein französisches Wörterbuch aus, welches das erste seiner
Art war, wenn man von einem früheren sehr schwachen Versuch voa
Ranconnet absieht. Die Stiftung der Florentiner Akademie della Crusca,
welche ein Wörterbuch der italienischen Sprache ausarbeitete, mag Nicot
^) Sein „Canon raathematicus" erschien zu Paris 1579; Viet selbst starb
im Anfang des 17. Jahrhunderts.
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die erste Anregung zu seiner Arbeit gegeben haben, obwohl das Be-
streben, die Muttersprache durch bestimmte Eegeln zu festigen, bei jedem
Volk sich von selbst einstellen wird, sobald es eine gewisse Stufe der
Bildung erreicht hat. Nicots Leben fällt allerdings noch vollständig in
das 1(3. Jahrhundert ; allein sein großes Werk wurde erst sechs Jahre
nach seinem Tod veröffentlicht, und der große Einfluß, den es auf die
Gestaltung der Sprache ausübte, begann demnach erst in jener Zeit, die
wir hier zu schildern versuchen.^)
Bei einer Übersicht der geistigen Arbeit in Frankreich unter
Heinrich IV. darf der Geschichtschreiber de Thou, einer der hervor-
ragendsten Männer seiner Zeit, nicht übergangen werden. Freilich ist er
in einer Darstellung der französischen Litteratur nicht weiter zu nennen,
da er die „Geschichte seiner Zeit'', deren erste 18 Bücher im Jahr 1604
erschienen, in lateinischer Sprache verfaßt hat.
Um aber die Stimmung eines Volkes und seine geistige Entwicklung
richtig zu würdigen, wende man sich an die Philosophie der Zeit. So
seltsam es klingen mag, es ist doch wahr, daß der einsame Denker,
auch wenn er von seinen Zeitgenossen unbeachtet und verlassen scheint,
die geistige Richtung einer ganzen Epoche in seinen philosophischen
Sätzen oft am klarsten spiegelt. Er hat in der Stille seiner Arbeit die
verschiedenen Strömungen, von welchen sich das Volk halb bewußt, halb
unbewußt der Zukunft entgegentragen läßt, am schärfsten erkannt, und
seine Philosophie ist nur ihr Ausdruck in idealer Form.
Wie das französische Volk in den ersten Jahren des Jahrhunderts
dachte und fühlte, sagt uns am besten Pierre Charron in seiner Schrift:
„Von der Weisheit".
Charron war kein Philosoph im strengen Sinn des Worts, kein
Denker, welcher der Menschheit neue Wege für die geistige Arbeit
eröffnet, eine höhere Gedankenwelt erschlossen hätte. Er war auch kein
Mann, der seine Zeitgenossen durch Kraft und Ausbildung des Geistes
um ein Bedeutendes überragt hätte. Er war einfach ein klarer, kühler
Kopf, der aussprach, was die Gebildeten seiner Zeit beschäftigte, was
ihnen je nach ihrem Standpunkt dunkler oder klarer vorschwebte. Fußt
schon der größte Philosoph auf dem Boden der mitlebenden Menschen, in
der Gesellschaft, die ihn umgiebt und mit tausend Ranken umschlungen
hält, wieviel mehr noch der einfache Moralphilosoph, der die Welt
unwillkürlich so anschaut, wie die gerade herrschende Stimmung es ihn
lehrt, und wie sie sich im Spiel der wechselnden Zeitbegebenheiten
gestaltet.
Auch Charron gehört, wie die meisten der schon genannten Männer,
mit seinem Leben und seinen Grundsätzen noch ganz in das 16. Jahr-
hundert, allein sein Hauptwerk erschien erst im Beginn des neuen Jahr-
hunderts, und ist bei einer Betrachtung der geistigen Bewegung in
Frankreich unter Heinrich IV. nicht zu übersehen.
1) Nicot starb im Jahr 1600. Sein „Tresor de la laiigue franr-aise aucienno
et moderne" erschien zu Paris 1606.
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Geboren zu Paris im Jahr 1541 als der Sohn eines Buchhändlers,
der sich einer Schar von 25 Kindern rühmen konnte, erhielt Pierre
Charron eine klassische Erziehung, wie man sie damals geben konnte,
studierte später zu Orleans und zu Bourges die Rechtswissenschaft,
und wurde unter die Zahl der Advokaten beim Pariser Parlament auf-
genommen. Die Thätigkeit, die sich ihm dort eröffnete, muß ihm jedoch
wenig behagt haben. Er ging zur Theologie über und wurde bald als
einer der bedeutendsten Kanzelredner gerühmt. Eine Zeit lang Prediger
der Königin Margarete von Navarra, finden wir ihn im Jahr 1571 bei
dem Bischof von Bazas, und der Ruf, dessen er sich als Redner erfreute,
führte ihn häufig auf Reisen. Im Jahr 1588 kam er nach Paris, um
sich in den Karthäuserorden aufnehmen zu lassen. Er wurde jedoch mit
seinem Ansuchen abgewiesen, da er in seinen Jahren die strenge Lebens-
weise der Mönche nicht mehr werde ertragen können. Was Charron zu
diesem Schritt bewogen hat, ist nicht bekannt; aber der Schluß liegt
nahe, daß der mildgesinnte Mann, der schon vor den Prozessen geflüchtet
war, der sich schon früher gegen das Vorgehen der Ligue tadelnd aus-
gesprochen hatte, ^) bei der steigenden Flut des Hasses und dem An-
wachsen der finstersten Leidenschaften ein Grauen empfand, und in der
Stille des Klosterlebens den gewünschten Frieden zu finden hoffte.
Mehr Ruhe, als er dort erlangt hätte, gewährte ihm ein Jahr
später die Bekanntschaft mit Michel Montaigne, die er in Bordeaux
machte, und die bald zur engen Freundschaft wurde. Montalgnes Skepti-
cisraus wirkte beruhigend und klärend auf ihn ein. Er hatte nicht mehr
unstet zu suchen, ängstlich nach der Wahrheit zu forschen. Montaigne
lehrte ihn, daß nichts gewiß und absolut wahr sei, daß der Weise ruhigen
Auges auf das Treiben der Menschenwelt zu blicken habe, und seine
Überzeugung von der Nichtigkeit aller menschlichen Ideen und Gefühle,
aller menschlichen Bestrebungen als das wahre Geheimnis der Weisheit
vor der unverständigen Menge verschließen müsse. ^)
Anschauungen dieser Art mußten in der Unglückszeit, in welcher
die Menschen sich wegen ihres Glaubens umbrachten, doppelt willkommen
und überzeugend sein. Aber sie waren nur für wenige bestimmt; es
war wie eine moderne Geheimlehre, die da geboten wurde. Zudem hatte
man ein Mittel, sich mit der herrschenden Kirchenlehre abzufinden.
Schon lange behauptete man, daß eine Ansicht vom Standpunkt der
Vernunft aus richtig und wahr sein könne, ohne deshalb auch kirchlich
und dogmatisch richtig zu sein, und umgekehrt. Mit dieser subtilen
Unterscheidung zweier sich widersprechender Wahrheiten suchte sich
') Charron, „Discours chrestien adress^ ä un docteur de Sorbonne contre
la ligue". Darin heißt es, daß die Liguisten, welche sich gegen den König er-
hoben hätten, verdammt seien, denn sie hätten ihren Teil an der Schuld der
Mordthaten und Greuel aller Art. Die Schrift erschien 1589, kurz vor der Er-
mordung Heinrichs III.
-) Montaigne, Essais, livre II, chap. 12: „Apologie de Ra^vmond de Se-
hende", und an anderen Stellen. Vergl. auch Prevost-Paradol, Etudes sur les
moralistes franyais. 2. ed. Paris 1865, S. 32 ff.
41
die Philosophie gegen die strenge Censur der Kirche zu schützen. Eine
ähnliche Ansicht mag Charron geleitet haben, als er 1594 ein in streng-
gläubigem Sinn verfaßtes Buch: „Die drei Wahrheiten •' gegen Gottes-
leugner, Juden und Ketzer veröffentlichte. Die höhere Weisheit paßte ja
«einer Meinung nach nicht für das Volk. Zum Generalvikar des Bischofs
von Cahore ernannt, wohnte er im Jahr 1600 der Versammlung des
Klerus zu Paris bei, die ihn zu ihrem Sekretär wählte. Jedoch verbrachte
er die meiste Zeit in Condom Inder Stille, wo er auch sein Buch: „Von
der Weisheit" schrieb. Gedruckt wurde es zu Bordeaux im Jahr 1601,
erregte aber in einigen frommen Kreisen durch seine Sprache solchen
Anstoß, daß sich Charron entschloß, eine zweite Ausgabe in Paris zu
veranstalten, und darin, wie er selbst sagt, manche Stelle zu mildern,
um den Übelwollenden den Mund zu schließen und die Einfachen zu-
frieden zu stellen.') So kam er nach der Hauptstadt zurück, dort aber
ereilte ihn der Tod, bevor der Druck seines Werks zu Ende gediehen
war. Er starb infolge eines Schlagflusses im Jahr 1608.
Wenn Charron sich entschließen konnte, seine innerste Überzeugung
öffentlich darzulegen, wenn er den Zeitpunkt für passend hielt, mit seinen
Anschauungen hervorzutreten, so mußte er sich vorher versichert haben,
daß sie die öffentliche Meinung nicht ungünstig aufnehmen würde. Er
mußte wissen, daß die Gebildeten sich einer freieren Weltanschauung
zuneigten. Die Religionskriege hatten das Gegenteil von dem erreicht,
was sie erstrebten. Das unsägliche Elend, das sie über den einzelnen,
wie über die Gesamtheit der Nation brachten , hatte viele in ihrem
Glauben irre gemacht, und sie gegen die Religion entweder indifferent
oder feindlich gestimmt. Die Klage über den zunehmenden Unglauben
findet sich nicht selten in den Schriften aus jener Zeit.^) Die Kluft
zwischen dem fanatisierten großen Haufen und den gebildeten Klassen
wurde immer weiter. Letztere wurden zum Teil füi- den gemäßigten
Skepticismus Montaignes gewonnen; zum Teil verloren sie jeden mora-
lischen Halt, als sie an der Wahrheit der bis dahin von ihnen fest-
gehaltenen religiösen Überlieferung zu zweifeln anfingen, und die Zahl
dieser letzteren wurde täglich größer. Charron mochte die Gefahr ein-
sehen, die in dieser Richtung lag, und so wagte er endlich hervorzu-
treten, um, entschiedener noch als Montaigne, den schwankenden Ge-
mütern mit Hilfe der Philosophie eine Stütze zu bieten.
Charron hatte den „Essais" seines Freunds vieles e^utlehnt, ja
ganze Abschnitte aus ihnen in ihrem Gedankengang benutzt. Dennoch
trägt sein Werk einen andern Charakter als die „Essais'". Montaigne
ist in seiner ganzen Behandlungsweise feiner, weltmännischer. Seine
geistvollen Plaudereien scheinen völlig anspruchslos ; sie führen den Leser
freundlich mit sich fort, unterhalten ihn über alle möglichen Fragen
der Psychologie und des menschlichen Lebens, und unvermerkt, ohne je
^) „Pour fermer la bouche aux malicieux et contenter les simples."
-) Man sehe z. B. Villeroy, „Memoires d'Etat". Darin seinen „Discours
ä Mr. de Bellievre sur les evenemeuts compris entre 1567 et 1588".
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aufdringlich zu werden, bringen sie ihn zur Überzeugung, daß nichts
Irdisches für den Menschen Gewißheit hat, daß alles nur relativ wahr
ist. Montaignes Wahlspruch ist die bezeichnende Frage: „Was weiß ich?"
die er mit lächelndem Mund zu stellen scheint. Charron geht derber auf
sein Ziel los; der Skepticismus ist ihm schon festes Dogma, und er
nimmt den Wahlspruch: „Ich weiß nicht".
Montaigne hatte sich mit erstaunlicher Lebenskunst inmitten der
bürgerlichen und religiösen Wirren frei von aller Parteinahme erhalten ;
er hatte es über sich gebracht, dem ganzen schrecklichen Treiben kritisch
beobachtend zuzusehen. Seine Ruhe ließ er sich nicht rauben. Charron
dagegen scheint das Bewußtsein, daß er einer bürgerlichen und nationalen
Gemeinschaft angehöre, nicht verloren zu haben, und je tiefer er das
Grauen über die fortgesetzten Greuel empfand , umso größer wurde die
Entfernung, welche ihn von der reinen, aber kalten Höhe Montaignes
trennte. Es geht ein Zug tiefer Menschenverachtung durch das Buch
Charrons. Er, der Priester, der dem Volk, zumal den Armen und Ein-
fältigen, in Liebe nahe stehen sollte, weicht entsetzt vor dem wilden
Sinn zurück, den er dort findet. „Das Volk ist ein wildes Tier, sein
Denken nichts als Eitelkeit, sein Sagen ist falsch und irrig. Was es
verwirft, ist gut; was es billigt, ist schlecht; was es lobt, ist schändlich,
und was es thut und unternimmt, ist nichts als Thorheit."^)
Charron denkt überhaupt gering vom Menschen und weist ihm eine
andere Stelle an, als diejenige, welche der Mensch gewöhnlich in stolzem
Selbstgefühl für sich in Anspruch nimmt. In der richtigen Erkenntnis
aber der eigenen Natur sieht Charron die beste und höchste Aufgabe
des Menschen.-) Diese Erkenntnis zu erleichtern, hat er sein Buch: „Von
der Weisheit'' geschrieben. Er teilt seinen Stoff in drei Bücher, von
welchen sich das erste mit der menschlichen Natur im allgemeinen, der
Gesellschaft und den einzelnen Ständen beschäftigt, während das zweite
allgemeine Lebensregeln und Weisheitslehren giebt, das dritte endlich
die einzelnen Eigenschaften des Geistes, seine Schwächen und Leiden-
schaften, sowie seine Tugenden und Kräfte bespricht. Trotz aller
scheinbar systematischen Form ist diese Einteilung doch ziemlich
systemlos.
Das erste Buch hat für uns wegen seines allgemeinen Charakters
und der Fragen, die in den einzelnen Abschnitten berührt werden, das
meiste Interesse, und lehrt uns am besten Charrons Ansichten kennen.
Er beginnt mit einer allgemeinen Betrachtung des Menschen und be-
merkt sehr bald, daß derselbe aus Körper und Geist gebildet sei, also
aus zwei in ihrem Wesen sich widersprechenden Teilen. Er nennt den
Menschen deshalb drastisch „ein gar sonderbares und ungeheuerliches
^) Charron, „De la sagesse", livre I, chap. 48: „ . . . Le vulgaire est une
beste sauvage, tout ce qu'il pense n'est qiie vanite, tout ce (ju'il dict est faux
et errone, ce qu'il reprouve est bon, ce qu'il approuve est mauvais, ce qu'il loue
est infame et ce qu'jl faict et entreprend n'est que folie..."
-) Charron, De la sagesse, livre I, chap. 1 : „La vraye science et la vraye
estude de Thomme, c'est I'horame."
43
Flickwerk".') Der Zweifel an der Hoheit des Menschen kommt hierbei
alsbald zu Tage, denn Charron sagt, daß einige dem Körper, andere
dem Geist die Schuld des Elends zuschreiben, in das der Mensch ver-
sunken sei. Dieses Elend, das mehr moralischer als physischer Natur
ist, offenbart sich nur zu sehr. In beredten, ergreifenden Worten, wie
Charron sie selten findet, zeichnet er den Jammer der Menschen. „Die
Menschheit! in ihr ist alles Elend, außer ihr giebt es keines. Elend zu
sein, ist das Kennzeichen des Menschen; der Mensch allein, und jeder
Mensch ist jederzeit elend".-) Wie später Pascal, dem er an Geistes-
kraft freilich lange nicht nahe kommt, will schon Charron die Nichtig-
keit des Menschen beweisen ; er will ihn als gänzlich verloren und in
den Staub gedrückt zeigen, damit er allein auf Gott sein Vertrauen und
seine Hoffnung setze. Doch führt Charron diese Idee, die das Fundament
von Pascals unvollendetem Werk bildet, nicht weiter aus. Im weiteren
Verlauf seiner Untersuchung vergleicht er dann den Menschen mit dem
Tier, und findet, daß dieses, welches auch einen gewissen Grad von
Verstand besitzt, mit dem Menschen nahe verwandt ist. Der Mensch
steht weder über noch unter dem Tier,^) aber das letztere lebt glück-
licher, da es nur in der Gegenwart lebt. Es ist freier als der Mensch,
es lebt ruhiger, zufriedener, weil es der Natur gemäß lebt. Niemals fügt
es sich freiwillig in Knechtschaft, wie der Mensch das so oft thut. Auch
ist es lange nicht so grausam, und wenn es dem Menschen an Geistes-
kraft nachsteht, desto besser für es ! Denn gerade der Geist, auf den der
Mensch so stolz ist, bringt ihm eine Million Übel, und zwar in
umso höherem Grad, je mehr er sich regt und sich bemüht. Wer genau
zusieht, wird finden, daß sich in jeden Aufschwung, in jede Begeisterung
der freien Seele ein Körnchen Wahnsinn mischt, denn das sind zwei
sehr verwandte Erscheinungen.*) Man meint bereits die Stimme Jean
Jacques' zu hören, der den Urzustand der Menschen preist.
DieFrage nach der Natur des menschlichen Geistes beantwortet Charron
zunächst in vorsichtiger Weise. Er führt die Ansichten der verschiedenen
Philosophen auf, des Aristoteles, der Stoiker, der Kirchenväter, dann
auch die Lehre der christlichen Kirche, nach welcher Gott die Seeleu
im voraus geschaffen habe, und sie je nach Bedürfnis verwende, um sie
den neugeborenen Kindern einzuhauchen. Eine andere Ansicht sei zurück-
haltender, fügt er dann hinzu, denn sie lehre nichts Bestimmtes, und
begnüge sich damit, zu sagen, daß der Mensch hier vor einem Geheimnis
1) Ibid. livre I, cliap. 2 : „voilä une estrange et monstrueuse cousture que
rhomme."
2) Livre I, chap. 6: „C'est la misere mesme toute vifve, c'est en un mot
exprimer rhumanite: car en luy est toute misere et hors de hiy il n'y en a
point au monde. C'est le propre de Thomme d'estre miserable; le seul homme
et tout homme est tousjours miserable, comme on verra."
3) Livre I, chap. 8: „Ainsy y a-il uu grand voisinage entre Thomme et
les autres aniraaux... II y a plus grande distance d'homme ä homme que
d'homme ä beste." Vergl. auch bes. livre I, chap. 16.
*) Livre I, chap. 8. Zur ganzen Stelle vergl. Montaigne, Essais livre II,
chap. 12.
44
stehe. ^) Etwas später läßt sich Charron freilich hinreißen und spricht
seine Meinung offener aus. Die Unsterblichkeit der Seele bilde den Inhalt
einer Lehre, die ganz allgemein und gläubig aufgenommen werde, aber
nur in den öffentlichen Glaubensäußerungen und nicht in der festen
Überzeugung des Herzens wurzle; sie sei eine Lehre, die sehr nützlich
zu glauben, aber durch menschliche Schlüsse am wenigsten zu be-
weisen sei.-)
Wie soll der menschliche Geist die Wahrheit finden ? Vergebliche
Frage. Wir Menschen können Wahrheit und L-rtum nicht von einander
unterscheiden. Der größte Beweis für die Wahrheit ist die allgemeine
Übereinstimmung. Allein es giebt viel mehr Thoren als Verständige in
der Welt; was hilft da die Übereinstimmung der Menge? Nur wenige
vermögen sich über die allgemeine Meinung zu erheben, ihren Geist zu
beherrschen. Die Mehrzahl der Menschen bedarf der engen Schranken;
man muß sie durch Religion, Gesetze, Herkommen, Wissenschaften, Vor-
schriften, Drohungen und Versprechungen fesseln. Die Völker, die sich
nur mittelmäßiger Geistesgaben rühmen können, leben ruhiger als die
Völker, deren Geist lebendig ist. Florenz sah in zehn Jahren mehr Un-
ruhen und Aufstände, als die Schweiz und Graubündten in fünfhundert
Jahren. „Den Geist verfeinern, heißt nicht, ihn weise machen." ^)
Wie soll der Mensch die Wahrheit erkennen? Sind es doch nicht
die Dinge selbst, die auf ihn wirken, sondern die Meinungen, die er
von den Dingen gefaßt hat. „Wir glauben, schwören, handeln, leben
und sterben auf Treu und Glauben. " *)
So kommt Charron im zweiten Buch seines Werks auf die
„praktischen Regeln der Weisheit" zu sprechen. Bei der Unmöglichkeit,
die Wahrheit zu erkennen, muß es wenigstens einige Mittel geben, dem
Menschen den nötigen Halt zu verschaffen, ihm die nötige Freiheit des
Geistes und des Willens zu bieten, auf daß er sein Leben vollenden
kann, ohne zu sehr der Spielball fremder Einflüsse zu sein, und damit
er soviel als möglich sich über die gewöhnlichen Lebensschicksale zu
erheben vermag.
Wenn die Wahrheit unerforschlich ist, so haben alle menschlichen
Ansichten und Lehren gleich wenig Bedeutung. Und die erste praktische
Lehre, die uns jene Erkenntnis giebt, heißt uns mit dem Urteil zurück-
zuhalten, uns zu keiner Meinung zu bekennen, uns für keine zu ent-
^) Livre I, chap. 15.
2) Ibid.
^) Livre I, chap. 16: „I'affinement des esprits n'est pas Tassagissement."
Schon Montaigne hatte (essais II, chap. 12) gesagt: „La peste de Thomme, c'est
l'opinion de sravoir" und etwas weiter: „Voulez-vous un hemme sain? Le voulez-
vous reigle et en ferrae et seure posture? Affublez-le de teuebres, d'oisivete et
de pesanteur. II nous faut abestir pour nous assagir." Unnötig zu be-
merken, dass Montaigne trotz dieser Worte kein Apostel der Verduminung war.
*) Livre I, chap. 18: „Les hommes sont tourmentes par les opinions
qu'ils ont des choses, non par les choses mesmes. .. prescjue toutes les opinions
que nous avons, nous ne les avons que par aucthorite; nous crovons, jugeons,
agissons, vivons et mourons ä credit."
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scheiden, uns für nichts zu binden.') Um aber jede Mißhelligkeit mit
der Kirche zu vermeiden, fügt Charron diesem Satz alsbald die Be-
merkung bei, daß das Gesagte sich nicht auf die Wahrheiten der
Religion beziehe, die ja den Menschen von der göttlichen Weisheit offen-
bart worden seien, und die man in aller Demut hinnehmen müsse. Charron
will ohnehin dem Volk die Religion nicht rauben, er will nur den Ge-
bildeten eine Philosophie geben, die sie auf einen höheren Standpunkt
leiten soll.
Die Freiheit des Geistes im Urteil kann aber nur dadurch erlangt
werden, daß der Geist sich über die engen Schranken seiner Heimat,
seiner Sitte, seines Berufs erhebt und die Gesamtheit der Erscheinungen
zu erfassen versucht. Die wahre Menschenwürde liegt darin, daß man
einfach und den Geboten der Natur gemäß lebt.
Das dritte Buch endlich enthält Winke für das Benehmen, das
der Mensch in einzelnen Fällen einhalten soll. Es bespricht die einzelnen
menschlichen Tugenden, die Klugheit der Herrscher, die Verschwörungen
und Aufstände ; es handelt von der Gerechtigkeit, der Treue, den Wohl-
thaten und der Dankbarkeit, von den Pflichten der Eltern und der Kinder
u. s. w. Kurz, Charron giebt hier eine Art Moralphilosophie; aber
gerade deshalb enthält dieses Buch für uns, die wir die Strömungen des
öffentlichen Geistes aus seinem Werk zu erkennen suchen, wenig von
Bedeutung.
Wichtig ist für uns daraus nur die Bemerkung, daß Charron die
Toleranz als erstes Gebot der Weisheit aufstellt. Mit dieser Ansicht be-
fand er sich jedenfalls in Übereinstimmung mit dem König und dem
größten Teil der Bevölkerung. Die Toleranz noch eindringlicher zu
predigen, sucht er die Entstehung der Religionen zu schildern. Gesetz-
geber, Feldherren oder Parteiführer wissen auf geschickte Weise ein
Wunder vorzubereiten, oder veranlassen eine Offenbarung, eine himmlische
Erscheinung. Anfangs finden sie damit nur bei den einfachen Menschen
Gehör, und der kleinste Zufall könnte das ganze Gebäude zerstören;
allein aus solchen Anfängen sind oft die folgenschwersten Entwicklungen
hervorgegangen. Denn wenn einmal der erste Schritt gemacht ist, wächst
die Sache von selbst und dehnt sich aus; die Menge der Gläubigen
nimmt zu, und der beste Beweis für die Wahrheit einer Lehre liegt ja
in der Menge der Jahre und der Gläubigen.-) Vom Christentum ist
hier nicht die Rede; ja Charron macht Miene, es nicht unter den hier
gezeichneten Religionen zu verstehen, und doch fällt es schwer, diese
Stelle nicht auf das Christentum anzuwenden. Spricht er sich doch an
einer andern Stelle noch entschiedener über die Religionen und deren
Ursprung aus. So viel es ihrer auch geben mag, sagt er, sie gleichen
sich alle in gewissen Punkten. Sie haben dieselben Anfänge und Grund-
lagen, dieselbe Art der Entwicklung. Sie stammen alle aus demselben
1) Livre II, cbap. 2: „Sans s'obliger ou s'engager a opinion auscuiie,
Sans resouldre ou determiner, ni se coiffer ou espouser auscime chose."
2) Livre II, chap. 5.
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Klima, aus derselben Luft; alle kennen sie Wunder, Orakel, heilige Ge-
heimnisse, Propheten und gewisse Glaubenssätze, ohne die es kein Heil
giebt. Sie lehren alle, daß man Gott durch Gebete, Geschenke, Gelübde,
Versprechungen, Feste und Weihrauch besänftigt und gewinnt, und daß
man am besten seine Gnade erwirbt, wenn man sich selbst quält, be-
steuert, mit schwerer und schmerzvoller Arbeit belastet; denn man
meint, Gott finde an der Qual seiner Geschöpfe Gefallen. „Alle Religionen
haben ferner das gemeinsam, daß sie für den gesunden Menschenver-
stand etwas Fremdartiges und Schreckliches haben, denn sie sind aus
Elementen gebildet, welche einem kräftigen Menschen entweder niedrig,
ungehörig und lächerlich vorkommen, oder ihm so hoch, geheimnisvoll
und wunderbar erscheinen, daß er sie nicht versteht und darob ergrimmt."
Die Philosophie Charrons ist weder durch Tiefe, noch durch Schwung
ausgezeichnet, ist auch nicht einmal originell. Aber sie wirkte durch ihre
Offenheit und ihre mutige Sprache. Charron hat gewiß einen schweren
Kampf in seinem Gemüt durchgekämpft, bevor er zu der Überzeugung
gelangte, die er in seinem Buch entwickelt. Im Grunde genommen, ist
es doch nur die Frage nach dem Wert der Religion, nach der Wahrheit
des überlieferten Kirchenglaubens, um welche es sich bei ihm handelt.
Er ist Deist und von der christlichen Kirche innerlich völlig gelöst.
Daß er sich vorzugsweise mit Fragen der Religion beschäftigte, daß er
in ernstem Streben nach Wahrheit und Freiheit rang, zeigt, daß er ein
echter Sohn seines Jahrhunderts war. Nicht allein, daß er sich für die
weiteste Duldung aller Meinungen aussprach, er bekämpfte auch die
Tortur, und wurde so der Vorläufer der großen Männer einer späteren
Zeit, eines Montesquieu und eines Beccaria, der Vorläufer des Jahrhunderts
der Aufkärung.^) Seine Moral ist rein. Der Mensch soll sich in seinen
Handlungen weder durch Furcht vor Strafe, noch durch Hoffnung auf
Belohnung, sondern nur durch die Vernunft leiten lassen.
Doch der Einfluß der langen Kämpfe, der sich auf allen Gebieten
des öffentlichen wie geistigen Lebens der Nation offenbarte, war auch
bei Charron in mancher Hinsicht deutlich bemerkbar. Die Abspannung
des Volkes, die Sehnsucht nach Ruhe, die sich in der Abwendung von
jeder politischen Bestrebung, in der fast gleichgiltigen Hingabe der
politischen Rechte an den Herrscher verrät, zeigt sich bei Charron wie
bei Montaigne. Die Zeit der Leidenschaft ist vorüber, die kühle Über-
legung und egoistische Sorge für die nächste persönliche Bequemlichkeit
gewinnen die Oberhand. So lehrt denn auch Charron als hohe Weisheit
die Unterdrückung jeder ehrgeizigen Regung des Herzens. Der wahrhaft
Weise soll nur sich selbst leben; kann er sich einem Amt, einer Arbeit
nicht entziehen, so soll er sie nur in die Hand, nicht aber zu Herzen
nehmen ; soll für die Sache zwar sorgen, sich aber nicht für sie er-
hitzen, nur an wenig teilnehmen und sich immer auf sich beschränken."')
1) Livre I, chap. 4.
2) Livre II, chap. 2: „Ne se donner qu'a soy, prendre les affaires en
inains et non ä coeur, s'en charger et non se les incorporer, soigner et non
passLoner, ne s'attacher et mordre qu'ä bien peu et se tenir tousjours a soy."
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Das ist eine praktische Weisheitsregel, welche schon die alten Philo-
sophen kannten und übten. Aber sie ist doch eine Regel, die nur in
Zeiten der Müdigkeit viele Anhänger finden kann, denn in ihrer kalten
Selbstsucht ist sie ein Feind des Fortschritts, ein Feind der Meftschheit.
Von ihr geleitet, gelangte Charron zu dem schon erwähnten Schluß,
daß die von der Natur mit schwerfälligem Geist begabten Völker glück-
licher seien, als die regsamen Nationen. Er vergaß dabei, daß Arbeiten
und Ringen das wahre Leben ausmachen, daß vegetieren nicht leben
heißt. Allein am Eingang des Jahrhunderts, das die Staatsgewalt aus-
schließlich in die Hand eines einzelnen Menschen fallen ließ, das die
Centralisation im Staat mit allen Mitteln begünstigte und Einförmigkeit
oft mit Einheit verwechselte, am Eingang eines solchen Jahrhunderts
erscheint uns die Philosophie des merkwürdigen Priesters besonders be-
achtenswert.
Heinrich IV. erwies sich in Sachen der Censur allezeit freisinnig
und ließ sogar heftige Schmähschriften, die gegen ihn selbst gerichtet
waren, ungestört verbreiten. Auch die Gegner Charrons, welche nach
dessen Tod die Vernichtung des Buchs verlangten und die Sache bis
vor den Staatsrat brachten, fanden bei dem König keine Förderung.
Immerhin mag der politische Charakter des Buchs nicht ohne Einfluß
auf die Entscheidung des Staatsrats gewesen sein, und Präsident Jeannin,
ein Mann von Bildung und freiem Sinn, betonte in seinem Bericht über
Charrons Schrift, daß dieselbe nicht für das niedere Volk und die Un-
gebildeten geschrieben sei, sondern daß nur ein kräftiger und gebildeter
Geist darüber urteilen könne, und daß, mit einem Wort, das Buch einen
wahrhaft staatspolitischen Wert habe.
Einige Jahre vor der ersten Ausgabe des Buchs: „Von der Weis-
heit" hatte du Vair, den wir als hervorragenden Redner und Übersetzer
schon kennen gelernt haben, zwei philosophische Schriften veröffentlicht,
welche neben Charrons Buch genannt werden müssen. Du Vair, den
König Heinrich später zum Präsidenten des Provencer Parlaments er-
nannte, war ein Mann des thätigen Lebens. Ihm galt, es darum vor allem
um Ausgleichung der Gegensätze und Stärkung des Volksgeistes. Seine
beiden Schriften: „Die Moralphilosophie der Stoiker" und „Die heilige
Philosophie" atmen daher versöhnlichen und zugleich ernsten und edlen
Geist. Aber auch er kennt zweierlei Wahrheit, das ist bezeichnend. In
seiner ersten Schrift bietet er jenen, die der christlichen Kirche ent-
fremdet sind, die reine menschliche Moral, abgelöst von jedem Dogma.
Das wahre Gut, das die Menschen erstreben sollen, sind nicht Reich-
tümer und Ehren, nicht einmal Gesundheit. Das wahre Glück des Menschen
besteht auch nicht im Genuß. Ein naturgemäßes Leben ist das einzige
richtige Leben, aber es ist nur naturgemäß, wenn es sich nach den
Geboten der Vernunft richtet. Ein solches Leben leitet den Menschen
weiter und höher, zur Tugend, in welcher er das höchste Glück und
die wahre Befriedigung finden wird.
In seiner zweiten Schrift wird du Vair wärmer. Hier wendet er
sich an einen christlichen Leserkreis. Er erkennt im Christentum das
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edelste, was der Menschheit gegeben sei und der man das religiöse Ge-
fühl nicht rauben möge. Das Christentum, das er im Auge hat, ist frei-
lich ein anderes, als das. was zu seiner Zeit geübt wurde. Du Vair fußt
rein auf dem Evangelium, und er glaubt an die allmähliche Vervollkomm-
nung des Menschen. Der Spruch der Bibel: ,.Du sollst Gott lieben von
ganzem Herzem und deinen Nächsten wie dich selbst", gilt ihm als das
höchste Gebot. Ihm ist der Bestand und die Ordnung der Welt ein voll-
kommener Beweis für die Existenz, die Größe und Güte Gottes. Aber
nicht im Augenblick der Not allein soll sich der Mensch im Gebet an
Gott wenden, sondern sein ganzes Sein soll er von echter Frömmigkeit
durchdringen lassen. In seinen einzelnen Ausführungen ist du Vair oft
sehr fein, und die Schilderung der Leidenschaften und Schwächen der
Menschen gelingt ihm vortreiflich. Auch ihm hat Charron viel für sein
Buch entnommen. Beide haben in ihren kleinen Charakterbildern Stellen,
welche La Bruyere nicht zu verleugnen hätte.
Während Charron aber mehr den Charakter und die Anschauungs-
weise einer abschließenden Epoche vertritt, zeigt du Vair die Kichtung
an, welche das beginnende Jahrhundert bald entschieden einschlagen
wird. Weder ungläubig, noch rationalistisch, sondern der herrschenden
Kirchenlehre sich anbequemend, dabei aber in religiösen Fragen ruhig
und gemäßigt, so erscheinen die Franzosen des 17. Jahrhunderts. Ihr
Interesse lag in anderer Richtung, und politische wie religiöse Kämpfe
sollten in der nächsten Zeit nur sehr vereinzelt auseefochten werden.
III.
Malherbe.
Ronsard, das Haupt der Plejade. war im Jahr 1585 im Voll-
geiuiß seines Dichterrulims gestorben. Kaum aber hatte er die Augen
geschlossen, als auch schon der Glanz seines Namens zu erbleichen be-
gann. In dem Drängen und Treiben nach vorwärts, nach einem hohen
Ziele, das man mehr ahnte als klar erkannte, machten sich die ver-
schiedensten Richtungen in der Litteratur geltend, und ein wirres Durch-
einander von Principien, Traditionen und Manieren trat an die Stelle
allgemein anerkannter Grundsätze. Während die Reste der Plejade, die
Anhänger und Jünger Ronsards. fortfuhren, in der Weise ihres Meisters
zu dichten und allen Fortschritt in der Litteratur ihres Landes von der
Nachbildung der griechischen und römischen Muster zu erwarten, wendeten
sich andere der Muse des Nachbarlandes zu, und ahmten die geschmack-
lose Ziererei und seichte Tändelei nach, welche damals die italienische
Litteratur verunzierte. Wieder andere dichteten im strengen Geist der
Reformierten und hatten herbe Worte für das weltliche Treiben ihrer
Gegner wie ihrer Freunde. Diesen Rigoristen gegenüber brüstete sich
die leichtfertige Lebensphilosophie der höfischen Dichter, die es sich zur
Ehre rechneten, den Großen des Landes Kupplerdienste zu erweisen.
Aber inmitten des Auf- und Abwogens der verschiedenen Ansichten
und trotz des beständigen Geschmackswechsels erhielt sich ein Streben
aufrecht, das allen gemeinsam war.
Das Bedürfnis, die Sprache zu vervollkommnen, sie geschmeidiger
zu machen und zu klären, ihre Gesetze und Formen fester zu bestimmen
und ihnen dauernden Halt zu verleihen . wurde von jedem empfunden,
der zu schreiben unternahm. Die Sprache hatte sich seit einem Jahr-
hundert außerordentlich entwickelt. Umso deutlicher empfanxl man, daß
ihr noch etwas fehlte, daß es noch einer letzten Feile bedurfte, bevor
sie als wahrhaftes Kunstwerk angesehen werden konnte.
Ihr diese letzte Vollendung zu geben , war eine schwere Aufgabe,
die auf zweierlei Weise gelöst werden konnte. Wie in Italien Dante seine
vaterländisclie Sprache mit einem Schlag durch sein unsterbliches Gedicht
zur klassischen Höhe erhob, so hätte auch in Frankreich ein mächtiger
Geist erstehen können, um durch eine Meisterschöpfung der Sprache
seinen Stempel für alle Zeiten aufzudrücken. Oder es mußte ein logisch
denkender, genau abwägender, systematischer Kopf sich berufen fühlen.
Lotheißen. Gesell, d. franz. LitteiMtur. 4
50
durch grammatische Schärfe den Gesetzen der Sprache größere Bestimmtheit
zu geben. Die erste Weise wäre gewiß die schönste gewesen, allein die
traurigen Jahrzehnte der geistigen und nationalen Ermüdung schlössen
fast jede Möglichkeit eines baldigen großen poetischen Aufschwungs aus.
So blieb nur die zweite, bequemere und einfachere Weise übrig, und sie
bot sich um so eher dar , als sie dem Geist der Nation überhaupt zu-
sagte. In einer Zeit, in welcher der Kuf nach Ordnung alle anderen
Wünsche übertönte, mußte auch die Handhabung einer gewissen Polizei-
gewalt auf dem Gebiet der Sprache willkommen sein.
„Endlich erschien Malherbe!"
So begrüßt Boileau in seinem Lehrgedicht von der Dichtkunst,
nach einer allerdings vielfach irrigen Charakteristik der früheren Litteratur-
perioden, tief aufatmend den Mann, den er als Begründer der französischen
Poesie betrachtete; ^) denn für das 17. und 18. Jahrhundert gab es kein
Heil jenseits der großen Khift , welche sie von den früheren Jahrhun-
derten trennte.
Franyois de Malherbe war im Jahr 1555 zu Caen in der Nor-
mandie geboren. Die Familie rühmte sich, mit dem alten Geschlecht der
Malherbe Saint-Aignan verwandt zu sein. Ein La Haye Malherbe hatte
den Herzog Wilhelm von der Normandie auf seinem Eroberungszug nach
England begleitet. Doch scheint der Zusammenhang der Familie des
Dichters mit diesem vornehmen Geschlecht zweifelhaft gewesen zu sein,
so stolz Malherbe auch darauf war. Denn als im Jahr 1666 König
Ludwig XIV. eine Commission einsetzte, um die Adelsansprüche der
verschiedenen Familien seines Landes zu prüfen , wurde die Familie
Malherbe al8 zur Klasse des jungen Adels gehörig aufgeführt.
Der Vater des Dichters war Gerichtsrat in Caen^) und besaß
nur ein kleines Vermögen. Umso zahlreicher war seine Familie. Fran^ois
war der älteste von neun Geschwistern. Er erhielt eine gute Erziehung
und ging später unter Leitung eines reformierten Lehrers zu seiner
weiteren Ausbildung nach Paris, Heidelberg und Basel. Als er jedoch
nach vollendeten Studien im 21. Jahr in die Heimat zurückkehrte, ließ
es ihn nicht lange daselbst. Eine tiefe Verstimmung scheint ihn aus dem
väterlichen Haus getrieben zu haben, ^) und wir sehen ihn bald im Gefolge
1) Boileau, Art. poetique I, v. 131.
2) Er war „Conseiller du roy au siege presidial de Caen", einem Gerichts-
hof erster Instanz.
2) Kacan in seiner Biographie Malberbes, und ihm folgend auch Talle-
mant des Reaux (I, 270) sagen allerdings von dem Vater: „Le bouhomme se
fit de la religion avant que de mourir; son fils qui n'avait alors que dix-sept
ans en receut un si grand deplaisir qu'il se resolut de quitter son pays." Sauval,
(Antiq. de Paris, 1, 324) bestätigt die Angabe von dem Religionswechsel des
Vaters, aber wohl auch nur auf Racan gestützt. Der neueste Biograph Mal-
herbes, Ludovic Laianne (ed. des Gr. Ecrivains de la France), bezweifelt die
Wahrscheinlichkeit dieser Überlieferung. Abgesehen von den Irrtümern in der
Angabe der Daten (der Vater starb später, und der Sohn war älter zur Zeit, als er
die Familie verließ), deutet Laianne auf den reformierten Erzieher hin. um eine
spätere Glaubeusänderung des Vaters unwahrscheinlich zu macheu. Er glaubt
51
Heinrichs von Augouleme, eines natürlichen Sohns König Heinrichs II.
Angouleme war Gouverneur der Provence, und dorthin folgte ihm Mal-
herbe, wahrscheinlich als Sekretär. Wenn er übrigens gehofft hatte,
durch die Gunst dieses vielvermögenden Mannes sein Glück zu machen,
f<o täuschte er sich. Eine Eeihe von Jahren stand er in Angoulemes
Dienst, ohne sich eine dauernde Lebensstellung sichern zu können. Auch
eine Heirat brachte ihn nicht weiter. Er vermählte sich 1581 mit
]VIadeleine de Corriolis, einer Witwe, die schon zwei Männer begraben
hatte. Die Ehe scheint nicht übermäßig glücklich gewesen zu sein. Von
drei Kindern starben zwei in früher Jugend ; und ein Sohn, der bis zum
Mannesalter gereift war, fand noch bei Lebzeiten der Eltern seinen
Tod in einem Zweikampf. Malherbe selbst lebte seit seiner Übersiedelung
nach Paris, also in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens, fern von
seiner Frau, die er in der Provence zurückließ.
Malherbes poetische Begabung zeigte sich nicht frühe. Man will
von jugendlichen Versuchen wissen, die sehr unglücklich ausgefallen
wären. Seine ersten uns bekannten Arbeiten weisen zwar auch noch
lange nicht die Reife der späteren Gedichte auf, allein sie beweisen doch
durch manchen glücklichen Vers , daß der Dichter frühe ein feines Ohr
für den W^ohllaut der Sprache und Sinn für edlen kräftigen Ausdruck
besessen hat.^)
Heinrich von Angouleme fiel im Jahr 1586 durch Mord in der
Stadt Aix, und für Malherbe begann damit eine Periode unruhiger Wan-
derung. Seiner Stellung verlustig und, wie es scheint, von der Familie
seiner Frau wenig gestützt, kehrte er in seine Heimat zurück, ob sich
ihm dort vielleicht eine neue Aussicht eröffne. Allein auch dort suchte
er vergebens. Er geriet in drückende Verhältnisse, mußte Geld auf-
nehmen, um leben zu können, und wendete sich in seiner Verlegenheit
•endlich an König Heinrich III., dem er ein längeres Gedicht: „Sanct
Peters Thränen", widmete. Darin begrüßt er Heinrich als den gehei-
vielmehr in dem Widerwillen Malherbes, die Stelle seines Vaters zu übernehmen,
den Grund der Entzweiung zu sehen. Ein Brief Malherbes vom 14. October 1626
an Mr. de Mertin scheint allerdings auf seine frühere Abneigung gegen die
ßichterlaufbahn hinzudeuten. - Immerhin ist die Annahme nicht ausgeschlossen,
daß der Vater schon lange hugenottenfreundliche Gesinnungen gehegt, seinem
Sohn einen ealvinistisehen Erzieher mitgegeben und sich doch erst später zum
förmlichen Übertritt entschlossen habe.
1) Tallemant des Reaux (edit. Mommerque & Paris, I, 272): „Ses Pre-
miers vers estaient pitoyables, j'en ai veü quelques-uns et entre autres une
-elegie qui debute ainsy:
Doncques tu ne vis plus, Genevievfe et la mort
En l'avril de tes sens, te monstre son effort" etc.
Malherbe selbst sagt freilich anders von sich. „Ode an Ludwig XIII. ",
V. 141 (aus dem Jahr 1627):
„Les puissantes faveurs dont Parnasse ra'honore
Non loin de raon berceau commencerent leur cours.
Je les possedai jeune, et les possede encore
A. la fin de mes jours."
52
ligten Herrscher, der das goldene Zeitalter heraufführe. Der König liebte
die Dichtkunst, wie sein Bruder Karl, zumal wenn sie in höfischer Form
auftrat und zum Zeitvertreib einer müßigen Stunde, zur Verherrlichung-
einer sinnlichen Laune dienen konnte. Er befahl, Malherbe ein Geschenk
von 500 Thalern zu überreichen. Den Dank zahlte dieser viele Jahre
später. Als Heinrich schon lange tot war. scheute sich Malherbe nichts
sein Andenken in einer schneidenden Strophe zu verunglimpfen. .Wenn
ein Lotterkönig, eine wahre Schande der Fürsten, seinen Schmeichlern
die Sorge für sein Land überläßt und unwürdig sich in den Wollüsten
verliert, dann entziehen wir ihm unsere Achtung und freuen uns seines-
Tods".') Der widerliche Eindruck dieses Angriffs wird noch erhöht,
wenn man sieht, daß Malherbe ihn in das „Gebet für Heinrich IV."
verflocht, jenes Gedicht, mit welchem er sich des neuen Königs Gunst-
zu erwerben wußte.
Ein einmaliges Geldgeschenk genügte nicht, um Malherbes Lage
zu bessern. Es mögen wenig erfreuliche Jahre für den Dichter gewesen
sein, als er auf der Jagd nach einer bequemen und vorteilhaften Stellung
sich abwechselnd in der Normandie und in der Provence umhertrieb.
Erst das Jahr 1600 brachte, wenn nicht den Umschwung in seinen
Verhältnissen, doch die Veranlassung zu seinem späteren Glückswechsel.
Maria von Medici feierte in jenem Jahr ihre Vermählung mit
König Heinrich. Auf ihrem Zug nach Frankreich berührte sie die Pro-
vence und fand besonders in Aix einen feierlichen Empfang. Malherbe
dichtete ihr zu Ehren eine begeisterte Ode, in welcher er die göttliche
Schönheit der jungen Königin pries, die eine Zeit des Friedens und
Wohlstands mit sich bringe. Der entzückte Dichter weissagte ihr die
Geburt eines Sohns, der als großer Kriegsheld die Türken besiegen, am
Fuß des Libanon Triumphe erfechten und den Müttern in Memphis ob
ihrer erschlagenen Söhne Thränen entreißen werde. Gewiß eine erfreu-
liche Aassicht für das friedebedürftige Volk Frankreichs, dem er wenige
Strophen zuvor eine Zeit der Ruhe versprochen hatte. Malherbe schließt
sogar mit der Hoffnung, es werde König Heinrichs Feldherren gelingen,
die Grenzen des Reichs zu erweitern und die Feinde Frankreichs so zu
vernichten, daß man die Spuren ihrer Städte auf den Feldern werde-
suchen müssen.-;)
Maria ließ sich den Dichter vorstellen, und behielt seine Verse,
wie es scheint, wohl im Gedächtnis. In der That waren sie geeignet, all-
gemeine Aufmerksamkeit zu erregen. Das schmeichlerische Lob, mit dem
er Maria begrüßte, war in eine Sprache gekleidet, wie man sie in Frank-
1) Friere pour le roi Henri le Grand, allant en Limousin (1605) ?tr. IG:
„Quand un roi faineant, la vergogne des princes,
Laissant ä ses flatteurs le sein de ses provinces,
Entre las voluptes indignement s'endort,
Quoique Ton dissimule, on n'en fait point d'estime ;
Et si la verite se peut dire sans crime,
C'est aveeque plaisir qu'on survit ä sa mort."
-) Ode ä la reine Marie de Medicis sur sa bienvenue en France. IGOO.
53
reich noch nicht gehört hatte. Die Stiophen enthüllten eine Kraft, einen
Wohlklang und eine Bestimmtheit des Ausdrucks, die umsomehr bewun-
dert wurden, je weniger man daran gewöhnt war. Ein großer Fortschritt
in der Behandlung der Sprache war unverkennbar. Malherbe hatte seinen
Weg gefunden. Ein Jahr zuvor schon hatte or an seinen Freund Fran-
^ois du Perier, den Onkel des Dichters Charles du Perier, ein Gedicht
gerichtet, um ihn über den frühzeitigen Tod seiner Tochter zu trösten,
und hatte darin dieselbe Herrschaft über die Sprache an den Tag gelegt;^)
diese Meisterschaft in der Form wuchs bei ihm fortwcährend, und gerade
in seinen letzten Arbeiten zeigt er die größte Reife.
Eine Eeise führte Malherbe im Jahr 1605 nach Paris. Er hatte
dort Privatgeschäfte, aber nebenbei leitete ihn wohl auch die Hoffnung,
am Quell der Gnaden etwas für sich zu erlangen. Er wußte, daß man
bei dem König seiner dichterischen Thätigkeit in ehrenvollster Weise
Erwähnung gethan hatte; seine wenigen Gedichte, die in den damals
üblichen Poesiesammlungen erschienen waren, hatten Aufsehen gemacht.
Als er deshalb nach Paris kam und man dem König seine Ankunft
hinterbrachte, ließ ihn dieser rufen und beehrte ihn sogleich mit einem
Auftrag. Er war im Begriff, zu den großen Gerichtstagen in der
Provinz Limousin abzureisen und wünschte sie durch ein Gedicht
verherrlicht zu sehen. Malherbe entledigte sich seines Auftrags zur
großen Zufriedenheit des Königs. Er wußte über die hohe Mission des-
selben so viel Schmeichelhaftes, daneben auch so viel Wahres zu sagen,
und kleidete alles in so schöne Sprache, daß Heinrich bei seiner Rück-
kehr ihn sogleich dem Herzog von Bellegarde, seinem Oberst-Stallmeister,
zum Schutz und zur weiteren Fürsorge empfahl. Dieser nahm Malherbe
unter die Zahl der königlichen Stallmeister auf, was ihm jährlich etwa
1000 Livres einbrachte. Nun war ihm die gewünschte Laufbahn ge-
öffnet. Er verstand es, sich dem König noch weiter angenehm zu
machen, wofür er zum königlichen Kammerherrn ernannt wurde. Während
der nächsten Jahre war er der Leibpoet des alternden, in seineu Lieb-
schaften aber noch sehr feurigen Königs; er diente als Dolmetsch in
den Herzensangelegenheiten seines Herrn, und mußte je nach Bedarf,
im Namen und teilweise nach mündlichen Angaben Heinrichs, abwech-
selnd klagende Liebeslieder und Abschiedsverse, oder Oden und Sonette
an die jeweiligen Heldinnen des Königs richten. Bestellte Waren, sollte
man denken, können einem Dichter niemals so gut gelingen, wie Werke,
welche er seiner freien Inspiration verdankt. Allein Malher"be war kein
Dichter, bei dem Begeisterung und Phantasie eine große Rolle spielten.
Die Weihe des dichterischen Genius fehlte ihm, und so kam es, daß
diese auf Bestellung gelieferten Gedichte zu seinen besten Arbeiten ge-
hören. Er war eben ein geborener Hoflieferant. Dabei hatte er das
1) Consolation ä Mr. Du Perier, staaces, 1599. Das Gedicht beginnt mit
den Worten: ..Ta douleur, Du Perier, sera donc eternelle" und enthält die be-
Jiiuiaten .schönen Verse:
„Et rose eile a vecu cc> (jue vivont les roses
L'eijpaee d'un matiu."
54
Talent, nie mit seinem Besitz zufrieden zu sein, sondern immer mehr
zu verlangen. Solange Heinrich lebte, sah er seine Wünsche freilich
wenig befriedigt, denn der König war trotz seiner Galanterie ein guter
Haushalter. Als derselbe aber unter Ravaillacs Dolch geendet hatte,
begann für Malherbe eine einträglichere Zeit. Heinrich, „der Große, der
Aleide, der Halbgott", solange er lebte, war bald von ihm vergessen.')
Umso lauter verkündete er dafür den Ruhm der Regentin, die seiner
ersten Huldigung noch gedachte. Geldgeschenke und eine bedeutende
Erhöhung seines Gehalts belohnten ihn. Fortwährend bei Hof und in
Mariens Nähe, war er ihr ergebenster Diener, solange sie die Macht
in Händen hatte. Kaum war sie bei Seite geschoben, als auch er
sie verließ und kein Wort mehr für sie fand. Die Großen, denen er
schmeichelte, solange sie Macht hatten, wurden von ihm geschmäht,
sobald sie gefallen waren. Das war so sein Dank.-) Später galten
seine Huldigungen König Ludwig XHI. und Richelieu, welch letzterer
ihn noch im Jahr 1626 zum Tresorier de France, eine Art Rentmeister,
ernannte.^) Malherbe war allmählich zu einem schönen Vermögen gelangt;
eine königliche Schenkung hatte ihn zum Besitzer von beträchtlichem^
Terrain bei Toulon gemacht, das er trefflich zu verwerten wußte.
In seinen letzten Jahren gehörte Malherbe zu den Besuchern des
Hotel Rambouillet. Ohne Zweifel stand er daselbst wegen seiner dichte-
rischen Gabe in hohem Ansehen. Die Gesellschaft, die sich bei der Mar-
quise zusammenfand, erstrebte die Verfeinerung der Sitten, und trachtete
danach, auch aus der Sprache die Derbheit des Ausdrucks, eine Erb-
schaft der wilden Vergangenheit, zu bannen. Wie hätte sie Malherbe,
den strengen Gesetzgeber auf dem Gebiet der Sprache und Dichtung,
nicht als willkommenen Bundesgenossen begrüßen sollen? In einem
^) In einem Brief an Peiresc, Juni 1(310, über Heinrichs Tod schreibt
Malherbe sehr kühl: „Contentez-vous que pour un si grand changement il n'y
en eut jamais si peu: nous avons eu un grand roi, nous avons une grande reine.
On se console partout et jusques au Louvre; ce sont des merveilles de la bene-
diction de Dieu sur ce royaume." In einem späteren Brief vom 9. August an
Peiresc heißt es in Bezug auf eine Trauerrede auf Heinrichs Tod: „J'en dirai
ma ratelee apres les autres, mais ce sera assez tot si assez bien."
-) Vergl. seine „Prophetie du dieu de Seine" auf den Tod des Marschalls
d'Ancre: „Va-t'en ä la malheure, excrement de la terre" u. s. w. Seine Über-
setzung des Livius hatte er dem Connetable de Luynes gewidmet, und ihm in
der Widmung für die freundliche Aufnahme gedankt, die er jedesmal bei ihm
gefunden habe. Dafür schrieb er nach Luynes Tod folgendes Epigramm : „Pour
servir d'epitaphe au Connetable de Luynes" (1621):
„Cet Absinthe au nez de barbet
En ce tombeau fait sa demeure.
Chacun en rit, et moi j'en pleure:
Je le voulois voir au gibet."
^) In jedem Pinanzbezirk (generalite) des Landes gab es eine „chambre
des tresoriers de France" hauptsächlich für die Verwaltung der Domänen. Neben
ihnen standen die „Eeceveurs generaux" für die Steuern u. s. w. Vergl. Cheruel,
„Dictionaire historique des institutions, mreurs et coutumes de la France"; Paris,
Haehette, 1874 (Artikel: „Generalite" und „Tresorier de France").
55
längeren Gedicht (1611)) huldigt Malherbe der edlen Marquise in der
Weise der damaligen Zeit. Er, der bereits 64 Jahre zählte, sprach zu
der noch jungen Frau im Ton eines stürmischen Liebhabers und beklagte
sich über die Kälte ihres Wesens.
In hohem Alter hatte Malherbe noch den Schmerz, seinen einzigen
Sohn Marc Antoine zu verlieren. Derselbe war Mitglied des Parlaments
von AiX; von etwas wilden Sitten, wie es scheint. Nachdem er in früheren
Jahren einen Gegner im Duell erstochen hatte , fiel er selbst in
einem Zweikampf, bei dem es sehr unregelmäßig herging, und der fast
einem Mordanfall gleichsah. Malherbe bot allen Einfluß auf, die Bestrafung
der Gegner zu erlangen, was trotz der strengen Gesetze gegen das Duell
nicht leicht war. In diesem Sinn wandte er sich an den König, reiste
selbst in das Lager vor La Rochelle, wo er Richelieu traf, brachte aber
von dieser Reise den Keim der Krankheit mit, die ihn am 16. Oktober
1628 in Paris, im Alter von 73 Jahren, hinwegraffte.
Der Charakter Malherbes geht aus der kurzen Lebensskizze zur
Genüge hervor. Trocken und nüchtern von Xatur, zeigte er sich in
seinem Betragen egoistisch, hart und zurückstoßend. Die Bewunderung
seiner Zeitgenossen und das Bewußtsein seines Worts hatten ihn mit
einem Selbstgefühl begabt, das ihn nie verließ, obschon er sich in Mo-
menten übler Laune selbst herabsetzen und z. B. einen guten Dichter
für ebenso unnütz im Staat wie einen geschickten Kegelspieler erklären
konnte. Früh alleinstehend, in seiner Jugend umhergetrieben, dem Glück
nachjagend in verdorbener Zeit, später an einem nichts weniger als sitten-
strengen Hof lebend, wäre es fast ein Wunder gewesen, wenn Malherbe
nicht auch in seinem Lebenswandel den leichten Anschauungen seiner
Umgebung gehuldigt hätte. Nur in seinem Privatleben blieb er einfach,
trotz der Pracht des Hoflebens, die ihn umgab ; ja seine Einfachheil
artete, scheint es, vielfach zum Geiz aus.
Außer einer nicht sehr großen Zahl von Gedichten besitzt man
von ihm nur noch einige Übersetzungen, die des 33. Buchs des Livius,
der Briefe des Seneca und der Schrift: „Über die Wohlthaten" von dem-
selben Verfasser. Daneben ist noch eine große Sammlung von Briefen
erhalten, die er an seine Bekannten, besonders an seinen jungen Freund
Peiresc') in Aix richtete, und endlich ein ausführlicher sprachlicher und
ästhetischer Kommentar zu den Gedichten seines Rivalen Desportes. Die
Übersetzungen geben zwar mehr eine Umschreibung als eine Übersetzung
des knappen lateinischen Ausdrucks, aber ihre Sprache ist bereits die
der neuen Zeit. Die Briefe enthalten vielfach wichtige Mitteilungen,
und sind ein Beweis für den praktischen Sinn, aber auch für den engen
geistigen Horizont Malherbes. Interessante Skizzen aus der Gesellschaft.
1) Nicolas-Claude Fabri de Peiresc, geb. 1580, seit 1G07 Rat im Parla-
ment von Aix, machte große Reisen in Europa und hinterließ bei seinem Tod
1637 die ungeheure Zahl von 125 Foliobänden Manuscript. Die Briefe Mal-
herbes, die jetzt auf der Nationalbibliothek zu Paris aufbewahrt werden, stammen
daraus. Der Rest der Manuskripte ist allmählich von den Verwandten Peiresc.';
verzettelt worden.
lebhafte Schilderungen, Stellen von originellem Charakter finden sich nicht
darin; Malherbe gehörte nicht zu der Zahl der geistreichen Correspon-
denten, welche die Lebhaftigkeit ihres Fühlens und Denkens in ihren
Briefen widerspiegeln und durch ein einziges Schreiben oft einen tiefen
Blick in die Gesellschaft ihrer Zeit erlauben.
So ist es ausschließlich der kleine Band Gedichte, der seinen Ruhm
begründete.
Malherbe genau zu würdigen, muß man in ihm den Dichter und
den Sprachgelehrten scheiden. Wenn aber nur der ein wahrer Dichter
ist, der in der Tiefe seines Gemüts Worte ergreifender Wahrheit und
Innigkeit findet, oder der im kühnen Flug seiner Gedanken die Menschen
mit sich fortreißt und zu edleren Anschauungen erhebt; wenn nur der
ein wahrer Dichter ist, der als Prophet und Lehrer seines Volkes dasteht,
gewiß, dann hat Malherbe kaum Anspruch darauf, als Dichter gepriesen
zu werden. Er wählte sich eine der schwierigsten Formen der lyrischen
Poesie, die Ode, für seine hauptsächlichen dichterischen Arbeiten. Aber
wenn es ihm auch öfters gelang, einzelnen Teilen Kraft und Leben ein-
zuhauchen, wenn manche seiner Oden voll Schwung sind, so scheiterte
er doch, wie seine Vorgänger, bei dem unglücklichen Versuch, die Welt
der alten Mythologie mit ihren tönenden Namen und ihren Bildern, die
das Gemüt des modernen Lesers nur fremdartig berühren, im Reich der
Poesie lebendig zu erhalten. Die Oden bekommen dadurch etwas Er-
künsteltes, und Malherbe war ohnehin schon von Natur frostigen Gemüts.
Was er Liebe nennt, ist meist steife Gahanterie, und nur selten erklingt
bei ihm unter den Phrasen gekünstelter Leidenschaft ein naturwahrer
Laut. Dafür benutzt er die Dichtkunst als eine bequeme Leiter zu Ehren
und Reichtum. Er weiß zu schmeicheln wie nur je ein Höfling. Heinrich IV.
und Maria von Medici sollen Göttern gleich in Tempeln verehrt werden,
und auch Richelieu wird von ihm fast zum Rang einer Gottheit erhoben.')
Und doch, hätte er sich nur darauf beschränkt, durch Schmeicheleien sein
Glück zu suchen! Allein er vergißt sich in anderen Gedichten so weit,
daß er Krieg und Verwüstung, furchtbare Rache predigt, und sich ge-
berdet, als lechze er nach Blut. Ist das bei ihm nicht hohles Vers-
geklingel, nicht Freude am hochtrabenden heroischen Wort ; ist es wirklich
der Ausdruck seines inneren wahren Gedankens, dann enthüllt er uns
eine Herzensroheit, wie sie sich selten zu äußern wagt, und nur nach
^) „A la reine, mere du roi, sur les heureux succes de sa regence"' (1610),
V. 55 ff. :
Que peut la fortune publique
Te vouer d'assez magnifique,
Si, mise au rang des immortels,
Dont ta vertu siüt les exemples,
Tu n'as qu'avec eux, dans nos temples,
Des Images et des autelsV"
Vergl. damit das Sonett: „Pour Mr. le Cardinal de Richelieu" (10-26), in
dem es ähnlich heißt:
„Que si, comme nos dieux. il n'a place en nos temples,
Tout ce qu'on lui peut faire, est moins qu'il ne luit faut."
57
der Verwilderung der langen Kriege in so naiver Weise sich zeigen
konnte. Er hofft, Turin dem Erdboden gleich gemacht zu sehen, er er-
mahnt, die Provinzen Spaniens unbarmherzig zu verwüsten, das Eskurial
zu zerstören. Er ruft zum Kreuzzug auf, und sein Fanatismus steigert
sich zum höchsten Grad, als er hört, daß die Protestanten gegen
Ludwig XIII. zu den Waffen greifen.^) Der Patriot mochte den neu aus-
brechenden Bürgerkrieg beklagen, der Staatsmann mochte die rücksichts-
lose Niederwerfung des Aufstands als ein Gebot der Staatsklugheit be-
trachten, der Dichter hatte nicht die Aufgabe, den Haß zu schüren. In
einer seiner berühmten Oden, die sich oft zu hinreißender Kraft erhebt,
ruft er dem König zu, er möge sich einem Löwen gleich auf die Empörer
stürzen, die stolzen Häupter dieser Höllenbrut niederschlagen, und zum
Heil Frankreichs mit Feuer und Schwert vorgehen. „Zieh hin, vernichte
sie, vertilge ihre Brut, und laß deinem edlen Zorn freien Lauf bis zum
Ende. Höre nicht auf die Stimme des Mitleids und der Milde, die für
für sie redet." So spricht Malherbe, der Greis, den die Erfahrung des
Lebens keine Milde gelehrt hatte, der Dichter, welcher doch der Apostel
der Menschlichkeit sein sollte. Selbst Richelieu dachte anders, denn er
bezwang wohl die Hugenotten, entriß ihnen die Sonderstellung, die sie
bis dahin besessen hatten, behandelte sie aber im übrigen mit großer
Milde.
In Malherbes Worten, wie in seinen Gedanken spricht sich ein
Heroismus aus, der an sich oft falsch und einseitig, doch der Beweis
einer gewissen Kraft ist, die man bei den anderen Lyrikern seiner Zeit
vermißt. Nur ist sein Schwung nicht von langer Dauer, und er fällt
schnell ins unbedeutende und prosaische zurück.
Ähnlich wie Horaz im Bewußtsein seiner Leistungen sein stolzes
„Exegi monumentum" sprach, so auch Malherbe. Der lateinische Dichter
aber, dessen unvergleichliche Geisteswerke von der ganzen Welt gekannt
sind, beschränkt sich darauf, ein einziges Mal ein Selbstgefühl laut
werden zu lassen, denn Takt und Geschmack waren ihm zu eigen.
Malherbe dagegen, der zwar für die Sprache seines Volkes viel gethan
hat, aber doch mit Horaz nicht verglichen werden kann, und selbst in
seinem Vaterland nur noch von wenigen gekannt wird, wiederholt sein
') „Ode au roi Louis XIII allant chatier les Eochellois" (1627):
1) Donc un nouveau labeur ä tes armes s'apprete; '
Prends ta foudre, Louis, et va, comme un lion,
Donner le dernier coup ä la derniere tete
De la rebellion.
2) Fais choir en sacrifice au demou de la France
Les fronts trop eleves de ces ämes d'enfer,
Et n'epargne contre eux, pour uotre delivrance
Ni le feu ni le fer.
8) Marche, va les detruire; eteins-eu la semence,
Et suis jusqu'ä leur tin ton courage genereux,
Sans Jamals ecouter ni pitie ni clemence
Qui te parle pour eux
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Selbstlob. so oft er kann, und sucht das Thema nicht einmal zu variieren.
Er meint, nur wenige Dichter, zu deren Zahl er sich jedoch rechnet^
hätten die Kraft, ein Lob für alle Ewigkeit zu verkünden. Ein andermal
findet er, König Ludwig müsse es als das größte Glück ansehen, in
ihm den Herold seiner Thaten gefunden zu haben, .,denn was Malherbe-
singt, ist unvergänglich". Wer denkt bei diesen Worten nicht an
Alexanders Stoßseufzer, daß Achill seinen Sänger gefunden habe, aber
er nicht. ^) Derlei Stellen könnte man noch viele anführen. Malherbe
setzt jedem seiner mächtigen Gönner den Wert seiner Lobeserhebungen
auseinander ; man ist versucht zu glauben, er thue es, um sich deutliche
Beweise der Gnade zu sichern.
Doch erklärt sich sein Selbstgefühl zum Teil auch aus der fast
uneingeschränkten Bewunderung, welche seine Zeitgenossen ihm ent-
gegenbrachten. Wir begreifen dieses Gefühl vollkommen. In jener Zeit,
welche den Sinn für wahre Poesie fast ganz verloren hatte, mußte ein
Dichter von dem Charakter und der Art Malherbes besondere Geltung
erlangen. Die Schönheit der Form blendete. Solche Strophen hatte man
in französischer Sprache noch nicht gelesen, einen solchen Reichtum an
wohlklingenden Versen noch nirgends bei den vaterländischen Dichtern
gefunden. Waren Malherbes Worte doch oft fein geschliffenen Krystallen
vergleichbar, so klar und sicher erschienen sie. Durch solche Gedichte
verkündete er seine Meisterschaft über die Sprache und begründete
seinen Einfluß auf sie. Häufig versammelte er in seinem Haus seine er-
gebensten Anhänger, Racan. Maynard und andere, in deren Kreis er
wie ein Prophet und Gesetzgeber auftrat, seine Lehren verkündigte und
seine Urteile sprach. In diesen Zusammenkünften wurde gewissermaßen
ein neues Gesetzbuch für die französische Sprache, besonders die Sprache
der Dichtung, ausgearbeitet. Malherbe war ein unerbittlicher Richter,
der die geringsten Schwächen im Ausdruck bei den anderen rügte.
Sein Kommentar zu Desportes ist dafür der beste Beweis.^) Dieser
lehrt uns, wie streng Malherbe es mit der Aufgabe des Dichters nahm.
Freilich blieb er dabei ganz äußerlich und kleinlich; seine Bemerkungen
1) „A la reine", 1610:
Et trois DU quatre seulement,
Au nombre desquels on me ränge,
Peuvent donner une louange
Qui demeure eterneUement.
Vergl. damit , Sonnet au roi Louis XIII" :
Mais qu'en de si beaux faits voiis m'ayez pour temoin,
Connaissez-le, mon roi, c'est le comble du soin
Que de vous obliger out eu les Destinees.
Tous vous savent louer, mais non egalement,
Les ouvrages eommuns vivent quelques annees,
Ce que Malherbe ecrit, dure eterneUement
-) Das Exemplar der Ausgabe des Desportes, das mit den fortlaufenden
kritischen Randglossen Malherbes versehen ist, befindet sich auf der National-
bibliothek zu Paris; zwei Abschriften davon besitzt die Bibliothek des Arsenals.
59
beziehen sich nur auf eine ängstlich abgemessene Richtigkeit des Aus-
drucks, auf Konstruktion und Versbau, nirgends stellt er Anforderungen
an den Charakter, den Geist der Dichtung. Wieviel höher erscheint in
diesem Punkt später Boileau, den man so gern mit ihm vergleicht.
Malherbes Kritik wird oft zum kleinlichen Kritteln, zur schnöden Wort-
klauberei.
Eine ähnliche Strenge wandte Malherbe auch gegen sich an. Seine
Dichtungen hat er außerordentlich gefeilt, und immer und immer wieder
an ihnen gebessert. Sagt doch auch Tallemant des Reaux, daß nur
Ausdauer und Kunst Malherbe zum Dichter gemacht haben. Spötter
wußten über seine Langsamkeit manches Geschichtchen zu erzählen.
Als der Präsident du Verdun seine Frau verloren hatte, bat er Malherbe
um eine Ode zu Ehren der Dahingeschiedenen. Da heißt es nun, dieser
habe drei volle Jahre gebraucht, um die gewünschte Arbeit zu vollenden,
und als er endlich mit dem Trauergedicht dem trostlosen Witwer habe
aufwarten wollen, habe er ihn an der Seite einer zweiten Frau bereits
getröstet gefunden. Leider ist die hübsche Erzählung erfunden.
Man hat Malherbe von jeher in Frankreich einen Ehrenplatz zu-
erkannt, und nur bescheiden und vorsichtig hat die Kritik hier und da
zu tadeln versucht. Können wir auch nicht ganz mit dieser Ansicht
übereinstimmen, so erklärt sie sich doch leicht. Der Franzose hat ein
starkes Formgefühl, und Malherbe, bei dem es besonders ausgeprägt
war, mußte ihm deshalb gefallen. Zudem ist es wie eine patriotische
Pflicht, den Mann, der sich so große Verdienste um die Sprache er-
worben hat, nicht zu streng zu behandeln, und seinen Mangel an
poetischer Kraft nur leicht zu berühren. Daß Malhevbe vom Dichter vor
allem verständigen Gang auf ebener Straße verlangte, jeder poetischen
Übertreibung spottete, jede Äußerung der Phantasie verbannte, sofern
sie über eine gewisse Grenze der üblichen, von den Alten geheiligten
Bilder und Ausdrucksweise hinausging, selbst das war ein Zug, der ihm
nur Anhänger gewinnen konnte. Denn auch damit entsprach Malherbe
einer Richtung des französischen Nationalgeistes, nur daß sie bei ihm
allzu einseitig ausgebildet erschien.
So sprach denn Boileau nur das allgemeine Urteil aus, als er
ihm ein ehrenvolles Denkmal in seiner „Dichtkunst" setzte und damit
zugleich seinen Geboten neues Ansehen verlieh.^) Durch Boileau wurden
Malherbes Reformen endgiltig zum Gesetz erhoben und behielten ihre
1) Boileau, Art. Poetique, I, v. 131 flf :
Enfin Malherbe vint; et le prämier en France,
Fit sentir dans le vers une juste cadence:
D'un mot mis en sa place enseigna le pouvoir.
Et reduisit la muse aux regles du devoir.
Par ce sage eerivain la langue reparee
N'offrit plus rien de rüde ä roreille epuree.
Les stances avec gräee apprirent k tomber,
Et le vers sur le vers n'osa plus enjamber.
Tout reconnut ses lois, et ce guide fidele
Aux auteurs de ce temps sert encor de modele.
60
Kraft, solange die Zeit der klassischen Traditionen währte. Erst Andre
Chenier und die romantische Schule wagten es, von diesen strengen
Regeln wieder abzugehen und ihrem Vers größere Freiheit zu geben.
Malherbe verlangte peinliche Genauigkeit in Bezug auf den Reim ; er
ächtete die poetischen Lizenzen und kühnen Inversionen. Gute Verse
müßten der Prosa nahe kommen. Der Hiatus, der bis dahin keinen
Anstoß erregte, wurde als hart und unharmonisch verbannt. Jeder Vers,
besonders der Alexandriner, sollte ein gewisses, für sich abgeschlossenes
kleines Ganze bilden. Dadurch erreichte der letztere allerdings die ihm
eigentümliche Kürze und Schärfe des Ausdrucks, wurde aber auch in
hohem Grad monoton, umsomehr, als ihn das Gesetz der Cäsur nach
der sechsten Silbe schon in zwei starre Hälften trennte.^)
Diese Reformen in Sprache und Metrik haben allerdings den fran-
zösischen Vers elegant und klar gestaltet, aber sie haben ihm auch ein
schönes Stück Leben und Kraft, Mannigfaltigkeit und Harmonie geraubt.
Die Mühe , mit welcher Malherbe nach klarer Konstruktion und ge-
schmackvollem Ausdruck rang, wurde reich belohnt, denn er schuf den
poetischen Stil in Frankreich; aber auf der andern Seite beförderte er
die rasche Verarmung der Sprache. So steht sich Tadel und Lob gegen-
über. Aber das letztere überwiegt, wenn man bedenkt, daß Malherbe
den Weg gebahnt hat, auf welchem die französische Sprache zu jener
Anmut und Klarheit des Ausdrucks gelangte, die sie so sehr aus-
zeichnet.
Bei all dem ist eines nicht zu übersehen. Wenn auch Malherbe
die erwähnten Reformen anregte und mit Hartnäckigkeit auf ihrer Durch-
führung bestand, so war er doch nur ein einzelner Mann, und seine
Macht lag allein in der Übereinstimmung seiner Bestrebungen mit dem
Geschmack und der Geistesrichtung seines Volkes. Es ist schon früher
gezeigt worden, wie sehr man von allen Seiten auf die Durchbildung
und Klärung der Sprache drängte. Sowenig man der Akademie die
Schuld der einseitigen Richtung zuschreiben darf, welche die französische
Litteratur später einschlug , sowenig darf man in Malherbe einen Herrn
erblicken, der nach Gutdünken über die Sprache hätte schalten können.
Im französischen Geist liegt die Liebe zur Klarheit, zur Symmetrie tief
1) Tallemant de Reaux. Historiettes, I, 297, giebt u. a. Malherbes For-
derungen in Bezug auf den Reim an. Ihm zufolge muß der Reim ebenso richtig
für das Auge wie für das Ohr seiu. Die Endungen ant und ent, ance und ence
dürfen also nicht miteinander reimen. Ebenso einfache Wörter mit ihren Zu-
sammensetzungen, wie temps und printonps, jour und sejour. Wöi'ter, welche
eine gewisse Beziehung zu einander ausdrücken, wie pere und mcre, toi und tnoi,
oder die einen Gegensatz ausdrücken, wie campagne und muntagne, offense
und defense, sind zum Reim ungeeignet. Je schwerer der Reim, desto verdienst-
licher das Gedicht — lautete Malherbes Lehre. Bezeichnend ist noch eine an-
dere Anekdote, die Tallemant mitteilt (S. 276). Des Yveteaux machte Malherbe
darauf aufmerksam, daß er einen häßlichen Klang in einem seiner Verse habe;
es heiße dort: ,,ma la pla!" („Victoire de la Constaiice", 1597, beginnend mit
dem Vers: „Enfin cette beaute m'a la pjlace rendu.") Malherbe antwortete mit
dem Vorwurf, des Yveteaux habe sogar einmal ^jo ra bla la //« gesungen —
in einem Vers: Comparabh u la //nmme.
61
begründet und bedingt gleichzeitig eine gewisse Nüchternheit des Wesens.
Daß Malherbe diesen Charakterzug so scharf in sich ausgeprägt trug
und ihn in schwerer Zeit zu glücklichem Ausdruck in der Sprache
brachte, das hob ihn so hoch empor und half ihm zum Sieg.
Allerdings hatte Malherbe auch bedeutende Gegner, darunter die
Dichter Desportes, Bertaut, die der früheren Richtung angehörten, und
besonders den Satiriker Mathurin Regnier, der ihm an Frische des
Geistes, an Kraft der poetischen Empfindung weit überlegen war, und
dessen Charakter ihn unfähig machte, sich den Fesseln Malherbes anzu-
bequemen. Die Schwäche des vielgepriesenen Dichters entging seinen
Widersachern nicht, und manch beißendes Epigramm wurde gleich einem
scharfen Pfeil von sicherer Hand nach ihm entsendet.^) Aber alle An-
griffe vermochten nicht sein Ansehen zu erschüttern, und kümmerten
ihn nicht weiter. Von den Jüngern, die ihn zunächst umgaben, ist
keiner zu hoher Bedeutung gelangt. Diese Erscheinung ist bemerkens-
wert. Ein echter Dichtergeist hätte sich einem Mann wie Malherbe
nicht gebeugt. Die Namen seiner Trabanten und Schüler Expilly, Vau-
quelin des Yveteaux, Colomby, Tourand, du Montier sind nicht weiter
zu erwähnen; die einzigen Eacan und Maynard werden später noch ge-
nannt werden. Aber selbst Malherbe meinte , sie beide zusammen-
genommen hätten erst einen guten Dichter gegeben.
Man kann von Malherbe nicht scheiden, ohne Boileaus zu ge-
denken, der sein Nachfolger war und sein Werk erst wahrhaft vollendet
hat. Beide haben einen unverkennbaren Familienzug. Sie beide sind
keine großen Dichter gewesen, aber sie beide haben auf die Dichtkunst
ihres Landes den größten Einfluß ausgeübt; sie haben gegen Schwulst
und Übertreibung für Einfachheit und guten Geschmack gekämpft. Beide
sahen auf die Reinheit der Sprache, die strenge Beobachtung der metri-
schen Gesetze. Nur daß Boileau höher stand als sein Vorgänger. Dieser
1) Vergl. Mathurin Regnier, Sat. IX, v. 55 — 82.
Cependant leur syavoir ne s'estend seulement
Qu'ä regratter un mot douteux au jugement,
Prendre garde qu'un qui ne heurte une diphtongue
Espier si des vers la rime est breve ou longue
Nul esguillon divin n'esleve leur courage;
Ils rampent bassement, faibles d'invention,
Et n'osent, peu hardis, tenter les fictions,
Froids ä rimaginer: car s'ils fönt quelquc chose,
C'est proser de la rime et rimer de la prose,
Que l'art .Urne et relime, et polit de fa9on
Qu'elle rend ä roreille un agreable son.
Aussi je les compare ä ces femmes jolies
Qui par les affiquets se rendent embellies.
Balzac nannte den sonst von ihm vielfach gefeierten Dichter den „Silben-
tjrannen", und um Malherbes peiuliehe Sorgfalt für die Reinheit der Sprache
zu kennzeichnen, erzählte man sich, er habe eine Stunde vor seinem Tod seine
Wärterin wegen eines falschen Ausdrucks getadelt.
62
sah in der korrekten Sprache, in dem richtig gebauten Vers das Ziel
seiner Thätigkeit; für Boileau waren dies nur unerläßliche Vorbedin-
gungen für den Dichter, der zur reinen, sonnigen Höhe der Kunst auf-
steigen will. Boileau hatte das Glück, in der schönen Zeit des klassi-
schen Aufschwungs zu leben, und zählte mit zu den gefeiertsten Führern
der neuen Schule. Auch als Mensch stand er reiner und unabhängiger
da, als Malherbe; wie denn überhaupt das Bürgertum, zu dessen besten
Repräsentanten Boileau zu seiner Zeit gehörte, im Lauf des Jahrhunderts
entschiedene Fortschritte in seiner Kräftigung gemacht hatte. ■^)
*) Bibliographie. Die Gedichte Malherbes sind erst nach seinem Tod ge-
sammelt worden. Bis dahin waren sie nur vereinzelt in den Poesiesammlungen,
die damals beliebt waren, gedruckt erschienen, so in den „Diverses poesies nou-
velles" (Rouen 1597), «L'Aeademie des poetes franfais" (Paris 1599), „Le Par-
nasse des plus excellents poetes fran(,-ais de ee temps" (Paris 1599), „Le temple
d'Apollon" (Rouen 1611) u. s. w. Die erste Ausgabe seiner Werke ist aus dem
Jahr 1630 und enthält sechs Bücher Gedichte, die Übersetzung der „Wohl-
thaten" des Seneca, des 33. Buchs des Livius und 97 Briefe. 1637 erschien die
Übersetzung der Briefe des Seneca. Im Jahr 16t'>6 besorgte Menage eine neue
Ausgabe der Gedichte mit einem Kommentar; die späteren Ausgaben fußten
alle auf derselben, bis 1757 Lefebre de Saint-Marc die erste kritische Ausgabe
versuchte. 1822 wurden die Briefe an Peiresc veröffentlicht, 1842 erschienen die
„Poesies de Malherbe, avec un commentaire inedit par Andre Chenier", heraus-
gegeben von Latour. Cheniers Bemerkungen, obwohl etwas jugendlich enthu-
siastisch, sind dennoch von hohem Interesse. Die definitive, wahrhaft kritische
Ausgabe ist endlich diejenige, welche in der großartigen Sammlung der „Grands
Ecrivains de la France" bei Hachette 1860—1862 erschienen ist unter dem
Titel: „Oeuvres de Malherbe, recueillies et annotees par M. L. Laianne". 5 Bde.
mit ausführlicher Einleitimg und einem „Lexique de la langue de M.", bear-
beitet von Regnier. Eine kleinere, sehr brauchbare Ausgabe hat noch L. Becq
de Fouquieres (Paris 1874) besorgt.
Zu vergleichen ist sonst noch, außer den größereu Litteraturgeschichten,
hauptsächhch Sainte-Beuve, Nouveaux lundis, t. XIII, Artikel „Malherbe".
IV.
Mathurin Regnier und Theodor Agrippa d'Aubigne.
Die Persönlichkeit Malherbes bietet nichts Anziehendes ; sie fesselt
4urch keinen sympathischen Zug, keinen wärmeren Hauch des Lebens
und Empfindens. Gern schweift der Blick über ihn hinaus, um auf
anderen Bildern zu haften. Aus der verschwommenen Menge blasser
Gestalten, welche die Geschichte jener Tage an uns vorübergleiten läßt,
heben sich zwei Charakterköpfe ab, die in ganz anderer Weise zu uns
reden. Den Männern, die uns da entgegentreten, strömt wärmeres Blut
in den Adern. Sie scheinen noch heute unter uns zu weilen, so kräftig
pulsiert das Leben in ihren Werken. Der Gegensatz ist groß zwischen
dem abgemessenen, würdevoll auf dem Kothurn einher schreitenden, pe-
dantischen Malherbe und seinen zwei Zeitgenossen, dem leichtsinnigen,
gutmütigen, dichterisch reich begabten Mathurin Regnier und dem
leidenschaftlich feurigen d'Aubigne.
Malherbe sieht vorwärts auf das Jahrhundert, das begonnen hat,
und soviel Glanz und Ruhm zu bringen verspricht. Man fühlt bei ihm,
daß die Zeit der strengen stilgemäßen Porm gekommen ist. Eine mäch-
tige AUongeperrücke auf seinem Haupt zu sehen, würde uns nicht ver-
wundern. Regnier aber und d'Aubigne haben viel von dem Charakter
des 16. Jahrhunderts bewahrt, wenn auch ihre Werke zum großen Teil,
ja die Gedichte Regniers gänzlich, der neuen Epoche angehören.
Gleichwie später Lafontaine sich von den Dichtern seiner Zeit
durch sein naives, ursprüngliches Wesen, durch seine anmutige Natür-
lichkeit unterscheidet, so auch Regnier. Beide erscheinen wie fremd und
verirrt in der Gesellschaft, die sie umgiebt. Sie gehören beide zu der-
selben Familie; sie sind die Repräsentanten des echten gallischen Volks-
geistes, der sich wohl eine Zeit lang verdunkeln läßt, aber, bald wieder
mit erneuter Kraft sich geltend macht.
D'Aubigne versetzt uns in die Religionskriege zurück; er führt
die Feder wie den Degen mit der gleichen Leidenschaftlichkeit. Einen
Parteigänger wie ihn konnte das 17. Jahrhundert gar nicht mehr ver-
stehen, und erst die Kämpfe der Revolution vermochten solchen Haß
und solche Heftigkeit wieder zu zeitigen.
Regnier und d'Aubigne sind grundverschieden, und doch gehören
sie in mehr als einer Beziehung zusammen. Der eine ist katholisch, so-
weit er sich überhaupt um Religionsfragen kümmert. Neuerungen sind
ihm ein Greuel und theologische Streitigkeiten verhaßt. Und wenn die
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Hugenotten Wunder tbäten, Tote auferweckten und die Zukunft voraus-
sagten, er könnte nicht an sie glauben. M Mit ihrer strengen Lehre,
ihrer finsteren Lebensweise würden sie ihm jede Freude an der Welt ver-
bittern. D'Aubigne. im Gegenteil, kennt nichts Höheres als die refor-
mierte Kirche. Der Kampf ist sein Element, und wer nicht für ihn ist,
der ist wider ihn.
Und doch haben diese beiden Männer vieles gemeinsam. Beide
lassen ihrer Natur uneingeschränkte Freiheit; sie geben sich, wie sie
sind, und sie sind frisch und kräftig. Sie reden wie sie denken, und
ihre Gedanken sind klar und entschieden. In ihrer Sprache haben sie
noch viel von dem Charakter der früheren Zeit; sie bilden gewisser-
maßen die Opposition gegen Malherbe und seine formalistische Richtung.
Darum kann man sie mit Recht als diejenigen bezeichnen, welche den
Übergang von der einen Epoche zur andern vermitteln. Sie sehen
freudig auf die Vergangenheit zurück, ihr Auge leuchtet auf, wenn sie
der guten alten Zeit gedenken, und mürrisch geben sie den Forderungen
der neuen Generation Gehör, der sie beide als Satiriker, wenn auch in
verschiedener Weise, entgegentreten. D'Aubigne kämpft mit dem Auf-
gebot aller geistigen Kräfte auf dem politisch-religiösen Feld; Regnier
beschränkt sich, harmlosen Gemüts, auf die sociale und litterarische
Satire. Aber beide widersetzen sich dem Zug der Zeit, der vor allem
auf Regel und Form Gewicht legt. Darum unterliegen beide mit ihren
Bestrebungen, während Malherbe in die Höhe getragen wird. Doch wenn
der Kampf ausgefochten und die neue Richtung zum Sieg gelangt ist,
kehrt man mit billigerem Urteil zu den beiden Dichtern zurück. Regnier
wurde schon in der klassischen Zeit wegen seiner Kraft und scharfen
Beobachtung gelobt. Aber auch für d'Aubigne ist seit kurzem eine Zeit
höherer Anerkennung gekommen.
Mathurin Regnier erblickte das Licht der Welt am 2L Dezember
1578 zu Chartres, wo sein Vater ein Ballhaus hielt, mit welchem eine
Wirtschaft verbunden war. Seine Mutter war die Schwester des Dichters
Desportes, dessen Ruhm damals auf der Höhe stand und in ganz Frank-
reich verkündigt wurde. Die Aufmerksamkeit der Eltern wurde durch
die Sorge für das vielbesuchte Haus völlig in Anspruch genommen, und
der Knabe, der sich selbst überlassen blieb, wuchs in ziemlicher Wild-
heit auf. Die lockere Gesellschaft, welche sich in seinem väterlichen
Haus zusammenfand, führte ihn frühzeitig auf Abwege. Die Eltern
setzten ihre Hoffnung wohl auf Desportes. der bei seinem Einfluß bei
Hof und als Abt von Tiron für die Zukunft des Neffen sorgen könne.
Muthui'in wurde deshalb schon in jungen Jahren tonsuriert. Allein seine
Neigungen nahmen eine andere Richtung; er fühlte sich sowenig für
den geistlichen Stand geschaffen, wie sein Oheim, der trotz seiner zahl-
reichen Abteien ein sehr weltliches Leben führte. Gleich diesem war
ihm die Liebe zur Poesie in die Seele gepflanzt und schon als Knabe
verriet er sein dichterisches Talent. Es wäre kaum zu verwundern,
ij Reguier, sat. IX, 246-249.
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wenn er, von seines Oheims Kuhm geblendet, versucht hätte, in seinen
jugendlichen Dichtungen dieselben Wege zu gehen, und wenn er in der
Manier des Desportes liebesfeurige Sonette gekünstelt oder schmachtende
Chansons gefertigt hätte. Allein Regnier zeigte von Anfang an einen
unabhängigen Geist, der seiner Natur folgte und besondere Bahnen ein-
schlug. Die satirische Ader war zu stark in ihm ; seinem scharfen Auge
entgingen die Schwächen der ehrenfesten Bürger von Chartres sowenig
wie die Charakterfehler der lebenslustigen Stammgäste in seines Vaters
Wirtschaft.') Bald liefen in dem Städtchen satirische Gedichte um, die
großen Ärger verursachten, und als deren Verfasser man ohne Mühe
den jungen Regnier entdeckte. Der Vater sah sich in seinem Erwerb
gefährdet und drohte Mathurin mit Schlägen, wenn er es wagen sollte,
in dieser Weise fortzufahren. „Verse gäben kein Brot", meinte der
praktische Wirt, und wenn es dem Onkel auch einmal zufällig gelungen
wäre, mit dieser unnützen Kunst sein Glück zu machen, so werde
Mathurin umso sicherer in seiner Hoffnung getäuscht werden. Regnier
schildert diese väterlichen Ermahnungen später in einer seiner Satiren
auf ergötzliche Weise.-)
Aber der innere Trieb erwies sich mächtiger als alle Vorstellungen,
und der Satiriker konnte sich nicht entschließen zu schweigen. So fand
man für gut, ihn aus Chartres zu entfernen. Mathurin wurde nach Paris
geschickt, vielleicht um seine Kenntnisse, die jedenfalls sehr lückenhaft
waren, zu vervollkommnen, zugleich in der Hoffnung, daß der gutmütige,
jederzeit gefällige Desportes ihn unter seine besondere Obhut nehmen
werde. Darin täuschten sich die Eltern freilich. Desportes war am
wenigsten der Mann dazu, den tollen Jüngling zu führen und dessen
überschäumende Kraft in verständiger Weise zu regeln. Er empfing ihn
in seinem Haus, freute sich seines kecken Sinns, ließ ihn aber im
übrigen völlig frei und unbeachtet. Es währte nicht lange, so hatte
Regnier seine gleichgesinnten Gefährten gefunden. Hatte er in Chartres
schon toll genug gelebt, so fand er in Paris noch ein besseres Feld für
seine wilde Laune. Nach Genuß gierig, und in dem Wirbel der Zer-
streuungen rastlos umgetrieben, lebte Regnier eine Zeit lang als echter
Taugenichts und hauste auf seine Gesundheit unbedachtsam los. Nur
selten fand er Stimmung und Muße zu einem Gedicht. Aber das wenige,
was er gab. genügte, ihn bekannt zu machen, imd er war bald ein
Haupt des litterarischen Zigeunertums, das sich damals in Paris breit
1) Sat. XII, 73 tf.
2) Sat. IV, 61—68:
II est vrai que le ciel qui me regarda naistre
S'est de mon jugement toujours rendu le maistre;
Et bien que, jeune enfant, mon pere me tansast.
Et de verges souvent mes chansons menassast,
Me disant de despit et bouffi de colere:
„Badin, quitte ces vers; et que penses-tu faire?
La Muse est inutele; et si ton oncle a sceu
S'avaucer par cet art, tu t'y verras deceu."
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratnr.
66
machte. Zu allen Zeiten hat diese lüderliche und geistvolle Vagabunden-
welt in der französischen Hauptstadt existiert; von den Tagen des
genialen und doch so verkommenen Yillon bis herab zu Regnier, und
von Regnier bis zu unseren Tagen, bis zu Murger und so vielen anderen
vergessenen Talenten. Eine in der litterarischen Coulissengeschichte
während mehrerer Jahrhunderte vielgenannte Kneipe: „la pomme de pin",
bildete lange Zeit das Hauptquartier dieser sorglosen Gesellschaft.') Aber
Regnier hatte Verstand genug, die Hohlheit dieses Lebens, die Flach-
heit der meisten seiner Genossen zu erkennen. Er schildert sie später
mit der ihm eigenen Kraft und Kürze als Leute, welche den Lorbeer ent-
würdigen, die das Kopfweh nicht los werden und auf der Post dem
Hospital zueilen.-) Sieht man auf der Straße einen schmutzigen Menschen
mit zerrissenen Kleidern, so braucht man nicht nach seinem Stand zu
fragen. Ist es kein Dichter, so will er doch für einen solchen gelten.^)
Dies einzige Wort wirft einen grellen Schein auf die bürgerliche Stellung
jener Leute. Malherbe, Bertaut, Desportes und einige andere, die sich
zu angesehener Stellung aufschwangen, bildeten eine Ausnahme. Die
Mehrzahl derer, die sich mit Poesie abgaben, waren arme Menschen,
Hungerleider, die ihr Leben auf kümmerliche Weise fristeten, und froh
waren, ihr Elend in einigen Stunden der Trunkenheit zu vergessen.*)
Auch Regnier scheint oft mit Mangel gekämpft zu haben, und konnte
sich trotz des reichen Onkels, dessen jährliche Einnahme sich auf
30.000 Livres belief, niemals bis zum Besitz eines warmen Mantels auf-
schwingen.'') Er würde die Armut leichter erduldet haben, hätte ihm die
innere Genugthuung nicht gefehlt. Aber verachtet zu werden, wie die
anderen, das konnte er nicht ertragen ; und um sich durch einen ent-
^) Regnier, sat. X, v. 157 S. schildert einen Pendanten, dessen Nase ver-
rät, wie oft er die „Pomme de pin" besucht.
Oll maints rubis balez (= balais), tous rougissans de vin
Monstraient un hac itur ä la Pomme de pin.
Vergl. damit Villen, Petit Testament str. 20 und das Grand Testament
Str. 91 :
Aller Sans chausses et chapin
Tous les matins quand 11 se lieve
An treu de la Pomme de pin.
Ebenso erwähnt Rabelais die Schenke: ,.Puis cauponizons es tabernes
meritoires de la Pomme de pin, du Castel" etc. Ferner Boileau, Sat. III, v. 74,
wo der damaUge Besitzer Crenet angeführt wird.
2) Regnier, Sat. IV, 139 ff.:
Font un bouchon ä vin du laurier de Parnasse
A qui le mal de teste est commun et fatal
Et vont bizarrement en poste en l'hospital.
3) Sat. II, 43—48.
*) Vergl. die Schilderung der armen Litteraten bei Balzac, Entretiens VIII,
Ire histoire : „Mais il m'a asseure aussi que dans cette mesme Cour plusieurs
poetes estoient morts de faim ; sans compter les Orateurs et les Historiens, dont
le destin ne fut pas meilleur."
5) Sat. II, 40.
67
scliiedenen Schritt zu retten, sich aus der Gesellschaft, in die er geraten
war, herauszureißen, entschloß er sich, seine Unabhängigkeit zu opfern.
Wahrscheinlich durch die Vermittlung seines Onkels trat er 1593 in die
Dienste des Kardinals Joyeuse, der als Gesandter Frankreichs an den
päpstlichen Hof geschickt wurde. So kam er, 20 Jahre alt, nach Rom,
und durfte hoffen, allmählich zu einer gesicherten Lebensstellung zu ge-
langen.^) In Rom verlebte er eine Reihe von Jahren, und der Aufent-
halt in der alten Cäsarenstadt brachte ihm die alte Welt nahe. Seitdem
blieben die lateinischen Satiriker seine Hauptmuster, höchstens daß er
manchmal auch einen modernen italienischen Dichter als Vorbild be-
nutzte.-) Seine weiteren Hoffnungen jedoch blieben unerfüllt. In seiner
zweiten Satire beklagt er sich bitter, daß er sich vergebens bemüht habe,
und daß seine treuen Dienste schlecht belohnt würden. Ein Zug tiefer
Unzufriedenheit geht durch die ganze Satire. Er betrauert seine ver-
lorenen Lebensjahre und sieht mit trübem Auge in die Zukunft. Im
Jahr 1601 finden wir ihn wieder in Paris. Aber nicht auf lange Zeit.
Noch einmal ließ er sich bewegen, mit nach Rom zu gehen. Diesmal
folgte er dem jüngeren Bruder Sullys, Philipp de Bethune, der im Auf-
trag König Heinrichs nach Rom ging und bis zum Jahr 1605 daselbst
verweilte. Im Dienst Bethunes scheint sich Regnier besser befunden zu
haben, wie aus dem warmen Ton eines Gedichts hervorgeht, das er
ihm widmete, und in welchem er sich gegen den Ehrgeiz, als den wahren
Feind des Lebens, erhebt; denn er raubt den Schlaf, die Ruhe, stört
die Mahlzeit und heißt einem Schatten nachjagen. Doch scheint Regnier
die ewige Roma früher als Bethune verlassen zu haben. Seine dritte
Satire zeigt ihn in Verlegenheit über seine Zukunft. Da ihm auch die
zweite Reise nach Rom keine Stellung gebracht hat, wendete er sich um
Rat an den Marquis de Coeuvres, den Bruder der schönen Gabrielle
d'Estrees. Er ist schon 30 Jahre alt. Soll er noch einmal zu studieren
anfangen, Homer und Aristoteles lesen, oder soll er sein Glück bei Hof
versuchen, zu dem ihm, scheint es, der Weg geöffnet war? Allein er
paßt nicht an den Hof, das Leben daselbst widert ihn an. Er entwirft
dabei eine abschreckende Schilderung der Welt, in welcher er sich be-
wegen müßte; er müßte schmeicheln, sich in den Willen anderer fügen,
sich selbst beherrschen, und das ist ihm nicht gegeben. Er ist trüb-
sinnig, und mau erwartet am Hof von ihm Erheiterung ; seine Manieren
sind ländlich und passen nicht zu den Sitten der eleganten Gesellschaft.
Allein die Sorge, er möge dereinst in der Fremde, in einem Gasthof
armselig und verlassen sterben, ein Bild des Mißgeschicks, schreckt ihn
von dem Gedanken ab, so fortzuleben, wie bisher.^) So finden wir ihn
1) Regnier, Sat. II, 59 ff.
^) So den Satiriker Maure (16. Jahrb.), den er in seiner sechsten, in Rom
■verfaßten Satire an euiigen Stellen nachahmte.
3) Regnier, Sat. III, 13—14:
Puis, sans avoir du bien, trouble de resverie
Mourir dessus uii eoffre en une hostellerie.
68
denn doch bald in Berührung mit dem Hof, und seine Not hat eia
Ende. Schon 1604 erhielt er eine Pfründe in Chartres; nach seines Onkels
Desportes Tod (1606^ verlieh ihm der König aus den Einkünften der
Abtei de Vaux de Cernay eine Eente von 2000 Livres, welche jener
bis dahin bezogen hatte. Zum Dank widmete der Dichter die erste Aus-
gabe seiner gesammelten Satiren dem König, mußte ihm auch, wie Mal-
herbe, durch bewegliche Verse behilflich sein, die Gunst der verschiedenen
Schönen zu erlangen. Aber Regniers Talent war nicht für solche Aufgaben
geeignet, und seine Liebeselegien, die er in Heinrichs Auftrag schrieb,
sind nicht viel mehr als frostige Schularbeiten. Mit den beiden Pfründen,
deren er sich erfreute, hätte Regnier ein ruhiges, zufriedenes Leben
führen können. Allein Ruhe, so sehr er auch manchmal nach ihr seufzte,
war nicht seine Sache. Der Kreis, in welchem er sich nun bewegte,
war allerdings zum Teil besser als die Gesellschaft, in der er sich
früher herumgetrieben hatte, allein seine Lebensweise war kaum ver-
nünftiger. Der Geist ist willig, klagt er einmal, aber das Fleisch ist
schwach. So ist er vor der Zeit grau geworden.^) Er fühlt, wie ihn die
Leidenschaft in den Abgrund reißt, und ist doch zu schwach, zu wider-
stehen. Der Genuß, der Taumel ist sein Element, und vergebens ringt
er in freieren Stunden nach Stetigkeit und Ruhe. Solche Naturen scheinen
auf den ersten Blick oft heiter und sorglos, während sie sich im Herzen
tief unglücklich fühlen, und das Bewußtsein eines vergeudeten Lebens
im Rausch eines tollen Treibens zu bannen suchen. Man kann sich des
Eindrucks nicht erwehren, als ob Regnier solche Stunden auch gekannt
habe. Das wilde Leben, in dem er seine Kraft und seine Gesundheit
verlor, gab ihm freilich die reiche Menschenkenntnis, die ihn auszeichnete,
und ließ ihn die farbenreichen Bilder finden, deren Kraft und Wahrheit
uns noch heute überraschen. Die Zeit hat ihnen kaum etwas von ihrem
Glanz geraubt. Aber wie er es einst ahnend gesagt hatte, endete er
unter Fremden, an den Folgen einer eklen Krankheit, der er zu trotzen
wagte, in einem Gasthof zu Ronen, den 22. October 1H13, noch nicht
ganz 40 Jahre alt.
Regniers Gedichte sind wenig zahlreich. Die zweite und letzte Aus-
gabe, die zu seinen Lebzeiten erschien (im Jahr 161o), enthielt im
ganzen 16 Satiren, einige poetische Episteln und Elegien, nebst kleineren
Gedichten und Epigrammen. Aber nur die Satiren kommen in Betracht.
Ein Mann, wie Regnier, plagt sich n icht viel mit Schreiben. Sein
Bestes giebt er in der lebhaften Unterhaltung. Mathurin sagt selbst,
er wolle nicht gleich anderen seinen Schlaf opfern, um ein Sonett zu
schmieden.-) Umsomehr war er seiner Einfälle und witzigen Antworten
halber bekannt. Wenn er überhaupt etwas niederschrieb, so geschah es
fast gegen seinen Willen; der dichterische Geist war doch stärker in ihm
als die Trägheit. Aber er rühmte sich, daß er so wenig als möglich zu
1) Regnier, Sat. V, 76—82 und 104—108. Vergl. auch Sat. VII, 20—31.
^) Regnier, Sat. III, 156.
m
Papier brächte,') denn er war ein praktischer Philosoph und kannte die
Eitelkeit des Ruhms.
Die Satire ist von jeher, wenn auch unter verschiedener Form, in
Frankreich heimisch gewesen, und hat immer als gute Waffe gedient.
Der Franzose hat einen scharfen Blick für die Eigentümlichkeiten der
Menschen ; aber wenn er über sie lacht, bleibt er mehr beim Scherz,
bei der leichten Ironie, als daß er sich zum feindlichen, vernichtenden
Hohn steigert. Eine Satire voll der bittersten Menschenverachtung, wie
■die Satire Swifts, findet sich in Frankreich nicht. Doch sind die alten
Fablieaux, die poetischen Erzählungen, an welchen sich das Mittelalter
«rgötzte, reich an satirischen Zügen; die Verfasser der „Satire Menippee"
hatten nicht lange vor Begniers Auftreten ihre Kraft bewiesen, und
•du Bellay hatte sogar versucht, die Satire in der Weise der Alten zu
bearbeiten, wenn er auch damit keinen Anklang gefunden hatte. Erst
ßegnier wurde der eigentliche Begründer der regelmäßigen, antiken
Mustern nachgebildeten Satire in Frankreich. Er war der erste, der, mit
satirischer Kraft begabt, die Pfade der römischen Dichter einschlug, und
sich an Horaz und Juvenal bildete.^)
Wie diese bei dem erstorbenen öffentlichen Leben der Politik abhold
waren und nur die sociale und litterarische Satire pflegten, so auch
Regnier. Selbst den seiner Zeit so naheliegenden religiösen Fragen geht
•er aus dem Weg. Er ist nicht strenggläubig ; man ist viel eher manch-
mal versucht, ihn trotz seines geistlichen Charakters für einen Ungläu-
bigen zu halten. Er will sich mit neugierigen Fragen nicht den Kopf
zerbrechen; er sagt sogar, er wolle zwar ein guter Christ bleiben, dabei
aber sein Leben genießen und im übrigen nichts für wahr halten, was
«r nicht schmecken könne, und, da er nichts verstehe, über alles lachen.^)
1) Sat. XV, 1—14:
Oui, j'escry rarement, et me plais ä le faire:
Non pas que la paresse en moy seit ordinaire,
Mais si tost que je prends la plume ä ce dessein,
Je croy prendre en galere une rame ä la main.
Je vous jure, encor est-ce ä mon corps defendant.
2) Sat. II, 14—17:
II faut suivre uq sentier qui seit moins rebattu.
Et. conduit d'Apollon, recognoistre la trace
Du libre Juvenal; trop discret est Horace
Pour une hemme picque...
Trotz dieser Kritik folgt er doch Horaz häufiger als Juvenal. Vergl. mit
dieser Stelle Sat. II, v. 227 :
Voilä ce qui m'a fait et poete et satirique,
Eeglant la medisance ä la fafon antique.
3) Sat. IX, 161 ff.:
Or, ignorant de tout, de tout je me veux rire;
Faire de mon humeur moy-mesme une satyre;
N'estimer rien de vray, qu'au goust il ne soit tel,
Vivre, et comme chretien adorer l'Eternel.
70
So wird er zum Epikuräer wie Horaz. Als solcher läßt er sich in keine
verfänglichen Unternehmungen ein, braucht als guter Staatsbürger die
Polizei nicht zu fürchten, vor einer Hausdurchsuchung nicht zu zittern,
und sagt sich, daß der Mensch sein Segel nach dem Wind richten muß.')
Hier spricht der Geist des 17. Jahrhunderts aus ihm, wie wir dies
ähnlich schon bei Charron bemerkt haben; das Volk ist bereits seines
politischen Einflusses völlig beraubt; es entwöhnt sich der Teilnahme
an den öffentlichen Angelegenheiten, und die Folgen können nicht aus-
bleiben.
Der lebhafte Geist Eegniers zeigte sich am deutlichsten in dea
vielen kleinen Charakterbildern, die in seinen Satiren zerstreut sind.
Hier entwickelt er eine besondere Kunst. Der Kreis seiner Darstellungen
ist allerdings beschränkt, aber was er gesehen hat, schildert er mit
drastischer Komik, freilich oft auch mit verletzender Derbheit. Die Luft,
die er atmet, und in die er uns einführen will, ist verdorben. Er bringt
wol manchmal den Dunst der Kneipe, das Miasma der Gosse mit sich.
Übersehen wir indessen nicht, daß vieles, was uns heute auffällt und
widersteht, für seine Zeitgenossen nichts Anstößiges hatte, und der allge-
meine Ton nicht besser war, als Regniers Satiren ihn aufweisen. Ab-
gesehen von diesem Flecken, bieten sie des Merkwürdigen und Gelungenen
viel. Wenn Regnier das Leben am Hof schildern will, gedenkt er zuerst
der geschmeidigen Herren, die nur ein einziges Talent aufzuweisen
haben. Sie sind nur Meister in der Kunst, zuzustimmen, und lassen auf
jede Bemerkung, die man ihnen macht, ein überzeugtes ., Natürlich", ein
beifälliges „Gewiß" vernehmen. In jenen Kreisen lernt man lügen, seine
Freunde verraten, seine Feinde küssen. Dort muß man den Großea
huldigen, mit dem Hut in der Hand in dem Vorzimmer stehen, und
wagt nicht einmal zu speien und zu husten.^) Es ist ein kleines Genre-
bild voll köstlichen Humors, wenn er von einem vornehmen Modehelden
erzählt, der ihn eines Tags in der Kirche anhält, bei der Hand faßt
und tänzelnd ein lobendes Wort wiederholt, das er kaum erst anderswo
aufgeschnappt hat.^) Ein solcher Geck putzt sich nach der letzten Modo,
jagt und turnt, singt die neuesten Lieder, ersinnt Ballette, schreibt Liebes-
briefchen, weiß über Mode und Anstand zu schwatzen, colportiert Anek-
doten und Witzworte, und mißt jedermann. Verständige wie Thoren, mit
demselben Maß.
Lenkt der Dichter seinen Blick von diesen Leutchen ab, so findet
er nicht weniger Grund zur Heiterkeit, wenn er sieht, wie die Advokaten,
in würdevollem Gewand, ins Blaue hinein ihr Geschwätz verkaufen, wie
die Ärzte Puls, Brust und Bauch befühlen, Rezepte verschreiben, und
während sie die offene Hand ausstrecken, um das Geld dafür zu nehmen,,
großartig ablehnend sagen: „Mein Gott, das ist ja nicht nötig."' "*)
1) Bat. V, 56 ff.
2) Sat. IV, 27 ff.
3) Sat. VIII, v. 25
*) Sat. IV, 57 ff.
71
Wieder in andere Kreise führt uns die zehnte Satire. Regnier
schildert uns dort, nach dem Vorbild des Horaz, aber in plumperer Form,
eine Mahlzeit, zu der er eingeladen worden ist und der er nicht ent-
gehen konnte. Er findet dort sonderbare Gäste, unter anderen einen
linkischen Pedanten, nebst einem Parasiten, der nach Regniers drastischem
Ausdruck „mit den Zähnen diskuriert." Bald geraten sich die Gäste in
die Haare und der Lärm erlaubt dem Dichter zu entschlüpfen. Aber auf
seinem Rückzug kommt er übel an, er verirrt sich in einen verrufenen
Ort und vergißt so sehr die Würde der Dichtung, daß er das Leben da-
selbst in einer Weise schildert, die jedes halbwegs empfindliche Gefühl
empört.
Meisterhaft ist dagegen wieder das Bild der alten Heuchlerin
Macette, die nach einem lüderlichen Leben mit der Fr(Mmigkeit gute
Geschäfte zu machen hofft. Sie thut nun öffentlich gar fromm und reu-
mütig, und weint das reine Weihwasser. In der Stille aber widmet sie
sich einem andern Geschäft. Im Auftrag eines reichen Lüstlings kommt
sie zu der Geliebten des Dichters. Mit langsamem und abgemessenem
Schritt tritt sie in das Zimmer des Mädchens und grüßt mit frommem
Ave Maria. Sie schlägt die Augen nieder, und scheint scheu und un-
schuldig, ein wahres Kräutchen Rühr mich nicht an. Mit unverfänglicher
Erzählung beginnend, kommt sie nach und nach auf den wahren Zweck
ihres Besuchs. Das Mädchen ist so schön, warum sollte es nicht auch
schöne Kleider haben? Wozu nützt der gute Ruf, wenn er kein Geld
einbringt? Was man von Frauenehre faselt, das sind längst abgetbane
Phrasen, die hübsch klingen, aber genau besehen, doch nur mißbräuchlich
angewandt werden. Jeder Mensch ist seines Glücks Schmied; nur muß
man hübsch vorsichtig sein, keinen öffentlichen Anstoß geben. Die Sünde,
die man verbirgt, ist schon halb verziehen. Wer nein sagen kann, hat
nicht gefehlt. Zudem giebt es ja auch Beichte und Absolution.^) In diesem
Ton fährt die Alte fort zu belehren, bis sie in ihrer Rede gestört wird,
mit liebevoll frommem Ton sich verabschiedet und bald wieder zu kommen
verheißt. Regnier fand für diesen Charakter allerdings ein Vorbild in
Jean de Meungs „Roman de la Rose", ja das Thema ist schon bei Ovid
und Properz abgehandelt.^) Aber Regnier hat es in seiner Weise auf-
1) Sat, XIII, V. 30:
Son cell tout penitent ne pleure qu'eau beniste.
V. 144:
Le peche que Ton caehe est demy-pardonne.
V. 147:
Pourveu (ju'on ne le syache, 11 n'importe comment.
Qui peu dire que non, ne peche nuUement.
Puls la beute du ciel nos ofFenses surpasse.
Pourveu qu'on se confesse, on a tousjours sa grace.
Man vergl. damit das Wort Tartüffes bei Meliere, „Tartutfe", acte IV
v. 120:
Et ce n'est pas pecher quo pecher eu silence.
2) Ovid, Amores, I, 8. Propert IV, 5.
72
gefaßt und originell durchgeführt. Macette ist die Vorläuferin des Tartüffe,
wie Regnier durch die Fülle seiner charakteristischen Figuren, die Schärfe
seiner Zeichnung, seine wahrhaft dramatische Kraft der Lehrmeister
Moliores geworden ist.
Trotz seines satirischen Geistes hat sich Regnier niemals zu per-
sönlichen Ausfällen hinreißen lassen, höchstens daß er gegen die allzu
strenge Kritik Malherbes protestierte. Auch dabei nannte er keinen
Namen, wenn auch seine Anspielungen sehr deutlich waren. „Meine
Muse ist zu keusch", sagt er, „und mein Sinn steht zu hoch."') Daß er
seine Muse zu keusch findet, könnte nach dem oben Gesagten über-
raschen. Allein die unverhüllte derbe Rede fiel, wie ebenfalls schon be-
merkt, damals nicht auf, und die Satire zumal schien ohne dieselbe
kaum möglich. Regnier redet von der Zurückhaltung seiner Muse, weil
er die Waffen seines Geistes, seinen scharfen Witz und seine satirische
Kraft nicht im Dienst gekränkter Eitelkeit und privaten Widerwillens
mißbrauchte. Er war ein Lebemann, gutmütig und ohne Falsch, so daß
man ihn den „guten Regnier" nannte.-) Der ist nicht boshaft, und
noch weniger wird er in seinem Urteil allzu schneidig sein, der, wie
Mathurin glaubt, daß der Wert der Dinge von der Laune der Menschen
und ihrem jeweiligen Urteil abhängt. Ja, er fragt sich wohl einmal, ob
er nicht selber irre? Denn diejenigen, die auf dem Schiff mit dem
Strom dahin gleiten, sehen auch, wie das Ufer an ihnen vorüberfliegt,
und sie sind es doch selbst, die dahin getragen werden.
Was Regnier fehlte, war die Harmonie, im Leben wie in den
Werken. Keines seiner Gedichte kann sich einer ungetrübten Wirkung
rühmen. Das liegt nicht etwa in der altertümlichen, uns fremd an-
mutenden Sprache. Denn allerdings wählte er mit Vorliebe alte Aus-
drücke, volkstümliche, derbe Redensarten. Er machte damit der neuen
Richtung unter Malherbes Führung bewußte Opposition. Jener glaubte,
ein Vers sei schlecht, wenn er ein Wort des gewöhnlichen Lebens ent-
halte, und er wiederum fand, daß ein gewisses Sichgehenlassen oft das
Kennzeichen der Kunst sei.^) Dabei blieb seine Sprache kräftig, reich
und trotz einiger Härten und Kanten bewahrte sie große Beweglichkeit.
Wäre Regniers Geschmack reiner, wir könnten uns seines Strebens, den
Reichtum der älteren Sprache zu bewahren, nur freuen. Allein in diesem
Punkt liegt seine Schwäche. Er verletzt zu oft, und während er ein
Meister der Detailmalerei ist, den holländischen Malern vergleichbar,
welche das derbe Volksleben auf der Leinwand darstellen, fehlt ihm
gleich jenen gar oft der Schwung, der über die Alltäglichkeit hinaus-
1) Sat. III, 157:
Ma muse est trop chaste et j'ai trop de courage.
-) Sat. III, 95:
Et le surnom de bon me va-t-on reprochant,
D'autant qua je n'ay Tesprit d'estre meschant.
3) Sat. IX, 94:
Les nonchalances sont ses plus grands artifices.
73
hebt und dessen auch der Satiriker nicht entbehren kann. Und doch
war er ein echtes Dichtergemüt, das warm zu empfinden vermochte.
„Der gute Wein ist ja auch nicht ohne Hefe"', sagt er zu seiner Ent-
schuldigung'), und er rechnet auf die Nachwelt als eine milde Richterin.
Und diese hat sich ihm günstig erwiesen. Schon die klassische Zeit,
die sonst so streng über die Dichter der früheren Perioden urteilte, hat
Eegniers Talent anerkannt. Selbst Boileau, der in seiner „Dichtkunst"
ein hartes Wort für ihn hatte, hob an anderer Stelle ausdrücklich seine
Bedeutung hervor.-)
Fremdartiger noch als der gute ßegnier blickt d'Aubigne aus der
ihn umgebenden Gesellschaft zu uns herüber. Neben den kleinen Menschen,
die unter der Regentschaft und in der ersten Zeit Ludwigs XIII. auf-
treten, nimmt sich der Greis, der ihnen grollend gegenübersteht, fast
wie ein Riese- aus. In ihm glüht noch das unheimliche Feuer des reli-
giösen Fanatismus, das überall sonst erloschen war. Einer jener starr-
köpfigen Hugenotten, welche dieselbe Rolle hätten spielen mögen, welche
in England etwas später den puritanischen Ruudköpfen unter Cromwell
zufiel, dazu im Grunde seines Herzens republikanisch gesinnt, sah d'Au-
bigne seine Erwartungen von dem Tag an getäuscht, an welchem Heinrich
von Navarra allgemein als König von Frankreich anerkannt wurde.
Dieses Ziel zu erreichen, hatte Heinrich seinen früheren Gegnern viele
Zugeständnisse gemacht und sogar seine Religion gewechselt. D'Aubigne
wollte von solcher Politik nichts hören; mit dem Schwert in der Hand
sollte seiner Meinung nach der König den Frieden diktieren, auf seine
hugenottischen Anhänger gestützt, die Politik, die er bis dahin verfolgt
hatte, auch ferner innehalten. Er war vor allem Parteimann und von
der gewaltigen Leidenschaft eines solchen beseelt; er war Kriegsmann
mit Leib und Seele, und sein abenteuerliches Hin- und Herziehen, seine
Kriegsfahrten und Einzelkämpfe erinnern mehr an den fahrenden Ritter
oder den Landsknecht des Mittelalters, als an den Soldaten moderner
Zeit. Er war ein Mann des Kampfes und der That.. Auch seine littera-
rischen Arbeiten, seine Gedichte wie seine Prosawerke sind Schwerthiebe,
die er in der Hitze des Streits gegen seine Gegner führt. Darin stimmte
er allerdings mit dem Edelmann des ganzen 17. Jahrhunderts überein,
daß er bei aller Wertschätzung litterarischen Ruhms es doch nicht seiner
Würde für angemessen hielt, als Schriftsteller von Fach oder' als Dichter
zu gelten.
Seine Lebensgeschichte klingt wie ein Roman, so wechselnd und
merkwürdig waren seine Erlebnisse.
1) Sat. XII, 33:
.Ivant qu'aller si viste, au moins je le supplie
S^avoir que le bon vin ne peut estre sans lie.
-) Boileau, Pteflezions sur Longin, n^ 5 : „Le celebre Regaier, c'est-ä-dire
le poete francais qui, du consentement de tout le monde, a le mieux connu,
avant Meliere, les moeurs et le caraetere des hommes."
74
Theodor Agrippa d'Aubigne war im Jahr 1551, den 6. Februar,
zu St. Maury bei Pons an der Seugne, einem Nebenfluß der Charente,
in der alten Provinz Saintonge geboren.^) Sein Vater Jean d'Aubigne,
Herr von Brie, gehörte zu den eifrigsten Anhängern der Reformation.
Seine Mutter starb, als sie ihn zur Welt brachte, und da Jean d'Au-
bigne bald darauf zum zweitenmal heiratete, wurde das Kind freuiden
Händen zur Pflege übergeben, weil, wie d'Aubigne später erzählte, die
Stiefmutter „die Ausgabe und die allzu ausgesuchte Kost, welche der
Vater für ihn verlangte, mit Ungeduld ertrug".^) Mit vier Jahren er-
hielt der Knabe einen Hofmeister und begann zu studieren. Mit sechs
Jahren verstand er griechisch, lateinisch und sogar hebräisch. Mit acht
Jahren las er Piatos „Kriton", aber er seufzte noch in seinen Memoiren
über die Strenge seiner Lehrer. Im neunten Jahr brachte ihn der Vater
zur Fortsetzung seiner Studien nach Paris. Ihr Weg führte sie durch
Amboise. An diese Stadt knüpften sich für die Hugenotten düstere
Erinnerungen. Sie hatten unter der Regierung Franz II. sehen müssen,
■wie ihre erbitterten Gegner, die Guisen, zu immer höherer Macht auf-
stiegen und sich des schwachen Königs völlig bemächtigten. Sie sahen
sich in ihrem Glauben gefährdet, mit dem Verlust ihrer Habe, ja mit
dem Feuertod bedroht, und die Entschlossensten unter ihnen hatten sich
zu einem verzweifelten Staatsstreich verschworen. Franz II. sollte in
Blois. wo er sich aufhielt, mit seinem ganzen Hof aufgehoben, die
Guisen verhaftet und wegen Hochverrats vor Gericht gestellt werden.
Als geheimes Oberhaupt des Bunds wurde der Prinz von Conde genannt.
Allein die Guisen waren gewarnt worden ; sie hatten den König von
Blois nach dem festen Amboise gebracht, hatten Truppen herbeigezogen,
und der Anschlag der Verschworenen war gescheitert. Ein furchtbares
Blutgericht hatte den Rachedurst der Guisen noch nicht gestillt, und
man fürchtete neue Opfer. Das war im Jahr 1560. Die Wogen der
Erbitterung gingen immer höher; ein dumpfes Grollen, das durch das
Land ging, verkündete den baldigen Ausbruch des Sturms.
In jenen schwülen Tagen kamen die beiden d'Aubigne mit ihrem
Gefolge durch Amboise. Sie waren zu Pferd und hatten ihren Weg durch
eine große Volksmasse zu nehmen, die sich auf den Straßen und Plätzen
umhertrieb. Plötzlich sahen sich die Reisenden vor einem schrecklichen
Schauspiel. Sie erblickten die Köpfe vieler Freunde und Glaubensgenossen,
die auf hohen Stangen am Schloß aufgespießt waren, und der Vater
fühlte sich so empört, daß er in laute Verwünschungen über die Henker
ausbrach, welche Frankreich enthauptet hätten. Das Volk geriet in Auf-
regung über diese Worte, und nur mit Mühe rettete sich die kleine
Schar vor den Mißhandlungen der erbitterten Menge. Vor der Stadt aber
legte der alte d'Aubigne seinem Knaben die Hand auf das Haupt und
^) D'Aubigne nennt das Jahr 1550 als sein Geburtsjahr, weil nach dem
alten Kalender das neue Jahr erst mit dem Frühjahr begann.
2) D'Aubignö, „Sa vie ä ses enfants", Oeuvres completes, publiees par
M. M. ßeaume et Caussade. Bd. I, S. 5.
i[>
empfahl ihm die Rache für die Gemordeten als seine heilige Pflicht,
der er sich bei Strafe des väterlichen Fluchs nicht entziehen dürfe. Un-
willkürlich gedenkt man bei diesem Vorgang des karthagischen Feld-
herrn Hamilkar, der seinen neunjährigen Sohn schwören ließ, die Römer
mit ewigem Haß zu verfolgen.
In Paris wurde der junge d'Aubigne dem gelehrten Beroalde zur
weiteren Erziehung anvertraut. Doch schon im Jahr 1562 brach der
lang genährte, mühsam verdeckte Haß in offene Flammen aus, und die
beiden Parteien maßen sich im ersten Religionskrieg. Beroalde. ein
eifriger Hugenotte, floh mit seiner Familie und seinem Schutzbefohlenen
aus Paris, wo er sich nicht mehr sicher fühlte, wurde aber unterwegs
von einem Trupp Soldaten angehalten, und mit seiner ganzen Begleitung
als Ketzer zum Feuertod verurteilt. Selbst der Knabe war in dem harten
Urteil mit einbegriffen. Vergebens stellte man ihm vor, daß er sich
nur durch eine angenblickliche Bekehrung retten könne; er antwortete,
daß ihn der Abscheu vor der Messe die Schrecken des Feuers vergessen
lasse. Den anwesenden Officieren gefiel d'Aubignes keckes Wesen; sie
ließen von ihren Spielleuten eine „Gaillarde" aufspielen, und der Kuabe
tanzte , bis der eintretende Inquisitor ihn mit Scheltworten unterbrach
und in den Kerker zurückschickte. Welch ein merkwürdiges Bild der
Zeit enthüllt uns diese eine Scene! Die Stimmung wechselt jeden Augen-
blick und ebenso die Schicksale. Es war das erste Todesurteil, das über
d'Aubigne gefällt wurde; es sollte nicht sein letztes sein. Im Kerker
fand er Beroalde und dessen Gefährten, die alle mutigen Sinns dem Tod
entgegensahen. Aber um Mitternacht erschien ein Retter. Der Officier,
dessen Sorge die Gefangenen anvertraut worden waren und der im
geheimen zur protestantischen Partei gehörte, ließ sie entschlüpfen und
rettete sich mit ihnen nach Orleans, wo Jean d'Aubigne ein hohes
Kommando hatte.
Die weiteren Ereignisse entsprachen solchem Anfang. D'Aubignes
Leben ist gleich dem des Simplicissimus eine Kette der überraschendsten
Wechselfälle. Orleans wurde von den Königlichen belagert. Unter der
Menge, die sich in die Stadt zusammengedrängt hatte, brach eine Epidemie
aus, welche viele Tausende hinwegraffte. Auch der junge d'Aubigne
wurde von dem Übel ergriffen, kam aber mit dem Leben davon. In der
vom Feind bedrängten, von der Krankheit heimgesuchten und erschreckten
Stadt lösten sich die Bande der Zucht, und der Knabe, der in die Ge-
sellschaft des sittenlosen Soldatenvolks geriet, wurde in alle Laster ein-
geweiht. Zudem verlor er bald seinen Vater. Derselbe war während der
Belagerung verwundet worden, hatte sich aber nicht geschont, und,
obwohl erst halb geheilt, Friedensunterhandlungen mit Königin Katharina
von Medici eingeleitet und zum guten Ende geführt Die Wunde hatte
sich verschlimmert , und Jean d'Aubigne war kurze Zeit nach dem Ab-
schluß des Friedens gestorben. Auf seinem Totenbett empfahl er seinem
Sohn noch dringend, der Opfer von Amboise nicht zu vergessen, seinem
Glauben treu zu bleiben , die Wissenschaften zu pflegen und jederzeit
ein guter Freund zu sein. Außer diesen Ratschlägen hinterließ er freilich
76
wenig. Sein Vermögen war zerrüttet, und die Schuldenlast erdrückend.
Theodor Agrippa erhielt einen Vormund und wurde nach Genf geschickt,
wo er in ruhigerer Umgebung die Schule unter Theodor von Bezas
Leitung besuchte, sich zwei Jahre lang daselbst aufhielt, manchen aus-
gelassenen Streich sich erlaubte, endlich aber, der strengen Behandlung
müde, ohne Vorwissen seines Vormunds davonlief und sich nach Lyon
wandte. Dort widmete er sich der Mathematik. Aber auch sie genügte
ihm nicht. Wie Faust hatte er alles gekostet, hatte er alles erforschen
wollen und nichts als Enttäuschung gefunden. So ergab er sich der
Magie und hoffte mit ihrer Hilfe zum Ziele zu gelangen. Dabei ging es
ihm oft herzlich schlecht, er hatte nicht immer zu essen, und war froh,
als man ihm endlich wieder aus der Heimat einiges Geld schickte.
Darüber brach der zweite Krieg aus. D'Aubigne bestürmte seinen
Vormund, er möge ihn in das Heer der Reformierten eintreten lassen.
Dieser hielt ihn statt dessen in strenger Haft bei sich, und um ihm
jeden Fluchtversuch unmöglich zu machen, ließ er ihm jeden Abend die
Kleider wegnehmen. Der Friede von Lonjumeau machte dem Kampf aller-
dings bald ein Ende, allein die Ruhe dauerte nur bis zum nächsten
Jahr, in welchem sich die Parteien zum drittenmal den Krieg er-
klärten. D'Aubigne hatte diesmal seine Maßregeln getroffen. Ein Schuß
vor seinen Fenstern zeigte ihm an, dass seine Gefährten in der darauf-
folgenden Nacht die Stadt verlassen würden, um sich zum Sammel-
platz der Truppen zu begeben. Rasch entschlossen ließ er sich an den
Leintüchern seines Betts auf die Straße herab, und folgte, barfuß, ohne
Gewand, nur mit einem Hemd bekleidet, den vorausgeeilten Freunden,
die über den Aufzug ihres Genossen nicht wenig erstaunt waren. Ein
mitleidiger Hauptmann nahm ihn zu sich aufs Pferd und gab ihm einen
Mantel. In diesem Aufzug focht er einige Stunden später gegen eine
Schar Liguisten und eroberte sich seine Waffen. Die Gefallenen der
Kleidungsstücke zu berauben, verschmähte er. und wurde erst am Abend
von einigen Hauptleuten mit dem Nötigsten ausgestattet. Als man später
im Hauptquartier den Versuch machte, ihn zurückzuschicken, bahnte er
sich mit dem Degen in der Faust den Weg zu seiner Compagnie.
Seitdem war er einer der verwegensten Kämpfer in den Reihen
der Hugenotten und machte alle ihre Kreuzzüge mit. Nicht lange, so
hatte er eine Compagnie zu führen, und so oft eine tollkühne That zu
vollbringen war, fand sich d'Aubigne an der Spitze einiger gleich-
gesinnten Feuerköpfe dazu bereit. Vielmals und schwer verwundet, ent-
ging er dennoch dem Tod. Unsere Phantasie ist glücklicherweise zu
schwach, sich die Greuel vorzustellen, welche jene Kämpfe mit sich
brachten. Die Schrecken eines gewöhnlichen Kriegs verschwinden neben
den finsteren Thaten, zu welchen der Fanatismus in einem Bürgerkrieg
hinreißt. D"Aubigne hat sie später in seinen „Tragiques" in ergreifender
Weise geschildert. Auch in seinem „Leben" sagt er genug davon. Von
heftigem Fieber ergriffen , glaubte er eines Tags sein Ende gekommen,
und bekannte seinen Kameraden die Fehler seines Lebens. Er beklagte
besonders die Schwäche , mit welcher er seinen Soldaten oft freie Hand
77
gelassen habe. Seine Erzählungen waren derart, daß seinen Gefährten,
die doch wahrlich kein weiches Herz im Busen trugen, vor Grauen sich
die Haare sträubten.') D'Aubigne erholte sich indessen von seiner
Krankheit und beteuert , er sei von jener Zeit an ernster und sitten-
strenger geworden.
Ein zwanzigjähriger Jüngling hatte solche Erfahrungen gemacht!
Bald sollte er auch andere, schönere Erlebnisse finden. In einer kurzen
Zeit des Friedens, welche dem erschöpften Lande gegönnt wurde, lernte
d'Aubignc Diana Salviati, die älteste Tochter des Herrn von Talcy,
kennen und lieben. Die neue Empfindung machte ihn zum Dichter. Er
verfaßte eine Reihe von Sonetten , Stanzen und Oden , in welchen er
seinen stürmischen Gefühlen Luft machte, und nannte die ganze Samm-
lung den „Frühling d'Aubignes". Aber er scheute vor der Öffentlichkeit
zurück, selbst später, und so kam es, daß diese Gedichte mit vielen
anderen Schriften lange unbeachtet blieben. Man muß d'Aubigne aufs
Wort glauben , wenn er sagte, seine Verse seien zwar manchmal hart,
aber sie seien von jener poetischen Begeisterung beseelt, welche den
Kennern immer gefallen werde. Neuerdings ist aber der „Frühling" mit
noch anderen Gedichten aus den hinterlassenen Papieren d'Aubignes
herausgegeben worden,^) und wir können sagen, daß sie in dem her-
kömmlichen galanten und gekünstelten Stil verfaßt sind, welchen die
höfische Litteratur des 16. Jahrhunderts liebte. Dabei weisen sie jedoch
in der That mehr Feuer auf, als die Liebesgedichte jener Zeit gewöhn-
lich enthalten. Es finden sich zumal Bilder und Wendungen, die aus
der hergebrachten Schulpoesie heraustreten; frische Ausdrücke aus dem
warmen Leben, Bilder voll Wahrheit, die vorzugsweise dem Kriegs-
getümmel oder der ländlichen Natur entnommen sind; kurz, man sieht,
daß der Dichter ein offenes Auge für die reale Welt bewahrt hat.
Dichterische Thätigkeit und Liebeständelei waren ihm indessen nur
ein Zeitvertreib für müßige Tage. Zur Hochzeit Heinrichs von Navarra
mit Margarete von Valois strömten die Hugenotten von allen Seiten nach
Paris. Unter ihnen befand sich auch d'Aubigne. Drei Tage vor der
Bartholomäusnacht war er als Sekundant eines Freundes in ein Duell
verwickelt; die Kämpfenden wurden von der Scharwache überrascht,
d'Aubigne leistete Widerstand, verwundete einen Soldaten und mußte
fliehen. Er verließ heimlich Paris und entging so dem Tod, der auch
ihm bestimmt war. Einige Monate hielt er sich nun in Talcy verborgen,
wo ihm Diana endlich verlobt wurde, freilich nur auf kurze Zeit, denn
da er sich weigerte, seine Religion zu wechseln, brach der Vater das
Verhältnis wieder ab.
Indessen war Heinrich von Navarra auf den jungen Mann auf-
merksam gemacht worden. Er berief ihn zu sich nach Vincennes, wo er
1) Sa vie ä ses enfants, S. 17.
-) Oeuvres complete de Th. A. d'Aubigne, publique par M. M. Eugene
Eeaume et de Caussade, Bd. 3.
78
in einer Art freier Gefangenschaft gehalten wurde und mit dem Herzog
von Guise ein wildes Leben führte. Heinrich fand Gefallen an d"Auhigne
und nahm ihn alsbald in seine Dienste. So kam er an den Hof, wurde
in den Wirbel der Zerstreuungen mit fortgerissen und war bald seiner
scharfen Zunge wegen gefürchtet. Auch zum Dichter wurde er wiederum
und schrieb ein Trauerspiel, „Circe", das er für eine festliche Aufführung
bei Hof bestimmte, das aber wegen der nötigen Vorrichtungen für die
scenische Ausstattung zu kostbar erschien, und erst später auf Befehl
König Heinrichs III. aufgeführt wurde. Das Werk ist verloren und hat
sich auch nicht unter den Papieren des Nachlasses gefunden.
In seiner Autobiographie deutet d'Aubigne an, welches Leben er
mit den anderen jungen Herreu am Hof damals führte. Liebeshändel,
Duelle und sonstige Abenteuer brachten Abwechslung und Unterhaltung.
Die Straßen von Paris waren damals allnächtlich der Schauplatz tumul-
tuarischer Scenen und blutiger Kämpfe. Die übermütigen Junker schlugen
sich mit den städtischen Wächtern, mit Strolchen und Dieben herum.
D'Aubigne erzählt, wie sie einmal mit den Waffen in der Hand das Haus
der städtischen Polizei stürmten und sie in die Flucht trieben. Ein
andermal griff er mit drei Kameraden dreißig Hellebardiere an und jagte
sie vor sich her, oder er kam einem Freund zu Hilfe, der in einem
Wirtshaus von den Leuten des Herzogs von Montmorencj belagert wurde.
Auch das Gift spielte seine Rolle, und d'Aubigne veifiel. wie er glaubt,
infolge eines Gifttranks, den ihm ein falscher Freund beibrachte, in ein
langes Leiden, aus dem ihn nur seine gute Natur rettete.^)
Es war System in diesem Treiben. Das entnervende Leben sollte,
nach dem Plan der Feinde. Heinrich von Xavarra die Kraft zu jeder
ehrgeizigen Unternehmung, zu jedem kräftigen Entschluß rauben. Allein
es kam der Tag, an welchem dier kluge Fürst seine Lage erkannte und
zu handeln beschloß. Mit nur wenigen Getreuen, darunter d'Aubigne,
verließ er heimlich Vincennes und eilte in sein Heimatland, um sich dort
an die Spitze der Hugenotten zu stellen, und den schweren Kampf zu
beginnen, der ihn nach den mannigfaltigsten Wechselfällen endlich auf
den Thron von Frankreich führen sollte. D'Aubigne stand ihm in diesen
schweren Zeiten als treuer Freund zur Seite und stieg sciiließlich bis zur
Würde eines Marechal de camp empor. Selten mag sich das Verhältnis des
Herrn zu seinem Diener so gestalten, wie wir- es bei Heinrich IV. und
d'Aubigne finden. Der letztere war kein bequemer Freund, und Heinrich
verlangte für seine verschiedenen Leidenschaften oft nachsichtige und
hilfreiche Vertraute. Statt ihm gefällig zu sein, trat ihm d'Aubigne häufig
mit der rauhen Offenheit eines Puritaners entgegen und trotzte seinem
Zorn. „Ein Hugenottenfürst'', sagte er ihm einmal, „hat ebensoviel
Aufseher für seine Handlungen als er Diener hat." Darüber kam es oft
zu heftigen Scenen; man schmollte, trennte sich, ja d'Aubigne meint,
Heinrich habe ihm manchmal Schlimmeres gewünscht. Doch nie Feind-
schaft dauerte nie lange; der König kannte des Mannes Treue, und wenn
^) Sa vie ä ses enfants, S. 23.
«r leidenschaftlich sich dem Augenblick hingab, so war er doch auch
hohen Sinns und wußte Offenheit und Festigkeit zu schätzen. So gab
er in der entscheidenden Stunde immer gutem Rat Gehör. „Aubigne,
jetzt brauche ich Deine grobe Treue I" rief er dann wol aus, und d' Aubigne
ließ es weder an Grobheit noch an treuem Rat fehlen. ') In seiner Auto-
biographie klagt er mehr als einmal über den kleinlichen Charakter des
Königs, über dessen Mißgunst und Geiz. Und doch war er selbst ein
Beispiel davon, daß Heinrich seine Anhänger reich zu belohnen wußte,
wenn er auch das Geld nicht vergeudete.-) In der „Geschichte seiner
Zeit" ist d' Aubigne umso rückhaltloser im Lob seines Königs, und
der Widerspruch zwischen den beiden Darstellungen mag sich daraus
erklären, daß die Autobiographie in Einzelheiten des Privatlebens ein-
geht, und dem Erzähler bei der Erinnerung an manchen bitteren Moment
die Schwächen Heinrichs lebhafter vor die Augen traten, als bei der
Darstellung seiner Politik und seiner Kriegführung.
Wir müßten die Geschichte jener denkwürdigen Jahre ausführlich
erzählen, wollten wir ein annähernd getreues Bild von d'Aubignes Thätigkeit
geben. Nahm er doch Teil an allen Feldzügen, an den verschiedenen
größeren und kleineren Unternehmungen. Nicht selten gebrauchte ihn
Heinrich als Vertrauensmann und beauftragte ihn mit wichtigen geheimen
Unterhandlungen. Doch ist es ihm nie gelungen, einen dauernden Einfluß
auf den König auszuüben oder an die Spitze eines Zweigs der Verwal-
tung zu treten. Dazu war er zu heftig, zu wenig diplomatisch. Stets in
Streitigkeiten verwickelt, fand er in den kurzen Pausen zwischen den
Feldzügen noch Zeit, seine Privathändel auszufechten. Auch seine dich-
terische Kraft erwachte in ihm aufs neue. Er wurde im Gefecht von
Casteljaloux in der Guyenne (1577) ernstlich verwundet, und auf sein
Öchmerzenslager gebannt, dichtete er die ersten Gesänge seiner „Tragiques",
die jedenfalls das beste sind von allem, was er je geboten hat. Da ihm
das Schreiben schwer fiel, diktierte er sie, feilte auch später noch an
ihnen und dichtete die folgenden Gesänge während seiner Kriegsfahrten,
zu Pferd und in den Laufgräben. Die Vollendung der „Tragique" fällt
aber jedenfalls in viel spätere Zeit.
Nach dem Religionswechsel Heinrichs änderte sich d'Aubignes
Stellung zu ihm. Er sah sich ihm bald entfremdet, denn über dem
König stand ihm die Sache seiner Religion. Muß man sich auch hüten,
d'Aubigne moderne demokratische Ansichten unterzuschieben, so ist es
doch klar, daß er kein Anhänger der absoluten Monarchie war, wie sie
sich unter Heinrich IV. entwickelte. Bei den großen Versammlungen der
Hugenotten führte er eine schneidige Sprache und warnte vor allzu
großer Nachgiebigkeit und vertrauensseliger Schwäche. Man nannte ihn
1) Sa vie ä ses enfants, S. 62.
-) In der Vorrede zu seiner „Histoire universelle" spricht d'Aubigne von
dem Vermögen, das er im Jahr 1614 besaß. Er berechnet dabei seine Lände-
reien und sein bewegUches Besitztum auf 175 000 Livres. Er bezog ferner eine
Pension von 7- bis 800U Livres. Dazu kam noch sein Gehalt als „Marechal de
camp", und die Einkünfte, die er als Gouverneur zweier festen Plätze hatte.
80
einen Störenfried, obwol er eigentlich nur consequent geblieben war,
und die republikanische selbständige Organisation seiner Partei auch nach
dem Sieg Heinrichs aufrecht erhalten wissen wollte. Als es verlautete,
daß er an einer Geschichte seiner Zeit arbeite, ließ ihm der König den
Wunsch ausdrücken, er möge im Interesse des Friedens seine Arbeit
aufgeben. So mehrten sich die Mißhelligkeiten ; die Gemächer ia der
Bastille standen schon einmal zu d'Aubignes Empfang bereit, aber die
alten Freunde fanden sich doch immer wieder.') Kurz vor Heinrichs Er-
mordung war die Eede davon, d'Aubigne als Gesandten nach Deutsch-
land zu schicken.
Unter der Eegentschaft Marias wurde seine Opposition stärker.
Er galt bald als ein Haupt der Unzufriedenen, der im Vertrauen auf
zwei feste Plätze, die ihm überlassen worden waren, der königlichen
Regierung Trotz zu bieten wage. Er gab indessen diese beiden Sicher-
heitsplätze gegen eine Geldentschädigung auf, und zog sich in die Stille
zurück, um seinen Studien zu leben. Es lag ihm am Herzen, sein Ge-
schichtswerk zu vollenden, worauf er großen Wert legte. Es erschien in
drei Foliobänden in den Jahren 1616, 1618 und 1620, erregte aber
in hohen Kreisen großen Unwillen durch seine herbe Sprache und be-
sonders durch die Schilderung des sittenlosen Hofes unter den letzten
Valois. Ein Urteil des Parlaments verdammte das Werk, und es wurde
öffentlich von dem Henker verbrannt.
D'Aubigne selbst konnte nicht mehr in Frankreich bleiben; er
raffte von seinem Vermögen zusammen, soviel er konnte, und eilte,
von etwa 20 Vertrauten und Dienern begleitet, auf entlegenen Wegen
und unter Anwendung großer Vorsichtsmaßregeln der Schweizer Grenze
zu. Am 1. September 1620 langte er in Genf an, wo er feierlich em-
pfangen wurde und für die letzten zehn Jahre seines Lebens eine Zu-
flucht fand. Euhe war ihm freilich auch dort nicht beschieden. Die Stadt
war von ihren Feinden bedrängt und wendete sich in ihrer ISTot an ihn
um Rat und Beistand. So erweiterte er ihre Befestigungen, wobei es
ihm geschah, daß er in seinem Eifer die Steine einer früher zerstörten
Kirche zum Bau einer neuen Bastion verwendete und zum Dank dafür
von den strenggläubigen Calvinisten als Gottesfrevler zum Tod verurteilt
wurde. Es war das vierte Mal. daß ihn ein solcher Spruch traf, und
1) Sa vie ä ses enfants, \>. 76: „Apres uue grande ambrassade Aubigue
congedie retourna au Roy et lui dit: Sire, en regardant votre visage, il me
donne les anciennes hardiesses suivant lesquelles j'ose demander a mon Maistre
ce que l'ami demande ä l'ami; defaites trois boutoiis de votre estomac et me
dites pourquoy vous m'avez peu hayrV Le roy ayaiit pasly corame il faisait ä
tout ce qu'il prononfait d"affection,' dit: Vous avez trop aime La Tremouille.
Responce: Sire, c-este amitie s'est faiete a votre Service. Demande: Ouy, mais
quand je Tay hay, vous n'avez pas laisse de l'aimer. Responce: Sire, j'ai este
nourri aux pieds de vostre Majeste attacquee de tant d'ennemis et d'accidents
• [u'elle a eu besoing de serviteurs amateurs des affligez et qui n'abandonnassent
pas vostre service, mais redoublassent leur atfection au prix que vous estiex
aecablee par une puissance superieure; supportez de nous cest apprentissage de
vertu. II n'y eut d'autre re.sponce que l'ambrassade d'adieu." Ist dies Gespräch
nicht ebenso ehrenvoll für Heinrich wie für dAubigne?
81
wie früher, wußte er auch diesmal den bösen Schlag abzuwehren. Auch
die Herausgabe einer satirischen Schrift, der „Abenteuer des Barons
Faeneste", brachte ihm Unannehmlichkeiten und Vorwürfe von Seiten
seiner neuen Mitbürger, und führte ihn zu dem Entschluß, andere zur
Herausgabe bereite Arbeiten zurückzuhalten. Im übrigen stand er mit
den Protestanten in Frankreich. Deutschland und der Schweiz in reger
Verbindung, wie sein ausgedehnter Briefwechsel beweist.
In seiner Familie erfuhr d'Aubigne manches Leid. In früheren
Jahren hatte er sich mit Susanne de Lezay vermählt, aus welcher Ehe
ihm ein Sohn und mehrere Töchter erwuchsen. Constans, der Sohn, ge-
riet auf Abwege, führte ein ausschweifendes Leben, und trat endlich
zum Katholicismus über, wofür ihn sein Vater verstieß. Im Jahr 1623
verheiratete der greise d'Aubigne sich noch einmal, und zwar mit Frau
Eenee Burlamachi aus Genf. Auch hatte er einen natürlichen Sohn,
Nathan, der ihm an Strenge des Glaubens und an Festigkeit des Cha-
rakters ähnlich war, und den er in seinem Testament legitimierte. Er
starb zu Genf am 29. April 1630.
D'Aubignes Nachlaß war sehr reich. Mit demselben Eifer, mit
welchem er das Schwert geschwungen, hatte er auch die Feder geführt.
Allein er wollte nicht als Autor vom Fach gelten, so sehr ihm littera-
rischer Ruhm auch am Herzen lag; er glaubte vor allem seinen Cha-
rakter als Soldat und Staatsmann wahren zu müssen. Auch machte ihn
die unfreundliche Aufnahme, welche seine letzten Schriften gefunden
hatten, vorsichtig, und er hielt Weiteres zurück. In den Werken, die er
schon veröffentlicht hatte, erwähnt er gelegentlich mehrerer Manuskripte
als druckreif. Er spricht von Romanen, von Epigrammen und polemi-
schen Schriften, von ergötzlichen Privatbriefen, von anderen Briefen
über Fragen der Theologie, der Politik und des Kriegs, von einem Buch
voll urderber Komik,') sowie er auch seiner lyrischen Gedichte öfters ge-
denkt. Alles dies war noch ungedruckt, und er vermachte diese und viele
andere Papiere dem Pastor Theodor Tronchin, seinem Freund, mit der Bitte,
sie mit Nathan d'Aubigne zusammen zu prüfen und nach Gutdünken über
sie zu verfügen. „Ure, seca'", d. h. ., Verbrenne, streiche bei der Heraus-
igabe, soviel es Dir nötig erscheint", lautete des Sterbenden Wunsch.
Kaum war jedoch das Hinscheiden d'Aubignes bekannt geworden,
und bevor noch Tronchin die Manuskripte durchsehen konnte, erschien
von Staats wegen eine Kommission im Haus der Witwe, welche vorläufig
alle Papiere mit Beschlag belegte und sie einer strengen Durchsicht
unterwarf. Was Bezug auf Politik hatte , was den Herren bedenklich
erschien oder was einzelnen Männern hätte schaden können, wurde weg-
genommen.-)
1) D'Aubigne nennt das Buch TkyeXola, und scheint darin seiner kausti-
schen Laune die Zügel gelassen und — unbeschadet seines Hugenottenernstes
— in der Wiedergabe derbkomischer und etwas anstößiger Geschichtchen sich
ergötzt zu haben.
2) Lettre de Eenee d'Aubigne ä son gendre, Mr. Villette (mitgeteilt von
Laianne, dem Herausgeber der Memoiren, und nach ihm von den neuesten
Herausgebern, Bd. I, S. 16).
Lotheißen, Gesch. d. franz. I.itteratur. g
82
Dasselbe Spiel wiederholte sich drei Monate später. Was dabei
verloren ging, ist nicht mehr zu bestimmen. Aber auch Tronchin fand
nicht für gut, noch etwas herauszugeben. Eine große Zahl Manuskripte
hat sich jedoch im Besitz der noch heute bestehenden Genfer Familie
Tronchin erhalten, und so ist es in unseren Tagen zwei tüchtigen Ge-
lehrten möglich geworden, dieselben zu prüfen und mit ihrer Veröffent-
lichung zu beginnen.^)
Trotz dieser dankenswerten Arbeit bleiben die Werke, die d'Aubigne
selbst veröffentlicht hat, weitaus die bedeutendsten Zeugnisse seiner gei-
stigen Kraft. Was bis jetzt aus seinem Nachlaß erschienen ist, wird
kaum zur Erhöhung seines Euhms dienen, so interessant auch manches
für die Kenntnis der Sprache und des Geistes der damaligen Zeit
sein mag.
Sieht man von den lyrischen und epischen Versuchen ab, so findet
man d'Aubigne hauptsächlich auf zwei Gebieten thätig. Er war Ge-
schichtschreiber und Satiriker.
Als Geschichtschreiber gab er die Geschichte seiner Zeit und die
Beschreibung seines eigenen Lebens. Die einfache Darstellung geschicht-
licher Begebenheiten gelingt ihm w-eniger. Das erstgenannte Werk, die
allgemeine Geschichte seiner Zeit (1550 — 1601), ist zwar durch vielerlei
Mitteilungen von historischem Wert; doch ist sie in der Darstellung
ziemlich trocken und hart im Stil, obwol derselbe schon von modernem
Gefüge ist. Am besten gelungen sind ihm eine Reihe historischer Por-
träts und einige lebhaft geschilderte Scenen. Daß der Geist der Dar-
stellung parteiisch ist, versteht sich bei einem Parteimann wie d'Au-
bigne von selbst; seine Arbeit ist mehr eine Apologie der Hugenotten,
als eine Geschichte seiner Zeit.
Ähnlich ist es mit der Geschichte seines Lebens, die er für seine
Kinder niederschrieb. Sie ist ein wichtiges Dokument für die Kenntnis
der Zeit, besonders des Adels und seiner Sitten. Nirgends tritt das
sonderbare Gemisch von moralischer Versunkenheit und romantischem
Edelmut, von Opferfreudigkeit und Habgier, von sorglosem Übermut und
raffinierter Schlauheit, das den französischen Adel damals charakterisierte,
so deutlich zu Tage als in diesem Buch. Als historische Composition
betrachtet, ist es allerdings vielfach verworren, in seinen Angaben un-
zuverlässig und durch den Mangel jeglicher Gliederung ermüdend.
D'Aubigne ist hauptsächlich Satiriker, aber Satiriker von großem
Gepräge. Als solcher zeigt er sich vornehmlich in den „Tragiques*", in
den „Abenteuern des Barons Faeneste" und in der „Beichte des Herrn
von Sancy".
1) Oeuvres completes de Th. Agr. d'Aubigne publiees pour la premiere
fois d'apres les manuscrits originaux par Eng. ßeaume et F. de Caussade, Paris
1874, A. Lemerre. Bis jetzt ist nur der 1. und 3. Band erschienen, welche fol-
gende Werke enthalten: „Sa vie ä ses enfants", „Le livre des missives"', „Les
lettres", „Le printemps", „Poesies diverses", „La creation", ein episches Ge-
dicht in 15 Gesängen. In Aussicht gestellt ist u. a. ein allegorischer Roman.
83
Allen voran stehen die „Tragiques". Sie sind mehr als Satire. In
ihnen wird d'Aubigne zum Sänger des Vaterlands, dessen Unglück ihn
mit leidenschaftlicher Trauer erfüllt. Er begnügt sich nicht, wie Regnier,
mit der socialen und litterarischen Satire, obwohl er in seinem „Faeneste"
auch auf diesem Gebiet Bedeutendes leistet. Die „Tragiques'' bilden
einen Cyklus von sieben Gesängen, deren jeder 1200 bis 1700 Verse
enthält und den trostlosen Zustand des Landes enthüllt. Nicht mehr will
der Dichter wie früher das Feuer einer gewöhnlichen Liebschaft besingen,
er will von einem andern Feuer Kunde geben, von dem Brand, der
Frankreich zu verzehren droht.') Der erste Gesang, betitelt „Miseres",
beklagt zunächst den Euin seines teuren Vaterlands, und bezichtigt
laut die Könige, welche die Schuld daran trügen. Er schildert den
moralischen Verfall des Adels, das Elend des Volkes, die Greuel des
Bürgerkriegs, und kein Geschichtswerk vermag ein so ergreifendes Bild
von der entsetzlichen Lage Frankreichs zu geben, wie d'Aubigne in
diesem ersten Gesang.^) Wie anders war es in früheren Zeiten, wenn
die Könige ihre getreuen Städte besuchten ! Sie wurden mit Jubel empfangen
und brachten Freiheit und Wohlstand mit. Die Könige aus dem Haus
Valois dagegen bringen Zerstörung und Tod in jede Stadt, die ihr Fuß
betritt.^) Der zweite Gesang, „les Princes". enthält die furchtbarste An-
klage gegen die Valois, und drückt Karl IX. und Heinrich III. ein
Schandmal für alle Zeiten auf; die tiefe TJnsittlichkeit der hohen Kreise,
die widernatürlichen Lüste, denen sie fröhnen, sind in Bildern von
furchtbarer Schärfe gezeichnet. Diese beiden ersten Gesänge der „Tragiques"
gehören zu dem besten, was je satirische Kraft, patriotische Verzweiflung
und ein leidenschaftliches Dichtergemüt einem Mann eingegeben haben.
Sie entstanden, wie schon früher bemerkt, im Jahr 1577, während die
folgenden Gesänge erst später, in friedlicheren Zeiten, verfaßt wurden,
Daß d'Aubigne lange an ihnen arbeitete und viel an ihnen änderte, be-
weisen die Anspielungen auf spätere Vorfälle, die sich darin finden, auf
die Ermordung König Heinrichs III., die Belagerung von Paris, den Tod der
Königin Elisabeth von England (1603) u. a. m. Die letzten Gesänge be-
handeln die Verderbtheit des Eichterstands, die Leiden, Kämpfe und
Triumphe der Hugenotten, die Strafe, welche Gott über die verbrecherische
1) Les Tragiques, chant. I („les miseres"), v. 55 ff.
2) Vergl. z. B. I, 197 ff., I, 267 ff. und die dramatische Stelle fl, 371),
welche beginnt: ^J'ai vu le reistre noir" (le reistre, der Reiter, die über alles
gefürchteten deutschen Soldtruppen).
3) I, 562 und 580:
Jadis nos reis anciens, vrais peres et vrais rois,
Nourrissons de la France, en faisant quelquesfois
Le tour de leur pais ea diverses contrees,
Faisoient par les citez de süperbes entrees.
Nos tyrans aujourd'hui entrent d'une autre sorte
La viUe qui les voit a visage de morte:
Quand son princc la fouUe, il la void de tels yeux
Que Neron voioit Romra' en Tesclat de ses feux.
84
Eotte der Feinde verhängt, und schließt im siebenten Gesang mit dem
Gemälde des jüngsten Gerichts. Sind diese letzten Gesänge auch vielfach
schwächer, so erkennen wir doch in dem Ganzen ein Werk hoher poli-
tischer und historischer Bedeutung.
Es zieht sich ein großer Gedanke durch die .,Tragiques''. So
leidenschaftlich sich d'Aubigne sonst geberden mag, hier predigt er
Toleranz, und vergleicht die zwei sich zerfleischenden Parteien mit
zwei Brüdern, die ihre leibliche Mutter verderben. Venn schon Juvenal
sagt, daß der Unwille zum Dichter machen kann, so gilt dies gewiß
auch von d'Aubigne. So oft sein Gemüt erregt ist, so oft seine flam-
mende Leidenschaft zu Tage tritt, so oft findet er eine hinreißende
Gewalt der Sprache, eine Sprache, die Corneille sicherlich studiert hat,
und die ihn jene heroische Schönheit des Ausdrucks finden lehrte, in der
er Meister ist. D'Aubignes Kraft wächst mit der Größe seiner Aufgabe
und der finsteren Gewalt seines Gegenstands. So erinnert er vielfach an
den furchtbaren Satiriker der römischen Kaiserzeit. Nur ist Juvenal, als
der späte Nachfolger einer langen Reihe klassischer Dichter, künstlerisch
gefeilt, während d'Aubignes Stil ungleich und sein Geschmack oft zweifel-
haft ist. Dafür ist sein Horizont weiter und seine Empfindung wärmer.')
Die „Beichte des Herrn von Sancy" ist mehr Pamphlet als Satire.
De Sancy war einer der vielen Edelleute, welche, ihres Königs Beispiel
folgend, zur katholischen Kirche zurücktraten. Diesen Abtrünnigen aber
widmete d'Aubigne einen besonderen Haß, und von diesem Gefühl be-
seelt, zeichnete er in der genannten Schrift vom Hof Heinrichs HL und
der ganzen damals tonangebenden Gesellschaft ein Bild, welches schon
zur Karikatur wird.
Höchst originell sind auch die „Abenteuer des Barons von Paeneste".
D'Aubigne schrieb das Buch in Genf, als er schon ein Sechziger war,
und fand offenbar Freude daran, sich in die alten Zeiten zurückzuver-
setzen, in welchen er noch seine volle Frische und Kraft besaß. Sein
wildes Leben am Hof Heinrichs HL an der Seite des Bearners und des
Herzogs von Guise stieg in seiner Erinnerung vor ihm auf. Er hatte
sich damals trotz allen Leichtsinns scharf umgesehen, hatte die Arm-
seligkeit jener Welt erkannt, und sich endlich mit gesteigerter Ver-
achtung von ihr abgewandt. Das hinderte ihn nicht, über manche seiner
damaligen Erlebnisse noch in späten Jahren zu schmunzeln. In dem
„Baron Paeneste" gab er ein satirisches Bild des französischen Hofes
unter Ludwig XHL, in welches er jedoch viele lustige Züge und Ge-
schichtchen aus der früheren Zeit einflocht. So mischen sich satirische
Ausfälle, grobe Schwanke und treffende Charakterschilderungen in diesem
1) Die „Tragiques" erschienen im Druck zum erstenmal im Jahr 1616.
D'Aubigne hatte lange gezögert, sie zu veröffentlichen, obwohl sie zum Teil
schon in Abschriften cirkulierten. Er entschloß sich endlich zur Herausgabe,
vielleicht um seine Glaubensgenossen zum Widerstand zu ermutigen, indem er
sie an die Ausdauer ihrer Väter erinnerte. So schwer wurde ihm der Entschluß,
daß er diese erste Ausgabe als gegen seinen Willen veranstaltet erklärte. Er
läßt in der Vorrede seinen Diener sprechen, der sich rühmt, das Manuskript
entwendet zu haben.
85
Werk, von welchem Merimee mit Recht sagt, daß es trotz der Bitter-
keit, die es charakterisiert, vor allen Werken seiner Zeit die Traditionen
des alten gallischen Humors am besten bewahrt habe.^)
Diese „Abenteuer" sind in einer Reihe von Gesprächen mitgeteilt.
Der Baron von Faeneste ist einer jener windigen, geldbedürftigen,
schmarotzenden Junker, wie sie nach den Religionskriegen so häufig zu
sehen waren. Feig und doch prahlerisch, erinnern sie an den „Capitan"
der italienischen Stegreif komödie. Ihr Hauptgedanke ist, za renommieren ;
sie wollen groß thun, vornehm erscheinen, für tapfer gelten. Der Schein
ist ihnen alles, daher auch der Name des Barons.''*) Von dem kurzen
Feldzug des Herzogs von Epernon gegen die Stadt La Rochelle (1016)
heimkehrend, trifft der Baron in der Nähe von Nyort den hugenottischen
Edelmann Enay. Der Name dieses letzteren bezeichnet gleichfalls seinen
Charakter, der nur auf das Wesen der Sache Gewicht legt.^) Die beiden
Herren geraten in ein Gespräch, das die verschiedensten Verhältnisse
berührt und den Sinn eines jeden alsbald erkennen läßt. Faeneste teilt
dem andern die besten Mittel mit, sich geltend zu machen; er erzählt
ihm, wie man sich kleiden müsse, wenn man als zum Hof gehörig be-
trachtet werden wolle; wie man ferner den Mund voll nehmen, über
Duelle und Frauen schwatzen, den Kopf bewegen, mit den Armen fechten,
tänzeln und Bart und Haare öfters vor den Leuten kämmen müsse,
wenn man seine Rolle als Höfling und Modeherr durchführen wolle. Eine
weitere Kunst sei es, eine Einladung zum Mittagessen zu gewinnen, oder
im Fall dieser Anschlag mißlinge, den Hunger zu verbergen und in den
Zähnen stochernd spazieren zu gehen, gleich als habe man vorzüglich
gespeist. Nur den Schein wahren I Lieber für sein letztes Geld einen
Spitzenkragen kaufen, auch wenn das Hemd auf dem Leib in Stücke zer-
fällt, als bürgerlich zu erscheinen. Ein Hemd findet man immer leicht,
und sollte man es auch im Vorbeireiten einer Wäscherin entwenden.
Darum tadelt es auch Faeneste, daß Enay sein Haus nicht einen Palast,
seinen Garten nicht einen Park, seine Hunde nicht eine Meute nennen
will. Im Verlauf der Unterhaltung berichtet der Baron von seinen Kriegs-
zügen, auf welchen er sich durch Heldenmut auszeichnete, gleich Falstaff,
obwol er immer Unglück hatte und zu schleuniger, oft tragikomischer
Flucht genötigt wurde. Allmählich werden wir immer tiefer in die Ge-
heimnisse des abenteuernden Barons eingeweiht. Als echter Landstreicher
steht er im Bund mit seinen Dienern. Bald überfallen sie einen allein-
stehenden Pachthof als Quartiermacher für Truppen, die folgen sollen,
aber gar nicht existieren ; bald wissen sie sich in einem Schloß einen
guten Tag zu machen, und nehmen beim Abschied mit, was ihnen unter die
Hände kommt. In Paris werden andere Künste angewandt. Dann sind
Faenestes Diener mit Spitzbuben und Gaunern im Bund, oder sie treiben
1) „Les aventures du Baron de Faeneste par Th. A. d'Aubigne". Nou-
velle edition revue et annotee par M. Prosper Merimee. Paris 1855, P. Jannet
(Bibliotheque Elzevirienne).
2) Von dem giiechisehen Zeitwort cpaCvsad-ai, scheinen.
3) Vom griechischen Zeitwort slvcci., sein.
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sich vor dem Lou vre herum, spielen mit falschen Würfeln, und von allem,
was sie gewinnen, erhält der Baron seinen „Admiralsanteil". Kann er
aber sein Gewerbe nicht auf eigene Faust betreiben, so schließt er sich
einem großen Herrn als dienstwilliger Kitter an, erhält von diesem
Wohnung und Nahrung, und hilft ihm zu „scheinen", indem er sein
Gefolge vergrößert.
Es ist die herrenlose, die böse Zeit, die in solchen Menschen noch
nachträglich einige giftige Blüten treibt. D'Aubigne geißelt hier jene
Klasse unruhiger, habsüchtiger Menschen, die vorzugsweise in Zeiten
nationaler Zerrüttung gedeihen, und noch lange nach der Wiederherstel-
lung der Ordnung ihren schlimmen Einfluß geltend machen. Obwol die
Satire also tiefen Ernst birgt, ist sie doch mit einer Fülle drastischen
Humors ausgestattet. D'Aubigne zeigt in einer Reihe von Charakter-
bildern große komische Kraft und Beobachtungsgabe. Die Gespräche
zwischen Faeneste, Enay und einigen anderen Personen lassen eine
ganze Welt vor den Augen des Lesers erstehen.
Das Buch, dessen einzelne Teile nach langen Zwischenräumen er-
schienen, ^) ist zum großen Teil im Gascogner Dialekt geschrieben, denn
Faeneste stammt aus der Gascogne und redet seine heimische Sprache.
Enay dagegen spricht rein und gut. Sein Stil zeigt Reichtum und
Frische des Ausdrucks, und neben der Beweglichkeit der älteren Sprache
auch schon eine gewisse Regelmäßigkeit. Daß unter Faeneste der Herzog
von Epernon, unter Enay der edle Mornay-Duplessis gemeint sei, ist
vielfach behauptet worden, aber gewiß mit Unrecht. Beide Charaktere
sind keine Porträts bestimmter Persönlichkeiten, sondern Typen zweier
Klassen von Menschen. Man könnte versucht sein, zu glauben, daß
d'Aubigne in dem Baron Faeneste das Gegenbild des edlen Ritters von
La Mancha habe geben wollen, wenn er nicht geradezu einen Baron
Calopse als Seitenstück Don Quixotes eingeführt hätte.-) Dieser will im
Land umherziehen, die Ehre der Vornehmen wieder aufrichten, und den
kleinen Adel zu seiner Pflicht zurückführen, hat aber auf seinem Kreuz-
zug viel Ungemach zu erdulden. Die Geschichte des Barons Calopse ist
in „Faeneste" nur eine Episode. D'Aubigne verspricht aber an ihrem
Schlüsse den Reformator als Helden eines andern Romans bekannter
zu machen, und ist tiberzeugt, daß dieses neue Werk gefallen werde,
da es Geschichten enthalte, die den Schlaf vertreiben. Leider ist das
Manuskript dieser offenbar auch satirischen Erzählung verloren gegangen,
wie so vieles andere.
1) Das 1. und 2. Buch erschien 1617, das 3. 1619, das 4. 1620.
-) Faeneste, Buch III, Kap. 21. Sollte der allegorische Roman, den die
neuesten Herausgeber in den Papieren gefunden haben und veröffentlichen wollen,
die Geschichte des Barons Calopse enthalten '?
Bibliographie. Außer den in den Noten schon angeführten Werken sind
hauptsächlich noch zu nennen die Ausgabe der „Tragiques" von L. Laianne
(Bibl. Elzevirienne): Sayous, Etudes litteraires sur les ecrivains de la Reforma-
mation, Geneve 1842; Saint-Beuve, Causeries du lundi, X. Teil; Paul de Saint-
Yictor, Hommes et Dieux, Paris 1867.
V.
D'Urfe und der Schäferroman.
Mannigfaltig und in schroffstem Gegensatz zu einander erscheinen
uns die Richtungen des Geschmacks, die in den ersten Jahrzehnten des
neuen Jahrhunderts gleichzeitig zur Geltung kamen. Malherbe fußt nicht
auf demselben Boden wie Regnier, und wiederum sind die Anschauungen
dieser beiden Männer anders geartet als diejenigen d'Aubignes. Nur in
einem Punkt stimmen sie überein. Wie die nationale Monarchie Hein-
richs IV. sich von der spanischen Bevormundung befreit, so sind auch
jene Dichter, soweit es damals überhaupt möglich war, national und
fremdem Einfluß mehr oder weniger unzugänglich. Sie zeigen sich be-
sonders dem italienischen Geschmack gegenüber selbständig. Dieser ge-
wann dafür um so größere Macht an anderer Stelle. Die geselligen
Formen bildeten sich vorzugsweise nach italienischem Vorbild aus, und
infolge dieser Umwandlung erlitt auch die Unterhaltungslitteratur, zu-
nächst der Roman, eine gründliche Umgestaltung.
Romane sind zwar als Gebilde der Phantasie an sich von keinem
historischen Wert; allein sie bergen in sich doch manches merkwürdige
Geheimnis, das über die Geschichte ihrer Zeit Aufschluß geben kann.
Wenn wir es verstehen, den Bann zu brechen, der auf den alten, heute
oft kaum genießbaren Erzählungen ruht, dann sehen wir ihnen eigen-
tümliche Schatten entsteigen, die sich zu lebensvollen Körpern mit Blut
und Farbe verdichten. Sie zaubern uns in Zeiten zurück, die einst waren
und uns fremd geworden sind. Was uns eben noch tot und starr er-
schien, belebt sich; wir erkennen nun, was die Menschen früherer Jahr-
hunderte bewegte, ihre Denkweise, ihre Sehnsucht, ihre Ideale. Ist doch
der Roman immer ein getreues Abbild der jeweilig herrschenden Stim-
mung in den tonangebenden Kreisen, und die Helden der Dichtung, an
welchen sich eine Zeit erfreut, erlauben immer einen Rückschluß auf
diese Zeit selbst.
Die Freude an solchen Schöpfungen der Phantasie, an Helden
und Heldinnen im Roman, ist der armen Menschheit tief eingeprägt. Je
drückender der Mensch das Elend seines eigenen Lebens empfindet, um-
somehr freut es ihn, sich mit Hilfe der Einbildungskraft auf Augen-
blicke in eine schönere Welt zu versetzen. Dies ist mit ein Grund,
warum die Romane oft so großen Erfolg haben. In Epochen gesunden,
thatkräftigen Volkslebens wird ein Roman nie zu einem so bedeutungs-
vollen Ereignis werden, wie in einer Zeit unzufriedenen Sinns und ge-
hemmten Strebens. In den Helden des Romans findet das Publikum
leicht eine geheime geistige Verwandtschaft; es spiegelt sich in ihnen,
und freut sich, wenn diese siegreich durchführen, was es selbst im
stillen Kämmerlein nur geträumt, vielleicht nur zagend geahnt hat.
Jedes Jahrhundert, ja jede Generation bildet sich ein eigenes
Heldenideal, wie uns die Romane beweisen. Bis zur Mitte des 16. Jahr-
hunderts ergötzte man sich mit Vorliebe an den romantisch-abenteuer-
lichen Erzählungen des Mittelalters. Der Sagenkreis Karls des Großen
und der Tafelrunde, die Ritter- und Abenteuerromane bildeten noch immer
die Lieblingslektüre der höheren Gesellschaft. Unter den letzteren stand
obenan der berühmte Roman von „Amadis von Gallien", dem edlen
„ Löwenritter " oder dem ,,Beau tenebreux", wie er nach seinem Leben
in der Einöde auch genannt wurde. Karl VHI. und Franz L von
Frankreich fühlten in sich etwas von dem Wesen der kühnen Paladine.
Sie sehnten sich nach dem Ruhm eines ritterlichen Fürsten, und suchten
nach einem Schauplatz glänzender Thaten. Italien schien ihnen den-
selben zu bieten, und ihre Kriegszüge über die Alpen erhöhten diesen
romantischen Zug und verbreiteten ihn in immer weitere Kreise des
französischen Adels. Ein Jahr nach der Thronbesteigung Franz I. (1515)
veröffentlichte Ariost seinen „Rasenden Roland", und entzückte mit seiner
heiteren Ritter- und Fabelwelt nicht allein Italien, sondern auch Frank-
reich. Denn die italienische Sprache war auch hier heimisch geworden,
und Ariost war so recht der Sänger der kunstfröhlichen, genußliebenden,
glänzenden Welt, welche damals blühte.
Um die Mitte des Jahrhunderts aber begann in Spanien wie in
Italien eine starke Reaktion gegen diesen romantischen Geist. Beide
Länder standen in enger geistiger Verbindung, beide erfreuten sich einer
hohen Kultur . und die Unwahrscheinlichkeiten und Übertreibungen der
alten Erzählungen konnten ihrem verfeinerten Geschmack nicht mehr
behagen. Die elegante Gesellschaft verlangte ausgesuchte Kost, ein
gefälliges Spiel des Geistes, das gerade genug Witz und poetischen In-
halt hatte, um zu unterhalten, ohne durch große Anforderungen zu er-
müden. So trat die Pastoraldichtung an die Stelle des Ritterromans.
Schon früher hatte Boccaccios „Ameto" die Weise der antiken Eklogen
nachgeahmt, und eine Reihe Idyllen halb in Prosa, halb in Versen ge-
geben. Xach ihm hatte der Neapolitaner Sannazavo mit seiner „Arkadia"
den Geschmack an dem idealisierten Schäferleben gefördert (1502). Doch
auch diese Dichtung war nur eine Sammlung Eklogen, kein zusammen-
hängendes Ganzes. Mit der Zeit fand diese Schäferpoesie großen An-
klang, und um die Mitte des Jahrhunderts bemächtigte sich ihrer die
Mode. An den vielen kleinen Höfen und auf den Schlössern der Vor-
nehmen spielte man idyllische Scenen mit dem möglichsten Aufwand
von Witz und Eleganz. Je schwerer der politische Druck auf den Ländern
lastete, desto mehr begünstigte man solches Leben, das trotz allen
Haschens nach Geist gerade den echten Geist zu ertöten drohte. Die
Schäferwelt, die seitdem in den Pastoralen auftrat, trug zwar den Schäfer-
89
stab und sprach von Unschuld und Natur, aber man wußte, daß sich
unter dieser Maske eine ganz andere, frivole Welt verbarg. In seinem
„Amintas" schilderte Tasso den Hof von Ferrara; sein „Tirsis", seine
„Silvia" blieben auch im Hirtengewand geistreich und beredt, Glieder
jener feinen Gesellschaft, welche die Estes um sich versammelten. Guarini
überbot die Dichtung Tassos durch sein Pastoraldrama vom „treuen
Schäfer", worin er aus den arkadischen Hirten Schöngeister und elegante
Reimschmiede machte, aber dafür den ungeteilten Beifall und die höchste
Bewunderung seiner Zeitgenossen erntete.^)
In Spanien aber begründete Georg von Montemayor den eigent-
lichen Schäferronian. In der Nähe von Coimbra in Portugal geboren,
lebte er als Dichter am Hof König Philipps IL, wo er im Jahr 1562
starb. Zwei Jahre zuvor hatte er seinen Koman „Diana" herausgegeben,
der eine neue Gattung in der Erzählungslitteratur begründen sollte.
Montemayor verlegt seine Geschichte an den Fuß der Berge von
Leon, in das Thal, welches der Eslafluß durchströmt. Soweit hält er
sich an die. reale Welt, erlaubt sich aber dann, in der sonderbarsten
Weise alte und neue Zeit zu mischen. Seine Menschen leben in der
alten Mythologie und sind gute Christen; sie rufen Venus und Minerva
an, und beten zu den Heiligen. Der Inhalt des Romans ist kurz folgender.
Diana ist die schönste aller Nymphen ihres Thals und durch die Liebe
des Schäfers Sereno beglückt. Dieser aber sieht sich eines Tags ge-
zwungen, seine Heimat zu verlassen, und als er wiederkehrt, findet
er seine Geliebte in den Armen eines andern, den sie, von ihrem Vater
gezwungen, geheiratet hat. Sereno irrt nun trauernd umher, findet den
früher von Diana abgewiesenen Sylvanus, und das gleiche Liebesleid
macht sie zu Freunden. Eine trostlose Schäferin gesellt sich zu ihnen,
und die drei Unglücklichen treffen sich alltäglich in einem einsamen
Thal, um sich gegenseitig ihren Liebeskummer vorzutragen. Drei Nymphen,
die dem Dienst der Göttin Diana geweiht sind, treffen sie eines Tags
in ihrer Zurückgezogenheit und nehmen sie mit, um sie zu ihrem Tempel
zu führen. Unterwegs finden sie einen See, darin eine Insel, und auf
der Insel eine feine Schäferin in tiefem Schlaf. Es ist Beiisa, eine Ver-
lassene, deren strömende Thränen den See um sie her gebildet haben.
Auch sie muß sich dem Zug anschließen. Im Tempel der Diana au-
gekommen, läßt die Oberpriesterin Sereno, Sylvanus und Sylvana einen
Zaubertrank nehmen, welcher alle drei in tiefen Schlaf versenkt. Als sie
wieder erwachen, ist Sereno von seiner Neigung zu Diana befreit, Syl-
1) Im dritten Akt des „Pastor Fido" wird z. B. von einem Wettstreit
der Nymphen berichtet, welche von ihnen am besten küssen könne. Die schöne
Amarillis soll entscheiden und läßt sich von jeder Nymphe küssen. Unter den-
selben befindet sich auch Mirtillo im Gewand seiner Schwester. Amarillis er-
klärt den Kuß dieses vermeintlichen Mädchens für den süßesten. Mirtillo ist
aber seitdem liebeskrank. Wie weit sich dieser italienische Geschmack ver-
breitete, zeigt die „Arcadia" des Sidney in England, die „Daphne" des Opitz
und die vielen Akademien und Gesellschaften, wie die der „Pegnitzschäfer" in
Deutschland.
90
vanus und Sylvana aber in leidenschaftlicher Liebe zu einander entflammt.
Diese Episode erinnert an eine Scene in Shakespeares „Sommernachts-
traum", in welcher ein Zaubersaft ebenfalls alle möglichen Verwirrungen
und Liebeswunder erzielt, und die dem Dichter vielleicht von Monte-
mayors Eoman, wenn auch nur mittelbar eingegeben worden ist. Auch.
Beiina findet ihren Geliebten wieder, und zwei Heiraten schließen den
ersten Teil (acht Bücher). Der Tod verhinderte Montemayor an der
Fortsetzung, aber andere wagten sich an die schwere Arbeit und brachten
auch Sereno noch zum Ziele, nachdem sie zuvor Dianas Gatten hatten
sterben lassen.^) Der Gang der Erzählung in ..Diana" ist jedoch nicht
so einfach, als er hier angegeben ist. Wie in den Märchen der „Tausend
und eine Nacht" sich Geschichte in Geschichte schlingt, so auch hier.
Eine jede Person , die auftritt , muß ihre Lebensgeschichte mitteilen,
und so reiht sich Novelle an Novelle . bis sich schließlich die Helden
aller dieser Erzählungen zusammenfinden und die Einheit des Komans
gewahrt wird. „Diana" wurde überaus populär und fand in Spanien,
wie in anderen Ländern eine Menge von Nachahmungen.
So war der Geschmack an den ßitterromanen schon bedeutend ge-
schwächt, als Cervantes mit seinem unsterblichen Don Quixote auftrat
(1605 — 1615). Der Streich, den er gegen die heldenhaften Landstreicher
führte, war vernichtend, und sie verschwanden seitdem aus der Dichtung.
Nur die Posse bemächtigte sich ihrer und schuf sie in feige Maulhelden
um, wie sie die damalige Zeit in den entlassenen, ohne Dienst sich,
umhertreibenden Kriegsleuten nur zu häufig sah.
Auch in Frankreich konnte diese Wandlung des Geschmacks nicht
ausbleiben; ja die inneren Verhältnisse beschleunigten den Prozess.
Wenn ein Land so furchtbare Zeiten durchlebt hat, wie Frankreich
in dem Kampf der Ligue, wenn es die Verwüstungen und Greuel des
Bürgerkriegs in ihrer entsetzlichen Wirklichkeit lange Jahre hindurch
hat kennen lernen, dann kann es an ßitterromanen keinen Gefallen
mehr finden. Es wendet sich von den Helden ab, die gegen Ungeheuer
ausziehen und schöne Prinzessinnen befreien. Es hat Gewaltigeres erlebt,
und sehnt sich nach anderen, friedlicheren Bildern. Aus der Sphäre des
Kampfes und der Unruhe steigt der Eoman in die Welt der Frömmigkeit
und der Idylle.
Pierre Camus, geboren 1582 zu Paris, Bischof von Bellay im
französischen Jura, schuf damals den frommen Roman. Seine Absicht
war, die sittenlose Welt durch seine Geschichten zu bekehren. Er ver-
öffentlichte gegen 200 Bände Erzählungen, in welchen die Sonderbarkeit
des Inhalts mit der Seltsamkeit des Stils wetteifert. In seinen Eomanen
finden sich allerdings auch Liebesgeschichten und allerlei Verwick-
lungen, aber er verschmäht es, sie auf die gewöhnliche Weise, sei es
durch eine glückliche Vereinigung der Liebenden, sei es durch ein tragi-
1) Eine Fortsetzung von Alonso Perez erschien in acht Büchern 1564,
und eine andere von Gil. Polo, welche Cervantes besonders rühmte, im Jahr
1574. A'ergl. Dunlop, History of fiction, Bd. 3, chap. XI.
91
sches Ende, zu lösen ; er findet häufig einen besseren und erhebenderen
Ausweg in dem Mittel einer frommen Bekehrung. Trotz ihrer Langweile
und des mystischen Charakters, den sie manchmal annehmen, fanden
diese Erzählungen des frommen Bischofs viele eifrige Leser. Sie waren
auf ein nicht sehr wählerisches Publikum berechnet, erlaubten sich mit-
unter derbe Possenreißereien und gefielen dadurch nur umsomehr. Man
nannte Camus gelegentlich den geistlichen „Lucian", weil er selbst von
der Kanzel herab seine derben Witzworte schleuderte. Jedenfalls war er
ein Lucian ohne lucianischen Geist und Geschmack.') Mit demselben
Eifer, mit welchem er die Sittenlosigkeit seiner christlichen Mitbürger
bekämpfte, erhob er sich auch in vielen Schriften und Predigten gegen
die Verderbtbeit der Mönche. Am Abend seines Lebens zog er sich in
ein Hospital zu Paris zurück, um sich dort den Kranken zu widmen,
und starb daselbst im Jahr 1653.
Es ist begreiflich, daß die Romane des Camus, der das fehlende
Talent durch guten Willen ersetzen zu können glaubte, rasch vergessen
wurden. Dagegen erlangte Honore d'Urfe mit seiner „Asträa" einen
Weltruhm, da er den Geschmack der Zeit für die Idylle erkannte, und
ihm durch sein Werk vollends zum Sieg verhalf.
Indem er vor dem Geist seiner Leser eine ideale Schäferwelt er-
stehen ließ, hob er sie über das Elend der haßerfüllten Wirklichkeit
hinaus und rettete sie in eine Welt, die sie für glücklicher und edler
hielten, eine Welt, in der man allein wahrhaftes Gefühl und echte Liebe
zu finden glaubte.
Die „Asträa" ist der wichtigste Zeuge für den Sinnes- und Ge-
schmackswechsel, der sich um jene Zeit in Frankreich vollzog. Ihr Ver-
fasser, Honore d'Urfe, stammte aus einer alten Familie, welche ihre
Herkunft von einem bayrischen Edlen, namens Wulf, ableitete. Ein
Nachkomme dieses Wulf lebte im Anfang des 12. Jahrhunderts am Hof
Ludwigs des Dicken und heiratete die Tochter des mächtigen Grafen von
Porez. Le Forez war eine unabhängige Grafschaft, westlich von der
Rhone, unweit Lyon, die erst im Jahr 1523 in den Besitz der franzö-
sischen Krone gelangte. (Heute Departement de la Loire.) Wulf soll dort
das Schloß d'Urfe oder, wie es früher hieß, d'Ulphe gebaut haben. Die
erste aktenmäßige Erwähnung des Namens fällt ins Jahr 1173; seit
jener Zeit aber wird er öfter genannt. Die Familie gehörte zu den ein-
flußreichsten Geschlechtern des Landes. Zur Zeit Ludwigs XL änderte sie
1) Tallemant des Eeaux erzählt, Camus habe nur eine Nacht gebraucht,
um eine kleine Erzählung niederzuschreiben. Einer seiner Romane, „Palombe
QU la femme honorable", der ausnahmsweise nicht mit dem Kloster endigt, ist
im Jahr 1853 neu herausgegeben worden (mit einer Einleitung von M. H. Ri-
gault). Vergl. Saint-Marc Girardin, Cours de litterature dramatique, tome IV,
p. 336. Saint-Beuve. Port-Royal, I, 242. Auch die „Menagiana" enthalten viele
Anekdoten über ihn. Was auf der Kanzel damals erlaubt war, zeigt der Witz,
den er in einer Predigt vor den Reichsständen machte. Bald würde man in
Frankreich, rief er aus, auch Pferde ins Parlament bringen, wie einst die römi-
schen Kaiser sie in den Senat gebracht hätten. „Warum auch nicht? Esel sind
ja schon genug darin,"
92
definitiv ihren Xatnen in Urfe um. Ein Claude d'ürfe, der als Erzieher
Franz' I. genannt wird, baute, von Italien heimkehrend, eines seiner
Schlösser, La Bätie, in italienischem Geschmack um, und siedelte dahin
über. La Bätie galt später als das Stammschloß der Familie, und ist
aach heute noch, wenn auch in sehr vernachlässigtem Zustand, erhalten.
Dort, in La Bätie, wurde auch Honore d'ürfe im Jahr 1567
geboren. Er war der Enkel des oben erwähnten Claude, der fünfte Sohn
von Jacques d'ürfe aus dessen Ehe mit einer Gräfin Tenda. In den
Eeligionskriegen ein eifriger Anhänger der Ligue, hielt er im Kampf
gegen Heinrich IV. bis zuletzt aus. Xach dem Frieden zog er sich an
den Hof des Herzogs von Savoyen zurück, mit dem er durch seine Mutter
verwandt war. Neben den politischen Rücksichten sah er sich auch durch
mächtige persönliche Gründe bewogen, in die Fremde zu gehen. In früher
Jugend hatte er seine Geliebte, Diana von Chateaumorand. verloren. Von
einer Reise nach Malta zurückkehrend, fand er sie als Gattin seines
älteren Bruders. Der Papst bewilligte aber nach einiger Zeit die Scheidung
des Paars und gestattete, daß Honore seine Schwägerin heiratete. Doch
fand sich dieser für seine Treue und Ausdauer schlecht belohnt; seine
Ehe war unglücklich, und darin lag ein Hauptgrund, warum er seine
Heimat mied. Er suchte nun sein Glück in der Dichtung; was ihm die
"S^'irklichkeit nicht geboten hatte, sollte ihm die Phantasie gewähren. So
begann er seinen Roman während seines Aufenthalts in Savoyen. Später
kehrte er nach Frankreich zurück und lebte meist auf seinen Gütern,
bis er im Jahr 1625 zu Villefranche in Piemont starb, ohne Nach-
kommenschaft zu hinterlassen. Die Familie starb überhaupt aus, denn
obwohl ein Bruder Honores sechs Söhne hatte, vererbte keiner derselben
seinen Xamen.
Seinen Roman „Asträa" brachte d'ürfe nur mit langen Unter-
brechungen zu Ende. Er widmete den ersten Teil dem von ihm früher
so heftig bekämpften König Heinrich IV. ^) Das ist bezeichnend. Alle
Parteien beugten sich vor dem Königtum , denn alle waren einig im
Bedürfnis nach Ruhe.
D'ürfe hat seine Erzählung in seine Heimat verlegt. Die Gegend
um La Bätie ist das gesegnete Land des idyllischen Friedens. Dort, in
der Landschaft Forez, besteht in mythischer Zeit — halb Völkerwan-
derung, halb Ritterepoche — ein staatliches Gemeinwesen, an dessen
Spitze Nymphen und Druiden stehen. Sie alle sind edlen Geschlechts.
Tapferen Rittern liegt die Verteidigung des Landes gegen die Feinde ob,
denn Barbarenhorden drohen mit Einbruch und Verwüstung. An der
Spitze des Staats steht die Königin Amasis, die einen wahren Liebeshof
um sich gebildet hat. Die Ritter wetteifern miteinander, wer der Geliebten
M Der erste Band erschien im Jahr 1610, der zweite 1616, der dritte
1620. Der vierte Band befand sich bei d'Urfes Tod als Manuskript im Besitz
des Herzogs von Savoyen und wurde erst im Jahr 16-2 7 gedruckt. Manche be-
zweifeln, daß er von d'ürfe ist. Das ganze Werk erschien in fünf Bänden zu
Kouen 1647. Spätere Ausgaben erlaubten sich beträchtliche Kürzungen der darin
enthaltenen Reden und Unterhaltungen.
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die treuesten Dienste erweisen kann, sie machen Gedichte, selbst Madri-
gale auf die Haarnadel ihrer Schönen, ') und wissen aus Liebesgram
zu sterben. Sie kennen aber auch Kämpfe und Kampfspiele, Eifersucht,
die Kunst der Intrigue und was sonst noch die verfeinerte Civilisation
mit sich bringt. Eine Reihe schöner Damen glänzt in dieser heiteren
Welt, aber alle überstrahlt an Schönheit und Geist die Tochter der
Königin, die Prinzessin Galatea.
So anziehend jedoch die Nymphen- und Ritterwelt sein mag, sie
bildet doch nicht das Hauptinteresse des Romans. In einem entlegenen
Thal des Landes^ an den Ufern des lieblichen Lignon, wohnt fern von
allem Weltgetümmel, unbehelligt und nur sich selbst, ein edles Völk-
chen von Schäfern. Sie sind die eigentlichen Helden des Werks. In
ihnen verkörpert sich gewissermaßen das Ideal der ruhebedürftigen Zeit.
Die einzige Pflicht dieser Leute besteht darin, täglich, mit dem Schäfer-
stab bewaffnet, ihre Herden auf die Weide zu treiben ; ihre einzige Sorge
ist, in dem Schatten eines Baums gelagert, den langen Tag mit galanten
Plaudereien zu verbringen.-) Die Schäfer des Lignon kennen als höchste
und heiligste, ja als einzige Pflicht den Gehorsam gegen die Gebote
der Liebe. Natürlichkeit und naive Unschuld sollen sich in diesen Schäfern
mit Witz und feiner Geistesbildung verbinden. Diese Eigenschaften hatten
schon die italienischen Pastoraldramen ihren Personen zu geben getrachtet
und waren gescheitert. Auch die höfische Welt, in welcher Honore d'Urfe
lebte, hatte vergessen, was Natur ist, und sie nahm gespreiztes Wesen
und Künstelei dafür. Eine Schäferin muß sich erzürnt stellen, wenn man
ihr von Liebe spricht. Celadon, der Name des Helden in „Asträa", ist
sprichwörtlich geworden zur Bezeichnung eines schmachtenden, uner-
schütterlich treuen, im Grunde höchst armseligen Liebhabers. Der Begriff
echter Männlichkeit war verloren gegangen.
Asträa, eine schöne, edle Schäferin, hält den Schäfer Celadon. ihren
Geliebten, für treulos, und verbannt ihn, ohne seine Verteidigung zu
hören, aus ihren Augen. Dieser hatte nichts Eiligeres zu thun, als in die
Fluten des Lignon zu springen. Doch die Götter wollen nicht sein Ver-
derben; die Wellen treiben den Körper des bewußtlosen Jünglings tiefer
unten an das Ufer, wo sich Prinzessin Galatea ergeht. Diese läßt
Celadon in ihr Schloß bringen und versucht auf alle Weise seine Liebe
zu gewinnen. Sie denkt damit einen Zeitvertreib für ein paar einsame
Tage zu finden, allein der Schäfer bleibt standhaft, und da er sich immer
mehr bedrängt fühlt, benutzt er einen günstigen Augenblick und ent-
flieht. Da er aber nicht mehr vor Asträas Augen treten darf, zieht er
sich als Einsiedler in eine unbetretene Gegend in der Nähe des Lignon
zurück. Dort verbringt er seine Zeit mit allerlei galanten Jämmerlich-
keiten. Er härmt sich ab, errichtet einen Asträatempel . allerdings zu
Ehren Asträas, der Göttin der Gerechtigkeit ; aber das Bildnis der Gott-
1) Astree, Bd. I, Kap. 3.
-) Vergl. Virgils Bucolica, I, 1 : „Tityre, tu patuli recubans sub agmine
fagi" etc.
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heit, das er schnitzt, trägt die Züge seiner Geliebten. Er schreibt Verslein,
die er auf den Altar des Tempels legt, und dabei wird er immer blasser
und elender. Eines Tags kommt Asträa, die ihre übereilten Worte seit
lange bereut, und in tiefem Kummer über den vermeintlichen Tod des
Geliebten lebt, mit ihren Freundinnen zu diesem Tempel. Sie erkennt die
Arbeit Celadons, schließt aber nicht, was doch das einfachste wäre, auf
dessen Nähe, sie sieht darin keinen Grund zur Vermutung, daß er noch
am Leben sei, sondern sie ruft schmerzlich bewegt aus, daß sie nun
erst seines Tods sicher sei, da sie erkenne, wie sein Geist noch die
Ufer des Lignon umschwebe. Ein weiser Druide weiß endlich Rat. Er
steckt Celadon in Mädchenkleidung und bringt ihn zu Asträa, welche zu
der vermeintlichen Jungfrau vom ersten Augenblick an eine tiefe Zu-
neigung faßt und sie in ihr Haus aufnimmt. Der zartfühlende Jüngling
wohnt nun mit Asträa unter einem Dach, in dem vertraulichsten Um-
gang, ohne sich je zu verraten. Während dieser Vorgänge hat Polemas,
ein ehrgeiziger Ritter, dem Galatea früher ihre Neigung zugewandt
hatte, ein Heer geworben und zieht zum Kampf heran. Galatea wird
in der Stadt Marcilly belagert. Asträa und Celadon, letzterer immer in
Mädchenkleidern, fallen den Feinden in die Hände, und werden beim
Sturm auf die Stadt in die erste Kampflinie gestellt, um die Belagerten
zu verwirren. Allein Asträa wird befreit und Celadon erweist sich als
Held. Als seine Freunde einen Ausfall machen, wendet er sich ebenfalls
zum Kampf gegen den Feind. Polemas fällt und die Gefahr ist abge-
wendet. Noch immer ahnt Asträa nichts von dem Geheimnis des helden-
mütigen Mädchens, und als endlich Celadon sich zu erkennen giebt,
schickt ihn die ob solchen Betrugs empörte Schäferin aufs neue zum
Tod. als der einzig möglichen Sühne für sein Verbrechen. Celadon ge-
horcht. In der Nähe befindet sich der „Quell der treuen Liebe'', dessen
magische Gewässer von Löwen behütet werden. Dorthin begiebt sich
€eladon, um sich von den wilden Tieren zerreißen zu lassen. Doch
0 Wunder! die Löwen verschonen ihn, und bald kommt auch Asträa,
über ihre Strenge bekümmert, um ihrem Geliebten in den Tod zu folgen.
Sie findet ihn noch am Leben, und ein deutliches Wunderzeichen giebt
ihnen die Gewißheit der unwandelbaren Treue, die sie stets einander
bewahrt haben. Denn wer in den „Quell der reinen Liebe'" blickt, sieht
neben sich in dem Wasser das Bild des geliebten Wesens, vorausgesetzt,
daß es immer die reinste Liebe zu ihm bewahrt hat. Celadon und
Asträa versuchen die Wunderkraft der Quelle, jedes für sich, und kein
Zweifel ist mehr an ihrer Liebe erlaubt. Unter Blitz und Donner erscheint
Cupido und gebietet die Vereinigung des langgeprüften Paars durch das
Band der Ehe.
Die adelige Lesewelt jener Tage war von diesem rührenden Bild
der Liebe und Treue entzückt. Freilich erschienen die Schäfer nur des-
halb der Begeisterung würdig, weil sie von gutem Adel sind und ihn
freiwillig abgelegt haben, um sich ungestört dem idyllischen Leben
weihen zu können. Nur ein adeliger Sinn kann ja die Romantik über-
schwänglicher Liebe begreifen, kann den Kultus der Zartheit und süßen
95
Melancholie vollkommen verstehen. Nur wer von echtem Adel ist, weiß
wahrhaft zu lieben; nur wer vollkommen zu lieben weiß, kann auch
jeder andern Aufgabe des Lebens gerecht werden. Das ist die Lehre,
die sich aus „Asträa" ergeben soU.^) Das Rittertum, das sich überlebt
hatte, sollte in anderer Weise wieder aufleben; „Asträa" wurde das
heilige Buch der neuen, galantea Welt. Das Hotel der Marquise de
Eambouillet, das bald den Mittelpunkt der feinen Pariser Gesellschaft
bildete, erinnert durch den dort herrschenden Ton vielfach an d'ürfes
Roman, und wir werden auf diesen Zusammenhang noch zurückkommen
müssen.
Betrachten wir „Asträa" als Roman vom heutigen modernen Stand-
punkt aus, so kommt uns gar vieles darin sonderbar und schwach vor.
In zwölf Teilen zieht er sich ermüdend hinaus; immer neue Personen
treten auf, welche die schon bekannten in den Hintergrund drängen;
jede neue Person, oder besser gesagt, jedes neue Paar, denn die Leute
erscheinen fast immer paarweise, erzählt eine lange Lebens- und Liebes-
geschichte. Man seufzt, man weint, man wetteifert um den Preis der
Galanterie und der süßen Gespräche. Man wirft Streitfragen aus dem
Gesetzbuch der Liebe auf, und läßt sie vor Schiedsrichtern kontradikto-
risch behandeln.^) Der Roman erinnert häufig an die „Diana" von
Montemayor. Was dort am Eslafluß sich abspielt, ist hier an den Lignon
verlegt. In „Asträa" zeigt sich dieselbe Manier, derselbe Überfluß von
Episoden, dieselbe Vermengung der m-ythologischen und christlichen
Welt, dieselbe Künstelei, ja man möchte sagen dieselben Menschen, die
wir in „Diana" gefunden haben. Einzelne Teile des Romans, eingestreute
Novellen, sind sehr hübsch erzählt, einige Charaktere trefflich geschildert,
so unter anderen der leichtfertige Hylas, der das Princip der Unbestän-
digkeit in der Liebe proklamiert, und das Gegenbild zum treuen Celadon
bildet. Vergebens aber wird man die Schilderung wirklicher Leidenschaft,
wahrhafter Herzenskämpfe in „Asträa" suchen; ihre Scenen gleiten gleich
einem Schattenspiel an unseren Augen vorüber.
1) Vergl. auch Buch I, Kapitel 2, das Gespräch zwischen Galatea und
Sylvia :
„Sans deute, ce berger est amoureux."
„N'en doutez point, r^pondit Silvie, il est trop honnete-homme."
„Et pourquoi, repHqua Galatee, pensez-vous qu'il faule aimer pour
etre tel?"
„C'est Madame, comme je Tai oui dire, parceque l'amant ne desire rien
davantage que d'etre aime; pour etre aime, il faut qu'il se rende aimable, et
ce qui rend aimable est cela meme qui rend honnete-homme."
2) So wird z. B. die Frage erhoben, ob der trauernde Tirols seine geliebte
Kleone, die ihm durch den Tod geraubt ist, auch noch ferner lieben dürfe oder
ob er die Zuneigung der lebenden Laonice erwidern müsse. Nach langer Debatte
wird folgender Spruch gefällt: „Eine Liebe, die enden kann, ist keine wahr-
hafte Liebe. Die Liebe derer, die nur den Körper liebten, kann im Grabe enden ;
die aber, welche Geist und Körper liebten, können dem geschiedenen Geist ins
Elysium nachfolgen. So verordnen wir denn, daß Tircis auch ferner Kleone liebe,
und verbieten Leonice, seine Ruhe zu stören".
96
Ein solcher Roman darf indessen nicht einfach vom Standpunkt
der Ästhetik aus betrachtet werden. Er ist von kulturhistorischer Be-
deutung und gewinnt als solcher ein ganz anderes Gewicht. Wir er-
kennen in „Asträa" den Geschmack, die Tendenz, das Ideal einer ganzen
Epoche deutlich ausgedrückt. Er zeigt uns das Streben der Zeit, den
Frauen eine höhere Stellung zu bereiten, ihrem sittigendem Einfluß
größeren Eaum zu lassen. Die Liebe soll, nach den sinnlichen Ver-
irrungen der letzten Zeiten, in ein ideales Gebiet erhoben werden, sie
soll den Menschen edler stimmen, reiner und selbstloser machen, und
wird gleichsam der Gegenstand eines neuen mystischen Kultus.
Man will in „Asträa" eine Art Allegorie sehen. D'Urfe habe, so
heißt es, in dem Eoman sich und seine Geliebte, Diana von Chateau-
morand, als Celadon und Asträa, die Königin Margarete von Navarra,
Heinrichs IV. erste Gemahlin, als Galatea geschildert. Man hat eine
lange Liste der historischen Personen gegeben, welche alle in dem
Roman vorkommen sollen. Ob diese Auffassung richtig, ob es wahr-
scheinlich ist. daß d'Urfe die Frau, mit der er in so unglücklicher Ehe
lebte, im Roman verherrlicht hat, bleibe dahingestellt. Obschon diese
Idee in der ersten Zeit vielfach verbreitet und zum Erfolg des Buchs
gewiss beigetragen hat, indem sie die Neugier reizte, so ist sie doch für
unsere Beurteilung ohne Belang.
„Asträa" hat einen Triumphzug durch die Länder der civilisierten
Völker Europas gehalten. D'Urfe muß also eine Saite berührt haben,
die in aller Herzen nachklang, und er erhielt begeisterte Zuschriften
und vielfache Beweise der Bewunderung aus den verschiedensten Ländern.
So empfing er im Jahr 1624 aus Deutschland einen Brief von etwa
50 Fürsten, Prinzessinnen, Baronen und Edelfrauen, welche ihm mit-
teilten, daß sie eine ..Akademie der wahrhaft Liebenden'' gegründet und
sich die Namen der einzelnen Personen des Romans beigelegt hätten.
Nur hätte keiner von ihnen gewagt, sich Celadon zu nennen, und sie
bäten deshalb d'Urfe, unter diesem Namen in ihren Bund zu treten.^)
Eine jede Zeit hat eben ihr eigenes Maß, und nach stürmischen Zeiten
gefallen sich die Menschen häufig in idyllischem, zartem Wesen. Nach der
Schreckenszeit der französischen Revolution wurde Chateaubriands süßliche
Melancholie beliebt, und wenn man Kleines mit Großem vergleichen darf,
so zeigte sich derselbe Zug nach den verhältnismäßig doch kurzen Er-
schütterungen des achtundvierziger Jahrs, wo „Amarant" und andere ähn-
lich schwächliche Geistesprodukte eine Zeit lang bewundert wurden.
Die „Asträa" blickt allerdings nach dem alten Ritterroman zurück,
allein er leitet gleichzeitig den modernen Roman ein. Denn wenn sie
auch nicht auf wirklichen Verhältnissen fußt, so bleibt sie doch auf
rein menschlichem Gebiet, und sucht Menschen ihrer Zeit zu schildern.
Und ein weiteres großes Verdienst kann niemand dem Roman be-
streiten. Seine Sprache ist klar, rein, und überragte die aller anderen
^) Siehe Aug. Bernard, Les d'Urfe, Souvenirs historiques du Forez, 1839,
pag. 166.
97
gleichzeitigen Prosaschriftsteller bei weitem. D'Urfe schrieb vor Balzac,
der den Euhm hat, der französischen Prosa die klassische Form ge-
g-eben zu haben, und er kommt ihm an Schönheit des Stils oft nahe,
übertrifft ihn sogar durch seine Einfachheit. Er hat Stellen, die an
Fenelon erinnern, und welchen nur wenig fehlt, um die volle Rundung
und plastische Form der klassischen und doch so milden Sprache dieses
Erzählers zu erreichen.^)
Ein halbes Jahrhundert lang herrschte die „Asträa" in Frank-
reich. Die Pastoralgedichte kamen in die Mode, unzählige Dramen
wurden nach den Erzählungen des berühmten Romans aufgebaut, und
eine Menge von Nachahmungen wetteiferten um die Gunst des Publikums,
ohne die ,.Asträa" verdrängen zu können. Manche derselben zeichneten
unter der Maske antiker Namen zeitgenössische Vorfälle, bekannte Per-
sönlichkeiten, und errangen dadurch größere Aufmerksamkeit. Dahin ge-
hört der Roman „Les amours du grand Alcandre" von Mademoiselle
de Guise (späteren Prinzessin von Conti), welche die Liebesabenteuer
Heinrichs IV. erzählte, sowie der „Roman satirique" von Jean de Lannel
(1624), der ein Gemälde der Zeit Heinrichs und Ludwigs XIIL zu geben
versuchte.
Erst als ein neuer Geist die Gesellschaft belebte, und die Epoche
Ludwigs XIV. begann, wurde die „Asträa" ein wenig vergessen und die
Romane des Fräuleins von Scudery traten an ihre Stelle. Doch nicht
ganz. Lafontaine schwärmte noch von ihr, Frau von Sevigne führte sie
öfters an, und Jean Jacques Rousseau gestand, daß er den Roman oft
mit Vergnügen zur Hand nehme.
') Man nehme z. B. gleich den Beginn des 1. Kapitels des 1. Buchs:
„De toutes les contrees que renferment les Gaules, il n'en est poiat de plus
delicieuse que le Forez. L'air qu'on y respire est tempere; et le climat est si
fertile qu'il produit au gre de ses habitants toute sorte de fruits. Au milieu
est une plaine enchantee qu'arrose le fleuve de Loire et que differents ruisseaux
viennent baigner. Le plus agreable de tout est le Lignon, qui va serpentant
depuis les hautes montagnes de Cervieres et de Chalmasel jusqu'ä Feurs, oü la
Loire le re^oit et l'emporte dans l'Ocean." — Boileau, in einer Einleitung zu
seinem Dialog „Les heros de roman", sagt über d'Urfe: „II soutint tout cela
d'une narration egalement vive et fleurie, de fictions tres-ingenieuses et de carac-
teres aussi finement imagines qu'agreablement varies et bien siiivis. II composa
ainsi un roman qui lui acquit beaucoup de reputation, et qui tut fort estime,
meme des gens du goüt le plus exquis, bien que la morale en füt fort vicieuse
ne prechant que l'ainmour et la noblesse, et allant quelquefois jusqu'ä blesser
un peu la pudeur."
Lotheißen, Gesch. d. fra
VI.
Das Hotel Rambouillet.
Von den Ufern des Lignon führt uns der Weg zu dem schönen
Palast der Marquise de Rambouillet in Paris. Die duftige Sprache der
Schäfer in „Asträa", die ganze, dem Gemeinen abgewendete Richtung
dieses Romans fand in dem Kreis, den die Marquise um sich versammelte,
den lebhaftesten Anklang. Dichtung und Wirklichkeit strebten hier nach
dem gleichen Ziele und entsprangen dem gleichen Boden. Wie die
„Asträa", so strebte auch die Gesellschaft des Hotel Rambouillet da-
nach, die Geselligkeit zu veredeln und dem Leben ein idealeres Gepräge
zu geben.
Wohl hatte in früheren Zeiten der Hof den Ton angegeben, und
sein Geschmack, seine Laune war zum Gesetz für weite Kreise geworden.
Das war selbst unter Heinrich IlL noch so gewesen. Nur hatte die
religiöse Spaltung und das ausschweifende Leben des Königs und seiner
Günstlinge bewirkt, daß der eine Teil, die Hugenotten, und die sittlich
strengeren Familien der katholischen Partei sich immer entschiedener
vom Hof abwendeten. Auch als Heinrich IV. zur Herrschaft kam und
die Sitten des Lagers in den Louvre verpflanzte, war von feinem ge-
selligen Verkehr nicht die Rede. Sein Sohn Ludwig XIII. war noch
weniger der Mann dazu, in Gesellschaft zu glänzen oder gar den Ton
anzugeben. Er war scheu, leicht verlegen und stotterte ein wenig.
Zudem war er wenig gebildet, und kannte nur eine einzige Liebhaberei,
die Jagd. Anna von Österreich, seine Gemahlin, hatte wenig Geist und
zu engen Spielraum, war auch zu sehr an spanische Etikette gewöhnt,
als daß sie den Ton für eine freiere, geistig regsame Geselligkeit ge-
funden hätte. Und doch machte sich das Bedürfnis nach einer solchen
in den Kreisen der Gebildeten mit wachsender Macht geltend.
Die Lehrmeisterin war auch diesmal Italien.
Während man von Spanien vorzugsweise die Kleidung, das Kriegs-
wesen und alles, was Staatsleben und Politik betraf, daneben auch den
Geist romantischer Galanterie annahm, lernte man von Italien, was zur
Schönheit des Lebens beitrug, die Pflege der Kunst und der Poesie, die
gefällige Unterhaltung, den leichten Verkehr der beiden Geschlechter.
Italien mit seinen vielen glänzenden Höfen, seinen kunstliebenden Fürsten,
seinen stolzen Handelsstädten und Adelsrepubliken war die hohe Schule
des weltmännischen feinen Tons. In Rom, in Ferrara, in Florenz und
so vielen anderen Stätten fürstlicher Hofhaltung hatte sich eiue Gesellig-
99
keit ausgebildet, die an Reiz und Anmut, an sicherem Takt und frohem
Lebensgenuß ihresgleichen nicht hatte. Die Damen waren die Herrsche-
rinnen dieser Welt, und ihr Einfluß machte sich sittigend, verschönernd,
freilich auch oft schwächend, auf allen Gebieten geltend. So zeichnet
uns, im Rahmen der Dichtung, Goethe den Hof von Ferrara. Die hohe
Zeit der klassischen italienischen Litteratur war vorüber und hatte einer
weicheren, eleganten Richtung Platz gemacht, die dem Charakter der
Epoche entsprach. Die harmonische Sprache des Landes gab selbst un-
bedeutenden Schöpfungen das Gepräge der Schönheit und Poesie. Neben
der Litteratur blühten in gleicher Weise die Künste der Malerei, Archi-
tektur und Musik. Damals auch boten die glänzenden Hoffeste den
Anlaß zur Begründung einer neuen Gattung musikalischer Spiele,
der Oper.
Aber freilich war die gesellschaftliche Feinheit oft nur äußerlich,
und verbarg nicht selten sogar grobe Verbrechen, eine furchtbare Roh-
heit des Gemüts. Willkür und Tyrannei lasteten auf dem italienischen
Volk ; Gift und Dolch, Kerker und Schaffet drohten jedem, der sich dem
Willen jener glänzenden Herrscher nicht fügte. Bildung ohne Freiheit
ist aber eine kranke Blüte, die rasch dahin welkt, und die besten Früchte
müssen verkümmern, wenn ihnen die Sonne fehlt.
So geriet das gesellige Leben in Italien bald in einen gesuchten
Ton, und im falschen Streben nach dem Außerordentlichen ging der
echte Geist, der Begriff wahrer Schönheit und Feinheit verloren. Am
Hof von Ferrara, wo Leonore von Este die Königin der Gesellschaft war,
wurde eines Tags ein poetischer Wettstreit Tassos mit dem herzoglichen
Sekretär Pigna zum wahren Ereignis. Beide feierten die schöne Lucrezia
Bendidio, eine Zierde des Hofes, in ihren Gedichten. Die Akademie von
Ferrara wurde in einen Liebeshof verwandelt, der zu entscheiden hatte.
Unter dem Vorsitz Leonorens debattierte man über Fragen der Liebe und
Galanterie, und der 25jährige Tasso vertheidigte drei Tage lang 15 Thesen,
welche dem Gesetzbuch der Liebe entnommen waren. Die Schäferschau-
spiele waren an der Tagesordnung; Guarinis „Pastor Fido" entzückte
die feinen Kreise, die sich darin gefielen, in phantastischem Aufputz
idyllische Scenen aufzuführen und sich nach Arkadien versetzt glaubten.
Dieser Geschmack drang auch über die Alpen nach Frankreich.
D'ürfe hatte nicht umsonst am Hof von Savoyen gelebt, der halb
französisch, halb italienisch war. Sein Roman trug den Geist der neuen
Schule weit hinaus. Aber die Aufgabe, die italienische Geselligkeit, den
feinen Ton der Unterhaltung, die Freude an der Bildung, die Achtung
vor der Frau in der französischen Hauptstadt einzubürgern, übernahm
die Marquise von Rambouillet. Ihr Hotel bildete bald den Mittelpunkt des
socialen und geistigen Lebens in Paris, und Paris war damals schon maß-
gebend für ganz Frankreich.
Jean de Vivonne, Marquis de Pisani, das Haupt einer der ersten
Familien Frankreichs, hatte in dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts
als Gesandter des französischen Königs beim päpstlichen Stuhl in Rom
gelebt und sich daselbst mit Julia Savelli aus einem vornehmen
lOü
römischen GesclilecM vermählt. Die Frucht dieser Ehe war eine Tochter,
Catherine de Vivonne, die, im Jahr 1588 geboren, schon im Jahr 1600,
also kaum zwölf Jahre alt, mit Charles d'Angennes Marquis de Ram-
bouillet verheiratet wurde. Der Marquis, der elf Jahre älter war, wurde
später Marechal de camp, und ging eine Zeit lang als Gesandter nach
Spanien. Seine junge Gemahlin vereinigte italienische Liebenswürdigkeit
und französischen Geist. Das Leben am Hof Heinrich IV. konnte ihr
nicht gefallen. Sie zog sich gern davon zurück und entschuldigte sich
mit der Sorge für ihre Kinder, von welchen das älteste, Julie d'Angennes,
1607 geboren war und noch öfter genannt werden wird. Später war die
Marquise leidend, scheute die Sonne und die Hitze, und ging kaum noch
aus. Dafür empfing sie in ihrem Salon alles, was Paris damals von Be-
deutung in sich schloß. Vielleicht war die Abneigung gegen den Hof,
den sie sonst schwer hätte ganz meiden können, mit ein Grund ihrer
Kränklichkeit.-^) Xach dem Vorbild Italiens bannte sie jede steife Etikette,
und war die erste, welche den Geburtsadel und den Geistesadel, die
Aristokratie, die Dichter und Schriftsteller bei sich vereinigte. Adel und
Bürgertum trafen sich bei ihr auf neutralem Gebiet; jeder Stand konnte
von dem andern etwas annehmen, und beide gewannen bei diesem Verkehr.
Neben den Prinzen des königlichen Hauses. Conde und seinem
Bruder Conti, sah man im Hotel Rambouillet häufig deren Schwester,
Mademoiselle de Bourbon. die später als Herzogin von Longueville viel
genannt wurde und eine treue Freundin der Tochter des Hauses war.
Die edelsten Geschlechter des Landes waren hier vertreten; wir erwähnen
nur, weil sie in der Litteraturgeschichte genannt werden, die Marquise
de Sable und die Gräfin de La Vergne mit ihren beiden Töchtern, deren
eine als Gräfin Lafayette wegen ihrer schönen Erzählungen einen be-
deutenden Platz in der Geschichte der Novellistik einnimmt. Eine Zeit
lang sah man auch das heitere Fräulein von Rabutin-Chantal die Gesell-
schaft verschönern; doch wurde sie durch ihre Heirat mit dem Marquis
von Sevigne dem Kreis bald etwas entfremdet, vielleicht zu ihrem Vor-
teil. Es kamen ferner der Herzog von Montausier, Kardinal Retz; hie
und da auch Richelieu, als einfacher Bischof von Lucon, und viele
andere. Von Vertretern der Litteratur fanden sich Conrart, Godeau, Gom-
bauld, Scudery, Chapelain, Sarasin, Saint-Pavin, Racan, sowie diese alle
überragend Malherbe und neben ihm Menage, Balzac und Voiture. Von
ihnen allen wird noch später die Rede sein.
Auch Pierre Corneille wurde öfters im Salon der Marquise gesehen,
und fand in seinem Kampf um den „Cid'" treue Anhänger daselbst. Wir
wissen, daß er einzelne seiner Stücke im engen Kreis vor der Marquise
gelesen und die Ansicht der Freunde erbeten hat. In späteren Jahren
konnte man auch zeitweise den jungen Abbe Bossuet durch die Menge
der Besucher sich drängen sehen ; kurz, die Marquise vereinte bei sich
1) Tallemant des Reaux, Historiettes, II, pag. 486: „Dez vingt ans eile
ue vouhit plus aller aux assemblees du Louvre. Elle disoit qu'elle n'y trouvoit
rien de plaisant que de voir comme on se pressoit pour y entrer."
101
einen Kreis von Männern und Frauen , die zu den Besten des Landes
gehörten und eine Zierde jedes Jahrhunderts bilden würden.
Die Blüte dieses geselligen Lebens fällt in die Jahre 1620 bis
«twa 1645; vor dieser Zeit war die Marquise noch selbst zu jung oder
zu sehr von ihren Kindern in Anspruch genommen. Nach dem Jahr 1645
aber legte sich Trauer auf die Familie, und die Unruhen der Fronde
machten zudem jeden lebhafteren Verkehr unmöglich.
Kardinal Richelieu kaufte das alte Hotel des Marquis Eambouillet
und ließ an dessen Stelle das Palais-Cardinal, das spätere Palais-ßoyal,
errichten. Die Marquise aber hatte von ihrem Vater das Palais Pisani
in der ßue Thomas-du-Louvre geerbt, das sie in den Jahren 1610 — 1617
nach ihren eigenen Plänen umbauen ließ, und das seitdem als das Hotel
Rambouillet bezeichnet wurde.
Dieses Gebäude erregte sowol durch seine Bauart, als auch durch
die innere Einrichtung die Bewunderung der Besucher. Nach der alten
Bauart hatte die Stiege, die in der Mitte des Hauses angebracht war,
jedesmal die Reihe der Zimmer unterbrochen. Die Marquise wich von
der Überlieferung ab, verlegte die Treppe und erzielte dadurch eine
Flucht von Zimmern, ein Gewinn, der die Entwicklung der Geselligkeit
bei ihr wesentlich beförderte. Die Hauptseite des Palastes war der Straße
abgekehrt und hatte den Blick auf schattige grüne Gärten, über welche
man hinaus den Karusselplatz und die Tuilerien sah. Als später der
Louvre ausgebaut wurde, verschwanden diese Gärten und die anstoßenden
Gebäude, unter ihnen das schöne Hotel Rambouillet.
Man erzählte sich Wunder von dem Geschmack, mit welchem die
Marquise ihr Haus ausgestattet hatte. Besonders gerühmt wurde der so-
genannte blaue Salon, ein Saal, der mit blauem, gold- und silber-
gesticktem Sammt ausgeschlagen war, blaue Vorhänge hatte, und dessen
Möbel ebenfalls in der Farbe ihres Überzugs dazu stimmten.^) Große
Fenster gingen bis zum Fußboden herab und brachten Luft und Licht,
sowie sie auch durch den freien Ausblick auf das Grün der Gärten
erheiterten. Neben dem blauen Salon befand sich das Schlafzimmer der
Marquise, eine Art sehr geräumigen Alkovens. Vergoldete Säulen trugen
hier die Decke und schwere Teppiche schlössen den Raum gegen den
■Salon zu ab. Das Fräulein von Scudery, das etwa dreißig Jahre später
in einem ihrer Romane, dem „Cyrus" , die vornehme Pariser Welt
schilderte, und auch die Marquise unter dem Namen Cleomire einführte,
schilderte deren Wohnung als einen wahren Zauberpalast. ^)
Jeden Mittwoch war in den Mittagsstunden großer Empfang in
dem blauen Salon; an den anderen Tagen kamen nur die genaueren
Freunde, und diese wurden in dem Schlafzimmer empfangen. Die Sitte
der Zeit brachte es mit sich, daß die Dame des Hauses hier ihre Be-
1) Tallemant des Reaux, Historiettes, II, pag. 487 (ed Monmerque &
Paris): „C'est la premiere qui s'est avisee de faire peindre une chambre d'autre
couleur que de roiige ou de taue."'
2j Mademoiselle de Scudery, Le Grand Cyrus, 7. Theil, Buch I.
102
suche entgegennahm. Das große Bett, das, nebenbei bemerkt, damals
statt des Sofas als Ruhebett diente, stand gewöhnlich, auf mehreren
Stufen erhöht, frei in der Mitte des Zimmers. Die Herrin des Hauses
empfing ihre Gäste entweder auf dem Bett oder daneben sitzend.^)
Nur sehr vornehme Damen erlaubten sich auch im Bett liegend, freilich
im vollen Putz, die Huldigungen der Besucher entgegenzunehmen. Die
besuchenden Damen reihten sich mit Stühlen um die Hausfrau ; die
Herren standen hinter ihnen , oder breiteten , wenn sie recht galant
waren, ihre Mäntel auf dem Boden vor den Schönen aus und ließen sich
zu deren Füßen nieder.^)
Diese Zusammenkünfte hatten keinen andern Charakter, als den
der geselligen Vereinigung. Man plauderte , lachte, besprach sich über
Politik, Litteratur und Tagesneuigkeiten. Was man verlangte, war einzig
guter Ton und anständiges Benehmen. Ein jeder gab, was er konnte ;
der eine kämpfte mit witzigem Wort, der andere trug vor, was er ge-
dichtet hatte, ein dritter las die Arbeit eines Fremden, und häufig ent-
spann sich über das Gehörte eine lebhafte Unterhaltung. Aber nicht
immer ging es bei der Marquise ernsthaft zu ; war sie doch selbst
jung und heiter, und später von einem Kreis lebhafter Töchter umringt.
Man spielte zur Abwechslung muntere Gesellschaftsspiele, belustigte sich
mit Theateraufführungen, man tanzte und machte fröhliche Ausflüge in
die Umgegend, wobei es an Feuerwerken, Verkleidung im Geschmack der
,,Asträa", an Musik und tollen Streichen nicht fehlte.^)
Was die Marquise bezweckte, war kein einseitiges schöngeistiges
Wesen in ihrem Kreis. Das Beispiel Italiens, aus dem sie stammte, hätte
sie allein schon von solchen Gedanken abgebracht. Aber in der Gesell-
schaft, die sie um sich vereinte, sollte Takt und Geschmack heimisch
sein, sollte dem Geist sein Recht werden. Was Malherbe in seinen Dich-
1) Diese Alkoven hießen ,les ruelles" oder „les reduits". Daher man
später auch die litterarischen Gesellschaften und Koterien mit dem Namen
„ruelles" bezeichnete.
2) Vergl. Shakespeares „Hamlet", III, 1 :
Königin: Komm hierher, lieber Hamlet, setz Dich zu mir.
Hamlet: Nein, gute Mutter, hier ist ein stärkerer Magnet.
Polonius: Oho! Hört Ihr das wohlV
Hamlet: Fräulein, soll ich in Eurem Schöße liegen? (setzt sich zu
Opheliens Füßen).
Ophelia: Nein, mein Prinz.
Hamlet: Ich meine, den Kopf auf Euren Schoß gelehnt.
Ophelia: Ja, mein Prinz.
3) Tallemant des Eeaus erzählt mehrere ihrer lustigen Geschichtchen.
Graf Guiche. der spätere Herzog von Grammont, war zu Besuch auf das Gut
Rambouillet gekommen und hatte sich bei der Mahlzeit besonders an Cham-
pignons gelabt. In der darauffolgenden Nacht bemächtigten sich einige Spaß-
vögel seiner Kleider und ließen sie enger nähen. Als der Graf andern Tags
sich ankleidete, erschrak er darüber, daß seine Kleider nicht mehr paßten —
man brachte ihn auf den Gedanken, daß er infolge Genusses giftiger Schwämme
schon geschwollen sei, und versetzte ihn in die lebhafteste Unruhe, bis ihm
einer der Gäste ein Rezept aufschrieb, das ihn sicher heilen müsse. Dasselbe
lautete: „Recipe de bons ciseaux et descous ton pourpoint."
103
tungen verfolgte, was d'Urfe mit seinem Roman erstrebte, was allen
Gebildeten als notwendig erschien, die Pflege der ausgebildeten, fest-
geregelten, feinen Sprache, das wurde auch das Streben des Hotel Ram-
bouillet, wie man kurzerhand die Gesellschaft bezeichnet, welche Frau
von Rambouillet mit ihrem Geist belebte.
Die edle Frau hatte dabei oft eine schwere Aufgabe. In ihrem
Kreis trafen sich Männer der verschiedensten Parteien. Nach Heinrichs IV.
Tod regten sich die alten Leidenschaften wieder, und als Richelieu später
mit Entschiedenheit für die Aufrechthaltung und Stärkung der königlichen
Macht eintrat, wuchsen die Feindschaften und politischen Antipathien
unter dem Adel immer höher. Es kam zu Verschwörungen und Auf-
standsversuchen, und Richelieu ließ mehr als einen Herrn des höchsten
Adels seinen Widerstand auf dem Schaffot büßen. Unter solchen Ver-
hältnissen war es doppelt schwer, einen neutralen Boden zu behaupten.
Die Marquise hätte einen großen politischen Einfluß ausüben können,
und wurde von den verschiedenen Parteien umworben; Richelieu ließ
ihr eines Tags zumuten, sie möge seine Gegner in ihrem Haus beob-
achten, gewissermaßen belauschen, und ihm darüber berichten. Allein sie
lehnte alle Anerbietungen ab und hielt den Frieden in ihrem Haus
aufrecht.
Nun läßt sich nicht übersehen, daß ein in sich berechtigtes Streben,
wie das des Hotel Rambouillet, nach Veredlung des Tons und größerer
Reinheit der Sprache leicht auf Abwege führen kann, zumal wenn die
Reformatoren nicht in beständiger Berührung mit dem Leben und dem
wahren Volkstum sich erhalten. Dann entsteht nur zu leicht eine
Künstelei, welche zu Irrthümern führen muß, die oft gefährlicher sind,
als die bekämpften Übel. In dem Bestreben, das Gewöhnliche und Ge-
meine zu vermeiden, wird man leicht unnatürlich; in der Absicht, den
feinen Ton zu bewahren, wird man geziert, und büßt darüber das Gefühl
für Wahrheit und echte Schönheit ein. Im Eifer für die äußere Form
vernachlässigt man das Wesentliche, den Gedanken. Die Marquise selbst
bewahrte immer ihre einfache natürliche Weise ; ihre Tochter Julie schon
nicht mehr in demselben Maß, obwol wir wissen, daß die Briefe der
beiden Damen, entgegen der Art mancher ihrer Freunde, sich immer in
ungeschminkter, ungekünstelter Sprache ausdrückten.^) Dagegen schreibt
man der jüngsten Tochter, Angelique, schon einen bedeutenden Teil der
Schuld zu, daß in der letzten Zeit ein falscher Ton sich im Hotel Rambouillet
breit machte. Der Kreis war gar groß und ein jeder wünschte sich darin
hervorzuthun, auch wenn ihm die Kraft dazu fehlte. Da kam denn die
äußere Form trefflich zu statten, denn diese wird gar oft zur Maske,
hinter welcher sich die geistige Armut versteckt, und je leichter dieses
Mittel erscheint, umso lauter wird die Heiligkeit der Form verkündigt.
Die Eitelkeit, jene lärmende Schwester der Geistesarmut, kommt dann
hinzu und verleitet zu Extremen. Was die Laune des Augenblicks ein-
1) Einige früher ungedruckte Briefe der Marquise und ihrer Tochter sind
von V. Cousin, La sooiete franyaise, t. II, Appendice, S 349 tf., mitgeteilt.
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gegeben hat, was der Zufall gefügt hat, wird Gesetz, und aus der freien
Vereinigung wird bald eine Koterie.
Auch das Hotel Rambouillet bildete schließlich eine Art schön-
geistiger Koterie, wenn auch der besten eine. Die Koterie bedingt aber
Einseitigkeit und Verirrung.
In den früher so heiteren Kreis schlich sich mit der Zeit Affektation
und Prüderie ein. Die Damen, welche sich mit der freundlichen Anrede
.,ma chere" begrüßten, hießen deshalb bald ,.les Precieuses", und diese
Bezeichnung galt anfangs für einen Ehrennamen. Mit der Zeit jedoch
erhielt das Wort eine spöttische Nebenbedeutung, gerade wie das Beiwort
,,les Illustres". Es war zunächst nur eine einfache, längst übliche Spielerei,
daß man sich im geselligen Verkehr häufig antike Namen beilegte. Die
Dichter konnten ihren Geliebten unter dieser durchsichtigen Pseudo-
nymität viel offener ihre Huldigungen darbringen. Die Marquise selbst
wurde meistens als „Arthenice" gefeiert und Malherbe rühmte sich,
dieses Anagramm aus ihrem Namen Catherine gefunden zu haben. Bald
artete aber auch dieser Scherz aus : Affektation und Eitelkeit mischten sich
ein, und besonders die lyrische Poesie litt unter den vielen „Daphnis",
„Tii'sis", „Philis'', den „Ciarissen", den „Dämon" und wie sie alle
hießen. Gefährlicher noch war es, als auch der prüde Ton überhand
nahm, und sich, durch solche Ermunterung gekräftigt, schnell in weitere
Kreise verbreitete.
Die Marquise hatte sieben Kinder, darunter zwei Söhne. Von
diesen letzteren fiel der ältere 1645 in der Schlacht bei Nördlingen,
der zweite starb schon als Kind an der Pest. Von den fünf Töchtern
traten drei ins Kloster, wo sie bis zur Würde von Äbtissinnen aufstiegen.
Eine derselben erregte durch ihre Lebensart Anstoß, trat öffentlich gegen
ihre Familie auf und wurde schließlich in einem Kloster interniert. Die
älteste Tochter, Julie d'Angennes, stand der Mutter geistig am nächsten.
Sie erwies sich als mutige Pflegerin ihres Bruders, als er an der
Pest erkrankte, und pflegte ebenso später ihre Freundin, die Herzogin
von Longueville, die, von den anderen verlassen, an den Blattern da-
niederlag. Lange Zeit war sie die Zierde und Hauptstütze der Gesellschaft
des Hotel Eambouillet, wie die vielen, oft herzlich faden poetischen Huldi-
gungen beweisen, die man ihr darbrachte. Welcher Geist in späteren
Jahren in ihrem Kreis herrschte, zeigt recht deutlich die Gabe, welche
der Herzog von Montausier zu dem Namensfest der von ihm verehrten
Julie fertigen ließ.^) Der Herzog bewarb sich seit langer Zeit um deren
Hand. Für jenen Tag ließ er ein kostbares Album fertigen, in welchem
auf den einzelnen Blättern 29 verschiedene Blumen von Künstlerhand
gemalt waren. Die Freunde des Hauses mußten die poetische Spende
dazu liefern: ein jeder gab ein Madrigal, viele auch mehr. So entstand,
was unter dem Titel „Juliens Guirlaude" in der Geschichte der Galan-
terie eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Neben Montausier finden
1) Zum 22. Mai 1641; vielleicht war die „Guirlande de Julie" auch als
Geschenk zum Neujahr 1642 bestimmt.
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sich unter den Dichtern die Namen von Arnauld d'Andilly, Chapelain,
Colletet, Corneille, Desmarets, Scudery, Tallemant des Reaux u. a. m.
Trotz dieser großen Zahl von Dichtern und trotz der Beihilfe Corneilles
ist das ganze doch nur eine Sammlung fader Complimente, welche von
den Blumen der Reihe nach der vergötterten Julie gespendet werden.^)
Diese konnte sich trotz solcher Liebesbeweise nur schwer und spät zur
Heirat entschließen. Ein nettes Geschichtchen erzählt, sie habe den Herzog
erst nach allen Regeln der Liebesgesetze und der Galanterie 14 Jahre
hingehalten; er habe, wie es die Karte des „Reichs der Liebe" vor-
schrieb, und wie die Precieusen Molieres es von ihren Liebhabern ver-
langen, die weite Reise machen müssen über die Ortschaften „ Jolis Vers"
und „Epitres galantes'' nach dem Städtchen „Complaisance", von da
nach „Petits Soins" und „Assiduites", um nach längerem Aufenthalt in
der Stadt „Tendre" am Fluß „Estime", endlich in der Hauptstadt des
Landes, in „Tentre", am Fluß „Neigung" an das Ziel seiner Wünsche
zu gelangen. Schade nur, daß diese so geistvolle Karte eine spätere Er-
findung der precieusen Madeleine de Scudery ist und zur Zeit, da das
Hotel Rambouillet blühte, noch nicht bekannt war. Es ist auch nicht an-
zunehmen, daß die Damen dieses Kreises schon ähnlich übertriebene
Ideen gehegt hätten. Montausier war als Marechal de camp mehrmals
auf lange Zeit abwesend, im Elsaß und in Deutschland. Dazu kam, daß
er drei Jahre jünger war als Julie und zur protestantischen Kirche ge-
hörte. Erst als er zur katholischen Kirche übergetreten war, sah er
seine Wünsche erhört. Er heiratete 1645 und nahm später am Hof
Ludwigs XIV. eine bedeutende Stellung ein. Seines derben Freimuts halber
bekannt, galt er lange, obwohl irrtümlich, als das Vorbild für Molieres
„Menschenfeind".
Die jüngste Tochter der Marquise, Angelique d'Angennes, wurde
im Jahr 1658 mit dem Grafen Adhemar Monteil de Grignan vermählt,
starb aber schon im Jahr 1664. Grignan heiratete noch zweimal, und
seine dritte Frau war die Tochter der Marquise von Sevigne.
Doch das fällt in eine spätere Zeit. Das Hotel Rambouillet erlebte
noch das Aufblühen der klassischen Litteratur, den Ruhm Corneilles.
Allein seit der Ehe der ältesten Tochter löste sich der Kreis allmählich.
Bald kam die Nachricht von dem Tod des jungen Marquis auf dem
Schlachtfeld. Das Haus wurde stiller. Die Marquise, nun schon bei Jahren
und von zarter Gesundheit, zog sich mehr und mehr zurück. .Der Aus-
bruch der Fronde rief viele Freunde des Hauses ins Feld, und so endigte
jene schöne Geselligkeit ganz. Der Marquis starb 1652, und die edle
Frau, seine Gattin, folgte ihm im Jahr 1665, im 77. Lebensjahr.
Das Hotel Rambouillet hatte die Aufgabe erfüllt, die ihm in dem
Kampf gegen die Verwilderung der Sitten und der Sprache gestellt war.
Daß sich schließlich Manieriertheit einschlich, ist ein Vorwurf, der den
') Die „Guirlande de Julie" ist nach dem noch erhaltenen Original öfters
abgedruckt worden, z. B. in Livet, Precieux et Precieuses, 'jme ed.^ Paris 1870,
Didier & Cie.
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Kreis der Marquise nicht allein trifft, denn diese Richtung lag in der
ganzen Zeit.
In der Geschichte der Litteratur und der Gesellschaft würde man
oft des Hotel Rambouillet mit größerer Anerkennung gedacht haben, wenn
sich nicht neben und nach ihm kleinere Koterien und schöngeistige Kreise
geformt hätten, welche es nachahmen wollten, und sein Streben dabei zur
Karikatur verzerrten. Gegen das Treiben dieser späteren „Precieusen"
erhob sich mit Recht der gesunde Sinn des Volkes, und sie verschwanden^
wie wir später sehen werden, von dem Hohn und Spott des Publikums
verfolgt, unter den vernichtenden Streichen Molieres.')
1) Außer den bereits angeführten Werken, die von dem Hotel Rambouillet
sprechen, vergleiche man noch P. L. Roederer, Memoire pour servir ä l'histoire
de la societe polie en France (Paris 1835, Firmin Didot freres); Victor Cousin,
La societe fran^aise au XVIIme siecle, d'apres le „Cyrus" de Mademoiselle de
Scudery (2 vols., Paris 1858, Didier & Cie.) und desselben Autors: La jeunesse
de Madame de Longueville (ebendaselbst); Walckenaer, Memoires touchant la
vie et des ecrits de la marquise de Sevigne (Paris 1856, Firmin Didot freres,
Bd. I, Kap. 4 und 5).
Wie sehr sich der Kreis des Hauses Rambouillet von den gezierten Pre-
cieusen unterschied, beweist auch ein Brief Balzacs an Chapelain vom letzten
September 1638, worin es heißt: „II y a longtemps que je me suis declare
contre cette pedanterie de l'autre sexe et que j'ay dit que je souffrirois plus
volontiers une femme qui a de la barbe qu'une femme qui fait la s^avante...
On ne parle jamais du Cid qu'elles ne parlent de l'unite du Subject et de la
regle des vingt-quatre heures. 0 sage Arthenice! que vostre bon sens et vostre
modestie valent bien mieux que tous les argumens et que toutes les figures qui
se debitent chez Madame la **". Man vergleiche ferner Flechier, Oraison funebre
de madame de Montausier, worin es heißt: „Souvenez-vous de ces cabinets que
Ton regarde encore avec tant de veneration, oii l'esprit se puriflait, oii la vertu
etait reveree sous le nom d'incomparable Arthenice, oii se rendaient tant de per-
sonnes de qualite et de merite, qui composaient une cour choisie, nombreuse
Sans confusion, modeste saus contrainte, savante sans orgueil, polie sans affec-
tation".
VII.
Die Ausbildung der Prosa.
Balzac und Voiture.
In dem Kreis der Marquise von Kambouillet sahen wir, neben
anderen Schriftstellern und Dichtern, zwei Männer verkehren, die in der
Geschichte der französischen Prosa eine ähnliche Stelle einnehmen, wie
sie Malherbe in der Entwicklung der poetischen Sprache errungen hat.
Balzac und Voiture waren es, welche der Prosa korrekte Schönheit,
Wohlklang und Geschmeidigkeit gaben, und damit die Arbeit so vieler
früheren Schriftsteller glücklich ergänzten.
Das Ideal, das jener Zeit vorschwebte, lag in der schönen Ord-
nung des Lebens. Das 17. Jahrhundert rang mit der Form, Was es
an geistigem Besitz hatte, genügte ihm vollkommen ; es kannte keine ihm
selbst unverständliche Sehnsucht, keinen Traum von höherem Menschen-
glück in kommenden besseren Zeiten, darum auch keine krampfhafte An-
strengung, diese in vorschauendem Geist erkannten Güter zu erringen.
Es war in sich zufrieden ; besaß es auch vielleicht nicht viel, so war
es doch ruhig und in Harmonie mit sich selbst ; ihm galt es nur, seinen
Besitz zu festigen und ihm jene äußere Form und jene Ordnung zu
geben, welche seinen Wert erhöht und zugleich sichert. Ob König
Heinrich die Regierung seines Landes mit sicherer Hand reorganisiert,
ob die vornehmen Kreise neben dem Luxus des Lebens auch die Fein-
heit des geselligen Umgangs erstreben, ob man sich an zarten poetischen
Gebilden erfreut, überall zeigt sich als Grundgedanke die Sorge um die
feste Form. Das Leben soll sich für die bevorzugten Klassen glänzend,
heiter und mühelos gestalten, und in dieser höheren epikuräischen Weise
aufgefaßt, schließt der Lebensgenuß geistiges Interesse nicht aus. Aber
nur in besonders glücklichen Jahrhunderten und bei hochbegabten Völkern
kann sich Formgefühl und geistige Größe in glücklicher Harmonie ver-
einigen, und es erhebt sich dann eine Kultur, welche für Jahrtausende
hinaus ihre Bedeutung für das Menschengeschlecht bewahrt.
Zu diesen seltenen bevorzugten Zeiten gehörte das 17. Jahrhundert
nicht. In dem Bemühen, die Schönheit der Form zu finden, vernach-
lässigte es öfters den geistigen Inhalt seiner Schöpfungen, und bedachte
nicht, daß es damit auch die erstere gefährdete.
Das haben wir schon an den ßeformbestrebungen Malherbes ge-
der die poetische Sprache regelte und klärte. Auch die Sprache
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betrachtete man mit Recht als ein Kunstwerk, das die sorgfältigste Be-
handlung verlange. Die poetische Sprache aber entwickelt sich immer
rascher und findet schneller die entsprechende Form. Schwieriger und
langsamer ist die Ausbildung der Prosa. Erst nach mühevoller Arbeit
gelangt dieselbe in ihrer Entwicklung so weit, daß sie jeder noch so
leichten Schattierung des Gedankens richtigen Ausdruck verleihen kann.
Erst wenn das Volk selbst eine gewisse Reife erlangt hat, wird auch
seine Sprache genugsam erstarken, um in der Prosalitteratur eine Zeit
klassischer Schönheit zu ermöglichen.
Um diese Entwicklung der Sprache hatten, wie schon gesagt,
Balzac sowohl wie Voiture großes Verdienst. Wenn man jedoch die
beiden Männer nebeneinander nennt, so geschieht dies nur, weil sie ein
gleiches Ziel verfolgten.
Denn darauf beschränkt sich ihre ganze Ähnlichkeit. Im Charakter,
in der Lebensweise, in ihren Schicksalen waren sie grundverschieden,
und die Sprache, die sie redeten, weist einen ähnlichen Gegensatz auf.
Balzac ging hauptsächlich von den Lateinern aus, seine Vorbilder waren
Cicero und Seneca; pedantisch ernsthaft, wahrte er in allen Fällen seine
Grandezza, und in der Einsamkeit eines ländlichen Asyls, ohne Fühlung
mit dem Leben der Nation, wurde er mehr und mehr einseitig und
manieriert. Voiture dagegen war warmblütig von Natur, dabei ober-
flächlich, ein Mann des heiteren, geselligen Lebens, von mancherlei
Stürmen in der Welt umhergetrieben. Ausschließlich von dem Streben
geleitet, zu gefallen, haschte er fortwährend nach Witz und begnügte
sich nur zu leicht mit dem falschen Schein geistreichen Wesens.
Dennoch gehören beide Männer zu einander, denn sie ergänzen
sich gewissermaßen. Balzac gab der Sprache die Würde, die Rundung
und den harmonischen Fall der Sätze; dafür lehrte sie Voiture die
Anmut in heiterem Scherz, die Leichtigkeit im gefälligen Nichts der
Plauderei.
Balzac war um einige Jahre älter als Voiture, und erhob sich
früher als dieser zu litterarischem Ruhm. Ihm haben wir also zunächst
unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Jean Louis de Guez, Herr von Balzac, stammte aus edlem Ge-
schlecht und war im Jahr 1594 zu Angouleme geboren. Sein Vater
hatte einige Zeit im Dienst des Herzogs von Epernon gestanden, dann
aber sich in das Privatleben zurückgezogen.^) Er selbst war in seiner
Jugend nach Leyden geschickt worden, um seine Studien zu vollenden.
Als der Herzog von Epernon es unternahm, seine frühere Gönnerin,
Maria von Medici aus Blois, wohin dieselbe verbannt war, zu befreien,
bediente er sich des jungen Balzac, um die nötigen Schriften abzufassen.
Bei dieser Gelegenheit soll auch Richelieu, welcher der Königin damals
noch nahe stand und zwischen ihr und Ludwig XIII. vermittelte, auf
ihn aufmerksam geworden sein. Wenigstens erzählt dies Balzac in einer
1) Der Herzog von Epernon war lange Zeit der Günstling Heinrichs III.
und gewann später einen ähnlichen Einfluß auf Maria von Medici.
109
späteren Schrift; er fügt hinzu, Eichelieu habe ihm damals eine große
Zukunft versprochen und zunächst eine Abtei mit 10.000 Livres jähr-
licher Eente in Aussicht gestellt, dann aber nichts von seinen Ver-
sprechungen gehalten.^) Balzac vergißt, daß er später zum Historio-
graphen des Königs mit einem Gehalt von 2000 Livres ernannt wurde.
Das Amt verpflichtete zu nichts, und wenn Balzac über die unregelmäßigen
Zahlungen zu klagen hatte, konnte er sich wenigstens mit dem Ge-
danken trösten, daß er seinerseits sich auch nicht anstrengte, seine
Aufgabe zu erfüllen.
Doch wir haben vorgegriffen. Im Jahr 1621 ging Balzac als
Agent des Bischofs von Toulouse, de Nogaret, der später als Kardinal
de La Valette bekannter wurde, nach Rom, verlor aber nach einiger
Zeit die Gunst seines Gönners und zog sich nun nach Balzac, einem
Gut seiner Eltern an der Charente, zurück. Er war kränklich und
scheute jede Aufregung. In seinen Briefen aus jener Zeit spricht er
von Fieber, Gicht und Steinbeschwerden, und erzählt, daß ein heftiger
Blutsturz ihn zweimal an den Rand des Grabes gebracht habe.^) Darum
schien er nun auf jeden weiteren ehrgeizigen Plan zu verzichten; er
richtete sich in seinem Tuskulum in der Nähe von Angouleme zu fried-
lichem Leben ein und schien sich ganz dem Heil seiner Seele widmen
zu wollen, wie er einem Freund schrieb, dem er von der Änderung
seiner Lebensweise berichtete.^) Allein gar so leicht fand er diesen
Wechsel doch nicht. In einem jammervollen Brief wendete er sich um
Hilfe an den Bischof von Ayre. Er zürne sich selbst, denn bei allen
Bethätigungen seiner Frömmigkeit fühle er sich kalt, die Kirche erscheine
ihm wie ein Gefängnis. Er sei wol traurig, aber nicht bußfertig; und
wenn er manchmal beschließe, seine Lebensweise zu ändern, wenn ihn
auch manchmal ein Schimmer von Devotion erleuchte, so dauere dieses
Licht nicht lang. Darum möge der Prälat sich seiner erbarmen und
an seiner Bekehrung arbeiten.*) Balzac zeigte sein Leben lang treue
Anhänglichkeit an die Kirche und frommen Sinn. Wie weit wir es aber
hier mit dem Ausdruck wirklicher Seelenkämpfe zu thun haben, ist nicht
recht klar. Der lange Brief ist zu rhetorisch; er spielt mit Antithesen
und gefällt sich in Übertreibungen. Die majestätische Form und der
voll ins Ohr fallende Klang der Phrase gingen ihm über die Wahrheit
1) Balzac, Entretien n^* VIII, 2>ie histoire. Siehe die neueste Ausgabe seiner
Werke : Oeuvres de J.-L. de Guez de Balzac, publiees sur les ancierines editions
par L. Moreau (Paris 1854, J. Lecoffre & Cie.), 2 Bde. Die Ausgabe ist nicht
vollständig und enthält nur eine etwas einseitige Auswahl der Briefe und Ab-
handlungen, bringt aber alle Hauptwerke.
2) Siehe Balzacs Brief an den Bischof von Ayre vom 4. Juli 1622 und
Entretien n" II.
3) Brief an Girard vom 17. Januar 1623 (Lettres, livre III, n» 13): „Pour
moy, je suis absolument resolu ä changer de vie, et n'avoir plus de soin que
de faire mon salut et de procurer celuy des autres". In dem vorhergehenden
Brief an denselben hatte er noch gesagt : „J'aime encore mieux le vice, pourveu
qu'il soit docile, que la vertu quand eile est farouche".
*) Brief an den Bischof von Ayre vom 20. September 1623.
.110
des Ausdrucks. Von anderer Seite wissen wir zudem, daß man im
Haus Balzac vortrefflich speiste und der junge Herr sich sogar durch
seine Erfindungen auf dem Gebiet der Kochkunst auszeichnete.^)
Zudem suchte Balzac früh seinen Euhm in der Stilistik. Seine
Briefe waren fast immer mit Rücksicht auf die Öffentlichkeit geschrieben,
und schon im Jahr 1624 ließ er eine Sammlung derselben drucken.
Sie erregten in dem allerdings noch kleinen Kreis von Kennern und
Litteraturfreunden die größte Bewunderung. Balzac galt mit einem Mal
als der erste Schriftsteller seiner Zeit, als der unübertroffene Meister
der französischen Sprache. In der That weisen die Briefe in der Form
einen bedeutenden Fortschritt auf. Klar, abgemessen, in runden, schön
gefeilten Perioden floß ihre Prosa dahin. Doch umso ärmlicher war ihr
Inhalt. Schwerfällige Komplimente, Freundschaftsbeteuerungen, nichts-
sagende politische Bemerkungen füllen den größten Teil seiner Briefe.
Diejenigen, in welchen er sich etwas natürlicher zeigt und sich selbst
offener giebt, sind selten. Dahin gehört u. a. ein Brief an La Motte-
Aigron, einen Advokaten in Angouleme. Balzac beschreibt ihm darin
sein Haus, das waldige Thal umher, seine Spaziergänge am Ufer der
Charente und die Un Verdorbenheit des Volkes.^) Daneben finden sich dann
wieder Briefe, in welchen er die Frage behandelt, ob die Engel eine
Seele haben, oder in welchen er von der Notwendigkeit spricht, demütig
^u sein, keine neuen religiösen Satzungen zu machen, sondern sich mit
der Weisheit der Väter zu begnügen.^) Ein andermal spricht er sich
geringschätzig über die Kunstwerke in Neapel und Venedig aus. Er
interessiere sich nicht für derlei Dinge, denn dem Marmor fehle die Gabe
des Worts, und die Gemälde seien nie so schön wie die Wahrheit.*) So
erscheinen uns die Briefe, gleich allen anderen Briefen Balzacs, die später
veröffentlicht wuiden, nur als frostige, rhetorische Übungen eines phantasie-
losen, kühlen Mannes, dessen geistiger Horizont sich nicht weit erstreckte.
Einige Jahre nach der Sammlung der Briefe, im Jahr 1631, ver-
öffentlichte Balzac sein erstes größeres Werk: „Le Prince", in welchem
er das Bild Ludwigs XIII. und zugleich das Ideal eines christlichen
Fürsten zu zeichnen sich bemühte. Das Buch macht Ansprüche auf poli-
tische Bedeutung. Balzac nimmt darin die Miene eines scharfsichtigen
Staatsmanns an, den man nicht in Unthätigkeit lassen soll. Er will eine
Darstellung der inneren und äußeren Politik Franki'eichs geben, allein
1) Siehe einen Brief Yoitures an Costar ohne Datum : „Monsieur de Balzac
n'est pas moins elegant dans ses festins que dans ses livres. II est magister
dicendi et coenandi. II a un certain art de faire bonne chere, qui n'est gueres
moins ä estimer que sa Ehetorique, et entre choses, il a invente une sorte de
potage que j'estime plus que le Panegirique de Pline et que la plus longue
harangue d'Isocrate." (Lettres de Voiture, publiees par Amedee Eoux. Paris 1856,
Didot freres, S. 278.)
2) Vom 4. September 1622.
3) Über den Geist der Engel s. seinen Brief an Boisrobert, 3. Buch, nr. IX
der Briefe. — Vergl. ferner den Brief an Boisrobert, Buch III, nr. 6.
*) Brief an den Bischof von Äyre, Buch I, nr. 11.
111
seine Ausführungen beweisen nur, wie sehr ihm jedes geschichtliche Ver-
ständnis und jeder staatsmännische Blick abgingen.
Gewissermaßen als Einleitung giebt er eine Beschreibung 'seines
sorglosen Lebens, das zwischen Studien, Unterhaltung und Spaziergängen
geteilt ist. Er erzählt dann, wie er auf einer seiner kleinen Wanderungen
an dem Ufer der Charente eines Tags einen holländischen Edelmann
getroffen habe, der sich aus der Sklaverei in Algier gerettet hätte. Dieser
habe ihm viel von seinen Erlebnissen erzählt, u. a. auch von einem
seiner Leidensgefährten, einem Franzosen, der mit einem andern Sklaven,
einem Spanier , über die Festigkeit von La Kochelle in Zwist geraten
und schließlich von demselben erschlagen worden sei. Balzac findet den
glühenden Patriotismus des Spaniers bewunderungswürdig, und tadelt die
Undankbarkeit des französischen Volkes, das seinen König Ludwig den
Gerechten nicht laut genug preise. Ludwig habe Frankreich den Frieden
wiedergegeben, und so dürfe man sich nicht mehr auf stumme Be-
wunderung beschränken, und auch er, Balzac, wolle nun das Schweigen
brechen.
Dies führt ihn zu seinem eigentlich Thema, der inneren Politik
Ludwigs XIIL, die er im ersten Teil seines Buchs behandelt. Er feiert
zunächst die Einnahme von La Eochelle, dem Asyl aller Übelgesinnten.
Jetzt erst sei Frankreich völlig geheilt und der Friede für lange Zeit
gesichert. Denn gegen des Königs Macht könne künftig niemand mehr
streiten. Diesen Ausführungen folgt ein begeisterter Hymnus auf den
Monarchen. Doch verwahrt sich Balzac gegen den Vorwurf der Schmeichelei;
er suche nicht Unbedeutendes über Gebühr aufzublähen, sondern lege
nur Zeugnis von der Gegenwart für die Zukunft ab.
Die ganze Schrift ist von streng monarchischem Sinn erfüllt; sie
verteidigt das System der uneingeschränkten Monarchie. Der König hat
nur Gott über sich, und nur gegen ihn kann er sündigen.^) Aber Ludwig
ist wahrhaft frOmm; ja er würde lieber Juden und Hexenmeister, die
erklärten Feinde der Wahrheit, an seinem Hof zulassen, als die Heuchler,
welche das Gewand Christi tragen, um ihn besser zu verraten. Der König,
der in seiner Stellung so viel Gelegenheit zu fehlen findet, ist trotzdem
rein und keusch; nicht aus Schwäche des Temperaments, sondern ge-
stützt von seiner Vernunft. Seine Vergnügungen sind edel, seine Thätig-
keit ist unermüdlich, seine Gerechtigkeit unerschütterlich. In seiner Be-
geisterung preist Balzac sogar die Ermordung des Marschalls d'Ancre,
welche auf Geheiß Ludwigs XHI. stattfand, als eine rettende That. Hat
doch auch Moses einen Ägypter erschlagen! Ebenso findet Balzac es
ganz recht, daß der König nach Gutdünken seine Unterthanen ins Ge-
fängnis werfen läßt. Er hat oft schwere Sorgen, und wenn er sie bannen
kann durch die Verhaftung eines Menschen, der ihm gefährlich erscheint,
warum sollte er es nicht thunV Er straft diesen Menschen ja nicht,
er giebt ihm nur Ruhe. Freilich die Ruhe des Gefängnisses ; doch welcher
treue Diener wird nicht freudig eine solche Haft erdulden, wenn er
') Le Prince, chap. VI.
112
dadurch seine Anhänglichkeit beweisen und die Befürchtungen seines
Herrn zerstreuen kann? Ist es nicht besser, einen noch unschuldigen
Menschen vor einem möglichen Fehltritt zu bewahren, als zu warten,
bis er schuldig geworden ist, um ihn dann zu strafen?
So weit war man in wenig Jahren gekommen! Von dem Recht
des Volkes, von seiner Selbstregierung, von seiner Teilnahme an der
Verwaltung hat Balzac keine Ahnung mehr. Er verheiTlicht den Polizei-
staat und die Willkür, und seine Ansichten entsprachen den Ideen einer
großen Majorität im Lande.
Im zweiten Teil seines Buchs wird die äußere Politik Ludwigs be-
trachtet, und derselbe als Vertheidiger der europäischen Freiheit gepriesen,
während Spanien und England aufs heftigste angegriffen werden. Wir
brauchen Balzac nicht in den weiteren Ausführungen zu begleiten, zumal
dieselben immer wieder in einem Lob des Königs endigen. Im letzten
Kapitel wird Ludwig noch als die Stütze Roms gefeiert. Er weiß, daß
er der Erbe der Fürsten ist, welche den Päpsten die Flaminia, die
Emilia, die Insel Corsika, die Herzogtümer Spoleto und Benevent, sowie
alles Land zwischen Parma und Lucca geschenkt haben; er ist der
Enkel dessen, der sich mit größerem Recht als Konstantin den Wohl-
thäter der Kirche nannte. Kurz, Balzac kennt keinen Menschen, welchen
König Ludwig nicht übertreffe; kein Leben, das der Bewunderung
würdiger sei, als das seines Fürsten.
Wenn das Buch in der Idee seines Verfassers ein Gegenstück zu
dem „Fürsten" des Macchiavell bilden sollte, so erreichte es seinen
Zweck nicht, denn es ist ohne Geist, ohne Geschmack und ohne Takt
geschrieben; es hat sein Rüstzeug größtenteils aus dem Arsenal der
philologischen Gelehrsamkeit entnommen, und verschanzt sich hinter
den vielfach entstellten und mißverstandenen Traditionen der griechischen
und römischen Geschichte. Nur in der Form zeigt Balzac sein Talent;
er versteht es, die verschiedenen Fragen leicht, verständlich und in
schöner, abgerundeter Sprache zu behandeln. Sein Werk erschien, wol
nicht ganz zufällig, gerade zur Zeit, da die lange Rivalität zwischen der
Königin-Mutter und Richelieu mit der Verbannung der ersteren geendigt
hatte. Balzac erwähnt diese Vorgänge in den zwei Schreiben an den
Kardinal, die er gewissermaßen als Widmung dem Buch vorsetzte. Allein
er war in seinen Äußerungen so ungeschickt, daß er sowohl Richelieu
als auch die Partei der Königin, zu der er früher selbst gehört hatte,
verletzte. Dabei wollte er sich dem allmächtigen Minister als ein allezeit
getreuer Unterthan empfehlen. Er streite nie mit dem Steuermann, der
sein Schiff führe, und sei kein Freund von Neuerungen. „Ich beuge
mich der Tyrannei", sagte er ihm, „wünsche aber eine gerechte Regierung.
Wenn meine Oberen lästig sind, bin ich gelehrig und geduldig; wenn
sie sind, wie sie sein sollten, bin ich ihnen dankbar und in Liebe
zugethan. "
Alle diese Winke blieben unbeachtet. Richelieus Scharfblick mochte
den Mann der schönen Phrasen längst erkannt und gewürdigt haben.
Balzac gesteht ein, daß er sich mehrmals an den Hof und zu Richelieu
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begeben habe, um eine Stellung- zu erlangen, allein er habe diese Schritte
nur aus Liebe zu seinem Vater gethan. der für ihn ehrgeizig gewesen
wäre. Wie weit dies richtig ist, bleibe dahin gestellt. Jedenfalls änderte
Balzac sein Urteil über Richelieu, als derselbe die Augen für immer ge-
schlossen hatte. Der unvergleichliche Kardinal, „dessen Weislieit Gott
die Regierung der ganzen Erde anvertrauen könnte", und .,dessen Greis'
keine Grenzen kennt", ^) wurde später von ihm beschuldigt, das Unglück
des Landes gewollt zu haben. ''^)
So blieb Balzac denn in seiner stillen Provinz. Aber sein Ruhm
litt nicht unter dieser Isolierung. Je ferner er stand, desto höher sah
man zu ihm hinauf. Von allen Seiten huldigte man ihm und bat um
sein Urteil; man kam von weiter Ferne, ihn in seiner Heimstätte auf-
zusuchen, und die neugegründete Akademie nahm ihn alsbald unter die
Zahl ihrer Mitglieder auf. Kam er einmal nach Paris, was selten geschah.
so sah er sich gefeiert, von dem gastlichen Hotel Rambouillet willkommen
geheißen, als Schiedsrichter in Fragen der Ästhetik angerufen. In dem
Streit, der die litterarischen Kreise aus Anlaß des „Cid"' bewegte, wendete
sich Corneilles Gegner, Scudery, ebenfalls an ihn und bat um sein Urteil.
Wir werden später auf Balzacs Antwortschreiben zurückkommen; hier
sei nur bemerkt, daß er seine Ansicht allerdings in vorsichtiger Weise
äußerte, um keine Partei zu kränken, daß er aber bei alledem die Schön-
heit des Corneille'schen Dramas rückhaltslos anerkannte. Der Aufenthalt
in der Provinz, der manchen Nachteil für ihn mit sich brachte, hatte
ihn wenigstens vor den kleinlichen Kämpfen der Koterien so ziemlich
bewahrt und seinen Blick frei erhalten.
Doch das führt uns weit über die Grenzen unseres Bandes hinaus,
der sich mit der Periode des Übergangs zur klassischen Litteratur be-
schäftigen soll. Allein, um ein Gesamtbild Balzacs zu gewinnen, sei
hiev auch seiner späteren Arbeiten bereits gedacht.
Im Jahr 1G44 gab er eine Sammlung von Abhandlungen (Discours)
heraus, welche sehr verschiedenartige Fragen behandelten. Bemißt man
sie nach ihrem inneren Wert, so bedeuten sie allerdings nicht viel. Allein
sie waren nicht ohne Einfluß auf die französische Litteratur und so
müssen wir einige von ihnen näher betrachten.
Zunächst finden wir vier philosophisch-historische Aufsätze, welche
Balzac für die Marquise von Rambouillet geschrieben hat, und die sich
mit den Römern, den edlen Vorfahren der Dame, beschäftigten.. In seiner
ersten Abhandlung will Balzac den Charakter des römischen Volkes be-
leuchten, und er entwirft darin ein völlig unwahres, phantastisches Bild.
1) Lettre de Balzac au Cardinal de Richelieu, livre I, u" 2.
2) Siehe Discours ä la Reine Regente: „Mais parce qua si nous souste-
uions si atfirmativement qu'un Espagnol qui est hors de la Cour a commence
la quereile, on nous repartiroit avec presque autant d'affirmation, qu'un Fran-
i;ois qui n'est plus au Monde ne l'a pas voulu tinir, et qu'ayant dessein de per-
petuer nos maux, pour rendre eternelle son authorite, il a tousjours niesle son
ambition daus la justice de la cause de la France, je ne suis pas d'avis que
nous examinions cette question avec trop de curiosite."
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratur. o
114
Er schildert den Römer als das Ideal unerschütterlicher Mannestugend ;
als einen Mann, der sowol der Eitelkeit, wie der Furcht und der Hab-
sucht unzugänglich gewesen sei. der gleichzeitig den offenen Angriff und
die geheimen Machinationen der Gegner zu Schanden gemacht habe. Für
eine so gesunde und starke Seele habe es keine Gefahr gegeben.
Mit diesem Lob nicht zufrieden, bespricht Balzac in einem zweiten
Aufsatz die Gabe der Römer für die gesellige Unterhaltung und haupt-
sächlich für die Konversation Damit will er der Marquise besonders an-
genehm sein, und wir ersehen aus seiner Schilderung der römischen
Gesellschaft deutlich das Ziel, das seiner Gonnerin vorschwebte. Balzac
holt weit aus, denn er beginnt seinen Aufsatz mit Aristoteles. Ohne solchen
gelehrten Apparat geht es nun einmal bei ihm nicht. Er will beweisen,
daß die Römer auch auf diesem Gebiet die Griechen übertroffen haben.
Die römische Urbanität habe höher gestanden, als der Atticismus. In
dem vertrauten Kreis der römischen Gesellschaft habe man zweifelsohne
jene nachlässige Grazie und jene natürliche Anmut gefunden, die freilich
der Regeln spotte, und darum den Gelehrten unverständlich bleibe.
Balzac wußte genau, zu wem er sprach. Aber gleich als ob er
seinen Satz von dem Ungeschmack der Gelehrten drastisch beweisen
wollte, fuhr er in seiner Begeisterung fort und lehrte, daß ein Volk,
welches gefangene Könige durch die Straßen seiner Hauptstadt habe
schleppen sehen, nichts Gemeines in seinem Geist bewahrt habe. Selbst
die Hefe des Volkes sei noch „precieux" gewesen. Niemals hätten die
Römer ihre Größe gänzlich ablegen können ; sie hätten nie eine Bewegung
gemacht, die ihrer weltbeherrschenden Stellung unwürdig gewesen wäre,
ja sie hätten selbst mit Würde gelacht und gespielt.
Bei dem Ansehen, das Balzac allgemein genoß, sind diese Auf-
sätze nicht zu übersehen. Sie wirkten bestimmend auf das Urteil vieler
Kreise Hatte man sich schon früher gewöhnt, die altrömische Welt als
den Inbegriff heroischer Größe anzusehen, so erhob Balzac diese Idee
nun fast zur Höhe eines Dogmas. Bjvor er seine Aufsätze drucken ließ,
hatte er sie schon der Marquise einge3.inlt, und es ist nicht unmöglich,
daß Corneille sie d)rt gelesen u;il in ihnen die Ermutigung gefunden
hat. die Heldenfigureu seiner römischen Tragödien mit jener herben, oft
über-, wenn nicht unmenschlichen Größe auszustatten. Jedenfalls ist die
Übereinstimmung der beiden Männer in ihren Ansichten von der alt-
römischen Welt hervorzuheben, denn eben diese Ansichten haben geholfen,
die französische Tragödie in ihrer steifen Feierlichkeit zu bestärken.
Umsomehr überrascht es, Balzac in zwei weiteren Abhandlungen:
„Über die Beredsamkeit" und „Über das Lustspiel", als den eifrigen
Verteidiger einer natürlichen und lebenswahren Dichtung gegenüber der
gezierten Eleganz zu finden, welche aus Italien her sich einschlich.
Besonders in dem letzten Aufsatz tadelt er das Streben, alles in falscher
Weise zu idealisieren. Eine ländliche Scene z. B. müsse eine gewisse
natürliche Derbheit bewahren und nicht nach gesuchter Feinheit haschen.
In solchen Stücken seien die Hütten oft nach dem Plan der Paläste gebaut.
Allerdings spricht Balzac nur von italienischen Schauspielen und deren
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französischen Nachahmungen, doch ist es schwer, bei seinen Worten
nicht auch an „Asträa^' zu denken. „Wir sahen geiiünstelte Menschen,
gemachte Leidenschaften und gezierte Handlungen. Wir sahen die Natur
gefälscht und eine Welt, die nicht die unsere ist. Wo man nur Klarheit
und Milde gebraucht hätte, strebten unsere Dichter nach Kraft und
Glanz." Er erhebt sich ferner gegen die unglückliche Idee, daß das
Volkstümliche aus der Poesie zu verbannen und nur die feine, adelige
Welt der dichterischen Darstellung würdig sei. Nur müsse man die ver-
schiedenen Menschen auch je nach ihrem Stande verschieden reden lassen
und nicht alle so, als ob sie gerade von der Universität kämen. ^)
Aus den anderen Aufsätzen ist nur noch der Diskurs an die
Königin-Regentin Anna von Österreich" hervorzuheben. Balzac beschwört
darin die Regentin, dem verderblichen Krieg in Deutschland ein Ende
zu machen und Frankreich den Frieden zu geben. Das Volk sei im
tiefsten Elend ; Siegesbotschaften und der Ruhm der Generale vermöchten
nicht es zu ernähren; es verlange mehr Brot und weniger Lorbeeren.
„Eure Majestät ist gut!" ruft Balzac ihr zu: „Ihr Herz ist nicht von
Eisen oder Marmor!" Er hofft dabei mehr Erfolg von ihrer Frömmigkeit,
die den Himmel rühren werde, als von ihrer Macht. Und welch ein
Glück, wenn der Friede dem Lande seine Segnungen wieder brächte ! Dann
sähe man keine Meteore mehr, welche die Sterne und die Sonne ver-
dunkelten, keine fremden, furchtbaren Erscheinungen, dann werde sich
Frankreich wieder verjüngen und sein, wie es zur Zeit der Väter gewesen.
Die weiteren Aufsätze können wir übergehen. Es genügt zu be-
merken, daß Balzac sich in einigen derselben wegen mehrerer Stellen
seiner „Briefe" und seines „Fürsten'' verteidigte, die Vortrefflichkeit des
Klosterlebens pries und von dem Alter der christlichen Kirche bandelte.
Sein Leben verfloß still und einförmig. Mit der Außenwelt, besonders
mit der Pariser litterarischen Welt, stand er in regem Verkehr, und
unter den Gelehrten daselbst war ihm besonders Valentin Conrart in
treuer Freundschaft verbunden. ^) In seinen letzten Jahren beschäftigten
ihn mehrere größere Arbeiten, von welchen er jedoch nur eine, den
„Socrate chrestien", eine Reihe religiöser Betrachtungen und kirchen-
geschichtlicher Abhandlungen, im Jahr 1652 selbst veröffentlichte.
Er starb am 18. Februar 1654, nachdem er seinen Vater nur
wenige Jahre zuvor, 1650, im höchsten Alter und seine Mutter erst im
Jahr 1653 verloren hatte. Gegen das Ende seines Lebens einem strengen
kirchlich-religiösen Leben mit steigendem Eifer zugethan, hatte er sich
zwei bequeme Zimmer im Kapuzinerkloster zu Angouleme herrichten
lassen, um einen Teil des Jahrs daselbst in klösterlicher Stille zu ver-
bringen. Er starb jedoch nicht dort, sondern während eines Besuchs,
1) „Ainsi le genre Mediocre est, en quelques occasions, le genre Parfait,
soit dans la Poesie, seit dans la Prose." Discours sixiesme. Response ä deui
questions ou du charactere et de rinstruction de la Comedie. Ed. L. Moreau.
Bd. I, S. 295 u. 298.
-) Über Comart Genaueres in dem Abschnitt über die Akademie.
8*
116
den er bei seiner verwitweten Schwester in Angouleme machte. In seinem
Testament fanden sich die Kirche und die Armen als Erben seines Ver-
mögens eingesetzt.^)
Die Veröffentlichung der nachgelassenen Werke übernahm Conrart,
der im Jahr 1657 die „Unterhaltungen" („Les Entretiens") und ein Jahr
später den „Aristipp" herausgab.
Die „Entretiens" enthalten verschiedenartige Aufsätze, meist moral-
phüosophischen Inhalts. Gewissermaßen als Einleitung spricht Balzac
darin von der Annehmlichkeit eines in der Stille verbrachten Lebens.
..Ich verkehre nur mit meinen Freunden aus dem Altertum", sagt er
dabei. Dann erzählt er einige Vorfälle seines Lebens,-) und ergeht sich
in den folgenden Aufsätzen über die Eitelkeit, wobei er sich selbst gegen
den Vorwurf der Überhebung verteidigt, spricht ferner über die Kritik,
über Montaigne, über Ronsard und Malherbe, über kirchliche Ceremonien
und derlei Fragen mehr.
Im „Aristipp" versuchte Balzac das Ideal eines Staatsmanns zu
zeichnen. Er wollte in dieser Schrift, die er von allen seinen Arbeiten
für die beste hielt, die er „im Feuer der Jugend" begonnen hatte und
an der er fortwährend feilte, ein Gegenstück zu seinem „Fürsten" bieten.
Er erzählt, wie der Landgraf von Hessen im Jahr 1618 auf der Heim-
reise von Spaa nach Metz kam und den Herzog von Epernon besuchte,
der dort residierte. Kaum angekommen, erkrankte der Landgraf und
mußte längere Zeit in Metz verweilen. In seinem Gefolge befand sich ein
feingebildeter Edelmann, ein Franzose, dessen Vorfahren jedoch aus
Deutschland stammten. Derselbe hatte dem Landgrafen vorzulesen, und
durch seine geistvolle Unterhaltung half er ihm über manche schwere
Stunde hinweg. Der Landgraf nannte ihn mit dem Freundesnamen
Aristipp. Balzac, der gerade in Metz war, machte die Bekanntschaft
dieses Mannes, wurde auch dem deutschen Fürsten vorgestellt und nahm
Teil an seinen Unterhaltungen. Aristipp las damals gerade Tacitus
vor und begleitete seine Lektüre mit ausführlichen Erläuterungen. Diese
Geschichte von dem Aufenthalt des Landgrafen in Metz bildet gewisser-
maßen die Einleitung zu dem Balzac'schen Buch, denn die Erklärungen
und Reden Aristipps, welche dessen Hauptinhalt ausmachen, sind so
wieder;,'egeben . als habe Balzac sie zu Hause nur aus der Erinnerung
niedergeschrieben.
Wie in seinem „Fürsten", so bewies Balzac auch hier, daß er
kein Politiker war. In der Stille seines Landlebens hatte er sich in
Spekulationen und Ideen vertieft, die zur realen Welt in keiner Beziehung
standen. Die modernen Verhältnisse waren ihm fremd, und er maß sie
immer mit dem Maßstab seiner alten Geschichte. Handelt er von der
Gefahr des Monarchen, welcher zu sehr auf die Einflüsterungen seiner
Günstlinge hört, so verwahrt er sich schnell, als ob er einen König
1) Sein Grab befand sich im Hospital „NotrQ Dame des Anges", bis seine
Eeste 1851 in die Kapelle des jetzigen Hospitals übertragen wurden.
^) Entretien n» II.
ir
tyi-aiinisieren und ihm verbieten wolle, einen Günstling und Vertrauten
zu wählen. Habe doch auch Gottes Sohn hienieden einen Liebling vor
allen anderen ausgezeichnet. Er will nur Vorsicht in der Wahl empfehlen
und erinnert dabei an die Freigelassenen des Kaisers Claudius und an
die Diener der Söhne Konstantins, statt wenigstens einige schlagende
Beispiele aus der Geschichte seines Landes zu geben, die wahrlich nahe
genug lagen. Geradezu komisch wirkt sein Wunsch, der leitende Staats-
minister solle immer unvermählt bleiben. Zeigt sich in dieser barocken
Ansicht nur Balzacs Vorliebe für die klösterlichen Ideen und das Cölibat,
oder glaubte er damit als feiner Politiker dem herrschenden Minister,
dem Kardinal Mazarin, etwas Angenehmes zu sagen?
Die verschiedenen Schriften des Mannes haben uns fast zu lang
beschäftigt, wenn man bedenkt, daß sie heute fast unbeachtet bleiben.
Allein aus ihrer heutigen Unpopularität darf man nicht auf ihre geringe
Bedeutung für eine frühere Zeit schließen. Der Einfluß Balzacs auf seine
Zeitgenossen war allerdings sehr groß.
Betrachten wir ihn als Menschen, so erinnert er uns in mancher
Beziehung an Malherbe, obwol er milder und humaner ist. Aber er ist wie
jener pedantisch und kalt; trotz seiner philosophischen Resignation erscheint
er überaus lüstern nach Lob. Er ist ohne Phantasie, ohne große Ideen,
ohne höhere Anschauung, das Muster eines allzeit gehorsamen Unterthaus.
„Der Weise hütet sich, diejenigen zu reizen, welche ihn verderben können",
sagt er einmal. „Die Unschuld selbst wird schuldig, wenn sie die Ver-
folgung veranlaßt." ') Er findet die Ursache der allgemeinen Schwäche
und Feigheit, des zerrütteten Wohlstands in Frankreich in dem Umstände,
daß man nicht mehr so viel Kriegsleute wie früher und dafür umsomehr
Advokaten und Bücherschreiber habe.-)
In seinem Haus darf kein Gespräch über Politik, über Religion
und Philosophie geführt werden.") Er unterwirft sich der Autorität der
Kirche, überzeugt, daß die Meinung eines einzelnen nie so gesund sein
kann, wie der allgemein herrschende Glaube, gleich wie ein Wasser-
tropfen leichter verdirbt, als der Ocean.*) Und so kümmert ihn auch
i| Lettre ä Mr. Borstel, 26 avril 1634: „Les sages n'irritent Jamals ceux
qui les peuvent perdre. . . L'innocence mesme se rend coupable lorsqu'elle attire
la persecution".
2) Le Prince, chap. XII: „L'oisivete ne peut entrer dans les Estats bleu
policez par une plus subtile ny plus dangereuse tromperie que celle des lettres.
Ce sont ces personnes oisives et paresseuses, qui en partie ont ruine le com-
merce et Tagriculture, qui sont cause de la foiblesse de nostre Estat et de la
laschete de nostre Siecle. Et si dans un grand Royaume on ne peut aujourd'huy
lever que de petites armees, ... c'est que la pluspart de ceux dont on compo-
seroit ces puissantes et formidables armees embrassent uue profession contraire
ä Celle des armes et qu'il y a un grand peuple inutile, qui cousomme toute sa
(iholere en procez, et ne se sert de ses mains qu'a faire des Escritures et des
Livres." Man sieht, da£> die Klagen über das „papierene Zeitalter" und das
„skrophulöse Gesindel" schon alt sind.
3) Le Prince, chap. I.
*) Lettre ä l'Evesque d'Ayre, 20 septembre 1623: „Quelque desbauche
qu'ait este mon esprit, je Tay tousjours soumis a Tauthorite de l'Eglise, et au
118
das Schicksal seiner Mitmenschen im ganzen sehr wenig. Er habe sich
gewöhnt, schreibt er von Rom an den Kardinal de La Valette, die poli-
tischen Vorgänge um ihn her so gleichgiltig zu betrachten, als seien es
Ereignisse, die man ihm aus Japan melde. Man käme ja nie zu Eade.
wenn man sich die Welthändel zu Herzen nehmen und für das Volk
sich interessieren wolle. Wenn man alle Menschen für seine Brüder
halte, komme man aus der Trauer nicht heraus.') Bei der Beurteilung
eines Menschen muß man freilich mit solchen brieflichen Äußerungen,
die vielleicht im Augenblick der Ermüdung geschrieben sind, vorsichtig
sein. Wenn sie aber durch die ganze Lebensweise des Schreibenilen als
seine wirk'liche Meinung bestätigt werden, gewinnen sie doppelt an
Gewicht. Und dies ist bei Balzac der Fall, der trotz seiner politischen
Schriften sich von jeder wärmeren Teilnahme an dem Geschick seiner
Mitmenschen freihielt. Dafür kannte er auch keine Leidenschaften, es
sei denn diejenige des Stils ; und dieses kühle Maßhalten im Leben be-
wahrte ihn allerdings vor manchem Fehler in seinen Werken, machte
aber auch jedes wärmere Interesse auf die Dauer für ihn unmöglich.
Als Schriftsteller strebte er hauptsächlich nach der Vollendung des
Stils. Er sagt selbst, daß er oft tagelang über einem Satz brüte, den
er nicht nach Wunsch gestalten könne, und so wie er sich einmal er-
laubt hat. Malherbe einen Silbentyrannen zu nennen, so könnte man
ihn als Fanatiker der Periode bezeichnen. Seine Prosa ist wie ein sauber
gearbeitetes Schnitzwerk, an dem der Künstler fortwährend schneidet und
bessert. Er ist einseitig, aber in dieser Einseitigkeit liegt sein Verdienst.
Die Sprache verdankt ihm eine bedeutende Förderung, denn er gab seinen
Sätzen zuerst die Rundung und die abgemessene Form; er schrieb immer
voll Giavität. freute sich der Antithesen, und behandelte den kleinsten
Umstand mit derselben Wichtigkeit, mit welcher er eine Staatsaktion
besprach. Was ihm fehlte, war die Einfachheit, die richtige Würdigung
der Vorhältnisse um ihn her, und das spiegelte sich in seinem Stil ab,
der darum bald in eine gewisse Manier verfiel, Seine Zeitgenossen konnten
freilich diese Schwäche nicht so leicht erkennen, denn sie waren von
dem Glanz, welchen Balzac der Sprache verlieh, wie geblendet, und
wußten nicht genug des Lobs von der Harmonie und der Vollendung
seines Stils zu sagen. Er selbst hat sich über sein Talent sehr be-
scheiden geäußert. Er habe gefunden, was einige gesucht hätten, d. h.
eine gewisse kleine Kunst, die Worte zusammenzufügen und jedem seinen
richtigen Platz anzuweisen.^)
consentement des Peuples. Et comme j'ay ereü qu'une goutte d'eau se pouvoit
beaucoup plus aisement eorrompre que toute la mer, j'ay pens^ de mesme que
les opinions particulieres ne s9auroient Jamals estre si saines que les generales."
1) Lettre au Cardinal de La Valette. Livre II, n** 1.
-I Entretien n" III, ä Monseigneur le marquis de Montausier. — Abbe
Cassagne sagt in seiner Vorrede zu der großen Ausgabe der Werke Balzacs
1665: ,Mr. de Balzac est venu en ce temps de confusion et de desordre, oü
toutes les lectures qu'il faisoit et toutes les actions qu'il entendoit, luy devoient
estre suspectes ; oü 11 avoit ä se defier de tous les maistres et de tous les exemples,
119
Vertrat Balzac hauptsächlich die Gelehrten und die Freunde einer
gründlich und methodisch zu Werke gehenden Litteratur, so repräsentierjte
Voiture eine ganz andere Schicht der französischen Gesellschaft. In ihm
spiegelt sich die lebenslustige, feine, in ihrer Feinheit schon vielfach
raffinierte vornehme Welt wieder, welche von den dargebotenen Früchten
der Litteratur wol kostet und sich an deren Süßigkeit erfreut, welche
aber in den Werken des Geistes nur ein Mittel zur Zerstreuung sieht
und sie wie jedes andere Vergnügen nur als eine Annehmlichkeit be-
trachtet, um den sorglosen Lebensgenuß zu erhöhen.
Streben darum die beiden Männer auch nach dem gleichen Ziele,
so wandeln sie doch sehr vei'schiedene Bahnen.
Voiture war mit dem geselligen Leben der höheren Pariser Kreise
eng verflochten, und seine Briefe schildern es uns in nnschaulicher
Weise; besonders führen sie uns mitten in das lebendige, heitere, elegante,
manchmal auch gesuchte Treiben des HOtel Rambouillet. Vincent Voiture
stammte aus einer wohlhabenden Bürgersfamilie in Amiens. Sein Vat^r
war Weinhändler und veri^ah auch den Hof mit seinen Lieferungen. Ja
mancher vornehme Herr soll sich in seiner Geldnot an ihn gewandt
haben, und die Gefälligkeiten, die der Vater erwies, haben dem Sohn
gewiß später manchen Weg erleichtert.
Geboren im Jahr 1598, erhielt der Knabe eine sorgfältige Er-
ziehung und kam frühe nach Paris, wo er seine Studien vollendete.
Über seine folgenden Lebensjahre ist nicht viel bekannt. Im Kreise des
reichen Bürgertums aufgenommen, sah er sich dort seines Witzes und
seines Geistes wegen bewundert. Als er eines Tags einer Fi'au de Saintot.
zu der er intime Beziehungen hatte, ein Exemplar des „Rasenden Roland"
schickte, begleitete er seine Sendung mit einem langen Brief, der als
das Muster eines geistvollen Schreibens galt und durch den Druck in
weiten Kreisen verbreitet ward. Voiture schrieb darin, Roland habe nie
ein schönei-es Abenteuer gehabt, als das, was ihm gestatte, Frau de
Saintot die Hand zu küssen. Die schöne Frau möge nicht erschrecken,
wenn auch die ganze Welt den Helden als rasend bezeichne; in ihrer
Gegenwart werde er sicher sanft werden und seine Angelika vergessen.
In diesem Ton geht es so lange fort, bis die Galanterie zur Fadheit
et Oll 11 ne poiivoit airiver ä son but qii'en s'esloignant de tous les ehemins
battus, ny mancher dans la bonne route qu'apres se l'estre ouverte ä luymesme.
II l'a ouverte en effet et pour luy et pour les aiitres.'' Dali es ^alzac auch an
Gegnern nicht fehlte, zeigt Sorel in seiner „Histoire de Francion", von der
später die Rede sein wird. Darin kommt ein Pedant Hortensius vor, welcher
die Ptedeweise Balzacs persifliert.
Die erste Gesamtausgabe der Schriften Balzacs wurde von Courart im
Jahr 1665 besorgt und erschien in zwei Foliobänden in Paris. Auiier der schon
citierten Ausgabe von L. Moreau giebt es noch eine andere von Malitourne.
Neuerdings hat man noch eine Anzahl bisher unbekannter Briefe Balzacs ge-
funden. Sie sind von M. Tamizey de Larroque in dem ersten Band der „Me-
langes Historiques * iin der „Coliection des documents inedits sur l'histoire de
la France") 1873 mitgeteilt worden. Man vergleiche ferner: Villemain, Discours
d'ouverture du cours d'eloquence franraise, und Sainte-ßeuve, Port-Royal, t. 11,
chap. VIII, IX und Appendice.
120
wird.^j Der ßuhm, den sich Voiture auf solche Weise erwarb, führte ihn
weiter, und er sah sich bald in das Hotel Rambouillet eingeführt. Genau
zu bestimmen, wann dies geschah, ist schwer, denn die Briefe Voitures,
welche uns darüber am besten aufklären könnten, sind meist ohne Datum.
Man sieht, die Marquise war nicht engherzig in der Wahl ihrer Be-
kannten, denn Voiture hatte weder Adel noch litterarischen Ruhm für
sich; er stand nur im Ruf eines witzigen Kopfes, und das genügte. Bald
war er in der neuen Gesellschaft heimisch. Er sei dort neu geschaffen
worden, sagte er einmal, und jedenfalls fand er im Hotel Rambouillet
den Platz, der ihm am meisten behagte. Dort war er in seinem Element
.und gehörte bald zu den gern gesehenen Gästen. Er verstand es, in den
fröhlichen Ton des Hauses getreulich mit einzustimmen, und bei seiner
Geschmeidigkeit und seinem geselligen Talent erwarb er sich die Vor-
rechte eines Vertrauten. Wie Voltaire 100 Jahre später mit dem höch-
sten Adel umging und im Ton der Vertraulichkeit mit ihm verkehrte,
ohne doch am geeigneten Ort die äußeren Rücksichten außer acht zu
lassen, so auch Voiture. Nur daß Voltaire geistig unendlich viel höher
stand, und ein Jahrhundert gesellschaftlicher Kultur die Sitten abge-
schliffen hatte. Voltaire hätte es nicht für einen guten Scherz gehalten,
seine hohe Gönnerin dadurch zu erschrecken, daß er ihr, die in ihrem
Schlafzimmer lag und in ein Buch vertieft war, plötzlich zwei Tanz-
bären vor das Bett führte, wie dies Voiture sich einmal wirklich er-
laubt hat.
Dafür mußte er sich gefallen lassen, das Opfer ähnlicher Streiche
zu sein. Eines Tags wurde er in einer Stunde des Übermuts und der
^) Den Ton, welcher damals herrschte, zu kennzeichnen, seien übrigens
auch einige Strophen des Gedichts mitgeteilt, das Voiture an dieselbe Dame
richtete, als sie beide auf einer Spazierfahrt mit dem Wagen umgeworfen wurden
und die Kleider der Dame dabei in Unordnung gerieten. Voiture besang in elf
sechszeiligen Strophen, was er gesehen hatte, und das Gedicht kursierte ü"berall.
Es heißt darin:
Ij Philis, je suis dessous vos loix:
Et sans remede ä cette fois
Mon ame est vostre prisonniere.
Mais sans justice et sans raison,
Vous m'avez pris par le derriere:
N'est-ce pas une trahison?
2) Je m'estois garde de vos yeux:
Et ce visage gracieux,
Qui peut fair paslir le nostre,
Contre moy n'ayant point d'appas,
Vous m'en avez fait voir un autre
De quoy je ne me gardois pas.
8) Oa ni'a dit qu'il a des defaux
Qui me causeront mille maux.
Car il est farouche a raerveilles ;
II est dur comme un diamant,
II est sans yeux et sans oreilles,
Et ne parle' que rarement.
121
Laune auf Befehl des Fräuleins von Rambouillet, der später so oft ge-
nannten Julie d'Angennes, und ihrer Freundin, des Fräuleins Faulet,
tüchtig ,.geprellt"; gleich dem guten Sancho Pansa in der Schenke, die
sein Herr für ein Schloß hielt und darum, ohne die Zeche zu zahlen,
verließ. Voiture erzählt diesen Spaß selbst in einem Brief an die Prinzessin
von Bourbon, die spätere Herzogin von Longueville. „Mein Fräulein",
schreibt er, „Freitag Nachmittag nach Tisch wurde ich geprellt, weil
ich Sie nicht in der bestimmten Zeit erheitert hatte; auf Antrag des
Fräuleins vonKambouillet und des Fräuleins Faulet gab Frau von Rambouillet
den Auftrag dazu. . . . Ich schrie und wehrte mich, aber vergebens.
Die Decke ward gebracht und vier der stärksten Männer ausgesucht.
Ich kann Sie versichern, mein Fräulein, daß noch nie jemand so hoch
hinaus gewesen ist, wie ich; und daß ich nie geglaubt hätte, von dem
Schicksal so erhoben zu werden. Bei jedem Schwung verloren sie mich
aus den Augen, und sie schickten mich höher als die Adler steigen. Ich
sah die Berge tief unter mir, sah die Winde und Wolken unter meinen
Füßen dahinziehen ; ich entdeckte Länder, die ich nie gesehen, und Meere,
die ich nie geahnt hatte. Nichts Unterhaltenderes als so viel auf einmal
zu sehen und mit einem einzigen Blick den halben Erdkreis zu umfassen.
Ich beschwöre Sie, mein Fräulein; diesen Vorgang für ein Attentat zu
erklären, das Sie mißbilligen, und ferner zu verfügen, daß man zur
Wiederherstellung meiner Ehre und meii;er Kräfte ein großes Zelt von
Gaze im blauen Salon des HOtel Rambouillet errichte, in dem ich acht
Tage lang von den beiden Damen, den Urheberinnen dieses Unglücks,
bedient und bewirtet werde. . . Damit werden Sie eine Handlung der
Gerechtigkeit thun , wie es einer so großen und schönen Prinzessin
würdig ist."')
Ob der Brief einfach ein Scherz war und die „Prellerei" nur in
Voitures Einbildung stattgehabt hatte, oder ob man sich wirklich einen
so tollen Spaß mit ihm erlaubte, ist schwer zu sagen. Die Übertreibung,
in der sich Voiture immer gefällt, macht es schwierig, klar zu sehen.
Aber fast möchten wir glauben, daß man den kleinen, naseweisen,
manchmal renommierenden Voiture wirklich auf der Decke hat fliegen
lassen, und daß die mutwillige junge Welt sich an diesem Schauspiel
weidlich ergötzt hat. Wir finden ihn auch sonst im Krieg mit den beiden
Fräulein Julie d'Angennes und Angelique Faulet;^) es ist ein Krieg,
der mit Witzworten geführt wird. Voiture spielt dabei den Liebenden
1) Lettrcs de Voiture, publiees par Aaiedee Roux. Paris 1856, Firmin
Didot freres. Brief nr. IX. Der Brief war berühmt gleich jenem an Frau de Saintot
und hier» kurzer Hand „La lettre de la berne".
2) Tochter des bekannten Charles Faulet und geboren 1592. Ch. Faulet
war „Seeretaire de la chambre du roi" und Erfinder der „Faulettc", jenes lösen
Systems, wonach die Beamten ihre Stelle durch eine jährliche Abgabe in ihrer
Familie erblich macheu konnten (1(504). Faulet war der Erste, der diese Steuer
pachtete und dem Staat dafür •_' Millionen zahlte. Nach einer, wie manche be-
haupteten, etwas stürmischen Jugend stand Mademoiselle Faulet als Freundin
der Marquise von Rambouillet und deren Töchter in hohem Ansehen bei der
guten Gesellschaft. Sie starb 1651.
122
oder weiiiüsteiis den Galanten, der sich tief bekümmert erklärt, weil
seine (Icbictorinnen ihn so frostig behandeln. Julie d'Angennes drückt
einmal ihre Bewunderung für Gustav Adolf aus und flugs ersinnt Voiture
eine Maskerade. Ein paar Schweden erscheinen im Palais und über-
reichen dem Fräulein ein Bild, das ihr der „nordische Held" sendet,
nebst einem Brief, worin der König erklärt, daß er das Glück Alexanders
für gering erachte, wenn er nur Juliens Gunst erwerben könne. ^) In
dem galanten und schon reclit preciösen Stil der Zeit schrieb Voiture
auch eine Reihe ,. Metamorphosen ■% worin er auf seine Weise schmeichelte
und dabei auch kleine Xadelstiche versetzte. Während er darin die
Marquise als eine Nymphe mit göttlicher Weisheit preist, die in eine
Rose verwandelt wird und keinerlei Annähei'ung duldet, erzählt er von
Juliens Verwandlung in einen Diamant, da sie zuvor eine zwar gött-
liche, aber fühllose, herrschsüchtige und hartnäckige Xayade war u. s. f.
Doch solcher Ton hielt nicht lange an. Sein Brief an den Kardinal de
La Valette, in welchem er von einem ländlichen Fest erzählt, klingt
ganz andei's. Beim Schein von 20 Fackeln fuhr die Gesellschaft nach
Paris zurück, man sang unterwegs kleine Lieder, wie sie gerade im
Schwang waren, und als sie gar in Villette die Musikantenschar einholten,
die ihnen zum Tanz aufgespielt hatte, verfiel das Fräulein von Rambouillet
auf die Idee, sie mitzunehmen und in der Stadt verschiedene Serenaden
zu bringen. Die Musikanten hatten jedoch ihre Instrumente zurück-
gelassen, und so scheiterte der Plan.-)
Noch vertraulicher und übermütiger klingt Voitures Sprache in
einem andern Brief an den Kardinal. Er berichtet darin von einem Un-
wetter, das die Gesellschaft auf einer Spazierfahrt überrascht habe. ..Ein
Nordwestwind, der sich erhob, zwang uns, nach Montrouge, einem kleinen
Seehafen, zu segeln. Der Regen war so heftig und der Sturm so groß,
daß wir nur durch ein Wunder gerettet wurden. Ohne die Gebete der
frommen Menschen, die mit uns waren, wären wir, glaube ich, verloren
gewesen. Als die Gefahr am höchsten war. gelobte das Fräulein von
Rambouillet, Sie würden während zweier Monate jede Woche einmal zur
Beichte gehen, und bei einem furchtbaren Windstoß versprach ich, daß
Sie drei Tage lang fasten würden. Nun bitten wir Sie demütigst, Sio
möchten unsere Gelübde erfüllen. . . Es ist trübselig hier zu Lande. Man
hat uns gesagt, man werde nach Brot suchen und in acht Tagen könnten
wir auch Bohnen haben."')
Jeder Thätigkeit abgeneigt, wünschte Voiture doch eine einträgliche
Stellung zu haben. So wurde er Kammerherr bei Gaston von Orleans,
dem Bruder des Königs. Als solcher hatte er das Amt, die fremden
Gesandten bei dem Prinzen einzuführen. Er hielt die Stelle für eine
Sinekure, die ihm volle Freiheit ließe, sein vergnügliches Leben fortzu-
setzen, wie zuvor. Allein es kam anders und sein Amt führte ihn weiter
als er geahnt hatte.
') Brief nr. VIII.
2) Brief nr. X.
3j Xouvelles lettres, n" IV, S. 004, in der Ansgube von A. Roux.
123
Gaston war ein entschiedener Gegner des Kardinals Richelieu und
ließ sich in alle Intriguen gegen ihn ein. Darüber geriet er öfters
in eine bedenkliche Lage, der er sich durch die Flucht entzog. So
eilte er 1629 nach Lothringen, und nach einer Versöhnung, die nur
kurz währte, hielt er es im Jahr 1631 für geraten, sich nach Brüssel
zu retten. Seine Hausbeamten mußten ihm folgen, und so sah sich auch
Voiture genötigt, Paris zu verlassen, was ihm sehr nahe ging. Aber
noch mehr. In den Niederlanden warb Gaston ein Corps von 2000
Mann, fiel damit in Frankreich ein und drang nach Burgund und dem
Languedoc vor, wo sich ihm der Herzog von Montmorency anschloß.
Voiture sah sich mit einem Mal in einen Feldzug mitgerissen und fühlte
sich nicht wenig stolz als Krieger. Unterwegs verfehlte er nicht, seinen
Freundinnen in Paris Nachricht zu geben. Freilich steht in seinen Briefen
keine irgend erhebliche Mitteilung; der galante Mann tändelt in seiner
Weise weiter fort. Er wiederholte >die schon oft geschriebenen Kompli-
mente, erlaubt sich höchstens eine Bemerkung über die Unwiderstehlich-
keit der Orleans'schen Truppen und freut sich, dem Lande der Melonen
und Feigen täglich näher zu kommen und so in einer Gegend zu
kämpfen, in der man nebst Lorbeeren auch Orangen- und Granatblüten
pflücken werde.
Aber Gaston von Orleans sollte nicht viel Lorbeeren pflücken;
Montmorency wurde bei Castelnaudary von den königlichen Truppen ge-
schlagen und gefangen genommen. Von dem Prinzen verlassen, endete
er auf dem Schaffet. Gaston aber unterwarf sich abermals, um einige
Monate später aufs neue nach Belgien zu entfliehen. Nun ließ er sich
für längere Zeit in Brüssel nieder und suchte an den Höfen von Madrid,
Wien und London geheime Verbindungen anzuknüpfen. Nach Madrid
schickte er Voiture als Agenten. Die Aufgabe, Interesse für einen^Fürsten
zu erwecken, den man überall längst als wankelmütig und unfähig er-
kannt hatte, war schwer; auch richtete Voiture nichts von Bedeutung
aus. Persönlich wußte er sich in der spanischen Hauptstadt allerdings
beliebt zu machen, aber es gefiel ihm nicht daselbst. Er fand die Stadt
Madrid zwar sehr angenehm für Gesunde und Liederliche, aber höchst lang-
weilig für anständige Leute und Kranke.') Und er selbst hatte fort-
während über seine Gesundheit zu klagen. .,Ich habe acht Monate ver-
lebt", schrieb er an Fräulein Faulet, „ohne mit einer Frau zusprechen,
ohne zu zanken, ohne zu disputieren, ohne zu spielen, and was das
Merkwürdigste ist, ohne ein einziges Mal warm zu werden. Schon die
Erzählung davon ist schrecklich. Ich habe einen Winter ausgehalten, der
strenger war, als er gewöhnlich in Frankreich ist, und das in einem
Lande, in dem man keine Schlafröcke und keine Kamine kennt, in dem
man niemals Feuer anzündet, außer wenn es gilt, einen Sieg oder die
Geburt eines Prinzen zu feiern".^) Ihn zu trösten und zu unterhalten,
schickte ihm seine Freundin die neuen litterarischen Erscheinungen und
1) A Mr. de Chaude-bonne, n" XXVI, S. 125.
■') Brief nr. XXIH, S. 116.
124
zum Dank sandte er ihr, die wegen ihres reichen blonden Haars scherz-
weise die Löwin genannt wurde, aus Afrika, bis wohin er gekommen
war, kleine Löwen aus Wachs, die er ihr als nahe Verwandte aus der
Wüste empfahl.
Auf sein Andringen endlich zurückberufen, reiste er über Lissabon
und London nach Brüssel heim. Aber obschon er viel Neues sah, füllte
er seine Briefe doch nur mit seinen herkömmlichen Scherzen. Die See-
reise war wegen der Piraten nicht gefahrlos und offenbar hatte ihm
Julie d'Angennes geschrieben, daß ihm eine kleine Gefangenschaft nichts
schaden könnte. Denn er antwortete ihr im gleichen Ton: „Sie sind
überaus gütig, mir der Abwechslung halber zwei bis drei Jahre Ruder-
arbeit auf einer türkischen Galeere zu wünschen. Sie hätten wol gern
von mir gehört, wie gut ich die Kameele besorgt und wie geduldig ich
die Bastonade ertragen hätte. Dieser Wissensdurst ist hübsch. Vielleicht
wäre es Ihnen auch recht gewesen, wenn ich eine halbe Stunde gepfählt
worden wäre, um zu erfahren, wie das thut und wie man sich dabei
befindet."^)
Doch er kam glücklich nach Brüssel zurück und hatte die Freude,
bald darauf nach Paris heimkehren zu dürfen, da der Herzog von Orleans
sich abermals unterworfen hatte. Wie früher, verkehrte er wieder im
Hi'itcl Rambouillet, und schloß sich besonders au den Sohn des Marquis
Kambouillet, den jungen Marquis Pisani, an, der ein etwas lockeres Leben
führte und frivole Gesellen, wie Voiture, gerne um sich sah. Um aber
künftig nicht mehr von dem Herzog von Orleans abzuhängen, suchte
Voiture auch Kichelieus Gunst zu erlangen. Er schrieb an einen fingierten
Gegner des Kardinals einen, natürlich für die Öffentlichkeit bestimmten
Brief, um ihn zur Bewunderung des großen Staatsmanns zu bekehren.
Noch nach Jahrhunderten, rief er aus, würden die Franzosen den Mann
lieben, wenn sie die Erzählung seiner herrlichen Thaten lesen.-)
Die Geschichte der französischen Litteratnr hat wenig unabhängige,
charakterfeste Männer in diesen ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts zu
verzeichnen.
Aber Richelieu wußte zu belohnen. Leute, wie Voiture, konnte er
brauchen, wenn sie auch nichts weiter thaten, als sein Lob verbreiten. Er
schickte ihn im Jahr liVil als Gesandten nach Florenz, dem dortigen
Hof die Geburt eines Dauphin, des künftigen Ludwig XIV. anzuzeigen.
Auf seiner Pieise über die Alpen schloß er einen Vertrag mit den Banditen
der Gegend, und ließ sich von ihnen zur größeren Sicherheit geleiten.
Solche Zustände herrschten damals noch an den Grenzen von Frankreich,
in dem civilisierten Italien!^) Frau von Kambouillet hatte Voiture ge-
1) Lettre a Mademoiselle de Rambouillet, n" L, S. 172.
2) Brief vom 14 Dezember 1G36, n» LXXIV, S. 213.
^) Lettre a Mademoiselle de Rambouillet, n" XCIV, S. 245 : „Je voudrois
que vous m'eussiez pü voir aujourd'huy dans uu miroir, en Testat oii j'estois.
Vous m'eussiez veu dans les plus effroyables montagnes du monde au milieu
de douze ou quinze hommes les plus horribles que ron puisse voir, dont le plus
innocent en a tue quinze ou vingt autres, qui sont tous noirs comme des
125
beten, auf seiner italienischen Reise einige bedeutem.le Werke der Archi-
tektur und bildenden Kunst zu besichtigen und ihr darüber zu berichten.
Voiture hatte es zwar versprochen, aber er hielt sein Wort nicht. War
es Trägheit, war es Unwissenheit?
..Aus Liebe für Sie", schrieb er ihr, „habe ich den Valentine mit
mehr Aufmerksamkeit betrachtet, als je etwas, und da Sie eine Be-
schreibung davon wünschen, werde ich sie Ihnen so genau geben, als
ich kann. Nur bemerken Sie, daß, wenn ich diesen Auftrag und den
andern in Rom erfüllt habe, ich für Sie die zwei Dinge gethan habe,
die mir von allen auf der Welt am schwersten fallen, nämlich von Ge-
bäuden und von Geschäften zu sprechen. Der Valentine ist also ein Haus,
eine Viertelstunde von Turin entfernt, in einer Ebene am Ufer des Po.
Wenn man ankommt, findet man zunächst — ich will sterben, wenn
ich weiß, was man zunächst findet. Ich glaube eine Freitreppe. Nein,
einen Säulengang. Ich irre mich, es ist eine Treppe. Meiner Treu, ich
weiß nicht, ist es ein Säulengang oder eine Treppe? Vor einer Stunde
wußte ich es vorzüglich, aber mein Gedächtnis läßt mich im Stich. Wenn
ich zurückkomme, werde ich mich besser unterrichten, und nicht ver-
fehlen, Ihnen genaueren Bericht zu erstatten. "M
Von Florenz ging Voiture weiter nach Rom ; allein auch diese
Stadt machte ihm, so wie ganz Italien, keinen Eindruck. Er fühlte sich
in Rom krank und melancholisch. Auch blieb er nicht lange, sondern
kehrte so schnell als möglich nach Paris zurück. Dort trat er nun in
engere Verbindung mit dem Hof, dem er auch auf seinen Reisen folgte.
Nach Richelieus Tod erfreute er sich der Gunst Mazarins und bald auch
der Regentin. Er wurde zum königlichen Kammerherrn ernannt und er-
hielt eine einträgliche Stelle in der Finanzverwaltung, später auch noch
eine Pension von 1000 Thalern jährlich. ■■^) Aber seine Leidenschaft für
das Spiel und die Schönen kostete ihn viel, und als ihm bei heran-
nahendem Alter die Rolle des erheiternden Gesellschafters schwieriger
fiel, wurde er münisch und unverträglich. Ausbrüche übler Laune er-
setzten häufig die Galanterie. In den letzten Jahren von Fieberanfällen
heimgesucht, starb er im Juli 1()48 nach kurzer Krankheit.
Wir haben ein leeres, frivoles Leben geschildert ; ein Leben, wie
es deren ja viele giebt, von welchen man dann aber auch nicht redet.
Voiture aber hat seinen Platz in der Litteraturgeschichte. und so fällt
seine Nichtigkeit unangenehm auf. Dagegen muß man aber bedenken,
daß Voiture selbst nie einen Schritt gethan hat, um sich litterarisch
Diables, et qui ont des cheveux qui leur viennent jusques k la moitie du eorps,
chacun deux ou trois balafres sur le visage; une grande harquesbuse sur l'epaule
et deux pistolets et deux poignards ä la ceinture. Ca sont les Baudis qui vivent
dans les montagnes des confins de Piedmont et de Genes... De peur d'en estre
vole je m'en estois fait accompagner."
1) Lettre ä Madame de Rambouillet, n" XLV, S. 247.
-) Man veranschlagte sein jährliches Einkommen auf 18 000 Livres, welche
Summe man vervierfachen muß, wenn man ihren Wert in heutigem Geld an-
nähernd finden will.
126
geltend zu machea. Er war ein Mann des Lebensgenusses und der Ge-
selligkeit, aber an schriftstellerischen Ruhm hatte er nie gedacht. Er
hat kein einziges Werk veröffentlicht, und wenn er eine Anzahl Gelegen-
heitsgedichte geschrieben hat, so hat er sich doch nicht für einen Dichter
gehalten. Im Auftrag des Fräuleins von Rambouillet hat er allerdings
auch an einem Roman: „Alcidalis und Zelide"', gearbeitet. Julie hatte ihm
den Stoff angegeben, den Gang der Geschichte angedeutet und ihn ge-
beten, die Arbeit auszuführen. Zwanzig Jahre lang hatte er sie in Arbeit,
und bei seinem Tod fand man sie unvollendet unter seinen Papieren.
Auch das beweist, daß litterarischer Ehrgeiz ihn nicht beseelte. Seine
Briefe waren zwar zum Teil so abgefaßt, daß sie in weiteren Kreisen
gelesen und bewundert werden konnten, aber weiter gingen seine Wünsche
nicht. Sein Streben war einzig darauf gerichtet, in dem vornehmen Kreis,
in dem er zugelassen war. zu glänzen und zu gefallen. Darin unterschied
er sich von Balzac. Der letztere schrieb seine Briefe für den Druck.
Voiture nur zur Unterhaltung eines verhältnismäßig beschränkten Kreises.
Erst nach seinem Tod geriet man auf den Gedanken, seine Briefe zu
sammeln und zu veröffentlichen. Dieser Arbeit unterzog sich sein Neffe
Pinchesne, der in der Vorrede zu seiner Ausgabe das bezeichnende Wort
sagte, er rechne hauptsächlich auf die Zustimmung der illustren Damen,
die Voitures Unterhaltung und seine Briefe so hoch geschätzt hätten.
In der That ist Voiture einer der ersten in der langen Reihe von Schrift-
stellern, die ihr Glück durch die Damen gemacht haben. Pinchesne glaubte
übrigens die Briefe, die er veröffentlichte, verstümmeln zu müssen, doch
.sind die Lücken seitdem zum Teil ausgefüllt worden.')
So kam Voiture nach seinem Tod zu der Ehre litterarischer An-
erkennung, wie ja auch später Frau von Sevigne erst viele Jahre nach
ihrem Hinscheiden eine Zierde der französischen Litteratur wurde, nur
hüte man sich, neben dieser äußerlichen Ähnlichkeit in dem Schicksal
der beiden Briefschreiber auch auf eine innere Übereinstimmung zu
schließen. Während die eine ganz Natürlichkeit und Frische ist, bleibt
der andere immer künstlich und selbst in seinem Witz berechnet.
Diese Berechnung erhellt am besten aus der Art, wie Voiture mit
den Großen umgeht. Er weiß genau, wann er sich in seinen Briefen
eine Freiheit erlauben darf, und wann er ehrerbietig sein muß. Der
Herzog von Enghien. der bedeutendste französische Feldherr seiner Zeit,
und nach seines Vaters Tod als Prinz von Conde bekannt, hatte im
Jahr 1643 den Rhein überschritten, um sich mit dem Marschall Guebriant
zu vereinigen. Der junge Herzog, der Bruder der schon erwähnten
Prinzessin von Bourbon, war auch ein häufiger Gast im Hotel Ram-
bouillet gewesen, und an ein dort beliebtes Gesellschaftsspiel erinnernd.
') Etienne Martin, sieur de Pinchesne, war selbst Dichter. Seine Gedichte
orschienen in zwei Bänden in 4^. Boileau (Epitre V, v. 17) erwähnt seiner mit
verächtlichem Wort:
Que tout, jusqu'ä Pinchesne, et m'insulte et m'accable.
Siehe ferner desselben Epitre VIII, v. 104, Art. „Poetique", IV, v. 34,
und .Lutrin'-, V, v. 163.
127
schrieb ihm Voiture : „Guten Tag, Gevatter Hecht! Es ahnte mir immer.
<laß das Wasser des Rheins dich nicht aufhalten würde. . . Zwar hast
<lu bisher in allen Saucen gut geschmeckt, aber man muß gestehen, daß
<lie deutsche Sauce dir einen besonderen Geschmack verleiht. Die Kaiser-
lichen wollten dich backen und mit Salz essen . . . und jetzt freut man
sich zu sehen, daß diejenigen, welche das Ufer des Rheins verteidigen
wollten, nicht einmal des Besitzes der Donau sicher sind." In diesem
Ton geht es lang fort, und der Brief, der von dem ergebenen und ge-
horsamen Diener und Gevatter Karpfen unterzeichnet ist, schließt mit
dem Wunsch, der glorreiche Hecht möge nach so vielen Mühen sich bald
in dem Wasser der Seine erfrischen, und sich mit den hübschen Schleihen,
schönen Barschen und anständigen Forellen unterhalten, die seiner mit
Ungeduld warteten.')
Ein anderes Mal schreibt Voiture an den Herzog in ähnlich humori-
stischem Ton- „In diesem ganzen Feldzug hat Eure Holieit keine so
kühne That vollbracht, wie die ist, die ich jetzt unternehme. Denn ob-
schon ich weiß, welch feines Verständnis Sie haben und wie wenig Briefe
Ilinen gefallen, unternehme ich es doch, Ihnen zu schreiben, ohne daß
ich etwas Gutes oder Gefälliges zu sagen wüßte. Ich will sterben, wenn
ich nicht lieber sechs Menschen mit eigener Hand umbrächte oder mich
bei einem Ausfall der Feinde an Ihrer Seite hielte. Das verrät große
Kühnheit, gnädiger Prinz, ist aber nur Furcht,..."
Ermangeln diese Briefe jeder höheren Idee, ja sind sie selbst jed(3S
Ernstes bar und vollkommen nichtig, so ist auch ihr Witz nur ober-
flächlich und häufig nur auf eine mehr oder weniger komische Über-
treibung gestützt. Noch auffallender ist Voitures Mangel an Beobach-
tungsgabe, oder vielleicht mehr noch an Interesse. Er durchreiste
Spanien, Portugal und Italien, er sah England und die Niederlande,
aber seine Briefe bieten nichts zur Kenntnis jener Länder. Höchstens
drückt er einmal sein Erstaunen über die Trägheit des spanischen Volkes
aus, oder er schildert in raschen Zügen die Natur der iberischen Halb-
insel. Am meisten fällt die Beschreibung einer Rhonefahrt auf, da
sie einen fast modernen . sentimental romantischen Charakter trägt,
wie man ihn in jener Zeit am wenigsten erwartet. „Hätten Sie mich
doch neulich auf meiner Fahrt von Vienne nach Valence gesehen!"
schreibt er an das Fräulein von Rambouillet. „Als der Tag graute und
die Sonne die Gipfel der Berge beleuchtete, schifften wir uns auf der
Rhone ein. . . Meine Gefährten betrachteten bald die schneebedeckten Ge-
birge der Dauphine, die sich auf der linken Seite, zehn bis zwölf Meilen
von uns entfernt, erhoben, bald die mit Reben bepflanzten Rhone-Ufer,
oder ihr Blick schweifte hinaus über weite Thäler voll blühender Bäume.
Ich aber stieg inmitten dieser allgemeinen Freude auf die Warenballen
unseres Schiffs, und während die anderen die Gegend bewunderten,
dachte ich an das, was ich verlassen hatte. Den rechten Ellbogen auf-
gestützt, den Kopf vorgeneigt und auf die rechte Hand gelegt, in der
^; Lettre k Mouseigneur le duc d'Anguieu, u" CXLIII, S. 313.
128
nachlässig ausgestreckten Linken ein ßucii, das mii- den Vorwand meiner
Isolierung gab: so saß ich da, blickte starr auf den Fluß, aber sali ihn
nicht. Dicke Thränentropfen entquollen von Zeit zu Zeit meinen Augen ;
ich stieß Seufzer aus, als wollte meine Seele mit ihnen den Körper ver-
lassen; ich redete unklare, verwirrte Worte, welche die anderen nicht
hören konnten, und die ich Ihnen mitteilen werde, wenn Sie es wünschen." M
Natürlich ist die ganze Geschichte von seiner Schwärmerei nur ein
Scherz. Voiture fügt selbst hinzu, die Stelle müsse eigentlich in Verse
gebracht werden, damit sie sich noch besser ausnehme. Er hört auch
zum voraus den Vorwurf seiner Freundin, daß alle diese schönen Phrasen
nur Lückenbüßer seien, die den Brief füllen müßten.
Einen ganz andern Ton schlug Voiture an, wenn er mit seinen
gelehrten Freunden Balzac, Chapolain, Costar u. a. correspondierte. Dann
möchte er auch gern den kenntnisreichen Herrn herauskehren, verhandelt
über den Wert einzelner Wörter, über lateinische Verse und xVusdrücke,
und spickt seine Briefe mit lateinischen Citaten. Im Grunde kümmerte
er sich freilich nicht viel um diese Fragen. Aber es regnete Höflich-
keiten. Die Komplimente, welche er mit Balzac wechselte, sind wahr-
liaft ergötzlich. Man bedurfte des gegenseitigen Lobs und man sah darin
eine Art Ruhmes- und Lebensversicherung. Jeder pries des andern Geist
und sein Talent in der Kunst des Briefschreibens. Und in der That, es
war eine Kunst. Der Brief hatte im allgemeinen früher eine höhere Be-
deutung als jetzt. Das Leben der heutigen Menschen ist zu rasch, zu
sehr in Anspruch genommen, als daß es einer vielseitigen, gemütlichen,
mitteilsamen Korrespondenz noch solchen Platz einräumen könnte, zumal
die wachsende Ausdehnung der Tagespresse das Bedürfnis brieflicher
Verbindungen bedeutend verringert hat. Im 17. Jahrhundert, das die
Annehmlichkeit einer gut unterrichteten, sich um die kleinsten Erschei-
nungen kümmernden Presse noch gar nicht kannte, mußten die Briefe
'ioppelten Wert haben, hi der jungen, sich neu gestaltenden Gesellschaft
hatte man Durst nach geistiger Mitteilung, nach Anregung und Verkehr
mit der Ferne. Die Folianten und Quartanten der Gelehrten entsprachen
nur selten diesem Wunsch; die schöne Litteratur, welche eine leichtere
Unterhaltung bieten konnte, war erst im Erblühen und bot nur wenig
Bedeutendes. So trat denn der Brief an die Stelle des Buchs. Man schrieb
sich Briefe, nicht um gerade Neues zu hören, denn die wichtigsten Fragen
.scheute man sich darin zu berühren , wohl aber um das Vergnügen zu
iiaben, überhaupt etwas Leichteres zu lesen. Man empfing die Briefe, wie
man heute die Zeitung nimmt, fast als Gemeingut; man besprach sie,
gab sie weiter, und je mehr sich die Briefe zur Verbreitung eigneten,
desto besser erschienen sie. Wirklich intime Mitteilungen waren natür-
lich nicht ausgeschlossen, aber während des ganzen Jahrhunderts legte
man den Briefen, die man zeigen konnte, mit welchen man sich brüsten
konnte, den sogenannten geistreichen Briefen, besonderen Wert bei. Sie
1) A Mademoiselle de liambouillet, datiert .\vignon, Luiidi gras, 1(>42
n" CXXVIII, S. 29-4.
129
>
ersetzten gewissermaßen das Feuilleton und die Plaudereien der modernen
Zeitungen.
Von diesem Standpunkt aus sind auch die Briefe Balzacs und
Voitures zu beuiteilen. Darum erscheinen sie uns oft so nichtssagend
und leer. Denn sie fußen häufig nicht auf realem Boden und verlieren
deshalb für die Nachwelt den hauptsächlichen Reiz.
Einmal aber auf irrigem Weg und nur besorgt, einer falschen
Mode seiner Zeit zu huldigen, wird der Briefsteller gar bald durch seine
Manier unerträglich. Dies beweist Voiture in seinen gekünstelten .,Liebes-
briefen"/) aus welchen jeder Geschmack und jedes natürliche Gefühl ge-
schwunden sind. „Sie können überzeugt sein, daß weder Traurigkeit
noch Liebe jemals einem Menschen den Tod geben können", schreibt er
an eine Dame, „da Sie mich nicht getötet haben; denn nachdem ich
zwei Tage lang nicht die Ehre hatte, Sie zu sehen, bleibt mir dennoch
ein Restchen von Leben." Oder er sagt: „Ich atme nur noch, insofern
ich seufze". „Die Nacht ist für die anderen Menschenkinder vorüber-
gegangen ; für mich dauert sie noch, da ich nicht klar sehen kann, ob
ich der glücklichste oder der unglücklichste Mensch auf Erden bin."^)
Nicht minder schwülstig war Voiture in seinen sozusagen offi-
ziellen Huldigungsgedichten. Dagegen ließ er seiner Natur freien Lauf
in den leichten Chansons und Rondeaux. Sind sie auch oft etwas zu
langatmig, so sind sie doch nicht ohne Heiterkeit und Laune. Sie er-
innern an die leichten Gedichte Gressets und Voltaires, wenn sie deren
Anmut und Geist auch nicht erreichen. Für einen poetischen Wettstreit
mit dem Dichter Benserade gelang es ihm. den ganzen Hof so zu inter-
essieren, daß er sich in zwei Lager teilte. Voiture stand mit einem
„Sonett an Urania" einem Sonett des genannten Dichters über Hieb
gegenüber. Die Herzogin von Longueville, Voitures Freundin, stand an
der Spitze der „Uranisten", während Prinz Conti das Haupt der „Jo-
bisten" war.^)
1) Lettres amoureuses et de galanterie de Mr. de Voiture.
2) Lettres amoureuses, n« X, S. 404, und n» XVII, S. 412.
3) Wir können heute nicht mehr begreifen, wie ein solcher Streit über-
haupt entstehen konnte. Umsomehr wird es vielleicht interessieren, die beiden
Gedichte zu lesen.
Voitures Sonett lautet:
II faut finir mes jours en ramour d'üranie!
L'absence n_y le temps ne m'en syauroient guerir:
Et je ne voy plus rien qui me püt secourir;
Ny qui sceust r'appeler raa liberte bannie.
Des long-teraps je connois sa rigueur inflnie!
Mais pensant aux beautez pour qui je dois perir
Je benis mon martyre, et content de mourir,
Je n'ose murmurer contre sa tyrannie.
Quelquefois ma raison, par de foibles discours,
M'incite ä la revolte, et me promet secours.
Mais lors qu'ä mon besoin je me veux servir d'ello;
Lotlieißen, Gesch. d. franz. Litteratur. u
130
Daß sieb Voiture auch in seinen Gedichten zu keinem hohen FJug
erhob, ist kaum zu sagen nötig. Wir finden u. a. Stanzen auf den Schuh
einer Dame und Verse an ein Fräulein, das unreine Manschetten hatte.
Das ist echter Voiture.
Nach seinem Tod entbrannte zwischen einem Anhänger Balzacs
und Costar, dem Freund Voitures. eine heftige litterarische Fehde über
die Bedeutung des Verstorbenen. Balzac hatte sie indirekt hervor-
gerufen, indem er sich an seinen gelehrten Freund Girac wandte, mit
dßr Bitte, ihm seine Meinung über Voiture zu schreiben, und dieses Gut-
achten dann an Costar zur Beurteilung schickte. Es entspann sich daraus
eine Fehde, welche für Balzac nicht gerade angenehm war. Allein wir
haben nicht nötig, die grobe Zänkerei hiei' weiter zu verfolgen. Balzac
hoffte wohl den Kuhmeskranz seines Rivalen, der so ganz entgegen-
gesetzten Charakters war, in diesen Kämpfen etwas zerzaust zu sehen ;
doch täuschte er sich oder hatte zum wenigsten von Seiten Costars nicht
minder Anzügliches zu hören. Man mag über Voiture urteilen, wie man
will, jedenfalls muß man anerkennen, daß er den leichten Stil der Plau-
derei schuf und der Sprache die Gelenkigkeit und Leichtigkeit der Be-
wegung gab, welche sie bei Balzac nicht erlangen konnte. Darin stimmen
die Zeitgenossen mit der späteren Kritik überein. Sehr fein beurteilt
Apres beaucoup de peine et d'efforts impuissaus,
EUe dit qu'üranie est seule aymable et belle,
Et m'y rengage plus que ne fönt tous mes sens.
Benserade dagegen dichtete:
Job de mille tourmens atteint
Vous rendra sa douleur connue,
Et raisonnablemeut il craint
Que vous n'en soyez point emue.
Vous verrez ma misere nue;
II s'est luy-mesme icy depeint:
Aceoutumez-vous a la vue
D'un homme qui souffre et se plaint.
Bien qu'il eust d'extremes souffrances,
On voit aller des patiences,
Plus loin que la sienne n'aUa.
II souffrit des maux incroyables,
II s'en plaignit, il en parla...
J'en coanois de plus miserables.
P. Corneille urteilte über die beiden Gedichte folgendermaßen:
L'un nous fait voir plus d'art et l'autre plus de vif;
L'un est le mieux soigne, l'autre le plus naif;
L'un sent uu Jong efiort et l'autre un prompt caprice;
Eu-fin, Tun est mieux fait et l'autre est plus joli.
Et pour te dire tout en somme,
L'uu part d'un auteur plus poli,
Et l'autre d'un plus galant homme.
131
Boileau die beiden Meister der Prosa, indem er jeden von ihnen einen
Brief aus der Unterwelt schreiben läßt und darin ihre Manier trefiflich
nachahmt.') Sainte-Beuve faßt seine Meinung über beide dahin zusammen,
daß Balzac Talent, Voiture Esprit gehabt habe, und setzt an anderer
Stelle hinzu: „Voiture hat alles auf eine Leibrente gesetzt: er war eine
Zierde der Gesellschaft: er wollte gefallen und erreichte sein Ziel; aber
er hat sich dabei ganz verzehrt".-)
1) Siehe Boileaus Briefe: „Lettre a Monseigneur le duc de Vivonne" vom
4. Juni 1675 und seine „Art Poetique", ü, 45 ff., wo er besonders Voiture im
Auge hat, wenn er von den faden Liebesgedichten spricht.
2) Sainte-Beuve, Causeries du lundi, tome XII, mit zwei Artikeln über
Voiture.
Bibliographie: Außer den schon citierten Werken ist noch die Ausgabe
der Werke Voitures von A. Ubicini (2 Bände, 1855) zu nennen. Man vergleiche
ferner : Tallemant des Reaux, Historiettes, Band III, der einen Abschnitt über
Voiture hat. Für die Geschichte der damaligen Gesellschaft sei hier nochmals
Cousin, La societe fran^aise au XVII siecle genannt. Der zweite Band enthält
ein Kapitel (VIII) über Madame de Sable und Voiture. Ebenso desselben Ver-
fassers Buch : La jeunesse de Madame de Longueville, chap. IL In dem sechsten
Teil des „Grand Oyrus" von Madeleine de Scudery wird Voiture unter dem
Namen Callicrate eingeführt, sein Geist gelobt, aber sein Charakter als häßlich
geschildert.
VIII.
Die Lyrik.
Bei der Würdigung der französischen Litteratur in der ersten
Hälfte des 17. Jahrhunderts muß man stets im Auge behalten, daß
die Nation in entschiedener Weise auf Gleichmäßigkeit und Regelmäßigkeit
auf allen Gebieten des Lebens drang; diesem mächtigen Zug der Zeit
war schwer zu widerstehen, und die Individualität verlor dieser aus-
gleichenden Tendenz gegenüber mehr und mehr ihre Rechte. Jede eigen-
geartete Persönlichkeit mußte Not leiden. Nun ist aber die Lyrik mehr
als jede andere Gattung der Poesie eine Äußerung des individuellen
Lebens, und so darf es nicht überraschen, wenn die französische Dichtung
in jener Zeit wenig Bemerkenswertes auf diesem Gebiet aufzuweisen hat.
Montaigne sagt einmal in seineu „Essais", die Poesie allein ge-
stattet keine Ungeschicklichkeit, ein mittelmäßiger Dichter sei uner-
träglich. Er beruft sich dabei auf einen horazischen Vers, der ungefähr
dasselbe besagt, und den er als Inschrift an der Thür jeder Druckerei
sehen möchte, um damit die Menge der Reimschmiede abzuschrecken.^)
Mit diesem Wort Montaignes könnte man die gesamte Lyrik der
Epoche, welche wir betrachten, als verurteilt ansehen und beiseite schieben.
Denn nur die helle Mittelmäßigkeit herrschte damals auf diesem Gebiet,
und trotz des Lobs, das den Dichtern in überschwänglicher Weise voa
ihren Zeitgenossen gespendet ward, hat sich kein einziger von ihnen in
der dankbaren Erinnerung des Volkes erhalten. Wol dichteten und
reimten eine Menge zum Teil begabter Männer, aber aus dem lauten
Chor so vieler Sänger klang keine wahrhafte Dichterstimme hervor. Die
Lyrik jener Zeit war ein künstliches Produkt; sie kam nicht aus dem
Herzen und drang nicht in die Tiefe bis zu ihm. Trotz alles Haschens
nach Leidenschaftlichkeit blieb das Gemüt unbewegt, und das Volk selbst
hatte mit dieser Poesie nichts gemein. Weniger aber wie jede andere
Gattung der Dichtung kann die Lyrik des natürlichen warmen Gefühls
entbehren, will sie nicht einer künstlich im Treibhaus gezogenen Pflanze
gleichen.
1) Montaigne, Essais, I. II, chap. 17 „de la presomption" : „On peut faire
le sot partout ailleurs, mais non en la Poesie.
— Mediocrihus esse poetis
Non Di, non homines, non concessere eolumnae.
Pleust ä Dieu, que cette sentence se trouvast au front des boutiques de
tous nos Imprimeurs, pour en deffendre l'entree ä tant de versificateurs."'
133
Die Lyrik ist überhaupt nicht die starke Seite der Franzosen;
kaum aber mag es eine Zeit gegeben haben, in der sie weniger lyrischen
Schwung in sich verspürten, als während der ersten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts. Auch die Völker haben ihre Stimmungen und Launen, die
selbst wieder oft unter der Herrschaft der Mode stehen. Nirgends jedoch
ist die Mode so mächtig wie in Frankreich, weil die sociale Gleichheit
nirgends so groß ist. Man scheut sich anders zu leben, anders zu thun
und zu denken, als der gerade herrschende Geist es will. Das gilt zu-
nächst von den litterarischen und ästhetischen Anschauungen, von dem
gesellschaftlichen Leben, von dem Ausdruck in Wort und Schrift, obwol
man auch die häufig und unerwai'tet eintretenden Umschläge in der poli-
tischen Geschichte des Landes zum Teil damit erklären kann. Auch die
Art, zu empfinden, . oder besser vielleicht, die Art, eine Empfindung
auszudrücken, ist mehr, als man gewöhnlich glaubt, Sache des zufällig
herrschenden Geschmacks. Nur das echte Dichtergenie unterwirft sich
ihm nicht, sondern bestimmt ihn. Versemachen war zur Zeit Lud-
wigs XIII. ein beliebter Zeitvertreib der eleganten Welt, und so unter-
zogen sich dieser Pflicht viele, die sonst nicht daran gedacht hätten.
Solche Dichter aber können nur nachahmen, und da Italien damals den
Ton augab, dichteten sie im italienischen Geschmack. Die Männer, welche
im Hotel Rambouillet wegen ihrer galanten Sonette gepriesen wurden,
hätten mit nicht minderem Eifer weltschmerzlich empfunden oder ihre
Verse im Stil der Romantiker verfaßt, wenn sie zufällig Lord Byrons
oder Victor Hugos Zeitgenossen gewesen wären. Ihre Begabung hätte
für die äußerliche Nachahmung auch dieser Manier ausgereicht. Da sie
aber zwei Jahrhunderte früher lebten, fanden sie ihren Ruhm in zier-
lichen Worten und gesuchtem Witz. Jede Epoche hat ihren besonderen
Charakter, den sie in allen Äußerungen offenbart. Und darum findet
auch eine Lyrik, die ohne inneren dichterischen Wert ist, ihre Stelle in
der Geschichte der Litteratur. Spiegelt sich doch oft die Zeit in ihr auf
ganz besondere Weise. Das Bild des Geisteslebens und der Gesellschaft
jener Tage wäre unvollständig, wenn man die Lyrik unbeachtet lassen
wollte.
Wie sich die lyrische P.oesie in Frankreich unter Malherbes Einfluß
und unter der Herrschaft des Hauses Rambouillet in ihrer Entwicklung
gestalten mußte, ist klar. Sie gehörte einer neuen Zeit an, und eine tiefe
Xluft trennte sie von den Dichtungen eines Desportes und Bertaut.
Auch hier tritt vor allem das Ringen um die Form zu Tage.- Die Vorzüge
und Mängel Malherbes finden sich auch bei seinen Nachfolgern; die
eisteren abgeschwächt, die letzteren oft verstärkt. Es ist kein Zufall,
daß unter allen Formen der lyrischen Poesie das Sonett damals zumeist
zu Ehren kam. Wenn irgendwo, so ist im Sonett die Schönheit der
Form unerläßlich. Je größer der Zwang, der zu überwinden war, desto
ruhmvoller erschien der Sieg. Noch Boileau erklärte, daß ein gelun-
genes Sonett eine große Dichtung aufwiege. Daneben wurden haupt-
sächlich die Ode, die Stanze, das Epigramm gepflegt, während die natio-
nalen Formen der französischen Lyrik mehr noch als früher vernachlässigt
134
wurden. Alle Poesie lag fär die damaligen Dichter in dem ängstlichen
Abwägen der Silben, in der pedantischen Beobachtung der vorge-
schriebenen Ruhepunkte, in dem emsigen Feileu und «rlätten der ein-
zehien Verse; und dem Spiel mit der künstlichen Form entsprach der
Geist, der sich in ihr enthüllte. Der Mangel an Gehalt wurde immer
größer. Daß die Lyrik politisch völlig farblos war, ist erklärlich. Ab-
gesehen von den schmeichelnden Huldigungsgedichten für die Großen,
findet sich nirgends eine Andeutung, daß man wirklichen Anteil an dem
Schicksal des Landes genommen hätte, wie z. B. d'Aubigne es während
der Religionskriege gethan. Wie hätte es auch anders sein können, da
das öffentliche Leben immer mehr dahinschwand. Wer nicht seinen
Privatvorteil bei Hof oder in einem Staatsamt suchte, zog sich in die
Stille zurück. Das Gefühl der Vaterlandsliebe findet darum in der ganzen
damaligen Poesie keinen Ausdruck. So singt Racan einmal das Lob
de? dunkeln Lebens, das thaten- und ruhmlos verstreicht. Mögen andere
ihrem Ehrgeiz fröhnen. er verzichtet willig auf die Gunst des Hofes,
der doch allein Ruhm und Ehre verleihen kann. Der König zieht zum
Kampf aus, und der Dichter überlegt, ob er ihm folgen soll. Aber er
kommt zum Schluß, daß er sein Leben und seine Treue schon einem
andern Herrscher, dem Liebesgott, gewidmet hat. Wenn andere dem
mächtigsten der Menschen dienen, so dient er dem mächtigsten der
Götter.') „Fortan sei die Liebe das Ziel unserer Wünsche!" ruft er ein
andermal aus, „denn die Götter haben den Ruhm für sich geschaffen
und für uns die Lust.''-)
Unwillkürlich gedenkt man dabei des römischen Volkes, welches
sich nach einem langwierigen, verzweifelten Bürgerkrieg unter die
Herrschaft eines Imperators beugte, dessen Lyriker dann das Glück des
Friedens priesen und den egoistischen Lebensgenuß als höchste Lebens-
weisheit empfahlen. Allein der Unterschied ist doch gewaltig. Horaz,
Tibull und ihre Freunde besaßen nicht allein in ihrer klassisch ausge-
bildeten Sprache ein wunderbares Instrument; sie hatten auch Geist,
Empfindung und Geschmack. Gaben, welche zwar nicht genügen, die
höchsten Anforderungen in der Lyrik zu erfüllen, welche aber immerhin
eine reiche und schöne Litteratur schaffen können. Alles dies aber fehlte
der französischen Poesie jener Zeit. Schärfer kann man sie nicht be-
urteilen, als dies Guizot gethan hat: ., Ungeachtet der Mannigfaltigkeit
in der Litteratur der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erkennt man
in ihr einen Hauptzug, den Mangel eines wahren und ernstlichen Gefühls
und jener Inspiration, welche, aus der Wirklichkeit selbst geschöpft,
diese zunächst in das Gebiet der Phantasie erhebt und dann erst in die
^) Siehe Racan, Oeuvres, Ausgabe 1724, S. 164, die Ode: „Saison des fleurs
et des plaisirs".
-) Sieie Racan, Ode a Mr. le eomte de Bussy, wo es am SohluD heißt:
Qu"amour seit desormais la lin de nos desirs;
Gar pour eux seulement les Dieus ont fait la gloire,
Et pour nous les plaisirs.
135
Verse des Dichters übergeht. Die zahlreichen Reimschmiede, welche damals
die Psalmen übertrugen oder paraphrasierten, waren keineswegs von reli-
giöser Begeisterung beseelt; kein einziges der zehntausend Sonette,
Balladen und Madrigale, welche die Liebe bis zum Überdruß feierten,
war von der Liebe eingegeben; die Freude an der Natur und der An-
blick ihrer Schönheiten haben kein einziges Gedicht veranlaßt, das wirklich
von Herzen käme oder eine Erregung der Phantasie andeutete. Welches
Thema man auch für seine Verse wählen mochte, man sah darin nur
ein Spiel des Geistes, eine Gelegenheit, mehr oder weniger harmonische
Wörter, mehr oder weniger angenehme Ideen auf mehr oder weniger
sinnreiche Weise zusammenzustellen."
,.Kein Mensch, der dichten wollte, dachte daran, seine wahren
Seelenempfindungen. seine wahre Sehnsucht, seine Befürchtungen und
Hoffnungen zu ergründen, sein Herz und die Erinnerungen seines Lebens
zu befragen, kurz, ein Dichter und nicht bloß ein Verseschmied zu sein.
Die Unmöglichkeit, in den poetischen Werken eines halben Jahrhunderts
ein wahrhaft erhabenes, kraftvolles oder leidenschaftliches Gedicht zu
finden^ ist eine Thatsache, die den Gesichtspunkt begreiflich maclit,
unter welchem man die Poesie zu einer Zeit ansah, welcher die natür-
lichen und mächtigen Gefühle des menschlichen Herzens so wenig fremd
waren, wie irgend einer anderen Epoche."')
Guizot irrt nur in dem letzten Punkt, und seine Bemerkung, daß
die Herzen damals so lebhaft geschlagen hätten wie sonst, ist vielleicht
zu allgemein. Er übersieht, daß er es nicht mit nationaler Poesie,
sondern mit höfischer Dichtung zu thun hat. Und während das Volk,
wie zu jeder Zeit, die Lebendigkeit seines Gefühls und seiner Anschauung
bewahrte, hatten diese vornehmen Kreise wirklich die Kraft der Leiden-
schaft, die Wahrheit der Empfindung eingebüßt. Hätten sie in der
That kräftig empfunden, so müßten wir die Spuren davon in ihren
Gedichten finden. Es war also nicht allein eine falsche Anschauung von
dem Wesen und der Aufgabe der Poesie, welche die Dichter jener Zeit
irre leitete, es war die jeder Poesie entfremdete Natur der Dichter,
welche nichts Besseres schaffen konnte.
So nur erklärt sich die falsche Galanterie, der hohle Witz, die
künstlich erregte und deshalb so frostige Leidenschaftlichkeit in der da-
maligen Lyrik. ..Willst Du mich über die Sterblichen erheben, so lasse
mich aus Deiner hohlen Hand trinken, sofern das Wasser nicht den
Schnee derselben zum Schmelzen bringt", fleht der eine, und wenn ihm
sein Wunsch erfüllt wird, so fühlt er sich vor Wonne dem Tode nahe,
denn die Geliebte hat ihn „um die Hälfte mehr Feuer als Wasser
schlürfen lassen".-) Ein anderer weiß, daß seine Schöne selbst im
1) Guizot, Corneille et .sou tcmps. >]tiide litteraire. Nouvelle edition. Paris
1858, Didier & Cie. S. 85 if.
2) Tristan l'Ermite, „promenoir de deux amants" :
„Veux-tu par un doii.x privilege
„Me mettre au-dessus des Humains V
136
Himmelreich Herrscherin ist, und darum hält er es für ein Glück, daß
Amor blind ist, sonst wäre auch dieser verloren. Denn die Schönheit
seiner Geliebten ist so groß, daß man sinnlos sein muß, um seine Sinne
zu bewahren.^) Ist Philis fieberkrank, so weiß der Dichter gleich, daß
der Himmel ihr dieses Leiden schickt, weil er neidisch ist und der Erde
einen solchen Besitz mißgönnt.^) Wieder ein anderer bittet die Nach-
tigall, der Geliebten zu sagen, daß der Bach, der zwischen den Blumen
dahinströmt, ein Überrest der Thränen sei, welche ihm seine Liebe
entlockt habe.^) In dieser AVeise klingen alle Liebeslieder der Zeit. Sie
sind nur ein konventionelles Spiel . und es ist erklärlich , warum der
ebenso gelehrte als trockene Chapelain in einer späteren akademischen
Rede sich gegen die Liebe erklärte und ihr jede Bedeutung für die
Poesie absprach. Statt der Empfindung bot der Dichter Wortspiele und
Antithesen, statt der Wahrheit hatte er nur Künstelei. Einer der besten
unter den damaligen Poeten, Racan , klagt, daß ihn seine Liebe weder
leben noch sterben lasse. Selbst im Krieg könne er den Tod nicht
finden, denn, wenn Amor mit seinen Pfeilen ihn nicht habe töten
können, wer vermöchte es dann? Auch dürfe der treue Liebende den
Tod nicht suchen, denn der Tod endige ja die Liebesqual, in der er
ewig zu schmachten begehre."*) Racan feiert ein andermal eine Cloris,
welche mit jedem ihrer Haare eine Seele gefesselt hält und deren feurige
Augen die Welt schon längst zu Asche gebrannt hätten, wenn diese nur
solcher Ehre würdig wäre.'')
Bei dieser beispiellosen Fadheit und diesem Ungeschmack, der
übrigens zu jener Zeit nicht in Frankreich allein, sondern in allen
romanischen Ländern und noch weiter hinaus herrschte, sollte man
wenigstens denken, daß die Sprache ängstlich vor jeder unschönen
Wendung, jedem häßlichen Bild bewahrt worden wäre. In formeller
Hinsicht hat die Sprache allerdings durch diese Dichter manches ge-
wonnen, allein bei alledem sind selbst die besseren derselben, wie
„Fay-moi boire au creux de tes iiiaias,
,,Si l'eau n'en dissout point la neige.
„Ah, je n'en puls plus, je me pasme,
,,Mon ame est preste ä s'envoler,
„Tu vieus de me faire avaler
„La moltie moins d'eau que de flame "^
1) Racan in seiner Ode „Plaisant sejour" :
„Ses beautes sont telles
Que pour estre insensible il faut estre insense."
-) Racan, Sonnet sur la maladie d'une maitresse.
3) Francois Maynard, Oeuvres, Paris 1646, chez Augustin Courbe, S. 130:
„Apprens ä cette ame cruelle
„Que l'eau qui coule entre ces Fleurs
„Est un petit reste des pleurs
„Que j'ay verses pour Tamour d'elle."
*) ßacau, Ode, S. 170, der oben citierten Ausgabe.
5) Racan, Ode, S. 177.
137
Majnard u. a., oft unglaublich geschmacklos und roh. Die größere
Freiheit, welche die Zeit dem Wort gestattete, kann zum Teil die
Derbheit des Ausdrucks erklären, aber sie entschuldigt nicht die Ge-
schmacksverwirrung, die überall eingerissen war.')
Auf den Giund dieser merkwürdigen Erscheinung haben wir schon
oben hingedeutet. Die Lyrik war gleich der ihr verwandten Schäfer-
dichtung wesentlich Hofpoesie. Noch fehlte das große Publikum, das
allein den Dichter selbständig machen und ihn vor vielen Verirruugen
bewahren kann. Damals mußten die Dichter, die nicht von Haus aus
unabhängig waren, in den Dienst der Großen treten, ihnen huldigen
und sich deren Geschmack unterwerfen. So war es ihnen schwer, aus
der Welt, in der sie sich bewegten, und dem engen Gedankenkreis, in
welchen sie eingeschlossen waren, sich zu retten. Ein Dichter gehörte
zum Hofhalt eines vornehmen Herrn und ergänzte gewissermaßen dessen
Dienerschaft. Daher denn auch die Sündflut von Huldigungsgedichten.
Man könnte allein ganze Bände füllen mit den Oden, welche zu Ehren
des Königs Ludwig oder des Kardinals Richelieu verfaßt wurden. Jeder
Dichter hielt es für seine Pflicht, sich anbetend in den Staub zu werfen
und das Lob der Mächtigen zu verkünden, von deren Gnade er abhing.
Da das gleiche Thema häufig wiederkehrte, konnte der Poet durch die
Variationen, die er anzubringen wußte, seine besondere Geschicklichkeit
beweisen. Daß man kleine Kriegsthaten der Gönner zur Größe welt-
geschichtlicher Ereignisse aufblähte, war natürlich, wie denn diese Kunst
auch von Malherbe schon geübt worden war, als er in etwas fei-
nerer Schmeichelei zum Kampf gegen den Halbmond aufforderte und
die Eroberung des Orients als selbstverständlich in nächste Aussicht
stellte. Von Malherbe auch hatte man gelernt, die Lobsprüche gleichsam
an den Meistbietenden zu verschachern. Maynard, welcher Präsident
eines Gerichtshofs war, trug keine Scheu, sich dem König zum Leib-
poeten anzutragen und ihm ein Geschäft vorzuschlagen. „Gieb mir Geld,"
sagte er ihm, „und ich gebe Dir Ruhm."-) Denn diese Leute waren
1) So sagt z. B. Maynard einmal in einem Glückwunsch zum Beginn des
Jahrs, das Jahr habe neue Stiefel angezogen (s. Maynard, Oeuvres, Ode S. 306) :
Comte, illustre par mille epreuves
Je te salue en ce beau jour,
Que l'an a mis des Bottes neuves
Pour aller refaire son tour.
Ein Epigramm desselben Dichters (S. 82) schließt:
Meuble-toy d'un autre Amy.
Cette beuche qui te baise
A moins parle que vomy.
-) Maynard, Oeuvres, Ausgabe von 164G, S. 178. Dort schließt das Ge-
dicht „Grand Louis, ma faf/on d'ecrire"' wie folgt:
„J'auray du sein pour ton Histoire,
Et si tu me donnes du Bien
Je te donneray de la Gloire."
Ein wenig Statistik wird hier nicht stören. Eine Sammlung von Ge-
dichten: „Les nouvelles Muses des sieurs Godeau, Chapelain, Habert, Baro,
138
in der That fest überzeugt, daß es in ihrer Macht stünde, nach Belieben
ewigen Ruhm zu verleihen. Sie hielten ihre Gedichte für unvergänglich
und glaubten umso fester an ihre Unsterblichkeit, als sie es sich gegen-
seitig mit freundnachbarlicher Liebenswürdigkeit versicherten.
Malherbe, der Meister und das Haupt der Schule, hatte bei alle-
dem doch eine gewisse Größe des Ausdrucks, Schwung in der Sprache
und Glanz der Bilder besessen. Die Mehrzahl seiner Zeitgenossen und
Nachahmer war auch dieser Vorzüge bar und sank zu völliger Trivia-
lität herab. Für diese Dichter gab es nur eine Stätte, wo sie gedeihen
konnten. Der Hof war ihre Welt, und Paris der einzige Ort, der sie
begeisterte. So sehr war schon damals der Gegensatz zwischen der Haupt-
stadt und der Provinz ausgebildet, daß sich die Pariser Schöngeister in
der Provinz wie in einer Wüste glaubten. Allerdings fanden sie keinerlei
litterarisches Leben daselbst oder, was noch schlimmer war. das schlimmste
Zerrbild eines solchen.-) Daher denn auch der vollständige Mangel an
Naturgefühl. Nur selten findet ein Dichter einmal ein wahres Bild aus
dem Leben der Natur, kaum einer ahnt ihre Kraft und Schönheit.
Die meisten kennen die Natur nur aus den Büchern: sie wiederholen
die eingelernten Schulausdrücke, die Bilder und Vergleiche, die sie ihrem
Virgil oder einem andern Klassiker entnommen haben.-) Selbst ßacan,
der meist auf seinem Gut wohnte und sich des Landlebens erfreute,
bleibt so sehr* in den Fesseln der Konvention gefangen, daß er in
einer Ode auf den Frühling die Äcker als von der Frucht vergoldet
schildert ! ^) Überall mischt er künstliche Zuthaten in seine Natur-
beschreibungen. Statt von der Sonne spricht er von der ., Fackel des
Tags", und die Wiese, auf der er ruht, ist ihm ein Bett, das keine
Eacan, L'Estoile, Menard, Desmarets, Maleville et autres"* (Paris 1G3.3, chez
Piobert Bertault) enthält auf 110 Seiten ein Loblied auf den König, sechs auf
Kichelieu, zwei Gedichte zu Ehren anderer hohen Herren und zwei geistliche
Gedichte. Dann folgt ein Anhang von 45 Seiten, auf welchen die Dichter mit-
einander wetteifern im Preis einer Statue von Cochet, Dido darstellend; nichts
als Sonette, Madrigale und Epigramme, 54 in französischer und 4s in lateini-
scher Sprache. Die Statue war nämlich in den Besitz Richelieus übergegangen.
Der Dichter Maynard, einer der am meisten gerühmten Poeten, hat unter 60 So-
netten mehr als 30 Huldigungsgedichte an vornehme Herren, elf allein an den
Kanzler Seguier. Ähnliche Berechnungen könnte man bei jedem Dichter jener
Zeit anstellen und zum voraus eines ähnlichen Ergebnisses sicher sein.
^) Maynard, zum Gerichtspräsidenten in Aurülac ernannt, konnte sich
über seine Verbannung nicht trösten. Ein Schranzenleben bei Hof wäre ihm
lieber gewesen. Immer wieder klagt er über das „barbarische" Land, während
er Paris „le pais de tout le monde-' nennt. So sagt auch Gomberville in der
Vorrede, mit welcher er die Ausgabe von Maynards Werken (1646) begleitete:
„...pour avoir relegue ce grand homme dans des Provinces que je nommerais
barbares si la presence d'un si bei esprit n'en avoit bany toute la barbarie."
2) Dem Naturgefühl, wie es sich im 17. Jahrhundert überhaupt äußerte,
wird ein besonderer Abschnitt eines späteren Bands gewidmet werden.
3) Siehe Racan. La venue du printemps. Ode ä Mr. de Termes. Darin
heißt es im ersten Vers der dritten Strophe :
„Les moissons dorent les plaines.-* Im Frühling!
139
anderen Vorhänge hat, als den Schatten der Gebüsche. Die Sterne er-
bleichen bei ihm des Morgens „vor Erstaunen" und der Tag „entwendet
der Göttin Aurora die Rosen" u. s. w.
Modesache, wie die Bethätigung der Galanterie, war aucli die Be-
tonung des frommen Sinns. Obwol damals die maßgebende Gesellschaft
sich der Kirche gegenüber ziemlich gleichgiltig verhielt, so gehörte es
doch unter den Dichtern zum guten Ton, auch einige geistliche Gedichte
zu verfassen. Fast immer waren es die Psalmen, deren Paraphrase ver-
sucht wurde. Je weniger man im stände war, die großartige Einfach-
heit der hebräischen Poesie zu erkennen, umso mutiger unternahm man
die Arbeit und verwässerte das Original in matten Umschreibungen. Wie
ernst es im übrigen oft mit diesen religiösen Kundgebungen gemeint
war, erkennt man daraus, daß dieselben Leute neben ihren Psalmen dei'b
lascive Gedichtchen lieferten. An solchen war die Zeit sehr reich. Unter
Heinrich IV. legte man ihrer Verbreitung nichts in den Weg; später
sah mau nur darauf, daß sie nicht geiade öffentlich äusgeboten wurden.')
Die Zeit war an Dichterlingen so fruchtbar wie irgend eine. Die
Liste der Lyriker weist eine stattliche Reihe von Namen auf, und käme
es nur auf die Quantität an, man könnte zufrieden sein. Madrigale und
Epigramme zu schreiben, wurde in der feineren Gesellschaft zur wahren
Manie. Maynard beklagt sich, daß selbst sein Stallknecht Verse machen
wolle.^') Doch ht es nicht leicht, sich von den Arbeiten aller dieser
Jünger Apolls genaue Rechenschaft zu geben. Ihre Gedichte erschienen
zum großen Teil in den poetischen Sammelwerken jener Zeit zerstreut
und nur von einzelnen sind später Gesamtausgaben veranstaltet worden.^)
An der Spitze der ganzen Heerschar wandelte der reisige Mal-
herbe als Rufer im Streit und als Führer der Schlacht Ihn haben wir
schon gewürdigt, und es bleibt uns hier nur noch 'die Schar seiner
Gefährten zu mustern.
Den nächsten Anspruch auf Beachtung haben nach Malherbe die
Dichter Racan und Maynard. Beide standen ihrem Meister nahe und
hätten, nach dessen Ausspruch, vereinigt vielleicht einen großen Dichter
gebildet, ■*) denn dem ersteren schrieb er Kraft, dem andern das Talent
des Versbaues, Sprach- und Versgefühl zu. Aber selbst wenn sich diese
beiden Talente in einem Mann vereint gefunden hätten, so hätte ihm
doch noch das Beste — was Malherbe freilich auch nicht kannte —
das wahrhafte Dichtergeraüt gefehlt.
1) So erschienen, um nur einige der Hauptsammliuigeu anzuführen, im
Jahr 1609 mit königlichem Privileg: „Les Muses gaillardes, recueillie.s. des plus
beaux esprits de ce temps, par A. D. B. Parisien" (letzte Ausgabe). Ähnlichen
Inhalts war ^Le Cabinet satirique" (16U schon in der 2. Auflage), „Les Delices"
und „La Quintesseuce satirique" (1620). „Le Parnasse satirique" (1622) war ein
Abdruck dieser letztgenannten Sammlung mit Hinzufügung einiger frechen
Stücke, die man Theophile, CoUetet u. a. zuschrieb. Die Gemeinheit der in
diesen Sammlungen enthaltenen Stücke kann wol nicht überboten werdeu.
-) Maynard, Oeuvres, Epigramm S. 199.
3) Siehe die bibliographische Notiz am ScbliiCi des Abschnitts.
*) Siehe Abschnitt III, S. 94.
140
Honorat de Bueil, Marquis de Racan, war zu La Roche Racau,
einer Besitzung seines Vaters in der Touraine, im Jahr 1589 geboren.
Sein Vater hatte Kriegsdienste geleistet und war als Marechal de Camp
aus der Armee geschieden. Die Vermögensverhältnisse der Familie fanden
sich nach dem Bürgerkrieg völlig zerrüttet. Der junge Racan kam im
Jahr 1605 als Page an den Hof des Königs und fand dort in dem
Herzog von Bellegarde einen Verwandten und Gönner.*) Den Dank für
den Halt, den er an ihm fand, zahlte Racan später als Dichter,
indem er den Herzog in überschwängl icher Weise als den größten Mann
Frankreichs, als den Retter des Vaterlands pries. Xach einiger Zeit trat
er in die Armee, der er indessen nur wenige Jahre angehörte. Xach
Tallemants Zeugnis war er durch seine äußere Erscheinung vielfach
gehemmt; er habe einem derben Pächter gleichgesehen und stark ge-
stottert. So gab er bald jede weitere ehrgeizige Absicht auf, trat ins
Privatleben zurück und schloß sich eng an Malherbe an, den er schon
aus früherer Zeit als Untergebenen Bellegardes kannte. Von diesem an-
geregt und gefördert, wol auch manchmal mit Eifersucht verfolgt,-) ge-
hörte Racan bald zu den angesehensten Dichtern seiner Zeit und wurde
bei der Stiftung der Akademie für würdig befunden, in dieselbe einzu-
treten. Doch kam er selten nach Paris. Er liebte die friedliche Zurück-
gezogenheit seiner Heimat und verbrachte daselbst einen großen Teil
seines Lebens. Da er zu hohen Jahren kam. war es ihm vergönnt, noch
die höchste Blüte der französischen Litteratur zu erleben. Er starb im
Alter von 81 Jahren im Februar des Jahrs 1670.
Sein Hauptwerk war ein Pastoraldrama: „Les Bergeries", mit
welchem er dem herrschenden Geschmack entsprach. Wir werden davon
später handeln , wenn wir die Entwicklung der dramatischen Litte-
ratur zu schildern haben. Daneben besitzen wir von ihm eine Samm-
lung von Oden, Stanzen, Sonetten und Epigrammen. Die meisten seiner
Gedichte enthalten Huldigungen für hochgestellte Personen, oaer Liebes-
klagen im üblichen Ton der Galanterie. Am besten ist er, wenn er das
Landleben und den sorglosen Genuß stiller Unabhängigkeit feiert. Dann
findet er manchmal den Ton der Wahrheit und Natürlichkeit, wie z. B.
in seinem Gedicht ..An Tirsis^. das er auch seinen „ Bergeries " vor-
1) Die Herzogin von Bellegarde, Anne de Bueil, war seine Cousine und
vermachte ihm später eine Rente von 2000 Livres. Siehe ferner Racans „Ode
pour Monseigueur le Duo de Bellegarde, Pair et Grand-Ecuyer de France'-, letzte
Strophe :
Pour moy de qui l'enfance au malheur asservie,
Surmonta les soucis qui mena^oient ma vie
Par l'excez des faveurs qu'elle reeeut de toy;
Ces obligatious me rendent insolvable;
Mais dois-je estre honteux d'estre ton redevable
Si la Frauce ä Jamals Fest aussi bien que moyV
Welche Gefahren ihn in seiner Jugend bedroht haben sollen, ist nicht
bekannt.
2) Tallemaut des Reaux, Historiettes, II, 354. wo Racan auch als „bon-
horame et sans finesse" cfeschildert wird.
141
stellte. „Es ist Zeit," ruft er darin seinem Freund zu, „an den Rück-
zug zu denken. Wir haben die Hälfte unserer Lebensbahn durchmessen
und das Alter führt uns unbemerlit dem Tod zu. Genugsam haben wir
unser Schifflein von der Laune der Wogen auf dem Meer dieses Lebens
umhertreiben lassen; es ist Zeit, das Glück des sicheren Hafens zu ge-
nießen." Racan erhebt sich stellenweise zu wirklicher Beredsamkeit, wenn
er den Mann preist, der, ohne nach eitlem Ruhm zu streben, sein Leben
in der Stille verbringt, das Land seiner Väter bebaut und in den engen
Grenzen seines Besitzes sein eigener König ist. ^)
Daneben hat er Liebeslieder, welche ganz das falsche Pathos und
den üngeschmack der anderen Lyriker zeigen, und von welchen schon
einige Proben gegeben wurden. Großen Ruhm erwarb er noch mit einer
Paraphrase der Psalmen, die er mit Zustimmung der Akademie unter-
nahm. Er hatte sich, um sicher zu gehen, an die würdige Gesellschaft
gewandt und um deren Urteil gebeten, das denn auch ganz nach Wunsch
ausfiel. Um seine Psalmen „den Damen und den Gebildeten aus den
höheren Ständen (aux personnes polies du beau monde) angenehmer zu
machen", erlaubte er sich, sie zu modernisieren. So wurde unter
seiner Hand der 13. Psalm zu einer Art Satire gegen das 17. Jahr-
hundert, den 19. Psalm schnitt er auf die Person Ludwigs XIII. zu,
und König David mußte von den Kanonen, den „furchtbaren Feuer-
schlünden", reden. ^) Daß die Größe des biblischen Ausdrucks bei solcher
1) Stances ä Tirsis:
„Tirsis, il faut penser ä faire la retraite,
„La course de nos jours est plus qu'ä demy falte,
„L'äge insensiblement nous couduit ä la mort.
„Noiis avons assez veu sur la Mer de ce monde
„Errer au gre des Acts, nostre nef vagabonde,
„li est temps de jouir des delices du port.
„0 Wen heureux celuy qui peut de sa memoire
.,Effacer pour jaraais ce vaia espoir de gloire,
„Dont riuutile soing traverse nos plaisirs.
„Et qui loing retire de la foule Import une,
„Vivant dans sa maison content de sa fort une,
„A Selon son pouvoir mesure ses desirs.
„11 laboure le champ que labouroit son Pere
„11 ne s'informe point de ce qu'on delibere
„Dans ces graves conseils d'aflaires accablez.
„Roy de ses passions, il a ce qu'il desire,
„Son fertile domaiue est son petit Empire.
„Sa cabane est son Louvre et son Fontainebleau.
2) Man vergleiche Psalm XX: „Der Herr erhöre dich in der Not; der
Name des Gottes Jakobs schütze dich... Jene verlassen sich auf Wagen uuti
Rosse. Wir aber denken an den Namen des Herrn, unseres Gottes". Diese letzte-
Strophe wird von Racan in folgenden Versen breitgetreten (Pseaume XIX.
Str. 6 et 7):
En vain leurs camps nombreux fönt par leurs insolences
Nos campagnes gemir sous des forests de lances,
142
Manier völlig verloren ging, verstand man nicht, und bewunderte um-
somehr den Wohllaut und die Weichheit der Eacan'schen Verse. ^)
Allerdings hatte Malherbe ihn öfters getadelt, weil er seine Verse nicht
genug feile. Allein wir wissen, daß sich nach des strengen Censors
Tod die Anforderungen wieder milderten und nicht alle seine Gesetze
aufrecht erhalten wurden. Jedenfalls besaß Eacan trotz seiner Schwächen
einen für gefällige Poesie empfänglichen Sinn und fand für dieselbe
einen glücklichen Ausdruck. So bestand denn auch sein Ansehen in
der Litteratur länger als der Ruhm vieler anderer Dichter seiner Zeit,
die anfangs mehr Aufsehen geuiacht hatten. Geradezu unbegreiflich
aber erscheint es, daß Boileau, der über die litterarischen Bestrebungen
seiner Zeitgenossen so streng und im allgemeinen mit Verständnis
urteilte, sich über Eacans Begabung so täuschen konnte, daß er ihn
Homer an die Seite zu setzen wagte. Oder sollte er den griechischen
Dichter so sehr unterschätzt haben ? -)
Fran^ois Maynard (1582 — 1646) stammte aus einer angesehenen
Familie in Toulouse. Sein Vater war Parlamentsrat gewesen und hatte
sich als juridischer Schriftsteller einen gewissen Namen erworben. Auch
Fran^ois widmete sich der Rechtsgelehrsamkeit, ging jedoch nach voll-
endeten Studien an den Hof, wo er eine Zeit lang Sekretär der Königin
Margarete war. Damals schloß er sich, wie Racan, an Malherbe an,
was ihn jedoch nicht hinderte, auch mit dessen Gegnern in freundlichen
Verkehr zu treten. Seine erste größere Arbeit war ein Schäfergedicht :
„Philandre", in fünf Gesängen, in welchem er hauptsächlich von Honore
d'ürfe inspiriert erschien. Aber weder die Muse, noch sein Dienst bei
Serrent leurs bataillons de pique.s herissez:
Nous sommes assurez, si Dieu nous est propice.
De voir du mesme bras qui soütient la Justice,
Leurs desseins renversez.
Ces machines de bronze aux bouches redoutables
Qui vomissent d'ua coup cent uiorts inevitables,
Et jettent dans les rangs la flamme et la terreur;
Ces tonneies roulans qui fönt trembler la plaine,
N'y feront autre mal que perdre avee la peine
L'espoir du laboureur.
1) Conrart, der Sekretär der Akademie, schrieb im Auftrag der gelehrten
Gesellschaft an den Dichter über dessen Psalmen: „L'Academie y a reconnu ce
beau tour et ce caractere de douceur et d'agrement qui ont tousjours este ad-
mirez dans vos ouvrages. Elle vous exhorte d'en haster rexecution, puisque vous
ne pouvez prendre un plus noble."
•^} Boileau, Sat. IX, v. 43:
Sur un ton si hardi, sans etre temeraire,
Racan pourroit chanter au defaut d'un Homere.
Man vergleiche damit das Lob, das Boileau Homer in seiner „Art Poe-
tique" spendet (lU, 295 flf.).
Eine bescheidenere Stelle erhält übrigens Racan in derselben „Art Poe-
tique" angewiesen. I, 17, heißt es:
Malherbe d'un heros peut vanter les exploits;
Racan, chanter Philis, les bergers et les bois.
143
Hof brachten ihm, was er ersehnte; und so ging er im Jahr 16o4
mit dem Gesandten Fran9ois de Noailles, Grafen von Ayen, nach Rom.
um dort sein Glück zu versuchen. Vergebens. Die Ehrenstellen und
Pensionen blieben aus, und Maynard mußte sich begnügen, als Präsident
eines Untergerichts nach Aurillac in der rauhen Auvergne zu gehen.
Kichelieu wollte nichts von ihm wissen, und der Dichter erging sich in
bitteren Klagen über dieses Unglück. Den mächtigen Kardinal zu er-
weichen, wandte er sich mit einem Gedicht an ihn, und teilte ihm mit.
daß er bald zu seinen Vätern versammelt werde. Wenn er dann in
der Unterwelt dem kunstsinnigen König Franz I. begegne, werde er
ihm von Frankreichs Geschicken und Richelieus Großthaten berichten.
Was aber solle er antworten, fragt er am Schluß, wenn sich der König
nach den Wohlthaten erkundige, die er, der Dichter, dem Kardinal
verdanke? ..Nichts!"' soll die Eminenz verächtlich bemerkt haben, als
man ihr das Gedicht mit der unbescheidenen Frage vorlegte. Und also
enttäuscht, wurde Maynard Philosoph, sang von der Schlechtigkeit der
Welt, welche das Verdienst verkennt, und von dem Frieden des Herzens,
den er in der Einsamkeit gefunden habe. In einem resignierten Sonett
nahm er Abschied von Paris. Die Dienstbarkeit sei schimpflich für den,
der sein eigener König sein könne,') „Besser Schuster sein, als Dichter !-
ruft er ein andermal aus, obwol er für gewöhnlich vom höchsten Selbst-
gefühl erfüllt ist und seinen Ruhm für alle Zeiten begründet glaubt.-)
1) Maynard, Sonnet:
Adieu, Paris, adieu pour la derniere fois.
Je suis las d'encenser l'autel de ta fortune,
Et brusle de revoir mes rochers et mes bois,
Oü tout me satisfait et rien ne m'importune.
Je n'y suis point touche de ramour des threzors ;
Je n'y demande pas d'augmenter mon partage.
Le bien qui m'est venu des peres dont je sors,
Est petit pour la cour, mais grand pour le village.
Depuis que je connais que le siecle est gaste
Et que le haut merite est souvent maltraite.
Je ne trouve ma paix que dans ma solitude.
Les heures de ma vie y sont toutes ä moy;
Qu'il est dous d'estre libre et que la Servitude
Est honteuse ä celuy qui peut estre son Roy.
~) Siehe s. Epigramm S. 209 in der Ausgabe 1646, am Schluß:
U vaut mieux au siecle oii nous sommes,
Faire des bottes que des Vers.
Für gewöhnlich aber Spricht er ganz anders. Vergl. Sonnet S. 15 („Que j'aime
ees forests"):
Depuis que le village est toutes mes amours.
Je remplis mon papier de tant de helles choses,
Qu'on verra les sfavans apres mes derniers jours
Honorar mon tombeau de larmes et de roses.
Oder das Epigramm S. 157 („Sors de la poudre"):
144
Seine Weisheit hielt indessen nicht lange stand, ei' fühlte sich in seiner
Provinz verlassen, und seine Gedichte verraten sein Leid. Seine Augen
füllen sich mit Thränen, sagt er, so oft er an Paris denkt, und er nennt
sich kläglich stolz einen „Provinz-Horaz". So versuchte er es denn
immer wieder, die Machthaber in Paris auf sich aufmerksam zu machen.
In einem Bettelgedicht an Ludwig XIIL sagte er, er habe vernommen,
daß der König Gefallen an seinen Epigrammen finde. Er selbst halte
sie für zu unbedeutend und werde so lang an ihrem Wert zweifeln, bis
der König ihm durch ein Dekret die Versicherung seines Talents gegeben
habe. Daraufhin erfolgte in der That ein königliches Schreiben, das
ihm den Titel eines Staatsrats verlieh. Paris aber blieb ihm verschlossen,
und er fand sein Grab auf dem Friedhof eines Dorfs, „das nicht einmal
auf der Karte verzeichnet steht", wie er ahnungsvoll in einem Gedicht
vorausgesagt hatte.
Von Maynards Dichtungen waren seiner Zeit die Sonette und Epi-
gramme am höchsten geschätzt. Uns erscheinen sie platt und geschmacklos.
Man rühmte Maynard nach, daß er den Bau der Stanzen verbessert
habe,^) und dieses Verdienst wurde ihm besonders hoch angeschlagen.
So zeigte das Jahrhundert im kleinen wie im großen dasselbe Be-
streben.
Die anderen lyrischen Dichter, welche sich neben Racan und May-
nard bekannt machten, dürfen wir noch kürzer behandeln, und von
manchen werden wir nur die Namen anführen, um eine gewisse Voll-
ständigkeit der Übersicht zu erreichen. Unterschieden sich auch einzelne
unter ihnen durch ihre eigentümliche Xatur, so wußten sie doch nur
selten ihren Dichtungen einen besonderen, charakteristischen Zug zu
verleihen. Da bietet sich zunächst der lebhafte, witzige Antoine Godeau
(1605—1672), als Student der Liebling aller deutschen Kommilitonen,
die mit ihm dasselbe Haus bewohnten, und mit welchen er trefflich zu
kneipen, zu singen und zu lachen wußte.^) Später widmete er sich der
Kirche, ging unter die galanten Dichter und wurde einer der eifrigsten
und beliebtesten Gäste des Hauses Rambouillet, wo er wegen seiner
auffallend kleinen Statur als „Juliens Zwerg" bekannt war. Von Richelieu
zum Bischof von Grasse und bald auch von Vence in der Provence
Quiconque saura bien escrire,
Dira que Jamals la Satire
N'a public de si beaux vers.
^) Maynard verlangte in der sechszeiligen Strophe einen Ruhepunkt nach
dem dritten Vers, und in der zehnzeiligen Strophe brachte er einen Halt nach
dem siebenten Vers an. Allerdings haben schon die früheren Dichter, Desportes,
ja schon Marot und selbst dessen Vorgänger diese ßuhepunkte beobachtet.
Maynard aber hat diese Weise erst zum festen Gesetz erhoben. Man vergleiche
Pellisson, Histoire de TAcademie franyaise, I, S. 114 und S. 194 ff.; ferner
Richelet, La versification fran9oise, ou l'Art de bien faire et tourner les vers,
Paris 1671; Goujet, Bibliotheque fran^oise, Paris 1754, Bd. XVI, S. 63; Louis
Quicherat, Traite de versification fran^aise, 2°ieed., Paris 1850, S. 555 u. 568.
^) Tallemant, Historiettes, III, 231.
145
ernannt, vernichtete er seine Liebesgedichte und beschränkte sich fortan
auf geistliche Lieder, Psalmen und Oden. Seine Verse sind nicht ohne
"Wohllaut, aber sein Ruhm, der eine Zeit lang in hellem Glanz strahlte,
verblaßte bald und schon Boileau äußerte sich sehr kühl über sein
Talent.')
Anders erscheint Jean Ogier de Gombauld (1570 — 1666) aus
St. Just de Lussac in Saintonge (Guyenne), anders in seinem Charakter
und seinem Schicksal, wenn auch nicht gerade in seiner Poesie. Er
war einer der vielen, welche durch den schroffen Gegensatz der reli-
giösen Parteien persönlich zu leiden hatten. Hugenotte von Geburt, wurde
er mit Zustimmung des Vaters, aber gegen seinen eigenen Willen, in
die katholische Kirche aufgenommen. Sobald er selbständig war, wandte
er sich von ihr wieder ab, ohne deshalb offen zum Protestantismus
zurückzutreten. In Paris, wohin er früher geschickt wurde, fand er in
Heinrich IV. einen freundlichen Herrn, der sein poetisches Talent mehr
als einmal in Anspruch nahm. Maria von Medici sah ihn ebenfalls
gern und bewilligte ihm ein jährliches Gehalt von zwölfhundert Thalern.
Gombauld feierte allerdings die Königin und Richelieu in seinen Ge-
dichten, und für die erstere trug er sogar eine galante Neigung zur
Schau ; aber in anderer Hinsicht machte er doch eine rühmliche Aus-
nahme unter den Dichtern. Er war genügsam und wollte niemandem
Dank schulden als seinem König. Als er in der Verwirrung der Zeiten
seine Pension verlor, weigerte er sich, von anderen Hilfe anzunehmen
und schlug das Anerbieten der Herzogin von Longueville, die ihm ein
Gehalt aussetzen wollte, rundweg ab.''') Ein unglücklicher Sturz im
Zimmer hielt ihn lange Jahre, bis zu seinem Tod, fast ganz ans Bett
gefesselt.
Als Dichter war Gombauld mehr als einfach; Leidenschaft und
poetische Aufwallung waren ihm noch fremder als den bisher genannten
Lyrikern. So oft er auch seine Philis, seine Amarant und wie die
Schönen alle heißen mögen, in seinen 145 Sonetten besingt und sein
Liebesleid klagt, er bewegt uns nicht. Doch galt er neben Maynard und
Maleville als ein Meister des Sonetts. Schon Boileau freilich meinte,
unter tausend Sonetten dieser Dichter finde man höchstens zwei oder
1) Im Kreise Eiehelieus stand er eine Zeit lang in solchem Ansehen, daß
man bei litterarischen Werken gern den bewundernden Ausruf brauchte: „Das
ist so schön, als wenn es von Godeau wäre!" Boileau dagegen schrieb au Mau-
eroix, 29. April 1695: „Je suis persuade aussi bien que vous, que Monsieur
Godeau est un poete fort estimable. II me semble pourtaut qu'on peut dire de
lui ce que Longin dit d'Hjperide, qu'il est toujours k jeun et qu'il n'a rien
qui remue ni qui echauffe". Vergl. Pellisson, I, 255.
^) Gombauld erwähnt einmal seines genügsamen Sinus und sagt, er ver-
traue auf Gottes Hilfe:
Sa main pour moy n'est jamais dose,
Et comme il me faut peu de cbose,
J'ay tousjours tout ce qu'il me faut.
Der Gedanke ist ebenso anerkennenswert, wie die Verse schlecht sind.
Lotlieißen, Gesell, d. franz. Litteratnr im
146
drei, die Wert hätten, und wir können heute nicht einmal diese wenigen
Perlen herausfinden.^)
Claude de Maleville (1597 — 1647), der, wie eben bemerkt worden
ist, zu dem Triumvirat in dem Reich des Sonetts gezählt wurde, war
lange Zeit Sekretär des Marschalls Bassompierre und kaufte sich später
eine Stelle in dem Kanzleramt. Wie hoch er zu seiner Zeit geschätzt
wurde, geht schon zur Genüge daraus hervor, daß er allein neun Ge-
dichte für „Juliens Guirlande" geben durfte. Sein berühmtes Sonett:
„La belle matineuse" zeigt seine Begabung, sowie seine Schwäche in
deutlicher Weise. Er vergleicht darin die jugendliche Schönheit seiner
Philis mit der Morgenröte und findet, daß das Licht der Sonne vor dem
Glanz des Mädchens verblassen muß.-)
Aus der großen Zahl der Musenjünger, welche, um mit der Sprache
der Zeit zu reden, den Parnaß bevölkerten, sind noch Theophile de Viau
und Tristan l'Herraite, L'Estoile und Desmarets hervorzuheben. Aber da
sie sich auch im Drama versuchten, mag ihre Würdigung erst in dem
darauf bezüglichen Abschnitt eine Stelle finden.^)
1) Boileau, Art Poetique, II, 94 S. — Neben seinen Gedichten verfaßte
Gombauld noch einen Eoman „Endymion", in welchem er die Königin Maria
unter dem Bild der Luna feierte, ein Pastoraldrama in fünf Akten : „Amarant"
(1631), mit einer Widmung an die Königin -Mutter, zu einer Zeit also, da
sie in Ungnade gefallen war, sowie mehrere Tragödien und Tragikomödien
(„Les Danaides", „Cydippe"). Auch existiert von ihm ein Band Briefe und reli-
giöse Abhandlungen. Die Gedichte erschienen 1646 in 4^, die Briefe 1647, die
Epigramme 1657, die „Danaides" 1658 mit einer Widmung an Fouquet. Die
Herausgabe der „Traites et lettres touchant la Religion" wurde von Conrart
besorgt. Sie erschienen 1669 zu Amsterdam. „Cydippe" (auch wol „Aconce" be-
titelt) blieb ungedruckt. Vergl. Tallemant, III, 237, Les freres Haag, la France
protestante, 5. Bd., Artikel „Gombauld".
2) „La belle matineuse":
Le silence regnoit sur la terre et sur Tonde:
L'air devenoit serein et l'Olympe vermeil;
Et l'amoureus Zephire, aflFranchi du sommeil,
Ressuscitoit les üeurs d'une haieine feconde.
L'aurore deployoit l'or de sa tresse blonde,
Et semoit de rubis le chemin du Soleil:
Enfin ce Dieu venoit au plus grand appareil,
Qu'il seit Jamals venu pour eclairer le monde.
Quand la jeune Philis au visage riant
Sortant de son palais plus clair que l'Orient,
Fit voir une lumiere plus vive et plus belle.
Sacre flambeau du jour, n'en soyez point jaloux;
Vous parutes alors aussi peu devant eile
Que les feux de la nuit avoient fait devant nous.
Neben der Preciosität und Übertreibung, neben dem leeren Spiel mit
Worten und Bildern, wie z. B. daß die Fackel des Tags nicht eifersüchtig sein
soll, kann man die einschmeichelnde Weichheit der Diktion nicht verkennen.
Maleville entsprach somit in jeder Hinsicht dem Geschmack seiner Zeit. Vergl.
Goujet, tomeXVI, p. 70 ff.; Recueil Barbin, III, 51—65; Pellisson, I, 209.
3) Siehe Abschnitt XI.
Wi
Häufig genannt, aber als Dichter noch unbedeutender als die bis-
her erwähnten Männer, war der Abbe Fran(;ois Le Metel de Boisrobert
(1592 — 1662). Aus Caen gebürtig, hatte er sich als Advokat versucht,
sich dann am Hof der Königin-Mutter in Blois umhergetrieben und war
dazwischen nach Paris und London gekommen. Wenn die Geschichten,
die man von ihm erzählt, auch nur zum Teil wahr sein sollten, so
würden sie doch beweisen, daß er in der Wahl seiner Mittel nichts
weniger als ängstlich war, wenn es galt, sich aus Geldverlegenheit zu
retten. In Korn, wohin er sich einmal verschlagen sah, wurde er Abbe
mit einer kleinen Pfründe von jährlich 170 Livres. Seine geistliche
Würde hinderte ihn freilich nicht, in seiner geschäftlichen Lebensweise
zu beharren ; und nach Paris zurückgekehrt, gelang es ihm endlich, nach
vielen vergeblichen Bemühungen die Gunst des Kardinals Richelieu zu
erwerben. Damit erlangte er eine Stellung, wie er sie wünschte. Keck,
witzig, Meister der Parodie, ein guter Schauspieler und ein trefflicher
Anekdotenerzähler, wurde Boisrobert gewissermaßen der Spaßmacher und
Hofnarr des Kardinals, der ihn bald nicht mehr missen mochte. Richelieu
duldete selbst Widerspruch von seiner Seite, und wenn er ihm wol auch
manchmal darob zürnte, er verzieh ihm immer wieder. Sein Leibarzt
verschrieb ihm deshalb auch zuweilen statt aller Arzneien „einige Drach-
men Boisrobert". So wuchsen denn die Einkünfte des lustigen Abbes,
besonders als ihm die Abtei von Chätillon zu teil ward. Bei allem Leicht-
sinn war Boisrobert jedoch gutmütig und gefällig, und benutzte seinen
Einfluß gern zum Nutzen anderer. Wie weit er gehen durfte, zeigt am
besten seine poetische Epistel an den Kanzler Seguier, den obersten
Wächter der Gerechtigkeit. Er erlaubt sich darin, dem Kanzler in spaß-
haften Versen mitzuteilen, daß seine Neffen einen Menschen totgeschlagen
hätten und deshalb vom Gericht verfolgt würden. In dieser Verlegenheit
wende er sich an seinen Gönner mit der Bitte, er möge den Prozeß
niederschlagen; der Getötete sei ein Raufbold, eine Landplage der Nor-
mandie gewesen, und die eigentliche Schuld an dem Totschlag trage
doch der Kanzler. Denn warum habe er die Familie Boisrobert in den
Adelstand erhoben? Nun hätten seine Neffen geglaubt, auch das Leben
und die Thaten der jungen Edelleute nachahmen zu müssen. Und so
wiederholt Boisrobert am Schluß seine IBitte, Seguier möge den Gnaden-
brief ausfertigen und ihn auch gratis geben. ^)
Boisrobert war ein fruchtbarer Dichter. Am besten gelang ihm
der leichte, scherzhafte Konversationston der Episteln, von' denen zwei
Bände erschienen. Mit größeren Werken scheiterte er dagegen kläglich.
Weder sein Roman „Anaxandre", noch seine Novellen, noch seine zahl-
1) Boisrobert, A Monseigneur le Chancelier. (Eecueil des plus belies poesies
des poetes franfois, chez Barbin 1692, Teil III, S. 181.) Die Epistel schließt
mit den Versen:
Aboly tout, casse tout comme un verre;
Voy que de plus nous estions dans la guerre,
Et qu'ils estoient de contraires partis;
Scelle donc viste et donne le gratis.
10*
148
reichen Theaterstücke fanden Beifall. Selbst vor Richelieus Tod sollte er
erfahren, wie wandelbar die Laune des Glückes ist. Bei Ludwig XIIL
von Cinq-Mars verklagt, wurde er auf seine Abtei Chätillon verwiesen.
Richelieu, der dem König in kleinen Dingen gern nachgab, opferte seinen
Günstling auf. Nach dem Tod des Cinq-Mars kam Boisrofcert freilich
nach der Hauptstadt zurück, aber die Zeit des Glanzes war für ihn vor-
über. Richelieu selbst starb wenige Tage darauf, und nun erfolgten die
gehässigsten Angriffe gegen den einst so einflußreichen Mann. Boisrobert
wußte sich darüber zu trösten. Ei- war reich und konnte nach seinem
Belieben leben. Mit einer wahren Leidenschaft schrieb er für das Theater,
Stück auf Stück. Seine Stoffe nahm er, wo er sie fand ; er plünderte die
Spanier, die Italiener, das alte französische Theater, und seine Dramen
waren im Handumdrehen fertig. Das Theater des Hotel de Bourgogne
weigerte sich zuletzt, sie zur Aufführung anzunehmen, obwol er dafür
zahlen wollte. So sank er immer mehr, überließ seine Stücke den
herumziehenden Gesellschaften und schrieb für sie derbe Possen. Sein
Leben in den Schenken und mit leichtsinnigen Dirnen wurde immer an-
stößiger; wenigstens sagten so seine Feinde, die ihn bei dem jungen
König und seiner Mutter, Anna von Österreich, verklagten. Darüber
wurde er zum zweitenmal aus Paris verbannt (1655). Erst nach drei
Jahren bekam er auf inständiges Bitten die Erlaubnis, in die Hauptstadt
zurückzukehren, und starb daselbst einige Jahre später.
In rascher Aufzählung seien nun noch einige andere Lyriker er-
wähnt. Zunächst Marin Le Roy de Gomberville (1600—1674), der sich
später jedoch ganz dem Roman zuwandte , dann Nicolas Vauquelin des
Yveteaux (1567 — 1649), ein Sohn Vauquelins de La Fresnaye, der sich
durch seine Idyllen und sein Lehrgedicht über die Dichtkunst bekannt
gemacht hatte. Des Yveteaux unterrichtete den Herzog von Vendöme,
einen natürlichen Sohn Heinrichs IV., und schrieb für ihn 1607
sein Gedicht „L' Institution du Prince". Später soll er auch eine Zeit
lang Lehrer des jungen Königs Ludwig gewesen, jedoch auf Befehl der
Königin entlassen worden sein. Er galt als Epikuräer und Sonderling,
und allerdings mußte es vielen seiner Kollegen absonderlich vorkommen,
daß er seine Unabhängigkeit höher schätzte als Geld und Gunst. Als
Richelieu ihm eines Tags über seine Lebensart Vorwürfe machte, ver-
zichtete Des Yveteaux lieber auf die königliche Pension, die er bis dahin
bezogen hatte, als daß er sich unterworfen hätte. ^)
1) Siehe Goujet, t. XVI, S. 113. Des Yvetaux starb im hohen Alter von
über 90 Jahren. In einem seiner Sonette spricht er aus, was ihm zum glück-
lichen Leben wünschenswert erscheint:
„Avoir peu de parents, moins de train que de rente,
„Rechercher en tout temps l'honneste volupte,
„Contenter ses desirs, conserver sa sante..." etc.
Er besaß ein schönes Landhaus und hatte seine Freude an den Werken
der Kunst und der Poesie.
„Des jardins, des Tableaux, la Musique, des vers,
,Une table fort libre et peu de couverts."
149
Nicolas Faret, ein Freund des Weins und des fröhlichen Lebens,
aber von seinem Genossen Saint-Amant und nach dessen Vorgang später
von Boileau mit Unrecht als Trinker und Wüstling verschrieen, war
der Verfasser einer Art höheren gereimten Komplimentierbuchs („L'honneste
homme ou l'Art de plaire ä la Cour").^) Pierre Forget de la Picardiere
gab in seinen „Sentiments universels" (1630) Sprüche über Politik und
Moral.") Von den Brüdern Philipp und Germain Habert, welche beide
der Akademie als Mitglieder angehörten, fiel der erstere als junger Mann
bei der Belagerung von Emery im Hennegau (1637). Von ihm ist ein
einziges Gedicht erhalten, „Le temple de la mort", eine Klage über
den Tod der Gemahlin des Marschalls de la Meilleraye. Während man
in diesem Gedicht den Ausdruck wahrer Empfindung fand, war die
Poesie seines jüngeren Bruders, des Abbe von Cerisy, um so affektierter.^)
Als Gesellschafter beliebt und seinem Wesen nach manchmal mit Voiture
verglichen, war Fran9ois Sarrazin, dessen wenige Gedichte erst nach
seinem Tod veröffentlicht wurden.*)
Absonderliche Poeten, wie Charles d'Arcussia, sieur d'Esparre, der
in zehn langen Gesängen ein episch-didaktisches Gedicht über die
Falkenjagd schrieb, findet man zu jeder Zeit, wenn sich auch die Litte-
raturgeschichte nicht weiter mit ihnen zu beschäftigen hat.^) Ein
Gegenstand allgemeinen Spotts endlich war Louis de Neufgermain, der
sich selbst als „poete heteroclite" bezeichnete und seinen Euhm in Spiele-
Vergl. Huet, Origines de Caen, S. 356. Seine Gedichte, darunter auch
seine „Institution", finden sich in den „Dehces de la Poesie franfoise", chez
Du ßray, 1620, S. 301—381.
^) Faret (1596-1646) .soll seinen Ruf nur dem Umstand verdanken, daC
sein Name einen bequemen Reim für das Wort „cabaret" bot. Siehe Saint-
Amant, Les cabarets ä mon eher amy M. Faret (Oeuvres I, S. 142, Bibliotheque
Elzevirienne) :
Si tu ne veux que je m'escrie :
On fait ä scavoir que Faret
Ne rime plus ä cabaret . . .
und in „La Vigne" (I, 170):
Chere rime de cabaret,
Mon cceur, mon aymable Faret.
Ebenso „Orgye", I, S. 239 und öfters. Vergl. auch die Vorrede, mit der
Faret selbst eine Ausgabe der Werke Saint-Amants begleitet. Jedenfalls war er
ein Gefährte des lebenslustigen Saint-Amant. Vergl. ferner: Saint -Evremond,
„Les Academiciens", acte 1, sc. 3. Farets „L'Honneste homme" erschien 1638.
Man hat auch historische Werke von ihm, besonders eine Geschichte der Türkei.
2) Über Forget (f 1638) s. Goujet, t. XVI, S. 8.
3) Über Philipp Habert s. Goujet, t. XVI, S. 1. Sein „Temple de la mort"
erschien 1637 und ist in mehreren Sammlungen des 17. Jahrhunderts abgedruckt.
In dem „Choix de poesies morales et chretiennes" von Le Fort de la Moriniere,
T. II, S. .S06, findet sich ein Bruchstück davon. Vergl. auch Pellisson, Histoire
de l'Academie (ed. Livet), I, 1^2.
4) Siehe Titon du Tillet, Le Parnasse fran^ois, S. 243.
5) Über Arcussia, dessen ,.Fauconnerie" zuerst 1621 erschien, s. Goujet,
T. XVL 32.
150
reion suchte, wie z. B. daß er seine Gedichte auf einen einzigen Reim
aufbaute u. dgl. m.^)
In jener Zeit, welche die poetische Schönheit fast ausschließlich
in der Künstelei suchte, forscht man vergebens nach einer volkstüm-
lichen Dichtung. Allerdings hatte das Volk seinen altererbten Schatz
von Liedern bewahrt, in welchen es seine Freude und sein Leid in der
ihm eigentümlichen kräftigen Weise aussprach. Auch das 16. Jahr-
hundert hatte das Yolk noch zu neuen Dichtungen angeregt, und be-
sonders die Hugenotten hatten einen großen Reichtum von Kampfes-
und Trostliedern. Aber von dieser poetischen Kraft zeigte sich in der
ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sehr wenig, und wenn sie sich zeigte,
wurde sie vornehm übersehen. Allerdings wußte man auch damals von
einem Volksdichter zu reden, von Meister Adam Billaut aus Nevers,
der seines Zeichens ein Tischler war und in freien Stunden seine Vers-
kunst übte. Sein Ruhm war nicht gering. Man kannte ihn allgemein
unter dem Namen des Maitre Adam oder feierte ihn als den „Virgil
mit dem Hobel". Aber wenn er auch einsichtig genug war, in seiner
Sphäre zu bleiben und trotz mehrfacher Aufforderungen nach Paris zu
kommen, seinem Handwerk nicht entsagte, so darf man doch keinen
echten Volksdichter in ihm suchen. Er war kein Hans Sachs, der den
einfachen Sinn des Volkes wiedergegeben hätte. Seine einzelnen Gedicht-
sammlungen betitelte er: „Les Chevilles" oder nach seinen Instrumenten
„Le Vilebrequin" und „Le Rabot de Me. Adam". Schlägt er auch in
einzelnen Gedichten einen kräftigeren Ton an, so redet er doch gewöhnlich
ganz die Sprache der anderen gekünstelten und abgerichteten Dichter.
Höchstens könnte man sagen, daß er, um volkstümlich zu erscheinen,
noch schamloser bettelt als die anderen, und noch gemeinere Ausdrücke
wählt. Er wendet sich einmal in einem Gedicht an seine gnädige
Herrschaft, die durch einen Todesfall in Trauer versetzt ist, und bittet
um ein Trauergewand. Wenn die Natur ihn zum Mohren gemacht hätte,
würde er diese Bitte nicht nötig haben, schließt er mit einem entsetz-
lichen Witzwort. Er hat die nämliche Sprache, dieselbe Mythologie, die
gleiche Schmeichelei, wie die höfischen Poeten. In seinen Versen treiben
sich Jupiter und Phöbus und die gesamte heidnische Götterwelt ebenso
albern umher, wie in den Gedichten seiner Kollegen, und von wahrer
Volkspoesie ist kaum eine Spur zu finden.-)
Diese unerquickliche Geschmacksrichtung sollte noch lange in der
französischen Lyrik herrschen, und ihr schädigender Einfluß auch auf
1) Neufgermain starb nach dem Jahr 1652. (Goujet, XVI, 156; Tallemant,
Historiettes, III, 211; ßoileau, !Sat. IX, 72.)
-) Maitre Adam, der auch darin den anderen glich, daß er von Richelieu
mit einer Pension bedacht war, starb im Jahr 1662. Seine „Chevilles" er-
schienen 1641, sein „Vilebrequin" erst 1663 und sein „Rabot" ist gar nicht ge-
druckt worden. Eine Anzahl seiner Gedichte finden sich im Reeueil Barbin, III,
S. 251—301. Seine „Oeuvres choisies" erschienen zu Paris 1842. Die „Revue
de Paris" vom November 1831 brachte einen größeren Aufsatz über ihn von
Ferdinand Denis.
151
den anderen Gebieten der Dichtung fühlbar werden. Denn der Unge-
schmack, die „Preciosität" machte sich nicht allein in der Lyrik geltend;
sie sollte noch lange auf der Bühne, im Eoman, selbst in der Gesell-
schaft heimisch sein. Wir werden auf sie zurückkommen müssen,
wenn wir zu zeigen haben, wie erst die jungklassische Schule unter
Boileau und Moliere den Kampf gegen diese Manier mit Erfolg aufnahm.
Immerhin darf man nicht übersehen, daß schon von der ersten
Zeit an, in welcher diese Eichtung Bedeutung erlangte, lebhaft gegen
sie protestiert wurde. Der Geschmack einzelner Kreise der Gesellschaft
konnte wol fehlgehen, das Volk ließ sich in seinem natürlichen Gefühl
und seinem Verstand nicht beirren, und darin liegt mit ein Grund,
warum diese ganze Lyrik so wenig in die weiteren Schichten der Nation
eindrang. Im Drama, welches sich an ein größeres Publikum wandte,
siegte zwar auch der schlechte Geschmack ; auch dort fürchteten manche
Dichter jeden natürlichen Ausdruck, und haschten nach Witz und Fein-
heit selbst bei dem einfachsten Gedanken, doch kam die Manier auf
diesem Gebiet nie zur völligen Herrschaft. Und selbst in der Lyrik
erhob sich, wie gesagt, der Widerstand dagegen, nur daß man aus dem
einen Extrem in das andere verfiel, und die Gegner des manierierten
aufgeputzten Stils sich dafür in der unschönen, formlosen und niedrig
burlesken Dichtung gefielen. Suchten die höfischen Dichter selbst das
Geringfügigste in ihrer schwülstigen und geleckten Sprache zu verhimmeln,
so zogen die Poeten der burlesken Poesie dafür alles Ernste und Er-
habene durch ihre nüchtern komische Ausdrucksweise, ihre niederen
Anschauungen in den Staub herab. Beide Richtungen sind gleichermaßen
Anzeichen ungesunder Verhältnisse, beide sind Manier und die eine so
verderblich wie die andere.^)
Als Haupt der burlesken Dichtung, die bald eifrige Freunde finden
sollte, erschien später der witzige Scarron, dem selbst schwere körper-
liche Leiden die geistige Kraft nicht zu rauben vermochten. Vor ihm
aber hatte Marc Antoine de Gerard eine ähnliche Richtung eingeschlagen.
Gerard legte sich den Namen Saint-Amant bei, obgleich er mit dem
altadeligen Geschlecht dieses Namens keinerlei Verwandtschaft hatte. ^)
Seine Familie hatte schwere Schicksale zu ertragen. Sein Vater fiel mit
1) Man vergleiche auch das 5. Buch von Sorels „Histoire comique de
Francion", in dem Francion von den Dichtern seiner Zeit redet. In otfenbar
satirischem Geist heißt es dort: „Veritablement leurs lois ne töndoient qu'a
rendre la poesie plus douce, plus coulante et plus remplie de jugement; qui
est-ce donc qui refuseroit de la voir en cette perfection? On me dira qu'il ya
beaucoup de peine et de geue ä faire des vers suivant les regles; mais si on
ne les observoit point, chacun s'en pourroit meler, et l'art n'auroit plus d'excel-
lence". (In der Ausgabe von Emile Colombey. Paris 1858, A. Delahays. S. 184.)
-) Saint-Amant war im Jahr 1594 geboren, denn er sagt, da er die Über-
schwemmung der Seine im Jahr 1649 erwähnt:
„Quand l'an qui court se fermera
J'ouvriray mon douzieme lustre."
Sein Tod fiel in das Jahr 16(51.
152
einem seiner Brüder in die Gefangenschaft der Türken, während ein
anderer Bruder im Seegefecht gegen sie umkam. Saint -Amant selbst
führte ebenfalls ein bewegtes Leben. Er gehörte zum Hof des Herzogs
von Retz, kam im Jahr 1631 nach England, mit welchem sich damals
zuerst ein regerer Verkehr entwickelte, 1633 mit dem Marschall Crequy
nach Eom, und schloß sich im Jahr 1637 einer Expedition der fran-
zösischen Flotte unter dem Befehl des Grafen d'Harcourt in das Mittel-
meer an. In den folgenden Jahren nahm er an den Feldzügen in Pie-
mont teil, und war 1643 wieder in Rom, das er in einem Gedicht
von über hundert Strophen aufs heftigste angriff.^) Die Ruinen des alten
Rom waren ihm verächtlich und des Niederreißens wert , und die
Römer erschienen ihm gleich Heiden, da sie die Marmorbilder der alten
Götter mit Gold aufwogen. Überhaupt empörte ihn das Treiben der
modernen Quirlten, und neben mancher derben Schilderung ihres Privat-
lebens fielen auch scharfe Worte über die Kirche und ihre hohen Diener.
Wie sehr dem Dichter jedes Verständnis für die Schönheit der antiken
Kunst und die Größe der historischen Erinnerungen abging, zeigt sich
besonders deutlich in dem ersten Teil der Satire. Aber freilich, wie
schmutzig war auch die Wohnung, die man ihm bot, wie ungenießbar
die römische Kost und vor allem, wie empörend schlecht der Wein,
den er zu trinken bekam!
In anderer Art, aber nicht minder übel, behandelte er England,
das er noch einmal im Jahr 1643 im Gefolge des Grafen d'Harcourt
besuchte, als dieser mit einer vermittelnden Mission zwischen König
Karl und dem Parlament beauftragt war. Saint-Amant erklärte die Eng-
länder für das roheste und gröbste Volk, das es gäbe, und ereiferte sich
besonders gegen die ketzerischen Rundköpfe, welche des Königs Autorität
verachteten.-) Als später Louise Gonzaga, die Tochter des Herzogs von
Nevers, den König von Polen heiratete, wurde Saint-Amant zum Kammer-
herrn am polnischen Hof ernannt und erhielt eine ansehnliche Pension.
Er hielt sich sogar zwei Jahre in Warschau auf und ging einmal im
Auftrag der Königin nach Stockholm, kehrte aber im Jahr 1651 nach
Paris zurück, wo er noch zehn Jahre ungestört verlebte.^)
Wir haben hier indessen nur seine Jugendwerke, die früheren
Gedichte, ins Auge zu fassen. Das Epos: „Moyse sauve", das er später
veröffentlichte, gehört bereits in eine andere Zeit. Schon in seinen ersten
poetischen Arbeiten verrät Saint-Amant eine gewisse Unsicherheit der
Methode. Zwei Seelen wohnen in seiner Brust. Die eine heißt ihn, dem
1) „Rome ridicule, mi caprice." Der Drucker dieser Satire kam ins Ge-
fängnis, Saint-Amant selbst blieb unbehelligt.
-) Das Gedicht „L'Albion, caprice heroi-comique" enthält 120 Strophen
und ist von London, 12. Februar 1644, datiert.
2) Boileau (Sat. I, 97 — 100) spricht von Saint- Amants großer Armut. Doch
beruht diese Behauptung auf keiner sicheren Nachricht, ist vielmehr nach dem
Gesagten sehr unwahrscheinlich. Wir wissen auch, daß die Königin von Polen
ihn nicht vergaß, sondern ihm Geld schickte (s. Epitre ä l'abbe de Yilleloin).
Ebendaselbst sagt er, daß seine Kasse nie den Mangel gekannt habe.
153
Euhm Marin is nacheifern, das Beispiel der höfischen Dichter befolgen
und sich den „Precieusen" anreihen; die andere treibt ihn, sich zu
emancipieren, die Maske abzuwerfen und frei seine eigenen Empfindungen
zu offenbaren. So oft er dieser letzteren Eegung folgt, zeigt er sein
Talent und enthüllt nicht selten dabei ein Gefühl für die Schönheit der
Natur, wie man es in jener Zeit nicht erwartet, und das manchmal
einen ganz modernen Ton anschlägt. Dies finden wir z. B. gleich in
seinem ersten größeren Gedicht von der ..Einsamkeit". Er schildert
darin seinen Gang durch eine einsame romantische Landschaft. Zuerst
durchstreift er die altehrwürdigen Wälder, in welchen ihn der Gesang
der Nachtigall fesselte, und gelangt dann durch ein grünes, wildes Thal,
durch das ein Bergstrom rauscht, bis zu einem stillen, versumpften
Teich. Noch keines räuberischen Menschen Hand hat den Frieden dieser
Natur gestört. Wie er weitergeht, stößt er auf die Euinen eines alten
Schlosses und gelangt endlich zu einer Höhe, die ihm den Blick auf
das unendliche Meer eröffnet, mit dessen Schilderung er seia Gedicht
schließt.^)
1) La Solitude (A Alcidoa). Zur Probe seien zwei Strophen des Anfangs
mitgeteilt.
Die Str. 1 beginnt: Qua j'ayme la solitude!
Que ces lieux saerez ä la nuit,
Esloignez du raonde et du bruit,
Plaisent ä mon inquietude.
Str. 3: Que sur cette espine fleurie,
Dont le printemps est amoureux,
Philomele au chaiit langoureux,
Entretient bien ma resverie!
Der Dichter fühlt hier seine Stimmung in Harmonie mit der Natur. Man
vergleiche damit das Gedicht von Lamartine (Mediations poetiques, I): „L'Isole-
ment" :
„Souvent sur la montagne, ä l'ombre du vieux chene,
„Au eoucher du soleil, tristemeut je m'assieds;
„Je promene au hasard mes regards sur la plaine,
„Dont le tableau changeant se deroule ä mes pieds.
„Quand la feuille des bois trombe dans la pralrie,
„Le vent du soir s'eleve et l'arrache aux vallons;
„Et moi, je suis semblable ä la feuille fletrie:
„Emportez-moi comme eile, orageux aquilons!"
Dasselbe Gefühl beseelt die beiden Dichter, aber die Sprache Saiut-Araants
ist noch widerspenstig; sie schmiegt sich dem Gedanken noch nicht so an. La-
martine« Strophen haben dagegen eine Weichheit, welche die klassische Einfach-
heit schon überschritten hat. Ihre einschmeichelnde Schönheit und die Harmonie
der Verse, die wie Gesang dahinfließen, sind auch nicht frei von Manier.
In dem Gedicht „Le Contemplateur" hat Saint -Amant ein Bild ganz
modernen Charakters gegeben. Er sagt Strophe 26:
J'escoute, ä demy transporte,
Le bruit des ailes du silence
Qui vole dans Tobscurite.
So sagt er von einer neuen Geliebten (Sonett, I, S. 132, in der Ausgabe
von Livet):
154
Xeben einigen, sehr getalligen Stellen fallen in diesem Gedicht
andere durch ihre Geschmacklosigkeit umso unangenehmer auf. Saint-
Amant gerät darin öfters in die Affektation der Pastoralpoesie; so wenn
er von dem Schäfer spricht, der sich aus Liebesgram in den Euinen
des Schlosses aufgehängt hat und um dessen Skelett nun der Geist der
hartherzigen Schönen zur Strafe irren muß,^) oder wenn er bei der
Schilderung eines grauenvollen Abgrunds an die gute Gelegenheit denkt,
welche der Unglückliche hier fände, der seinem Leben ein Ende zu
machen wünscht.
Doch der ernste Ton ist ja Saint-Amant nicht natürlich. Sein
wahrer Charakter tritt in den lärmenden Trinkliedern, in den heiteren
Ausfällen, den satirischen Zeitbildern zu Tage. Rauchen und Zechen,
das ist seine liebste Beschäftigung, und die Schenke ist der Tempel, in
dem er sich begeistert. Er zeichnet sich selbst, wie er vor dem Kamin,
auf einem Bündel Eeisig sitzend, eine Pfeife in der Hand, seinen Ge-
danken nachhängt.-) Und noch häufiger zeigt er sich uns bei der Flasche,
mit seinen Kameraden, besonders seinem Freund Faret. „Was willst Du
mit der Schönheit, mit der Kunst, mit dem frischen Grün der Natur?"
ruft er diesem zu; „die schlechteste Unterhaltung in der Schenke gefällt
Dir besser als das Echo des Waldes". „Und mir auch!" schließt er das
Gedicht.
Bei alledem ist er ..der gute, dicke Saint-Amant", wie er sich selbst
nennt, und wenn er satirisch wird, wird er doch nie persönlich oder
boshaft. Höchstens daß er seine Freunde und Kollegen von der Akademie
ein wenig zaust, aber auch sie nur im allgemeinen. Er paßte nicht
recht zu der gelehrten Gesellschaft, und als sie einem jeden Mitglied
die Verpflichtung auferlegte, von Zeit zu Zeit einen Vortrag zu halten,
erbot sich Saint-Amant. die burlesken Ausdrücke für das Wörterbach zu
bearbeiten, wenn man ihn von jener Verpflichtung freispräche. So stellte
er sich selbst als den ersten Vertreter der Burleske hin.
Sou visage est plus frais qu'une rose au matin,
Quand au chant des oiseaux son odeur se reveille
Elle remplit mes sens de gloire et de merveille
Et me fait mespriser la bergere Gatin.
Dieses triviale Schlußwort hat man Saint-Amant übelgenommen. Aber es
ist ja das Charakteristische der burlesken Dichter, daß sie die Stimmung mut-
wilHg zerstören.
**^ 1) Theophile Gautier giebt in seinen „Grotesques" (2 Bde., Paris 1844,
Desessart) auch einen Aufsatz über Saint-Amant. Den glühenden Eomantikern,
welche die klassische Litteratur verabscheuten, mußten die früheren Dichter,
besonders diejenigen, welche von Boileau getadelt worden waren, teuer sein.
Gautier findet das Skelett sehr am Platz, es trägt ihm zur Stimmung bei. „N'en
deplaise ä Boileau, je crois que ce pendu est tres-bien a sa place" sagt er I, 266.
2) Sonett (ed. Livet, I, 182):
Assis sur un fagot, une pipe ä la main,
Tristement accoude contre une cheminee,
Les yeux fixes vers terre, et Tarne mutinee.
Je songe aux cruautes de mon sort inhumain.
155
Überblicken wir noch einmal die poetische Produktion der ganzen
Epoche, so drängt sich uns unwiderstehlich ein scharfes Urteil über die
hohle, geschmack- und geistlose Manier auf, die sich darin breit macht.
Auffallend ist dabei nur, daß man dieselbe Erscheinung gleichzeitig bei
allen Völkern Europas, die an der Entwicklung der Kultur teilnahmen,
beobachten kann. Sie muß somit ihren Grund in allgemeinen Verhält-
nissen gehabt haben. Und vielleicht irren wir nicht, wenn wir in der
Betonung des rein Äußerlichen, in jener faden Galanterie, jenem auf-
geputzten Gefühl auch nur eine andere Episode des langen Kampfes
finden, in welchem die neue Zeit die letzten Fesseln des Mittelalters
abzustreifen sucht. Noch hatte man die überlieferten Formen, aber sie
waren alt und hohl geworden. Der Kitterdienst, der Frauenkultus, der
Mysticismus des Mittelalters waren längst geschwunden, aber noch hatten
sich keine neuen Ideale an ihrer Stelle gefunden, noch war kein ge-
nügender Ersatz für das reichströmende Leben der früheren Zeit geboten.
Die Wirkung der Eenaissance war langsam, ihr Einfluß anfangs oft
verwirrend. Da der geistige Inhalt mangelte, suchte man sich durch
die Schönheit der Form zu entschädigen. In diesem Ringen mit der
Form verflüchtigte sich die letzte Spur des früheren Geistes und der
früheren Weltanschauung, aber aus diesem Kampf ging die Sprache
umgewandelt und zu neuem Leben tüchtig hervor. Sie wurde das voll-
endete Instrument für den Ausdruck einer anders gearteten Gedanken-
und Gefühlswelt, die scharfe Waffe in dem neuen Kampf, der bald ent-
brennen sollte. Zwischen dem Streben der früheren Jahrhunderte und
dem der modernen Zeit war eine kurze Pause der Ruhe. Es kam ein
Augenblick, in welchem das geistige Leben und die Sprache des Volkes
sich harmonisch deckten und diese kurze Spanne Zeit umfaßte die klas-
sische Litteratur in ihrer Größe. Sie war der Höhepunkt, zu dem eine
lange, mühsame Wanderung führte und von dem nach kurzer Rast
wieder aufgebrochen werden mußte, weil neue Ziele auch mit neuer
Unruhe erfüllten.
Bibliographische Notizen. Nachfolgend seien, abgesehen
von den schon in den Noten angeführten Einzelausgaben und Special-
schriften, die hauptsächlichsten größeren Sammelwerke angegeben : Le
Temple des Muses, puplie par Raphael de Petit-Val. Paris 1611. —
Les Muses gaillardes, recueillies des plus beaux esprits de ce temps par
A. D. B. Parisien. Paris 1609. — Le cabinet satirique ou recueil par-
faict des vers piquants et gaillards de ce temps. Tire des secrets ca-
binets des Sieurs de Sigogne, Regnier, Motin, Berthelot, Maynard et
autres des plus signalez Poetes de ce Siecle. Nouvelle Edition. Paris
1614, chez Billaine. — Les Delices de la Poesie francjoise. Chez Tous-
saint du Bray. Paris 1621. — Les nouvelles Muses des sieurs Godeau,
Chapelain, Habert, Baro, Racan. L'Estoile, Menard, Desmarets, Male-
ville et autres. Paris 1633, chez Robert Bertault. — Recueil de pieces etc.
Paris 1659—1662, Ch. de Sercy. 4 Bde. in 12°. — Recueil des plus
156
belies pieces des poetes fran9ois tant anciens que modernes depuis
Villon jusqu'ä Benserade, imprime par Claude Barbin, Paris 1692.
5 Bände.
Le Parnasse Fran9ois, dedie au Roi par Mr. Titon du Tillet,
Commissaire Provincial des guerres, ci-devant Capitaine de Dragons et
Maitre d'Hötel de feue Madame la Dauphine, Mere du Roi. A Paris,
de rimprimerie de Jeau Baptiste Coignard fils, 1732. — (Le Fort de
la Moriniere) Choix de poesies morales et chretiennes depuis Malherbe
jusqu'aux Poetes de nos jours. Paris 1739/40. 3 Bde. (Der Herausgeber
ist auf dem Titel nicht genannt.) — Niceron, Memoires pour servir ä
l'Histoire des Hommes illustres dans la Eepublique des Lettres, avec le
catalogue raisonne de leurs Ouvrages. Paris 1727 — 1745. 43 Bde. —
(Goujet) Bibliotheque fran9oise ou Histoire de la litterature fran9oise,
dans laquelle on montre l'utilite que Ton peut retirer des Livres publies
en Frangois depuis l'origine de l'imprimerie, pour la connaissance des
Belles-Lettres, de l'Histoire, des Sciences et des Arts, et oü Ton rapporte
les Jugements des critiques sur les principaux Ouvrages en chaque genre
ecrits dans la meme langue. Par Mr. l'abbe Goujet. Paris 1740 u. ff.
18 Bände.
Haag (Eug. et Em.) La France protestante, ou Vies des protestants
fran9ais. Ouvrage precede d'une notice historique sur le protestantisme
en France. Paris 1846 u. ff., chez Cherbuliez. 8 Bde.
IX.
Richelieu und die Akademie.
Betroffen von der Erscheinung, daß ein so einseitiger und ab-
sonderlicher Geschmack während eines verhältnismäßig langen Zeitraums
in der Poesie vorherrschen konnte, fragt man sich, ob denn zu jener
Zeit keinerlei ernstliche Kritik geübt worden sei , ob kein klarsehender,
einfach fühlender und ruhig denkender Geist auf die Irrwege, die man
wandelte, hingewiesen habe? Man wird forschen, ob denn vor zwei Jahr-
hunderten nichts von dem bestanden habe, was wir heute litterarische
Kritik nennen ?
Allerdings hat erst das mächtige Anwachsen der Presse auch dieser
Art der öffentlichen Kontrolle ein weites Feld der Wirksamkeit geöffnet.
Litterarische Zeitschriften gab es damals nicht. Das 17. Jahrhundert
sah wol in den letzten Jahren Eichelieus die schüchternen Anfänge einer
Zeitungspresse, allein es sollte noch lange dauern, bis dieselbe selbstän-
dige, entscheidende Urteile zu fällen wagte.
Deshalb darf man aber nicht annehmen, daß zur Zeit Malherbes
und Eichelieus weniger litterarische Schlachten als heute geschlagen
worden seien. Man hatte eine andere Kampfart, unvollkommenere Waffen;
man scharmützelte weniger als heute, wo der kritischen Zeitschriften so
viele sind und selbst politische Journale die Erscheinungen der Litteratur
besprechen; aber Schlachten, Hauptaktionen und Exekutionen gab es
so viel wie heute, und man schlug sich mit der nämlichen Hitze. Wir
erinnern nur des Beispiels halber an Balzacs litterarische Fehden. Als
er seine Briefe veröffentlicht hatte, trat ein junger Feuillantinermönch,
Don Andre de Sainct Denys, mit einer heftigen Schrift gegen ihn auf
und beschuldigte ihn des Plagiats. Gegen diesen Vorwurf verteidigte
sich Balzac in einer „Apologie", welche unter dem Namen seines Freundes,
des Abbe Ogier, erschien. Daraufhin mischte sich sogar der General der
Feuillantiner, Jean Goulu, in den Streit und schleuderte zwei Bände der
plumpsten Invektiven gegen Balzac.^) Wie sich nach Voitures Tod aus
einem von Balzac angeregten freundschaftlichen litterarischen Brief-
wechsel über des Geschiedenen Verdienste allmählich ein erbitterter
Kampf entwickelte, in welchem sich die Streitenden mit dicken Quar-
tanten zu Leibe gingen, ist schon bei früherer Gelegenheit gesagt worden.^)
1) Lettres de Phyllarque ä Ariste (1627—1628).
2) Siehe Abschnitt VII, S. 131.
158
Ebenso werden wir bald sehen, wieviel Broschüren und Bücher der Streit
um Corneilles „Cid" veranlaßte und welch strenge Polizei die herrschende
litterarische Schule gegen den jungen Dichter auszuüben versuchte, weil
dieser sich an die willkürlich diktierten Gesetze einer absonderlichen
Ästhetik nicht halten wollte. Die Kreise, welche sich für Litteratur inter-
essierten, waren allerdings noch klein, aber im Verhältnis dazu war die
Kritik sehr lebhaft. Je enger umgrenzt das Gebiet war, auf dem man
sich erging, umso härter traf man oft aufeinander. Noch war das
geistige Leben der Nation minder entwickelt, die Wissenschaften wurden,
soweit man sie ausgebildet hatte, in schwerfälliger Form überliefert und
entzogen sich dem allgemeinen Interesse. Das öffentliche Leben war der
freien Besprechung fast völlig entrückt und die Aufmerksamkeit der Ge-
bildeten mußte sich so auf die Litteratur konzentrieren. Die schwerfällige
Gelehrsamkeit, die auch hierüber mitreden wollte, legte ihr Urteil in
Streitschriften und dickleibigen Büchern nieder. Gewandtere Männer
schufen sich auch wol ein Organ für ihre kritischen Aussprüche in ihren
Briefen, denn trotz ihres privaten Charakters gingen diese Schreiben
von Hand zu Hand, wurden vielfach kopiert und waren umso wirk-
samer, je intimer sie schienen. Und doch waren sie meistens für einen
größeren Kreis bestimmt und wurden oft nach einiger Zeit durch den
Druck bekannt gemacht. Solche Briefe hat man nicht allein von Balzac,
sondern von einer Reihe von Schiüftstellern und Gelehrten. Der Brief-
schreiber konnte auf diese Weise seine Meinung offen mitteilen, und
hatte den Vorteil dabei, eine gewisse Frische und Natürlichkeit des Aus-
drucks zu bewahren.
Nach dem erfolglosen Widerstand, den Mathurin Regnier gegen
die Lehren Malherbes gewagt hatte, zeigte sich allerdings längere Zeit
hindurch keine erhebliche Meinungsverschiedenheit über die Aufgaben
der Poesie. Erst Corneille sollte mit seinem „Cid" wieder einen Anlaß
zu hitzigem Streit bieten. Friedlich war man deshalb doch nicht, nur
daß man sich mehr mit persönlichen Fragen beschäftigte. Übten doch
die Dichter selbst oft ihren Freunden gegenüber das Amt des Kritikers,
und wenn sie sich auch für gewöhnlich mit maßlosen Lobsprüchen über-
häuften, gab es doch auch hin und wieder Anlaß zur Klage. Im all-
gemeinen aber war man mit sich und mit den anderen zufrieden, und
man genügte den Ansprüchen der eleganten, oberflächlichen Gesellschaft,
in deren Dienst man stand. Diese Übereinstimmung der Kritik, die wir
auch mit einem stärkeren Wort als Mangel an Urteil bezeichnen können,
ist nicht zu übersehen. Sie konnte nicht ohne Bedeutung für die Ent-
wicklung der Litteratur bleiben. So wie diese fast principlos und ohne
feste Richtung von dem Wellenschlag des gerade herrschenden Geschmacks
sich dahin treiben ließ, so auch die Kritik. Umso wichtiger war darum
der Versuch, der Kritik ein besonderes Organ, der Litteratur eine Stütze
und eine Führerin zu schaffen, und so entstand die Akademie.
Bevor wir die Geschichte ihrer Gründung genauer betrachten,
wollen wir die einflußreichsten Kritiker und Schöngeister, welche später
die Häupter der neuen Gesellschaft bilden sollten, einzeki kennen lernen.
159
Hoch über allen stand in der Achtung der Zeitgenossen Balzac, dessen
Arbeiten wir schon früher gewürdigt haben^) und der als das Muster
der gelehrten Ästhetiker jener Zeit betrachtet werden kann. Neben ihm
standen andere, ebenfalls in hohem Ansehen, wie Chapelain und Conrart,
die zwar den Euhm Balzacs nicht erreichten, deren Wirksamkeit aber
vielleicht eingreifender war als jene des Einsiedlers von der Charente.
Jean Chapelain (1595 — 1674) war zu Paris als der Sohn eines
Notars geboren. Seine Mutter soll ihn frühzeitig mit den Werken der
Poesie bekannt gemacht haben. Aber wenn er auch von ihr „die Lust,
zu fabulieren" geerbt hatte, so war seine Begabung dafür nicht groß.
Er hatte mehr von der Natur des Vaters, und der Notar hat sich nie
ganz in ihm verleugnet. Als Erzieher in einem vornehmen Haus, wurde
er mit Malherbe bekannt, dessen Magisterton ihm zusagte. Er fand
Zutritt in dem Haus Rambouillet und erlangte den Ruf eines tüchtigen
Gelehrten und einsichtigen Kritikers. Um jene Zeit war Marini mit seinem
später so berühmt gewordenen Gedicht „Adonis" nach Paris gekommen
und hatte es im Kreise Malherbes vorgelesen, denn seine Absicht war,
eine Ausgabe davon in Frankreich zu veranstalten. Es wird erzählt,
Chapelain habe bei dieser Gelegenheit manche Bedenken gegen das Werk
geäußert und sich dabei so scharfsinnig erwiesen, daß Marini gerade
ihn gebeten habe, die Vorrede zu diesem Gedicht zu schreiben. Er sollte
das Publikum darin günstig stimmen, und die Kritik zum voraus ent-
waffnen. Er hätte also, wenn sich die Sache so verhält, den Auftrag
erhalten, sich selbst zu widerlegen. Wie dem auch sei, er schrieb
jedenfalls diese gewünschte Vorrede, die uns freilich völlig ungenieß-
bar ist.^)
Zu jener Zeit muß sie indessen Beifall gefunden haben, und Cha-
pelain übte seitdem mit Vorliebe litterarische Kritik. Er besaß wirkliche
Gelehrsamkeit, denn er verstand neben den beiden klassischen Sprachen
auch Spanisch und Italienisch, aber sein Geschmack gewann dadurch
nicht an Sicherheit. Er war der Hauptverteidiger jener nüchternen,
pedantisch ausgeklügelten Theorien, welche in der Litteratur des 17. Jahr-
hunderts so viel Verwüstungen angerichtet haben. So war Chapelain
in vieler Hinsicht der richtige Nachfolger Malherbes. Er brachte die
Schwäche und Poesielosigkeit in ein System; man möchte ihn den Gott-
sched der Franzosen nennen. In seiner äußeren Erscheinung unan-
sehnlich, klein, häßlich, dabei geizig, entwickelte er sich allmählich zu
einem kleinen Litteraturtyrannen, auf dessen Worte die Dichter ehr-
erbietig lauschten. Auch Balzac preist den .,weisen und gelehrten"
Herrn Chapelain als das Orakel der Kritik und des Wissens. Er dringe
in das tiefste Geheimnis des Altertums. Wenn er nur wolle, könne er
die verlorenen Bücher der „Poetik" des Aristoteles wiederherstellen.
Denn wenn man mit Recht Aristoteles den Genius der Natur nenne.
1) Siehe Abschnitt VII, S. 107 ff.
2) Sie erschien in Form eines Briefs an Mr. Favereau in der Folio- Aus-
gabe des „Adonis" (Paris 1623).
160
so könne man ebenso treffend Herrn Chapelain als den Genius des
Aristoteles bezeichnen!^) Man schreibt es wesentlich Chapelains Einfluß
zu, daß die dramatischen Dichter die allerdings schon bekannten, aber
wenig beachteten Regeln von der Einheit der Handlung, des Ortes
und der Zeit allmählich sorgfältiger beobachteten. Ganz besonders soll er
darauf gedrungen haben, daß die Einheit der Zeit in der strengsten
Weise aufzufassen wäre, und die im Drama vorgestellten Ereignisse
innerhalb eines Zeitraums von vierundzwanzig Stunden sich abspielen
müßten.^)
Es ist bezeichnend für sein trockenes Naturell, daß er, wie schon
früher erwähnt wurde, in der Akademie einen Vortrag gegen die Liebe
in der Poesie hielt. ^) Wenn er dabei freilich nur die Dichtungen seiner
liebegirrenden Kollegen im Sinn hatte, war er nicht ganz im Unrecht.
Da er nun sein Urteil in litterarischen Fragen, besonders in der Poesie,
so hochgeachtet sah, glaubte er auch selbst Dichter zu sein, und ver-
suchte sich gelegentlich in kleinen Gedichten. Natürlich besang er den
Kardinal Eichelieu, der sich ihm immer wohlwollend erwies.'*) Zuletzt
schraubte er sich in seinem Selbstbewußtsein so hoch, daß er es unter-
nahm, Frankreich ein nationales Epos zu geben, und eine große, heroische
Dichtung in 24 Gesängen begann , welche die Jungfrau von Orleans
verherrlichen sollte. Die Spannung war groß, und in den schöngeistigen
Kreisen erwartete man ein Wunderwerk, das Homer und selbst den am
1) Balzac, 6^^ discours.
2) Vergl. Segraisiana (Haager, Ausgabe 1722), S. 144.
3) Chapelain hielt diesen Vortrag „contra l'amour" in der Sitzung der
Akademie vom 6. August 1635. „U tache d'öter ä cette passion la divinite que
les poetes lui ont attribuee," sagt darüber Pellisson, Histoire de TAcademie
(edition Livet), S. 76.
*) Seine Ode an Kardinal de Richelieu findet sich in Barbins „ßecueil
des plus belies pieces", IV. Teil, S. 181. Boileau, sonst ein so entschiedener
Widersacher Chapelains, fand die Ode erträglich hübsch. (Menagiana III, S. 73.)
Uns erscheint selbst dieses Urteil sehr nachsichtig. — Der erste ernstliche
Widerstand gegen Chapelain erhob sich überhaupt gegen ihn als Dichter. In
dem satirischen Lustspiel „Les Aeademistes" von Saint-Evremond (1643), in
der die Mehrzahl der AkademiemitgUeder ihre PtoUe haben, tritt in der ersten
Scene des zweiten Akts Chapelain auf, wie er sich gerade abmüht, ein Gedicht
zu stände zu bringen:
„Qui Vit Jamals rien de si beau,
(II me taudra choisir pour la rime fl am beau)
„Que les beaux yeux de la comtesse?
(Je voudrais bien aussi mettre en rime Deesse)
„Je ne croi point qu'une Deesse
„Nous eclairät d"un tel flambeau.
„Aussi peut-on trouver une ame
„Qui ne sente la vive Flamme,
„Qu'allume cet Oeil radieux?
Radieux me plait fort: un ceil plein de lumiere.
Et qui fait sur nos Coeurs l'impression premiere,
D'oix se forment enfin les tendresses d'Amour.
Radieux! j'en veux faire un terme de la Cour.
161
höchsten bewunderten Virgil verdunkeln würde. Die Franzosen, die sich
berufen glaubten, die Nachfolger der Römer in der Weltherrschaft zu
werden, deren Sprache in rascher Entwicklung stand und bereits in
ganz Europa von den Gebildeten verstanden wurde, erwarteten nun auch
ihr nationales Epos. Schon Ronsard hatte in seiner „Franciade" den
Versuch gemacht, diesen Wunsch zu erfüllen. Aber Ronsard war längst
überholt. Jetzt erst schien die richtige Zeit gekommen und in Chapelain
sah man den lang ersehnten Messias. Ein Nachkomme des tapferen
Dunois, der Herzog von Longueville, der von dem Gedicht besonderen
Glanz für sein Haus erhoffte, setzte dem Dichter für die ganze Dauer
der Arbeit ein Gehalt von 2000 Franken aus, und Richelieu bewilligte
ihm die gleiche Summe als Untei'stützung. Er that dies in demselben
Jahr 1636, in welchem der „Cid" erschien, den er durch seine Getreuen
richten ließ. Auch Richelieus Name sollte in dem Epos verherrlicht
werden. Jeder Gesang wurde den beiden Gönnern zur Durchsicht und
Genehmigung vorgelegt. Die Veröffentlichung verzögerte sich viele Jahre.
Die ersten zwölf Gesänge erschienen 1656 und erlebten binnen 18 Mo-
naten sechs Auflagen, was für jene Zeit außerordentlich ist. und jedenfalls
für die wachsende Teilnahme des Publikums an der Litteratur Zeugnis
ablegt. Chapelain glaubte seinen Ruhm für die Ewigkeit gesichert. Und
doch war er seinem Sturz nahe. Wie die Stimmung umschlug, wie die
Angriffe gegen ihn lauter und schärfer wurden, wie endlich Boileau sich
gegen ihn erhob, und der lange Zeit mühsam aufrecht erhaltene Ruhm
des armen Chapelain plötzlich zusammenbrach, das zu schildern, muß
einer späteren Darstellung vorbehalten bleiben, wenn von den epischen
Versuchen anderer Dichter und der litterarischen Reaktion zur Zeit
Boileaus die Rede sein wird. War aber Chapelain als Dichter unglücklich
gewesen, so hielt sich doch sein Ansehen als Kritiker noch einige Zeit
in Kraft. Er wurde der litterarische Vertrauensmann des Ministers
Colbert. Als König Ludwig im Jahr 1662 sich als Förderer der Künste
und Wissenschaften zu zeigen und eine augusteische Periode einzuleiten
beschloß, wollte er unter anderem auch eine große Zahl von Dichtern
und Gelehrten mit Pensionen begnaden. Zu diesem Behuf wandte sich
Colbert an Chapelain, der eine Liste von 60 Namea, 45 Franzosen und
15 Ausländer, aufstellte. Jeden der Männer, welche er einer solchen
Auszeichnung würdig erachtete, suchte er in einigen begleitenden Worten
zu kennzeichnen. Ein Hauptgewicht bei dieser Beurteilung fiel darauf,
inwieweit der Betreffende den Ruhm des Königs zu verbreiten im
Stande wäre.^) Zugleich ersieht man aus diesen Charakteristiken, wie
1) So erweist sich Chapelain gerecht gegen Corneille, dessen Ruhm im
Jahr 1662 allerdings sicher stand. Von dem Übersetzer, d'Ablaucourt, sagt er
z. B. als Empfehlung, „qu'il recevroit les avis qu'on lui donneroit" ; Mezeray
dagegen müßte fügsamer (plus docile) sein, und Furetiere könnte etwas leisten,
„wenn er sich leiten ließe". Sich selbst nennt pr einen Mann „qui fait une pro-
fession exacte d'aimer la vertu «ans interet". Vergl. auch Guizot, Corneille et
son temps, S. 355. Chapelain trug eine jährliche Pension von 3000 Franken
davon, nachdem ihm schon früher Mazarin ein Gehalt von 1500 Pranken be-
willigt hatte.
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litleratar. -j^j
162
sehr Chapelain auf Unterwürfigkeit unter die von ihm als unfehlbar
erachteten Lehren hielt, wie er sich aber unparteiisch zu seiu bemühte,
so gut ihm das von seinem Standpunkt aus möglich war.^) „Er hatte
die Tugend erlernt wie die Poetik", sagt Guizot von ihm, aber seine
Tugend blieb stets etwas selbstsüchtig. Mit der Zeit geriet er immer
mehr in Opposition gegen die neu sich erhebende Schule der jüngeren
Generation, gegen Boileau und Moliere. und so gewöhnte man sich
daran, ihn nebst dem Abbe Cotin als den Inbegriff alles Ungeschmacks
zu betrachten, — ein Urteil, das ebenso ungerecht, wie die frühere
Verehrung, die man ihm gezollt hatte, übertrieben erscheint.^)
Chapelains Freund und Gesinnungsgenosse. Valentin Conrart (1603
bis 1675). der aas einer streng bürgerlichen Familie in Valenciennes
stammte, hatte den gewöhnlichen Bildungsgang der wohlhabenden Jugend
seiner Zeit nicht durchgemacht. Die klassischen Studien waren ihm fremd
geblieben, aber er zeigte sich später mit den modernen Sprachen, mit
Italienisch und Spanisch, vertraut. Conrart war eigentlich kein Kritiker,
noch weniger Dichter; er war nur Sammler. Einer der Menschen, welche
den anderen gerne zuhören und deren Leistungen neidlos bewundern,
sah er sich bei allen seinen Freunden beliebt. Er war Sekretär des
Königs und wurde nach der Gründung der Akademie deren erster
lebenslänglicher Sekretär. Von seinen Werken kannte man nichts, und
Boileau fand, daß er sich in ein kluges Schweigen hülle. ^) Außer den
paar Gedichten, die man von ihm kennt, schrieb er auch ein Buch
Memoiren. Doch blieben sie ungedruckt und sind erst vor ungefähr
50 Jahren veröffentlicht worden.*)
Xeben Balzac, Chapelain und Conrart standen noch viele Schön-
geister, deren kritisches Urteil für ihre Zeitgenossen von Gewicht war,
wenn sie auch selbst nichts leisteten. Zu ihnen gehörte Pierre Costar
ij Unter den von Ludwig XIV. mit Pensionen bedachten Ausländern sind
zu nennen: Isaak Vossius, N. Heinsius, Gronovius und Huyghens in Holland;
J. H. Boeklerus in Strasburg: Thomas Eeiuesius , Rat des Kurfürsten von
Sachsen ; Joh. Christ. Wageuseilius, Professor zu Altorf; Hevelius, Professor der
Astronomie zu Danzig; Conringius, Professor zu Helmstädt u. a. m.
-) Die Gedichte Chapelains sind nicht gesammelt worden. Auch seine
kritischen Arbeiten sind zerstreut und meist verloren. Seine Vorrede zum
_Adonis" von Marin i und einige seiner Briefe finden sich in den Melanges de
Litterature, tires de lettres manuscrites de Chapelain et publies par Camusat,
17-26. Chapelains Briefe (5 Bände) befanden sich in Saint-Beuves Besitz. In
wessen Hände sie nach dessen Tod übergegangen sind, ist uns unbekannt. Einen
Auszug daraus giebt Ch. Livet in seiner Ausgabe von Pellisson.
s) Boileau, Epitre, I, v. 40:
„J'imite de Conrart le silence prudent."
*) Die Memoires de Conrart finden sieh, von L. J. N. Monmerque heraus-
gegeben, in Petitots großer Sammlung von Memoiren zur Geschichte Frank-
reichs. (Collection des Memoires relatifs ä l'histoire de France, Bd. 48, 1825. ) —
Die Bibliothek des Arsenals in Paris besitzt eine wichtige, von Conrart ange-
legte Sammlung von litterarischen Arbeiten der verschiedensten Art, Kopien von
Druckschriften oder Originalmanuskripten. Sie umfaßt zwei Serien, eine von
18 Foliobänden, die andere von 24 Quartbänden.
163
(1603 — 1660), ein Geistlicher, der mit der Schriftstellerwelt wohlbekannt,
mit Voiture sogar befreundet war und das Andenken des letzteren, wie
schon einmal gesagt, in hitziger Fehde verteidigte. Costar führte in Le
Mans, 'das er nur selten verließ, ein epikuräisch bequemes Leben, zu-
frieden in dem oberflächlichen Genuß dessen, was die Kenntnis der alten
Welt und die schöne Litteratur ihm bieten konnten, ohne ihn zu er-
müden.^)
So hatte sich allmählich eine kleine litterarische Welt in Frank-
reich gebildet, deren Mittelpunkt Paris war. In der Hauptstadt fanden
sich, mit wenigen Ausnahmen, alle zusammen, welche poetisch oder in
irgend einer Weise litterarisch thätig waren. Sie fanden dort die beste
materielle Hilfe, aber auch die erwünschte Anregung in einer Gesell-
schaft, von der sie sieh allein verstanden und gewürdigt wußten.
Darum ist es nur natürlich , daß sich um jene Zeit eine Anzahl
gleichgesinnier Freunde zusammenfand, die sich in freundschaftlichem
Verkehr gegenseitig zu stützen und zu fördern strebten. Pellisson, der
elegante Geschichtschreiber der Akademie, erzählt, daß der erste Gedanke
einer regelmäßigen Vereinigung im Kreise der Freunde im Jahr 1629
aufgetaucht sei. Sie hätten in den verschiedenen Stadtteilen gewohnt
und sich bei ihren Besuchen oft verfehlt. Da seien sie übereingekommen,
sich bei einem von ihnen an einem bestimmten Tag in der Woche zu
versammeln. „Sie alle waren Schriftsteller und Männer von Bedeutung",
sagt Pellisson. „Godeau, jetzt Bischof von Grasse, damals aber noch
nicht im geistlichen Stand, Gombauld, Chapelain, Conrart, Giry,") der
verstorbene Artilleriekommissär Habert, sein Bruder, der Abbe von Cerisy,
dann Serisav und Maleville. Sie versammelten sich bei Conrart, dessen
Wohnung am bequemsten für diesen Zweck im Herzen der Stadt gelegen
war, so daß alle gleich weit zu ihm hatten. Dort unterhielten sie sich
zwanglos, wie sie es bei einem andern Besuch gethan hätten, und über
alle möglichen Fragen, über Geschäfte, Neuigkeiten, Litteratur. Wenn
einer von ihnen ein Werk vollendet hatte, wie das oft vorkam, so teilte
er es gern allen anderen mit, die ihm darüber offen ihre Meinung sagten.
Auf ihre Besprechungen ließen sie dann entweder einen Spaziergang oder
ein gemeinsames Mahl folgen."^)
1) Außer seinen Streitschriften für Voiture veröffentlichte Costar noch im
Jahr 1654: Entretiens de Mr. de Voiture et de Mr. Costar, ferner eine Samm-
lung unbedeutender Briefe (Paris 1658), eine Abhandlung über das Epigramm
und im Auftrag Mazarins zwei weitere über die berühmtesten Schriftsteller
Frankreichs und des Auslands.
2) Louis Giry, Advokat in Paris, hatte sich durch einige Übersetzungen
bekannt gemacht.
3) Paul Pellisson-Fontanier (1624 — 1093), stammte aus einer protestanti-
schen Familie und war eine Zeit lang im Finanzministerium unter Fouquet an-
gestellt. Beim Sturz dieses seines Gönners wurde auch Pellisson in die ßastille
gesperrt und verlor sein ganzes Vermögen. Aber selbst im Kerker wagte er
noch für Fouquet zu schreiben, und wurde daraufhin zur strengsten Haft ver-
urteilt. Aller Mittel, sich zu beschäftigen, beraubt, habe er, so heißt es, sich
die Zeit mit der Zähmung einer Spinne vertrieben. Auf Verwenden seiner
11*
164
Wir sehen also in diesen Zusammenkünften, die keinerlei Anspruch
auf besondere Bedeutung machten, nur den Wunsch nach lebhafterem
freundschaftlichen Verkehr verwirklicht, und aus diesem Grunde sollte
auch kein Fremder in den Kreis zugelassen werden. Einige Jahre hin-
durch kamen die Mitglieder dieser geschlossenen Gesellschaft, die sich
scherzweise manchmal als Akademie bezeichnete, zusammen, ohne daß
man in der Welt davon erfuhr, und wii- können uns leicht vorstellen,
wie angenehm und in seiner Weise auch fördernd der vertrauliche Um-
gang miteinander, der ungestörte Austausch der Meinungen auf jeden der
Freunde gewirkt haben mag.
Auf die Dauer konnten diese Zusammenkünfte jedoch nicht un-
bemerkt bleiben. Auch Richelieu hörte von ihnen und ergriff mit Leb-
haftigkeit den Gedanken, diese anspruchslose Gesellschaft von Privat-
leuten, diese Freundesakademie, in eine öifentlich anerkannte Korporation
umzuwandeln.
Richelieu hat als Staatsmann einen Einfluß auf die politische und
sociale Entwicklung seines Landes ausgeübt, wie nur wenige vor und
nach ihm. Gewaltthätig und rücksichtslos hat er die königliche Macht
in Frankreich zu der Höhe völliger Unumschränktheit emporgehoben, auf
der sie sich beinahe zwei Jahrhunderte hindurch erhielt; er hat Frank-
reich zu jenem straff centralisierten Staat umgeschaffen, der des Landes
Kraft zusammenfaßte und verdoppelte, der es aber in anderer Hinsicht
auch gefährlich schwächte. Wir haben hier nicht noch einmal die Folgen
dieses Systems hervorzuheben; es sei uns nur gestattet, daran zu er-
innern , daß selbst Richelieu , diese mächtig konstruierte Persönlichkeit
und fast der einzige entschiedene Charakter in einer Epoche der Charakter-
schwäche, nur deshalb seine Politik mit Erfolg gekrönt sah, weil er das
unbewußte Streben seiner Zeit mit scharfem Blick erkannte und das-
selbe zum Ziel zu führen unternahm.
Auch in der Geschichte der Litteratur kann er nicht übersehen
werden. Auch hier griff er entschieden ein und wurde von der allgemeinen
Strömung getragen. Daß er sich später einmal, bei der Erscheinung des
..Cid", im Widerspruch mit dem Geschmack des Publikums befand, darf
Freundin, des Fräuleins von Scuderj', erhielt er endlich wieder Bücher und auch
etwas mehr Freiheit. Seine volle Freiheit erhielt er jedoch erst nach viereinhalb-
jähriger Haft. Einige Jahre später bekehrte er sich zum Katholizismus und er-
hielt eine königliche Pension von 2000 Thalern. In den geistlichen Stand ein-
getreten, erhielt er einige Abteien, deren Einkünfte ihm gestatteten, ein schönes
Vermögen zu sammeln. Da er sich mit Eifer der Bekehrung seiner früheren
Glaubensgenossen widmete, nannte man ihn spottweise „le grand convertisseur". —
Die Anzahl seiner Schriften war groß; doch waren sie meistenteils theologi-
schen Inhalts. Zu nennen sind höchstens seine Einleitung zu der Ausgabe von
Sarrazins Werken, seine Geschichte der Eroberung der Franche-Comte (1648),
sein „Journal des voyages de Louis XIV en 1670" und seine Rede beim Em-
pfang des Erzbischofs von Paris in der Akademie, welche in einem Lob des
Königs gipfelte. Wichtig ist aber nur seine „Histoire de l'Academie fran9oise''
(Paris 1(353), fortgesetzt von dem Abbe d'Olivet bis zur Zeit Racines. Eine neue
treffliche Ausgabe dieses Werks, das sich durch gefeilte, schöne Sprache aus-
zeichnet, hat Charles Livet besorgt. (Paris 1858, l3idier, 2 Bde.)
165
uns nicht irren. War doch dieser Widerspruch in mancher Beziehung
nur scheinbar, wie wir später nachweisen werden.
Richelieu war fein gebildet. Er liebte die Kunst, die Poesie; er
freute sich der Schönheit des geschmackvoll geordneten Lebens. Trotz
der Arbeitslast, die auf ihn drückte, fand er nocli Muße, sich mit den
Werken der Litteratur eingehend zu 'beschäftigen. Sein väterliches Schloß
Richelieu arn Fluß Amable (Departement Indre-et-Loire) war im Geschmack
der Zeit prächtig ausgestattet. Wir haben noch ein langes Gedicht von
Julien Collardeau, das die Herrlichkeit dieses Besitzes schildert. Nach
einer schwülstigen Einleitung, in welcher das Schloß Richelieu mit den
Pyramiden, der babylonischen Mauer, dem Koloß von Rhodus und an-
deren Wunderbauten verglichen und natürlich über dieselben erhoben
wird, folgt die eingehende Beschreibung desselben, sowie der Kunstwerke,
die es enthielt, und das Gedicht läßt uns somit den Geschmack des
Schloßherrn deutlich erkennen. \)
Auch in Paris ließ der Kardinal an einem wenig belebten und ziemlich
vernachlässigten Platz inmitten von Wiesen, an Stelle des alten Hotel de Ram-
bouillet und des Hotel de Mercceur, durch den Baumeister Jacques Le Mercier
einen neuen, prächtigen Palast errichten, das Palais-Cardinal, das in der
Folge, als es in den Besitz des Königs, später der Familie Orleans, über-
ging, unter dem Namen des Palais-Royal bekannt wurde. ^) Noch mehr als
ij Julien Collardeau: „La description de Richelieu"; siehe Goujet, Teil
XVI, S. 24 ff. Das Gedicht wurde erst nach dem Tod des Kardinals gedruckt,
mit einer Widmung an die Herzogin von Aiguillon, seine Nichte. Collardeau
fand darin reiche Gelegenheit zu Ruhmesbymuen. zumal bei der Beschreibung
der Gemälde, welche Richelieus Kiiegsthaten vor La Rochelle. Susa u. s. w.
darstellten. — In ähnlicher Weise schilderte er in einem Gedicht die Gemälde,
welche die Siege Ludwig.s XIII. verherrlichten.
-) Der Bau währte von 1629 bis 1636. Über das erstaunliche Wachs-
tum der Hauptstadt, über die prächtigen Gebäude und besonders über das
Palais-Cardinal hat Corneille in seinem Menteur Jl, 5 einige für Richelieu be-
rechnete Verse eingeschoben.
Dorante :
Paris semble ä mes yeux un pays de romans.
J'y croyais ce matin voir une ile enchantee:
Je la laissois deserte, et la trouve habitee;
Quelcj^ue Amphion nouveau. saus l'aide des ma^ons,
En süperbes palais a change ses buissons.
Geronte:
Paris voit tous les jours de ces metamorphoses :
Dans tout le Pre aux clercs tu verras memes choses;
Et l'univers entier ne peut rien voir d'egal
Aux süperbes dehors du palais Cardinal.
Toute une ville entiere, avec pompe bätie,
Semble d'un vieux fosse par miracle sortie.
Et nous lait presumer, ä ses süperbes toits,
Que tous ses habitants sont des dieux on des rois.
Vergl. die Bemerkuug zu dieser Stelle in der Ausgabe Corneilles von
Marty Laveaux („Grands Ecrivains de la France'", Hachette) und die dort an-
geführte Notiz aus Piganiol de la Force, description de Paris 1742, t. II. p. 220.
In dem heutigen Bau ist jede Erinnerung an den früheren Stil verschwunden.
166
die bildenden Künste liebte Richelieu die Poesie, vor allem die dramatische
Dichtung. In seinen jüngeren Jahren gehörte er zu den Besuchern der
Marquise von Eambouillet, und als er später zur Macht gelangte, hatte
er immer einen Kreis von Dichtern, Schriftstellern und Schöngeistern
um sich, mit welchen er sich gern und eingehend unterhielt. Er be-
willigte einer ganzen Reihe von Dichtern jährliche Gehalte. Ein paar
unbedeutende Verse lohnte er dem Dichter Colletet mit einem Geschenk
von 60 Pistolen,') und selbst auf seinen Reisen und Feldzügen wollte
er seine schöngeistigen Gesellschafter nicht missen. Er nannte sie scherz-
weise seine „Academie de campagne"."-) Wie er in seinem Palast einen
großen Saal für dramatische Vorstellungen herrichten ließ und sich selbst
an der Komposition von Bühnenwerken versuchte, wird in der Geschichte
des Theaters ausführlicher zur Sprache kommen. Auch der ofterwähnte
Prozeß über den „Cid", der zuoi Teil wenigstens im Interesse einer
ästhetischen Theorie geführt wurde, zeugt von dem lebhaften Anteil, den
Richelieu an den litterarischen Vorgängen nahm. Daß er, der Mann der
Ordnung und festen Staatsgewalt, sich für die Regelmäßigkeit in den
Dichtungen ereiferte, ist natürlich. So ergriff er die Gelegenheit, diese
zu befördern, wo- er konnte, und eine solche Veranlassung glaubte er
gefunden zu haben, als er von den ungezwungenen Versammlungen bei
Conrart hörte. Die Idee einer Akademie, einer für die Sprache und Litte-
ratur maßgebenden Gesellschaft, mußte ihm sowie anderen schon öfters
gekommen sein. Waren doch in Italien in allen Städten solche Akade-
mien in Thätigkeit, und die „Humoristi" in Rom, die „Crusca" in Flo-
renz waren selbst in Frankreich sehr bekannt. Letztere hatte sich die
Aufgabe gestellt, die Reinheit der italienischen Sprache durch Ausarbei-
tung eines Wörterbuchs, das als Autorität gelten könne, zu befördern.
Warum sollte man in Frankreich, wo man noch so sehr von Italien ab-
hing, diese Einrichtung nicht nachahmen? Entsprach sie nicht voll-
ständig der herrschenden Richtung? Hatte man nicht schon zur Zeit
Karls IX. etwas Ähnliches versucht?'') Wie Frankreich mit dem Haus
Österreich-Spanien um die Suprematie zu ringen begann, so galt es auch
auf dem Gebiet der Sprache einen nationalen Wettstreit, und die Grün-
dung der Akademie schien ein vortreffliches Mittel mehr, zum Sieg zu
gelangen.
Boisrobert, der mit Chapelain und dessen Freunden persönlich be-
kannt war, erhielt von Richelieu den Auftrag, seine Vorschläge zu über-
ij Es sind das die Verse, die überall, wo von Richelieus Mäcenatentum
die Rede ist, citiert werden. Sie stehen in dem von Colletet im Auftrag Eiche-
Heus verfaßten Prolog zu dem Lustspiel: „La Comedie des Tuileries", dessen
3. Akt von Corneille herrühren soll. Die Verse heißen:
A meme temps j'ai vu sur le bord d'un ruisseau
La cane s'humecter de la bourbe de l'eau,
D'une voix enrouee et d'un battement d'aile
Animer le canard qui languit aupres d'elle.
2) Tallemant des Reaux, Historiettes, II, S. 389.
3) S. Abschnitt I, S. 20.
167
bi'ingen. Dieselben zielten dahin, aus der intimen Vereinigung eine öffent-
liche Gesellschaft zu bilden (1634). Die zu solcher Ehre berufenen Männer
sahen die Sache sehr ernst an. Wenn sie gleich vor dem Unbekannten,
das ihnen entgegentrat, zurückscheuten, so schien es doch nicht geraten,
den Kardinal durch Widerspruch zu reizen; und so erklärten sie sich
denn, hauptsächlich durch Chapelain überredet, in einem Schreiben an
Richelieu bereit, auf seinen Vorschlag einzugehen, und ersuchten ihn,
das Protektorat der neuen Gesellschaft zu übernehmen.^) Diese zu be-
gründen, lud man noch einige andere Männer zur Teilnahme ein, unter
ihnen Boisrobert. sowie den Dichter Desmarets, ebenfalls einen Günst-
ling des Kardinals. Faret übernahm es, in längerer Abhandlung die Auf-
gabe und das Ziel der neuen Gesellschaft, die sich „Französische Aka-
demie" nannte, zu entwickeln. In dieser Schrift hieß es, der Kardinal
habe die Absicht, die französische Sprache aus der Reihe der barbari-
schen Sprachen zu erheben. Von solchem Gedanken geleitet, habe er die
Veieinigung mehrerer Männer gewünscht, welche ihn in seinen Plänen
unterstützen könnten. W^ie einst die lateinische Sprache auf die griechische
gefolgt sei, so könne jetzt die französische Sprache das Lateinische er-
setzen, da sie schon vollkommener erscheine als die anderen lebenden
Sprachen. Es gelte nur. fortwährend noch größere Sorgfalt auf sie zu
verwenden, und die Aufgabe der Akademie werde es sein, die Sprache
zu reinigen. Im Munde des Volkes, der Gerichtsbeamten, der Hofleute,
der Prediger sei dieselbe entstellt worden; es gelte nun, die Anwendung
der einzelnen Wörter zu regeln. Nur wenige der allgemein gebrauchten
Ausdrücke seien ganz zu verbannen, vorausgesetzt, daß man sie ihrem
Charakter entsprechend in der Redegattung anwende, für die sie passend
seien, nicht etwa die Ausdrücke des erhabenen Stils in niedriger Rede
und umgekehrt. Eine weitere Aufgabe der Akademie werde es sein, die
Arbeiten der Mitglieder zu prüfen und zu verbessern.
Auf Chapelains Anregung wurde, um das ins Auge gefaßte Ziel
zu erreichen, die Ausarbeitung eines Wörterbuchs, einer Grammatik,
einer Rhetorik und einer Poetik beschlossen.
Conrart entwarf die Statuten, welche sich die Akademie nach ein-
geliender Beratung selbständig gab. Danach war die Anzahl der Mit-
glieder auf 40 festgesetzt, und bestimmt, daß sie durch freie Wahl
kooptiert werden sollten. Doch war dem Protektor das Recht des Veto
dabei vorbehalten. Ein zeitweise neu zu wählender Direktor und ein
Kanzler sollten an der Spitze der Akademie stehen, neben ihnen ein
auf Lebenszeit gewählter Sekretär die laufenden Geschäfte besorgen.
Allwöchentlich sollte eine Sitzung abgehalten werden, in welcher jedesmal
ein Mitglied, der Reihe nach, einen Vortrag zu halten habe, und darauf
die Prüfung der vorgelegten Arbeiten oder die Weiterführung der oben
genannten großen Werke vorzunehmen sei. Der Regel nach sollten nur
die Werke der Mitglieder einer Prüfung von Seiten der Akademie unter-
zogen werden. Wenn sie in die Lage käme, auch einmal ein fremdes
') Brief Serizays vom 22. März 1634, im Namen der Akademie.
168
Werk zu prüfen, solle sie nur ihre Meinuug aussprechen, ohne dabei
Tadel oder Lob zu spenden ; eine allerdings schwierige Aufgabe. Zur
Aufnahme, wie zur Ausschließung eines Mitgliedes müßten wenigstens
20 Akademiker in der Sitzung gegenwärtig sein, und die Ausschließung
zum mindesten mit einer Majorität von vier Stimmen verfügt werden.
Zur Würde eines Direktors wurde in der ersten Wahl Jacques
de Serizay erhoben, und zum ständigen Sekretär Conrart ernannt. Die
Sitzungen fanden anfangs jeden Montag Xachmittag statt, später wechselte
man den Tag, kam auch wol öfters in der Woche zusammen, wenn sich
gerade ein besonderer Eifer für das Wöiterbuch zeigte. Eichel ieu hatte
die Absicht, für die Gesellschaft ein besonderes Gebäude zu errichten,
und die Akademie versammelte sich voiläufig bei Conrart, später bei
anderen ihrer Mitglieder. Richelieu starb indessen, ohne seinen Plan
auszuführen. An seiner Statt wählte die Akademie den Kanzler Seguier
zum Protektor, und dieser bot ihr ein ständiges Sitzungslokal in seinem
eigenen Palais an. Dort blieb sie, bis Ludwig XIV. ihr im Louvie
eine Stätte einräumte. Ludwig war es auch, der den Mitgliedern ein
bestimmtes Gehalt anwies, während sie bis dahin nur Sitzungsgelder
erhalten hatten.-^) Das Patent, womit König Ludwig XIIL der Aka-
demie einen öiJentlichen Charakter zuerkannte, datiert vom 29. Januar
1035. Darin waren den Mitgliedern verschiedene Vorrechte und wich-
tige Privilegien eingeräumt.') Um jedoch volle Giltiglceit zu erhalten,
mußte dieses Patent vom Pariser Parlament registriert, d. h. als den
Gesetzen entsprechend anerkannt und eingeschrieben sein. Doit aber
fand es unerwartet einen zähen Widerstand. Oifenbar war das Parlament
^) Die Statuten enthielten 50 Paragraphe. §. 1 besagte: „Personne ne
sera recu dans rAcadeniie qui ne seit agreable ä Mr. le Protecteur, et qui ne
seit de'bonues moeurs, de bonne reputation, de bon esprit et propre aux fone-
tions academiques"'. — §. "-^4: „La prineipale foaction de l'Aeademie sera de
travailler avec tout le sein et toute la diligence possible ä donner des regles
certaines ä notre langue et ä la rendre pure, eloquente et capable de traiter les
arts et les sciences". — §.44: „L'Aeademie ne jugera que des ouvrages de
ceux dont eile est composee; et si olle se trouve obligee par quelque consi-
deration d'en examiner d'autres, eile donnera seulement ses avis, saus en faire
aucune censure et sans en doimer aussi d'appropation". Die Nötigung, über
ein fremdes Werk zu urteilen, sollte bald genug an die Akademie herantreten.
Welch sonderbare Vorschläge übrigens bei der Abfassung der Statuten
gemacht wurden, ersieht man aus Pellisson. So meinte Gombauld, jedes Mitglied
sollte gehalten sein, alljährlich ein Gedicht zum Loh Gottes zu verfassen.
Mr. Sirmond, „homme d'ailleurs d'un jugement fort solid«-, wie Pellison sagt,
schlug vor, die Mitglieder sollten schwören, die von der Akademie gebilligten
Ausdrücke auch selbst zu gebrauchen, so daß jeder, der sich nicht an die Vor-
schriften der Gesellschaft halte, nicht bloß einen Sprachfehler, sondern sogar
eine Sünde begehe.
2) Sie erhielten das Piecht des „Committimus", d. h. das Recht, alle Pro-
zesse vor besonderen Gerichtshöfen in Paris durchzuführen. Das Recht des
„Committimus du graud sceau" teilten sie mit den königlichpn Prinzen, den
Herzogen und Pairs, den Kronämtern und den hohen Würdenträgern des Staats.
Vgl. Cheruel, Dictionnaire des Institutions, Artikel: „Committimus"'. — Die
Mitglieder der Akademie waren ferner „exempts de toutes tutelies et curatelles,
et de tous guets et gardes*.
169
über Eichelieus Absichten nicht klar und fürchtete die Konsequenzen.
Es war dem mächtigen Minister ohnehin gram und wollte ihm nicht
die Hand zur Verstärkung seines Einflusses bieten. Auch die Universität
sah nicht ohne Besorgnis auf die jüngste Schöpfung des Kardinals.
Zahlreiche Stimmen, selbst Unbeteiligter, erhoben sich gegen die neue
Gesellschaft, tadelten deren Gründung als zum wenigsten unnütz oder
verhöhnten sie mit scharfem Spott. So sahen sich die Freunde, wie sie
es vorausgesehen, aus ihrer Stille auf den lauten Markt, in das Getriebe
der arbeitenden Parteien gerissen. Erst nach mehr als zweijährigem
Widerstreben beugte sich das Parlament vor dem Willen des Königs und
trug das Patent in seine Bücher ein.
Wie die Zeitgenossen Eichelieus. so fragen auch wir uns alsbald
na_ch dem Einfluß einer solchen Akademie auf die Sprache und die Litte-
ratur des Volkes. Während man damals ihrer zukünftigen Thätigkeit
nur mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegensehen konnte, sollte
man heute zu einer festen Ansicht über sie gelangt sein, da sie
seit zwei und einem halben Jahrhundert besteht und ihre Thätigkeit
eigentlich nie unterbrochen hat. Denn selbst während der Revolution
wurde sie zwar aufgehoben, aber doch an ihrer Stelle eine Körperschaft
eingesetzt, welche eine ähnliche Aufgabe hatte. Und doch hat man sich
bis zum heutigen Tag im Urteil über die Akademie nicht einigen können.
Von Anbeginn an war sie der Gegenstand heftiger Angriffe und das
geheime Ziel jedes ehrgeizigen Schriftstellers. Sie ward ebenso heftig
geschmäht wie begeistert gepriesen.
Ihre Gegner werfen ihr vor, daß sie die französische Sprache in
eine Bahn gedrängt habe, welche jede weitere Entwicklung hemmen und
zu förmlicher Erstarrung habe führen müssen. Nicht minder verderblich
sei ihr Einfluß auf die Litteratur gewesen, und bei dieser Behauptung
wird auf das Gutachten der Akademie über den „Cid" hingewiesen. Sie
habe den Geist der Dichter in Fesseln gelegt, und trage einen Haupt-
teil der Schuld an dem leeren Formalismus, dem die französische Litte-
ratur am Ende des 17. Jahrhunderts verfallen sei. Sie habe in ihrem
höfischen Sinn stets den Mächtigen gehuldigt und Sorge getragen, immer
einige Vertreter der hohen Aristokratie in ihrer Gesellschaft zu besitzen.
Neben diesen aber habe sie recht viele Nullen berufen, während die
begabtesten Männer, die Zierden des Landes, neidisch von ihr fern-
gehalten worden seien. Allerdings waren weder Descartes noch Pascal,
weder La Rochefoucauld noch Möllere, weder Regnard noch Le Sage,
weder Jean Jacques Rousseau noch Diderot Mitglieder der Akademie.
Nicht minder heftige Anklagen mußte sich die Akademie in unserer Zeit
gefallen lassen, weil sie Dichter, wie Beranger, Honore de Balzac
u. a. m. von ihrem Kreise fernhielt,^) und es ist gewiß, daß sie sich
ai'ge Mißgriffe zu Schulden kommen ließ, ja sich oft rocht engherzig
zeigte.
1) Siehe u. a. Arsene Houssaye, Histoire du 4ln'e fauteuil de l'Academi
fiancaise. lO^ic ed. Paris 1877, Dentu.
170
Die Lübredner preisen dagegen die Akademie als den Mittelpunkt,
des litterarischen Lebens in Frankreich, als die Gesetzgeberin auf dem
Gebiet der Sprache, und behaupten, ihrem Geschmack und ihrem Takt
sei es wesentlich zuzuschreiben, daß die französische Sprache sich zu
der Feinheit und Klarheit erhoben habe, die man an ihr rühmt. Durch
ihre Existenz aliein. dadurch, daß sie als der schönste Lohn eines
gewissenhaften schriftstellerischen Wirkens gelte, sichere die Akademie
die Erhaltung der guten Traditionen, die Eeinheit und klassische Schön-
heit der Sprache. So wird sie von dieser Seite als eine der wichtigsten
Schöpfungen des 17. Jahrhunderts angesehen, und erst neuerdings hat
einer der hervorragendsten Gelehrten in Deutschland die Errichtung
einer ähnlichen „deutschen Akademie" angeregt.^)
Unseres Erachtens verdient die französische Akademie weder solchen
Haß noch solche Ehre.
Man mag die Entwicklung des französischen Geistes, wie er sich
in der Sprache und Litteratur offenbart, bewundern oder bedauern, man
wird nicht bestreiten können, daß die<e Richtung schon lange vor der
Gründung der Akademie ganz entschieden eingeschlagen war. Wir glauben
durch die Geschichte der ersten drei Decennien des 17. Jahrhunderts
den Beweis erbracht zu haben, wie die Xation selbst, nicht einzelne
nur, in diesem Sinn vordrängte. Den Anstoß dazu hat nicht die
Akademie gegeben, ihre Stiftung ist vielmehr umgekehrt ein Symptom
der gewaltigen Strömung, sie ist die Frucht dieses Strebens nach Kegel-
mäßigkeit und Centralisation. Die Vierzig, welche berufen wurden, in
der Akademie ihren Sitz einzunehmen, haben nie die pedantische Strenge
Malherbes in der Handhabung der Sprache beobachtet.
Ebensowenig begründet ist der Vorwurf, daß die Akademie schä-
digend auf den Geist der Dichter eingewirkt habe. In dem Streit um
den „Cid" hat sie allerdings nicht gewagt, ihre Herzensmeinung dem
Kardinal gegenüber offen auszusprechen. Aber sie hat sich seitdem nie
wieder direkt in die litterarischen Kämpfe gemischt. Alle späteren Streit-
fälle wurden außerhalb ihrer Schranken ausgefochten, wie z. B. die
Rivalität zwischen Racine und Pradon. die sehr an Corneilles Fehde mit
Scudery erinnert. Die Akademie zog die Klagen über Boileaus satirische
Angriffe nicht vor ihr Forum, und maßte sich ebensowenig ein Schieds-
richteramt an in dem Streit, der gesen das Ende des 17. Jahrhunderts
die Schriftsteller in zwei feindliche Parteien schied, weil die einen den
Völkern des Altertums die Palme zuerkannten, die anderen den Fort-
schritt der Neuzeit auf allen Gebieten, auch der Kunst und der Litte-
ratur behaupteten. Ebenso ging es im vorigen Jahrhundert mit dem
Shakespeare-Kultus, dem sich viele Franzosen eine Zeit lang hingaben,
und der von Voltaire heftig bekämpft wurde, während die Akademie
Shakespeare-Freunde und Shakespeare-Gegner in ihre Reihen aufnahm,
wenn sie nur schön französisch schrieben. Kurz, nirgends zeigt sich
^) Du Bois Eeymond, Über eine Akademie der deutschen Sprache.
Festrede. Berlin 1874, Dümmler.
171
das Bestreben der Akademie, den Geschmack in der Litteratur zu be-
herrschen, und wenn sie es auch gehabt hätte, würde die Geschichte
nur ihre Ohnmacht konstatieren müssen. Sah man doch noch in unserem
Jahrhundert die romantische Schule gegen die klassische Richtung, für
welche die Akademie eine ausgesprochene Neigung zeigte, Sturm laufen
und siegen. Und so verzeihe man ihr endlich den Fehler, den sie sich
Corneille gegenüber zu Schulden kommen ließ. Ihre Kritik allein hätte
nicht genügt, dem französischen Drama die größere Freiheit der Be-
wegung zu rauben, wenn es nicht andere festere Schranken in dem Sinn
der Nation gefunden hätte.
Der Vorwurf endlich, daß die Akademie sich zum gefügigen Werk-
zeug höfischer Laune hergegeben habe, wird ebenfalls durch die Geschichte
widerlegt. Einzeln genommen, haben die Mitglieder, Chapelain an der
Spitze, die Mächtigen des Staates gefeiert und sich Pensionen erworben.
Aber das thaten sie vor der Stiftung der Akademie so gut wie nachher.
Es wäre nicht nötig gewesen, eine solche Gesellschaft ins Leben zu
rufen, wenn man nur gefügige Lobredner hätte haben wollen. Als
Körperschaft hat die Akademie vielmehr immer nach einer gewissen
Selbständigkeit gestrebt. Freilich zeigte sich das am wenigsten unter
Ludwig XIV.. dem jede männliche Haltung verhaßt war; aber schon im
folgenden Jahrhundert gehört sie zur Opposition, nimmt Montesquieu
auf, trotz oder vielmehr wegen seiner „Persischen Briefe", die von An-
griffen gegen das Königtum und die Kirche wimmeln. Sie empfängt den
greisen Voltaire wie einen Triumphator, obgleich er im Bann der Re-
gierung steht ; sie ist der Aufklärung hold, wenn sie auch selbst nichts
zu ihrer Förderung tbut. Ebenso ist sie im 19. Jahrhundert fast immer
liberal angehaucht und findet eine gewisse Genugthuung darin, den je-
weilig herrschenden Gewalten eine ungefährliche Opposition zu machen.
Das ist kleinlich, wird man sagen, und mit Recht. Eine solche
Gesellschaft hat eine andere Aufgabe, als unschädliche politische Demon-
strationen zu machen. Doch ist es schwer, in einem Lande, wo so leicht
jede Äußerung des öffentlichen Lebens einen politischen Charakter an-
nimmt, den Schein der Politik zu vermeiden.
Immerhin halten uns diese Betrachtungen ab, dem scharfen Ver-
dammungsurteil über die französische Akademie zuzustimmen. Dieselben
Betrachtungen lehren uns aber auch, über die von anderen so hoch
gepriesenen Verdienste kühler zu reden. Wenn wir überhaupt nicht an
ihren nachhaltigen Einfluß auf die Litteratur glauben, so kann ebenso-
wenig von ihrem besonders schädlichen wie von ihrem eminent fördernden
Wirken die Rede sein. Verdienstlich allerdings erscheint ihre Sorgfalt
für die Reinheit und grammatische Klarheit der Sprache, wie sie sich
in der Ausarbeitung des Wörterbuchs zeigte. Aber diese Wertschätzung
teilt die Akademie mit allen Gebildeten der Nation, und vor der Ver-
öffentlichung ihrer großen Arbeit sowie nach derselben haben einzelne
Ähnliches, wenn nicht Besseres geleistet. Dasselbe gilt von der Ai'beit
auf dem grammatischen Gebiet. Zudem haben sprachliche Forschungen,
so wichtig sie auch sein mögen, zur Förderung einer nationalen Litte-
172
ratur, zur Hebung des poetischen Sinns und des Geschmacks noch niemals
beigetragen. Die Dichtung ist nicht das Produkt gelehrter Studien, wol
aber können diese dem Genius des Dichters, der die Sprache beherrscht
und sie veredelt, aufmerksam folgen.^)
Die französische Akademie behält deshalb doch ihren Kuhm und
ihren Glanz. Sie ist trotz aller Einwendungen, die man gegen ihre
Wahlen erhebt, die Vereinigung der vorzüglichsten Dichter und Schrift-
steller des Landes. Sie ist zudem eine aristokratische Gesellschaft, und
die Teilnahme einiger Mitglieder des höchsten Adels entspricht ihrem
Charakter. In ihrem Kreise sollen die Männer Platz finden, welche durch
ihre Arbeit, ihren Geschmack, ihre Kunst für die Schönheit der franzö-
sischen Sprache ein glänzendes Zeugnis abgelegt haben, und die vor-
nehme französische Gesellschaft hat durch ihre rege Teilnahme an der
Litteratur und ihren ausgeprägten Kunstsinn nicht wenig zu ihrem
formalen Aufschwung beigetragen. Insofern kann man die Akademie die
Hüterin der Sprache nennen. Ein Schriftsteller, und sei er noch so
genial, gehört also genau genommen nicht in die Akademie, sobald er
ohne Eücksicht auf die strenge Schönheit der Sprache schreibt. In die
Akademie berufen zu werden, und zwar durch die freie Wahl der besten
Eichter, ist und bleibt darum mit Recht die größte Auszeichnung, die
einem französischen Schriftsteller erwiesen werden kann, und somit die
Hoffnung darauf ein Sporn mehr zur sorgfältigen Behandlung der Sprache.^)
Dauernden und wahrhaften Ruhm kann einem Dichter freilich allein die
Liebe und Bewunderung der Nation verleihen.
In keinem anderen Lande, weder in England, noch in Deutschland,
noch in Italien könnte eine Akademie sich annähernd eine ähnliche
Stellung erringen. Es gehört dazu die durchgreifende Centralisation des
1) Das Wörterbuch, eine höch.st wertvolle Arbeit, erschien erst, als die
französische Sprache die klassische Ausbildung erlangt hatte. Es erschien aller-
dings unter der Ägide der Akademie, ist aber doch immer nur das Werk ein-
zelner. So übertrug Richelieu die Leitung der Arbeiten, deren Plan von Cha-
pelain entworfen war, dem bekannten Sprachgelehrten Claude Favre de Vaugelas
aus Chambery in Savoyen (1585 — 1650). Siehe Pellisson I., 1)7—108. Zur Zeit,
da Pellisson sein Werk über die Akademie schrieb, war das Wörterbuch bis
zum Buchstaben J gelangt. Die erste Ausgabe erschien erst 1694. Die beiden
folgenden Ausgaben von 1718 und 1740 waren fast nur ein Abdruck. Erst die-
jenige vom Jahr 1762 brachte Veränderungen und Zusätze, da sich die Sprache
weiter entwickelt hatte. Die späteren Ausgaben stammen aus den Jahren 1798
und 1835. Eine siebente Ausgabe mit bedeutenden Veränderungen erschien 1878.
-) K. Hillebrand sagt in seinem Buch: .Frankreich und die Franzosen",
2. Aufl., Berlin 1874, Oppenheim, S. 92 (Abschnitt über das Unterrichtswesen):
,. Selbst die vielgeschmähte Akademie vollzieht mit der außerordentlichen Fein-
sinnigkeit ihr heikles Amt einer Bewahrerin des traditionellen französischen
Geschmacks in Schrift und Rede; sie war nur ihrer Pflicht getreu, wenn sie
einen Gelehrten im deutschen Stil, wie Littre, ausschloß, einem grand seigneur
im Stil des grand siecle, wie dem letzten Herzog von Broglie, einen Sessel bot".
Seitdem ist Littre allerdings in die Akademie berufen worden, aber die Be-
merkung Hillebrands bleibt deshalb doch richtig. Man hat Littre später haupt-
sächlich wegen seiner Verdienste, die er sich durch sein Wörterbuch um die
französische Sprache erworben hat, in die Akademie berufen.
173
Landes, der Charakter des Volkes, und vor allem die Freude, die es an
der Schönheit und Klarheit seiner Sprache von jeher empfindet. Eine In-
stitution, die sich seit dritthalb hundert Jahren des Beifalls der Besten
im Lande erfreut, kann nicht wertlos sein, und das Verdienst dieser
Schöpfung bleibt somit dem Kardinal ßichelieu.')
1) Man vergleiche außer Pellisson, Histoire de TAcademie frangaise,
fortgesetzt von dem Abbe d'Olivet (neu herausgegeben, mit Zusätzen und An-
merkungen von Ch. Livet, 2 Bde. Paris 1858, Didier k Cie.) auch noch den
Eecueil de harangues prononcees par M. M. de l'Academie fran<;aise depuis
1640—1782 (Paris 1714—1787, 12 Bde.). — P. Mesnard, Histoire de l'Academie
fran^aise. Paris 1857, Charpentier. — W. Königs Aufsatz über die Akademie
iu dessen Buch: Zur französischen Litteraturgeschichte. Studien und Skizzen.
Halle 1877.
X.
Die dramatisch« Litteratur.
Beffrüuduuff einer Kiinstbühuo. Italionisclie und spanische
Einflüsse.
Wir haben in den voi-bergelieaden Abschnitten versucht, eine Dar-
stellung der litterarischen Entwicklung in Frankreich während der ersten
Decennien des 17. Jahrhunderts zu geben. Wir haben gezeigt, wie im
Gegensatz zu den Bestrebungen einer früheren Zeit eine Reformbewegung
begann, welche für die Richtung der französischen Litteratur maßgebend
werden sollte , und haben gesehen , wie sich diese Reformen fast aus-
schließlich auf das Äußere, auf die Sprache bezogen, während das Ver-
ständnis für die wahrhafte Poesie immer mehr entschwand.
Das Drama, das seit dem Beginn des Jahrhunderts mit erneutem
Eifer gepflegt wurde, und das aus den einfachen Anfängen des Volks-
schauspiels und der gelehrten Schuldichtungen sich allmählich zu einer
Kunstdichtung aufzuschwingen strebte, schien sich eine Zeit lang den
anderweitig herrschenden Einflössen entziehen und seine eigene Bahn
gehen zu wollen. Allerdings fehlte auch ihm jedes leitende Princip ; aber
während auf allen anderen Gebieten der engherzige höfische Geist die
Herrschaft gewann, blieb die Bühne von diesem Einfluß längere Zeit
befreit.
Die Mysterien und Mirakelspiele des Mittelalters waren verschwun-
den, die satirischen und von Humor überströmenden Stücke der „Bazo-
chiens" waren verboten, und die der ,.Enfants sans souci" hatten sich
überlebt. Die Renaissance hatte eine tiefgreifende Umwandlung in dem
Geschmack und in der Denkweise der Völker im Gefolge gehabt. Die
genauere Kenntnis der alten Welt und ihrer schönheitstrahlenden Werke
mußte zur Vergleichung und zur Xachahmung auffordern. In Italien be-
gann man schon früh die alten Tragödien, besonders die des Seneca,
daneben die Lustspiele des Plautus und Terenz in der Ursprache auf-
zuführen, bald auch zu übersetzen und nachzubilden. Nur langsam drang
diese Sitte nach Frankreich vor. Populär konnte diese Dramendichtung
nicht werden; dem großen Publikum war sie unverständlich, und die
Aufführung dieser mehr oder weniger ängstlich den antiken Vorbildern
sich anschließenden Werke blieb auf Hoffeste oder auf Schulen und Uni-
175
versitäten beschränkt. Die dramatische Poesie gewinnt erst wirkliches
Leben, wenn sie aus diesem Kreise heraustritt und zum Volk reden kann.
Allmählich bildeten sich in Frankreich kleine Schauspielerbanden, die in
der Provinz umherzogen, da sie von der Hauptstadt ausgeschlossen waren.
In Paris hatte die ,. Bruderschaft der Passion'' (la confrerie de la Passion)
das Privileg der öffentlichen Schauspiele, und was diese boten, konnte
freilich keinen Anspruch auf künstlerische Bedeutung machen. Waren es
doch nur ehrsame Bürger und Handwerker, die in diesen theatralischen
Darstellungen auftraten.^)
Der Anstoß zum Fortschritt sollte auch hier von Italien kommen.
Dort, sowie in Spanien, hatte sich bereits aus der schulgemäßen Nach-
ahmung des antiken Dramas ein neues volkstümliches Theater entwickelt.
An den glänzenden Fürstenhöfen Italiens erhoben sich bald eigene, aus
Stein erbaute Schauspielsäle, und kein großes Fest konnte ohne scenische
Spiele gedacht werden. Die Pracht der Ausstattung, der Reiz der Musik
und des Gesangs, der Zauber pantomimischer Darstellungen und an-
mutiger Tänze, das alles verband sich mit der Kunst des Dichters und
des Schauspielers, um die Zuschauer zu fesseln und für immer diesen
heiteren Spielen zu gewinnen.-)
Es konnte nicht fehlen, daß die Vorliebe für künstlerisch geord-
nete theatralische Aufführaugen mit der Zeit auch nach Frankreich vor-
drang. Hatte das französische Volk doch von jeher große Begabung für
die dramatische Darstellung gezeigt, wie sollte es den großen Fortschritt,
den Italien in dieser Kunst aufwies, nicht willig anerkennen und bei
sich Ähnliches versuchen?
Dieser Zug des italienischen Theaters nach Frankreich , der Ein-
fluß, den die italienischen und spanischen Dramen auf die französische
Bühne ausübten, muß uns nun zunächst beschäftigen. Wir werden sehen,
wie sich, unbeirrt von der geistlosen Künstelei, welche die anderen Ge-
biete der Litteratur beherrschte, das Theater populär zu gestalten be-
gann, dann aber durch fremde Einflüsse in seiner nationalen Entwick-
lung gehemmt wurde. Nur so lang hielt sich das französische Drama
von der Unnatur frei, als es sich selbst überlassen und von der feinen
Gesellschaft unbeachtet blieb. Bald aber wurde das Theater auch dort
beliebt, und dieselbe falsche Manier, welche sich schon in der Lyrik gel-
tend gemacht hatte, der Marinismus, bemächtigte sich nun auch des
1) Über die frühere Geschichte des französischen Theaters 's. Ad. Ebert,
Entwicklungsgeschichte der französischen Tragödie. Gotha 1856, J. A. Perthes.
-) Man sehe z. B. die Beschreibung der glänzenden Feste, welche schon
im Anfang des 16. Jahrhunderts bei Gelegenheit der Vermählung Lucrezia Bor-
gias mit dem Erbprinzen Alfons von Este in Ferrara gefeiert wurden (1501),
bei Gregorovius : „Lucrezia Borgia. Nach Urkunden und Korrespondenzen ihrer
eigenen Zeit". '2 Bde. 3. Auflage. Stuttgart 1875, Cotta. S. 259 u. ff. Herzog
Ercole von Ferrara ließ damals während der Festwoche fünf plautinisehe Lust-
spiele aufführen. Die Pausen wurden mit musikalischen Vorträgen und Moresken
ausgefüllt. „Die Moreska war, was wir heute Ballett nennen, die getanzte Panto-
mime", sagt Gregorovius. Sie diente oft zu allegorischen Darstellungen, in
welchen den hohen Familien und ihren Gästen crehuldifft wurde.
176
drainatiscben Gebiets und verdrängte mehr und mehr die natürliche Rich-
tung, aus der sich vielleicht ein großes volkstümliches Drama hätte ent-
wickeln können. War in diesem Widerstreit eine Versöhnung möglich,
so war das französische Drama gerettet; siegte die einseitige, affektierte
Richtung, so war für lange Zeit jeder wirkliche Aufschwung unmöglich.
Pierre Corneille sollte die Entscheidung herbeiführen.
In Italien war im 16. Jahrhundert die Stegreifkomödie, die „Com-
media dell'Arte'', vorzugsweise beliebt, und sie fand auch bald ihren Weg
über die Alpen. Als Katharina von Medici (1533) dem Dauphin von
Fiankreich, späterem König Heinrich IL, ihre Hand reichte und auf der
Reise nach Paris die Stadt Lyon berührte, veranstaltete die dortige Flo-
rentiner Kolonie ilir zu Ehren eine italienische Theatervorstellung, die
erste ihrer Art in Frankreich. Aber bald sollte sich das italienische
Theater im Nachbarland ganz einbürgern, wie denn überhaupt seit Katha-
i'inas Heirat der italienische Geschmack unter den Franzosen über-
raschende Fortschritte machte und besonders der Hof ganz italienischen
Zuschnitt hatte. In schwüler Zeit, als ganz Frankreich in Gährung war
und der furchtbarste aller Kriege, der Religionskrieg zwischen den
Söhnen desselben Landes auszubrechen drohte, entbot König Heinrich III.
eine Versammlung der Reichsstände nach Blois {IblQ), und um die-
selben zu unterhalten und dadurch vielleicht auch williger zu stimmen,
lud er eine der berühmtesten italienischen Schauspielergesellschaften, die
„Comici gelosi", an seinen Hof.^) Sie waren hauptsächlich Meister der
„Commedia dell' Arte", obwol sie auch Stücke der .,Commedia erudita",
d. i. der geschriebenen dramatischen Dichtung, spielten. Der königlichen
Einladung folgend , kamen sie unter der Leitung ihres Direktors Fla-
minio Scala, genannt Flavio, über die Alpen. Ihr Zug war groß und
wegen des vielen Gepäcks, das sie mit sich führten, kam ihre Karawan«
nur langsam vorwäi'ts. Zum Unglück fielen sie unterwegs in die Gewalt
eines Streifkorps von Hugenotten, die sie so lange in Gewahrsam hielten,
bis der König sie auslöste.") So kamen sie allerdings nach Blois zu
spät, aber Heinrich nahm sie mit sich nach Paris und räumte
ihnen dort den Saal des Palais ßourbon ein.^) Sie forderten als
Eintrittspreis vier bis fünf Sous, also nicht mehr als die französischen
Schauspieler, und doch übten ihre Vorstellungen einen ganz andern
Reiz auf das Pariser Publikum aus und erfreuten sich bald des größten
Beifalls. Bis dahin hatte man nur Dilettanten auf der Bühne gesehen,
und die Gelosi waren Künstler. In Frankreich wurden die Frauenrollen
^) Sie nannten sich Gelosi, d. h. „jaloiix de plaire".
2) Vergi. Moland, Meliere et la comedie italienne. 2me ed. Paris 1867,
Didier & Co. S. 38 tf.
3) Das Palais Bourbon hatte in der Nähe des Louvre gestanden und war
nach dem Abfall des Connetable von Bourbon, der zu Karl V. übertrat, im
Jahr 1527 fast ganz demoliert worden. Es blieb nur ein Teil mit einem großen
Saal stehen, der häufig zu Vorstellungen und Festlichkeiten benutzt wurde.
Auch Meliere spielte später mit seiner Truppe in der ersten Zeit nach seiner
Rückkehr aus der Provinz in diesem Saal.
177
noch von jungen Burschen gespielt, bei den Italienern betraten auch
Frauen die Bühne und blendeten die entzückten Zuschauer durch ihre
Schönheit, ihr Spiel, ihr anmutiges Wesen. Dabei glänzten die italieni-
schen Vorstellungen durch eine Eleganz und eine Pracht in der Aus-
stattung, dergleichen man in Frankreich noch nicht gesehen hatte. Für
die Vortrefflichkeit der Gelosi zeugt wol am besten der Zulauf des großen
Publikums. Diesem war die italienische Sprache, deren Kenntnis in den
oberen Gesellschaftskreisen bereits sehr verbreitet war, sicherlich fremd ;
trotzdem verstand es die Schauspieler, so beredt war deren Spiel, so
groß die Lebhaftigkeit und Deutlichkeit ihrer Bewegungen.
Freilich machten die Stücke der „Commedia dell' Arte" keinen
Anspruch auf höhere Ideen. Man hatte noch keine Ahnung von der
veredelnden Aufgabe der dramatischen Kunst. Die „Gelosi" spielten ihre
Stücke als ergötzliche Bilder aus dem gewöhnlichen Leben sehr gewöhn-
licher Menschenkinder. Was sie spielten, waren meistens Possen oder
mit possenhaften Scenen reichlich durchzogene Schauspiele, und diese
Stücke boten fast immer Variationen über ein und dasselbe Lied. Alles
drehte sich um Liebesintriguen, Entführungen oder Verwechslungen.
Man häufte Tollheit auf Tollheit und das heitere Spiel glitt wie ein
Zaoberbild vor den Augen der Zuschauer vorüber. Die Einrichtung der
Bühne war denn auch derart, daß sie das Intriguenspiel wesentlich er-
leichterte. Sie stellte gewöhnlich eine Straße mit zwei Arkadengängen
vor, wie sie in den Städten des Mittelalters üblich waren, oder sie zeigte
einen Platz, in den mehrere Straßen mündeten. So war die Gelegenheit
geboten, sich zu verstecken, zu lauschen, zu flüchten und nach Belieben
einander zu täuschen. Trotz ihrer scheinbaren Gleichförmigkeit boten die
Stücke der Commedia dell' Arte einen unerschöpflichen Wechsel, eine
Mannigfaltigkeit der Verwicklungen und eine Heiterkeit, daß niemand
mit ihnen wetteifern konnte. So unerschöpflich war ihr Eeichtum an
Einfällen, Intriguen und Verschlingungen, welche den Stücken immer
neuen Reiz verliehen, daß die Lustspiellitteratur der folgenden zwei Jahr-
hunderte immer wieder auf sie zurückgriff und sich bei ihr frische An-
regung holte.
Die Commedia dell' Arte war in Italien wahrhaft national. Sie
stellte den Schauspielern die Aufgabe, zu improvisieren, aus dem Stegreif
zu spielen, ohne ihnen einen geschriebenen oder gedruckten Text zum
Anhalt zu bieten. In ähnlicher Weise mögen schon die Atellanen der
alten Eömer gespielt worden sein. Durch die Wandlungen der Jahr-
hunderte, ja durch zwei Jahrtausende hindurch, hat sich das Volk in
Italien seine Spiele erhalten. Die Atellanen hatten in der stehenden
Rolle des Maccus ihren Spaßmacher, wie in dem Pappus den Charakter
des geizigen Alten. Die Rollen änderten mit der Zeit den Namen, aber
ihr Wesen blieb. In dem Arlequino, in Scapin und Pulcinella erkennen
wir den alten Maccus, in Pantalone den Pappus der Atellanen wieder.')
1) Die beutige italienische Posse hat noch immer ihre stehenden Cha-
raktere. Jede Gegend hat ihren besonderen Vertreter, Florenz z. B. den Sten-
Lotheißen, Gesch. d. franz. Lilteratur. jo
178
Die Stücke der Commedia delF Arte waren, wie schon bemerkt.
nicht geschrieben. Hinter der Bühne wurde eine Tafel aufgehängt, auf
welcher der Gang der Handlung und die Folge der Scenen mit kurzer
Inhaltsangabe aufgezeichnet waren. ^) Das war die einzige Richtschnur
der Schauspieler, die im übrigen volle Freiheit des Spiels hatten.
Standen sie einmal auf der Bühne, so waren sie sich selbst überlassen
und mußten der Eingebung des Augenblicks vertrauen. Wußte doch
keiner der Schauspieler, was der andere ihm auf seine Worte entgegnen
würde. So gehörte schneller Witz und Geistesgegenwart zu den Haupt-
erfordernissen eines Künstlers der Commedia dell' Arte. Die Schwierigkeit,
ein gutes Zusammenspiel zu erreichen, war groß. Daher der Name
Commedia dell" Arte, denn in der That, es gehörte viel Kunst dazu, sich
auf der Höhe zu erhalten. Gelang dies aber, so war das Spiel auch
umso natürlicher und besser. Der Schauspieler mußte seine Kollegen
genau kennen, mußte jede Intention der Mitspielenden verstehen, um
auf dieselbe eingehen zu können, jeden Witz schon von weitem kommen
sehen und ihn möglich machen. Mit einem Wort, es mußte die größte
Harmonie unter den Schauspielern herrschen, und man versteht, warum
sie ihre Kunst für höher erachteten, als die der „gelehrten" Ko-
mödie.^)
Ihre Aufgabe wurde allerdings dadurch erleichtert, daß die Com-
media deir Arte eine Reihe stehender Rollen hatte, deren jede in ihrem
Charakter völlig ausgeprägt und stets demselben Künstler zugewiesen
war. Ein jeder lebte sich ganz in seine Rolle ein, und übernahm außer
derselben höchstens noch die Darstellung einer Nebenfigur. Diese ste-
henden Charaktere bildeten eine ergötzliche Galerie der menschlichen
Schwächen , und ihre Zeichnung gewann noch dadurch an satirischer
Schärfe, daß die Hauptrollen ein Zerrbild des Charakters einzelner ita-
lienischer Städte boten. So sind sie auch aus diesem Gesichtspunkt lehr-
reich für die Kenntnis jener Zeit. Neben den Frauenrollen und den Lieb-
habern waren die Hauptpersonen, welche das komische Element vertraten,
der Doktor, Pantalone, der Capitano und die Diener.
Bologna, die weitberühmte Universität; hatte den Charakter des
gelehrten Pedanten, des Dottore. geschaffen. Es war die Zeit der philo-
sophischen und philologischen Haarspaltereien, und gerade von Bologna
erzählte sich die böse Welt manch heiteres Geschichtchen aus diesem
Kapitel. So wurde unter anderm berichtet, zwei Gelehrte daselbst hätten
terello, Turin den Gianduja, Mailand den Meneghino, Calabiieu den Giaugur-
golo u. s. w.
^) Es sind noch einige gedruckte Sammlungen solcher Scenarien vorhanden,
so die von Andreini, Venedig 1607; von Flaminio Scala (dem oben erwähnten
Direktor der Gelosi) 1611, und von Eiccoboni, dessen Buch 1753 von den
Brüdern Parfaict herausgegeben worden i^t Vergl. auch Molaud, S. 60 und 101.
-) Eduard Dovrient erinnert in seiner Geschichte der deutschen Schau-
spielkunst (I, S. 5) an eine ähnliche Anschauung der Inder. In der heilig.sten
Gattung des indischen Dramas, dem Dschatra, wurde nur improvisiert. Das Er-
habenste sollte nur infolge unmittelbarer Begeisterung dargestellt werden.
17^
sich über eine griechische Silbe lang herumgestritten, endlich um ihren
Bart gewettet, und der verlierende sei vor Kummer gestorben.^) Molieres
unsterbliche Pedanten, die Herren Trissotin und Thomas Diafoirus, sind
'/war aus dem Leben geschöpft, aber ihre Ahnen haben schon in der
Commedia dell' Aite gelebt.
Pantalone zeigte den habsüchtigen, eitlen, aber philiströsen Kauf-
mann aus Venedig. Schon bejahrt, aber doch noch auf der Jagd nach
galanten Abenteuern, wird er in den meisten Stücken trotz aller Schlauheit
geprellt und zieht schließlich den kürzeren. Aus der alten lateinischen
Posse herübergenommen, ging Pantalone in das französische Lustspiel
über und erschien bei Moliere als Argante, Geronte oder Jourdain.
Ein anderer Hauptcharakter der Commedia dell' Arte war der
l^oiioramist. Das Original findet sich schon völlig ausgebildet in dem
,.Miles gloriosus" des Plautus. Die Spanier verwandelten ihn zuerst auf
ihrer Bühne in einen Landsmann, einen Vetter Don Quixotes. um die
Prahlereien ihrer stolzen Hidalgos zu verhöhnen. Die noch nicht lange
liccndigten Kämpfe gegen die Mauren lieferten dem Renommisten den
hauptsächlichen Stoff zu seinen Prahlereien, wie schon sein Name „Capi-
tano Matamoros" (Maurentöter) andeutet. Nach Italien verpflanzt, behielt
er seine spanische Tracht, die ihn schon von weitem als Kriegsmann
kenntlich machte. Es versteckte sich wol auch ein Stückchen nationaler
Kiicbe in dieser Betonung des spanischen Charakters. Der Witz der
Unterdrückten verfolgte den stolzen Sieger. Italien stand damals zum
großen Teil unter spanischer Herrschaft, und hatte viel von den Soldaten-
haufen zu leiden. Der spanische Soldat galt im 16. Jahrhundert als
der beste der Welt, und umsomehr Veranlassung fand die Commedia
deir Arte, eine Karikatur desselben zu geben. Da kamen die Helden,
der Capitano Spaventa della Valle Infernale (zu deutsch etwa „Ritter
Schreck von Höllenthal "), die Capitani Cocodrillo, Fracassa, Rodomonte,
Rinoceronte, und wie sie alle hießen. Schon der Name sollte Schrecken
einflößen. Aber die Träger dieser furchtbaren Namen entpuppten sich
sehr bald als armselige Helden ; schwachmütig, erwiesen sie sich nur
da herzhaft, wo sie glaubten, ungestraft zu bleiben ; nur mit Schwachen
fingen sie Händel an, sobald sie Widerstand fanden, wußten sie tausend
Ausflüchte, um die Heldenkraft ihres Arms für diesmal nicht zu zeigen.
Ihre Hauptstärke bestand in den Aufschneidereien und prahlerischen
Reden. Der eine rühmt sich, den Gegner mit dem bloßen Blick seiner
Augen durchbohrt zu haben; der andere hat alle Fürsten des Orients
bezwungen; wieder ein anderer erglüht bei der Verfolgung einer See-
räuberflotte in solchem Zorn, daß der Hauch, der sich seiner Brust
«ntringt, einem Sturmwind gleich über die Flut hinbraust, die Segel der
feindlichen Schiffe schwellt und diese somit rettet.
1) Die Anekdote wird von dem gelehrten Philelphus, einem Griechen,
der in Florenz, Bologna und Mailand lehrte (1389—1480), und einem gewissen
Timotheus erzählt, welch letzterer unterlegen sei. Moland, S. 17.
12*
180
Der Capitan ging auch in das französische Theater über; noch
Corneille braucht ihn in seinem Lustspiel „L'IUusion comique". Aber
Meliere kennt ihn nicht mehr. Zu seiner Zeit hatte sich die Gesellschaft
soweit verfeinert, daß sich für bramarbasierende Lanzknechte kein Platz
mehr fand, und an Stelle des plumpen Kriegsmanns erscheint bei Me-
liere der geckenhafte, hohlköpfige Marquis.
Neben den genannten Personen spielten in der „Commedia dell'
Arte" noch die vertrauten Diener eine Hauptrolle. Bei ihnen war größere
Mannigfaltigkeit gestattet, und es gab eine ganze Reihenfolge von durch-
triebenen, ihren Herren ergebenen Dienern bis herab zu den dummen
und tölpelhaften oder betrügerischen Knechten. Man bezeichnete sie unter
dem allgemeinen Namen der Zanni (der Spaßmacher oder Clowns). Zu
ihnen gehörte Pulcinella, der aus Venedig, Arlequino, der aus Bergamo
stammte, sowie die anderen: Brighella, Scapin, Franca-Trippa. Es sind
die Sklaven der antiken Komödie, die sich nur wenig verändert haben;
auch in dem französischen Lustspiel werden wir ihnen begegnen. Sie
leben bei Moliere als Scapin oder Scaramouche, civilisieren und moder-
nisieren sich immer mehr, bis sie ihren letzten Triumph als Figaro
feiern.
Die Zanni hatten neben ihrer speciellen Rolle in jedem Stück auch
noch die Aufgabe, in schwierigen Momenten, wenn die anderen Schau-
spieler nicht mehr weiter wußten, helfend einzuspringen und durch ihre
Einfälle die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken, bis jene
sich wieder zurechtgefunden hatten. Ihre Spaße, die Lazzi, bildeten nicht
den wenigst beliebten Teil der Aufführungen.^)
Man versuche nun, sich ein Bild der Vorstellungen zu machen,
welche die „Gelosi" unter dem Schutz des Königs dem Pariser Publikum
boten. Man denke an die Pracht der Ausstattung, an das natürliche
Spiel der Schauspieler, die derbe, aber packende Komik der Zanni, vor
allem aber an den Zauber, den die Erscheinung der Künstlerinnen auf
der Bühne ausübte, und man wird begreifen, warum die italienische
Komödie sich solchen Beifalls in Paris erfreute.
Den Gelosi gegenüber gerieten die heimischen Schauspielergesell-
schaften ins Gedränge. Besonders gefährdet erschien die „Confrerie de
') Wie auf die Sklaven in der alten Komödie, regnete es auch auf die
Zanni Ohrfeigen und Prügel. In der Kunst des Fratzenschneidens waren sie
unübertroffen, scheint es. In einem Stück : „Arlequino der Hausdieb", begleitete
Arlequino das Spiel der anderen Personen auf der Bühne mit seinen panto-
mimischen Scherzen. Er stellte sich, als habe er Kirschen in seinem Hut, äße
sie und schleudere die Kerne seinem Kollegen Scapin ins Gesicht; oder er fange
Fliegen, reiße ihnen die Flügel aus und verzehre sie. Im „Don Juan", der vor
Moliere schon auf dem Repertoire der Commedia dell' Arte war, spielte Antonio
Vicentini, ein unter dem Namen Trivelin beliebter Komiker, den Diener Don
Juans. Jedesmal, wenn er die Statue des Gouverneurs einladen sollte, nahte er
sich ihr mit einem Glas "Wein und schlug einen Purzelbaum vor der Bild-
säule, ohne einen Tropfen zu verschütten. Derselbe Trivelin machte sich auch
von Zeit zu Zeit das Vergnügen, auf der Brüstung der Logen umherzuspazieren
und von einem Stock in den andern zu steigen. (Moland, S. 27 u. 191.)
181
la Passion'", so genannt, weil sie früher die Darstellung der Leidens-
geschichte Jesu als ihre Hauptaufgabe angesehen hatte. Eigentliche
Mysterien wurden freilich nicht mehr aufgeführt, aber die Passions-
bruderschaft hatte seit lange das Privilegium der öffentlichen Theater-
vorstellungen für Paris erworben. Sie hatte im Jahr 1548 auf dem Platz
des Hotel de Bourgogne ihr Theatergebäude errichtet, das in der Ge-
schichte des französischen Dramas eine so wichtige Eolle spielen sollte.^)
Gegenüber dem rohen Spiel der Handwerker, welche sich in den
Aufführungen der Bruderschaft zeigten, hatten die Italiener leichten Sieg.
Aber von dem Erfolg der Fremden geängstigt, wandte sich die Bruder-
schaft an das Parlament und bat um den Schutz ihres Privilegiums.
Das Parlament untersagte den Gelosi wirklich die Ausübung ihrer Kunst
in Paris. Diese aber beriefen sich auf eine besondere Erlaubnis des
Königs und spielten den ganzen Sommer hindurch. Im Herbst kehrten
sie nach Italien zui'ück, allein seitdem kamen öfters italienische Gesell-
schaften über die Alpen, bis der Bürgerkrieg, der immer wilder auf-
flammte, jeden Besuch der fremden Künstler unmöglich machte. Erst als
Heinrich IV. sich auf dem Thron befestigt und den Frieden dauernd
wieder hergestellt hatte, kehrte auch die Möglichkeit solcher Unterhal-
tungen zurück.
Zur Feier seiner Vermählung mit Maria von Medici im Jahr 1600
lud Heinrich auch die Gelosi zu einem Besuch nach Paris. An der Spitze
der Gesellschaft stand noch immer wie im Jahr 1576 Flaminio Scala,
ein Mann von Bildung und von adeliger Herkunft. Den „Capitan" spielte
Francesco Andreini aus Pistoja, der zugleich Schriftsteller war und zur
litterarischen Gesellschaft der Spensierati (der „Sorglosen") in Florenz
gehörte. Die Hauptstütze der Gesellschaft war Andreinis schöne Gattin
Isabella, die von ihren begeisterten Zeitgenossen als die größte Künst-
lerin gefeiert wurde. ^)
1) Das Hotel d'Artois oder de Bourgogne wurde im Jahr 1523 in drei-
zehn Losen verkauft. Ein Kautmann, Jean Rouvet, brachte sie fast alle an sich,
und verkaufte einen kleineu Teil davon als Bauplatz an die Coufrerie (1548).
Das Gebäude, das diese darauf errichtete und das die Ecke der Rue PVan(,-aise
und der Rue Mauconseil bildete, war sehr einfach. Noch in dem vorigen Jahr-
hundert sah man an ihm. die Abzeichen der Passion. Vergl. Corneille, edition
Martj-^-Laveaux, II I, oü. Über die Commedia dell' Arte siehe ferner das Werk
„Masques et bouffous" (Comedie italienne), texte et dessins par Maurice Sand.
Gravures par A. Manceau. Preface par George Sand. 2 vols. Paris 1860, Michel
Levy freres.
-) Wir haben schon oben die Sammlung von Seenarien erwähnt, welche
Andreini veröffentlichte. Sein Stück „Adam" soll Milton zu seinem „Verlorenen
Paradies" angeregt haben. — Isabella Audreini war 1562 zu Padua geboren
und seit ihrem 16. Jahr Mitglied der Gelosi. Sie war folghch nicht mehr jung,
als sie im Jahr 1600 nach Paris kam. Doch muß sie immer noch eine statt-
liche Erscheinung gewesen sein, nach der Denkmünze zu urteilen, die man nach
ihrem Tod ihr zu Ehren geprägt hat und die ihr Bildnis trägt. Isabellens
Privatleben und ihr Charakter wurden niemals von böser Nachrede angegriffen.
Italienische und französische Dichter verherrlichten die Künstlerin in begeisterten
Huldigungsgedichten. Auch als Dichterin war Isabella bekannt. Ihr Pastoral-
gedicht „Mirtilla" erschien zu Verona 1588, ihre Sonette, Canzonen und Madri-
182
Die Gelosi blieben diesmal ohne Unterbrechung bis zum Jahr 1604
in Paris und trugen indirekt viel zur raschen Entwicklung des franzö-
sischen Theaters bei. Schon waren es nicht mehr die Mitglieder der
Passionsbruderschaft, welche sich in der Schauspielkunst versuchten. Im
Jahr 1588 hatte die Bruderschaft vorgezogen, ihren Saal an herum-
ziehende Gesellschaften wirklicher Schauspieler von Fach zu vermieten.
Auch die Gelosi hatten das Theater in dem Hotel de Bourgogne für
einige Tage in der Woche zur Verfügung und spielten abwechselnd mit
der französischen Truppe. Im Jahr 1600 gestattete die Cenfrerie einer
zweiten Gesellschaft, eine Bühne in dem Hotel d'Argent im ..Marals",
dem vornehmsten Bezirk des damaligen Paris, zu eröffnen, wofür sie
sich ein Livre Tournois als Vergütung für jede Vorstellung bedang.-^)
Die Konkurrenz mit den Italienern war äußerst schwer, aber man
bemühte sich nach Kräften, von ihnen zu lernen. Das Repertoire der
französischen Bühne bildete sich nach dem der Fremden. Konnten sie
auch nicht daran denken, die Stegreifkomödie, die so echt italienischen
Charakter trug und bis zu der ihr erreichbaren Vollkommenheit aus-
gebildet war, nachzuahmen, so hielten sie sich umsomehr an die Stücke
der andern Gattung, an die Commedia erudita, denn die Gelosi vertraten
auch diese, und brachten auch geschriebene Dramen, Heldenstücke und
Lustspiele zur Aufführung.^) Die dramatischen Dichter der früheren Zeit,
wie z. B. der talentvolle Robert Garnier, waren mit ihren Stücken noch
meist auf Hoffestlichkeiten und theatralische Aufführungen in den Schulen
beschränkt gewesen. Ihren Nachfolgern öffneten sich nun auch die Pariser
Bühnen, und damit war ein wichtiger Schritt auf der Bahn der Ent-
wicklung gethan.
Robert Garnier selbst gehört noch ganz in das 16. Jahrhundert.^)
Von den Dichtern aber, deren Thätigkeit auch in die folgende Epoche
herüberreicht, ist hier nur Pierre de Larivey zu erwähnen, von dem
neun Lustspiele erhalten sind. Die sechs ersten erschienen bereits 1579,
und versuchten schon damals eine Vermittelung zwischen dem französi-
schen und italienischen Theater herzustellen. Drei weitere erschienen
erst 1611, während andere drei, die er noch geschrieben hatte, gar
nicht veröffentlicht worden sind.
Man hat sich lange vergeblich bemüht, über Lariveys Persönlichkeit
etwas Genaueres zu erfahren.*) Er bezeichnet sich selbst in seinen
gale zu Mailand 1601 („Canzoniere"). Die Akademie der Intenti zu Pavia nahm
sie als Mitglied auf, und in Rom gab der Kardinal Aldobrandini ihr zu Ehren
ein Fest, bei dem ihr lorbeerbekränztes Porträt zwischen den Bilderu Petrarcas
und Tassos angebracht war. Sie starb auf der Heimreise von Paris im Jahr 1604
zu Lyon im Wochenbett.
1) Vergl. Moland, S. 58. Guizot, Corneille et son temps, S. 130.
2) Dieselbe Erscheinung zeigt sich in England. Vergl. Devrient, Geschichte
der deutsehen Schauspielkunst, I, 115, 148 u. ff. Heißt es doch auch von den
Schauspielern in „Hamlef, daß sie „für das Aufgeschriebene und für den Steg-
reif" ihresgleichen nicht haben. (II, 2.)
3) Eine eingehende Würdigung Garniers siehe bei Ebert, S. 142 ff.
•*) Eine Hauptquelle für die Geschichte des französischen Theaters ist
die „Histoire du theätre fran^ois par les freres Parfaict", welche 1735—1749
183
Werken als Champenois, als einen Bürger der Champagne. Erst Sainte-
Beiive, der die Chroniken jenes Landes durchforschte, gelang es, einen
festen Anhaltspunkt für weitere Untersuchungen zu finden. Ein Zeit-
genosse Lariveys, Grosley, der Verfasser einer Geschichte der Stadt
Troyes, hat ein lange ungedrucktes Werk über die berühmten Männer
seines engeren Vaterlands, der Chanapagne, hinterlassen.') In diesem
letzteren führt er einen Pierre de l'Arrivey als Domherrn von Saint-
Etienne in Troyes an, nnd setzt hinzu, derselbe sei von Geburt ein
Italiener, und stamme aus der bekannten Buchdruckerfamilie der Giunti,
die ihre Offizinen zu Florenz und Venedig hatte. Diese Angabe macht
es wahrscheinlich, daß der Name Larivey einfach eine Übersetzung des
italienischen Namens war.^) Der Dichter wollte als Franzose gelten,
weshalb er sich auch immer so nachdrücklich auf seinen Werken als
einen Angehörigen der Champagne bezeichnete.
So war er allerdings trefflich geeignet, die italienische Komödie
in Frankreich einzubürgern, wie er auch außerdem mehrere italienische
Werke ins französische übertrug.^) Ums Jahr 1540 geboren, starb er
bald, nachdem er die oben erwähnten drei Lustspiele im Jahr 1611
veröffentlicht hatte. Eine lange Frist liegt zwischen seinen ersten und
seinen letzten Stücken. In einem Vorwort zu diesen letzten sagt er,
daß er sie unter seinen Papieren gefunden habe, und es läßt sich an-
nehmen, daß der größere Eifer, der sich mit dem Beginn des Jahr-
hunderts in dem französischen Theater zeigte, auch ihn bewogen hat,
auf seine früheren Arbeiten zurückzukommen. Auf dem Titel seiner Lust-
spiele, sowie in der Vorrede zu der ersten Sammlung sagt Larivey aus-
drücklich, daß er seine Stücke den Lustspielen der alten Griechen und
Römer, sowie der modernen Italiener nachgebildet habe, und führt unter
den Neueren sogar seine Muster an. Er glaubt sich sodann verteidigen
zu müssen, daß er in seinen Stücken Prosa statt der Verse angewandt
habe. Prosa sei in einem Lustspiel natürlicher, und auch die italienischen
Lustspieldichter, besonders Kardinal Bibiena, Piccolomini und Pietro
Aretino, hätten sich diese Freiheit erlaubt.
in 15 Bänden bei Le Mercier in Paris erschien. Der Name der Verfasser ist
auf dem Titelblatt nicht angegeben. Die Brüder Parfaict haben auch eine
„Histoire de l'ancien theätre Italien" (1753) und ein „Dictionnaire des Theätres
de Paris" (Paris 1767, chez Eozet) veröffentlicht. Aber auch sie wissen nicht
viel von Lariveys Verhältnissen zu melden. — Siehe ferner : Sainte-Beuve,
Histoire du theätre fran^ais au XVI siecle, S. 228 ff., und die- Notice in der
Ausgabe von Lariveys Lustspielen in der Bibliotheque Elzevirienne (Paris 1855,
bei Jannet).
1) Grosley, Memoires sur les Troyens celebres, gedruckt 1812 in seinen
„Oeuvres inedites", t. I, S. 19.
-) Giunto = Joint, arrive.
3) So übersetzte er 1577 „La Filosofie fabuleuse" aus den Discorsi degli
animali von Firenzuola und der Moral fllosotia von Doni. Im Jahr 1580 gab
er eine Übersetzung der Moralphilosophie von Alexander Piccolomini, 1595 eine
Übersetzung der Discorsi von L. Capelloni, 1604 veröftentlichte er „L'humanite
de Jesus-Christ", die Übertragung eines Buchs von Aretin. 160;:5 endlich gab
er die „Veilles de Barthelemy Arnigio".
184
Lariveys Lustspiele stehen über den französischen Stücken dieser
Art, wie sie das Ende des 16. und der Beginn des 17. Jahrhunderts
hervorgebracht haben. Allerdings bietet er keine Originaldichtungen.
Wir kennen jetzt genau die italienischen Lustspiele, die er über-
tragen hat,^) und sehen nun, in welcher Weise er vorgegangen ist.
Seine Stücke sind fast wörtliche Übersetzungen, und die Änderungen,
die er sich erlaubte, sind nur darauf berechnet, die Lustspiele durch
Veilegung der Scene nach Frankreich dem französischen Publikum an-
nehmbarer zu gestalten. Aus demselben Grund streicht er ganze Scenen
und kürzt besonders die Frauenrollen, die, noch von jungen Männern
gespielt, des Eeizes entbehrten, den sie auf der italienischen Bühne
hatten. Ebenso fehlt bei ihm manche Kühnheit des Originals, weniger
im Ausdruck als im Gedanken. So macht er z. B. in seinen „Gespenstern"
Ser Jacomo, einen trägen Priester im italienischen Original, zu einem
Zauberer Josse. In der Zeit der Religionskriege wäre jeder Spott auf
die Kirche gefährlich gewesen, und Larivey war ja zudem selbst Dom-
herr. „Die Gespenster" („Les Esprits") gelten als sein bestes Stück.
Es ist nach dem Lustspiel „Aridosia'" von Lorenzino Medici, dem Vater
des Papstes Leo X., gearbeitet. Lorenzino hatte seinerseits seine Arbeit
aus zwei Lustspielen der Alten, den „Adelphi" des Terenz und der
„Aulularia" des Plautus, zusammengesetzt. Ans Lariveys Bearbeitung
haben dann später Moliere und ßegnard geschöpft. Echter Witz und
wahre Komik erhalten sich immer jung. Auch die Komik hat ihre Tra-
dition und pflanzt sich von einem Jahrtausend zum andern, von einem
Volk zum andern fort, und in verändertem Gewand bleibt immer die
alte Idee erkennbar.
Die „Esprits" zeigen uns, wie die ..Adelphi" des Terenz, zwei
Brüder von entgegengesetztem Charakter. Severin, der eine, ist rauh,
mürrisch und geizig. Er hält seinen Sohn Urbain in strengster Ab-
hängigkeit und möchte ihn am liebsten von jeder Berührung mit der
Welt fernhalten. Der zweite Bruder, Hilaire, denkt nicht so. Da seine
Ehe kinderlos geblieben, hat er einen andern Sohn Severins, den jungen
Fortune, adoptiert und behandelt ihn mit der größten Nachsicht und
Güte. Er verzeiht ihm alle tollen Streiche, denn „Jugend muß aus-
toben". Nicht mit Strafpredigten sucht er ihn zu bessern, sondern nur
durch Ratschläge, denn er will nur als sein Freund gelten. Die Folgen
solch verschiedener Erziehung treten nnn in dem Stück zu Tasre. Urbain
1) „Le laquais" ist nach dem Stück II Ragazzo von Lod. Dolce (1539);
„La Veuve" nach der Vedova des Nic.Buonaparte aus Florenz („appresso in Giunti
1568") gearbeitet. „Les esprits'' sind fast wörtlich nach dem Aridosia des Lo-
renzino de Medici gearbeitet; „Le Morfondu" ist eine Übertragung der Gelosia
des Grazzini (Venedig 1582, appresso Bernardo Giunti e fratelli) ; „Les Jalpux"
sind eine Übersetzung der Gelosi des Gabbiani, 1550; „Les Ecoliers'' eine Über-
setzung der Zecca von Girolamo Razzi; „La Constance" (1611) ist eine fast
wörtliche Übersetzung der Costanza von Razzi, 1565; „Le fidele" eine desgleichen
von Fedele von Pasqualigo. Die „Tromperies" sind eine Übersetzung des Inganni
des N. Secehi. Fast alle diese italienischen Stücke sind bei den Giunti in Florenz
und Venedig gedruckt.
185
ist ein Bruder Liederlich geworden, während Fortune trotz mancher
jugendlichen Streiche als besonnen hingestellt wird, ürbain benutzt die
Abwesenheit seines Vaters, um ein fröhliches Gelage mit seiner Geliebten
zu veranstalten. Severin kommt jedoch zu ungelegener Stunde unerwartet
zurück, und nur der freche Einfall Frontins, des verschmitzten Dieners,
rettet die Überraschten. Frontin heißt sie das Haus von innen verriegeln
und erzählt dem heimkehrenden Alten mit allen Zeichen des Schreckens,
daß seine Wohnung von Gespenstern erfüllt sei, die darin greulich
tollten. In der That beginnt auch gleich darauf ein Höllenlärm im Haus.
Severin ist blind abergläubisch; er läßt einen Zauberer (der, wie schon
gesagt, im italienischen Original ein Priester ist) holen. Der aber ist
von Frontin gewonnen, und während er seine Beschwörung macht, wobei
der Alte niederknieen muß und nicht aufblicken darf, gelingt es Urbain,
mit seiner Begleiterin aus dem Haus zu entkommen. Der Zauber hat
gewirkt, die Gespenster sind entwichen. Zum Dank lädt Severin seinen
Retter zu einem lukullischen Mahl ein. Er verspricht ihm eine halb vom
Marder aufgezehrte Taube, ein Stückchen Speck und sechs Kastanien.^)
Neben dieser Verwicklung spinnt sich eine andere Geschichte ab. Se-
verins Geiz zu schildern, ist aus der „Aulularia" des Plautus die be-
kannte Scene herübergenommen, in welcher der Geizhals den Topf mit
Gold vergräbt und bald darauf zu seiner Verzweiflung dessen Ent-
wendung wahrnimmt. Auch Severin vergräbt einen Beutel mit Gold-
stücken und wird dabei belauscht, ganz wie später Harpagon bei Moliere.
Die Charakteristik Severins bietet jedoch Züge, welche sich weder bei
Plautus noch bei Moliere finden, die aber vortrefflich sind. So z. B. in
der Scene, in welcher Severin immer wieder zu dem vergrabenen Schatz
zurückkehrt, um ihn zu bewachen, wie er jedem mißtraut, der in seine
Nähe kommt, und ganz ohne Grund „Au voleur!" ruft (ü, 5). Ebenso
drastisch ist auch seine Verzweiflung geschildert bei der Entdeckung
des Diebstahls (HI, 6), obwol man hier vielfach an Plautus erinner t
wird. Derjenige, der ihm das Geld entwendet hat, ist der Liebhaber
seiner Tochter, der seinen Raub benutzt, um vom Alten die Einwilligung
zur Heirat zu erzwingen, weil derselbe nur dadurch wieder in den Besitz
seines Schatzes gelangen kann. Auch muß er gestatten, daß Urbain
heiratet, was er gern thut, als er hört, daß dessen Geliebte reich ist.
Sie bekommt eine Mitgift von 15.000 Franken. „15.000 Franken!"
ruft Severin neidisch aus, „dann wird er ja reicher als ichl" — ein
feiner Zug, der von den Späteren nicht benutzt worden ist, so wenig
wie das bezeichnende Wort, mit dem Severin seine Goldstücke wieder
begrüßt. „Götter, es sind dieselben!" ruft er liebevoll aus, und enthüllt
damit seinen ganzen Charakter.-) Doch sind alle diese Züge schon in
1) Vergl. Moliere, L'Avare III, 5.
-) Die „Esprits" zählen allerdings zu den früheren Stücken Lariveys
(1579) und gehören somit streng genommen nicht in den Rahmen unserer Dar-
stellung. Allein da gerade dieses Stück später vielfache Anregung bot, und
wir darauf zurückkommen müssen, sei es hier ausführUcher erwähnt. Man
vergleiche einstweilen Molieres Lustspiele „L'Ecole des maris" und „L'Avare",
186
dem italienischen Stück enthalten. Lariveys Verdienst liegt also nicht
in der Conception der Stücke, sondern vielmehr in der Behandlung der
Sprache. Sein Dialog ist knapp, kräftig und klar, aber auch ohne Scheu.
Dennoch können seine Lustspiele, trotz seines Bestrebens, sie dem fran-
zösis^chen Leben anzupassen, den fremden Ursprung niemals ganz ver-
bergen.
Neben dem starken Einfluß, welchen das italienische Theater auf
die französische Litteratur ausübte, ist indessen ein anderes Element,
das sich in ihr geltend machte, nicht zu übersehen. Schon mehrmals
haben wir auf die kräftige Einwirkung hingewiesen, welche Spanien
lange Zeit auf die Litteratur wie auf die Politik der Franzosen aus-
geübt hat. Noch zur Zeit Heinrichs IV. war Frankreich rings von
spanischen Besitzungen umgeben. Im Norden grenzte es an die spanischen
Niederlande, im Osten an die Franche-Comte, während sich im Süden
die iberische Halbinsel erstreckte, und die spanische Herrschaft selbst
noch über die Pyrenäen reichte und die Grafschaft Roussillon umfaßte.')
Kein Wunder, daß spanisches Wesen vielfach eindrang, daß die Kraft
des spanischen Geistes, der damals auf seiner Höhe stand, sich auch in
Fjankreich bewährte.
Italiens Einfluß auf die französische Litteratur fällt allerdings
mehr in die Augen. Bei dem lebendigen Verkehr, den Frankreich mit
dem Nachbarland jenseits der Alpen unterhielt, machte sich dessen Wesen
bis in das Detail des gewöhnlichen Lebens herab geltend. Wir haben
gesehen, wie von Italien aus die Studien, die Litteratur, die Kunst, die
Gesellschaft, die Mode in Frankreich beeinflußt wurden, und wie wichtig
diese Einwirkung war. Und dennoch will es uns bedünken, daß die
Anregung, die eine Zeit lang von Spanien ausging, noch bedeutsamer
für Frankreich war, daß der Geist, der von dorther kam, kräftigend
wirkte, während Italien vielfach verweichlichenden Einfluß übte. Wir
finden kein hervorragendes Werk der französischen Litteratur, das direkt
von einem italienischen Vorbild angeregt worden wäre. Dagegen verdankt
Corneille seinen ..Cid"', seinen „Menteur'% nicht minder Moliere seinen
„Don Juan" dem spanischen Theater, wie auch später Lesage und
Beaumarchais ihre Typen jenseits der Pyrenäen fanden. Die Nachahmung
des Altertums und der Italiener hätte in Frankreich noch auf lange Zeit
hinaus jeden originellen Aufschwung, jede größere Selbständigkeit ge-
hindert, wenn nicht die Bekanntschaft mit Spanien ein Gegengewicht
sowie Regnards „Le retour imprevu"'. — Siehe auch Sainte-Beuve, Tableau S. 219.
Zu bemerken ist, daß in Lariveys Bearbeitung die Rollen der jugendlichen Lieb-
haberinnen weggefallen sind, weil sie in Frankreich durch Männer hätten gespielt
werden müssen. Das ist aber auch die einzige Änderung, die sich Larivey erlaubt
hat. Man vergleiche L'Aridosia, Commedia di Lorenzo de' Medici, esemplata suUe
antiche rarissime stampe. Trieste, dalla sezione letteraris artistiea del Lloyd
autriaco 1858.
^j Die Franche-Comte wurde 1668 und 1674 von Frankreich besetzt,
und erst 1679 im Frieden von Nymwegen definitiv von Spanien abgetreten.
Roussillon fiel schon im pyrenäischen Frieden 1059 an Fr.inkreich.
187
geboten und die Entstehung eines eigentümlichen, nationalen Theaters
erleichtert hätte. Es erklärt sich dies zum Teil daraus, daß in Italien
die erste Epoche der großen Litteratur schon vorüber war, als sich
Frankreich um die Dichtung des Auslands zu bekümmern begann. In
Spanien aber stand die Litteratur, zumal die dramatische, um das
Jahr 1600 in schönster Blüte. Cervantes lebte noch bis 1616, Guilhem
de Castro, der Dichter des spanischen Schauspiels vom „Cid-*, starb
erst 1626. Lope de Vegas Tod fällt in das Jahr 1636, und Calderon
de la Barca war ein Zeitgenosse Molieres und Racines. Er starb im
Jahr 1687. Neben den genannten Dichtern aber war eine große Zahl
anderer hervorragender Dramatiker in Spanien thätig, und ihr Einfluß
auf die Nachbarlitteratur ist begreiflich. Man könnte sich höchstens
wundern, daß das spanische Drama nicht noch mehr zur Nacheiferung
anreizte, wüßte man nicht, daß die beiden Völker, die sich hier auf
kurze Zeit in ihrer Entwicklung einander näherten, rasch wieder durch
feindliche Gewalten in verschiedener Richtung auseinander gerissen
wurden.
Der Reichtum des spanischen Theaters war außerordentlich. Seine
Stücke dienten nicht selten der Commedia dell' Arte, welche sie ihren
Bedürfnissen entsprechend veränderte. Durch die Vermittlung der Italiener
kamen sie dann weiter nach Frankreich. Doch läßt sich auch die direkte
Übertragung nachweisen, und zwar war es Alexandre Hardy, der sich
zuerst mit Entschiedenheit an das spanische Theater wandte und dessen
Schätze benutzte. Direkt wie das italienische Schauspiel hat die spanische
Bühne nicht auf das französische Theater gewirkt. Zwar versuchten auch
spanische Schauspieltruppen ihr Glück in Paris, aber ohne Erfolg, ob-
wol sie von der Gemahlin Ludwigs XIII., einer spanischen Infantin,
begünstigt wurden, und auch später, unter Ludwigs XIV. Regierung,
wurde der Versuch mit nicht besserem Glück wiederholt.') Das Publikum
fehlte, und die Verschiedenheit der beiden Bühnen, der spanischen und
französischen, war bereits zu groß.
1) Die spanische Schauspieltruppe, die nach dem pyrenäischen Frieden
und der Heirat Ludwigs mit Maria Theresia von Spanien im Jahr 16G0 nach
Paris kam, blieb ungefähr 13 Jahre daselbst. Sie führte den Titel: „Comediens
de la reine", hatte aber wenig Zuspruch. S. Eug. Despois, Le theätre francais sous
Louis XIV. (Paris 1874, Hachette), S. 71.
Loret sagt in seiner Muse historique:
Pour considerer leur maniere
J'allai voir leur piece prämiere
Donnant k leur poitier tout franc
La somme d'un bei ecu blanc.
Je n'entendis point leurs paroles;
Leurs sarabandes et leurs pas
Ont de la grdce et des appas;
Gomme nouveaux, ils divertissent.
Et leurs castagnettes ravissent.
Das Lob ist sehr kühl.
188
Wir können den Beginn der französischen Kunstbühne in den
ersten Jahren des 17. Jahrhunderts suchen, damals, als sich zwei selb-
ständige Schauspieltruppen in Paris niederließen, und den Italienern nach-
zueifern sich bemühten. Nun wurde mehrmals in der Woche gespielt;
man brauchte Stücke, welche die Leute in das Theater lockten, welche
die Zuschauer rühren und begeistern oder erheitern konnten. Das
komische Element behielt allerdings noch lange das Übergewicht, aber
die Hauptsache war, daß das französische Theater nun auch Anforde-
rungen au seine Dichter stellte. Das große Publikum, das sich daselbst
zusammenfand, war freilich in seiner Masse noch völlig naiv und hatte
keine ästhetischen Bedürfnisse. Die Begebenheiten selbst interessierten
die Zuschauer, aber sie fragten nicht danach, ob dieselben in kunst-
gerechter Dichtung vorgeführt würden; sie wußten nichts von wirkungs-
voller Komposition, von Wahrheit der Charakteristik, Schwung der Ge-
danken, tragischer Hoheit der Dichtung; doch waren sie mit ganzer
Seele bei den Vorgängen, die sich auf der Bühne abspielten, sie be-
wunderten die Großthaten der Helden, verabscheuten die Bösewichter,
und hatten vor allem ihre Freude an den derben Spaßen ihrer Lieblinge,
der Komiker. Unter solchen Verhältnissen hat ein Theater noch keinen
Anspruch auf künstlerische Bedeutung, a^ber wenn die Umstände günstig
sind , kann es sie rasch erlangen. Es findet Dichter, die sich ihm
widmen, es stellt ihnen Aufgaben, an welchen sich die Kräfte aller
üben, und so in steter Berührung mit der Öffentlichkeit, gegenseitig
einander tragend und fördernd, wachsen die Dichter, die Schauspieler
und mit ihnen das Publikum oft in überraschend kurzer Zeit zur Höhe
eines wahren künstlerischen Verständnisses. In solcher Weise hatte sich
die nationale Bühne in England und in Spanien entwickelt, hatten sich
Shakespeare und Lope de Vega erhoben. Die Dichter hatten dort, unbe-
engt von den willkürlichen Gesetzen eines im Streben nach Verfeinerung
verirrten Geschmacks, ihre Stütze an dem großen Publikum gefunden.
Das Volk, das in dem englischen und spanischen Theater die Haupt-
stimme hatte, besaß noch ein unverdorbenes Gefühl und gab sich willig
dem Eindruck hin. Der Genius des Dichters hatte freie Bahn.
Die Verhältnisse in Frankreich waren zu der Zeit, von der wir
handeln, nicht ungünstig für eine ähnliche Entfaltung. Es kam nur
darauf an, ob sich die französische Bühne eine gleich freie Entwicklung
sichern konnte, ob der Geschmack der Nation, der so entschieden auf
Ordnung und Regelmäßigkeit drang und der sich mit der Zeit jeden-
falls geltend machen mußte, geschmeidig genug war, seine Anforderungen
mit der unerläßlichen Freiheit der dramatischen Bewegung in Einklang
zu bringen. Das war der Punkt, um den es sich handelte.
An der Spitze der neuen Entwicklung finden wir den Dichter
Alexandre Hardy, der zunächst den richtigen Weg einschlug. Er war
sich zwar des Ziels, auf das er lossteuerte, schwerlich klar bewußt, aber
seine Arbeit brach die Bahn und erleichterte seinen Nachfolgern den Weg.
Bevor wir jedoch die weitere Entwicklung des französischen Dramas
zu schildern unternehmen, wird es zweckmäßig sein, die äußeren Ver-
189
hältnisse der französischen Bühne zu jener Zeit, ihre Einrichtung und
ihre Mittel zu betrachten. Erst wenn man die Umgebung kennt, in
welcher das französische Schauspiel erwuchs, kann man auch seine Ent-
wicklung vollständig verstehen.
Zunächst muß man von den Schauspielvorstellungen am Hof und
in den Schlössern der Großen absehen. Hier entfaltete man in der Aus-
schmückung des Saals, in dem Reichtum der Kostüme, der Mannigfaltig-
keit der Maschinerien oft eine große Pracht, obschon auch bei diesen
Vorstellungen gewisse Traditionen, wie z. B. die Einfachheit der Deko-
rationen, gewahrt blieben. Die Volksbühne, das öffentliche Theater, kannte
solchen Glanz natürlich nicht. Noch zu Molieres und ßacines Zeit waren
Ausstattung und Einrichtung der Theater in der Hauptstadt sehr ein-
fach. Und wie vollkommen erschienen diese, wenn man an den primi-
tiven Zustand der Bühne siebzig Jahre zuvor dachte!
Der Saal, in welchem eine Theatergesellschaft ihre Bühne auf-
schlug, brauchte zu Hardys Zeit nicht groß zu sein, da die Zahl der
Zuschauer beschränkt wai-. Dem entsprechend war auch die Bühne schmal
und nötigte schon durch ihre geringe Ausdehnung zur Einfachheit der
dramatischen Komposition, sowie zur Vermeidung von Massenauftritten.
Wollte man trotzdem ausnahmsweise eine Schar Krieger oder eine Volks-
menge auf der Scene haben, so half man sich durch ein einfaches Mittel,
indem man sie gemalt zeigte. In dem „Tod des Cyrus'' von Rosidor
ruft im vierten Akt die Königin Thomyris ihre Bewaffneten zu sich
heran: „A moi, soldats!^" Und der Dichter bemerkt dazu in der Ausgabe
seines Trauerspiels, daß auf diesen Ruf ein Vorhang niedersinkt, auf
welchem ein Schlachtgetümmel abgebildet ist.^)
Die Scene des Theaters im Hotel de Bourgogne hatte, wie es
scheint, nicht mehr als 15 Fuß Breite.'-^) Ein Theatersaal hatte in der
Zeit Hardys gewöhnlich nur eine Logen reihe, und die Beleuchtung war
überaus einfach. Ein paar Talglichter im Hintergrund und an den Seiten,
erhellten die Bühne. Um zu vermeiden, daß der Schatten das Gesicht
der Schauspieler verdunkle, hatte man da, wo heute der Souffleurkasten
sich befindet, zwei horizontal schwebende Holzkreuze angebracht, deren
jedes vier Kerzen trug. Diese Kreuze hingen an einem Strick und waren
beweglich. Während des Spiels waren sie in die Höhe gezogen, in den
Zwischenakten aber senkten sie sich, damit die Diener die Lichter putzen
konnten.^)
^) „La mort de Cyrus ou la vengeance de Thomyris" von Rosidor fällt
in das Jahr 1662. Vergl. Fournier, Le theätre franvais au XVI et au XVII
siecle. 2 Bde. Paris, Laplace Sanchez iV: Cie. II, 236. £ug. Despois, S. 127. —
So beschwerte sich auch der Abbe d'Aubiguac im Jahi 1643, daß in seiner Tra-
gödie „La Pucelle d'Orleans", in welcher die Jungfrau im Hintergrund auf dem
Holzstoß, von einer großen Volksmenge umringt, erscheinen soll, man nur eine
kunstlose Malerei aufgerollt habe. Vergl. Fournier, Chansons de Gaultier Gar-
guille. Paris 1858, Jannet, S. 159.
'-) Jules Bonnassies, La comedie fran^aise. Notice historique sur les an-
ciens batiments n"^ 14 de la rue de l'Ancieane Comedie. Paris 1868, Aubry, S. 10.
2) Perrault schildert diese Einrichtungen des Hardy'schen Theaters in
190
Die Dekorationen bestanden meist aus Teppichen, mit welchen der
Hintergrund und die Seiten drapiert waren. Erst mit der Aufführung
von Mairets „Sylvie" (1621) begann man auf die gemalten Dekorationen
mehr Sorgfalt zu verwenden. Scenische Verwandlungen waren selten ;
wenn sie, wie besonders im Lustspiel, nicht zu vermeiden waren, so
wurde einfach ein neuer Hintergrund herabgelassen. Auch die Musiker
hatten einen sehr bescheidenen Platz. Lange Zeit waren sie in einer
engen Seitenloge untergebracht, was freilich keine Schwierigkeit bot, da
das ganze Orchester gewöhnlich aus zwei Violinen oder einer Flöte und
einer Trommel bestand.') Nur allmählich wies man dem musikalischen
Element eine größere Rolle zu und verstärkte die Zahl der Musiker. Da
also in dem damaligen Theater das Orchester wegfiel, reichte das Par-
terre, in dem die Zuschauer standen, bis zur Scene. Um aber jede Kolli-
sion der Künstler mit den „Gründlingen im Parterre"' zu verhüten, schied
ein ziemlich hohes Gitter die Bühne vom Zuschauerraum ab.
Die Vorstellungen selbst hatten in den ISTachmittagsstunden statt,
nach dem Mittagsmahl, das nach damaliger Sitte allgemein um zwölf
Uhr eingenommen wurde. Im Jahr 1609 bestimmte eine königliche Ver-
ordnung, daß die Vorstellungen im Winter des Nachmittags um zwei
Uhr beginnen und spätestens um halb fünf Uhr enden sollten. Später
begann man um drei Uhr; dann, als Ludwig XIV. fromm wurde, mit
Eücksicht auf den Nachmittagsgottesdienst erst um fünf Uhr.-) Das
Publikum bestand hauptsächlich aus vornehmen jungen Leuten, welche,
ohne ernste Beschäftigung, im Theater einen Zeitvertreib suchten oder
im besten Fall ein oberflächliches Interesse an der Litteratur hatten,
aus Studenten, Schreibern, jungen Beamten, sowie aus der niederen Klasse
des Volkes, aus Handwerkern und Arbeitern aller Art. Frauen kamen
anfangs gar nicht, später nur maskiert in das Theater, dessen Besuch
nicht für anständig galt.^) Die Maske hatte indessen nichts Auffallendes,
da sich die Damenwelt lange auch auf der Straße nur maskiert zeigte.
seinem Buch: „Parallele des anciens et des modernes". Paris 1682, 3. Bd. S. 191.
El- setzt stolz hinzu: „... et maintenant il de theätre materiell est arrive au
plus baut point de perfection". Noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts wurde
die erste Bühne Frankreichs durch zwei Kronleuchter mit je zwölf Kerzen er-
leuchtet, die an die Stelle der Holzkreuze getreten waren. Ein Kupferstich von
Coypel aus dem Jahr 1726 zeigt uns den Saal des Theätre fran^ais in dieser
Arl. V^ergl. Mercure de France, Juli 1726. Despois, S. 128.
ij Perrault a. a. 0.
-) In unseren Tagen greift man zu den Nachmittagsvorstellungen, wenig-
stens an Sonn- und Festtagen, zurück. Nur besteht der Unterschied, daß die
Maßregel heute einen volkstümlichen Charakter trägt, während damals die Ein-
richtung der Nachmittagsvorstellungen einen mehr aristokratischen Anstrich
hatte. Kleine Leute, Bürger und Beamte konnten nur schwer einen Nachmittag
ihrem Vergnügen opfern. Die vornehme Gesellschaft aber ging oder fuhr nach
der Vorstellung spazieren und traf sich dann in einem Salon, wo man über die
Aufführung des Nachmittags seine Meinungen austauschte.
3) Eine königliche Verordnung gebot, die Theater eine Stunde vor dem
Beginn der Vorstellungen zu beleuchten, weil in den dunklen Bäumen zuviel
Unfug getrieben wurde.
191
So hatte das Parterre unbedingt die Hauptstimme und sprach das end-
giltige Urteil. Die Lust am Theater verbreitete sich rasch. Bald bildeten
sich größere und kleinere Schauspielerbanden, die mit ihren Karren das
Land durchzogen, in den Wirtshäusern der Landstädtchen auf einer leicht
improvisierten Bühne spielten, wol auch auf die Landsitze des vermögenden
Adels gerufen wurden. Einer der Schauspieler hatte das Amt des Drama-
turgen, der die Stücke den Verhältnissen der Gesellschaft anpassen mußte.
In dem „Eoman comique" erzählt Scarron, wie eine große Tragödie:
„Herodes und Mariamne", nur von drei Schauspielern aufgeführt wurde,
und ein alter Komödiant rühmt sich, daß er für sich allein ein ganzes
Stück gespielt habe.') Der Stand eines Schauspielers galt noch als un-
ehrlich; es wurde als gottlos betrachtet, sich auf der Bühne zu produ-
zieren. Dieser Grund war mit die Veranlassung, daß die Schauspieler
sich falsche Namen beilegten und auf der Scene eine Maske trugen. Bei
den Frauenrollen, die von Männern dargestellt wurden, verstand sich
dies auch später noch von selbst; es erklärt dies ihre Zügellosigkeit in
Rede und Spiel.-)
Die Einnahme wurde jeden Abend nach der Vorstellung unter die
Schauspieler verteilt. Auch der Dichter hatte Anspruch auf einen Anteil,
doch nur an die Gesellschaft, für welche er sein Werk geschrieben hatte.
War dies einmal gedruckt, so galt es als Gemeingut, und jede Truppe
konnte es ohne irgend welche Vergütung zur Aufführung bringen. Auch die
Censur bestand kaum für das Theater. Heinrich IV. hatte ihm die volle
Freiheit der Meinungsäußerung gewährt, und wenn sie unter seinem Nach-
folger auch beschränkt wurde, fühlte sich doch das Theater nicht beengt.
Die Dichter scheuten nicht davor zurück, selbst Ereignisse ihrer
Zeit auf die Bühne zu bringen. Antoine de Montchretien verfaßte im
Jahr 1605 eine .Maria Stuart" und widmete seine Dichtung sogar dem
Sohn der unglücklichen Fürstin, König Jakob von England. Maria Stuart
erscheint darin natürlich als Heldin, aber auch ihre Gegnerin sollte
geschont werden, und Elisabeth wird als eine milde Herrscherin gezeichnet,
welche von ihren Bäten gewissermaßen genötigt wird, die Hinrichtung
zu befehlen. Der Dichter Claude Billard ging noch weiter. Noch bei
Lebzeiten Heinrichs IV. schrieb er ein Schauspiel: „Henry le Grand",
worin der König und der Dauphin auftreten. Der letztere, später Lud-
') Scarron, Le roman comique, Kap. 2.
-) In der Darstellung der Frauenrollen war in der ersten Hälfte des
17. Jahrhunderts im Hotel de Bourgogne "in gewisser Alizon besonders gerühmt.
Corneille war der erste, der in seinen Lustspielen die wichtigsten Frauenrollen
an Schauspielerinnen übergab. Doch schwand der Gebrauch, Frauenrollen durch
junge Männer spielen zu lassen, erst gegen das Ende des Jahrhunderts völlig.
Noch zu MoUeres Zeit wurden alte und lächerliche Weiber von Männern dar-
gestellt, so die Gräfin d'Escarbagnas in Molieres Stück dieses Namens. In Mo-
lieres Truppe hatte der Schauspieler Hubert diese Rollen. Er starb im Jahr
1700, nachdem er kurz zuvor noch die Rolle der M^e Jobin in den „Devine-
resses" des Thomas Corneille , kreiert" hatte. Mit ihm verschwand der letzte
Schauspieler dieser Art, und alle Frauenrollen wurden seitdem von Damen dar-
gestellt. Vergl. Fournier, II, 281.
192
wig XIII., enthüllt schon als Knabe die Größe seines Geistes und seines
Mutes. Im zweiten Akt beschwert er sich über die lästigen Studien.
„Einen ganzen Tag herumzustreifen", sagte er, ., ermüdet mich nicht.
Doch sobald ich ein Buch zur Hand nehme, schmerzt mich der Kopf.
Weiß ich nicht genug für den ältesten Sohn eines großen Königs?"
Er meint, seine Vorfahren hätten auch nichts gewußt und seien doch
gute Herrscher gewesen. Mehr als Philosophie helfe ein guter Helm,
eine Rüstung und ein großes Herz, wie es sein Erbteil sei. ^) Der Dichter
wollte mit diesen Worten dem Dauphin offenbar ein Lob spenden , und
als solches wurde es gewiß auch von jenen aufgenommen, welche immer
etwas wie Schamgefühl empfanden, wenn sie, geborene Edelleute, statt
zum Schwert zur Feder griffen. Censur hier zu üben, schien unnötig.
Die übergroße Derbheit der Ausdrücke verletzte nicht, und eine Censur
der Meinungen war unnötig. Denn politische Lehren, Ideen über Staat
und Kirche und was sonst noch die Unzufriedenheit der Machthaber
hätte wecken können, das alles lag dem Drama jener Zeit sehr fern.
Die Dichter schienen keine Ahnung davon zu haben, daß ein Staat,
eine Gesellschaft auch andere Formen, andere Gesetze haben könnte,
oder sie sprachen wenigstens nicht davon. Das Theater lebte noch in
der naiven Freude an den Begebenheiten und hatte keinerlei politische
Bedeutung, im Gegensatz zu dem Theater des 18. Jahrhunderts, das
viel weniger poetische als philosophische und politische Aufgaben zu
verfolgen schien, und so genügte es. der Polizei die Oberaufsicht über
die äußere Ordnung zu überlassen.
Die Schauspielgesellschaft, welche das Theater des Hotel de Bour-
gogne gemietet hatte, erwarb in den ersten Regierungsjahren Ludwigs XIII.
die Erlaubnis, sich ,.königliche Schauspieltrappe" („troupe royale des
comediens") nennen zu dürfen, und ermutigt dadurch, richtete sie schon
1615 eine Bittschrift an den König, er möge sie in den definitiven
Besitz des Theaters setzen. Die naiven Künstler verlangten nichts an-
deres, als daß der König die alte „Passionsbruderschaft" ihrer Habe
beraube.^) Ihr Gesuch wurde abgewiesen, aber die fernere Benutzung
des Theaters gegen einen kleinen Mietzins ihnen zugesichert. Unter der
glon-eichen Regierung Ludwigs XIV. war man weniger ängstlich. In
der Absicht. Ordnung in das verwickelte Verhältnis zu bringen, erklärte
ein königliches Dekret die Besitzungen der Bruderschaft für eingezogen
und überließ sie dem Pariser Krankenhaus, an welches die Schauspieler
seitdem ihre Abgahe zu entrichten hatten.
1) Vergl. Parfaict IV, S. 130.
2) Siehe les freres Parfaict, Histoire du theätre fran^ais, T. III, S. 258.
Die Begründung des Gesuchs ist für die Ansichten der Zeit charakteristisch,
und zeigt, mit welchem Hochmut man noch auf die Handarbeit herabsah. Die
Schauspieler, die doch selbst noch in dem Bann der Gesellschaft standen, er-
achteten sich hoch erhaben über die Handwerker der „Bruderschaft", welche sie
nicht als anständige Bürger anerkennen wollten, da „leur profession les oblige
la plupart de raendier leur vie du ministere de leur main", und sie erinnerten au
das Altertum, welches auch die Handwerker den Sklaven gleich geachtet hätte.
Vergl. Despois, S. 3.
193
Das Ansehen des „Hotel de Bourgogne" stieg indessen rasch.
Ludwig XIII. bewilligte der Gesellschaft einen jährlichen Zuschuß aus
seiner Kasse und hieß sie im Jahr 1634 sechs der besten Künstler des
Marais-Theaters zu sich herübernehmen.') Bei alledem erhob sich das
Theater des Hotel de Bourgogne in den ersten Decennien des Jahr-
hunderts wenig über das Niveau der anderen Bühnen. Sie spielten zwar
auch Tragödien und Tragikomödien, aber doch wurde nach dem Vorbild
der Commedia dell' Arte anfänglich mehr die Posse von ihnen gepflegt.
Dem Geschmack des Publikums zu entsprechen, bot eine Vorstellung
gewöhnlich ein sehr mannigfaltiges Programm. Sie begann mit einem
dei- Regel nach sehr freien Prolog; dann folgte die Aufführung des
Hauptstücks, eines Trauerspiels oder einer Pastorale. Auf dieses kam
eine ausgelassene Posse, oft die Parodie des gerade zuvor gegebenen
Stücks, und den Schluß bildete der Vortrag eines lustigen, leichtfertigen
Liedes — ■ eine Gewohnheit, die sich aus den Darstellungen der früheren
Zeit erhalten hatte.
Anfänge eines TOlkstümlichen Dramas.
Alexandre Hardy.
Die französische Bühne stand auf dem Punkt der Entwicklung,
auf dem das englische Theater angelangt war, als James Burbadge mit
seiner Gesellschaft das Schauspielhaus von Blackfriars eröffnete (1576),
und Dichter wie Robert Greene und George Peele mit ihren kräftigen,
aber noch unförmlichen Dramen den Aufschwung der englischen Bühne
einleiteten.
Die alten Mysterien- und Moralitätenspiele, echte Volksschauspiele
des Mittelalters, waren verschwunden. Gelehrte Dichter hatten es unter-
nommen, das Drama der Griechen und Römer in Frankreich neu auf-
leben zu lassen und unter ihnen hatte sich Robert Garnier durch sein
Talent hervorgethan. Aber seine Werke und noch viel mehr die seiner
Zeitgenossen und Nachfolger, der Montchretien, Du Harael, Heudon und
so vieler anderen blieben dem Volke fern. Wie hätte das anders sein
können, da sie, von fremdem Geist durchweht und in fremdes Gewand
gehüllt, sich fast ausschließlich an das Publikum der gelehrten Schulen
wandten?
Erst wenn das Theater in lebendige Berührung mit dem Volk
tritt, wenn es ohne Nebenrücksichten, ohne nach dem Ruf der Gelehr-
samkeit zu haschen, seine Aufgabe darin findet, das Volk, das große
echte Publikum, durch das Bild heroischen Kampfes und tragischen
Untergangs, durch die Darstellung der menschlichen Leidenschaften zu
erschüttern oder durch die Zeichnung komischer Verwicklungen, sonder-
1) E. Fournier, Theätre franfais au XVI et au XVII siecle, p. 282 Dort
ist ein Etat de gages etc. für 1641 mitgeteilt, in dem die königliche Subvention
mit 12000 Livres verzeichnet steht.
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratnr. ^„
194
barer Charaktere zu erheitern, erst dann betritt es die Bahn, welche es
zu einer volkstümlichen, echt nationalen Schaubühne führen kann. Es
ist dabei nicht nötig, nationale Stoffe zu behandeln; die Helden der
Dramen mögen einer Zeit oder einem Land angehören, welchem sie
wollen, wenn sie nur durch die Art, wie sie der Dichter darstellt, dem
Volk verständlich werden.
Diesen wichtigen Schritt machte die französische Bühne, als sich
im Hotel de Bourgogne eine Schauspielertruppe niederließ und in Alexandre
Hardy einen Dichter gewann, der es Obernahm, Stücke zu liefern, welche
das große Publikum heranzuziehen die Kraft hätten. Die Urteile über
Hardy sind bis zum heutigen Tag sehr verschieden, selbst in Frankreich ;
während die einen ihn als den Begründer des modernen französischen
Theaters ansehen, erklären ihn andere als einen unbedeutenden Schreiber,
einen Fabrikanten wertloser Dramen.^) Vielleicht ergiebt sich das richtige
Urteil aus einer unbefangenen Würdigung der Verhältnisse.
Alexandre Hardy war zu Paris um das Jahr 1560 geboren. Von
seinen Lebensschicksalen wird uns sehr wenig berichtet. Man weiß nur,
daß er aus einer armen Familie stammte, aber seine Werke beweisen
wieder, daß er trotzdem eine mehr oder weniger gelehrte Erziehung er-
halten hat. Gegen das Ende des Jahrhunderts soll er sich einer Schaii-
spielertruppe angeschlossen und mit ihr als Dramaturg das Land durch-
zogen haben. Von seiner poetischen Thätigkeit aus dieser Zeit wissen
wir jedoch nichts mehr. Ums Jahr 1600 kam er nach Paris, wo ihn
das Theater in „Marals" in seine Dienste nahm. Seine Aufgabe bestand
darin, entweder selbst die nötigen Stücke zu schreiben oder fremde für
die Aufführung einzurichten. Den Ansprüchen des damaligen Pariser
Publikums zu genügen, war zwar leicht, insofern es sich um den inneren
dramatischen Wert einer Dichtung nicht kümmerte: aber dafür verlangte
es fortwährend neue Stücke, sollte es in seiner Teilnahme nicht ermatten.
Die Arbeit wurde zudem schlecht bezahlt. Der Verfasser eines Schau-
spiels galt in den Kreisen des Publikums noch für so wenig, daß die
Schauspieler es nicht für nötig hielten, in den Ankündigungen der
Stücke die Dichter zu nennen. Sie waren Arbeiter gleich den anderen
und Hardy erhielt von seiner Gesellschaft für jedes Stück, das er lieferte,
nicht mehr als die Summe von zwei oder drei Ecus (sechs oder neun
Livres), und einen kleinen Anteil an der Einnahme.^) Die Not zwang
ihn, fabriksmäßig zu produzieren; so lernte er. talentvoll und gewandt.
1) Zu den ersteren gehört u. a. Guizot. S. dessen „Corneille et son temps",
S. 131 ff.; zu den letzteren Sainte-Beuve in s. Tableau S. 236 If.
-) Man machte Corneille später wol gar einen Vorwurf daraus, daß er
nicht unter gleichen Bedingungen arbeite, und daß er das „Geschäft" ver-
teuert habe. Die Schauspielerin Mlle. de Beaupre klagte z. B.: „Mr. Corneille
nous a fait un grand tort. Xous avious ci-devant des pieces de theätre pour
trois ecus que Ton nous faisoit en une nuit; on y etoit accoütume et nous
gagnions beaucoup d'argent. Presentement les pieces de M. Corneille nous coütent
bien de l'argent et nous gagnons peu de chose". Die gute alte Zeit auch hier!
Vergl. Parfaiet V, S. 29.
195
■bald gewisse Kunstgriffe, die ihm seine Aufgabe erleichterten. Zwei bis
drei Tage genügten ihm, um eine fünfaktige Tragödie zu schreiben.
Wenn er eine Woche darauf verwandte, war es schon viel. That es
not, so brachte er ein Drama wo! auch in einer einzigen Nacht zu stände.
Und dabei waren alle seine Stücke in Versen. Theophile de Viau rühmt
darum in einem Gedicht Hardys Leichtigkeit, dreitausend Verse in einem
Zug niederzuschreiben.^) Es fehlte nur noch das Horazische „stans pede
in uno".
Hardy trat mit seinen Dichtungen in bewußten Gegensatz gegen
das gelehrte Drama. Schon die Rücksicht auf das Publikum nötigte ihn
dazu. Mit der engumgrenzten Bühne der Römer konnte er nichts leisten,
er brauchte die Beweglichkeit der mittelalterlichen Spiele. Wie nahe er
diesen stand, zeigt uns sein erstes dramatisches Werk : „Theagenes und
Chariklea" („Les chastes et loyales amours de Theagene et Cariclee"),
das er dem Griechischen des Heliodor nachbildete und, den acht Büchern
des Romans entsprechend, in acht „Tage" oder „Theater" einteilte. Die
Erfahrung führte ihn indessen bald auf den richtigen Weg, und lehrte
ihn, die Einteilung in Akte aufzunehmen. Innerhalb derselben aber er-
laubte er sich die größte Freiheit. Die strengen Regeln, welche die
klassische Tragödie beherrschten, galten ihm nicht; Zeit und Raum
kamen bei ihm nicht in Betracht. Das romantische Schauspiel „Felimene"
spielt bald in Spanien, bald in Deutschland; in einem Stück: „Gesippe
ou les deux amis", wird man nach Rom und von da nach Athen ge-
führt; in der .,Alcestis" spielt der erste Akt am Hof des Eurystheus,
die folgenden bei Admet, der vierte in der Unterwelt, während der
letzte wieder in den Palast Admets versetzt. Ebenso verlegt Hardy in
seiner „Gigantomachie" die Scene bald in den Himmel, bald auf die
Erde. Ähnliche Freiheiten gestattet er sich mit der Zeitfolge. Allerdings
erlaubt er sich diese Sprünge zumeist in den Schauspielen romantischer
Art, aber auch im historischen Trauerspiel, das er einfacher, geregelter,
strenger behandelt ; indem er den Schausplatz auf eine bestimmte Gegend
zu beschränken, die Zeit enger zu begrenzen bemüht ist, finden wir ihn
Iceineswegs frei von jenen Willkürlichkeiten, die dem Wesen der antiken
Bühne widerstreben.
Freilich, der französische Charakter tritt trotzdem auch bei Hardy
deutlich zu Tage ; er zieht Klarheit und Übersichtlichkeit dem packenden,
aber vielleicht verwirrenden Eindruck der Massen vor. Schlachtscenen,
Volksmengen, die in den Shakespeare'schen Dichtungen so mächtig zum
Gesamteindruck beitragen, sind bei ihm nicht zu finden. Selbst die
große Götterschlacht in dem vierten Akt der „Gigantomachie" scheint
1) Abgedruckt in der Ausgabe von Hardys „Theatre", Paris 1626, Quesnel.
Dasselbe beginnt:
Coütumier de courre une plaine,
Qui s'etend par tout l'Univers,
J'entens ä composer des vers
Trois milliers tout d'une haleyne . . etc.
196
mehr in einer Keihe von Einzelkämpfen dargestellt worden zu sein. Er
bedient sich bereits der ..Boten" und „Vertrauten", jener frostigen Ge-
stalten der späteren klassischen Tragödie. Wenn auch bei ihm der
Selbstmord auf der Bühne noch gestattet ist, so läßt er doch die Kata-
strophe meistens nur von Augenzeugen erzählen. Ja, wir sehen bereits
den Alexandriner als das Versmaß der Tragödie angewandt, und ihr
damit ein gewisser Grad von Gemessenheit nach schärfer aufgedrückt.
Dreißig Jahre lang arbeitete Hardy für die Bühne; er starb erst
im Jahr 1630 oder bald nachher. So ist es denn nicht zu verwundern,
wenn man ihm 700 — 800 Stücke zuschreibt, etwa 25 im Jahr. Nur Lopo
de Vega konnte sich ähnlicher Fruchtbarkeit rühmen. Hardy selbst spricht
einmal von 500 Stücken, die er verfaßt habe, aber das war noch einige
Jahre vor seinem Tod.^) Um so viel leisten zu können, benutzte er,
was ihm nur immer vorkam und was sich halbwegs dramatisieren ließ.
Die griechische und römische Litteratur mußte ihm helfen so gut, wie
die Werke der Spanier und Italiener. Er bearbeitete die Sagen und die
Geschichte der alten Welt; eine kleine Anekdote in einem Historiker,
eine Novelle, alles bot ihm Stoff zu einem neuen Werk. Dabei ver-
schmähte er keine Gattung der ernsten dramatischen Poesie. Außer
Tragödien und Tragikomödien schrieb er noch Pastoraltragikomödien und
einfache Schäferschauspiele. Nur von dem heiteren Spiel scheint er sich
ferngehalten zu haben. Denn eine Tragikomödie war, nebenbei bemerkt,
kein Stück, in welchem sich tragische und komische Elemente ver-
mischten; der Name bezeichnete viel eher das „Schauspiel" im Gegen-
satz zum Trauerspiel. Doch trifft auch diese Erklärung nicht ganz zu,
da manche Tragikomödie tragisch endet. Die Grenze zwischen beiden
war offenbar nicht scharf gezogen. Das eigentliche Lustspiel aber kannte
man damals nicht; man hatte nur scharf geschieden die Tragödie oder
Tragikomödie auf der einen und die Posse auf der andern Seite. Das
Lustspiel erhebt sich immer erst dann, wenn die dramatische Kunst zu
einer höheren Stufe der Entwicklung aufgestiegen ist. Mit besonderer
Vorliebe folgte Hardy den Spaniern, deren „Degen- und Mantelstücke"
vielfach von ihm bearbeitet wurden. Auch die Erzählungen des Cer-
vantes gaben ihm den Stoff zu einigen Stücken (z. B. Cornelie 1609;
la belle Egyptienne 1615). Selbst deutsche Erzählungen benutzte er, so
die Legende vom Grafen von Gleichen, die er als Tragikomödie unter
dem Titel: „Elmire ou l'heureuse bigamie" 1615 dramatisierte.
Hardy war kein Übersetzer, wie Larivey; er bearbeitete seine Vor-
bilder oder schrieb Originalstücke. Deshalb darf man bei ihm aber noch
keine dramatische Komposition, keine psychologische Entwicklung, auch
keinen kunstreichen Stil suchen. Er wußte seine Stücke nicht so aufzu-
bauen, daß sich das Interesse konzentrierte ; er hatte keine Ahnung von
dramatischer Verwicklung und Steigerung, von der Peripetie und der
versöhnenden Lösung. Er nahm die Geschichte, die er bearbeiten wollte,
und folgte ihr Punkt für Punkt.
1) S. Hardys Vorrede zum 1. Band seiner Tragödien. Parfaict IV, S. 13.
197
In der Tragödie „Panthee" z. B. (1604), deren Fabel er Xenophon
entlehnte/) wird im ersten Akt Panthea, die gefangene Gemahlin des
assyrischen Helden Abradatas, vor den siegreichen Cyrus gebracht, und
dieser begegnet ihr voll Achtung und verspricht ihr völlige Sicherheit.
Er übergiebt sie der Obhut seines Vertrauten Araspas. Der zweite Akt
zeigt uns diesen von wilder Leidenschaft hingerissen, wie er um Pantheas
Liebe wirbt und, da sie ihm widersteht, mit Gewalt droht. Im folgenden
Aufzug bringt eine alte Dienerin Pantheens Klage vor König Cyrus,
der nur aus besonderer Rücksicht Araspas begnadigt, dann aber Panthea
ohne Lösegeld freiläßt. Hingerissen von solcher Großmut, veranlaßt diese
ihren Gemahl, in persische Dienste zu treten, da das Schicksal Assyriens
doch entschieden ist. In der nächsten Schlacht aber fällt Abradatas, in-
dem er das persische Heer zum Sieg gegen die Lyder führt, und der
letzte Akt bringt die Leichenfeierlichkeit, bei welcher sich Panthea, die
an ihres Gatten Tod schuld zu sein glaubt, nach rührendem Abschied
vom Leben selbst den Tod giebt. „Panthee" gehört noch zu den best-
komponierten Stücken Hardys, die meisten sind weit einfacher. So sein
„Meleager" (1604), in dessen erstem Akt der Held nur die Klagen
seines Volkes über die Verwüstungen des Riesenebers anhört, den die
erzürnte Diana gesendet hat, und zu dessen Bekämpfung er ausziehen
will. Im zweiten erklärte sich die kühne Jägerin, die jungfräuliche
Atalanta, ebenfalls bereit, das Untier zu jagen und auch Theseus mit
seinen Freunden kommt zu Hilfe. Im dritten Akt hören wir durch den
Bericht eines Boten, daß Atalanta den Eber zuerst verwundet und
Meleager ihn dann getötet hat. Atalanta wird darauf feierlich als
Siegerin verkündet und der ausgesetzte Preis ihr übergeben. Darob er-
grimmen die Oheime des Königs, sie entreißen der Jungfrau den Preis
und bedrohen sie. Meleager aber läßt sie zur Strafe töten und reicht
Atalanten seine Hand. Der Schlußakt zeigt uns dann plötzlich Althea,
die Mutter Meleagers, die, über den Mord ihrer Brüder erbittert, das
Holz, an dessen Erhaltung der Sage nach Meleagers Leben geknüpft ist,
ergreift und in die Flamme wirft. In den Armen seiner Geliebten stirbt
darauf der König, von unsäglichem inneren Weh gefoltert.
In dem „Raub der Ariadne" (Ariadne ravie 1606) schildert Hardy
vier Akte hindurch das verräterische Benehmen des Theseus und die
Liebe Ariadnes. Der ganze vierte Aufzug ist ein einziger Monolog
Ariadnes, in welchem sie überlegt, welche Todesart sie wählen soll.
Weder Strick, noch Gift, noch Dolch erscheinen ihr passend, und so
beschließt sie endlich, sich ins Meer zu stürzen. Zum Glück erscheint im
letzten Akt Bacchus, der die Verlassene zu seiner Gemahlin erwählt und
alles zum Guten wendet.
In der „Alceste" (1606) führt uns Hardy mit dem riesigen Her-
kules sogar in die Unterwelt, und zeigt uns den Beherrscher der Ab-
geschiedenen in einer keineswegs hoheitsvollen Erscheinung. Um den
Höllenhund Cerberus an die Oberwelt zu bringen, und zugleich die Gattin
1) Cyropaedie, 6. u. 7. Buch.
198
des Admet, die treue Alcestis, dem Tod zn entreißen, steigt Herliules in
das Reich der Schatten, und die erschreckte Parze Atropos eilt, ihrem
Gebieter Pluto die Bändigung des Cerberus anzukündigen. VWährend Pluto
mit Ehadamantus überlegt, was zu thun, kommt der greise Charon in.
Eile, um einen Friedensvorschlag des Herkules zu überbringen. Pluto
soll Alcestis und den gefangenen Theseus freigeben, und gestatten,- daß
Herkules den Höllenhund auf kurze Zeit mit sich nehme. In diesem
Fall verspricht er, sich ohne jede weitere Gewaltthat zurückzuziehen. Pluto
benimmt sich wie ein geängsteter Despot und hört gern auf den Rat
des Rhadamantus , der Milde anempfiehlt , zumal da sich unter den
Schatten eine bedeutende Gährung zeigt und ein Aufstand droht. Pinto
findet, daß Rhadamantus Recht hat, und daß der Klügere nachgiebt.
Demgemäß erteilt er Charon seine Befehle, jedoch mit dem staatskliigen
Auftrag, sich bei der Auslieferung der Alcestis und des Theseus den
Anschein zu geben, als sei hier nur ein Austausch von Gefangenen ver-
abredet. So wahrt der König der Unterwelt seine Würde/) Der ganze
Akt ist durch den Ton, der darin herrscht, merkwürdig. Wir würden
ihn heute, ohne ein Wort zu ändern, als Parodie aufführen können,
aber Hardy sprach in vollem Ernst.
All diese Stücke schließen ohne jede tragische Sühne. Ein auf-
fallendes Beispiel dafür bietet „Scedase, ou l'hospitalite viole" (1604),
ein Trauerspiel, dessen Stotf dem Leben des Pelopidas von Plutarch ent-
nommen ist. Zwei edle Mädchen, Töchter des Scedase in Leuktra, werden
in Abwesenheit des Vaters von zwei jungen Leuten, die arglos als Gast-
freunde aufgenommen wurden, überwältigt und dann getötet. Die
Mörder überfallen ihre Opfer auf der Bühne, schleppen sie hinter die
Scene, und das Publikum hört noch eine Weile das Jammergeschrei der
Mädchen. Der unglückliche Vater findet bei der Heimkunft die Leichen
seiner Töchter und bringt seine Klage vor den König. Dieser weist ihn
wegen mangelnden Beweises ab und Scedase tötet sich selbst. An seiner
Leiche hören wir zum Schluß die Lehre, daß der Mensch wohl daran
thut, seinen Leiden durch Selbstmord ein Ende zu machen.^) Und
„Scedase" war ein Stück, das gerühmt wurde. In seinem schon oben er-
wähnten Gedicht erhebt Theophile diese Tragödie als ein Meisterwerk,
1) AIceste, IV, sc. 1. Am Schluß:
Charon, va luy mener ceste ombre demandee,
Mais fein que je ne Tay qu'en echange aecordee
Du chien qu'il nous detient; si tu le retirois,
Et ma perte et mon los recouvrez je dirois.
-) Siehe „Scedase", am Schluß der einzigen Scene, welche den V. Akt
bildet. Dort sagt Evandre:
Veuf, Sans aucun soulas, en l'arriere saison,
L'ame n'a que bien fait de rompre sa prison,
Depuis que le malheur etouffe l'esperance,
L'homme doit courageux se tirer de souffrance
L'homme doit courageux, malgre l'inique sort,
Ce qu'il ne peut ici, le trouver chez la mort . . . u. s. w.
199
das alles übertreffe.^) Wie beliebt überhaupt Hardy bei seinem Publikum
war, geht schon aus der Zahl seiner Dramen hervor. Die Schauspieler
des Marais hätten ihn nicht so beschäftigt, wenn er nicht den Geschmack
der Zuschauer getroffen hätte. Da er seine Dichtungen anfangs nur zur
Aufführung, aber nicht zum Druck gab, wußten sich die Buchhändler
auf Umwegen in den Besitz mancher Manuskripte zu setzen und ver-
öffentlichten so die beliebtesten Dramen gegen seinen Willen. Darum
entschloß er sich in seinen letzten Jahren, selbst eine Ausgabe der-
jenigen Stücke zu besorgen, die ihm am meisten gelungen schienen. So
veröffentlichte er eine Sammlung von 41 Tragödien, Tragikomödien und
Pastoralen.^) Er widmete sie dem Herzog von Montmorency, und
sagte in der Zueignung, er verschmähe den Witz, die Spitzfindigkeit
und den Bombast ; er sei bestrebt, seinen Dichtungen jene männliche
Ki-aft zu geben, welche der tragische Vers verlange. Mit diesen Worten
meisterte er unter seinen Eivalen jene, die den Marinismus auch in das
Drama verpflanzten und mit Verachtung auf seine Manier als eine ver-
altete und rohe herabsahen.
Hardy hatte das Bewußtsein seiner Kraft und seiner Verdienste
um die französische Bühne. In einem Schreiben an seinen Gönner, den
Parhimentsrat Payen des Landes, sagt er, die Welt wisse zu beurteilen,
was er dem französischen Theater genützt. Er besitze nicht die Eitel-
keit, zu behaupten, daß seinen 500 Stücken gleicher Wert innewohne.
Das dulde die menschliche Natur nicht, und sei zumal ihm unmöglich
gewesen, ihm, dem die Armut mit ihren Ketten den Geist gefesselt und
am Aufschwung zum Himmel gehemmt habe. Allein es genüge, wenn
unter der unglaublichen Anzahl von Stücken das Gute überwiege.
Das Selbstgefühl, mit welchem Hardy sich hier äußert, war nicht
ungerechtfertigt. Wenn er in seinem Alter zurücksah auf die Verhält-
nisse, in denen er die französische Bühne gefunden hatte, und sie mit
dem Stande verglich, zu welchem das Theater sich im Lauf einiger
Jahrzehnte aufgeschwungen hatte, mußte ihn ein freudiges Gefühl der
Befriedigung erfüllen. Denn er konnte sich sagen, daß ihm ein Haupt-
verdienst an dieser raschen Entwicklung gebühre. Er hatte dem franzö-
1) Theophile au sieur Hardy, str. 5:
J'ayme Renaut, et Theagene,
J'en ayme encor un milion,
Mais plus qu'un livre d'Ilion,
Scedase mort dessus ta scene.
2) In 6 Bänden, von 1623 bis 1628 bei verschiedenen Verlegern. Der
1. 1623, der 2. 1624, der 3. und 4. 1625, alle vier bei Quesnel zu Paris. Der
5. erschien in Rouen 1626 bei Du Petitval und der 6. wieder in Paris bei Targa
1628. Ungeachtet all unserer Bemühungen ist es uns hier in Wien nicht ge-
lungen, mehr als den 2. Band dieser Sammlung aufzutreiben. Darin steht vor
den Dramen eine Reihe Gedichte zu Ehren Hardys, unter anderen von Theo-
phile, der den Dichter den „französischen Apollo" nennt, und von Tristan, der
ihn preist als
Un grand ocean de poesie
Parmi ces murmurants ruisseaux.
200
sischen Drama die nötige Beweglichkeit gegeben und es von den Fesseln
der gelehrten Dichtnng befreit. Er verstand es einerseits, dem Geschmack
seiner Landsleute Rechnung zu tragen und anderseits gewisse Grenzen
der Verständigkeit nicht zu überschreiten. Seine Dichtungen waren noch
steif und ungelenk, sie waren ohne Sorgfalt aufs Papier geworfen, ihre
Sprache w^ar rauh und und nachlässig, dennoch barg sich in ihnen
bereits der Keim der künftigen klassischen Tragödie in ihrer Größe und
mit ihren Schwächen. Zudem hatte Hardy zwei Eigenschaften bewahrt,
die ihn vor den mattherzigen Poeten seiner Zeit auszeichneten ; er besaß
Kraft und Natürlichkeit. Nicht ohne poetische Empfindung, nahm er
seine oft treffenden Bilder aus dem Leben der Natur. Ohne in Schwulst
zu verfallen, erhob er sich manchmal zu einem kräftigen Pathos und
erging sich gerne in Sentenzen und Weisheitsregeln. Solche allgemein
giltigen Sprüche waren schon bei den früheren Dramendichtern beliebt
und wurden durch den Druck hervorgehoben, da sie für eine Haupt-
zierde der Tragödie galten. Jedenfalls .war Hardy eine scharf ausgeprägte
Persönlichkeit und der originellste dramatische Dichter Frankreichs vor
Corneille. Er fesselte sein Publikum, stellte den Künstlern neue und an-
ziehende Aufgaben, und weckte das Interesse für die dramatische Kunst
auch in den weiteren Kreisen des Volkes, das bis dahin der Litteratur
ganz fremd gegenüber gestanden hatte. Schon um deswillen müßten wir
seiner Thätigkeit mit Anerkennung gedenken.
Hardy zog keine Schule heran. Dazu war er selbst zu wenig
systematischen Geistes. Aber vielen der jüngeren Dichter diente er
zum Vorbild, indem er sie zum Schaffen anregte. Einer derselben, Jean
Rotrou, der später sogar neben Corneille einen ehrenvollen Platz be-
hauptete, stand ihm in Erfindung und Darstellung gerade in seinen
ersten Versuchen besonders nahe. Diese Erstlingsarbeiten sind ganz so
willkürlich komponiert, wie die Stücke Hardys. Auf Kosten der Charakter-
schilderung legen sie das Hauptgewicht auf die Begebenheiten, und
suchen durch allerlei Verwicklungen, Verkleidungen, Entführungen, Zwei-
kämpfe zu interessieren.^) Selbst der streitlustige Scudery erkannte Hardys
Verdienst an und nannte sich seinen Schüler ; auch Corneille bekannte,
daß er kein anderes Vorbild als Hardy und keinen andern Lehrer als
seinen eigenen natürlichen Verstand gehabt habe.'^) Sicher boten Hardys
ungeregelte, kräftige Stücke einem jugendlichen Dichter mehr Halt und
mehr Förderung als jene gezierten Dramendichtungen, die sich in offenen
Gegensatz zu ihm stellten.
Wenn auch eine Zeit lang unbestritten, mußte Hardys Ruhm doch
nach kurzer Dauer erbleichen. Gerade der rasche Aufschwung des Theaters,
zu dem er mehr als jeder andere beigetragen hatte, ließ sein Verdienst
*) Über Eotrou wird im 2. Band ausführlicher gesprochen werden.
2) Siehe Corneille, Examen de „Melite": „Elle fut mon coup d'essai et
eile u'a garde d'etre dans les regles, puisque je ue savais pas alors qu'il y en
eüt. Je n'avais pour guide qu'un peu de sens commun, avec les exemples de feu
Hardv . . .•
201
bald vergessen. Er vermochte der Entwicklung der dramatischen Dichtung
in seinen letzten Jahren nicht mehr zu folgen. Bald gab es viele, die
ihn für veraltet erklärten. Er überlebte seinen Ruhm und sah mit Bitter-
keit am Abend seines Lebens, wie sich das Publikum mehr und mehr
von ihm abwandte, und die Werke einer jüngeren und verfeinerten
Dichterschule seinen Stücken vorzog. Für „Melite", das erste Lustspiel
Corneilles, das mit großem Beifall aufgenommen wurde (1629), soll er
nur eine verächtlich mitleidige Äußerung gehabt haben.') Doch darf man
solche pikante Geschichtchen nicht gleich für wahr halten. Die franzö-
sische Litteraturgeschichte ist reich an derlei Traditionen, die, ohne
historisch richtig zu sein, doch manch Körnlein Wahrheit enthalten. So
mag man auch Hardy das angeführte Wort zugeschrieben haben, um
die Stellung zu kennzeichnen, welche er seinen jungen Nebenbuhlern
gegenüber einnahm, und, so aufgefaßt, haben auch die Legenden ihre
Berechtigung in der Geschichte.
Yordriiigen des Mariuisuius auf dem Theater,
Die vornehme Welt ließ das Theater eine Zeit lang ziemlich un-
beachtet. Eine Arbeit für das große, ungebildete Publikum, das sich in
den öffentlichen Schauspielhäusern drängte, schien den höfischen Dichtern
nicht anständig oder nicht der Mühe wert. Am Hof und in den Palästen
des hohen Adels hielt man sich bei festlichen Gelegenheiten an die
gelehrten Nachbildungen des antiken Dramas, oder man ergötzte sich
an kleinen Balletten, symbolischen Scenen und Tänzen, die von den
Mitgliedern der hohen Gesellschaft aufgeführt wurden. Ein Besuch der
öfientlichen Theater war für die gebildeten Kreise damals nicht gut
möglich. Die Verhältnisse änderten sich jedoch schnell. Bald durfte, wie
schon früher in Italien, auch in Frankreich kein Fest ohne theatralische
Aufführung bleiben, und die Großen suchten in der Pracht der von
ihnen gebotenen scenischen Spiele miteinander zu wetteifern. Die Stücke
genügten bald nicht mehr, und die vornehmeren Dichter, die Gefährten
und Leibpoeten der einflußreichen Herren, fanden hier eine neue Aufgabe.
Es galt, das französische Drama hoffähig zu machen, es aus seiner
Rauheit zu ziehen und mit dem Geist zu erfüllen, der auf den anderen
Gebieten der Litteratur herrschte und dem Geschmack jener Kreise so
sehr entsprach. So drang mit der größeren Reinheit der Sprache, mit
dem Streben nach Feinheit auch der Ungeschmack, die Sucht nach
Pointen, das Haschen nach schöner Rede in die dramatische Poesie ein.
Überladung und falsche Sentimentalität wurden jetzt, im Gegensatz zu
Hardys Dichtungen, das charakteristische Zeichen der neuen Schule.
Wie der Marinismus die Lyrik verdorben hatte, so drohte er auch jetzt
^) „Une assez jolie farce", siehe Fontenelle in seinem „Leben Corneilles
202
sich im Drama heimisch zu machen und eine gesunde Entwicklung auf
Jahre hinaus zu vereiteln. Eine elegante, schmachtende Komödie zu
schreiben, wurde bald ein Mittel der Empfehlung, der sicherste Weg zur
Gunst eines vornehmen Herrn, der mit dem neuen Poem den Glanz eines
Festes erhöhen konnte.
Unter den lebensfrohen Männern, welche der jugendliche Herzog
Henri von Montmorency damals um sich versammelte, hatte auch ein
Dichter aus der Guyenne, Theophile de Viau, seinen Platz gefunden.
Seine Aufgabe war es, die Verse zu den Maskeraden und Balletten zu
verfassen, welche die hohe Gesellschaft aufzuführen beliebte. Der Gedanke
lag nahe, Theophiles Talent auch für eine größere dramatische Arbeit
in Anspruch zu nehmen.
Mit einer solchen sehen wir ihn denn auch im Jahr 1617 auf-
treten. Sein Drama von der „tragischen Liebe des Pyramus und der
Thisbe", welches in gewisser Weise Epoche machte, war der erste Versuch,
gegen Hardys Manier sich aufzulehnen.^) Trotz der begeisterten Verse,
die Theophile dem alternden Meister widmete, stellte er sich mit „Pyramus
und Thisbe" an die Spitze der Opposition. Die Tragödie erntete rau-
schenden Beifall und bewahrte lange ihren Ruf. Das entzückte Publikum
fand in ihr eine weiche, süße Sprache, stärkere Accente der Leidenschaft,
als es bis dahin gewohnt war, ein zierliches Spiel mit Worten, kurz
alles, was damals für den Inbegriff der Poesie gehalten wurde, und so
sah es in Theophiles Dichtung ein unvergleichliches Meisterwerk.
Prüfen wir sie heute, so finden wir in ihr den Versuch eines An-
fängers, dem die Anforderungen der Bühne fremd sind. Mit ermüdender
Gleichförmigkeit reiht sich Scene an Scene, ohne Verschlingung, ohne
eine Idee von dramatischer Komposition. Der alte Praktiker Hardy er-
weist sich hier ihm überlegen, wenigstens in seinen besseren Stücken.
Theophile behandelt in seiner Tragödie die alte, durch Ovid hinlänglich
bekannte Sage der beiden Liebenden. Es ist die Geschichte der Mon-
tecchi und Capuleti in der antiken Fassung. Zwei edle Familien leben
seit alter Zeit in heftiger Fehde miteinander. Trotzdem haben sich die
Herzen ihrer Kinder gefunden. Pyramus, der Sproß des einen Geschlechts,
liebt Thisbe, eine Jungfrau aus dem Haus der Feinde. Jeder offene
Verkehr ist ihnen unmöglich, aber die Paläste der beiden Familien stehen
Wand an Wand, und ein Mauerspalt erlaubt den Liebenden ihre Liebes-
schwüre auszutauschen. Pyramus ist bescheidener als Eomeo, vielleicht
auch weniger feurig. Er begnügt sich mit der Unterhaltung durch den
Spalt, und Theophiles Stück bietet nichts, was an die reizende, ewig
schöne Balkonscene der Shakespeare' sehen Dichtung nur annähernd er-
innern könnte.
Der erste Akt beginnt mit einem Monolog Thisbes, in dem sie
ihr Liebesleid, „die süße Qual", beklagt. Sie seufzt nach Pyramus, den
') „Les amours tragiques de Pyrame et Thisbe". Gedruckt wurde das
Stück erst später. Eine andere Tragödie, „Pasiphae", die er früher verfaßt haben
soll, wird ihm wol nur irrtümlich zugesehrieben.
203
sie „ihre Seele" nennt. „Doch nein", unterbricht sie sich, „die Seele
giebt uns das Leben, und Du giebst mir den Tod. Und doch ist solcher
Tod ja wahres Leben !"^) Aus dieser Probe ist der Geist zu ersehen,
der das ganze Stück belebt. Thisbe äußert schwere Befürchtungen über
die Zukunft, doch möchte sie von ihrer Liebe nicht geheilt sein, „denn
eine solche Gesundheit brächte ihr den Tod".-) In ihren Gedanken wird
sie von einer alten Duenna, Bersiane, unterbrochen. Diese ist ihr als
Aufseherin beigegeben, und versucht vergebens, den Grund von Thisbes
Melancholie zu erforschen. Die folgende Scene zeigt uns den Vater des
Pyramus, Narbal, der mit Lidias, einem Freund seines Sohns, hadert,
weil derselbe des Pyramus Neigung begünstige. Nachdem sich die beiden
ausgesprochen, verwandelt sich die Scene abermals. Wie vorher Thisbe
mit ihrer Duenna, dann Narbal und Lidias, so sehen wir nun den
König und seinen Vertrauten Syllar. Der König gesteht nun seine Liebe
zu Thisbe, und er hofft erhört zu werden, wenn nur zuvor Pyramus aus
dem Weg geräumt wäre. Er fragt Syllar, ob er ihm diesen Dienst er-
weisen wolle, und entwickelt dabei die weitgehendsten Ansichten über
die Freiheiten und Rechte eines Despoten.^) Syllar erklärt sich nacli
kurzem Bedenken bereit, den Mord zu vollführen.
Im zweiten Akt trifft die Reihe den Pyramus, sein Herz in den
Busen eines Vertrauten auszuschütten, worauf er sich durch den Spalt
in der Wand mit Thisbe in höchst nüchterner Weise unterhält. Es ist
schwer, bei solchen Scenen sich der Erinnerung an Shakespeares „Romeo
und Julia" zu entschlagen, und ebenso taucht dem Leser nur zu leicht
das Bild der Handwerker im „ Sommernachtstraum " auf, welche die
„spaßhafte Tragödie vom jungen Pyramus und Thisbe, seinem Lieb"
agieren. Die Scene wechselt abermals. Syllar überredet seinen Genossen
Deuxis zur Teilnahme am Mordüberfall. „Die Götter sind die Könige
des Himmels, die Könige die Götter der Erde", also müsse man ihnen
gehorchen. Deuxis entschließt sich trotz dieser triftigen Gründe nur
schwer, Syllar seinen Arm zu leihen, und wird auch bei dem Überfall,
der alsbald ausgeführt wird, von Pyramus tödlich verwundet, während
Syllar entflieht. Bevor Deuxis verscheidet, enthüllt er dem entsetzten
Pyramus den eigentlichen Anstifter der That. Und nun ist für diesen
keine Rettung als die Flucht. Die Liebenden beschließen heimlich zu
entweichen, und verabredeten sich, in der folgenden Nacht am Grabmal
des Ninus zusammenzutreffen. Die Scene, in welcher sie den Gedanken
der Flucht fassen, ist die einzige Liebesscene des Stücks. In ihr beteuert
1) Pyrame et Thisbe, A. I, sc. 1, v. 6-10:
II m'est ici permis de t'appeler mon arne;
Mon ame, qu'ay-je dit? c'est fort mal discourir,
Car l'ame nous fait vivre et tu me fais mourir.
11 est vray que la mort que ton amour me livre,
Est aussi seulement ce que j'appelle vivre.
2) Pyrame et Thisbe, I, 1. 38.
3) Pyrame et Thisbe, I, 3. 28: „La justice est au-dessous du roy" und
I, 3. 42: „Car desplaire ä son roy, c'est avoir faict un crime".
204
Pyramus seine unwandelbare Liebe, die ihn eifersüchtig macht auf alles,
was seine Geliebte berührt; er ist eifersüchtig auf die Luft, die sie
atmet, auf die Blumen, die unter ihren Füßen sprossen, auf ihre Augen,
weil sie auf ihren Busen niederblicken, auf ihre Hände, die sie be-
rühren, ja auf ihren Schatten, der ihr zu nahe folgt. Und das soll
die Sprache der Leidenschaft sein ! ^) Nachdem noch Thisbes Mutter
einen schreckenden Traum erzählt hat, der ihr ein nahes Unheil ver-
kündet,^) werden wir an das Grabmal des Ninus versetzt, bei dem die
Jungfrau in nächtlicher Stunde erscheint. Ihr Gebet, das sie an den
Mond und an die Quelle richtet, ist nicht ohne poetische Stimmung,
doch wird sie bald verwischt. Während Thisbe ihres Geliebten harrt,
sieht sie einen grimmigen Löwen nahen, und entflieht vor ihm, verliert
jedoch in der Eile ihren Schleier. Darüber fällt der Vorhang, so daß
sich der Löwe selbst nicht zu zeigen braucht. Der letzte (fünfte) Akt
besteht aus zwei großen Monologen. Pyramus kommt zum Grabmal des
Ninus und findet den Schleier seiner Braut, den der Löwe mit blutigem
Maul besudelt hat. Kein Zweifel, Thisbe ist dem wilden Tier zur Beute
geworden und Pyramus bricht in laute Klagen aus. „Du verdaust bereits
mein Herz!" ruft er jammernd aus. ,. Vollende Dein Mahl, da Du mich
doch schon halb verzehrt hast. Das wäre grausamer, aber weniger traurig. "
Sein Flehen ist umsonst. Der Löwe kehrt nicht zurück. Seitdem er Thisbe
verschlungen, meint Pyramus, ist sein Sinn mild geworden, und die
Tierwelt, Tiger, Löwen, Panther und Bären mit inbegriffen, wird hinfort
nur wahre Engelsgeschöpfe voll Sanftmut erzeugen. Für ihn aber ist
jede Hoffnung auf Glück geschwunden und er ersticht sich. Sterbend
1) Pyrame et Thisbe, IV, 1, v. 42 ff.:
„Mais je me sens jaloux de tout ce qui te touche,
„De l'air qui si souvent entre et sort par ta beuche;
„Je croy qu'ä ton subject le soleil fait le jour
„Aveeques des flambeaux et d'euvie et d'amour.
„Les üeurs que sous tes pas tous les chemins produisent
„Dans l'honneur qu'elles ont de te plaire, me nuisent.
„Si je pouvois complaire ä mon jaioux dessein,
„J'empescherois tes yeux de regarder ton sein;
„Ton ombre suit ton corps de trop pres, ce me semble,
„Car nous deux seulement devons aller ensemble.
„Bref, un sie rare object m'est si doux et si eher,
„Que ta main seulement me nuit de te toucher."
2) Pyrame et Thisbe, IV, 2, v. 35 ff.:
L'heure oü nos Corps charges de grossieres vapeurs,
Suscitent en nos sens des mouvemens trompeurs,
Estoit desjä passee, et mon cerveau tranquile
S'abbreuvoit des pavots que le sommeil distile,
Sur le point que la nuict est proche de finir
Et le char de l'Aurore est encore ä venir . . . etc.
Man vergleiche damit die berühmte Stelle in Raciues „Athalie" (II, 5),
wo die Königin ihren Traum erzählt: „C'etoit pendant l'horreur d'une profonde
nuit" etc.
205
ruft er die freilich tote Tliisbe an, sie mögo in die Wunde seines
Herzens blicken und erkennen, wie wahrhaft sein Schmerz sei.')
Kaum ist Pyramus verschieden, so kehrt Thisbe zurück, da sie
den Löwen ferne weiß. Sie findet die Leiche des Geliebten und hebt
nun ihrerseits zu klagen an. „Selbst dieser Felsen ist vor Schmerz ge-
borsten, um Thränen zu vergießen. Dieser Bach flieht vor mir, weil er
meinen Fehler verabscheut, ruhelos irrt er dahin und seine Ufer sind
kahl geworden. Aurora hat Thränen vergossen, statt Tau zu spenden.
Die Bäume, von Verzweiflung ergriffen, haben Blut in ihrem Stamme
gefunden, der Mond ist bleich geworden und die Erde hat Blut geschwitzt ! "^
Auch Thisbe beschließt zu sterben. Sie sieht den „Dolch, den feigen,
der sich mit dem Blut seines Herrn befleckt hat, und vor Scham darüber
errötet'', und ihn ergreifend, bohrt sie sich die tödliche Waffe in das
Herz. 2) Über den Leichen der beiden Unglücklichen fällt der Vorhang.
Auch in dieser Dichtung konstatieren wir zunächst die Freiheit,
mit welcher die Scene behandelt ist. Theophile beachtet die Regel von
der Einheit des Orts noch nicht. Viel näher schon lag den Dichtern
der Gedanke, die Einheit der Zeit einigermaßen zu wahren. In der
Sprache zeigt sich ein Fortschritt. Theophile hat seine Verse jedenfalls
sorgfältig gearbeitet, und ihnen jene Eleganz und Feinheit gegeben,
welche ihnen die besondere Gunst der vornehmen Gesellschaft erwerben
mußte. Nur ist die Sprache ungleich, und neben zarten Stellen finden
sich Härten, ja Roheiten des Ausdrucks. Nennt doch Thisbe, die zarte
Jungfrau, ihre lästige Duenna einmal geradezu „ein altes Knochen-
gespenst ".^) Es zeigt sich klar, daß die Sprache noch nicht jene Reife
1) Pyrame et Thisbe, V, 1, v. 97 ff.:
En toy, Hon, mon ame a fait ses funerailles,
Qui digeres desjä mon coeur dans tes entrailles
Reviens, et me fais voir au moins mon ennemi,
Encores tu ne m'as devore qu'ä demi;
Acheve ton repas; tu seras moias funeste
Si tu m'es plus cruel . . .
Depuis que ce beau sang passe en ta nourriture,
Tes sens ont despouillö leur cruelle nature.
Je croy que ton humeur change de qualite,
Es qu'elle a plus d'amour que de brutalite.
Depuis que sa belle ame est icy respandue,
L'horreur de ces forests est ä Jamals perdue;
Les tygres, les lions, Ips pantheres, les ours
Ne produirout icy que de petits Amours.
2) Pyrame et Thisbe V, 2, v. 65:
„Je voy que ce rocher s'est esclatte de dueil
„Pour respandre des pleurs, pour m'ouvrir un cercueil.
„Ce ruisseau fuit d'horreur qu'il a de mon injure,
„II en est sans repos, ses rives sans verdure.
„Ha, voicy le poignard qui du sang de son maistre
„S'est souille laschement: 11 en rouglt, le tralstre!"
3) „Vleux spectre d'ossemens", Pyrame et Thisbe I, 1, v. 63.
206
erlangt hatte, welche zum dramatischen Ausdruck der Empfindungen in
den verschiedenen Formen notwendig ist. Theophile selbst besaß nicht
Kraft genug für ein größeres Werk, das Leben und Schwung verlangt,
und er glaubte diesen Mangel am besten dadurch zu verdecken, daß er
die „Concetti" der Italiener, die „Pointen'', die ganze Unwahrheit der
lyrischen Poesie auf die Bühne verpflanzte. Für den Augenblick erreichte
er sein Ziel, aber er gefährdete auch die ganze Entwicklung des
Theaters. Er brachte den Marinismus im Drama zur Herrschaft, und
dieser nistete sich gleich so fest ein, daß er viele Decennien hindurch
sich darin erhielt. Es bedurfte geraumer Zeit, bevor der Geschmack sich
von dieser Verirrung zurückzufinden und das natürliche Gefühl wieder
Geltung erlangen konnte.^) Theophile verzichtete nach dem Erfolg seiner
Tragödie auf jede weitere Thätigkeit für die Bühne. Er fühlte sich, wie
er selbst sagt, nicht dafür geschaffen, und der Zwang, den er sich auf-
erlegen mußte, war ihm empfindlich.^) Sein Leben sollte bald einen
stürmischen Verlauf nehmen.
Theophile de Viau stammte aus einer strenggläubigen Hugenotten-
familie. Sein Großvater war Sekretär der Königin Johanna von Navarra
gewesen , sein Vater hatte aus Mißmut über den Gang der Ereignisse
dem öffentlichen Leben entsagt und sich in eine kleine Besitzung an
den Ufern des Lot zurückgezogen.^) Theophile selbst — denn so wui'de
1) Wie bekannt Marini in Frankreich war, beweist unter anderem Corneille,
der in seiner „Galerie du Palais" I, 5, v. 100 seiner erwähnt:
,.11 n'est pas mal traduit du cavalier Marin"
heißt es dort von einem neuen Buch. Auch Boileau klagte später über die
lange Herrschaft der Pointen in jeder Gattung der Litteratur. Art Poetique I,
V. 41 und 42:
„Hs croiraient s'abaisser dans leurs vers monstrueux,
„S'ils pensaient ce qu'un autre a pu penser comme eux.
Ganz besonders aber II, 105 ff.:
„Jadis de nos auteurs les pointes ignorees
„Furent de l'Italie en nos vers attirees.
„Le madrigal d'abord en fut enveloppe.
„Le sonnet orgueilleux lui-meme en fut frappe.
„La tragedie en fit ses plus oberes delices.
„L'Elegie en orna ses douloureux caprices.
„Un heros snr la scene eut soin de s'en parer;
„Et Sans pointe un Amant n'osa plus soupirer.
2) Siehe Theophile, Elegie ä une dame (Ausgabe von Alleaume in der
Bibliotheque Elzevirienne, I, S. 215), v. 121:
„Autresfois, quand mes vers ont anime la sceine,
„L'ordre ou. j'estois contraint m'a bien faict de la peine.
„Ce travail importun m'a longtemps martyre,
„Mais enfin, grace aux Dieux, je m'en suis retire.
3) Theophiles Gegner nannten ihn Viaud, und behaupteten, er sei der
Sohn eines Dorfwirts. Er splbst aber betont seine adelige Abkunft und erwähnt
auch in seineu Gedichten des väterlichen Landhauses, in dem er seine Jugend
verlebt hatte.
20^
er gewöhnlich kurzerhand von seinen Zeitgenossen genannt — war im
Jahr 1590 zu Clairac (Departement Lot et Garonne) geboren. Zwanzig
Jahre alt, kam er nach Paris, in der Hoffnung, die Gunst Heinrichs IV.,
des einstigen Führers der Hugenotten, zu erlangen. Allein er kam nur
gerade recht, um Zeuge des jähen Wechsels der Verhältnisse zu sein,
als Heinrich unter dem Mordstahl Ravaillacs endete. Bald machte er die
Bekanntschaft des jungen Balzac, mit dem er, wie es scheint, ein wildes
Leben führte. Das Jahr 1612 führte die beiden Freunde nach Holland,
aber bald darauf finden wir sie entzweit, und ihre Wege führten sie
seitdem nicht wieder zusammen. Theophile trat in das Haus des Herzogs
Heinrich von Montmorency, der, ebenfalls jung und lebenslustig, Ge-
sellen wie Theophile gern um sich versammelte. In einer Satire schildert
Theophile sich selbst als dem Genuß ergeben und der Sünde zugethan.
Die Stelle wurde später in der Ausgabe seiner Gedichte als zu gefähr-
lich ausgemerzt.^) Seine antikirchliche, besonders jesuitenfeindliche Hal-
tung, seine freie Sprache machten ihn bald mißliebig. Er gehörte nicht
zu jenen Menschen, welche, voll ethischer Kraft, sich zur sittlichen Höhe
emporschwingen und in der reinen Lehre der Philosophie ihre Stütze
finden. Zu schwach, dem sinnlichen Taumel zu entsagen, suchte er sich
mit der Behauptung von der Nichtigkeit des Daseins zu entschuldigen
und prahlte gern mit seiner nihilistischen Lebensanschauung. Theophile
stieß durch sein Leben und noch mehr durch seine Verse an, die in
den Sammlungen unzüchtiger Gedichte damals kursierten. Allein diese
Fehler hätten ihm weniger geschadet, wenn er sich nicht Ausfälle gegen
die Kirche erlaubt hätte. Er geriet in Lebensgefahr. Im Jahr 1618 waren
zwei Unglückliche, Fran^ois Sity und Etienne Durand, wegen raajestäts-
beleidigender Schriften zum Rad verurteilt worden, und im Jahr 1621
verdammte das Gericht Jean Fontanier zum Feuertod, weil er in seinem
Buch Gott, die Jungfrau Maria und die Christenheit beschimpft habe.
Theophile hatte es also wol nur der mächtigen Fürsprache des Herzogs
von Montmorency zu verdanken, wenn er im Jahr 1619 einfach aus
Paris ausgewiesen wurde. Er zog sich unter lebhaften Beteuerungen
seiner Unschuld zu seinem Vater auf das Land zurück, und bald mußte
er noch weiter wandern. Eine Menge beißender Spottgedichte gegen
Luynes, den Günstling des Königs, welche damals cirkulierten, wurden
1) Siehe seine zweite Satire, jetzt abgedruckt in der „Bibliotheque Elze-
virienne" (I, 241). Die Satire war 'in dem „Parnasse Satirique" (1625i zuerst
veröffentlicht und enthielt die später gestrichene Stelle. Darin heißt es u. a. :
„Qui voudra penitence aux deserts se consomme,
„Qui vive tout ainsi que s'il n'estoit plus horame.
„Ne mange que du foin, ne boive que de l'eau,
„Au plus fort de l'hyver n'ait robe ny manteau,
„Se fouette tous les jours et d'une vie austere
„Accomplisse de Christ le glorieux mystere.
„Moy qui suis d'un humeur trop enclin ä pecher,
„D'un fardeau si pesant je ne puis m'empescher.
„Suy ta devotion, et ne croy point, hermite,
„Que mon ame te blasme, et moins qu'elle t'imite.
208
dem verbannten Dichter zugeschrieben. Er sah sich nun genötigt, Frank-
reich zu verlassen, und begab sich nach England. Von dort wandte er
sich in einer Ode an den König und Itlagte, daß er „fern von der Seine
und der süßen Luft des Hofes" traure, daß ihm die Sonne kaum noch
zu leuchten scheine. Wie sehr die Übertreibung an der Tagesordnung
war, zeigt die Strophe, in der er sagt, er habe sich in eine Wüste
zurückgezogen, wo die Schlangen seine Thränen aufsögen.^) Als dieser
Schmerzensruf nicht gehört wurde, ging er einen Schritt weiter, trat zur
katholischen Kirche über und feierte den mächtigen Luynes in seinen
Gedichten. Dies Mittel wirkte und er durfte zurückkehren. Aufs neue
trat er in Montmorencys Dienst und verlebte nun eine kurze Zeit des
Friedens. Mit dem Dichter Jean Mairet, der ebenfalls in Montmorency
einen Gönner gefunden hatte, schloß er um jene Zeit Freundschaft. Doch
die Feinde ließen ihm nicht Euhe. Im Jahr 1622 wurde der Abdruck
einer schon früher erschienenen Sammlung schlüpfriger Gedichte (,,Le
Parnasse satirique") ausgegeben. Diese zweite Auflage war um einige
Stücke vermehrt worden, welche man Theophile und Golletet zuschrieb.
Ja, des ersteren Name stand sogar auf dem Titel. Theophile protestierte
gegen diese Fälschung des Herausgebers, und so verstrich fast ein Jahr,
bis er auf einmal auf Betrieb der Jesuiten des Atheismus, der Irreligio-
sität und der Sittenlosigkeit angeklagt, in Hast von einem eigens zu
diesem Behuf eingesetzten Richterkollegium für schuldig befunden und
zum Feuertod verurteilt wurde. An demselben Tag noch, dem 19. August
1623, wurde der Spruch vollzogen , und Theophile . der sich in Chan-
tilly, einer Besitzung Montmorencys, verborgen hielt, in effigie verbrannt.
Einige Wochen später wurde er ergriffen und hatte zwei Jahre lang im
Gefängnis zu schmachten . bis ein Spruch des Parlaments das alte Ur-
teil kassierte, Theophile aber doch aus Frankreich verwies. Montmorency
war mächtig genug, ihn vor weiterer Verfolgung zu schützen und durch-
zusetzen, daß man seinen Aufenthalt in Paris übersah. Aber der Dichter
war ein gebrochener Mann. Schon im folgenden Jahr starb er (25. Sep-
tember 1626) im Palais des Herzogs. Theophile war um 100 Jahre zu
früh gekommen, die Gesellschaft zur Zeit Ludwigs XIII. vertrug es noch
nicht, daß man von der Naturkraft als von der einzigeu Gottheit sprach,
oder daß man fand, das erste Menschenpaar sei wegen einer Kleinig-
keit aus dem Paradies gejagt worden. Solche Ansichten aber hatte Theo-
1) „Ode au Roy sur son exil-* (I, S. V6b der oben erwähnten Ausgabe).
Darin heißt es:
„Esloigne des bords de la Seine
„Et du doux climat de la Cour,
„II me semble que l'oeil du jour.
„Ne me luit plus qu'avecques peine.
„J'ay choisi loing de votre empire
„Un vieux desert oü des serpens
„Solvent les pleurs qua je respans
„Et soufflent l'air que je respire.
209
phile in seinen Gedichten zu äußern gewagt.^) Man würde ihn als Dichter
und als Menschen überschätzen, wollte man in ihm einen philosophischen
Geist erblicken; seine etwas freigeistigen Anschauungen genügen nicht,
ihn als besonderen Denker auszuzeichnen. Geschmack findet sich in seinen
Gedichten, sobald sie nach der üblichen Schablone verfaßt sind, ebenso-
wenig wie in seinem Trauerspiel.^) Aber das poetische Gefühl bricht sich
doch mitunter Bahn, und einige seiner Liebeslieder atmen Frische und
Natürlichkeit. Er kennt freilich nur die sinnliche Liebe, aber es thut in
der allgemeinen Öde wahrhaft wohl, auch diese einmal kräftig und frisch
ausgedrückt zu finden.^)
1) Noch andere Äußerungen wurden ihm als Ketzereien und Beweise gott-
losen Sinns vorgeworfen, so z. B. :
Satire Ire, v. 85:
J'approuve qu'un chacun suive eu tout la nature ;
Son empire est plaisant et sa loy n'est pas dure.
Consolation k Mlle. de L. str. 15:
Un homme de bon sens se mocque des malheurs;
II plaint esgallement sa servante et sa fiUe.
Elegie ä une Dame, v. 15':
Celuy qui dans les coeurs met le mal et le bien
Laisse faire au destin sans se meslei de rien.
2j So z. B. in der Ode „Contre rhyver" :
„L'air est malade d'un eaterre,
„Et l'oeil du ciel, noye de pleurs,
„Ne sfait plus regarder la terre.
Weiter unten bittet er den Winter, er möge wenigstens die schöne Cloris
verschonen :
„Espargne, Hyver, tant de beaute!
„Eemets sa voix en liberte;
„Fais que ceste douleur s'allege,
„Et, pleurant de ta cruaute,
„Fais distiller toute la neige.
In einer Ode: „Le Matin", sagt er von den Bossen Auroras:
„La bouche et les naseaux ouverts
„ßonflent la lumiere du monde.
3) Sehr schön und sinnlich wahr sind z. B. einzelne Strophen des Ge-
dichts „La Solitude":
„Dans ce val solitaire et sombre,
„Le cerf qui brame au bruit de l'eau
„Panchant ses yeux dans un ruisseau,
„S'amuse ä regarder son ombre.
„Un froid et tenebreux silence
„Dort ä l'ombre de ces ormeaux,
„Et les vents battent les rameaux
„D'une amoureuse violence.
„Corine, je te prie, approche;
„Couchons-nous sur le tapis vert,
„Et pour estre mieux ä couvert
„Entrons au vieux de ceste röche.
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratiir.
210
Nach dieser Abschweifung kehren wir wieder zum Theater zurück.
Ein Jahr nach der ersten Aufführung von „Pyramus und Thisbe", im
Jahr 1618, trat auch Racan mit einem dramatischen Werk: „Les Ber-
geries" oder „Arthenice" hervor. Schäferspiele waren schon vor ihm be-
liebt gewesen, denn sie wurden schon lange in Italien mit Vorliebe ge-
pflegt, und die „Asträa" hatte in Frankreich dem Geschmack für diese
besondere Art der Idylle doppelte Stärke geliehen. Auch Hardy hatte
Pastoraldramen gedichtet, doch in seiner einfachen Weise. Jetzt aber
brüstete sich in Racans Werk die neue Richtung, die schon in Theo-
philes .,Pyramus" triumphiert hatte. Die „Bergeries" erwarben dem
Dichter allerdings großen Ruhm, allein sie konnten nur in einer Gesell-
schaft gefallen, die wie die damalige so absolut den Ausdruck der Wahr-
heit vermied. Die „Asträa" hatte eine ganz andere Kraft. Wir können
uns heute noch vorstellen, wie man in einsamer Stunde sich in die Lek-
türe des Romans von d'ürfe vertiefen, von einer schöneren Welt träumen
und sich dabei freiwillig über manche Mängel derselben hinaussetzen
konnte. Aber nicht jedes Phantasiebild, das ein Augenblick der Schwär-
merei vor die Seele zaubert, verträgt eine eingehende, klare Behandlung,
wie sie die Bühne erheischt. In Racans „Bergeries" treten die Mängel
dieser Schäferwelt ganz besonders stark hervor. Sie führen uns Zauberer,
Verleumder, Übelthäter vor, und malen uns eine Welt, die zwar phan-
tastisch sein mag, aber vor der Wirklichkeit nichts voraus hat, als daß
sie noch etwas wirrer und schlechter erscheint. Ein dramatisiertes Märchen
hat seinen Reiz, und Dichtungen wie Shakespeares „Sturm" und „Sommer-
nachtstraum" werden immer zu den schönsten Blüten der Dichtung ge-
rechnet werden. Wir nehmen dort die phantastische Welt mit ihren
Elfen und Kobolden gerne hin, und freuen uns der heiteren Laune, die
sie geschaffen, weil wir neben ihr jederzeit wieder die menschliche Natur
in aller Wahrheit und Wärme sehen. Anders aber wirkt ein Werk auf
uns, das darauf Anspruch macht, uns eine idyllische Welt zu zeigen
und in seinen Personen Kinder einer unverfälschten Natur vorzuführen,
statt dessen aber nur die Schwächen, ja die Laster einer raffinierten
Gesellschaft in übertriebener Weise darstellt.
pNe crains rien, la forest nous garde,
„Mon petit ange, es-tu pas mien?
„Ah, je vois que tu m'aimes bien,
„Tu rougis quand je te regarde... etc.
Theophile Gautier hat in seinen „Grotesques" (I. S. 180) aus der „Soli-
tude" ein hübsches Gedicht zuwege gebracht, indem er ungefähr zwei Drittel
der Strophen wegstrich. Die erste Ausgabe von Theophiles Dichtungen erschien
1621 zu Paris bei J. Quesnel, zwei weitere folgten sehr rasch: 1622 und 1623.
Die letztere trägt schon den Titel: „Oeuvres revues, corrigees et augmentees"
(Paris, P. Billaire). Von den späteren Ausgaben ist noch diejenige zu bemerken,
welche G. de Scudery besorgte (Rouen 1632, J. de la Marre), denn sie diente
den folgenden zahlreichen Ausgaben als Grundlage. Mairet verötFentlichte im
Jahr 1641 noch eine Anzahl französischer und lateinischer Briefe seines Freundes.
Vergl. auch Niceron, Bd. 36. Die neueste Ausgabe ist, von Alleaume in zwei
Bänden bearbeitet, in der „Bibliotheque Elzevirienne" (Daffis 1856) erschienen.
211
Versuchen wir es, den Inhalt der „Bergeries" in Kürze anzugeben.
Das Stück spielt in der Umgegend von Paris. Zwei Schäfer, Alcidor
und Lucidas, lieben die schöne Artenice, und der erstere war so glücklich,
ihre Neigung zu erwerben. Doch die Mutter der Jungfrau ist von einem
Traum gewarnt worden. Diana ist ihr erschienen und hat ihr mitge-
teilt, daß Artenice sich nur mit einem Glied der Familie, nur mit einem
Sohn desselben Thals vermählen dürfe. Alcidor ist aber aus einer
benachbarten Landschaft. Darum hat Lucidas noch nicht alle Hoffnung
aufgegeben. Um die Liebenden zu entzweien, nimmt er seine Zuflucht
zu den Künsten eines Zauberers, und dieser zeigt der entsetzten Artenice
mit Hilfe eines Zauberspiegels, während die Erde erbebt, in einem Trug-
bild, wie sich Alcidor mit einer andern Schäferin. Ydalie, vergeht. Ob
solcher Untreue ist Artenice außer sich; sie nimmt Abschied von den
Schäfern und von ihrer Herde, verzichtet auf ihre Hoffnungen und
Vergnügen und will bei den „Vestalinnen", d. h. in ein Kloster ein-
treten. Ihr Vater versucht es, sie von diesem Entschluß abzubringen.
Damoclee, Ydaliens Vater, wohnt der Unterredung bei, und im Übermaß
ihres Schmerzes entschlüpft der guten Artenice das Geheimnis ihres
Kummers. Sie sagt Damoclee, was sie von seiner Tochter wisse. Dieser
eilt nach Haus, um seine Tochter alsbald dem Gericht zu übergeben.
Denn in diesem schönen Land steht auf gewissen Liebes vergehen der
Feuertod. Während das Strafgericht vorbereitet wird, gelingt es dem
verzweifelten Alcidor, der sich ganz wie Celadon ins Wasser gestürzt
hat, ohne ertrinken zu können, Artenice zu versöhnen, und der von
solcher Liebe gerührte Vater setzt sogleich die Hochzeit fest.
Drohender gestaltet sich der armen Ydalie Los. Vergebens sucht
sie der junge Schäfer Tisimandre mit dem Aufgebot aller seiner Bered-
samkeit zu retten, und erbietet sich selbst, an ihrer Statt zu sterben.
Der alte Druide Chindonax ist unerbittlich. Der Bericht des Lucidas
über den Zauberspiegel scheint ihm ein genügender Beweis von Ydaliens
Schuld, und so muß die Arme sich bereiten, den Holzstoß zu besteigen,
als ein Bote die Nachricht von der bevorstehenden Vermählung Artenicens
mit Alcidor überbringt. Lucidas gerät darüber in Wut, und verrät sich
durch unbedachte Äußerungen. Ydalie sieht sich gerettet und reicht ihre
Hand dem mutigen Tisimandre, den sie früher verschmäht hatte. Im
fünften Akt wird Alcidor als ein vor Jahren verlorener Sohn des Da-
moclee erkannt, und das Stück schließt mit einem fröhlichen Hoch-
zeitslied.
Dies ist der Hauptinhalt der Fabel, die freilich noch mit manchem
Abenteuer aufgeputzt ist. Allein nirgends findet man den Versuch einer
Charakteristik; die Personen der „Asträa" sind bei weitem schärfer
gezeichnet, und die einzelnen Figuren der Schäferdramen weisen, mit
ihnen verglichen, sogar einen Kückschritt auf. Die „Bergeries" zeichnen
sich indessen, wie die Gedichte Racans, durch ihre Sprache aus; freilich
spreizen sich darin auch alle die „schönen Gefühle" der höfischen
Gesellschaft. So beklagt einmal die einfache Artenice, daß die Gebote
212
der Ehre sich dem Naturgesetz entgegenstellen.') Die Liebe gilt auch
bei den Schäfern für eine „schöne Leidenschaft", der man huldigen
muß, und die Hirten reden dieselbe gezierte, zugespitzte Sprache wie
die Helden des Salons. Dazwischen singt ein Chor von Hirten gleich
dem Chor der antiken Tragödie, während das Stück doch vor den Thoren
von Paris spielt, einer allerdings sonderbaren Stadt, in welcher, nach
der Versicherung des alten Damoclee, jedes Vergehen gegen die Keuschheit
mit dem Tod bestraft wird. Sollte diese Idee nicht schon damals einen
komischen Eindruck gemacht haben? Daß die „Bergeries" viele Stellen
voll Zartheit und Anmut aufweisen, kann das Urteil über das Ganze
nicht ändern. Es handelt sich hier um die Entwicklung der dramatischen
Litteratur, und da können wir nicht finden, daß die Übertragung des
lyrischen Elements in das Drama, wie ßacan es versucht hat, von Nutzen
gewesen wäre.
Aber das Schäferschauspiel war mit der Dichtung Racans definitiv
angenommen und seitdem eine beliebte Gattung des Dramas. Unter den
Schauspieldichtungen der folgenden Jahre finden sich viele „Pastoralen",
die meistens der „Asträa" entnommen sind. AVir nennen hier nur die
Pastoral-Tragikomödien „Asträa und Celadon" von Raissiguier, „Rosi-
leons Schicksale" von Pichou, „Clorise" von Baro, „Fillis de Scire"
von du Gros, die „Iris" von Coignee de Bourron. „La Justice d'Amour"
von Boree etc. Einer besonderen Erwähnung bedürfen nur Mairets „Sylvia"
und die „Amaranthe" von Gombauld.
Die „Sylvie"' erschien im Jahr 1621, und das Werk des damals
siebzehnjährigen Dichters riß das Publikum zu lauter Bewunderung hin.
In diesem Beifall waren alle Stände einig, das Publikum des öffentlichen
Theaters, wie der aristokratischen Privatbühnen. In der That war ein
großer Fortschritt ersichtlich. Die „Sylvie" ist zwar ein Schäferdrama,
sie führt uns jedoch nicht in die künstliche Welt der gewöhnlichen
Pastoralstücke, sondern versucht es, wirkliche Menschen zu zeichnen.
Sie behandelt die Liebe eines Königssohns zu einer Schäferin. Thelame,
Prinz von Sizilien, hat eine tiefe Neigung zu der schönen Schäferin
Sylvie gefaßt. Er verläßt jeden Tag den Hof seines Vaters Agathokles
und verbringt, als Schäfer verkleidet, köstliche Stunden an der Seite
seiner Geliebten, fern vom Gewühl der Menschen, ungesehen und un-
gestört. Die Liebesworte, die er ihr zuflüstert, verraten allerdings die
galante Sprache des Hofes, aber Sylvie selbst redet in einfacher Weise.
Mairet will ein naives, unschuldiges Mädchen zeichnen und an manchen
Stellen trifft er den Ton in trefflicher Weise, so z. B. wenn sie ihre
Angst ausdrückt, daß ein Lauscher ihr Geheimnis entdecke. -Ganz frei
von gezierten Wendungen ist sie freilich nicht; Mairet hätte sein Gedicht
1) Les bergeries, I, sc. 3:
„Honneur, cruel tyran des belies passions,
„Qui traverse Tespoir de nos affections;
„Et dont la tyrannie aux amants trop cruelle
„S'opposa la premiere ä la loi naturelle."
213
des schönsten Schmucks zu berauben geglaubt, wenn er auf solche
verzichtet hätte. ^) Im Verlauf des Stücks lernen wir Sylviens Eltern
kennen. Die Mutter ist von der hohen Ehre, die der Prinz ihrer Familie
erweist, geblendet, während der Vater vernünftiger denkt, die Ehe für
unmöglich erklärt und seine Tochter für eine bloße Liebelei zu gut hält.
Wir übergehen die einzelnen Episoden des Stücks, das in den ersten
drei Aufzügen eine hübsch komponierte und sinnig ausgeführte Liebes-
idylle entrollt und an das „Wintermärchen" von Shakespeare erinnert,
in dessen viertem Akt Prinz Florizel um seine geliebte Schäferin Perdita
wirbt. Shakespeares Personen reden in solchen Stücken ebenfalls oft die
gekünstelte Sprache ihrer Zeit, aber sie schlagen daneben immer wieder
die Laute der Natur und des echten Gefühls an. Mairet verdirbt sich
den Schluß seines Stücks durch plumpe Effekthascherei. König Agathokles
läßt die Liebenden ergreifen und unterwirft sie in seinem Zorn einem
Zauber, der sie ihres Verstandes beraubt. Von Zeit zu Zeit kommt eines
von ihnen zur Besinnung und beklagt dann verzweifelnd des andern
Schicksal. Der König fühlt Reue, aber die Geister, die er rief, kann er
nicht mehr bannen. In seiner Angst läßt er überall verkünden, daß die
Hand seiner Tochter Meliphile dem zu teil werden solle, der den Zauber
zu brechen vermöge. Zu guter Stunde kommt Prinz Florestan aus Kandia,
der, von der Schönheit der Prinzessin hingerissen, seine Insel verlassen
hatte, um sie zu gewinnen. Er versucht den Kampf. Es gelingt ihm,
eine geheimnisvolle Krystallschale, die an der Decke hängt, zu zerschlagen.
Ein Höllenlärm erhebt sich, Dämonen und furchtbare Gespenster toben
um ihn her und überschütten ihn mit ihren Geschossen, aber er bleibt
fest und die nächtliche Rotte entflieht. Damit ist der Bann gelöst, und
die Liebenden erlangen wieder den Gebrauch ihrer Sinne. Der König
willigt in ihre Vermählung und auch Prinz Florestan erhält die Hand
der schönen Meliphile als Lohn seiner Tapferkeit.
Was die ersten Aufzüge der „Sylvie" bemerkenswert macht, ist
die größere Sicherheit in der Führung, die Einheit in der Behandlung.
Die Sprache ist reiner und ruhiger, als in den bis dahin gekannten
Dramen, und der Ton der Rede ist wärmer geworden. Das erklärt den
großen Erfolg des Stücks, der sich auch in den zahlreichen Ausgaben
spiegelte, welche im Lauf weniger Jahre notwendig wurden. Selbst in
das Ausland drang sein Ruhm, und Jahre nachher konnte sich Mairet
rühmen, daß seine „Sylvie" in Deutschland noch in höchster Gunst
stehe. ^)
1) Siehe „Sylvie", A. I, sc. 3:
J'ay si peur que quelqu'uu ne nous voye,
Que j'en sens de moitie diminuer ma joye.
Je croy que ces rochers ne sont point assez sours
Pour n'avoir pas ouy nos folastres discours. etc
(La Sylvie du Sieur Mairet. Tragi-Comedie Pastorale. A Paris 1628, chez
Fran9ois Targa.j
2) Siehe die „Epitre familiere sur la Tragedie du Cid", welche Mairet
im litterarischen Kampf mit Corneille veröffentlichte. Darin sagte er: „Pour
214
Gombaulds „Amaranthe" (1625) ist eine Nachfolgerin der „Sylvie".
Auch sie erlangte außerordentlichen Beifall, obwol oder vielleicht weil
ihr Verfasser dem herrschenden Ungeschmack nach Kräften huldigte. In
ähnlich manierierter Weise hatte er schon seinen Roman „Endymion"
geschrieben. Auch hier handelt es sich um zwei Liebende, welche durch
die äußeren Verhältnisse geschieden werden. Die Schäferin ist reich, der
Schäfer ist arm. Aber zum Schluß entdeckt man doch, daß der letztere
aus einer edlen Familie stammt, und ihrem Glück steht nun nichts
mehr im Weg. Der aristokratische Charakter der Schäferdichtung tritt
hier deutlich zu Tage. Sie wendet sich nicht eigentlich an das Volk,
betont nicht etwa die Gleichheit der Menschen in einer einfachen, reinen
Welt, sondern sie ist hauptsächlich für die vornehme Gesellschaft be-
stimmt, und ihre Schäfer sind, bis zum geringsten herab, nur verkleidete
Aristokraten, wie sich dies auch schon in der „Asträa" gezeigt hatte.
Das Schäferspiel ist überhaupt ein so künstliches Produkt, eine
Mischung von Drama und Lyrik, es weist eine solche Vermengung der
Gattungen auf, daß es nur in Zeiten eines verirrten Geschmacks gedeihen
kann. Sich gegen die Monotonie zu wahren, wird es genötigt, immer
mehr Elemente des eigentlichen Dramas aufzunehmen, opfert aber damit
seinen Charakter. Auch in Frankreich zeigte sich dies klar. Kaum war
daselbst die wahre Tragödie gefunden , so verlor das Schäferspiel rasch
an Bedeutung. Gegenüber der erschütternden Wahrheit der tragischen, rein
menschlichen Konflikte verblaßte die gekünstelte Welt der schönredenden
und hohlen Schäfer. Schon Corneille hat kein Pastoraldrama mehr gedichtet,
und seit der Erscheinung des „Cid" schwand die ganze Gattung rasch
dahin, um bald ganz vergessen zu werden.
Bas regelmäßige Schauspiel.
Nach langer, vorbereitender Arbeit und mühsamen Versuchen kam
der Augenblick, in welchem die dramatische Poesie eine bestimmte,
dem Charakter der Nation und der Neigung der Zeit entsprechende Form
finden sollte.
W^er die Entwicklung der französischen Poesie auch in den
früheren Jahrhunderten prüft, wird sich leicht überzeugen, daß sie
der freien, fessellos schweifenden Phantasie von jeher wenig Spielraum
gewährte. So darf man sich denn nicht wundern, daß auch die drama-
tische Dichtung sich bald den Forderungen eines verständig ordnenden
Geschmacks fügen mußte. Diese Verständigkeit auf dem Gebiet der Poesie
ma Sylvie que vous nommez les saillies d'un jeune ecolier qui craint encore le
fouet, on ne sfauroit nier, ni vous aussi, qu'elle n'ait eu quatre ans durant,
toute la reputation que puisse Jamals pretendre aucnne piece de Theätre; je
n'en exeepte pas meme les voitres... II est encore vrai que le charme de ma
Sylvie a dure plus longtemps que celui du Cid, vü qu'apres douze ä treize im-
pressions, eile est encore aujourd'hui le Pastor Fido des AUemands".
215
mag manchen als Schwäche erscheinen, und sicherlich leistet sie einer
gewissen Armut, Seichtigkeit und Oberflächlichkeit oftmals Vorschub;
aber anderseits gewährt sie ihr auch Vorzüge besonderer Art und be-
fördert die Gabe scharfer Beobachtung, klarer Auffassung und Darlegung.
Das aber sind gerade für das Drama köstliche, nicht zu unterschätzende
Eigenschaften. Das Streben, dem Theater ein strengeres Gefüge zu geben,
durch Zuhilfenahme von äußerlich aufgefaßten Regeln eine Einheit des
Stücks, eine größere Wahrscheinlichkeit und Verständlichkeit zu erzielen,
hat der französischen Tragödie des 17. Jahrhunderts zwar jene spröde
Form gegeben, welche sie dem Ausland, besonders dem Nordländer, so
leicht verleidet. Diese Richtung aber war es auch, welche dem modernen
französischen Schauspiel die Herrschaft über die Bühnen aller Völker
hat erwerben helfen. Wenn der moderne französische Dramatiker ein so
getreues Bild der Gesellschaft entwirft, wenn er so scharf zu beobachten
gelernt hat, wenn er in so hohem Grad Meister der Form ist und die
Sicherheit des dramatischen Baues besitzt, so ist dies nur eine andere
Seite desselben Charakters und desselben Talents. Kurz, wir haben es
hier mit einer eminent nationalen Eigenschaft zu thun.
Je mehr das Interesse an dem Theater wuchs, desto mehr fand
sich der verständige Sinn des Publikums von der Ungebundenheit, die
auf der Bühne herrschte, abgestoßen. Der wirre Wechsel der Scenen,
die ungeordnete Folge der Begebenheiten, und die Rücksichtslosigkeit,
mit welcher die Dichter den Ort und die Zeit behandelten, mißfielen ihm.
Man verlangte, daß das Theater sich bemühe, seine Vorstellungen in
jeder Hinsicht der Wirklichkeit entsprechend zu gestalten, der Phantasie
der Zuschauer nicht allzuviel zuzumuten.
So drängte alles nach größerer Ordnung und stilgerechter Form,
Ein Hauptvorkämpfer dieser von so vielen Seiten gewünschten
Reform war der Verfasser der „Sylvie".
Jean de Mairet stammte aus einer strengkatholischen Adelsfamilie
Westfalens. Sein Großvater hatte um seines Glaubens willen seine Heimat
verlassen und sich in der damals noch „freien Stadt" Besannen nieder-
gelassen. Die Franche-Comte gehörte zu jener Zeit noch nicht zu Frank-
reich. In Besan^on erblickte Jean de Mairet im Jahr 1604 das Licht
der Welt. Frühzeitig ^verwaist und ziemlich mittellos, kam er nach Paris,
um seine Studien zu vollenden. Schon im 16. Jahr trat er als Dichter
auf und fand mit seiner Tragikomödie „Chriseide et Arimand", deren
Stoff der „Asträa" entnommen war, Beifall und Ermunterung. Sie ge-
wann ihm auch die Freundschaft des Herzogs von Montmorency, der
ihm wie Theophile seinen Schutz gewährte. Von solchem Erfolg gehoben,
gab Mairet das Jahr darauf (1621) seine „Sylvie", von der wir schon
gesprochen haben.
So bekannt ihn diese Dichtung auch machte , sollten doch seine
folgenden Stücke für die Entwicklung der dramatischen Litteratur be-
deutend wichtiger werden. In der Pastoral-Tragikomödie „Silvanire ou
la morte vive", die abermals einer Erzählung der „Asträa" nachgebildet
216
ist, wurde zum erstenmal wieder der Versuch gemacht, die so lang ver-
nachlässigten Lehren von den dramatischen Einheiten zu befolgen (1625).
Mairet schickte seiner „Silvanire" eine ästhetische Abhandlung
voraus, in der das Streben nach dem regelmäßigen Drama seinen be-
stimmten Ausdruck fand. Er widmete seine Abhandlung dem Grafen
Carmail, und erzählte, wie dieser Edelmann und der Kardinal La Valette
ihn schon früher aufgefordert hätten, ein Stück zu dichten, das den An-
forderungen der Kunst entspreche und die Kegelmäßigkeit der italieni-
schen Schauspiele bewahre. Dieser Wunsch habe ihn dazu geführt, die
dramatischen Dichtungen der Italiener genauer zu studieren, und diese
wiederum hätten ihn zu den Werken der alten Griechen und Eömer, als
den Vorbildern aller Poesie, geleitet. Nach längerer Auseinandersetzung
über die verschiedenen Arten der dramatischen Poesie und die Eintei-
lung eines Stücks kommt er auf den Bau und die Erfordernisse eines
guten Dramas zu reden. Er beruft sich dabei auf Aristoteles und ver-
langt, daß das Drama einen einheitlichen Gegenstand behandle, und
nicht etwa mehrere Verwicklungen sich darin neben- und durcheinander
hinziehen. Denn das könne nur verwirrend auf die Zuschauer wirken.
Darauf empfiehlt er die Regeln von der Einheit des Orts und der Zeit.
Er stellt dieselben zwar nicht als unerläßlich dar, aber er meint, schon
der Wunsch, dem Schauspiel größere Wahrscheinlichkeit zu verleihen
und dadurch seinen Eindruck zu verstärken, müsse die Beobachtung
dieser Regeln wünschenswert machen. Unter der Lehre von der „Einheit
der Zeit" verstand man die Beschränkung des Dramas auf den Zeitraum
von 24 Stunden, innerhalb welcher Zeit sich alle dargestellten Begeben-
heiten ereignen mußten. Mairet giebt zu, daß die Beobachtung dieser
Regel die Aufgabe des Dichters sehr erschwere, weil sich „die schönen
Effekte" nur mit Mühe in einen so engen Rahmen fügen lassen. Das-
selbe gilt von der „Einheit des Orts", welche verlangt, daß in dem
Stück der Ort der Handlung nicht wechsle. Über die Ausdehnung dieses
Begriffs war man freilich nie recht einig. Manche verstanden darunter
nur die Beibehaltung derselben Gegend, und gestatteten den Wechsel
der Scene; andere beschränkten die Grenze auf die Stadt, wieder andere
auf den Palast, bis endlich auch die Scene nicht gewechselt werden
sollte und man zu einer ideal gestalteten Halle gelangte, welche gewisser-
maßen jeden Unterschied des Orts aufhob. Doch diese strenge Beobach-
tung der Regeln schien erst später unerläßlich. Mairet wagt sich nicht
weiter als bis zu ihrer dringenden Empfehlung vor. Er meint, man solle
Zeit und Mühe nicht scheuen, denn es sei besser, ein vollendetes Stück als
zweihundert mißlungene zu geben. Mit Bezug auf seine „Silvanire" hebt er
dann, hervor, daß er sich bemüht habe, darin allen den genannten Forde-
rungen gerecht zu werden, denn die Begebenheiten spielten sich innerhalb
24 Stunden ab, die Scene wechsle nicht und alle Regeln seien beobachtet,
welche die Gelehrten aus den Werken des Terenz geschöpft hätten. Ins-
besondere rühmt er, daß sein Werk, nach dem Vorbild des lateinischen
Dichters, die vier zu einer dramatischen Dichtung unerläßlichen Teile : den
Prolog, die Prothesis, die Epitasis und die Katastrophe, richtig enthalte.
217
So enthüllt es sich gleich im Beginn, daß nicht allein das ästhe-
tische Gefühl diese dramatische Reform verlangte, sondern daß sich
auch leidige philologische Gelehrsamkeit einmischte. Mag sie auch in an-
derer Hinsicht wohlthätig gewirkt haben, den Geschmack und das Ver-
ständnis für Schönheit und Poesie hat sie kaum jemals gefördert. Und
so werden wir auch bei dieser Gelegenheit sehen, wie die von einem
Dichter angeregte Reform von einigen Gelehrten bald zu den äußersten
Konsequenzen geführt und gefährdet wurde.
Die Lehre von den notwendigen Einheiten mußte Chapelain und
seinen Freunden besonders zusagen, und sie traten mit ihrer vollen
Autorität für sie ein.*) Dennoch war der Sieg der Regeln nicht so
leicht. Dichter und Schauspieler wollten von dem Gesetz, das sie überall
zu hemmen drohte, nichts wissen und stemmten sich noch einige Jahre
dagegen ; schließlich aber mußten sie nachgeben, wie die Geschichte Cor-
neilles am deutlichsten zeigt. Immerhin war man noch weit von der
pedantischen und albernen Strenge entfernt, mit welcher der Abbe
d'Aubignac 40 Jahre später die Einheit der Tragödie gewahrt wissen
wollte. -j
Den Inhalt der „Silvanire" brauchen wir nicht weiter zu berühren,
und es genügt auch, die Tragikomödie „Virginie", welche Mairet im
Jahr 1628 dichtete, nur vorübergehend zu erwähnen. Er behandelte
darin einen frei erfundenen Stoff, die Schicksale einer Prinzessin von
Epirus. Von diesem Stück aber bis zur wirklichen Tragödie war nur
noch ein Schritt, und diesen that Mairet im Jahr 1629 mit seiner
„Sophonisbe".^)
Diese Dichtung ist die erste im Stil der späteren klassischen
Tragödie, und sie ist darum für die Geschichte der dramatischen Litte-
ratur von Wichtigkeit. Der heroische Tod der Sophonisbe hat die Trauer-
spieldichter zu allen Zeiten gereizt. Schon lange vor Mairet versuchten
Trissino in Italien, Nicolas de Montreux, Montchretien und andere fran-
zösische Poeten, die numidische Königin als Heldin auf die Bühne zu
bringen , und ebenso oft ist sie in späterer Zeit dramatisch behandelt
worden. Fast immer ohne Erfolg. Denn Sophonisbe ist trotz ihres tragi-
1) Die „Segraisiana" (Haager - Ausgabe 1722, p. 144) erzählen: „Ce fut
M. Chapelain qui fut cause que Ton commeufa ä observer la regle des 24 heures
dans les pieces de theätre; et parce qu'il falloit premierement la faire agreer
aux comediens, qui imposoient alors la loi aux auteurs, sachaut que M. le comte
de Fiesque, qui avoit infiniment de l'esprit, avoit du credit aupres d'eux, il le
prla de leur en parier comme il fit. II communiqua la chose ä M. Mairet, qui
tit la „Sophonisbe", qui est la premiere piece oii cette regle est observee". Die
Notiz ist nicht ganz richtig, da Mairet schon einige Jahre vor seiner „Sopho-
nisbe" die „Einheiten" betonte. Aber daß Chapelain die Neuerung- befürwortete,
unterliegt keinem Zweifel. Vergl. Abschnitt IX, S. 157.
-) Siehe „La Pratique du Theätre, par TA-bbe d'Aubignac", die 166!^ er-
schien. Band I, 2. Buch, Kapitel 3—7, S. 72 — 115 (in der Amsterdamer Aus-
gabe 1715).
3) „La Sophonisbe", Tragedie dediee a Monseigneur le garde des seeaux.
Paris 1635, chez Pierre Rocolet.
218
sehen Untergaags eigentlich keine dramatische Figur. Nach der Erzäh-
lung des Livius bekriegte Massinissa. der einen Teil von Numidien be-
hen-schte, im Bund mit den Kömern König Siphax, den Herrn der an-
dern Hälfte des Landes, drang bis Cirta, der Hauptstadt seines Feindes,
vor, schlug diesen und nahm ihn gefangen. In Cirta fand er Sophonisbe,
die Tochter des karthagischen Feldherrn Hasdrabal, welche dem König
Siphax vermählt war, und von Leidenschaft entflammt, feierte er mit ihr
noch an dem Tag seines Einzugs in Cirta die Hochzeit, obwol Siphax
lebte. Auf die Vorwürfe der Kömer aber, welche den feindlichen Sinn
Sophonisbens kannten, opferte er sie wieder auf, und die Königin gab
sich den Tod. ') Appian berichtet freilich in seiner „Kömischen Ge-
schichte", daß Sophonisbe früher dem Massinissa verlobt gewesen sei
und dann, ein Opfer der Politik, ihre Hand dem König Siphax habe
reichen müssen.') Trotzdem ist diese Doppelheirat, sowie die Schwäche
des Massinissa so widerlich, daß jede dramatische Bearbeitung dieser
Geschichte darunter Not leidet. Mairet begriff dies besser als seine Vor-
gänger, und erlaubte sich von der geschichtlichen Wahrheit mehrfach
abzuweichen. Er hält sich an Appians Erzählung und zeigt uns Sopho-
nisbe der früheren Liebe noch eingedenk. Dann läßt er Siphax in der
entscheidenden Schlacht fallen, und die Königin wird dadurch frei. Die
übereilte Vermählung wird nun auch leichter erklärlich, da es sich darum
handelt, Sophonisbe den Kömern zu entreißen Den Charakter Massi-
nissas zu heben, änderte Mairet die Überlieferung dahin ab, daß auch
dieser an der Leiche seiner Geliebten sich den Tod giebt, nachdem er
sie vergebens zu retten gesucht hat. Mairets Verständnis für die Er-
fordernisse einer echten Tragödie leitete ihn richtig, aber ganz konnte
er die falsche Situation der Hauptpersonen nicht bessern. Massinissa
bleibt immer der Schwächling, der nur leidenschaftliche Worte, aber
keine Thaten kennt, sowie auch Sophonisbe, die noch zu Lebzeiten des
Siphax mit Massinissa, dem Todfeind ihres Gemahls und dem Gegner
ihrer Vaterstadt, Briefe wechselt, kein lebhaftes Mitgefühl erwecken kann.
Dennoch war Mairets Tragödie eine für jene Zeit sehr bedeutende
Leistung. Zum erstenmal wurde dem Publikum ein wirklich dramatisches
Werk geboten. Wir haben es in der „Sophonisbe" mit einer ihres Ziels
bewußten Komposition zu thun, wir hören öfters die Sprache wahrer
Leidenschaft, und zum erstenmal finden wir den Versuch einer wirklichen
Charakterzeichnung mit ihren Schattierungen und natürlichen Übergängen.
Der Fortschritt ist unverkennbar, obschon das Stück sehr ungleich ist
und neben schwungvollen Stellen ab und zu durch die Roheit des Ge-
dankens und des Ausdrucks verletzt, und nach echt dramatischen Scenen
plötzlich wieder in die herkömmliche Galanterie und Unnatur verfällt.^)
1) Livius, Buch XXX, Kap. 12-15.
2) Appian, Pco^a'Cxi] larogCa, Bd. X.
^) Der erste Akt beginnt mit einer Seene zwischen Siphax und Sopho-
nisbe. Der König hat ein Schreiben aufgefangen, das sie an Massinissa gerichtet
hat, und macht ihr Vorwürfe darüber. Dabei fragt er sie:
219
Bemerkenswert ist besonders die Charakteristik Scipios, der kein Mittel
der Überredung unbenutzt läßt, und abwechselnd Freundlichkeit und
Milde, Ironie, Strenge und selbst Drohungen anwendet, um Massinissas
Sinn zu wenden. Wie später Corneille seinen Eömern eine fast über-
menschliche Härte und barbarische Große verleiht, so will auch Mairet
schon in seiner „Sophonisbe" das Römertum in seiner egoistischen Politik,
seiner schonungslosen Herrschbegier und Gewaltthätigkeit schildern. Un-
willkürlich werden wir hier an Balzacs Darstellung der römischen Welt
erinnert.^)
Der Erfolg, den Mairet mit seinem Stück errang, war überaus
groß, der Beifall des Publikums enthusiastisch, und wir verstehen recht
gut, warum. „Sophonisbe" war nicht allein eine Dichtung, die so dra-
matisch gefühlt und so effektvoll durchgeführt war, wie keine andere
zuvor; sie trat auch in einer reineren, höheren Form auf. Die Sprache
war markig und wohllautend, und die ganze Tragödie schien einer
edleren Gattung anzugehören, schien den großen Dichtungen des Alter-
tums sich zu nähern. Indem sie, in ihrer Komposition einfach, die Regeln
der drei Einheiten: der Handlung, des Orts und der Zeit, beobachtete,
genügte sie dem gelehrten Kreise; indem sie sich als ein Stück voll er-
schütternder Wirkung auf der Bühne bewährte, gewann sie das große
Publikum, und wie schon bei „Sylvie" stimmten auch jetzt diese so ent-
gegengesetzten Richter im Lob des neuen Werks überein.
Die Bahn, die zur Höhe führen sollte, war nun eröffnet. In dem-
selben Jahr, in welchem Mairet seine „Sophonisbe" aufführen ließ,
brachte ein junger Dichter aus Rouen, Pierre Corneille, sein erstes Lust-
spiel: „Melite", zur Darstellung.
„Sophonisbe" hielt sich noch viele Jahre in der Guust des Publi-
kums, und wurde immer wieder mit neuem Beifall gegeben. Als Corneille
im Jahr 1663 ebenfalls eine „Sophonisbe" schrieb, hielt er es für nötig,
in einem Vorwort zu betonen, daß er mit der Tragödie Mairets nicht
zu wetteifern gedenke. Seit dreißig Jahren, sagte er, bewundere man auf
der Bühne jenes Dichters „Sophonisbe" und sie habe immer noch Er-
„Ne pouvois-tu trouver oü prendre tes plaisirs
„Qu'en cherchant l'amitie de ce prince Numide?
und als die Ankunft des siegreichen Massinissa gemeldet wird, läßt sich Sopho-
nisbe überreden, ihm in koketter Weise entgegenzutreten und die Macht ihrer
Eeize zu versuchen. Hier folgt Mairet ganz dem Zug seiner Zeit, sowie auch
darin, daß Massinissa am Schluß der ersten Unterredung, in der er schon So-
phonisbes Versprechen erhalten hat, zum Pfand „un honnete baiser" verlangt.
Fein aber ist es, daß die Königin doch ihres Triumphes nicht froh wird :
„Phenice, je ne sais ce qui doit m'arriver,
„Mais quelque doux present que le bonheur m'envoye,
„Mon coeur ne gouste point une parfaicte joye.
,.Syphax n'a pas encor les honneurs du tombeau
„Et d'un second hymen s'allume le flambeau. (III, 4.)
1) Siehe Abschnitt VII, S. 107.
220
folg.^) Und in der That gelang es Corneille nicht, das ältere Stück in
Schatten zu stellen.
Aber mit dem Triumph der „Sophonisbe" hatte Mairet auch den
Höhepunkt seines Euhms erreicht. Die folgenden Trauerspiele: „Mark
Anton oder Kleopatra" und ..Soliman oder der Tod Mustaphas". die
beide im Jahr 1630 erschienen, gingen rasch und ziemlich unbemerkt
vorüber.^) Zudem änderten sich Mairets persönliche Verhältnisse. Sein
Gönner, der glänzende Herzog von Montmorency, ließ sich mit Gaston
d'Orleans in eine Verschwörung ein, griff zu den Waffen und wurde in
dem Treffen bei Castelnaudary 1632 von den königlichen Truppen ge-
schlagen und gefangen genommen. Kardinal Bichelieu wollte den Großen
die Lust zum Widerstand ein- für allemal benehmen und ließ ein strenges
Strafgericht ergehen. Montmorency büßte seinen Versuch auf dem Schaffot
(3ü. Oktober 1632). Mairet hat seine Anhänglichkeit und seine Dank-
barkeit nie verleugnet und seinen „Soliman" der verwitweten Herzogin
gewidmet, wobei er ihres hingeschiedenen Gatten in den wärmsten Aus-
drücken gedachte. Einige Jahre hielt er sich von der Bühne fern. Erst
im Jahr 1635 brachte er auf das Andringen des Grafen Belin, in dessen
Haus er getreten war, ein neues Drama, den „rasenden Roland", und
eine christliche Tragikomödie: „Athenais". Aber die Zeit seiner Erfolge
war vorüber. Nachdem er sein Glück noch einmal im Jahr 1637 mit
zwei Stücken, dem „Coisaren" („L'Illustre Corsaire") und mit „Sidonie",
vergebens versucht hatte, und sich durch den Euhm Corneilles ganz in
den Schatten gestellt sah, zog er sich mißmutig von der Bühne zurück.
In dem litterarischen Streit über den „Cid" that er sich unter den Geg-
nern des Dichters durch seine Heftigkeit hervor und schwieg erst, als
ihm Richelieu, in dessen Sold er damals stand, Stille auferlegte. In den
nächsten Jahren war es ihm gegeben, für sein engeres Vaterland, die
Franche-Comte. zu wirken. Das Ländchen hatte in dem Krieg zwischen
Frankreich und Spanien schwer gelitten, und Mairet rettete es vor
dem gänzlichen Ruin, indem er als Vertreter der Grafschaft Burgund
von der französischen Regierung eine einstweilige Anerkennung ihrer
Neutralität erlangte (1649 und 1651). Er blieb seitdem in Paris als
Agent der Franche-Comte, bis er durch ein rasches Wort den Zorn Ma-
zarins erregte, und dieser ihn kurzerhand auswies (1653). Erst nach
dem pyrenäischen Frieden durfte er nach Paris zurückkehren, wo er von
Anna von Österreich freundlich empfangen und für ein huldigendes Sonett
mit einem Geschenk von 1000 Louisd'or geehrt wurde. Doch diese Gunst
konnte ihn nicht dafür entschädigen, daß er seinen Ruhm als dramati-
scher Dichter erblichen fand. Wie einst Hardy sich von Mairet über-
flügelt sah, so empfand jetzt Mairet die Kränkung, sich überholt zu
1) „Depuis trente ans que M. Mairet a fait admirer sa „Sophonisbe" sur
notre theätre, eile y dura encore." Voltaire hat 1764 die Mairet'sehe Dichtung
in einer Bearbeitung für die Bühne neu zu beleben versucht, doch ohne Erfolg.
-1 „Marc-Antoine ou la Cleopatre", tragedie, Paris 1637, chez Antoine
de Sommaville. In 4'\ — „Le grand et dernier Solyman ou la Mort de Mu-
stapha." Paris 1635, chez Aug. Courbe. In 4".
221
.sehen. Die Zeiten der i-asclien Entwicklungen fordern eben ihre Opfer,
und es sind oft die besten Männer, die am härtesten betroffen werden.
Mairet zog sich darum bald in die Stille zurück. Er hatte 1647
geheiratet, sah im Jahr 1668 seinen Adel von Kaiser Leopold erneuert,
und starb zu Besan9on im Alter von 82 Jahren (31. Januar 1686).^)
Langsame]-, aber doch unverkennbar entwickelte sich auch das
Lustspiel in der gleichen Eichtung wie die Tragödie. Von der ausge-
lassenen italienischen Commedia dell' Arte ausgehend, hatte dieses größere
Schwierigkeiten zu überwinden, um zu einer litterarischen Form sich zu
erheben, und größere Zurückhaltung nötig, um zu einem anständigen
Ton zu gelangen. Geraume Zeit kannte man nur das volkstümliche
Püssenspiel. Es ist ja nur natürlich, daß neben und unter der gespreizten
Litteratur. welche die vornehmen Kreise entzückte, noch eine andere Be-
wegung flutete. Die derbe gallische Fröhlichkeit, der rohe, aber treffende
Humor verlangten ihr Recht, und herrschten im Theater des Hotel de
Bourgogne lange Zeit neben der Tragödie. Dort stand ein berühmtes
Komiker-Trifolium : Gaultier Garguille, Gros-Guillaume und Turlupin, in
der höchsten Gunst des Publikums. An ihre Namen knüpft sich eine
ganze Legende. Als Bäckergesellen, heißt es, hätten sie zuerst in einem
Winkeltheater bei der Porte St. Jacques ihre Kunst versucht, und sich,
von dem Erfolg ihres Spiels ermutigt, bald ganz dem Theater gewidmet.
Was man von ihrem Spiel erzählt, läßt die Einwirkung der italienischen
Komödie deutlich erkennen. Gaultier Garguille spielte die Doktoren, die
pedantischen Schulmeister, die geprellten Alten, und galt als der Meister
des Couplets. Gros-Guillaume hatte die Rolle der witzigen Lebemänner,
der unersättlichen Zecher und Fresser, während Turlupin den Verschla-
genen darstellte, der dumm erscheint, um besser betrügen zu können.
Gewisse niedrig- komische, mit plumpen Wortspielen gespickte Possen
wurden nach dem letzteren „Turlupinaden" genannt.-) Der Ruf dieser
Drei war bald so groß, daß sie selbst an den Hof gerufen wurden.
Heinrich IV. ergötzte sich zum öfteren an ihrem Humor, und auch vor
Ludwig XIII. und Richelieu sollen sie ihre Kunst gezeigt haben. Ohne
scenische Vorbereitung spielten sie dann in einem Alkoven, der als Bühne
diente, oder direkt im Saal vor den Großen des Reichs. Nach den Proben,
die uns von ihrer Komik erhalten sind, war sie über die Maßen derb
und unflätig. Aber der Geschmack jener Zeit vertrug in dieser Hin-
sicht viel, und der unverwüstliche Humor, das natürliche Spiel und die
1) Über Mairet vergl. noch die Monographie „Etüde sur la vie et les
Oeuvres de Jean de Mairet", par Gaston Bizos. Paris 1877, Thorin.
~) Gaultier hieß eigentlich Hugues Gueru, in der Tragödie spielte er
unter dem Nameu Flechelle die Könige und hohen Herren. Gros-Guillaume
(Robert Guerin) nannte sich im Schauspiel Lafleur, und Turlupin (Henri Le-
grand) trat in den ernsten Stücken unter dem Namen Belleville auf. — Die
Spaße und Lieder Gaultiers sind in der „Bibliotheque Elzevirienne" neu heraus-
gegeben worden: Chansons de Gaultier Garguille, avec introduction et notes
par Ed. Fournier (Paris 1858, P. Jannet). Vergl. auch Maurice Sand, Masques
et bouffons. Parfaict IV. S. 241, note.
222
Kunst des Gesicliterschneidens sicherte den drei Komikern immer den
Beifall ihrer Zuschauer. Gesunder Menschenverstand und natürliches
Gefühl schienen sich manchmal in diese Possen wie in ein Asyl zu
flüchten ; ihre Sprache klang mitunter wie ein Protest gegen den Un-
geschmack in der höfischen Poesie, wie eine Parodie der Kunstdichtung.
Mußten doch die Schauspieler der Posse unter anderem Namen die
Tiraden der Tragödien und Tragikomödien heruntersagen und in den
schmachtenden Schäferdramen ihre Eollen spielen. Warum sollten sie
sich nicht in der Posse für den ihnen auferlegten Zwang rächen? Sie
überboten die Pointen und gezierten Einfälle der gelehrten Dichtung,
und kämpften in ihrer Weise gegen sie.^) In den dreißiger Jahren raffte
der Tod die drei Komiker rasch hintereinander weg, und dieser Umstand
flocht eine neue Legende um sie. Gros-Guillaume wagte eines Tags einen
hohen Würdenträger auf der Bühne nachzuahmen, und wurde infolge
dieser Keckheit verhaftet. Im Gefängnis aber starb er vor Aufregung
und Angst, und seine Gefährten Gaultier Garguille und Turlupin über-
lebten ihn nicht, so tief war ihre Trauer um den geschiedenen Freund,
den unentbehrlichen Genossen ihrer Scherze. Das lustige Kleeblatt hatte
ein warmes Herz unter dem Schellenkleid bewahrt. Also will es die Sage,
welche freilich mit der geschichtlichen Wahrheit nicht ganz überein-
stimmt.
Mit dem Rücktritt der drei genannten Komiker verschwand wiederum
ein Stück der älteren volkstümlichen Posse. Wol hatte auch das spätere
Theater seine Vertreter der derben Komik, aber alle diese, mochten sie
nun Jodelet, Scapin, Joerisse und wie immer heißen, waren anders ge-
artet, da ja auch die Zeit sich geändert hatte. '^j
') Siehe z. B. die Liebeserklärung in den Strophen, die „Le Desert des
Muses" S. 39—41 mitteilt (abgedruckt in Fourniers Ausgabe des Gaultier Gar-
guille, S. XGIV):
„Si le vilbrequin de vos yeux
„N'eust estocade, furieux,
„Le vieux paletot de mon äme,
„Le serrurier de ma douleur
„Ne vous ouvriroit pas, Madame,
„La faucounerie de mon coeur.
2) Die Posse machte sich nicht allein auf den Bühnen der großen Gesell-
schaften breit; sie herrschte besonders auf den freien Plätzen, und zog dort
das lachlustige Volk heran. Die Plätze bei dem Pont-Neuf, der von Heinrich IV.
erbauten Brücke, und vor den Markthallen waren die richtigen Operationsfelder
für Abenteurer jeder Gattung. Operateure und Charlatane trieben dort ihr
Wesen, und nicht selten hatten sie wandernde Komödianten in ihrem
Dienst, um das Publikum besser anzulocken. So berichtet man von dem Ope-
rateur Braquette, der im Jahr IGil eine italienische Truppe engagiert hatte.
Am bekanntesten von diesen Leuten war um jene Zeit der Mailänder Mondor
mit seinem Gefährten Tabarin. Dieser letztere ergötzte das Volk durch den
komischen Dialog mit seinem Meister und durch kleine, possenhafte Seenen.
Die „Caquets de l'accouchee" sprechen öfters von ihm, z. B. Seite 9 und 262.
Auch Tabarins Scherze wurden gedruckt und haben selbst neuerdings ihren
Herausgeber gefunden. „Oeuvres completes de Tabarin, avec les rencontres,
fantaisies et cop-ä-l'äne facetieux du baron de Gratelard. Le tout precede
223
Solche Verhältnisse erschwerten immerhin die Entwicklung des
wirklichen Lustspiels. Mairet, der für die größere Würde und Reinheit
der Tragödie so eifrig gewirkt hatte, erlaubte sich in einem Lustspiel,
das er 1627 aufführen ließ, in den „Galanteries du duc d'Ossonne",
die größte Freiheit. Die Ungebundenheit der italienischen Commedia
deir Arte in Wort und Spiel konnte kaum weiter gehen als in diesem
Stück. Der Herzog von Ossunna, der von Mairet auf die Bühne gebracht
wurde, war als spanischer Vicekönig von Neapel erst im Jahr 1624
gestorben, und wurde nun schon als Held sonderbarer Liebesintriguen
dargestellt. In der Kürze läßt sich der Inhalt des Lustspiels schwer
erzählen, da es überaus verwickelt ist, und zudem jedem Gefühl des
Anstands und der Moral Hohn spricht. Die Liebhaber wechseln ihre
Geliebten im Handumdrehen, Gift und Dolch spielen eine Hauptrolle,
und die Sprache kennt keine Scheu. Mairet scheint nicht an die Not-
wendigkeit zu denken, die Regel von den Einheiten auch auf das Lust-
spiel anzuwenden, denn er erlaubt sich fortwährenden Scenenwechsel.
Nichtsdestoweniger kann man auch auf dem Gebiet des Lustspiels die
Arbeit und das Ringen nach dem Besseren wahrnehmen, und der Fort-
schritt ist unverkennbar. Junge Dichter, die sich in der Komödie ver-
suchen, vor allen Jean de Rotrou und Pierre Corneille, bemühen sich,
ihr eine höhere Richtung zu geben. Corneille besonders hält sich
nicht an die ängstliche Nachahmung der fremden Stücke, die dem fran-
zösischen Publikum eine unverständliche Welt vorführen. Er versucht
es, ein Bild der französischen Gesellschaft zu geben und läßt seine
Personen reden, wie er sie in seinem Kreise wirklich sich unterhalten
hörte. Er verschmäht die Hilfe des Hanswursts und des Capitans, und
so derb uns heute auch die Sprache seiner ersten Lustspiele erscheinen
mag. so zeigt sie doch einen für jene Zeit beträchtlichen Fortschritt in
der Decenz. Auch bemüht er sich, seinen Personen das schattenhafte
Wesen zu nehmen, sie durch leichte Charakterzeichnung zu unterscheiden
und ihnen dadurch mehr Leben einzuhauchen.
So wuchs das Ansehen der Dichter und des Theaters. Richelieu
hatte für das letztere eine große Vorliebe, und seine Gunst erwies sich
als eine mächtige Stütze. Dramatische Aufführungen waren seine Freude,
und bildeten seine hauptsächlichste Erholung von den Mühen der Staats-
geschäfte. Er unterstützte die Schauspielgesellschaften durch Geldspenden,
oder er ließ ihnen zur besseren Inscenierung neuer Stücke glänzende
Kostüme fertigen. In seinem eigenen Palast baute er einen großen
Theatersaal, und veranstaltete darin dramatische Aufführungen mit dem
Aufgebot aller Pracht; sie dienten ihm zur Verschönerung seiner Feste,
zu welchen er den Hof und die höchste Gesellschaft einlud. Die Dichter,
die er um sich versammelte, ermutigte er, sich der dramatischen Poesie
zu widmen, und man konnte sich ihm nie angenehmer erweisen, als
d'une Introduction et d'une Bibliographie Tabarinique par Gustave Aventin."
•2 Bände. Paris 1858, Jannet (Bibliotheque Elzevirienne). Tabarin starb 1634.
Ihm ähnlich war Cabotin, der einer ganzen Klasse fahrender Schauspieler einen
Namen gab.
224
wenn man seiner Xeiguiig für das Tlieater huldigte. Richelieu selbst
hielt sich für einen Kenner der dramatischen Poesie, und in schwachen
Stunden sogar für einen Dichter. Seine Ideen ausführen zu lassen und
so schnell als möglich in den Besitz einiger Meisterwerke zu gelangen,
geriet er auf den sonderbaren Gedanken, mehrere Dichter zu gemein-
samer Arbeit zu vereinigen. Er gewann zu diesem Behuf außer Bois-
robert, CoUetet, L'Estoile auch noch Rotrou und Pierre Corneille. Die
Art, wie Richelieu die Gemeinsamkeit der Arbeit verstand, zeigt, wie
äußerlich er die Arbeit des Dramatikers auffaßte. Er teilte den fünf
Dichtern den Plan des auszuarbeitenden Stücks mit, und trug dann
jedem von ihnen die Abfassung eines Akts auf. Bei solcher Art der
Arbeit kann von Stil, von Charakteristik, von konsequenter Führung
keine Rede sein. Wenn es sich um eine Reihenfolge leichter, von über-
mütiger Laune eingegebener Abenteuer und Verwicklungen in einer
Posse handelt, welche auf die genannten Eigenschaften leichter ver-
zichten kann, so mag solche Art der gemeinsamen Arbeit am Platze
sein, und ist auch bis in die neueste Zeit angewandt worden. Allein für
ein Kunstwerk, eine wirklich dramatische Dichtung ist sie unmöglich.
Neben den fünf Dichtern mußte auch Chapelain mit seinem Rat helfen,
und einmal sogar seinen Namen leihen. Man bezeichnete die so ent-
standenen Stücke als die Dichtungen der „fünf Autoren", und diese
Bezeichnung blieb ihnen, auch nachdem sich Corneille zurückgezogen
hatte. Dieser arbeitete nämlich nur an dem ersten Stück mit, dem
Lustspiel: ,.La comedie des Tuileries", das Richelieu am 4. März 16o5.
bei Gelegenheit eines großen Festes zu Ehren der Königin, im Arsenal
aufführen ließ. Die Tradition schreibt den zweiten Akt dem Dichter
L'Estoile, den dritten aber Corneille zu.^) Der Prolog war von CoUetet.
Der Plan des Stücks rührte von Richelieu her, und ist herzlich unbe-
deutend. Die ganze Verwicklung beruht einzig und allein auf dem
verbrauchten Kunstgriff einer Verwechslung. Aglante. ein junger Edel-
mann, der Neffe des reichen Arbaze. kommt nach Paris, wo er sich,
dem Wunsch seines Oheims gemäß, mit einer jungen Dame, Cleonice,
vermählen soll. In Paris angekommen, begiebt er sich in einen ..Tempel"
und erblickt dort seine Zukünftige, die er noch nicht kennt, Ihr Anblick
entzückt ihn und erweckt in ihm so heiße Liebe, daß er auf die ihm
bestimmte Braut verzichten will. Er fragt die schöne Unbekannte, wie
sie heiße, und diese giebt einen falschen Namen an. Sie nennt sich
Megate. und auch Aglante hält es für vorsichtiger, sich ihr unter einem
erborgten Namen als Philene vorzustellen. Darauf beruht das ganze
Stück. Während die beiden Liebenden dem Willen ihrer Familien wider-
stehen und sich als Cleonice und Aglante nicht heiraten wollen, schwören
sie sich als Megate und Philene ewige Liebe. Cleonice flieht als Schäferin
1) Voltaire erzählt in der Vorrede zu seinem Commentar des „Cid% daß
er die Mitteilung von Corneilles Mitarbeiterschaft dem Herzog von Vendöme
verdanke, dem Enkel Cäsars von Vendome, welcher der Aufführung selbst bei-
gewohnt hatte. Auch innere Gründe sprechen dafür. Gedruckt wurde das Stück
erst 1638 (Paris, chez Augustin Courbe).
225
aus dem väterlichen Haus und stürzt sich endlich in ihrer Verzweiflung
in den Teich des Tuileriengartens. In der Seine hätte sie ihren Zweck
leichter erreicht, aber die Rücksicht auf die „Einheit des Orts" ließ
sie offenbar diese Wahl treffen. Zum Glück wird sie gerettet, und auch
Aglante, der sich lebensüberdrüssig in den Löwenzwinger geworfen hat,
ist, ein zweiter Daniel, von den furchtbaren Tiei-en verschont worden.
So kann sich schließlich noch alles zum Guten wenden.
Richelieu beaufsichtigte die ganze Arbeit. Wir haben schon ge-
sehen, wie reichlich er Colletet für seine Verse lohnte, dafür aber auch
mancherlei Änderungen vorschlug.^) So konnte er mit Corneille nicht
zufrieden sein, der sich erlaubt hatte, in seinem dritten Akt von dem
vorgezeichneten Plan abzuweichen, und dem der Kardinal deshalb vorwarf,
daß er keinen „esprit de suite" habe. Wir wissen nicht, welcher Art
die Änderung war, welche Corneille vorgenommen hatte. Störte sie den
Gang des Stücks, so war Eichelieus Bemerkung richtig. Aber sie be-
weist dann nur umsomehr, wie wenig solche Fabriksarbeit für einen
selbständigen Dichter geeignet ist. Unter dem Vorwand , daß ihn
Familiengeschäfte in ßouen fesselten, zog sich Corneille von der Ge-
meinschaft zurück. Nicht lange darauf veröffentlichte er seinen „Cid",
und die eben erwähnten Reibereien trugen nicht dazu bei, den Kardinal
für die Kühnheit des neuen Dramas günstiger zu stimmen.
Die „fünf Autoren" mußten nun ohne Corneille arbeiten. Der Er-
folg ihres ersten Werks muß sehr mäßig gewesen sein, denn es ver-
strich geraume Zeit, bis sie einen neuen Versuch wagten. Die Tragi-
komödie „L'aveugle de Smyrne" wurde erst im Jahr 1638 aufgeführt
und auch gedruckt. Eine dritte Arbeit, an der Richelieu großen Anteil
nahm und selbst eifrig mitgearbeitet haben soll, „La grande Pastorale",
wurde vor der Veröffentlichung Chapelain zur Begutachtung vorgelegt,
und dieser sprach sich bei aller Vorsicht in der Wahl seiner Ausdrücke
sehr ungünstig darüber aus. Der Kardinal war anfangs über die strenge
Kritik des Gelehrten erbittert, fügte sich aber nach einigem Bedenken
und gab die Idee auf, mit der „Pastorale" auch litterarischen Ruhm zu
erwerben. Sei es, daß er kein Vertrauen mehr in die gemeinschaftliche
Arbeit setzte, oder daß ihn die Staatsgeschäfte zu sehr in Anspruch
nahmen, während seine Gesundheit stets mehr verfiel; jedenfalls ver-
schonte er seit diesem letzten Versuch seine vier Leibpoeten mit wei-
teren Aufträgen. Doch verfolgte er die Entwicklung des Theaters stets
mit Interesse, drängte auch andere, ihm vertraute Dichter' fortwährend
zur Thätigkeit auf dramatischem Gebiet.
So hat er u. a. Jean Desmarets geradezu genötigt, für das Theater
zu dichten. Desmarets (1595 — 1676) war in Paris geboren und hatte
ein wichtiges Amt in der Marineverwaltung.-) Der Kardinal sah ihn gern
und schätzte ihn als Dichter. Desmarets hatte schon lyrische Gedichte
1) Siehe Abschnitt IX, S. 157.
2) Er war „Controleur General de l'Extraordinaire des guerres et Secre-
taire general de la Marine de Levant".
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratur. -ir.
226
veröffentlicht und arbeitete an einem nationalen Heldengedicht, gleich
seinem Freund Chapelain. Seine Absicht war, den Frankenkönig Chlodwig
zu besingen. Richelieu war indessen damit nicht einverstanden ; er bat
ihn zunächst um einige Entwürfe zu Dramen, die er ausarbeiten lassen
wolle, und als sie Desmarets vorlegte, meinte Richelieu weiter, daß
nur derjenige Dichter die Entwürfe mit Erfolg ausführen könne, der
sie ersonnen habe. So mußte sich Desmarets fügen, und er schrieb 1636
sein Drama „Aspasia". Andere Stücke folgten bald; denn vergebens ent-
schuldigte sich der Dichter mit seinem „Clovis", in dem er den Ruhm
des Kardinals verkünden werde. Richelieu meinte, er sei zu krank, um
den Triumph dieses Epos noch zu erleben, und ziehe den Genuß eines
guten Schauspiels vor. Ja es scheint, daß er sein Vertrauen, das die
„fünf Autoren" nicht ganz gerechtfertigt hatten, nun auf Desmarets
übertrug. Der despotische Minister wähnte wol, wie in der Politik auch
in der Poesie seinen Willen diktieren zu können. Im Jahr 1639 wurde
auf der Bühne des Palais - Cardinal Desmarets Tragikomödie „Mirame"
aufgeführt, und es hieß, daß Richelieu einen bedeutenden Teil derselben
selbst verfaßt habe. Trotz der Pracht der Ausstattung und trotz mannig-
facher Vorsichtsmaßregeln, wie z. B. der Einführung einer Claque, ge-
fiel das Stück doch nicht. Unter den weiteren dramatischen Dichtungen
Desmarets sind noch die „Visionnaires" anzuführen, welche gegen die
Precieusen gerichtet waren. Kaum aber hatte Richelieu die Augen ge-
schlossen, als Desmarets seine dramatischen Dichtungen aufgab, um sich
seinen anderen poetischen Arbeiten zu widmen.') Selbst zwei begonnene
Dramen ließ er unvollendet liegen. Desmarets gehört übrigens wie auch
die anderen Dichter, welche Richelieu beschäftigte, schon zu einer spä-
teren Generation. Rotrou besonders, dessen Dichtungen sich auch in der
folgenden Epoche neben den Dramen Corneilles auf der Bühne behaup-
teten, wird uns in dem zweiten Teil dieses Werks noch besonders be-
schäftigen. Rotrous Mitarbeiter Boisrobert haben wir bereits öfter er-
wähnt, und die zwei letzten der „fünf Autoren", L'Estoile und CoUetet,
waren ohne jede Bedeutung. Es sei darum hier nur noch kurz erwähnt,
daß Claude de L'Estoile, Sieur de Saussay,") der Sohn jenes Pierre de
L'Estoile war, welcher durch seine Memoiren über die Zeit Heinrichs UI.
und Heinrichs IV. für ihre Kenntnis sehr wichtig geworden ist.^) Ge-
boren im Jahr 1602, nach anderen schon fünf Jahre früher, war er
der Liebling des Kardinals und einer der Ersten, welche in die Aka-
demie aufgenommen wurden. Von seinen lyrischen Gedichten sind nur
jene erhalten, welche in den Anthologien der Zeit abgedruckt sind. Die
meisten waren noch nicht veröffentlicht, als L'Estoile 1652 starb, und
1) Die „Oeuvres poetiques du sieur Desmarets" (Paris 1642, chez Henry
le Gras) enthalten seine Dramen : „Roxane", „Scipion", „Les Visionnaires",
„Aspasie" und eine Reihe Gedichte.
2) Siehe Goujet, Bd. XVI, S. 153.
^) „Journal des choses advenues durant le regne de Henri III" und
„Journal de Henri IV". Mitgeteilt in der Sammlung von Memoiren zur fran-
zösischen Geschichte, herausgegeben von Monmerque.
227
ein strenggläubiger Freund, dem er sie anvertraute, opferte sie den
Flammen. An selbständig gearbeiteten dramatischen Werken erschien von
ihm noch eine Tragikomödie: „La belle Esclave" (1643), und ein Lust-
spiel: „La comedie des filous" (1647), beide ohne Wert, trotz der großen
Sorgfalt, mit welcher L'Estoile an ihnen feilte.
Guillaume Colletet (1598 — 1659) war Advokat in Paris, aber ohne
Praxis. Außer den dramatischen Arbeiten, die er auf Geheiß Richelieus
lieferte, hat er nichts für die Bühne gearbeitet. Dagegen war er Lyriker,
und als solcher nicht besser und nicht schlechter als viele andere. Früher
wohlhabend, geriet er allmählich durch seine Sorglosigkeit in große
Armut, die er jedoch mit philosophischer Resignation ertrug. Auch als
Gelehrter und Ästhetiker trat er auf. Seine Aufsätze über verschiedene
litterarische Fragen wurden 1658 in einem Band, unter dem Titel „Art
Poetique" vereinigt, herausgegeben. Sein Sohn, Fran9ois Colletet, der
sich ebenfalls als Dichter versuchte, lebte in sehr ärmlichen Verhältnissen,
was ihm Boileau in wenig großmütiger Weise vorhielt.^)
Das Gesagte wird erkennen lassen, welcher Art Richelieus Einfluß
auf die Entwicklung des Theaters war. Er förderte sie wie ein begei-
sterter Dilettant, dem große Mittel zu Gebote stehen. Seine ästhetischen
Ansichten suchte er ein einziges Mal zur Geltung zu bringen, als er gegen
den „Cid" auftrat, und gerade in diesem Fall hätten die Gegner Cor-
neilles auch ohne den Schutz des mächtigen Kardinals Lärm genug ge-
macht. Im übrigen zeigt sich nirgends, daß Richelieu besondere Ideen
über die dramatische Poesie gehabt, hätte. Die Stücke, die unter seinem
Schutz verfaßt wurden, hatten keinen Charakter; sie scheiterten trotz
ihres Gönners und gingen spurlos unter. In einem Punkt aber hat
Richelieus Vorliebe für das Theater Dichtern und Künstlern genützt. Es
ist unverkennbar, wie sehr die allgemeine Ansicht von der Bedeutung
des Theaters sich damals im Lauf weniger Jahre änderte. Je mehr sich
das gebildete Publikum für das Theater interessierte, umsomehr strebte
dieses, sich solcher Gunst würdig zu erweisen, und diese fortschreitende
Veredlung gewann ihm wiederum die Achtung weiterer Kreise. Und so
gestaltete sich nicht allein die sociale Stellung der Dichter, sondern auch
die der Schauspieler um vieles besser. Das Beispiel Richelieus mußte
hier mächtig wirken. Schon Corneille durfte in seinem Lustspiel „L'IUu-
sion" (1636) von der Bewunderung reden, die man dem Theater zolle.
Was man noch jüngst verachtet habe, sei jetzt allen Gebildeten teuer.-)
1) Boileau, Sat. I, v. 77:
Tandis que Colletet, crotte jusqu'ä l'echine,
S'en va chercher son pain de cuisine en cuisine,
Savant en ce metier si eher aux beaux Esprits,
Dont Monmaur autrefoit fit le9on dans Paris.
2) Corneille, L'Illusion comique, Acte V, sc. 5, v. 57 ff. Clindor ist nach
vielen Abenteuern Schauspieler geworden, und ein Magier, Alcandre, tröstet
darüber Clindors Vater:
Cessez de vous en plaindre. A present le theätre
Est en un point si haut que chacun ridolätre,
15*
228
Ähnlich sagte Mairet in der Vorrede zu seinen „Galanteries du duc
d'Ossonne", das Lustspiel sei so rein geworden, daß jede anständige
Frau das Theater des Hotel de Bourgogne ohne Skrupel besuchen könne,
eine Behauptung, die sich in dem Vorwort gerade zu dem genannten
Stück allerdings sehr sonderbar ausnimmt.^) Die Thatsache war indessen
im ganzen richtig, und wenn die besten Lustspiele jener Zeit stellenweise
noch eine Sprache führen, die uns über die Maßen derb erscheint, so
muß man dabei berücksichtigen, daß selbst die feinste Gesellschaft da-
mals eine Freiheit des Ausdrucks gestattete, welche die ängstlichere
moderne Gesellschaft entsetzen würde.
Einige Jahre später verfügte eine Verordnung Ludwigs XIIL, daß
der Beruf eines Schauspielers fortan nicht mehr als ehrlos betrachtet werden
dürfe.-) Freilich vermag keine einfache Verordnung, selbst eine könig-
liche nicht, die Anschauungen eines ganzen Volkes zu ändern und dessen
Vorurteile zu verbannen. Auch Ludwig XIIL konnte dem Schauspieler-
stand nicht ohneweiters eine geachtete Stellung in der Gesellschaft an-
weisen. Die Mehrzahl der Künstler hatte ein sehr bewegtes Leben hinter
sich, und daß die Welt des Bürgertums sich ihnen gegenüber argwöh-
nisch zurückhielt, ist erklärlich. Diese Verachtung konnte nur langsam.
Et ce que votre temps voyoit avec mepris
Est aujourd'hui Tamour de tous les bons esprits,
L'entretien de Paris, le souhait des provinces,
Le divertissement le plus doux de dos princes,
Les delices du peuples, et le plaisir des grands:
II tient le premier rang parmi leurs passe-temps
Et ceux dont nous voyons la sagesse profonde
Par ses illustres soins eonserver tout le monde,
Trouvent daus les douceurs d'un spectacle si beau
De quoi se delasser d'un si pesant fardeau.
C'est lä que le Parnasse etale ses merveilles;
Les plus rares esprits lui consacrent leurs veilles ;
Et tous ceux qu'Apollon voit d'un meilleur regard
De leurs doctes travaus lui donnent quelque part.
Ähnlich sagt Tristan L'Hermite in einem Gedicht an Mlle. D. D. , um
sie zu ermutigen, daß sie sich dem Theater widme:
Fuy-tu cette profession
Comme suspecte d'infamieV
Aujourd'hui c'est une action
Dont la gloire se rend amie.
Cette crainte est le sentiment
D'une raison qui n'est pas saine,
Depuis que nostre grand Armand
Daigne prendre sein de la scene.
1) Die „Galanteries" erschienen 1631 im Druck. In der Vorrede heißt es:
.,Les plus honnetes femmes frequentent maintenant l'Hötel de Bourgogne avec
aussi peu de scrupule qu'elles feroient celui du Luxembourg".
-) „Que leur profession ne füt plus imputee ä bläme aux comediens et
ne prejudiciät pas ä leur reputation dans le commerce public." Vergl. Moland,.
Ausgabe von Molieres Werken, Bd. I, S. XXXIII.
229
schwinden. Versagte man doch Moliere noch ein christliches Begräbnis,
und selbst im vorigen Jahrhundert verweigerte man der bekannten Schau-
spielerin Adrienne Lecouvreur eine Ruhestätte auf dein Friedhof. Aber
jene Verordnung Ludwigs war ein Symptom des Umschlags in der Stim-
mung; sie brach die Bahn und bezeichnet eine bedeutsame Wendung in
•der äußeien Geschichte des Theaters.
Auch diese Bedingung mußte erst erfüllt sein, bevor sich ein wahr-
haftes Drama erheben konnte. Wie aber im Frühling nach einem weichen,
warmen Regen die Blätterknospen sich überraschend schnell öffnen und,
von der belebenden Sonne durchdrungen, der Wald mit einem Mal in
seinem herrlichsten Laubschmuck prangt, so erging es auch hier. Das
Drama hatte sich so weit entwickelt, daß es nur eines Sonnenstrahls in
ein echtes Dichtergemüt bedurfte, um es zur schönsten Blüte zu entfalten.
Bibliographische Notiz. Zum Schluß verweisen wir noch zur
Vergleichung auf Demogeot, Tableau de la litterature fran9aise au 17™®
siecle avant Corneille et Descartes (Paris 1859, Hachette & Cie.); Tivier,
Histoire de la litterature dramatique en France depuis ses origines jus-
qu'au Cid (Paris 1873, Thorin) und auf Kreyßig, Geschichte der fran-
zösischen Nationallitteratur (Berlin 1873, Nicolai), 4. Auflage.
XI.
S chlußb etr achtung .
Wir haben die litterarische Bewegung in Frankreich während des
ersten Drittels des 17. Jahrhunderts mit Aufmerksamkeit verfolgt und
uns mit den Ideen, den Bestrebungen, den Arbeiten jener Zeit vertraut
zu machen gesucht. Wir wünschten, uns den geistigen und socialen
Zustand des Volkes in einem klaren Bild zu vergegenwärtigen, um die
weitere Entwicklung der Litteratur besser verstehen zu können. In dem
lebendigen Treiben, dem eifrigen und geräuschvollen Thun der ganzen
Epoche, die wir nun rückschauend mit einem Blick übersehen können,
fanden wir zwar eigentümliche Menschen, merkwürdige Kämpfe, folgen-
schwere politische und gesellschaftliche Wandlungen, allein es war uns
nicht vergönnt, unser Herz an wahrhaft großen, das Gemüt erhebenden
Erscheinungen zu erfreuen. Der Wanderer, der einen anstrengenden
Weg zurückzulegen hat, fühlt sich oft durch die Erhabenheit der Natur-
schönheiten, die sich seinem Auge in reizvoller Abwechslung bieten, für
die weitere Reise gestärkt und ermutigt. Nicht ganz so ist es uns bis
jetzt auf unserer Wanderung ergangen. Wir hatten keine Geistesthaten,
welche Marksteine in der Geschichte der Menschheit bilden, zu ver-
zeichnen; keine Werke unvergänglicher Poesie ließen den Glanz jugend-
licher Schönheit verklärend auf die ganze Zeit fallen. Im Gegenteil, unser
Pfad führte uns oft durch dürre Gegenden', welche nur selten einen
erfrischenden Ruhepunkt boten.
Und dennoch bilden diese dreißig Jahre eine wichtige Zeit für die
Geschichte der französischen Litteratur. Denn während derselben wurde
der Grund für den späteren Ausbau gelegt; der ganze Charakter der
klassischen Epoche findet sich in der vorhergehenden Zeit schon bedingt
und in seinen Hauptzügen angedeutet. Ein Verständnis der großen
Litteraturentwicklung von Corneille bis zu Labruyere und Fenelon ist
ohne eine genaue Kenntnis dieser vorbereitenden Arbeit unmöglich.
Wir hatten darum zunächst zu zeigen, welche tiefe Kluft das
17. Jahrhundert von seinem Vorgänger schied. Der Umschwung in den
politischen Machtverhältnissen des Königtums und der verschiedenen
Gesellschaftsklassen, welchen die Bürgerkriege zur Folge hatten, die
Wandlung in den Ansichten, den Gefühlen, dem Geschmack, die bei der
Wende des Jahrhunderts statthatte, bezeichnen eine Revolution, die in
vieler Hinsicht tiefer griff, als die sogenannte erste Revolution zwei
Jahrhunderte später. Wir sahen, wie alles neu zu begründen war, und
■wie es lange Jahre des Tastens und Suchens bedurfte, bevor man sich
231
wieder zurecht fand und eine neue, feste Organisation schaffen konnte.
Nicht minder mühsam war in der Litteratur der Weg von Ronsard bis
Corneille, und die Änderung nicht minder bedeutend. Das Ideal, das
Ronsards Zeitgenossen vorgeschwebt hatte, die Ausbildung einer klassi-
schen nationalen Sprache und Litteratur, sollte erst sechzig Jahre später
von Corneille verwirklicht werden. Allein da die Verhältnisse sich ge-
ändert hatten, trug die Litteratur, die nun erwuchs, andere Blüten, und
zeitigte andere Früchte, als sie getragen hätte, wenn sie sich in dem
Jahrhundert zuvor, von einem aufstrebenden Bürgertum gepflegt, hätte
entfalten können. So aber hatten wir in den einleitenden Abschnitten
nachzuweisen, wie der dritte Stand durch eine gewaltsame Reaktion ge-
schwächt wurde, und sich an dem Aufbau der Litteratur nur in geringem
Maß beteiligen konnte.
Bei der Betrachtung der Verhältnisse in den ersten drei Decennien
des Jahrhunderts fanden wir mehrere Erscheinungen, deren Zusammen-
treffen bewirkte, daß das Geistesleben des französischen Volkes die
Richtung annahm, welche es so lange konsequent verfolgte. Es war
zunächst der Einfluß, den der Adel fast ausschließlich auf die Litteratur
ausübte, sodann die Einseitigkeit der Ideale jener Zeit und die Ai'mut
ihrer Gedankenwelt, sowie endlich das dadurch hervorgerufene Über-
gewicht der äußeren Form über den geistigen Gehalt in den Schöpfungen
der ganzen Epoche.
Nur die hohe Gesellschaft hatte zu jener Zeit die Bildung, die
Mittel und die nötige Muße, um sich für die Litteratur zu interessieren
und sie durch ihre Teilnahme und freigebige Unterstützung zu kräftigen.
Der politischen Macht beraubt, mehr und mehr an den Hof gefesselt
und ohne ernste Aufgabe, suchte der Adel sein Genüge in einem bald
gröberen, bald edleren Lebensgenuß. Die Dichtkunst schien ihm dazu
eine passende Hilfe; sie galt ihm eben auch nur als ein Zeitvertreib,
als ein Schmuck des geselligen Lebens. Aber indem die vornehme Ge-
sellschaft ihrem Geschmack an den Worten der Dichtkunst Raum gab,
gewann sie dadurch einen maßgebenden Einfluß auf dieselbe. Sie
bestärkte die Litteratur in ihrem Streben nach Feinheit, Eleganz, Klar-
heit, wie sie ihrerseits durch das rege Interesse für die Werke des
Geistes sich selbst hob und jene Bildung erlangte, welche sie vor der
Aristokratie anderer Länder so vorteilhaft auszeichnete. Diese über-
mächtige Einwirkung der hohen Gesellschaft auf die Entwicklung der
Litteratur hatte indessen auch ihre großen Nachteile. Wenn auch die
Mittelklassen schon zur Zeit Ludwigs XIV. einen stetig wachsenden
Anteil an der Litteratur nahmen und ihr einen neuen Geist ein-
hauchten, so hat doch die französische Dichtung des 17. und 18. Jahr-
hunderts niemals verleugnen können, daß sie sich aus einer höfischen
Litteratur entwickelte. Man sehe, wie sich ein Jahrhundert später, unter
den ungünstigsten Verhältnissen, aber frei aus dem Volksgeist erwachsend,
die klassische Litteratur in Deutschland entfaltete, und man wird den
Unterschied verstehen, der durch diesen entgegengesetzten Gang der
Entwicklung hervorgerufen wurde.
232
Der zweite Faktor, den wir betonea mußten, war die geistige
Armut der damaligen Zeit, und ihr Mangel an Schwung. Die Polgen
der verderblichen Bürgerkriege, die den Kern des Volkes am schwersten
betroffen hatten, machten sich immer noch schmerzlich fahlbar. Die
Nation sehnte sich nach Ruhe, sie suchte neue Kräfte zu sammeln und
war jedem Kampf, besonders jedem Kampf um höhere geistige Güter
auf längere Zeit abgeneigt. Nirgends verspürte mau den Hauch eines
erhebenden, das Gemüt läuternden Strebens nach Humanität, nach Frei-
heit, nach Wahrheit. Selbst die Philosophie wagte nur schüchtern einige
Schritte von dem betretenen Weg abzuweichen. So sprach aus der Litte-
ratur der damaligen Zeit kein mächtiger Volksgeist. Die französische
Litteratur kümmerte sich noch nicht um das Volk und konnte folglich
anch nicht zu ihm reden. Sie konnte nur die Anschauungen, und Ideale
der aristokratischen Gesellschaft, eines engbegrenzten Kreises, zur Geltung
bringen. Diese Ideale aber hatten keinen hohen Flug; sie waren mehr
eine Sache der Konvention und künstlich zur Geltung gebracht. Nur
in der damals so eigentümlich gekünstelten vornehmen Welt der roma-
nischen Länder konnten sie ihre Entstehung finden und sich längere
Zeit erhalten. Liebe und Ehre galten als die beiden Leitsterne, welche
die edlen Menschen führen sollten; Liebe und Ehre erschienen als die
einzigen Güter, um welche ein ritterlicher Sinn sich mühen solle, deren
Besitz allein dem Leben einen Wert zu geben vermöge. Und selbst diese
beiden Begriffe waren sonderbar entstellt. Wir haben gesehen, wie das
Gefühl der Liebe jeder wahren Eegung entfremdet und, durch spitzfindig
ersonnene Begriffe gefälscht, zur frostigen Galanterie wurde ; und in
ähnlicher Weise beschränkte sich die Idee der Ehre auf eine von klein-
lichem Geist geregelte Standesehre, deren Gebote dem größeren Publikum
niemals verständlich werden konnten.
Wir werden die Ideale des 17. Jahrhunderts und deren Einfluß
auf die klassische Litteratur Frankreichs in unserem zweiten Teil
genauer besprechen. Hier wollen wir nur darauf hindeuten, daß man im
Beginn des 17. Jahrhunderts umso größeres Gewicht auf die äußere
Form legte, je geringer damals die Kraft des geistigen Lebens war.
Nach so schweren Stürmen wollte man das Leben genießen; aber man
begann, den Genuß in feinerer Form zu wünschen. Man centralisierte,
oreinete, vereinfachte, wie in der Politik, so in der Litteratur; man
klärte, feilte, regelte die Beziehungen des geselligen Lebens nicht minder
wie die Sprache und die Erzeugnisse der Dichtung. Eine verständige
Nüchternheit gab auf allen Gebieten den Ton an.
Trotz dieser entschiedenen Betonung der Form kam man über
eine enggezogene Grenze nicht hinaus. Es fehlte die Harmonie, das
Feuer der Begeisterung im Leben wie in der Litteratur. Die Arbeit der
ganzen Epoche war mehr vorbereitender Natur, und eine geraume Zeit
mußte verstreichen, bevor die Sprache die ersehnte Ausbildung erlangte.
Aber mit diesem formalen Gewinn war nicht viel erreicht, wenn nicht
gleichzeitig das Volk in seinem areistigen Leben erstarkte.
233
Eine Litteratur , die nur für eine kleine Schichte des Volkes be-
stimmt scheint, muß einseitig werden und verarmen. Auf diesem Weg
war die französische Dichtung trotz aller ihrer reformatorischen Be-
mühungen. Sollte sie wirklich Großes leisten, so mußte zuvor der Bann,
der sie lähmte, gebrochen und das Volk selbst zur Teilnahme gerufen
werden. Diese Aufgabe übernahm die Bühne, die ohne die Teilnahme
weiterer Kreise nicht bestehen kann. Darum sehen wir die dramatische
Dichtung in so rascher Entwicklung, sobald nur einmal die Aufmerk-
samkeit des Volkes für sie gewonnen ist. Während auf den anderen Ge-
bieten der Poesie : in der Lyrik, im Epos, im Roman, die alte Manier
noch lange vorherrscht, erhebt sich das Drama im Lauf weniger Jahre
zur Höhe einer nationalen klassischen Dichtung. Die dramatische Poesie
eröffnete die Epoche der großen französischen Litteratur und wußte auch
später den klassischen Charakter am reinsten und entschiedensten dar-
zustellen.
. In den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts erhoben sich zwei
Männer, welche den Geist des französischen Volkes vorzüglich zum Aus-
druck brachten und auf ihre Landsleute den mächtigsten und nachhal-
tigsten Einfluß ausübten, Corneille und Descartes. Wie Corneille durch
sein Sprachgefühl, seine stürmische Beredsamkeit, den Schwung und die
Kraft seiner dramatischen Dichtungen der französischen Litteratur eine
neue Richtung gab, die sie lange Zeit bewahren sollte, wie er der poe-
tischen Sprache seines Volkes eine bis dahin ungekannte Schönheit und
Macht verlieh, so förderte Descartes fast gleichzeitig durch seine philo-
sophischen Arbeiten die seit lange begonnene Ausbildung der Prosa, und
sicherte der rationalistischen Denkweise, die schon vor ihm zur Geltung
gelangt war, die dauernde Herrschaft in Frankreich. Er brachte den
Charakter der Nation in seinem „Discours de la methode" so wunderbar
zum Ausdruck, daß dieses Werk bis heute noch als die wichtigste philo-
sophische Leistung Frankreichs anzusehen ist.
Corneille und Descartes sind die zwei mächtigen Geister, welche
die französische Litteratur zur Höhe führen und ihr den Stempel ihres
Geistes .aufdrücken. Ihnen wird daher der folgende Teil unseres Werks
vorzugsweise gewidmet sein.
II. Theil
Die Litteratur
unter dem Einfluß der aristokratischen Gesellschaft.
1636—1653.
Einleitung.
Auf seinen Wanderungen durch fremdes Land gelangt der Rei-
sende wol manchmal auf eine Höhe, wo sich ihm unerwartet eine neue
weite Aussicht öffnet. Sein überraschtes Auge schweift über eine frucht-
bare Ebene, die von einem mächtigen Gebirge begrenzt wird. Wie eine
glatte, blaue Wand steigt es am Horizont empor, aber obwol noch
meilenweit entfernt, läßt es schon deutlich seinen Charakter erkennen.
Denn die Höhen heben sich entweder in schön geschwungenen, harmo-
nischen Linien von dem Himmel ab oder sie zeigen in der unregel-
mäßigen Folge jäh aufsteigender Spitzen und tief eingeschnittener Thäler
das Bild der Rauheit und wilden Laune. Was aber in der Ferne tot
und eintönig erschien , gewinnt mannigfaltige Form und individuellen
Charakter, sobald man sich nähert, bis sich zuletzt ein zauberhaftes
Bild landschaftlicher Schönheit entfaltet. Wo der Wanderer früher nur
eine gleichförmige Gebirgsmasse gesehen hat, entdeckt er jetzt vorsprin-
gende Hügel und sanfte Thäler, ein reizendes Farbenspiel von Licht
und Schatten; bemerkt er, weiter vorschreitend, den Wechsel von Wald
und Wiesen, nacktem Gestein und fruchtbarem Feld, findet" er überall
Leben und Kultur. Wie anders wirkt dieses Einzelbild in seiner Mannig-
faltigkeit auf ihn ein, und doch wird es das erste allgemeine Urteil
über die Natur des ganzen Gebirgszugs nur bestätigen.
Ähnlich ergeht es uns mit der Geschichte der Nationen. Über-
sichtlich betrachtet, zeigt jedes Volk einen eigentümlichen Charakter,
dessen Bild uns unverwischt erhalten bleibt, auch wenn uns bei genauerer
Erforschung seines Wesens eine Fülle eigenartiger Gestalten und ver-
schiedenster Typen entgegentritt. — Nicht anders verhält es sich mit
i-em Urteil über die einzelnen Jahrhunderte. Ein jedes erscheint uns .
238
zuerst wie von einem Streben, von einem Willen beseelt, demselben
Geschmack huldigend, wie ein selbständiges, sein eigenes Leben füh-
rendes Individuum. Geht man jedoch näher in seine Geschichte ein, so
erkennt man bald auch hier, wie bei dem Gebirge am Horizont, lebens-
volle Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Erscheinung. Was uns
einheitliches Streben schien, zeigt sich nun vor unserem Blick als auf-
und abwogender Kampf, als Sieg, Aufschwung und Niedergang.
Die einleitenden Seiten unseres ersten Teils haben die Arbeit des
17. Jahrhunderts als eine den Reformideen der früheren Zeit entgegen-
gesetzte Thätigkeit bezeichnet. Als charakteristisch erschien uns sein
Streben nach Ordnung und Klarheit, mit dem sich ein feiner Sinn für
die Schönheit der Form verband. Wir sahen, wie diese Tendenzen in
der Politik zur Centralisation und straffen Organisation , zur Stärkung
der königlichen Macht führten; wie sie im geselligen Leben der oberen
Klassen einen oft künstlichen, im ganzen aber geistig angeregten Ver-
kehr begründeten , wie sie in der Litteratur den Weg zur klassischen
Höhe zeigten.
Dieser Eindruck bleibt uns, auch wenn wir die einzelnen Ereig-
nisse schärfer ins Auge fassen. Die Menschen jener Zeit lassen alle den
fördernden oder mäßigenden Einfluß dieses Grundzugs erkennen, mögen
sie sonst auch ihrem Charakter nach völlig verschieden sein. Das Frank-
reich des 17. Jahrhunderts schlug keine jener großen geistigen Schlachten,
die oft das Schicksal ganzer Erdteile bestimmen ;- es bebte nicht unter den
Zuckungen innerer Leiden, schwerer Seelenkämpfe, die in den glühenden
Worten einzelner ihren Ausdruck finden: es hatte keinen Dante, keinen
Eousseau. Es kannte nicht jene Unruhe der Seele, nicht den dunklen
Drang, den verzehrenden dämonischen Durst nach Wissen und Genießen,
und so schuf es auch kein Gedicht, in dem sich, wie im „Faust'-, das
bedrängte Gemüt einer ganzen Generation offenbart.
Gerade im Gegenteil. Das 17. Jahrhundert brachte für Frankreich
eine Zeit der Sammlung, der harmonischen Übereinstimmung zwischen
Sinnen und Handeln, Wollen und Vollbringen, zwischen den Gedanken
und ihrem Ausdruck, der Sprache. Nach den furchtbaren dreißigjährigen
Religionskriegen ist es geradezu wunderbar, das Volk nicht etwa in arm-
seligem Dahinsiechen zu erblicken, sondern eine Nation zu finden, welche
den Eindruck jugendlicher Ki'aft macht und im entschiedenen Aufschwung
begriffen ist. Freilich war das Bürgertum, das in früherer Zeit republi-
kanische Gesinnung gehegt und seinen Anteil an der Regierungsgewalt
verlangt hatte, zurückgeschlagen worden. Es hatte die Kraft und den
Mut verloren, sein Recht aufs neue direkt zu fordern. Aber es gab seine
Ansprüche nicht auf; es wählte nur den sicheren Weg statt des gefähr-
lichen Pfads, indem es in langsamer Arbeit erst seine Kräfte sammelte
und darauf bedacht war, das Nächstliegende zu erreichen, um sich wieder
eine feste Stellung zu schaffen. So war der Kampf um die Herrschaft,
den man im 16. Jahrhundert geführt hatte, noch keineswegs ausgerungen ;
er war nur auf ein friedliches Feld übergeleitet und man focht mit an-
239
deren Waffen. Ja selbst der religiöse Streit, der mit Heinrichs IV. Be-
kehrung geschlichtet schien, währte im stillen noch fort. Von Zeit zu
Zeit züngelten die Flammen unter der dichten Aschendecke hervor, und
bewiesen, daß die Lohe noch keineswegs erloschen war.
Dem 17. Jahrhundert seinen Charakter noch deutlicher aufzuprägen,
vereinten sich drei Factoren : die überwältigende Macht des neu auf-
lebenden Altertums, der Einfluß Spaniens und Italiens, sowie das Bündnis,
das seit kurzem Königtum und Papsttum miteinander geschlossen hatten.
Wir haben bereits in dem ersten Teil dieses Werks die Einwir-
kung des alten Rom nachgewiesen. Sie machte sich nicht aHein in der
Litteratur geltend, sondern formte auch die politischen Anschauungen
des französischen Volkes um. Aber nicht das republikanische Rom, son-
dern die Stadt der ersten Cäsaren mit ihrer Theorie des unumschränkten
Herrschertums und ihrer höfischen und rhetorischen Litteratur wurde für
das 17. Jahrhundert maßgebend.
Nicht minder anregend war das Vorbild der spanischen und itali-
schen Nachbarländer; dasselbe wirkte sogar noch stärker, weil es nahe
und lebendig war. In der Vorrede zu „Persiles und Sigismunde" konnte
Cervantes behaupten, daß jedermann in Frankreich sich mit der spani-
schen Sprache beschäftige.^) Wie die Schauspiele, die Romane, wie die
Sitten- und Lebensanschauungen von jenseits der Pyrenäen und der Alpen
nach Frankreich gebracht wurden, haben wir schon geschildert. Doch
hat man vielleicht noch nicht genugsam beachtet, daß auch die Theorie
von der königlichen Machtvollkommenheit aus Spanien kam, wo die
Könige früher als anderswo jede hemmende Fessel abgestreift und be-
sonders die Cortes der einzelnen Provinzen ihrer politischen Bedeutung
beraubt hatten. Ludwig XIV., der seine Autorität so unumschränkt ge-
staltete, hat auch hierin, bewußt oder unbewußt, nur das Vorbild der
spanischen Habsburger nachgeahmt. Selbst die Kirche hatte sich vor
den Königen von Spanien beugen müssen. Schon Ferdinand der Katho-
lische hatte für sich und seine Nachfolger dem Papst gegenüber das
Recht behauptet, die geistlichen Stellen in seinem Land nach eigenem
Gutdünken zu besetzen.
Frankreich in der einmal eingeschlagenen Richtung festzuhalten,
half noch ein dritter Umstand: das Bündnis des Königtums mit der
Kirche. Während sich die Hierarchie in den früheren Jahrhunderten
grundsätzlich der fürstlichen Gewalt widersetzt hatte, um sie nicht selbst-
ständig und übermächtig werden zu lassen, hatte Papst Pius IL zuerst
diese Tendenz mit Bewußtsein aufgegeben, und seit dem Schluß des Tri-
dentiner Konzils (1563) ging das Papsttum Hand in Hand mit dem
Königtum.^) Geistliche und weltliche Macht versöhnten sich, um die ge-
fährlichen Neuerer, welche Staat und Kirche reformieren wollten, ge-
1) Darüber, wie überhaupt über den Einfluß Spaniens und Italiens auf
Frankreich siehe I. Teil, S. 18, dieses Werks, sowie E. Baret, Espagne et Pro-
vence, Clermont-Ferrand, 1857, p. 214.
2) Siehe Leopold v. Ranke, Geschichte der Päpste, I, S. 351 (4. Aufl. 1854).
240
meinsam zu bekämpfen. Wie sich nun nach der Beendigung der Huge-
nottenkriege Frankreich in seinem staatlichen Leben überraschend schnell
erholte, so zeigte auch die katholische Kirche, die schwer gelitten hatte,
das Bemühen, sich in den Gemütern des Volkes neu zu befestigen. Der
Klerus wurde reformiert, die in Prankreich ansässigen Mönchsorden der
Benediktiner, Cistercienser, Augustiner einer strengen Disciplin unter-
worfen, fremde Orden neu nach Frankreich verpflanzt. Im Jahr 1604
wurde das erste Kloster der Karmeliterinnen , die aus Spanien kamen,
in Frankreich begründet, und nach 25 Jahren zählte man deren schon
vierzig.
Jeanne de Rabutin-Chantal, die Großmutter der Sevigne, vernach-
lässigte zwar die Erziehung ihres Sohns, gründete aber mit Fran^ois
de Sales den Orden der „Visitandines" oder Salesianerinnen und errichtete
für denselben über achtzig Klöster. Der Freund Descartes', Kardinal
Berulle, stiftete 1613 den Orden „de rOratoire'% dessen Mitglieder sich
der Ausbildung der Geistlichen widmeten. Vincenz de Paula reformierte
die Armen- und Krankenpflege, und suchte mit der Hingebung eines
opferfreudigen Gemüts das unsägliche Elend, das er überall fand, zu
lindern. Besondere Aufmerksamkeit aber schenkte die Kirche der Er-
ziehung des Volkes. Unter Heinrich IV. kamen die Jesuiten zurück
und übernahmen einen größeren Teil des Unterrichts. Im Jahre 1606
erneuerte Heinrich ein altes Edikt, das den Volksschullehrern auferlegte,
sich von den Geistlichen hinsichtlich ihrer Fähigkeit prüfen zu lassen,
und die Bischöfe beförderten eifrig die Verbreitung der öffentlichen
Schulen. Ihr Zustand war freilich jämmerlich genug. ^)
In der ersten Zeit des Jahrhunderts war man sich des Ziels noch
nicht klar bewußt. Wir haben gesehen, wie die innere Politik nach dem
Tode Heinrichs IV. hin und her schwankte, wie der Geschmack unent-
schieden war, wie man gewissermaßen tastend seinen Weg suchte. Die
Politik fand zuerst eine bestimmte Richtung, die ernsten Ereignisse in
den Nachbarländern gaben den französischen Staatsmännern einen deut-
lichen Wink. In Deutschland entbrannte der furchtbare Krieg, der
ebensowol um die Religion, als um die kaiserliche Macht geführt wurde ;
in England geriet der König mit dem Parlament in Fehde und der
Ausbruch des Bürgerkriegs drohte auch dort. Umso entschiedener
arbeitete Richelieu darauf hin, in Frankreich die Wiederkehr ähnlicher
Zustände zu verhüten. Während in Deutschland die Reichsfürsten sich
jeder Verpflichtung gegen den Kaiser zu entziehen suchten, demütigte
Richelieu die stolzen Vasallen seines Königs und duldete keinen Wider-
stand gegen den Willen des Monarchen.
Fast gleichzeitig mit dieser Stärkung der königlichen Autorität
arbeitete sich auch die französische Litteratur aus dem Ungeschmack
und der überfeinen Zierlichkeit zur Klarheit und klassischen Schönheit
empor. Der „Cid" bezeichnete den Anbruch einer neuen großen Zeit.
1) Vergleiche Albert Babeau, Le village sous l'ancien regime. Paris 1879,
Didier & Cie. 2. edit. livre V, eh. 1 („l'ecole"), p. 283.
241
Allein noch war weder die königliche Macht auf die Dauer ge-
sichert, noch auch die Litteratur ihres Erfolgs gewiß. Noch war manche
Krise zu bestehen, bevor beide ihr Ziel erreichten, und die politischen
Schwankungen blieben nicht ohne Einfluß auf die litterarische Entwick-
lung. Auch hier zeigt es sich wieder, daß Politik und Litteratur in
engster Wechselbeziehung zu einander stehen.
Auf die Periode des Umschwungs während der ersten Decennien
des IG. Jahrhunderts folgte naturgemäß eine Zeit des Rückschlags.
Zunächst in der Politik. Die Aristokratie, welche sich ihres Einflusses
beraubt sah, versuchte es, die verlorene Position wieder zu gewinnen.
Sie erhob sich noch einmal zum Ansturm gegen, die Macht des Königtums.
Dieses letzte Aufraffen des Adels fällt in die späteren Jahre der Regie-
rung Ludwigs Xin. und in die Zeit der Regentschaft. Es war ein
wichtiger Zeitraum, wenn er auch nur wenige Jahre umfaßte (1636 bis
1653). Erst nach heftigem Kampf errang das Königtum im Krieg der
Fronde den entscheidenden Sieg, der seine Macht 150 Jahre begründete
und das Princip der absoluten Herrschergewalt des Monarchen zur
Geltung brachte. Daß Ludwig XIV. anfangs noch Mazarin für sich
regieren ließ, und erst später selbständig auftrat, ändert nichts in der
Thatsache.
Betrachten wir in raschem Überblick die politische Geschichte jener
Jahre.
Richelieu, der Mann mit dem eisernen Geist in dem schwachen
Körper, hielt Prankreich fest unter seiner Herrschaft. Wer sich gegen
ihn erhob, büßte mit seinem Blut. Die Aufstände des Volkes in den
einzelnen Provinzen wurden ohne Erbarmen niedergeschlagen, die revol-
tierenden Großen nicht minder streng behandelt. Montmorency legte
sein Haupt auf den Block, obwol er mit der königlichen Familie ver-
wandt war; Cinq-Mars, des Königs Liebling, mußte sterben, als er sich
in verräterische Verbindungen mit dem Ausland einließ. Dachte doch
Richelieu ernstlich daran, sogar den Bruder des Königs, Gaston von Or-
leans, den ewigen Unruhestifter, vor Gericht zu stellen; und nur dessen
demütige Unterwerfung konnte ihn zur Nachsicht bewegen. Ja er ging
noch weiter und erkühnte sich, die Königin in Untersuchung zu ziehen
und auf ihre Papiere Beschlag zu legen. Dennoch hat auch Richelieu
nicht vermocht, den widerspänstigen Geist der großen Vasallen ganz zu
bändigen. Nocl^ im Jahr 1641 verbündete sich der Herzog von Bouillon
mit einem Prinzen aus königlichem Geblüt, dem Grafen von Soissons,
sowie mit dem Herzog von Guise, und rief kaiserliche Truppen unter
Lamboi ins Land. Der Aufstand mißlang; Soissons fiel in einem Gefecht
und Bouillon mußte auf die Souverainetät, die er bis dahin über Sedan
besessen hatte, verzichten.
So erklärt es sich, wie die Hoffnungen der stolzen Herzoge und
Pairs, welche die Herrschaft Richelieus nur zähneknirschend ertragen
hatten, wieder auflebten, als der verhaßte Minister 1642 das Zeitliche
segnete und sein König, Ludwig XIIL, ihm schon das Jahr darauf
folgte.
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratur. ig
242
Eine schwache Kegentschaft konnte den Ehrgeizigen Gelegenheit
bieten, die alte Machtstellung wieder zu erlangen. Alles kam darauf an,
welche Haltung Anna von Österreich annahm. Sie war eine Feindin
Eichelieus gewesen; so konnte mau hoffen, daß sie seine Politik über
Bord werfen , sich mit der Partei des hohen Adels verbünden werde.
Ihr erster Schritt kündigte eine solche Wendung an. Mit Hilfe der
Großen stieß sie zunächst das Testament des verstorbenen Königs um
und bemächtigte sich der vollen Regierungsgewalt. Dazu bedurfte sie
der Einwilligung des Pariser Parlaments, das von Richelieu schwer ge-
kränkt worden war, jetzt aber sich wieder in seiner Bedeutung und
Machtstellung anerkannt sah. Auch hier erwachten Tendenzen früherer
Zeit, und die Lehre von der Hoheit des Parlaments war im Xu wieder
lobendig.
So begann die Zeit der Regentschaft unter schwierigen Verhält-
nissen. Wider Erwarten aber ging die Königin auf die ihr zugedachte
Rolle nicht ein. Nnn sie alleinige Regentin war, ernannte sie den Ge-
nossen Richelieus. den Kardinal Mazarin. zu ihrem ersten Minister und
erklärte damit, die Wege, welche die Regierung bis dahin gewandelt
war, nicht verlassen zu wollen. Da wurde es klar, daß über kurz oder
lang ein Zusammenstoß unvermeidlich Avar. Denn Mazarin, der die
Schlauheit und eine gefährliche Schaukelpolitik als Regierungssystem an
Stelle der rücksichtslosen Strenge Richelieus setzte, war nicht kräftig
genug, um die Parteien zu zügeln, und auch die Regentin war ihrer
schweren Aufgabe nicht gewachsen. Die früheren Gegner Richelieus.
die sich als Opfer einer ungerechten Politik hinstellten, wurden immer
ungestümer in ihren Forderungen. Man hieß sie „die Iraportants". da
sie sich so wichtig machten. In ihren Reihen fand man die Herzoge
von Guise, Epernon. Beaufort. letzterer ein Sohn Vendömes und Enkel
Heinrichs lY.; ferner den Prinzen Marsillac, der sich nach seines Vaters
Tod als Herzog von Larochefoucauld bekannt machte; Paul de Gondi.
später Kardinal von Retz, eine verschlagene, ehrgeizige Natur. Die
Regentin hoffte sie durch halbe Nachgiebigkeit zu gewinnen. Es regnete
Gnadenakte, riesige Geldgeschenke.
Die einen erhielten als Statthalter die Regierung wichtiger Pro-
vinzen, andere wurden mit festen Städten abgefunden; wieder andere
wurden in ihrem Rang erhöht und sonnten sich im Glanz ihrer neuen
Würde. Ein Zeitgenosse, La Feuillade, bemerkte einmal, die französische
Sprache kenne nur noch ein paar Wörtchen: „die Königin ist so gut." ^
Ja, sie war so gut, daß sie nicht begriff, wie der Ehrgeiz der Großen
durch solche Konzessionen nicht befriedigt, sondern nur noch mehr ge-
reizt wurde. Warum sollten die Statthalter sich nicht allmählich zu erb-
lichen Fürsten umwandeln können, wie dies in Deutschland geglückt
war? So schien man nun doch zu dem Feudalsystem der früheren Zeit
zurückzukehren.
') Retz, Memoires, t. I, gegen das Ende.
243
Das dauerte, so lang es eben dauern konnte. Einige Jahre ver-
strichen noch in friedlicher Weise. So lang die Eegentin die Mittel
besaß, die Habsucht der Großen zu beschwichtigen, konnte sie den Aus-
bruch der Unruhen beschwören. Dabei operierte Mazarin sehr schlau.
Die Häuser Orleans und Conde, beide von königlichem Stamm, standen
einander eifersüchtig gegenüber, und der Minister benützte diesen Um-
stand, um die Partei des einen durch die des andern in Schach zu
halten. Die Staatskunst sank zur Fertigkeit in kleinlichem Intriguenspiel
herab. Aber niemals schien das Land ruhiger, glücklicher. Glänzende
Feste, rauschende Gesellschaften jagten einander, täuschten den Blick
und ließen die Gefahr der Lage nicht erkennen. Die vornehme Gesell-
schaft freute sich ihres neuen Glanzes und des wieder errungenen Ein-
flusses. Sie förderte die Kunst und die Poesie. Daneben gab es roman-
tische Liebesgeschichten, spannende politische Kabalen. So unterhielt sich
diese Welt köstlich.
Aber das niedere Volk litt unsäglich, die Mittelklassen murrten,
und an der Grenze tobte der Krieg mit Spanien und Deutschland. Wie
so oft, führte auch diesmal die Finanznot zur Eevolution.
Im Jahr 1648, als in ^England die königliche Macht stürzte, und
der westfälische Friede die deutschen Reichsfürsten fast selbständig hin-
stellte, entbrannte auch in Frankreich der Krieg der Fronde. Wenn der
Kampf hier nicht die großen Verhältnisse annahm, wie er sie in Deutsch-
land und England gezeigt hatte, so lag der Grund darin, daß in jenem
Land die Gewissensfreiheit, in diesem die Volksrechte den Einsatz bil-
deten, und Begeisterung, ja Fanatismus in den Herzen der streitenden
Parteien weckten. Frankreich aber war kaum aus einem solchen Krieg
hervorgegangen, und sp schnell können sich Krisen dieser Art nicht
wiederholen. Der Krieg der Fronde bot darum nicht das tragische Inter-
esse der Religionskriege des l(j. Jahrhunderts; er war nur ein Nach-
spiel, der endliche Abschluß einer langen geschichtlichen Periode; er
sollte gleichsam bestätigen, daß die französische Aristokratie ihre alte
Stellung verloren hatte.
Ein allgemeines Interesse kam hierbei kaum ins Spiel; es handelte
sich nur um den Vorteil kleiner Kreise oder gar nur einzelner Personen.
Es war ein Kampf der privilegierten Klassen gegen das Königtum,
wobei jeder Gedanke an das Wohl des Staates fern lag. Darum verhielt
sich auch die Masse des französischen Volkes gleichgiltig gegenüber den
hadernden Aristokraten, und so kam es zwar zu Zuckungen. Unruhen,
selbst blutigen Kämpfen, aber es entwickelte sich kein großer Krieg
daraus. Die Verheerungen, welche die Fronde in ihrem Gefolge hatte,
waren freilich schrecklich und das Volk mußte die Leiden des Kriegs
umso schwerer ertragen, als es in dem Kampf mehr Turnier vornehmer
Herren, als ein ernsthaftes Unternehmen sah.
Die erste Veranlassung zu den Unruhen gaben einige neue
Steuergesetze, welche das Parlament in seine Register einzutragen ver-
weigerte. Ein Lit de Justice sollte den Widerstand brechen, aber auch
16*
244
protestierte das Parlament. Mazarin zeigte sich ilem energischen
Vorgehen dieser Körperschaft gegenüber schwankend, und erhöhte damit
den Mut seiner Gegner. Schon hörte man wieder die Theorie aufstellen,
daß das Pariser Parlament die letzte Entscheidung in allen Finanzfragen
habe, ja daß ihm überhaupt das letzte Wort in der Verwaltung des
Landes zukomme. Seine Stellung zu verstärken, arbeitete es an einem
Bund aller Parlamente, wobei es sich jedoch die eigentliche Macht vor-
behalten wollte.
Die Analogie mit dem Kampf des englischen Parlaments ist nur
scheinbar, in der Londoner Versammlung saßen Abgeordnete des Volkes
und stritten für die Eechte des Volkes. Das Pariser Parlament war ein
Gerichtshof, dessen Mitgliedei- ihre Sitze vererbten. Es erstrebte somit
die Herrschaft für wenige privilegierte Familien. Mazarin war indessen
so unpopulär, besonders in der Hauptstadt, daß die Pariser sich ohne
Zögern auf die Seite des Parlaments stellten, und als drei der entschie-
densten Parlamentsräte verhaftet wurden, ihre Freilassung durch den
Bau von Barrikaden erzwangen.
Die Königin verlegte darauf ihre Residenz nach Saint-Germain,
Conde führte ihr Truppen aus Deutschland zu, und bald begannen die
Feindseligkeiten vor Paris. Sehr ernsthaft wurde der Krieg freilich nicht
geführt, und die Pariser kümmerten sich nicht viel darum. Der Dekan
der Pariser medizinischen Facultät. Guy Patin, konnte einem Freund
schreiben, es sei kein Mensch, nicht einmal ein Bettler, während der
Belagerung verhungert, in der Stadt habe Ordnung geherrscht, keine
Mordthat sei während fünf Monaten vorgefallen, niemand gehängt oder
gepeitscht worden.') Wir würden gar nicht von diesem kleinen Krieg
reden, wenn nicht andere wichtige Vorgänge die Aufmerksamkeit auf
ihn lenkten. Wir finden nämlich, daß das Parlament eine Art Diktatur
in Paris einrichtete, und daß ein bedeutender Teil des Adels sich den
Aufständischen anschloß. Den rebellierenden Herren lag weder die Sache
des Parlaments noch die des Volkes irgendwie am Herzen, sie hofften
einfach durch ihren Abfall die Regentin zu weitgehenden Bewilligungen
zu zwingen. Dazu kamen noch andere Beweggründe. Die Lust am Ro-
mantischen und Abenteuerlichen beherrschte diese Menschen wie ein
geheimer Zauber, und riß sie oft zu gewagtem Thun hin. Unter den
Unzufriedenen befand sich, wie schon gesagt, auch Marsillac (La Roche-
foucauld). Ihn fesselte die reizende Schwester Condes, Anne Genevieve
de Bourbon, die mit dem um viele Jahre älteren Herzog von Longueville
vermählt war. Den Ehrgeiz ihres Geliebten zu befriedigen, begann die
Herzogin den Kampf. Voll Feuer, Opfermut und kühn über jede Rück-
sicht sich hinaussetzend, war sie die erste, welche offen zur Partei des
1) Lettres choisies de feu Mr. Guy Patin, docteur en medecine de la fa-
culte de Paris et professeur au College de France. Paris. Ausgabe vom Jahr
1692, t. I, S. 49. Brief v. 18. Juni 1649: U n'est mort personne de faim daus
Paris, pas meme aucun mendiant. Pas un hemme n'y a ete tue. Cinq raois
djarant personne n'y a ete pendu ni fouette . . . •*
245
Parlaments übertrat, und ihr Beispiel riß viele mit sich fort, selbst
ihi'en zweiten Bruder Conti. Longueville wollte sich als Statthalter der
Normandie in seiner Stellung befestigen, schloß sich der Bewegung an,
und verpflanzte den Aufruhr in den Westen. Die Herzoge von Beaufort,
Bouillon und viele andere verstärkten die Reihen der Pariser. Eine
Hauptrolle in diesem tollen Unternehmen spielten die Damen; neben
der Herzogin von Longueville nannte man besonders die ränkesüchtige
Herzogin von Chevreuse, von der Saint-Evremond sagt, daß sie Hunderte
von Intriguen in Frankreich und im Ausland gesponnen habe.^) In einer
Zeit, wo das Publikum im Theater pathetische Dramen bewunderte, in
welchen Helden und edle Frauen, von egoistischer Liebe hingerissen,
ihr Land in Krieg und Elend stürzen; in einer Zeit, in der die Romane
lehrten, daß die Ritter nur auf der Welt seien, um schönen Damen zu
huldigen, in einer solchen Zeit darf' uns ein Aufruhr, wie es die Fronde
war, nicht Wunder nehmen. Die Litteratur spiegelte den Sinn der vor-
nehmen Welt ab, und diese begeisterte sich wiederum an den Werken,
die ihren eigenen Anschauungen so trefflichen Ausdruck gaben. „Die
Frauen sind gewöhnlich die erste Ursache, daß die Staaten zusammen-
brechen, und länderverwüstende Kriege werden fast immer durch die
Schönheit oder die Bosheit der Damen veranlaßt." So sagt, klagend,
aber nicht verwundert, in ihren Memoiren Madame de Motteville, die
Kammerlrau der Königin Anna.-) Und der Wahlspruch La Rochefou-
caulds :
Pour obtenir un bien si grand, si precieux,
J'ai fait la guerre aux reis, je l'eusse falte aux DIeux,
— Verse, die er der „Alcyonee" des Dichters Du Ryer entnommen
hatte und auf seine Freundin, Madame de Longueville, bezog, — be-
kundet ähnlichen Sinn.'")
Der Friede von Ruel machte im März 1649 dem tragikomischen
Krieg ein Ende. Das Parlament erhielt die Bestätigung seiner bis-
herigen Rechte, aber seine weiteren Ansprüche blieben unberücksichtigt ;
die rebellischen Herzoge wurden durch die Gewährung eines kleinen
Teils ihrer Forderungen für den Augenblick befriedigt. Im ganzen hatte
also die königliche Autorität den Sieg davongetragen ; allein die Schwäche,
welche die Regierung an den Tag gelegt hatte, wurde nicht vergessen.
Es zeigte sich bald, daß diese ersten Kämpfe nur das Voi-spiel größerer
Unruhen und gefährlicher Verwirrungen waren. Die Intriguen und Ri-
valitäten, die schon früher den Hof gespalten hatten, lebten in alter
Kraft wieder auf. Conde, den der Stolz auf seine kriegerischen Erfolge
und der Glaube an seine Unentbehrlichkeit aufblähten, beleidigte durch
1) Saint-Evremoiid. Oeuvres III, 186 (Amsterdam 1706), in den Discours
sur las historiens franpis.
2) Mme. de Motteville, Memoires pour servir ä l'histoire d'Anne d"Au-
triche, t. I, p. 176 (Amsterdam 1723).
3) Alcyonee III, 3. Zuerst aufgeführt IGoH.
24()
sein anmaßendes Benehmen die Königin, die ihn im Jänner 1650 nebst
seinem Bruder Conti und seinem Schwager Longueville verhaften ließ.
Auf die Kunde hievon eilte die Herzogin von Longueville in die Nor-
mandie, um einen abermaligen Aufstand zu organisieren. Ähnliche
Versuche wurden von den Anhängern der gefangenen Prinzen auch in
andern Provinzen gemacht. Allein sie mißlangen überall. Die Herzogin
flüchtete unter Mühen und Gefahren nach Holland und eilte von dort
zu Turenne, der sich in Stenay aufhielt. Turenne, aus dem alten Haus
der Latour d'Auvergne, gehörte zu den Frondeurs, da man seinen Bruder,
den Herzog von Bouillon, der Souverainetätsrechte über Sedan beraubt
hatte. Schon während des ersten Kriegs der Fronde hatte er den Pa-
risern zu Hilfe kommen wollen, war aber von seinen Soldaten im Stich
gelassen worden. Xun kostete es der schönen und beredten Frau nicht
viel Mühe, ihn zur Schilderhebung zu bewegen. Bouillon schloß sich
an, und Stenay wurde das Hauptquartier der Frondeurs. Von allen Seiten
strömten die Unzufriedenen und Ehrgeizigen unter die Fahnen des be-
rühmten Feldherrn. Allein nicht zufrieden damit, den Bürgerkrieg zu
entfachen, schlössen die Aufständischen auch ein Bündnis mit Spanien,
und riefen selbst fremde Truppen ins Land. Zwar wurde Turenne bei
Kethel geschlagen, aber dafür flammte der Aufstand im Süden auf, wo
die Herzogin von Conde, unterstützt von Bouillon und La Eochefoucauld,
die Bewegung leitete. Die Königin zog selbst, von dem jungen König
und Mazarin begleitet, in die Guj^enne, beruhigte die Provinz, konnte
aber den Widerstand der Stadt Bordeaux nicht brechen. Und während
sie noch dort im Süden stand, kamen schlimme Nachrichten aus Paris.
Die Gefahr war groß.
Der kühl denkende, aber patriotisch gesinnte Gu}' Patin spricht
sich in seinen Briefen oft bitter über die Zustände seines Vaterlands
aus. „Mazarin a mange la France, los Fran^ois le mangeront", heißt
es in einer Nachschrift zu seinem Brief vom 20. Juli 1649. Kurze Zeit
zuvor hatte er die nichtswürdigen Allianzen der Prinzen verwünscht und
die hohen Herren als feig und dem Dienst des goldenen Kalbs ergeben
geschildert. (Brief vom 28. Mai 1649.) Frankreich schien in Gefahr, um
100 Jahre in seiner Entwicklung zurückgeworfen zu werden. In Paris
hatten sich die verschiedensten Parteien zu gemeinsamen Handeln gegen
die Regierung geeinigt, jede freilich in der Absicht, die anderen um die
Früchte des Siegs zu bringen. Die alte Fronde war wieder zum Leben
erwacht; die störrischen Barone revoltierten aufs neue, das Parlament
sprach wieder von seinen Privilegien, und diesmal hatte sich auch die
mächtige „Partei der Prinzen" oder ,.die kleine Fronde" dem Aufstand
angeschlossen. Der Herzog von Orleans mischte sich ebenfalls in die
Händel. Er strebte nach der Vermittlerrolle, weil er auf diese Weise am
leichtesten zur Macht zu gelangen hoffte. Gondi setzte seine gewohnte
Minierarbeit mit der alten Geschicklichkeit fort, weil die Königin seine
Hoffnungen auf den Kardinalshut nicht verwirklicht hatte. Und daß es
in dem Durcheinander auch an den Intriguen einer Frau nicht fehle,
beteiligte sich die Pfalzgräfin Anna Gonzague. die Tochter des Herzogs
247
von Nevers, mit besonderem Eifer an dem Unternehmen. Sie war ihres
romanhaften Lebens und ihrer politischen Umtriebe halber ebenso be-
rühmt wie wegen ihrer Schönheit, und ihrem Einfluß hatte man es nicht
zum geringsten Teil zu verdanken, daß die in ihrem Wesen und ihren
Zielen so entgegengesetzten Parteien eine Zeit lang einig blieben und
im gemeinsamen Haß sich verbunden fühlten.')
Diesem Sturm gegenüber gab Mazarin den Kampf auf. Er zog sich
nach Köln zurück, und die drei Prinzen Conde, Conti und Longueville
wurden in Freiheit gesetzt. Aber die Sieger gerieten sehr bald in Un-
einigkeit. Gondi operierte, um der Regentin zu gefallen, so fein gegen
Conde, daß eine Spaltung zwischen der alten Fronde und der Partei der
Prinzen eintrat, und das Parlament sich gegen die letzteren erklärte.
Wie in einer Camera obscura wechseln die Bilder in dieser traurigen
Geschichte der Fronde. Mit einem Mal stand die Regentin und die Fronde
gegen Conde. Dieser sah sich aufs neue bedroht, eilte in die Guyenne
und schloß ein Bündnis mit den Spaniern. Bald war der Süden bis an
die Loire in seiner Gewalt. Turenne blieb dafür diesmal der Königin
getreu, und in dem Krieg, der nun mit wechselndem Glück geführt wurde,
standen sich die zwei tüchtigsten Feldherren Frankreichs feindlich gegen-
über. Mazarin kehrte an die Seile der Königin zurück, und alsbaM reizte
Gondi das Pariser Volk wieder gegen die Regierung auf.
Es würde uns zu weit führen, wollten wir den Gang des Kriegs
im einzelnen verfolgen. Uns gilt es ja nur, den Charakter der Epoche
zu verstehen. So genügt es, zu sagen, daß Conde nach einiger Zeit auf
Paris rückte. Da ihm das königliche Heer folgte, verschloß die Stadt
beiden Armeen ihre Thore. Es kam zwischen Conde und den Königlichen
in der Vorstadt Saint- Antoine zu einem hitzigen Treffen. Conde wäre
verloren gewesen ohne die Entschlossenheit der Prinzessin von Mont-
pensier, des armseligen Gaston von Orleans heroischer Tochter. Auf die
Kunde von der Gefahr, in welcher Conde und sein Heer schwebten, eilte
sie an der Spitze einer Schar handfester Leute auf das Rathaus und
erzwang vom Gouverneur den Befehl, der flüchtenden Armee die Thore
zu öffnen. Eine wilde Anarchie brach darauf in Paris aus, Blut floß in
Strömen; wer des „Mazarinismus" beschuldigt wurde, sah sich in Todes-
gefahr, denn der Pöbel war losgelassen und herrschte. Aber gerade diese
Zustände entfremdeten dem Prinzen Conde die Herzen der Bevölkerung
aufs neue; man beschuldigte ihn, die Ursache alles Elends zu sein. Nur
Mazarin stand einer Aussöhnung der Stadt mit dem König und der
Regentin im Weg. p]r verließ daher zum zweitenmal das Land, und
während Conde sich nun ganz den Spaniern in die Arme warf, hielt
Ludwig XIV. seinen triumphierenden Einzug in der Hauptstadt, wo Gondi
die Gemüter für ihn gestimmt und sich damit endlich den Kardinalshut
errungen hatte.
Einmal im Besitz von Paris, wechselte die Regentin, die auch aus
der Ferne von Mazarin geleitet wurde, aufs neue ihre Politik. Der Herzog
1) Über Anna Gonzague siehe noch den nächstfolgenden Abschnitt.
248
von Orleans wurde verbannt, der Kardinal von Retz (Gondi) verhaftet,
Conde selbst zum Tod verurteilt. Damit war die Fronde unterdrückt.
Mazarin kehrte 1653 nach Paris zurück und leitete mächtiger als je
zuvor die Regierung des Landes.
Wol dauerte der Krieg mit Spanien noch fort. Allein er war auf
die innere Gestaltung und Entwicklung des Landes von keinem Einfluß.
Conde war zum einfachen Parteigänger herabgesunken. Der Pyrenäische
Fi-iede (1659), der auch ihn nach Frankreich zurückführte, schloß die
lange Kriegszeit zwischen Spanien und Frankreich definitiv ab; aber
wenn Ludwig XIV. auch erst 1661 nach seines mächtigen Ministers
Tod die Zügel der Regierung mit eigener Hand ergriff, das Princip war
seit 1653 entschieden. Nach der definitiven Unterdrückung der Fronde
gab es in Frankreich keinen andern Willen mehr als den des
Königs.')
Der Abschluß der Fronde bezeichnet in der Geschichte Frankreichs
eine wahrhafte Revolution. Zwischen der Zeit Ludwigs XIIL und der
seines Sohns liegt eine tiefe Kluft. Staatsleben, Gesellschaft, Sitten und
Anschauungen weisen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine tief-
greifende Veränderung auf.
Die Zeit von 1630 bis 1650 ist in vieler Hinsicht merkwürdig.
Sie gefällt sich in Gegensätzen und Widersprüchen, mischt Großes und
Niedriges, Kraft und Schwäche. Die Menschen einer solchen Epoche
tragen andern Sinn in sich, als die Kinder einer Zeit ruhiger, regel-
mäßiger Entwicklung. Xeben Frivolität und Leichtsinn glänzt dort ritter-
liche Galanterie und Herzenswärme, neben Unzuverlässigkeit und Wankel-
mut finden wir Opferfreudigkeit und Hingebung. Noch einmal erscheint
der Adel als tonangebend und zeigt sich mit seinen Tugenden und Feh-
lern als die Blüte der Nation. Glänzend, prunkliebend, leichtgesinnt und
mühelosem Lebensgenuß nacheilend, ist er zugleich kühn, empfanglich
für alles, was schön ist, und voll Achtung vor jeder geistigen Kraft.
Das Leben pulsiert rasch in diesen Menschen, die schnell zur That ent-
schlossen sind, aber auch ebenso rasch das begonnene Werk aufgeben.
Ein solches Geschlecht mag viel Liebenswürdiges haben. Großes wird es
nicht erreichen , und Herrscher darüber wird derjenige sein , der Aus-
dauer besitzt und nach festem Plan vorgeht. Als der französische Adel
den letzten Kampf für seine Machtstellung wagte, war ein dauernder
Sieg für ihn kaum vorauszusehen. Es mangelten ihm die Eigenschaften,
die im Staatsleben zum Ziel führen; denn er erwies sich ohne Verständnis
für die Forderungen der Zeit, ohne umfassenden, auch auf die Zukunft
gerichteten Blick, ohne Plan im Handeln, ohne Einigkeit.
') Über die Geschichte der Regentschaft und der Fronde vergleiche außer
H. Martin, Histoire de France, Paris, Fiirne, t. XII; Bazin, Histoire de France
sous Louis XIIL et sous le ministere du cardinal Mazarin, Paris 1846, Cba-
meröt, 4 vols. (2. ed.); Casimir GaiUardin, Histoire du regne de Louis XIV,
6 Bände, Paris 1874—1876, Lecoffre, und A. Cheruel, Histoire de France pen-
dant la minorite de Louis XIV, Paris 1879, Hachette, 4 Bände.
249
Die Zeit hatte etwas Jugendliches, Frisches, Stürmisches, ja sogar
ßauhes in sich. Ihre Geschichte gewinnt nicht selten einen Anstrich
von Romantik, und manchmal macht sie uns den Eindruck, als läsen
wir ein Märchen von verzauberten Prinzen oder eine alte Heldensage.
Denn wie der Charakter jener Menschen die grellsten Gegensätze zeigte,
so unterlag ihr Leben oft den größten Wechselfällen. Mächtige Herzoge
sahen sich plötzlich in den Kerker geworfen und mußten ihr Haupt auf
den Block legen, oder sie wurden zu Empörern und zogen abenteuernd
im Land umher, während edle Frauen sich in den Kampf der Parteien
mischten. Von Liebe oder Ehrgeiz getrieben, stürzte sich die eine in
das Gewühl der aufgeregten Menge, um sie zu gewinnen; zog die an-
dere an der Spitze einer Reiterschar durch das Land und freute sich
ihres modernen Heldentums. Eine königliche Prinzessin wurde wie ein
scheues Wild gejagt und flüchtete von Versteck zu Versteck, bis ein
rettendes Schiff sie aufnahm. Wer war noch sicher, wenn selbst Köni-
ginnen in die Verbannung geschickt oder strengem Verhör unterworfen
und bedroht wurden? Wenn der König des Landes, noch zu jung, nm
das Scepter selbst zu führen, vor seinen empörten Vasallen fliehen
mußte? Selbst Richelieu, der in vielem so ganz modern und nüchtern
erscheint, wurde zeitweise von einem romantischen Streiflicht getroffen.
Man munkelte schaudernd von den geheimnisvollen Besuchen der „grauen
Excellenz", des Paters Josef, und die geistige Kraft, mit welcher der
Kardinal seinen kranken Körper beherrschte, hatte für viele etwas Dä-
monisches.
Mit der Fronde und der Unterwerfung des Adels schloß der erste
Akt in dem Schauspiel der modernen französischen Geschichte. Von den
fünfziger Jahren an wurde es still und stiller in der Politik. Jede
Opposition galt bald für ein Verbrechen. Das Theater, ein Barometer
der öffentlichen Stimmung, behandelte seitdem kaum noch ein politisches
Thema; es widmete sich der Schildennig der Herzensleidenschaften, der
Liebe und ihrer Stürme. Corneille allein, der Zeuge vergangener Zeiten,
redete manchmal noch die Sprache politischen Lebens. Aber er hatte
schon etwas Altertümliches an sich.
Auf einem andern Gebiet versuchten es die Jansenisten , selb-
ständig zu sein und auf ihre Weise selig zu werden. Aber der Staat
Ludwigs XIV. duldete solche Unabhängigkeit nicht. Die Jansenisten
wurden auseinander gesprengt, die Protestanten vertrieben. Der einst
so stolze Adel sank zum Hofadel herab, und der Monarch- hatte seine
Freude daran, wenn seine Edelleute auf der Bühne von Moliere lächer-
lich gemacht wurden. Und leider verdienten sie den Spott!
Mit dem Zusammenbruch der Fronde schwand auch der große
Einfluß, welchen der Adel bis dahin auf die Litteratur ausgeübt hatte.
Li der letzten Hälfte des Jahrhunderts richtete sich diese nach dem
Geschmack des Königs oder sie empfing, oft ohne es zu wissen, ihre
Richtung von dem Bürgertum. Denn soweit war dieses bereits er-
starkt, daß es mehr und mehr zum Träger der Bildung wurde. Langsam,
aber sicher errang es selbst unter Ludwig XIV. die Herrschaft in der
250
Litteratur. Anders aber war das Verhältnis vor dem Anfstand der Fronde.
Damals stand die Litteratur noch völlig unter dem Einfluß der Aristokratie,
deren Geschmack die Dichter huldigten, und bei der sie Schutz und
Unterstützung fanden. Zu einer Zeit, wo von der Teilnahme der eigent-
liciien Xation. also von einem größeren Publikum für eine Dichtung
kaum die Rede war, wo der größte litterarische Erfolg nicht genügte,
dem Dichter ein unabhängiges Leben zu sichern, mußte man es den
großen Familien danken, wenn sie schützend und fördernd eintraten.
Weder König Ludwig XIIL noch seine Gemahlin, die Königin-Regentin,
kümmerten sich viel um die schönen Künste. Denn, daß ersterer etwas
Musik trieb, letztere das Schauspiel liebte, kommt doch nicht in Be-
tracht. Die Mäcene jener Zeit gingen alle aus dem Kreis des hohen
Adels hervor. Wir sahen Richelieu mit seinem Stab von Dichtern, Schön-
geistern und getreuen Akademikern. Mairet, Theophile de Viau fanden
an dem jugendlichen Heinrich von Montmorency einen warmen Gönner.
Lougueville gewährte dem gelehrten Chapelain ein hohes jährliches Gehalt,
um ihm die nötige Muße zur Vollendung des mit Spannung erwarteten
Epos zu sichern. Noch viele andere wären hier zu nennen; so «ier
Graf Belin, der sich Mairets annahm, als Montmorency traurig geendet
hatte; der Herzog von Guise, in dessen Palast Corneille gewohnt haben
soll, so oft er von Rouen nach Paris kam. Selbst die schwülstigen
Dedikationen, ohne welche sich damals kaum ein Druckwerk an die
Öffentlichkeit wagte, liefern den Beweis für die Teilnahme des Adels.
So unangenehm uns diese Lobhudeleien auch heute berühren mögen, so
zeigen sie doch, wie hoch die Gönner solche Huldigungen schätzten und
wie reich sie sie belohnten. Andernfalls wäre die Sitte der Widmungen
nicht so allgemein geworden.
Außerordentlich in jeder Hinsicht war der Aufschwung des fran-
zösischen Geistes in den Jahren, die uns jetzt beschäftigen. Einer Epoche,
welche Männer wie Corneille und Descartes hervorbrachte, wird man
den Ruhm der Größe und Kraft nicht streitig machen, zumal wenn
man erkennt, wie bedeutend ihr Einfluß auch auf die litterarische Ent-
wicklung der folgenden Zeit gewesen ist. Moliere, Boileau, Lafontaine,
Pascal, La Rochefoucauld, Retz, die Sevigne, die großen Redner, sie alle
haben ihre Jugend und zum Teil auch ihre ersten Mannesjahre unter
dem Einfluß der aristokratischen Gesellschaft, wie sie vor der Fronde
lebte, verbracht und ihre Bildung in der belebten Zeit erworben, die wir
jetzt genauer betrachten wollen.
Haben wir aber erkannt, daß die hohe Aristokratie damals den
Ton in der Litteratur angab, so muß es zunächst unsere Aufgabe sein,
ihr Leben zu schildern und ihren Bildungsstand zu erforschen. Wir
werden nach den Liealen fragen, für welche sich die vornehme Ge-
sellschaft jener Zeit zu begeistern vermochte, und wollen versuchen,
uns ihre Lebensanschauungen klar zu machen. Damit werden wir für
das Verständnis und die richtige Würdigung der litterarischen Werke
viel gewonnen haben. Unsere Aufmerksamkeit kann sich dann auf das
Theater richten, das die wesentlichste poetische Thätigkeit der Epoche in
251
sich faßte, und besonders auf Corneille, der die französische Bühne lange
beherrschte. Als eine andere große Figur der Zeit erscheint Descartes,
dessen Einfluß auf sein Jahrhundert außerordentlich war. Wol wären
noch einzelne minder wichtige, aber immerhin charakteristische Erschei-
nungen in der Litteratur und in der Gesellschaft zu verzeichnen, die
noch zum Teil unter der Herrschaft des aristokratischen Geschmacks
standen, wie die Eomane der Scudery, die zahlreichen Epen, die Affek-
tation der „Precieusen". Allein in ihnen machte sich doch schon deut-
lich der Hauch der neuen Zeit fühlbar, und da die junge Schule, an
deren Spitze Boileau und Moliere standen, gerade gegen sie besonders
ankämpfte, schien es uns ratsam, sie erst im Zusammenhang mit der
Darstellung der späteren Epoche zu besprechen.
Leben und BilduBg der vornehmen Gesellschaft.
Ein so glänzendes und bewegtes Leben, wie es sich in den Jahren
1630 — 1650 in Frankreich entfaltete, war dort seit Menschengedenken
nicht gesehen worden. Man mußte schon bis zu den Tagen des kunst-
und prachtliebenden Königs Franz I. zurückgehen, wollte man einen ähn-
lichen Aufschwung finden. Damals hatte die Renaissance ihre tiefgreifende
Kevolution auch in Frankreich begonnen. Gewaltig war die Bewegung
der Geister gewesen. Eine neue Weltanschauung hatte sich verbreitet,
die Wissenschaft hatte einen ungeahnten Aufschwung genommen, die
Kunst war den Vornehmen und Eeicheu lieb geworden und hatte am
Hof des Königs wie in den Schlössern des Adels gastliche Aufnahme
und Schutz gefunden. Leonardo da Vinci, Primaticcio, Benvenuto Gellini
und viele andere waren aus Italien nach Frankreich gewandert, um ihre
Kunst daselbst zu pflegen. Den gesteigerten Anforderungen gemäß hatte
sich das sociale Leben der vornehmen Gesellschaft allmählich umgewan-
delt; man begann nach veredeltem Lebensgenuß zu streben und mildere
Formen zu suchen. Die alten Feudalburgen, die in früheren Zeiten der
Schutz und oft auch der Schrecken der Provinzen gewesen waren, än-
derten allmählich ihren Charakter, um dem Geist der neuen Zeit besser
zu entsprechen. Wo früher festungsartig gebaute Schlösser mit Mauern
und finsterblickenden Thürmen hinter sumpfigen Gräben in das Land
hineinschauten, entstanden durch allmähliche Umbauten anmutige Herren-
sitze mit schattigen Gärten, die zu gastlichem Besuch einluden. Groß-
artige Paläste erhoben sich in allen Teilen des Landes, und wenn auch
seitdem viele davon in den Stürmen der Jahrhunderte in Ruinen ge-
sunken sind, stehen ihrer doch auch heute noch genug, um in der hei-
teren Mannigfaltigkeit ihrer Formen, in der poesiereichen Unregelmäßig-
keit der Anlage und der romantischen Schönheit ihres Stils ein beredtes
Zeugnis von dem Leben der vergangenen Zeit abzulegen. Und wie die
Kunst waren auch Sprache und Litteratur von der gewaltigen Strömung
der Zeit erfaßt worden und hatten die Bahn neuer Entwicklung betreten.
Als das 16. Jahrhundert zur Neige ging, stand man auch vor
dem Abschluß dieser wichtigen Kulturepoche. Eine neue Zeit brach herein
mit neuen Gestaltungen und Lebensformen, welche ihre Schatten bereits
vorauswarfen. Noch einmal raffte die herrschende Klasse ihre Kraft zu-
sammen, als wollte sie im letzten Aufleuchten die Schönheit und Kunst
ihres Lebensgenusses, ihre Bedeutung für die geistige Entwicklung des
Volkes recht klar erkennen lassen.
253
Solange Eichelieu mit fester Hand die Regierung führte und wäh-
rend der ersten Jahre der Kegentschaft erfreute sich Frankreich des in-
neren Friedens ; in den Nachbarländern aber führten seine Heere unter
bewährten Führern einen Krieg, dessen Erfolge der Ausgangspunkt für
die neue Machtstellung der Monarchie wurden. Diese Verhältnisse blieben
nicht ohne Einwirkung auf die Stimmung der Nation und besonders des
Adels. Noch war dieser reich, mächtig, seiner Kraft bewußt und thaten-
durstig. Standen die vornehmen Herren nicht im Feld , so führten sie
ein sorgloses, oft tolles Leben in der Heimat. Eine glänzende, anmutige
Geselligkeit entwickelte sich in den Palästen der Großen, auf den Schlös-
sern des Adels. Man freute sich des Aufwands, stürzte sich mit Lust
in die Vergnügungen des galanten Lebens, und genoß, was Kunst und
Litteratur zur Verschönerung desselben bieten konnten.
"Welche Anregung die Litteratur bot, haben wir schon zum Teil
gesehen, zum Teil sollen es die nachfolgenden Seiten noch genauer schil-
dern. Neben den großen Werken, die sich bis heute erhalten haben, gab
es andere, die der entzückten Mitwelt gleichen Wert zu haben schienen,
und die wenigstens das Verdienst hatten, die Aufmerksamkeit der Ge-
bildeten zu fesseln, und durch den Streit, den sie erweckten, den Ge-
schmack zu klären. In dem Bemühen, die Eoheit des Ausdrucks zu be-
kämpfen, verfiel man zwar in den entgegengesetzten Fehler, der allzu
gesuchten zierlichen Rede. Aber in dem auf- und abwogenden Kampf
der verschiedenen Geschmacksrichtungen bildete sich endlich der maß-
volle klassische Stil und die Feinheit der Sprache, schuf der belebte ge-
sellige Verkehr die echte Höflichkeit und Urbanität. Ein Hauch jugend-
licher Begeisterung ging durch die Litteratur; man hatte das Bewußt-
sein der Kraft, die Hoffnung des Erfolgs.
Eine ähnliche Entwicklung beobachten wir auf dem Gebiet der
Kunst, besonders der Malerei. Während in der Architektur die Formen
allmählich schwerer wurden und die Baumeister mehr auf malerischen,
dem innersten Wesen ihrer Kunst widersprechenden Eindruck ausgingen,
eröffnete sich mit dem 17. Jahrhundert für die Malerei in Frankreich
eine Epoche des Aufschwungs und der größeren Selbständigkeit. Wie
die Dichterwerke, zeigen auch die Gemälde aus jener Zeit den Charakter
kräftiger Jugend und heroischen Sinn ; auch in ihnen verrät sich neben
der Vorliebe für große Linien das Streben nach harmonischer Ordnung.
Neben Simon Vouet (1582 — 1641) begründeten hauptsächlich Nicolas
Poussin (1594—1665) und Claude Lorrain (1600 — 1682), den Ruhm
der französischen Kunst. Neben ihnen, welche die Hoheit, üen Ernst
und die Gemessenheit der großen Malerei vertraten, stand Jacques Callot
(1592 — 1635), ein Lothringer, als der Repräsentant des beweglicheren
französischen Geistes. Seine Arbeiten, meistens Kupferstiche, sind voll
Originalität und Frische, dramatisch ergreifend, wie seine Blätter: „Les
miseres de la guerre", oder humoristisch, voll blühender Phantasie in
seinen kleinen Genrebildern. Wie Callot, war auch Eustache Le Sueur
ganz ein Sohn der Epoche, die uns jetzt beschäftigt. Obschon er nie in
Rom war, erscheint er wie ein Schüler und Nachfolger Rafaels, dessen
254
reine Schönheit er als Vorbild gewählt hatte. Leider raffte ihn ein früher
Tod hinweg (1617 — 1655). Mignard und Lebrun, wie Le Sueur. Schüler
Vouets, gehören schon mehr in die spätere Epoche.
Eine Gesellschaft, die sich für solche Arbeit erwärmt, welche die
Künstler beschäftigt, die Dichter ehrt und schützt, welche den geistigen
Bestrebungen jeglicher Art einen offenen Sinn entgegenbringt, hat An-
spruch auf Beachtung. Schon der Ernst, mit dem man im Gegensatz zu
der früheren Zeit in den vornehmen Familien auf die geistige Ausbil-
dung der Kinder sah, ist bezeichnend für die Wandlung. Es war noch
nicht lange her. daß der Adel auf die Kunst des Lesens und Schrei-
bens verächtlich herabsah. Selbst zur Zeit Heinrichs IV. konnte ein
Mann wie Montmorency weder lesen, noch schreiben. •") Und doch hatte
er als Connetable von Frankreich nach dem König die höchste militä-
rische Würde des Landes. Zu seiner Zeit forderte man von dem Adel
hauptsächlich körperliche Gewandtheit. Für den Baron, der nach der
mittelalterlichen Anschauung seinen Beruf im Kriegsdienst für den könig-
lichen Lehnsherrn fand, genügten Künste, wie Eeiten, Fechten und Tanzen.
Auch im 17. Jahrhundert legte man großes Gewicht auf diese Fertig-
keiten, und mit vollem Recht. Aber man verlangte noch etwas mehr.
Heinrich von Montmorency. des Connetable Sohn, hatte bereits seine
Lehrer und lernte jedenfalls so viel, daß er Talent und Geist zu schätzen
wußte und später als Freund und Beschützer der Dichter auftreten konnte.
Zur Ausbildung der jungen Edelleute, die sich der militärischen
Laufbahn widmen wollten, bestand in Paris eine Art Kriegsschule. ,,die
Akademie", in welcher die Schüler nur nach vollendeten klassischen
Studien aufgenommen werden sollten , und Heinrich IV. hatte zu La
Fleche an der Loire ein Kollegium für Söhne des Adels errichtet, das
nach dem Zeugnis eines kompetenten Richters, Descartes, der dort seine
Studien machte, ganz Vorzügliches bot.
Die Überzeugung von der Macht des Wissens brach sich in immer
weiteren Kreisen Bahn.
Heinrich von Conde, der sich 1609 mit Charlotte von Montmorency
vermählte, überwachte selbst die Ausbildung seiner drei Kinder. Anne
Genevieve de Bourbon, Louis de Bourbon, der als Herzog von Enghien
und später als Prinz Conde so großen Feldherrnruhm erwarb, und Ar-
mand de Bourbon, Prinz von Conti. Der ältere besuchte das öffentliche
Lyceum in Bourges, wo sein Vater längere Zeit lebte, und studierte noch
unter der Leitung des gelehrten Edmond Merille die Rechtswissenschaft,
bevor er in die „Akademie'" eintrat. Conti war Schüler des „College de
Clermont" zu Paris, in dem auch Moliere unterrichtet wurde. Pierre
Lenet, der dem Prinzen Conde später als vertrauter Rat zur Seite stand,
und wichtige Memoiren über ihn und über die Begebenheiten der
Fronde geschrieben hat, ruft begeistert aus, man habe noch nie einen
königlichen Prinzen auf so populäre Weise erziehen sehen; aber man
1) Siehe Saint-Evremond, I. Teil, S. 118 (Amsterdamer Ausgabe von 170öj:
„Lettre ä M. le comte d'OIonne".
255
habe auch noch keinen gefunden . der in so kurzer Zeit und so jung,
einen solchen Schatz von Kenntnissen erworben habe und dabei körper-
lich so gewandt gewesen sei.') Es wird erzählt, daß Conde neben den
herkömmlichen Studien sich noch mit Geschichte, Mathematik und deu
modernen Sprachen beschäftigt habe. Außerdem wurde geritten, gefochten,
getanzt, gejagt, Ball gespielt; das Leben und die Gesellschaft im Palast
der Eltern, dei' Verkehr im Hotel de Rambouillet, wo der junge Herzog
ein gern und häufig gesehener Gast war, lehrten ihn feines Benohmen
und galante Kede. Als er später in sein Gouvernement, nach Burgund,
geschickt wurde und sich dort in der Führung von Truppen übte, be-
hielt er seine Lebensweise bei und erwies sich als unermüdlich.
Die Urteile über Conde gehen weit auseinander.'-^) Jedenfalls zeigte
er sich als hochfahrend, grob, oft heftig, und sein sarkastischer Witz
verletzte viele. Aber neben diesen Fehlern hatte er auch große Eigen-
schaften. Er war ein begabter, unterrichteter und geistig bedeutender
Mann. Seine Zeitgenossen sahen in ihm das Ideal eines Helden verkör-
pert. Wenn Madeleine de Scudery dem Helden ihres großen Romans
„Cyrus"' die Züge Condes lieh, so war das nicht bloß höfische Schmei-
chelei. Der Prinz war nach dem Urteil der Kriegserfahrenen der genialste
Feldherr, dessen sich Frankreich im 17. Jahrhundert rühmen konnte.
Furchtlos stürzte er sich in das Gewühl des Kampfes, aber ebenso un-
bedacht ließ er sich, nur seiner Eingebung folgend, in abenteuerliche
Unternehmungen ein. Dieser Zug von Romantik zieht dem Prinzen heute
den Vorwurf mangelnder politischer Einsicht zu, damals erwarb er ihm
die Bewunderung vieler. Zudem bewies Conde litterarischen Geschmack.
Er war einer der eifrigsten Bewunderer des heroischen Corneille, uud
gewährte später Boileau und Racine seinen mächtigen Schutz, als sich
diese von einer niedrigen Kabale verfolgt und in ihrer Sicherheit be-
droht sahen. Die Studien seines Sohns zu überwachen, ließ er sich dessen
schriftliche Arbeiten ms Feld nachschicken, um sie zu prüfen ; und von
diesem Sohn, Henri Jules de Bourbon, Prinzen von Conde, sagt selbst
der verbitterte Saint-Simon, daß ihm niemand an Geist und nur wenige
an Wissen gleichgekommen wären. ^)
1) Memoire« de P. Lenet (Collection Petitot et Moiimerque), Paris 1826,
11. Bd. S. 16(5 u. 172. Von Conti sagt Bussy ßabutin: „II avoic etudie avec un
progres admirable. II avoit l'esprit vif, net, gai, enclin ä la raillerie ; 11 avoit
un courage invincible." Memoires du Messire Roger de Rabutin comte de Bussy.
Paris 1696, J. Anisson (2 Bände, t. I, S. 492).
-) Bussy Rabutin schildert ihn in seinen Memoiren folgeiiderraaßen :
„M. le prince avoit les yeux vifs, les joues creuses et decharnces, la forme du
visage longue, la physionomie d'un aigle, les cheveux frises, les dents mal ran-
gees et malpropres, l'air neglige, peu de sein de sa personne et la taille belle.
II avoit du feu dans Tesprit, mais il ne l'avoit pas juste. II rioit beaucoup et
desagreablement ; il avoit le genie admirable pour la guerre, surtout pour les
batailles. . . le jour du combat il etoit doux aux amis, her aux ermemis. II etoit
ne fourbe, mais il avoit et de la foi et de la probite aux gnuides occasions. 11
etoit ne insolent et sans egards, mais l'adversite lui avoit appris ä vivre."
3) Saint-Simon, Memoires, II, S. 124, in der Londoner Ausgabe 1787.
256
Lberrascbender noch ist die Bildung, welche sich viele hohe Damen
der damaligen Zeit erwarben. Wenn wir auch annehmen dürfen, daß die
ilehrzahl der adeligen Mädchen in den vornehmen Klosterschulen mit
sehr oberflächlichem Wissen ausgestattet wurden und daß es dort haupt-
sächlich darauf ankam, den Zöglingen einige Gewandtheit des Beneh-
mens zu geben, so wissen wir doch anderseijts von vielen Frauen, die
eine sorgfältige Erziehung genossen hatten und deren Geist durch hohe
Bildung glänzte.
Marie de Ealutin-Chantal, die spätere Marquise de Sevigne, ver-
lebte ihre Jugend bei ihrem Oheim Coulanges, der für die besten Lehrer
sorgte. Chapelain und Menage hatten sie im Stil und in der Litteratur
zu unterrichten. Daneben lernte sie lateinisch, wenn sie auch später
nicht viel mehr davon wußte und sich mit Übersetzungen behalf. Aber
sie verstand vortrefflich italienisch, war mit der heimischen Litteratur
vertraut und las mit Vorliebe Werke über Moralphilosophie oder histo-
rische Bücher, deren trockene W^eise heute wol alle Frauen abschrecken
würde. Frau von Sevigne war aber keineswegs eine Ausnahme, sie ragte
durchaus nicht über die gebildeten Damen ihrer Zeit hinaus. Viele ihrer
Freundinnen und Bekannten konnten sich einer ähnlichen Bildung rüh-
men. So erwähnt Bossuet die Kenntnisse der Pfalzgräfin Anna Gonzague
und den Eeiz ihrer Unterhaltung.^) Die Marquise de Sabliere scheute
vor den schwersten Studien nicht zurück. Sie trieb Mathematik und ließ
sich von Bernier ein großes Werk über die Philosophie Gassendis
schreiben. Diesen selbst nahm sie bei sich auf, wie sie später Lafon-
taine und dem Orientalisten d'Herbelot Asyl gab.-) Ähnliche Nachrichten
sind uns aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts über das Wissen
vieler deutschen, englischen und italienischen Damen erhalten. Die Kennt-
nis der klassischen wie der modernen Sprachen war bei ihnen sehr ver-
breitet. So wurde z. B. der kleine Hof von Köthen auch von Fremden
wegen seines feinen Sinns, seiner Bildung und humanen Richtung ge-
rühmt. Die Fürstin Amoena Amalia, eine Tochter des Grafen Arnold von
Bentheim und Teckienburg, galt als kundig des Hebräischen, Italienischen
und Französischen. Juliane von Nassau, welche 1603 dem Landgrafen
Moriz von Hessen die Hand reichte, war im Hebräischen sowol bewan-
dert wie in der griechischen und lateinischen Sprache.-') Und dabei
rühmte man nicht minder die Anmut und Liebenswürdigkeit dieser
Frauen. Saint -Evremond, der geistvollste Kritiker seines Jahrhunderts,
J) Bossuet, Oraisuü funebre d'Anne de Gonzague de Cleves, princes=5e
palatine: „Jamals plante ne fut cultivee avec plus de sein, ni ne se vit plutöt
courounee de fleurs et de fruits que la princesse Anue . . . On lui avoit appri.s
la langue latine, parce ([ne c'etoit celle de l'eglise... La cour ne vit jamais
rien de plus engageant; et saus parier de sa penetration ni de la fertilite in-
finie de ses expediens, tout eedoit au charme secret de ses entretiens".
-) Vergl. Walkenaer, Memoires touchant la vie et les ecrits de la mar-
quise de Sevigue. ■2"ie editioa. Paris 1856, Firmin Didot freres. t. IV, p. 108.
3) Vergl. Barthold, Geschichte der fruchtbringenden Gesellschaft. Berlin
1848, A. Duncker. S. 37 u. 44.
257
schwärmte von der guten alten Zeit der Regentschaft und rühmte in
einem Gedicht an Ninon de Lenclos die Frauen, die Bildung besessen
hätten, ohne sich mit ihrer Gelehrsamkeit zu brüsten. In ihrem Kreise
würde Meliere vergebens nach „lächerlichen Precieusen" gesucht haben. ^)
Für den verhältnismäßig kleinen, aber glänzenden und tonange-
benden Kreis des französischen Adels brachten die letzten Jahre Lud-
wigs XIII. und die Regentschaft eine bewegte, heitere Geselligkeit. Mochte
die Zeit in politischer Hinsicht düster und unerfreulicli sein, mochte man
auch eine dunkle Ahnung haben, daß die Geschicke Frankreichs an einem
Wendepunkt angelangt seien, der gesellige Verkehr litt darunter nicht.
Wenn wir sehen, wie sich unter der Regentschaft der Königin Anna
glänzende Feste einander drängten, und die vornehmen Familien in Ent-
faltung von blendender Pracht miteinander wetteiferten, kommt uns
manchmal der Gedanke, man habe in diesem Aufwand und Lärmen,
dieser oft betäubenden Geselligkeit ein Hilfsmittel der Politik gesucht.
Nie war das Leben in Paris glänzender als in den Jahren, da der hohe
Adel die königliche Macht zu zerpflücken plante.
Aus den Provinzen, in welchen sie als Statthalter residierten, von
ihren Schlössern und Gütern waren die stolzen Herren nach der Haupt-
stadt gekommen , um bei der bevorstehenden Teilung der Beute nicht
leer auszugehen. Aber man verbarg diese Wünsche unter dem Schein
der Loyalität. Alle Welt schien zufrieden. „Nie gab es so viele Bälle
als dieses Jahr", schreibt Mlle. de Montpensier, „...fortwährend und
überall vergnügte man sich; fast kein Tag verging, an dem nicht in
den Tuilerien oder auf der Place Royale Serenaden gebracht wurden.^)
Das war im Jahr 1643, wenige Monate, nachdem König Ludwig die
Augen geschlossen hatte (14. Mai 1643); und dieselbe Chronistin be-
richtet uns, wie heiter es einige Zeit später am Hoflager in Fontaine-
bleau zuging, wo man fast täglich Konzert oder Schauspiel hatte.')
1) Saint-Evremond, Oeuvres, III, p. 123 (Amsterdam 1706j. A. Mlle. de
l'Enclos :
Femmes savoient, sans faire les savantes,
Meliere en vain eüt cherche dans la Cour
Ses ridicules affectees.
Daß die BegriflFe von dem, was zur Bildung gehört, mit den Zeiten wech-
seln, ist wol hier nicht zu betonen. Vor 200 Jahren legte man auf Orthographie,
Punktuation und derlei Kleinigkeiten kein Gewicht. Ein noch erhaltener Brief
der Herzogin von Chatillon schließt: „Sy Mr. de CoUigny est avecque vous
faitte luy mes compliment et ä tout seuse de ma connessance". Von ihr und
vielen anderen galt, was Segrais von Mme. de Choisy sagte: „II n'y avoit point
d'orthographe dans ses lettres; mais quand on avoit attrape ceUe qui lui etoit
naturelle, ou y trouvoit des traits admirables et une grande vivacite" (Segrais,
Oeuvres diverses. Amsterdam 1723, t. I, p. 37).
2) Mlle. de Montpensier, Memoires, I, S. 63 u. 81.
3) Ibid. (Jahr 1646) I, S. 129. Der Pfarrer von Saint-Germain hielt sich
1647 für verpflichtet, der Königin Vorhalt über ihre Freude am Schauspiel zu
machen. Die Fürstin wandte sich deshalb an die Bischöfe, und diese beruhigten
sie mit der Erklärung, die meisten Stücke behandelten doch einen ernsten Stoff
und könnten nicht schaden. Auch sei diese Art der Unterhaltung geeignet, die
Lotheißen. Gesch. d. franz. Litteratnr. j'j
258
Dem Beispiel des Hofes folgte der hohe Adel. Große Summen wurden
verschwendet, und belebten Handel und Industrie. Paris schwamm im
Überfluß, und auch der Bürgerstand fand Gefallen an Luxus und feinem
Leben. Welches bunte Treiben entwickelte sich gegen Abend auf dem
„Cours de la Reine", dem Tummelplatz der eleganten Welt. Dorthin
kamen, nach beendeter Theatervorstellung, etwa um sechs Uhr, die Damen
in kleinen offenen Wagen, in reicher Toilette, um die Huldigungen der
Herren entgegenzunehmen, die sich zu Pferde umhertrieben.
Der Glanz der farbenreichen Tracht, die Anmut der Damen, das
jugendliche Feuer der Kavaliere verliehen dem Bild ein besonderes
Leben. Die Blüte des französischen Adels fand sich da zusammen. Und
nicht allein aus Frankreich strömte die vergnügungslustige Jugend nach
Paris. Schon zogen auch die Fremden, die jungen Adeligen aus den
anderen Ländern Europas, nach der französischen Hauptstadt, um dort
die Welt kennen zu lernen und feinen Ton und gute Sitte zu erwerben.
Schon damals war Paris zum Mittelpunkt des modernen Völkerlebens
geworden.
Wie erfolgreich das Haus Rambouillet sich bestrebt hat, die gei-
stigen Interessen zu fördern, eine feinere Geselligkeit in der gebildeten
Klasse zu begründen, ist schon ausführlich erzählt worden.^) Die Schil-
derung des Kreises, in welchem die Marquise waltete, bildet in der
Geschichte jener Zeit ein anmutiges Kapitel. Allerdings hatte das Haus
Rambouillet eine hervorragende Stellung in der Gesellschaft; aber es
stand doch nicht allein. Sein Beispiel hatte Nachahmung gefunden, und
auch in anderen hochgestellten Familien fand man jene höhere, geistig
anregende Geselligkeit, wie die Marquise de Rambouillet sie in ihrem
Kreise geschaffen hatte. Die Kunst der gefälligen, leichten und doch
nicht hohlen Unterhaltung wurde damals mit Vorliebe gepflegt.-) So
hatte Richelieu anfangs in seinem Haus auf der „Place Royale", dann
im „Palais Cardinal" eine auserwählte Gesellschaft versammelt, und seine
Nichte, Mme. de Combalet, hatte ihm dabei zur Seite gestanden. Ähnlich
war es in dem Hotel de Longueville und de Guise; ganz besonders aber
im Hotel de Conde, das auf dem linken Ufer der Seine in der Gegend
lag, wo heute das Odeontheater sich erhebt. Nicht so geräuschvoll, aber
umso angenehmer entwickelte sich das Leben während der schönen
Jahreszeit in Chantilly, dem prachtvollen Besitz der Conde. Paris war
schon damals von einem Kranz schöner Landhäuser und freundlicher
Herren vom Hof von Schlimmerem abzuhalten. Auch die Sorbonne entschied
mit einer Mehrheit von 10 gegen 7 Stimmen zu gunsten des Theaters.
1) Siehe I. Teil dieses Werks, Abschnitt VI, S. 98 ff.
-) Vergl. Pascal, Pensees, art. IX, n" 18: Les honnetes gens ne veulent
point d'enseignes et ne mettent guere de difference entre le metier de poete et
celui de brodcur. 11 ne sont point appeles ni poetes ni geometres, mais ils
jugent de tout cela. On ne les devine point; ils parleront des choses dont on
parloit quand ils sont entres ... II est egalement de ce caractere qu'on
ne dise point d'eux qu'ils parlent bien lorsqu'il n'est pas question de langage,
et qu'on dise d'eux qu'ils parlent bien quand il en est question."
259
Gärten umgeben. Aber unter allen Herrschaftssitzen der ganzen Um-
gegend war keiner so schön, wie Chantilly, das etwa zehn Meilen nördlich
von Paris in waldreicher Gegend liegt. Chantilly war früher im Besitz
der Montmorency gewesen, und bei der Hinrichtung des Herzogs Heinrich
von Montmorency mit seinen anderen Gütern konfisziert worden. Den
größten Teil der Besitzungen gab der König den Schwestern des Her-
zogs zurück , Chantilly aber behielt er, und erst die Regentin schenkte
es wieder an Conde, den Schwager Montmorencys, gleichsam als Be-
lohnung für den glänzenden Sieg, den sein Sohn Enghien bei Rocroi
(1G44) erfochten hatte. Die Conde verschönerten die Besitzung nach
Kräften und schufen aus Chantilly einen nach dem Geschmack der Zeit
vollendeten Landsitz. Inmitten eines kleinen Sees erhoben sich zwei
Burgen, die mit ihren Türmen und Vorsprüngen, ihren Fallbrücken,
ihrer launenhaften Unregelmäßigkeit an die Schlösser der ßitterzeit er-
innerten, aber durch Zubauten und Veränderungen zu einem modernen,
bequemen und prächtigen Fürstenwohnsitz umgewandelt waren. Rings
um das Schloß prangten Gärten, weite Parkanlagen und Wiesen, die
durch Springbrunnen und Kanäle malerisch belebt waren, und weiter
hinaus dehnte sich der große Wald von Chantilly. Du Cerceau, der eine
Autorität im Fach der Architektur war, erklärte Chantilly für einen der
schönsten Plätze von Frankreich.^) ,.Dort fand man alles, was den Land-
aufenthalt angenehm machen kann : eine herrliche Gegend, Jagd, Spiel,
Konzert, Schauspiel, völlig zwanglose Spaziergänge . . . Eine Unterhal-
tung leitete unmerklich zu einer andern über." So sagte ein Zeitgenosse,^)
und Lenet erzählt Ähnliches von dem Leben in Chantilly während der
Gefangenschaft Condes. Die verwitwete Prinzessin Conde hatte sich mit
ihrer Schwiegertochter nach Chantilly zurückgezogen. „Die Abende waren
in Chantilly nicht minder angenehm als die Spaziergänge", sagt Lenet,
1) Jacques -Androuet du Cerceau, „Las plus excellents bastiments de
France", das in trefflicher Weise Ansichten und Pläne einiger der hauptsäch-
lichsten Schlösser nebst erklärendem Text bringt. Eine neue Ausgabe des inter-
essanten Werks ist 1868 bei A. Levy in Paris in 2 Bänden kl. Fol. erschienen.
Du Cerceau sagt von Chantilly: „Ce lieu est tenu pour une plus belies places
de France".
-) Siehe „Memoires inedits, par un auteur anonyme", auf der Pariser
Nationalbibliothek mss. Suppl. fr. n*' 925. Vergleiche Cheruel, Ausgabe der Me-
moiren der Mlle. de Montpensier. I, S. 109. Man vergleiche ferner das Gedicht,
das Sarrazin im Auftrag der Prinzessin Conde an Mme. de Montausier richtete
und in dem er das Leben in Chantilly beschrieb (1648). Er meldet zunächst,
wie trefflich sich die Gesellschaft auf der Jagd, mit Musik und Turnier unterhält,
und sagt dann:
Dirai-je qu' Ablancourt, Calprenede et Corneille,
C'est ä dire vulgairement
Les vers, l'histoire, le romant
Nous divertissent ä merveille.
Et que nos entretiens n'ont rien que de charmant?
(Ablancourt widmete Enghien seine Übersetzung der Feldzüge Alexanders von
Arrian, der Kommentarien Cäsars, und veröffentlichte noch andere historische
Arbeiten.)
17*
260
„denn nach dem Gebet in der Kapelle zogen sich alle Damen in die
Gemächer der Prinzessin-Mutter zurück, wo man sich mit verschiedenen
Spielen unterhielt. Öfters wurde gesungen und die Unterhaltung war immer
belebt".')
Noch später wurde Chantilly von Boileau als Sitz des feinen Ge-
schmacks gefeiert, und Bossuet erinnerte in der Grabrede, die er dem
Prinzen hielt, und in der allerdings die volle Wahrheit der Geschichte
nicht zugelassen war, an den schönen Ort, wo der Verstorbene so gern
geweilt' hatte. „Ohne Neid, ohne Falsch, ohne Prunk, immer gleich
groß in der Thätigkeit wie in der Ruhe, so war er in Chantilly wie
an der Spitze der Truppen. Mochte er diese prächtige und reizvolle
Wohnung verschönern oder im feindlichen Land ein festes Lager schlagen;
mochte er an der Spitze eines Heers den Gefahren trotzen, oder seine
Freunde in den herrlichen Laubgängen umherführen, wo man Tag und
Nacht die zahllosen Springbrunnen plätschern hört — immer war es
derselbe Mann und sein Euhm folgte ihm überall nach".^)
Auch die Nichte Richelieus, Mme. de Combalet, die von Ludwig XIII.
zur Herzogin von Aiguillon erhoben wurde, sah oft eine auserwählte
Gesellschaft bei sich. Ihr Landhaus lag inmitten prachtvoller Garten-
anlagen und eines großen Parks bei Ruel am westlichen Abhang des
Mont-Valerien. Solange Richelieu lebte, war Ruel durch den Glanz seiner
Feste und Lustbarkeiten berühmt. Der Kardinal hatte dort sein beson-
deres Theater, wo er große Vorstellungen geben ließ. Die Herzogin, die
von Natur ernst und rauschender Geselligkeit abgeneigt war, richtete
ihr Leben in späterer Zeit fast mönchisch einfach ein. Aber zur Zeit
der Regentschaft konnte Mme. d' Aiguillon sich noch nicht zurückziehen,
wie sie wünschte. Die Königin, die ihr zugethan war, kam öfters, ein-
mal sogar auf mehrere Wochen, zu ihr nach Ruel zu Besuch. Anna
liebte die Zerstreuungen; aber solange Ludwig XIII. lebte, war es ziem-
lich still bei Hof. Der König freute sich nur an der Musik und ver-
anstaltete häufig Konzerte, wobei man gewöhnlich Lieder seiner Kom-
position vortrug.^) Erst nach seinem Tod gab es bei der Regentin
auch Bälle, Theatervorstellungen und als neueste Unterhaltung Opern.
Mazarin hatte sie aus Italien nach Paris verpflanzt. Im Karneval des
Jahrs 1647 ließ er zu Ehren der Königin einen „Orfeo" von Monte-
verte aufführen. Die Sänger und Sängerinnen, selbst die Musiker waren
dazu aus Italien verschrieben worden, und der berühmte italienische
Maschinist Torelli hatte die scenische Einrichtung besorgt. Die Vor-
stellung kostete an 400.000 Livres.
Neben den dramatischen Aufführungen war besonders das Ballett
beliebt. Es glich allerdings dem heutigen Ballett nur wenig. Zwar
1) Leuet, Memoires. Bd. I, S. 142 (Jahr 1650).
-) Boileau, epitre VII, v. 94. Bossuet, Oraison funebre de Louis de Bour-
bon, prince de Conde (1687). Vergl. auch V. Cousin, La jeunesse de Mme. de
Longueville, p. 159.
3) Montpensier, Mem. I, 40.
261
bestand es auch damals schon aus Pantomimen, heiteren, oft possen-
haften Scenen oder allegorischen Darstellungen. Auch wechselten die
Tänze wol mit Gesang und Deklamation. Aber in den Ballettvorstellungen
der damaligen Zeit wirkten die Mitglieder der hohen Gesellschaft mit;
selbst Ludwig XIII. und später Ludwig XIV. verschmähten es nicht, in
solchen Aufführungen mitzutanzen. So trat z. B. im Jahr 1632 Lud-
wig XIII. in dem Ballett „Bicetre" auf.^) Ein andermal ließ Gaston d'Or-
leans seine siebenjährige Tochter in einem Kinderballett tanzen. Eine
große Anzahl Kinder, Prinzessinnen und Töchter der vornehmsten Fami-
lien hatten mit ebenso viel Edelknaben darin mitzuwirken. Eine Scene
machte besonderen Effekt. Die Tanzenden brachten Vögel in schönen
Käfigen mit und ließen auf ein gegebenes Zeichen die Tierchen im
Saal frei. Es ereignete sich dabei freilich, daß ein Vogel in der Hals-
krause des jungen Fräuleins de Breze, der nachmaligen Prinzessin Conde,
sich verwickelte und das erschreckte Kind zum Ergötzen der Gesellschaft
jämmerlich zu schreien anhob. Ein Fest ohne Ballett schien kaum voll-
ständig; selbst bei Hochzeiten und auf Bällen wurde es nur ungern ver-
mißt.^) Nur darf man weder bei dem Ball, noch bei dem Ballett des
17. Jahrhunderts an das Durcheinander, an das Wirbeln und Stürmen
des modernen Tanzes denken. Es war die Zeit, da die Gavotte und die
Sarabande, die Pavane, die Chaconne und das Menuett herrschten, Tänze,
bei welchen man in langsam feierlicher Bewegung würdevolle Anmut zeigen
konnte. Auch hier stand man unter dem Gesetz der Gemessenheit und
Ordnung. Bei dem Glanz der Lichter, in dem bunten Gewühl der kost-
baren Toiletten und malerischen Kostüme tanzten nur wenige Paare, zum
Schauspiel für die übrige Gesellschaft, die ringsum an den Wänden ihre
Sitze hatte, und für welche oft an einem Eade des Saals ein Amphi-
theater errichtet war.^)
Wir wollen in die Einzelheiten nicht weiter eingehen. Was wir
gesagt, genügt wol, den Charakter der Gesellschaft und die Art ihres
Lebens erkennen zu lassen. Nur darauf müssen wir noch hinweisen,
daß in dem Verkehr der Geschlechter eine große Leichtigkeit und Frei-
1) Die „Gazette de France" vom 12. März 1632 giebt eine ausführliche
Beschreibung des Festes: „Le ballet que le comte de Soissous donna dimanche
dernier au Louvre, ä l'arsenal et en la maison de ville, avec une teile affluence
de peuple que dans le Louvre seul 11 n'y avoit guere moins de quatre miUe
spectateurs, la plupart personnes de remarque". Das Schauspiel scheint also
ötfentlich gewesen und an mehreren Orten wiederholt worden zu ^ein. Das alte
Schloß Bicetre war sehr verfallen, galt als ein Tummelplatz für Gespenster und
sollte abgetragen werden. Das Ballett zeigte anfangs das Schloß bei Tag, darauf
bei Nacht, wo dann allerlei Gespenster, Magier, Falschmünzer, Wächter und
Richter ihre Spaße trieben. Das Fest währte von 8 Uhr abends bis zum Morgen
des andern Tags, und wurde durch ein Frühstück im Hotel de Ville um 8 Uhr
in der Früh beschlossen. Vergleiche Corneille, edition Marty-Laveaux, Band X,
S. 58 und 341.
2) Über das Ballett bei der Hochzeit Enghiens siehe Mlle. de Montpensier,
Memoires, I, S. 50 (Jahr 1641).
3) Montpensier, I, 138.
262
heit bestand. Kein steifer Ton und keine prüde Ängstlichkeit hemmten
die Unterhaltung. Die Gesellschaft fühlte sich jung und kräftig, und
freute sich mit leichtem Sinn der Gegenwart. Selbst in der Tracht drückte
sich noch die Vorliebe für Ungezwungenheit aus. Während später unter
Ludwig XIV. die Kleidung steif und ängstlich wurde, die Allonge -Pe-
rücke zur Herrschaft gelangte und der adelige Herr in der Hoftracht
etwas Weibisches hatte, bewahrte die Tracht zur Zeit der Regentschaft
noch den Charakter größerer Kraft und eine gewisse Leichtigkeit. Sie
vereinte guten Geschmack und Ernst. Leicht und voll fielen die gelockten
Haare dem Mann bis auf die Schulter herab, während ein Federhut mit
breitem, an einer Seite aufgeschlagenem Rand das Haupt bedeckte. Die
Damen trugen auf der Straße, in der Kirche und besonders auf Reisen
Masken, später nur Halbmasken. Diese Sitte erleichterte manches Aben-
teuer. Zudem war es Brauch , daß die Herren in der Wohnung der
Damen, die sie ehren wollten, ein Fest gaben, d. h. die Mühe der An-
ordnungen übernahmen und die Kosten trugen.^)
Ist es nicht bezeichnend, daß in den Jahren vor der Fronde die
Mode der großen Perücken nicht aufkommen konnte, trotzdem die Stutzer
sie bereits trugen ? Erst unter der Regierung Ludwigs XIV. wurde ihr
Gebrauch allgemein. Ludwig selbst legte sie erst in den siebziger Jahren
an, und im Vorübergehen sei schon hier bemerkt, daß die Zeit der litte-
rarischen Blüte vor die Herrschaft der Allonge-Perücke fällt.^)
Wie weit die Freiheit des Ausdrucks auch unter den gebildeten
und anständigen Leuten gehen konnte, zeigt ein Brief Rogers de Bussy-
Rabutin, der seiner Cousine Frau v. Sevigne bald nach dem Tod ihres
Mannes den Rat gab, nicht so spröde zu sein, und entweder den Prinzen
von Conti oder Fouquet, den Minister, zu erhören.^) In einem andern
Schreiben erzählt ihr derselbe Bussy, wie er die letzte Nacht vor seiner
Abreise in das Lager mit seiner Geliebten verbracht habe.^) Daß Frau
V. Sevigne selbst, die ihr Leben von jedem Vorwurf rein erhielt, eine
große Freiheit der Sprache aus ihrer Jugendzeit bewahrte, ist aus ihren
Briefen ersichtlich. Das könnte uns zu einem schiefen Urteil verleiten.
Und doch vertrug sich dieser ungebundene Ton der Rede mit der ritter-
lichen Huldigung, die man den Damen zollte. Die Galanterie beherrschte
die vornehme Gesellschaft und beeinflußte deren ganzes Leben. Es ging
1) Vergl. Corneille, La Place Royale, III, 2, v. 5.
Doraste :
Et qu'au sortir du bal, que je donne chez eile,
Demain un sacre noeud m'unit ä cette belle...
und ibid. III, 4, v. 6:
II Tepouse demain, lui donne bal ce soir.
2) Siehe J. v. Falke, Deutsches Leben, Bd. I: „Die deutsche Trachten-
und Modewelt". Leipzig 1858, Kap. 4, S. 212 ff. — J. Quicherat, Histoire du
costume en France. Paris 1877, Hachette. Chap. XXII (Epoque de Richelieu,
1624—1643), S. 465 ff.
2) Bussy an Frau v. Sevigne, Brief vom 16. Juni 1654.
^) Graf Roger de Bussy-Rabutin an Frau v. Sevigne, Brief v. 3. Juli 1655.
263
durch das Verhältnis der beiden Geschlechter zu einander häufig ein
romantischer Zug. Conde selbst war jahrelang der ehrerbietige Ritter
des Fräuleins du Vigean, und sein ganzes Streben riclitete sich darauf,
seine Ehe für nngiltig erklärt zu sehen, um seine Geliebte zum Altar
zu führen. Als sich diese Hoffnung trügerisch erwies, trat das schöne,
gebildete Mädchen in ihrem 25. Jahr in ein Kloster') (1647). Mehr
als romantisch freilich war das Abenteuer der Prinzessin Anna de Gon-
zague, der Schwester der Königin Marie von Polen und Tochter des Her-
zogs von Nevers. Herzog Heinrich von Guise bewarb sich um deren
Liebe, obwol er Erzbischof von Rheims war. Er that dies in ganz außer-
gewöhnlicher Weise, „wie man es in den Romanen liest", sagt Mlle.
de Montpensier.^) Es gelang ihm, Befreiung von seinen Gelübden zu er-
halten; er trat in den weltlichen Stand zurück, versprach Anna Gon-
zague in einer feierlichen Urkunde seine Hand, und soll sich auch heim-
lich mit ihr vermählt haben. Einige Zeit darauf sah er sich veranlaßt,
nach Sedan und von da nach Brüssel zu gehen. Auf seinen Wunsch
folgte ihm später Anna in Männerkleidung; nachdem sie mancherlei
Abenteuer bestanden hatte, hörte sie unterwegs, daß Guise in Brüssel
eine andere Dame geheiratet habe."'') Daraufhin kehrte sie nach Paris
zurück, protestierte gegen die Ehe des Herzogs und lebte im übrigen,
als sei nichts vorgefallen. Später heiratete sie den Prinzen Eduard, den
Sohn des vertriebenen Pfalzgrafen Friedrich.
Wenn aber auch dieser und mancher andere Vorfall eine grobe
Mißachtung der Sittlichkeit und des Anstands bekundete, so kann man
die Gesellschaft jener Zeit durchaus nicht der nichtsnutzigen, verderbten
Welt vergleichen, die sich 80 Jahre später unter der Regentschaft des
Herzogs von Orleans breit machte.
Die Erinnerung an die gute alte Zeit entlockte Saint-Evremond
noch in seinem Alter sehnsüchtige Seufzer und er schrieb in der Ver-
bannung die nachstehenden Verse :
J'ai vu ie temps de la bonne regence,
Temps oü regnoit une heureuse abondance;
1) Vergl. V. Cousin, La jeunesse de Mme. de Longueville. 3. Aufl. Paris
1855, Didier. S. 439 ff. — Cousin weist nach , daß Mlle. du Vigean wenigstens
damals um Aufnahme in das Kloster bat, wenn auch diese selbst noch etwas
verzögert wurde.
-) Mlle. Montpensier, Memoires, Jahr 1650, I, S. 283.
3) Auch diese verließ Guise, nachdem er ihr in kurzer Zeit 50.000 Ecus
durchgebracht hatte. Vergl. Motteville, I, 207. — Heinrich IL, der fünfte und
letzte Herzog von Guise, war überhaupt ein sonderbarer Mann. Tapfer bis zur
Tollkühnheit, stolz, zeitweise ritterlich in seinem Benehmen und dann wieder
gemein, wortbrüchig, ein gewöhnlicher Abenteurer. Wie ein Held aus den roman-
tischen Epen des Mittelalters, wollte er sich eine Krone erobern, eilte nach
Neapel, das sich unter Masaniello gegen die Spanier empört hatte, verteidigte
die Stadt heldenmütig, fiel aber zuletzt in die Hände der Spanier. Auf Ver-
wendung Condes in Freiheit gesetzt, starb er als Kammerherr Ludwigs XIV. !
Vergl. Forneron, Les ducs de Guise (Paris 1877, Plön), 2 Bde., und V. Cousin,
La jeunesse de Mme. de Longueville, S. 219 ff.
264
Temps oü la ville aussi bien que la Cour
Ne respiroient que les jeux et l'amour.
Une politique indulgente
De notre natura innocente
Favorisoit tous les desirs;
Tout goüt paroissoit legitime,
La douce erreur ne s'appeloit point crime,
Les vices delicats se nommoient des plaisirs.
Und um gleichsam diesen Charakter der guten alten Zeit in dem
Gedicht selbst festzuhalten, richtete Saint-Evremond sein Gedicht an
Ninon de Lenclos, die bekannteste Buhlerin ihres Jahrhunderts, die
Aspasia Frankreichs. Dies führt uns nun auch dazu, die Kehrseite des
Bilds zu betrachten. Die vornehme Gesellschaft jener Tage strebte
nach Bildung, wie wir gesehen haben, aber sie war weit davon ent-
fernt, in diesem Streben einig zu sein. Hier begegnen wir schroffen
Gegensätzen.
Wir dürfen getrost annehmen, daß die Gebildeten des 17. Jahr-
hunderts sich in ihrem Wissen und inneren Wesen nicht gar so sehr
von den Gebildeten unserer Zeit unterschieden haben. Ihr Geist war in
derselben Weise geschult worden, und die Grundlage ihrer Bildung war,
wie heute noch, das Studium des klassischen Altertums. Die modernen
Anschauungen haben sich in vielen Punkten geändert, die exakten
Wissenschaften haben die Welt erobert, aber ein Mann mit der echten
Bildung, wie sie das 17. Jahrhundert geben konnte, hätte keine große
Mühe, sich in die Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts einzuleben.
Der Unterschied zwischen heute und damals liegt vielmehr in der
Verbreitung dieser Bildung. In unserer Zeit wird durch die Organisation
des Schulwesens eine gleichmäßige Bildung in die weitesten Kreise ge-
tragen ; der Buchhandel und die Tagespresse arbeiten unermüdlich daran,
jede neue, packende Idee — ob richtig oder falsch, kommt hier nicht
in Betracht — in fliegender Eile dem Volk mitzuteilen, und somit die
Menschen in ihren Anschauungen einander näher zu bringen. Vor 260
Jahren aber war die Zahl der Gebildeten noch verhältnismäßig sehr klein.
Selbst die Gelehrten konnte man nur ausnahmsweise zu ihnen rechnen,
und auch in der Klasse der Vornehmen und Eeichen hatten die Gebil-
deten schwerlich die Majorität.
In dieser Welt des 17. Jahrhunderts mischte sich seltsam ver-
bunden Romantik mit Nüchternheit, Bildung mit Koheit, leichtes Blut
und Lebenslust mit ernstem Streben, Glanz mit Elend, hohe Gesinnung
mit nichtigem Wesen. In derselben aristokratischen Gesellschaft fanden
sich neben geistig hochstehenden Menschen Leute, die jedes Wissen und
jede feine Lebensart verachteten. Man braucht nur die Memoiren der
Zeit in die Hand zu nehmen, um über den Ton, in dem sich viele der
vornehmsten Edelleute gefielen, ins klare zu kommen.
Saint-Evremond wird uns auch jetzt wieder manchen wertvollen
Beitrag zur Kenntnis seiner Zeit liefern. Da er selbst zu der adeligen
Welt gehörte; kannte er sie genau. Er war ein Mann von feinem litte-
265
rarischen Geschmack und frei von jeder Pedanterie. Seine Schriften, die
mannigfaltiger Natur sind, enthalten einige Satiren von hohem Interesse.
In einer derselben berichtet er von der Unterhaltung zweier Edelleute
über den Wert und Unwert der Bildung. Er verlegt dieses Gespräch
in das Jahr 1656 und will ihm beigewohnt haben. Es mag sein,
daß er die einzelnen Sätze drastischer zusammengefaßt hat, im ganzen
trägt seine Schilderung den Stempel der Wahrheit. Die Herren sprechen
von der Königin Christine von Schweden, die sich damals in Paris
aufhielt; und der eine von ihnen, der Commandeur de Jars, aus dem
altadeligon Haus der ßochechouart, erhebt sich im Eifer des Gesprächs,
lüftet seinen Hut und bittet zu bemerken, daß die Königin ihren Thron
nur verloren habe, weil sie französisch gelernt und sich französische
Manieren angeeignet habe. Hätte sie nichts gekannt als ihr schwedisches
Land, so wäre sie noch regierende Königin. Folglich sei es klar, welch
gefährliche Wirkung Wissenschaft und Bildung haben.^)
In einem andern Sittenbild macht uns Saint-Evremond mit einem
rohen, durch das Kriegsleben verwilderten Gesellen, dem Marschall d'Ho-
quincourt, bekannt und schildert uns, wie derselbe eines Tags mit dem
Jesuitenpater Canaye bei Tisch gescherzt habe.
Der Marschall erzählt zunächst von dem Verkehr, den er früher
mit Freigeistern gepflogen habe. Einer seiner Freunde, La Prette, ein
Erzspötter und Hauptduellant dazu, habe einst todkrank am Fieber
daniedergelegen, und um ihn nicht so elend sterben zu lassen, habe
er, d'Hoquincourt, beschlossen, ihn mit einem Pistolenschuß zu töten.
In dem Augenblick, da er seinem Freund die Pistole an den Kopf ge-
halten habe, sei ein verfl — Jesuit in das Zimmer getreten und habe
den Schuß abgewendet. Darum seien ihm die Jesuiten zuwider geworden
und er habe die Partei der Jansenisten ergriffen. Der Pater bemerkt
darauf salbungsvoll, daß der Teufel immer auf der Lauer sei ; der Mar-
schall aber fährt in seinen Erinnerungen fort und gesteht, daß er den
Krieg über alles geliebt habe, an zweiter Stelle aber sei ihm Mme. de
Montbazon,^) und nach dieser die Philosophie teuer gewesen. Pater
Canaye begeht die Unvorsichtigkeit, des Marschalls Liebe zu Mme. de
Montbazon als unschuldige Freundschaft zu bezeichnen, und weckt damit
die wilde Natur des Kriegsmanns. Er sei keiner von den schwachen
Leuten, die nur seufzen gelernt hätten, schreit er, und greift nach
einem scharfen Messer. „Wenn mir Mme. de Montbazon befohlen hätte,
Euch zu töten, so hätte ich Euch das Messer in das Herz gestoßen!"
Bei diesen Worten fährt er dem erschrockenen Jesuiten mit der Klinge
1) Siehe Saint-Evremond, Oeuvres Tl. I, S. 118 : .Lettre ä M. le comte
d'Olonne". Man vergleiche ferner das Buch von Faret : „L'honneste homme ou
l'Art de plaire ä la Cour (Paris 1630). Darin heißt es: „II est certain que le
nombre n'est pas petit dans la Cour de ces esprits malfaits qui, par un senti-
ment de stupidite brutale, ne peuvent se figurer qu'un gentilhomme puisse estre
savant et soldat ensemble" (S. 30 der Ausgabe v. Yverdon, 1649).
2) Die Herzogin von Montbazon war eine der Hauptintriguantinnen der
Fronde.
vor dem Gesicht herum, so daß dieser unmerklich auf die Seite rückt,
um sich zu retten. Aber der Marschall folgt ihm und bedroht ihn, bis
endlich Saint-Evremond für gut findet, durch eine Wendung des Ge-
sprächs dem Scherz ein Ende zu machen. Denn es war nur ein Scherz,
den sich d'Hoquincourt erlaubt hatte, aber bei Leuten seines Schlags
konnte man nie wissen, wie weit sie einen Scherz treiben mochten.^)
Daß die Satire Saint-Evremonds keine Übertreibung enthält, lehrt
die Geschichte an anderen Beispielen. Einer der Hauptführer der Fronde,
der Herzog von Beaufort, scheute nicht davor zurück, gegen Mazarin
ein Mordattentat zu organisieren.-) Seine Mutter war eine Guise ans
dem fürstlichen Haus Lothringeu und ihrer derben Manieren wegen
bekannt. Ihr Sohn Beaufort aber war als Ausbund von Roheit geradezu
berüchtigt. Er gefiel sich in der gemeinsten Sprache, und trug den
Ehrentitel eines „Königs der Hallen", wie er denn auch der Abgott der
Marktweiber war.^) Daß er durch sein Wesen auffiel, beweist allerdings
der Umstand, daß man darüber spottete. Aber man forsche nur weiter,
und es wird an ähnlichen Figuren nicht fehlen.
Erzählt man uns doch selbst von der Prinzessin Conde sonderbare
Nachricht. Conde, der Sieger von Rocroi, von dessen hoher Bildung
wir schon gesprochen, mußte als Herzog von Enghien aus Familien-
rücksichten im Jahr 1642 der Nichte Richelieus die Hand reichen.
Das Fräulein Claire-Clemence de Maille-Breze war weder schön noch
anziehend, und der einundzwanzigjährige Herzog hatte sich lange gegen
diese Verbindung gesträubt. Aber vergebens, sein Vater hatte darauf
bestanden, da er den Haß des Kardinals fürchtete. Die Herzogin war
so kindischen Sinns und so jung, daß sie zwei Jahre nach ihrer Hoch-
zeit mit Puppen spielte und nicht einmal lesen und schreiben konnte.
W'ährend einer längeren Abwesenheit ihres Gemahls schickte man sie,
heißt es, in ein Kloster, um diese Lücke in ihrem Wissen auszufüllen.
Wie weit ihr diese nachträglichen Studien glückten, wird uns nicht
berichtet."*) Die arme junge Frau hatte eine schwere Stellung in ihrer
neuen Familie. Conde empfand die Demütigung, die man ihm auferlegte,
aufs peinlichste. Er wurde krank, weigerte sich lange, mit seiner Frau
zu leben, und versuchte, wenn auch vergebens, eine Scheidung herbei-
1) Saint-Evremond, Oeuvres II, S. 33 : „Conversation du marechal d'Ho-
quincourt avec le Pere Canaye".
2) Mme. de Motteville, I, 187.
3) Saint-Evremond, -Apologie du duc de Beaufort". Oeuvres Band VI,
S. 5. In dieser Satire heißt es:"„M. de Beaufort fait gloire d'ignorer des
termes trop delicats et capables d"amoUir les courages, comme d'affaiblir les
esprits". Er verwechselt die Wörter, spricht von den accidents der Prozesse,
statt von den ineidents, nennt etwas lubrique. was er als lugubre bezeichnen
will, und sagt, daü Laval infolge einer „confusion ä la tete" (contusionj ge-
storben sei.
*) Mlle. de Montpensier, Memoires, I, S. 51 (Jahr 1642). Vielleicht hat
„la Grande Demoiselle" etwas übertrieben; doch kann man nicht zweifeln, daß
die Herzogin sehr ungebildet war.
267
zuführen. Die Herzogin suchte manchmal Trost bei Mademoiselle
de Montpensier, die aus Mitleid ihre Besuche über sich ergehen ließ.^)
Aber „Mademoiselle" selbst, die in den ruhigeren Jahren der
Kegierung Ludwigs XIV. eine belebte, litterarisch gebildete Gesellschaft
um sich vereinigte, zeigte manchmal merkwürdigen Geschmack. Daß sie
in ihrem Heroismus an der Spitze einer ßeiterschar das Land durch-
streifte, ganz allein dem König die Stadt Orleans streitig machte und
durch einen kecken Streich auch für die Fronde gewann, ist ein Beweis
für ihren energischen und dem Eomantischen zugeneigten Sinn. Schwer
verständlich aber ist es, daß sie bei einem Besuch in der Abtei Fonte-
vrault stundenlang dem Toben einer in einer Zelle eingesperrten, nackten,
in Wahnsinn verfallenen Nonne zusehen und dies Schauspiel als eine
gute Unterhaltung betrachten konnte.^) Solche Beispiele zeigen doch
wieder, daß man in früherer Zeit wol stärkere Nerven hatte, aber von
wahrer Humanität noch weiter entfernt war als heute. Überhaupt brach
die Wildheit häufig durch alle Schranken, die ihr Sitte und Gesetz zogen.
So geriet Beaufort während der Fronde in heftigen Streit mit seinem
Schwager, dem Herzog von Nemours. In Gegenwart der Prinzessin von
Montpensier kam es zwischen beiden zu Thätlichkeiten, und diese führten
zum Duell. Beaufort, der an seine Schwester dachte, bat vor Beginn
des Kampfes um Versöhnung, allein Nemours wollte von nichts wissen
und drang unter wildem Fluchen mit Pistole und Degen auf Beaufort
ein. Dieser setzte sich zur Wehre und streckte seinen Schwager mit
drei Schüssen nieder. Von den Sekundanten wurden ebenfalls drei ge-
tötet.^) Denn die Sitte der Zeit verlangte, daß man mit mehreren
Freunden auf dem Kampfplatz erschien, und daß diese ihre Klingen mit
den Sekundanten des Gegners kreuzten, gleichsam um ihre Waffen-
brüderschaft zu bethätigen.
Man bedenke ferner, welche Kolle noch der Stock in dem Leben
jener Zeit spielt, und wie oft berichtet wird, daß es Prügel setzte!
Wagt der Dichter Benserade ein etwas unehrerbietiges Gedicht auf
Madame de Chatillon zu zeigen, so stellt ihm der Herzog von Chatillon
flugs hundert Stockstreiche in freundliche Aussicht. Die Lustspiele
bringen nicht ohne Grund so viele Scenen, in welchen der Stock das
letzte Wort spricht. Ebenso stößt man in Scarrons „Roman comique",
der ein Bild des Lebens in der Provinz giebt, fast in jedem Kapitel
auf Geschichten von Duellen und Rauf handeln. Die hohen Herren ar-
1) Mlle. de Montpensier, I, S. 51: „Je vous avoue qu'elle me faisoit pitie
et que cette seule consideration me faisoit m'accomoder ä ses visites : quant ä
moi, je n'en recevois aucun divertissement".
2) Mlle. de Montpensier, Memoires I, S. 29 (Jahr 1637). Sie erzählt, daß
ihre beiden Hofdamen schreckliches Geschrei hörten. „Elles trouverent une folle
enfermee dans un cachot, oü il y avoit une fenetre d'oü l'on ne pouvoit voir
que la tete. Cette pauvre creature etoit toute nue, et apres qu'elles eurent eu
quelque temps le plaisir de son extravagance, pour me divertir, elles viarent
m'avertir; je laissai l'entretien de madame l'abbesse ; je pris ma course vers ce
cachot et n'en sortis que pour souper."
3) Mlle. de Montpensier, II, S. 13 (Jahr 1652).
beiteten freilich nur selten eigenhändig mit dem Stock; gewöhnlich
gaben sie ihren Dienern den Auftrag, Leute, die im Rang tiefer standen
und ihnen unbequem waren, zu überfallen und durchzuprügeln. Selbst
Voltaire sollte, ein Jahrhundert später, seine Erfahrungen darüber
machen. Die Barone griffen, wie wir gesehen haben, zum Degen, wenn
sie einen Streit mit einem Standesgenossen auszufechten hatten, wol
aucli zur Pistole, die sie geladen bei sich trugen.^) In den Straßen von
Paris kam es oft genug zum Blutvergießen. Die großen Herren erschienen
selten ohne zahlreiches Gefolge, und so kam es zwischen den Leuten
zweier auf einander erbitterten Familien häufig zum offenen Gefecht.^)
Selbst im Parterre des Theaters entspannen sich nicht selten Streitig-
keiten, die zu blutigen Händeln ausarteten. Bis zur Mitte des Jahr-
hunderts war es gefährlich, sich bei Nachtzeit auf die Straßen der Haupt-
stadt zu wagen, und man hatte nicht allein Diebe und raublustige Strolche
zu fürchten.
Bei der Geschichte Voitures haben wir schon gesehen, welch derben
Scherz man sich manchmal in den feinsten Kreisen, sogar im Hotel
Rambouillet erlaubte. Der selbstgefällige Schöngeist hatte den Übermut
der jungen Damen kosten müssen. Und doch standen in dem Haus der
edlen Marquise die Dichter und Gelehrten geachtet und den vornehmen
Gästen gleichberechtigt zur Seite. Aber nicht in allen Palästen, in
welchen man Mäcenatentum anstrebte, fand sich ähnliche Billigkeit. In
der Gesellschaft der stolzen Herren ging es oft toll her, und als Ziel-
scheibe der Scherze diente nur- zu oft der unglückliche Poet, der aus
Mitleid in das Haus aufgenommen worden war; der arme Schöngeist,
der, von Hunger getrieben oder von falscher Eitelkeit verleitet, in dem
Dienst des Hauses ein Amt gefunden hatte.
Die hervorragenden Dichter und Schriftsteller waren freilich vor
solcher Behandlung sicher. Sie traf zunächst die litterarischen Vagabunden,
welche Mathurin Regnier so trefflich schildert, die Parasiten, welche für
ein Stück Braten sich jegliche Unbill gefallen ließen, und die sich ge-
übt hatten, auf Verlangen auch ein paar Gelegenheitsgedichte zu schmieden.
Koch in späteren Zeiten, unter Ludwig XIV.. mußte sich Jean de San-
teul, ein zumeist durch seine lateinischen Gedichte bekannter Schöngeist,
im Hause Condes (des „großen" Conde Enkel) gefallen lassen, daß ihm
die Herzogin eine derbe Ohrfeige gab. Als er darüber erschrocken zu-
1) Vergl. Corneille, Le Menteur II, 5, v. 93:
mais, voyez ma disgräce,
Avec mon pistoletle cordon s'embarrasse,
Fait marcher le declin; le feu prend, le coup port.
-} Beaufort hielt sich z. B. eines Tags von einem andern Edelmann,
Mr. de Janze, für beleidigt. Dafür überfiel er ihn mit seinen Freunden in
dem „Jardin Regnard", der an die Tuilerienterrasse grenzte, und stieß den
Tisch um, an dem dieser saß; von beiden Seiten zog man die Degen, und mit
Mühe wurde Blutvergießen verhütet. In ähnlicher Weise boten die beiden Herren
und deren Freunde auf dem „Cours de la Reine" einander Trotz, bis der Herzog
von Orleans vermittelte. Vergl. MUe. de Montpensier, Memoires I, S. 222
(Jahr 1644).
269
sammenfuhr, hatte die Fürstin die Gnade, ihm ein Glas Wasser ins
Gesicht zu schütten, indem sie witzig und unter dem Beifall der anderen
Gäste bemerkte, daß nach dem Donner der Regen käme. Da Santeul
nach einer solchen Behandlung nicht fortlief, so scheint er fast solche
Behandlung verdient zu haben, und eine andere, wenn auch nicht ver-
bürgte Überlieferung von der Ursache seines Tods stimmt ganz zu der
Behandlung, von der die eben erwähnte Geschichte spricht. Es heißt
nämlich, der junge Herzog (Condes Enkel) habe Schnupftabak in ein
Glas Wein geschüttet und Santeul gezwungen, die Brühe zu trinken.
Der Unglückliche sei aber an den Folgen dieses „Scherzes" nach hef-
tigen Leiden gestorben.^) Jeder Entschuldigung entbehrte auch Armand
de Conti, der Bruder Condes, des Feldherrn, als er Sarrazin erschlug. Wozu
auch Entschuldigungen? Jean Fran^ois Sarrazin stand als Sekretär in
Contis Dienst. Er hatte mehrere historische Schriften verfaßt, auch in
Voitures Art leichte galante Verse gedichtet, ohne an deren Veröffentlichung
zu denken, und war als witziger Gesellschafter gerühmt. In einem Anfall
von Wut schlug ihm sein Herr mit einer Feuerzange auf den Kopf, so
daß er drei Tage nachher an einer Gehirnkrankheit starb (1654). Conti bot
damals, wie eine unverbürgte Überlieferung erzählt, dem jungen Moliere,
der an der Spitze einer Schauspielergesellschaft in der Provinz umherzog,
das Amt Sarrazins an, aber zum Glück für sich und die dramatische
Poesie lehnte der Dichter die gefährliche Ehre dankend ab.
Die Fabel von dem Kettenhund und dem Wolf kommt uns bei
solchen Geschichten leicht in den Sinn. Tristan l'Hermite, der gefeierte
Dichter der ..Marianne", war als Kammerherr in den Dienst Gastons
von Orleans getreten, und starb 1656^ infolge eines Lungenleidens.
Wir wissen, daß man ihn schätzte, daß sein Gönner, der Herzog von
Saint Aignan. ihm mehrmals durch reiche Geldspenden aus der Not half,
in die er sich durch seine Spielwut gestürzt hatte. Und doch! Welche
Erfahrungen muß er gemacht haben, wenn er am Schluß seines Lebens
mit Bitterkeit auf die Vergangenheit zurücksah und sich mit einem Hund
verglich, der seinem Herrn schön thut. Das Epithaph, das er sich dichtete,
lautet in der Übersetzung:
Verlockt von trügerischem Hoffaungsstern,
Geblendet von dem Glänze äußerer Pracht,
Folgt' wie ein Jagdhund ich dem Ruf des Herrn !
Ich wollte glänzen, und blieb stets in Nacht.
Ich hofft' auf Glück, und lebte stets nur schlecht,
Und hart gebettet starb ich als ein Knecht.^)
1) Ausführlicheres über die Prinzen Conde enthält das nachgelassene
Buch von Lotheißen, Zur Kulturgeschichte Frankreichs im 17. und 18. Jahr-
hundert (Wien 1889), S. 135 ff., wo der Verfasser anläßlich der „Histoire des
princes de Conde" vom Herzog von Anmale (Paris 1863 — 1886, 4 Bände) und
ferner von Etienne AUaire, La Bruyere dans la maison de Conde (Paris 1886)
die Condes schildert.
2) Tristan l'Hermite (Parfaict V, S. 200).
Ebloui de l'eclat de la splendeur mondaine,
Je me flattai toujours de l'esperance vaine,
Faisant le chien couchant aupres d'un grand seigneur.
270
Und so begreifen wir Eotrous Widerwillen , in dem Haus eines
Aristokraten Schutz gegen Armut und Elend zu finden. Der Wolf zog
die Freiheit seines Waldes, den Stolz seiner Unabhängigkeit dem Glanz
der Knechtschaft vor. Allerdings stand Rotrou in freundschaftlichem
Verhältnis zu den Familien Soissons und Longueville, welchen er seine
Arbeiten vorlas. Aber weder die Spazierfahrten auf dem „Cours de la
Reine", noch die Besuche bei Hof, in Vincennes und im Louvre hatten
Eeiz für ihn. Er mochte nicht zu den edlen Herren in den Wagen
steigen, so freundlich sie ihn auch oft dazu einluden; denn er litt
darunter, wenn er, wie andere, sich abquälen sollte, ein Witzwort zu
finden, um sich angenehm zu machen.^) Auch Corneille zog in seinem
geraden Sinn bürgerliche Unabhängigkeit dem Glanz vor, mochte ihm
auch manche Gönnerschaft darob entgehen.
Wir mußten diese immer wieder hervorbrechende Roheit in dem
Charakter der Zeit hervorheben, um das Bild der damaligen Gesellschaft
wahrheitsgetreu zu zeichnen. Aber man darf deshalb nicht zu streng
über sie urteilen. In einer aufstrebenden Nation, einem rasch sich ent-
wickelnden Staatsleben wird die Feinheit der Sitten, weltmännischer
Takt erst allmählich zu einem Gemeingut größerer Kreise ; wahre Hu-
manität aber ist ein Gut, das erst nach langer civilisatorischer Arbeit
von einem Volk errungen wird. Eine Gesellschaft jedoch, welche sich
an Romanen wie „Asträa" und später an dem „großen Cyrus" des
Fräulein von Scudery begeistern, die darin enthaltenen langatmigen,
gezierten Unterhaltungen genießen konnte, hatte gewiß den Wunsch, die
gute Sitte zur Herrschaft zu bringen und der geistigen Kraft ihr Recht
widerfahren zu lassen. Es ist kein Zweifel, daß die Epoche, die uns jetzt
beschäftigt, lebhaften Sinn für Schönheit und Größe hatte; daß sie den
Grund legte, auf der die nachfolgenden Generationen das stolze Gebäude
errichten konnten, das so lang als mustergiltig in Europa bewundert ward.
Wir haben indessen bisher nur die aristokratische Gesellschaft
der Hauptstadt betrachtet, nur die Kreise, welche in Verbindung mit
Je me vis toujours pauvre, et tächai de paraitre.
Je vecus dans la peine attendant le bonheur,
Et mourus sur un coffre en attendant mon maitre.
ij Rotrou, A son ami M. (qui veut partir pour Dreux). 7. Strophe, am
Schluß, und Str. 8:
Ni le Cours, ni la Cour n'ont rien de captivant,
Et quoique mon oeil y decouvre,
Je sors de Vincennes et du Louvre
Aussi froid que j'etois devant.
En l'humeur, oü je suis, qui veut bien m'affliger,
N'a qu'ä m'entretenir de ballets, de nöces.
Et quoique des seigneurs me pensent obliger,
Je hals d'entrer en leurs carrosses.
Je n'y puis imiter ni Clinchant ni Gillot,
Jamals mon esprit ne s'y ronge,
Et je soulfre trop, quand j'y songe,
Au moyen de dire un bon mot.
271
dem Hof standen, oder die Männer, welche als regierende Herren ia den
einzelnen Provinzen selbst wieder Hof hielten. Sie haben allerdings,
wie schon bemerkt worden ist, damals den Ton angegeben. Um aber
den französischen Adel richtig zu beurteilen, muß man auch den kleinen
Adel, der in der Provinz auf dem von den Vätern geerbten Grundbesitz
lebte, kennen lernen. In ihm lag doch der eigentliche Kern des fran-
zösischen Adels, und in ihm fand sich auch noch im 17. Jahrhundert
die alte Einfachheit und feste Art.
Wer sich von Adel nennt, und lügt wie Du,
Der lügt, wenn er es sagt, und war es nie!-i)
sagt der greise Geronte in Corneilles „Menteur".
Ein solcher Mann hat keine Ahnung von den Vorschriften der
Mode, den Gesetzen der neumodischen Galanterie. Aber er ist fest und
treu, eine Stütze der Familie wie des Staats. Er i.st Eoyalist, und wie
er seinem König gehorcht, so verlangt er in seiner Familie volle Auto-
rität. Frau und Kinder sind ihm unterthan. Er bestimmt den Lebens-
weg der letzteren, verfügt über ihre Hand nach seinem Gutdünken. In
allen Dramen und Lustspielen wird dieser väterlichen Autorität als
einer fest in den Gesetzen begründeten Macht Erwähnung gethan. Am
schärfsten drückt Pauline in Corneilles „Polyeucte" diese unbedingte
Unterwerfung der Kinder unter den Willen des Vaters oder, nach dessen
Tod, des Bruders aus. Pauline sagt zu Sever, den sie früher geliebt
und von dem sie durch die Ehe mit Polyeucte getrennt worden ist:
Doch welchen Gatten auch der Vater mir
Bestimmt — und hättet ihr mit einer Krone
Den eignen Wert erhöht, und hätt' ich Euch
Damals geseh'n, und hätt' ich ihn gehaßt —
Ich hätte drob geweint, jedoch gehorcht.-)
Das Leben auf dem Land verstrich in ziemlicher Einförmigkeit.
Die Verwaltung der Güter und die Ausübung der Herrschaftsrechte lagen
gewöhnlich in der Hand einiger Beamten, und der Schloßherr selbst
ergötzte sich hauptsächlich an der Jagd, am erfrischenden Ritt oder er
gab sich den Freuden einer wohlbesetzten Tafel hin. In seinem Thal
war er ein kleiner König, der über seine Mannen gebot, den man ver-
ehrte oder fürchtete, der das Schicksal seiner Leute in der Hand hatte.
War er von den meisten Abgaben und Steuern befreit, die das arme
Volk drückten, so zahlte er doch die Blutsteuer. Denn der Kriegsdienst
war seine Pflicht, aber auch sein Eecht. In dem französischen Adel
lebte ein kriegerischer Geist, und er hieß einen Kriegszug oft als Ab-
wechslung in seinem eintönigen Leben willkommen. Dann ging es in
1) Corneille, Le Menteur V, 3, v. 19 u. 20.
^) Corneille, Polyeucte II, 1. v. 82 ff.:
De quelque amant pour moi que mon pere eüt fait choix,
Quand ä ce grand pouvoir que la valeur vous donne,
Vous auriez ajoutö l'eclat d'une couronne,
Quand je vous aurois vu, quand je l'aurois hai,
J'en aurois soupire, mais j'aurois obei.
272
die Fremde, an der Spitze einiger getreuen Diener und Gutsmannen,
die ihm folgten. In Friedenszeiten aber zog er wol manchmal an das
Hoflager seines Königs, diesem zu huldigen oder etwas von ihm zu
erbitten. Auf dem glatten Boden der königlichen Vorsäle konnte er
sich freilich nicht heimisch fühlen. In der dumpfen Luft, die dort
herrschte, fühlte er sein Herz beengt, und gerne kehrte er wieder in
die Heimat zurück, wo er selbst noch etwas galt, wo er als Vertreter
des Königs schaltete, die Handhabung der Gesetze überwachte, die
Steuern erheben ließ, die Miliz berief und musterte, für die Armen
sorgte.-^) Freilich nicht mehr lange. Denn die Centralisation machte
in der Verwaltung immer größere Fortschritte, und die Herrschaft in
der Provinz gehörte bald dem Vertrauensmann des Ministers, dem Inten-
danten und dessen Unterbeamten. Dazu kam noch später der Wille
König Ludwig XIV., der den unabhängigen Adel an seinen Hof berief,
wo er geistig und moralisch verflachte, während er sich materiell ruinierte.
In der Zeit vor der Fronde war das noch anders. Der erbgesessene
Adel stand noch aufrecht und gab dem Leben in der Provinz seinen
Charakter. Freilich gab es lange Stunden in den Herrensitzen; die Frau
und die Töchter hatten wol ihre Beschäftigung im Haus, und in freien
Stunden freuten sie sich doppelt an einem ßoman, der von wunderbaren
Helden erzählte, oder an einer neuen Tragödie, die ihnen auf einigen
Bogen in Quart gedruckt und mit Vignetten geziert aus der Haupt-
stadt geschickt worden war. Oder sie wußten die Laute zu spielen und
ihi-e bald neckischen, bald traurigen Lieder zu singen. Aber den Herrn
des Hauses drückte schon öfters die Langweile, und freudig ergriff er
die Gelegenheit, mit seinesgleichen zusammenzukommen, gemeinsam
zu tafeln, sich auszuplaudern, die alten Bekanntschaften zu erneuern.
Eine solche Gelegenheit boten, in einigen Provinzen wenigstens, die
Ständeversammlungen. Alle zwei Jahre kamen sie auf mehrere Wochen
zusammen, um die Provinzialangelegenheiten zu ordnen, und nach den
Sitzungen gab es Bankette von solch solider Pracht, daß die Tische
sich schier unter der Last der Speisen und Getränke bogen, gab es
Bälle — denn auch die Damen fanden sich oft bei den Landtagen
ein — hohes Spiel, und gewöhnlich war auch durch das Engagement
einer Schauspieltruppe für weitere Unterhaltung gesorgt.-) Eine solche
Versammlung der Stände kostete dem einzelnen oft schweres Geld, aber
die Gelegenheit kam ja nicht oft. In der Zwischenzeit konnte man, wenn
nötig, wieder sparen.
Auch die Nachbarn in der Runde luden sich zu ihren Festen,
Jagden und Gesellschaften ein. Es war doch ein gesundes, kräftiges
Leben.
') A. de TocqueviUe, L'ancien regime et la revolution, p. 60.
-j Dassoucy in einem Liedchen:
Et quoi qu'on chante et quoi qu'on die
De ces beaux messieurs des etats,
Qui tous les jours ont six ducats,
La musique et la comedie.
273
Und wie Jahrhunderte zuvor die Troubadours von Schloß zu Schloß
gezogen waren, ihre Lieder zu singen und sonstige Künste zu zeigen,
so sorgten jetzt auch noch wandernde Virtuosen — Karikaturen der
Troubadours — für die Unterhaltung und Bildung der Provinz. Einer
dieser Leute, Dassoucy, hat sich auch als Dichter vorgewagt und nicht
geringe Meinung von sich gehabt.^) Über die Erlebnisse auf seinen Wan-
derungen durch Frankreich und Italien hat er selbst berichtet, und wenn
er auch viele Vorfälle, die dunkel genug waren, in schönem Licht sah,
so trägt doch sein Bericht im ganzen den Stempel der Wahrhaftigkeit.^)
Dassoucy erzählt unter anderm , wie er zur Zeit der Eegentschaft eine
Kunstreise — wie seine modernen Nachfolger sagen würden — durch
das südwestliche Frankreich unternahm. Von zwei Pagen begleitet, wan-
derte er zu Fuß durch das Land, obwol er die Mittel hatte, einen Wagen
zu nehmen und seine Begleiter beritten zu machen. Aber eine Fuß-
wanderung war ihm ein Genuß, und er singt ein wahres Loblied über
die Freuden einer solchen. Sein Aufzug war sonderbar genug. Voran
schritt ein Esel, der das Gepäck der Reisenden, einen Koffer mit Lie-
dern und Gedichten trug, und mit Theorben und Lauten behängt war.
Hinter ihm schritten die zwei Musikpagen; so nennt Dassoucy zwei
Knaben, die ihn mit ihren jugendlichen Stimmen in seinen Konzerten
unterstützen mußten. Diese trugen phantastisches Gewand, lange an-
schließende Röcke mit schmalen Silberborten. In ähnlicher Tracht folgte
dann der Herold des Zugs, Dassoucy selbst, ein „Phebus incognito".
Doch ließ er immer 50 Schritte Distanz zwischen sich und seinen Be-
gleitern. Er that dies, nicht weil ihn die Jahre drückten oder seine tief-
sinnigen Gedanken ihn aufhielten, sondern aus kluger Vorsicht. Denn
in jener Zeit waren die Wege nicht sicher, und da ein räuberischer
Überfall sich voraussichtlich zuerst gegen den Esel richtete, so hoffte
Dassoucy Zeit zu finden, unbemerkt seine wohl gefüllte Börse in ein Ge-
büsch am Weg zu werfen oder sie hinter einem Stein zu verbergen.
Als er nun in dieser Weise vorsichtig und wohlgemut Burgund
durchwanderte, sah er eines Tags in der Ferne vier bis fünf bewatfnete
Reiter auf den Feldern sich tummeln. Da sie auch Hunde bei sich hatten,
hielt er sie für Jäger. Plötzlich aber sprengten sie im Galopp auf ihn
zu und hatten ihn erreicht, bevor er sich seine Lage klargemacht hatte.
Die vermeintlichen Jäger erschienen ihm nun als Straßenräuber. Der
Führer fragte ihn nach seinem Namen und Stand, und als Dassoucy
ihm von seiner Kunst redete, ließ er sich den Koffer öffnen und die
Bücher vorzeigen. Dassoucy wies ihm drei verschiedene Bände vor, welche
schön gebunden und mit Goldschnitt versehen, die Erzeugnisse seiner
Muse enthielten. Als sich der Fremde überzeugt hatte, daß er den be-
rühmten Dichter und Virtuosen in Person vor sich hatte, sagte er: „Ich
1) Das Weitere über ihn s. Abschnitt „Gegenströmungen" dieses Bands.
-) Dassoucy, Aventiires burlesques. Neue Ausgabe von Emile Colombey.
Paris 1858, S. 45 ff. Die erste Ausgabe dieses Buchs erschien 1677. Es war
Dassoucys vorletztes Werk.
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratur. jg
274
kann nicht gestatten, daß Sie so vorüberziehen. Ich lade Sie für heute
zu mir ein, und da mir das Glück Ihrer Begegnung zu teil wird,
möchte ich Ihre Gedichte kennen lernen, und dann wollen wir zusammen
trinken". Darauf zeigte er auf die Türme eines Schlosses, das sich in
der Nähe erhob, und beauftragte einen seiner Leute, Dassoucy dahin zu
geleiten. Er selbst werde in einer Stunde ihm zu Diensten sein. Der
vermeintliche Räuberhauptmann war ein Marquis, einer der angesehensten
und reichsten Adeligen der ganzen Provinz. Auf dem Schloß begann für
Dassoucy ein flottes Leben. Er wurde geehrt und gefeiert, wie es einem
großen Dichter geziemt. Er erzählt uns wenigstens, daß die junge Ge-
mahlin des Marquis ihm zum Gruß die Wange geboten und die beiden
Pagen geküßt habe; daß er dann von dem Ehepaar zur Tafel geführt
worden sei und den Ehrensitz eingenommen habe. „So pflegen die wahr-
haft Großen das Talent in armen Dichtern zu ehren." Dann begann
Dassoucy mit seinen Pagen zu singen, seine Gedichte vorzulesen und er
entzückte die Schloßbewohner so sehr, daß sie ihm das Versprechen ab-
nötigten, er wolle wenigstens acht Tage bei ihnen bleiben. Diese Woche
verstrich ihm, wie in einem verzauberten Schloß. Er lehrte die Dame,
die eine hübsche Stimme hatte, einige seiner Lieder und lebte in Herr-
lichkeit, als ob alle Tage Hochzeit wäre. Bald aber sehnte er sich nach
seiner Freiheit zurück. Der Appetit fehlte ihm, er mußte trinken, wenn
er gerade keine Lust dazu hatte, und wenn er Durst fühlte, hatte er
nichts; er konnte nur aus kleinen Weingläsern trinken, da er doch ge-
wöhnt war, den Wein schoppenweise zu sich zu nehmen, und dabei bot
man ihm soviel Wasser an, als ob er Fieber hätte. Überhaupt fand er
die Mahlzeiten bei Vornehmen seiner Natur zuwider; man sitze zu eng,
meint er, dürfe sich nicht rühren, nicht singen und spaßen, dürfe seine
Gedanken nicht offen sagen, sondern müsse zuhören und alles loben,
selbst die Einfälle eines frechen Parasiten. Auch Dassoucy weiß , daß
die Schöngeister, die zu der Tafel der hohen Herren zugelassen werden,
nicht Zeit haben, sich der saftigen Braten zu erfreuen, sondern ihre
Phantasie anstrengen und den Geist spannen müssen wie eine Armbrust,
um sich gefällig zu erweisen und witzige Bemerkungen zu finden.')
So freute er sich denn von Herzen, als er wieder nach alter Art
durchs Land ziehen konnte.
War schon ein wandernder Virtuos einer freundlichen Aufnahme
in den Herrensitzen der Provinz gewärtig, so wurden reisende Schau-
spielertruppen gewöhnlich mit noch größerem Vergnügen begrüßt. Deren
gab es schon eine beträchtliche Anzahl, denn die Vorliebe für drama-
tische Aufführungen hatte sich sehr schnell über Frankreich verbreitet.
Kein Fest durfte so leicht ohne ein oder mehrere Schauspiele vorüber-
gehen. In den größeren Städten eiferten oft verschiedene Gesellschaften
um die Gunst des Publikums, und kleinere Banden suchten ihre Triumphe
in den Ortschaften, auf den Schlössern und Edelsitzen. Als die Prin-
zessin von Montpensier nach Beendigung der Fronde in Ungnade sich
1) Dassoucy, eh. V, edition Colombey, S. 51.
275
nach Schloß Saint-Fargeau zurückzog, hatte sie während eines ganzen
Winters eine Schauspielertruppe in ihrem Dienst. Im Frühjahr begab
sie sich nach Tours, fand dort die Gesellschaft wieder und beehrte sie
auch sofort mit ihrem Besuch.')
Berühmt war das Fest, das der Marquis de Sourdeac auf seinem
Schloß in der Normandie gab, um den Abschluß des Pyrenäischen Frie-
dens und die Vermählung des jungen Königs zu feiern. Sourdeac war
ein Original ; man erzählte von ihm, er sei ein vorzüglicher Schlosser,
und böse Zungen behaupteten, er lasse sich von Zeit zu Zeit von seinen
Bauern gleich einem Hirsch durch die Wälder jagen, um sich eine ge-
sunde Bewegung zu machen.^) Diesmal aber hatte er Großes vor. Der
ganze Adel der Umgegend war geladen und die Familien kamen selbst
aus weiter Entfernung nach Neubourg, dem stattlichen Schloß des Mar-
quis. Das Fest währte acht Tage, während welcher die Geladenen im
Schloß wohnten. Bankette, Bälle. Jagden, Spiele, Konzerte — nichts
fehlte. Der Marquis hatte sogar von Paris die Gesellschaft des Marais-
Theaters berufen, um seine Gäste durch die Darstellung der schönsten
und neuesten Werke zu erfreuen. Den Glanzpunkt des Festes bildete die
Aufführung einer neuen Dichtung Corneilles, des „Goldenen Vließes"
(„La toison d'or-'). Der Marquis hatte das Stück bei dem Dichter eigens
bestellt und mit 2000 Livres honoriert. Er hatte dann bei der Aus-
stattung des Zauberstücks keinen Aufwand gescheut und alle scenischen
Hilfsmittel, die man damals besaß, benützen lassen, um den Eindruck
zu erhöhen. Nach Beendigung des Festes aber schenkte er die ganze
Ausstattung des Stücks den Schauspielern, welche während des folgenden
Winters damit in Paris Aufsehen machten.
Wenn nun auch diese dramatische Aufführung eine Ausnahme bil-
dete, so ist doch gewiß, daß die Teilnahme am Theater in der adeligen
Gesellschaft, wie in den bürgerlichen Kreisen auch in der Provinz stetig
wuchs. Wie während des mehrwöchentlichen Aufenthalts, den Ludwig XIIL
und seine Gemahlin in dem Kur- und Badeort Forges nahmen, das Schau-
spiel nicht fehlen durfte, wird später noch erzählt werden.^) Der Dichter
Scarron berichtet Ähnliches aus Bourbon, wohin man ihn geschickt hatte,
um die Bäder zu benützen. Dort sorgte der Herzog von Longueville für
eine würdige Ausstattung.'*) Derselbe Scarron schildert in einem inter-
1) Mlle de Montpensier, Memoires (Jahr 1655), II, S. 275.
2) Tallemant, Historiettes, VII, S. 370 (ed. P. Paris).
3) Siehe den IV. Abschnitt dieses Bands: „Corneilles Jugendzeit".
*) Scarron, Poesies diverses. Darin: „La legende de Bourbon" (1641),
V. 49 ff.
La, Monseigneur de Longueville
Petit, mais droit comme une quille
Vaillant courtols et liberal,
Magnanime, franc et loyal,
Nous donna force comedies.
II lul coüta deux mille livres
En argent, veteraent et vivres,
18*
276
essanten Eoman das Leben und Treiben dieser fahrenden Komödianten.^)
Darin lesen wir von dem Besuch, den die Schauspieler von einer Land-
junkerfamilie erhalten. „Die Ankunft einer Karosse, die mit Landadel
gefüllt war, unterbrach sie. Es war ein Landedelmann, der sich Herr
de la Fresnaye nannte. Er stand im Begriff, seine einzige Tochter zu
verheiraten, und kam nun, die Schauspieler zu bitten, am Tag der Hoch-
zeit, bei ihm eine Vorstellung zu geben. Die Tochter, die nicht gerade
zu den Geistvollen dieser Welt gehörte, drückte ihnen den Wunsch aus,
sie möchten die „Silvia" von Mairet aufführen. Die Schauspielerinnen
unterdrückten mit Mühe das Lachen und sagten, sie hätten kein Exem-
plar mehr und man müßte ihnen eines auftreiben.-) Das Fräulein ent-
gegnete, daß sie ihnen ein Exemplar geben könne, und fügte hinzu, daß
sie alle Schäferdichtungen besitze, die „Bergeries" von Racan, die „Belle
pecheuse", „Le Contraire en amour", „Ploncidon", „Le Mercier" und
noch viele andere, deren Titel ich vergessen habe. ,Denn', sagte sie,
.sie passen besonders für Leute, die, wie wir, auf dem Land wohnen,
auch kosten die Kostüme nicht viel; man braucht keine kostbaren G-e-
wänder dabei, so wie man sie etwa bei der Aufführung des „Pompejus",
des „Cinna", des „Heraclius" oder der „Rodogune" nötig hat. Auch
sind die Verse in diesen Schäferstücken nicht so bombastisch wie in
den ernsten Schauspielen, und die ganze Gattung der Schäferpoesie ent-
spricht mehr der Einfachheit unserer ersten Eltern, welche selbst nach
dem Sündenfall nur mit Feigenblättern bekleidet waren.' Die Eltern des
Mädchens hörten dieser Rede bewundernd zu, überzeugt, daß die besten
Redner des Reichs weder so gedankenreich, noch in so gewählten Aus-
drücken reden könnten. Die Schauspieler aber verlangten Zeit zur Vor-
bereitung, und man gewährte ihnen acht Tage."^)
Diese und andere ähnliche Schilderungen zeigen uns, wie die wan-
dernden Komödianten die neuen dramatischen Werke durch das Land
trugen und zur Verbreitung des litterarischen Interesses beitrugen,
mochten sie auch manchmal haarsträubende Leistungen bieten. Viele
dieser Truppen hatten gewiß schon ein ganz annehmbares Spiel, wie ja
auch Molieres Gesellschaft jahrelang in der Provinz umherzog. Frau
von Sevigne berichtet später einmal humoristisch über eine Vorstellung
der Racine'schen „Andromaque" in Vitre und sagt: „Elle me fit pleurer
plus de six larmes".^) In der sarkastischen Skizze des Landfräuleins,
Dont les pauvres comediens,
Gueux comme des bohemiens,
Devinrent gras comme des meines
Et glorieux comme des chanoines;
Dont j'eus grand' consolation,
Car j'aime cette nation.
1) Scarron, Le roman comique. Siehe weiter unten den Abschnitt: „Gegen-
strömungen".
^) Der dritte Teil des „Roman comique" erschien nach Scarrons Tod
und war von einem andern Verfasser. Die „Silvia" galt damals für ganz veraltet.
3) Siehe Scarron, Roman comique, 3me partie, eh. 9.
•*) Mme. de Sevigne, Brief vom 12. August 1671.
277
das seine litterarischen Kenntnisse zeigen möchte, offenbart Scarron
bereits den Hochmut des Parisers, der schon damals auf die Provinz
herabsah; aber wir sehen doch, wie verbreitet das Interesse an der
Dichtung in den Kreisen des Landadels war. Man hielt mit der Haupt-
stadt nicht immer gleichen Schritt, aber man folgte. Was lag daran,
ob man einige Jahre zurück war und noch bewunderte, was man in
Paris schon seit einiger Zeit vergessen hatte oder gar belächelte? Die
Hauptsache war, daß man überhaupt las, und wer größere Verbindungen
hatte, konnte sich leicht auch in der Provinz auf dem Laufenden er-
halten. Wir werden noch hören, wie gut Frau von Sevigne 20 Jahre
später ihre Tochter, die in der fernen Provence lebte, mit den wichtig-
sten der neuen Erscheinungen auf dem Büchermarkt versah.
II.
Die Ideale der Zeit.
Wie in dem Strom der Zeit, den Wellen gleich, die Geschlechter
der Menschen auftauchen und vergehen, so wechseln mit ihnen in steter
Wandlung die Ideale.
Gewisse Begriffe, wie Tugend, Ehre, Liebe, Freiheit, wurzeln aller-
dings so tief in der Seele des Menschen, sie sind ihm so vertraut, und
der Besitz dieser Güter gilt so allgemein als der Endzweck alles
menschlichen Strebens, daß jeder Zweifel darüber ausgeschlossen und
kein Schwanken in ihrer Auffassung möglich erscheint. Die Dichter
aller Zeiten und aller Völker haben das Glück der Liebe und den Segen
der Freiheit gepriesen; man sollte denken, es berge sich in diesen Be-
griffen ein Ideal, das allen Völkern gemeinsam sei und die Herzen aller
Menschen höher schlagen lasse. Prüft man aber die Anschauungen der
einzelnen Nationen genauer, so wird man die Wandlungen erkennen,
welche sich auch in ihnen ununterbrochen vollziehen. Mit dem Wechsel
der Bildung ändern sich die Begriffe, selbst wenn die Bezeichnungen
dieselben bleiben. Der heidnische Philosoph und der christliche Märtyrer
strebten beide nach Tugend und moralischer Vollkommenheit. Aber wie
entgegengesetzt, wie geradezu einander feindlich waren die Begriffe, die
sich beide von der Tugend gebildet hatten. Dem Wilden ist die Freiheit
etwas anderes als dem ' Bürger eines civilisierten Staats; und wie
sonderbar gestaltet sich oft der Begriff der Ehre nicht allein bei den
verschiedenen, höher oder niedriger stehenden Rassen, sondern selbst
innerhalb eines und desselben Volkes.
So ist die Frage nach den Idealen, die in den einzelnen Ge-
schichtsepochen und bei den tonangebenden Nationen vorherrschen,
keineswegs müßig. Sie vor allem prägen den Jahrhunderten ihren eigen-
tümlichen Charakter auf. Erst wenn wir die Ideale kennen, für welche
eine Zeit geschwärmt hat, werden wir diese letztere selbst verstehen.
Das geistige und ethische Leben eines Volkes prägt sich in ihnen am
deutlichsten aus.
Die größten Männer können sich dem Einfluß ihrer Zeit nicht
entziehen. Selbst die Dichter, die doch am freiesten im Reich der Phan-
tasie zu walten scheinen ; selbst die Philosophen, welche sich in einer
abstrakten Welt bewegen, können sich dieser Einwirkung mit nichten
erwehren. Hervorragende Geister reißen oft eine Nation mit sich fort
auf den Bahnen, die sie eingeschlagen haben, und die Geschichte kennt
Männer, wie Alexander, Luther, Kant, welche die Entwicklung des
279
Menschengeschlechts in entschiedener Weise beeinflußt haben, von den
Eeligionsstiftern gar nicht zu reden. Aber selbst diese Männer, welche
scheinbar frei und nur von ihrer innersten Natur geleitet, neue Bahnen
einschlugen, hatten die geistige Richtung doch von ihrer Zeit erhalten.
Geheime Strömungen, dem Auge des gewöhnlichen Beobachters verborgen,
bilden sich oft in dem Leben eines Volkes und wirken umso zwingender,
je weniger sie sichtbar sind. Auch in dem, was einer Nation zeitweilig
als Ideal vorschwebt, sehen wir nur den Ausdruck ihres innersten Geistes-
und Gemütslebens.
Eine jede Zeit, ein jedes Volk bildet sich sein besonderes Ideal,
das nur ihm gehört, an dem es mit dem Feuer einer ersten Liebe hängt,
und das mit seinem geistigen Leben aufs innigste verwachsen ist. Was
einem Volk fehlt, was es mit Schmerz in seinem nationalen und sitt-
lichen Leben vermißt, und darum mit dem Aufgebot aller seiner Kräfte
zu erlangen trachtet, das verklärt sich ihm zum Inbegriff des höchsten
Guts, das wird ihm zum Ideal. Ist dieses Gut aber nur halbwegs er-
rungen, und das oft dunkle Streben einer Zeit nur einigermaßen be-
friedigt, so wird sich das fieberhafte Verlangen stillen, das Ideal wird
verblassen. Was man besitzt, gilt ja selten so viel als das, was man
wünscht. Aber Ruhe findet das Volk deshalb nicht, denn in neuen Ver-
hältnissen erwachsen ihm auch neue Aufgaben.
Die Ideale eines Volkes lassen sich am deutlichsten in den Haupt-
werken seiner Litteratur erkennen. Wir ersehen aus ihnen, was die
Menschen in einer bestimmten Zeit vorzugsweise beschäftigte, und ziehen
ebenso unsere Schlüsse, wenn wir manche uns vertraute Regungen dort
wenig oder nicht betont finden. Nur solche Werke, welche dem Ge-
schmack und der Sinnesrichtung ihres Volkes entsprechen, gelangen zur
dauernden Anerkennung. Sie können sich nur erhalten, wenn sie im
Herzen der Menschen eine Saite berühren, welche stark nachklingt,
wenn sie das Ideal der Zeit im Zauber poetischer Darstellung verklären.
Daß wir es bei der Betrachtung der Ideale, welche die erste Hälfte
des 17. Jahrhunderts beschäftigten, fast nur mit der Gedankenwelt des
gebildeten Adels, einer sich abschließenden, aber einflußreichen Gesell-
schaft zu thun haben, ist schon früher bemerkt worden.
Da fällt uns nun zunächst auf, wie sehr der Begriff des Vater-
lands in diesem Kreis an begeisternder Kraft eingebüßt hatte.
Allerdings hatte der französische Adel seit den Tagen Franz I.
wechselnde Schicksale erlebt. In den Kriegen der Liga stand er unter
den Waffen, um bald für, bald gegen seinen König zu ~ kämpfen. In
jenen schweren Jahren verlor sich das Bewußtsein der Zusammengehörig-
keit, des gemeinsamen Vaterlands mehr und mehr. Eine ähnliche Er-
scheinung hatte sich in Italien schon früher gezeigt. Dort haderten seit
dem 15. Jahrhundert kleine Fürsten, Städte und Parteien miteinander
in ewigem Krieg und zerstörten auf lange Zeit hinaus jedes Gefühl
nationaler Einheit. Nicht ganz so schlimm, aber bedauerlich genug,
hatten sich in der letzten Zeit der Religionskriege die Verhältnisse in
Frankreich gestaltet. An die Stelle gesunden Patriotismus war fanatischer
280
Eeligionseifer getreten; die Begeisterung für das große gemeinsame
Vaterland schwand bei vielen, die nur nocli die Liebe zur engeren Heimat
kannten ; und wo der Sinn für die nationale Ehre sich abschwächte,
wurde die Standesehre umsomehr betont. D'Aubigne machte hierin eine
ehrenvolle Ausnahme. Seine „Tragiques" klagten in ergreifenden Worten
über das Unglück Frankreichs, aber die anderen Dichter, zumal jene,
die in dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts auftraten, haben die
patriotische Saite nie erklingen lassen, wenn sie auch schreiend ihres
Königs Siege feiei'ten.
Noch in späteren Jahren war es nicht viel besser, wie die Fronde
bewies. Mademoiselle de Montpensier erzählt, wie sie sich über einen
politischen Fehler der Regentin freute und auf die aus ihm ent-
stehende Bedrängnis zählte.^) Ein andermal gesteht sie ruhig ein, daß
die Nachricht von dem Sieg Condes bei Lens ihr Kummer bereitete, da
sie weniger für die Franzosen als für die Feinde gewesen sei.^) Die
Idee, daß der Mann nicht als Kriegsknecht die Welt durchstreifen und
aus Freude am Gemetzel sich in den Kampf stürzen soll, sondern daß
er nur zum Schutz seines Vaterlands das Schwert ziehen darf, war
natürlich noch völlig unbekannt.^)
Woher sollte auch für die große Mehrheit der Franzosen das Ge-
fühl der Zusammengehörigkeit, das Bewußtsein der alle einigenden
Nationalität kommen? Der größte Theil des Volkes war jeder Teilnahme
am staatlichen Leben beraubt, die unteren Klassen arm und unwissend,
zumeist in tiefem Elend. Die einzelnen Provinzen besaßen noch eine ge-
wisse Selbständigkeit; sie hatten verschiedene Verfassungen, besonderes
Eeclit, besonderes Geld. Sie waren durch Zollschranken und Hemmungen
mancherlei Art voneinander getrennt, und manche Stämme, wie die
Bretonen und Proven9alen, sprachen nicht einmal französisch. Mehr
aber als durch alle diese Verschiedenheiten wurde das Volk durch den
Gegensatz der Religion in feindliche Parteien geschieden und einander
entfremdet.
^) MUe. de Montpensier, I, S. 195 (Jahr 1649): „Au moment que M. de
Comminges me park, j'etois toute troublee de joie de voir qu'ils alloieat faire
une faute et d'etre spectatrice des miseres qu'elle leur causeroit. Cela me ven-
geoit uu peu des persecutions que j'avois souffertes".
-) Mlle. de Montpensier, I, S. 175 (Jahr 1648): „Je le lus avec beaucoup
d'etonnement et de douleur. Comme je ne devois pas meler mon aversion ä un
si grand avantage pour l'Etat, je ne savois comraent demeler Tun de l'autre;
dans cette rencoutre je me trouvois moins bonne Franyoise qu'ennemie; je me
sauvai et je couvris mes pleurs par des plaintes que je fis de quelques officiers
de ma connoissance qui avoient ete tues. . . . Je ue sais comraent je pouvois etre
sensible aux victoires de M. le Prince: il en gagnoit si souvent que je devois
m'y accoutumer; mais l'on ne s'accoutume pas ä ce qui deplait.
3) So heißt es in Corneilles „Don Sanche" 1, 1, 79 flF. von Carlos, er
werde nach Besiegung der Mauren Kastilien verlassen und in einem andern
Land neue Kämpfe aufsuchen. An anderer Stelle wird gefragt:
..S'en ira-t-il soudain aux climats etrangers
Chercher tout de nouveau la gloire et ies dangers?"
281
So war denn das Königtum trotz allem das einzige Band, welches
die widerstrebenden Teile der Monarchie zu einem Ganzen zusammen-
hielt, und darin liegt der Grund, warum die königliche Gewalt aus dem
gefährlichen Kampf gestärkt hervorging. Eatgegen dem republikanischen
Geist des 16. Jahrhunderts entwickelte sich der monarchische Kultus in
überraschender Schnelligkeit, sobald Heinrich IV. die allgemeinen Ver-
hältnisse notdürftig geordnet hatte. Und wie einmal diese Bahn einge-
schlagen war, drängte alles in derselben Richtung weiter.
Auch in der Dichtung spiegelten sich diese Stimmungen. Von
der Macht und Majestät der Fürsten ist dort viel, vom Vaterland und
den Pflichten dagegen sehr wenig die Rede. Die ganze erste Hälfte
des Jahrhunderts weiß es nicht besser. Nur Corneille, der kräftigste und
politisch reifste Dichter der klassischen Epoche, kennt auch die Liebe
zum Vaterland und verherrlicht die römischen Helden, die sich für die
Größe ihres Volkes aufgeopfert haben. Die Worte des glühenden Patriotis-
mus, welche er seinem „Horace" in den Mund legt, machten sicherlich
den tiefsten Eindruck auf die Zuhörer.^) Denn wir behaupten keineswegs,
daß das französische Volk damals nichts mehr von Frankreich gewußt
hätte, sowie allerdings nach dem dreißigjährigen Krieg die einzelnen
deutschen Stämme fast vergaßen, daß sie zu einem großen Reich ge-
hörten. Heinrich IV., Richelieu^ Mazarin haben gewiß in bewußter Weise
an der Ausdehnung und nationalen Kräftigung Frankreichs gearbeitet.
Aber einmal besteht doch ein großer Unterschied zwischen Eroberungs-
lust und Vaterlandsliebe, und ferner war, was jenen als Ziel vorschwebte,
darum noch nicht das Ideal der Nation, besonders nicht der frondierenden,
nach Selbständigkeit strebenden Aristokratie.
Diese hatte sich eine andere, besondere Welt geschaffen. Sie
schwärmte für ein ritterliches Heldentum, dem die drei Sterne: Liebe,
Ehre und Ruhm, vorleuchten sollten. Dieses Ideal der vornehmen Gesell-
schaft war aus mittelalterlichen romantischen Reuiiniscenzen erwachsen
und mit modernen Anschauungen gar sonderbar verquickt. Vorbild und
Anregung hatte Spanien gegeben, wo sich die Achtung des Germanen
vor der Frau und der ritterliche Sinn des Mauren in eigentümlicher
Weise verbunden hatten. Von dort war das Evangelium des neuen Ritter-
tums nach Italien gebracht worden. Hier verlor es, was es in Spanien
noch Herbes gehabt hatte, und es entwickelte sich an den glänzenden
Höfen der apenninischen Halbinsel die feine, vorsichtige, einem Kunst-
werk gleich behandelte Sitte und Lebensart. Diese gab man auch den
Helden der Dichtung. Und was unter der Tyrannei der kleinen Fürsten
sich in der Wirklichkeit nicht finden konnte, Hoheit und Adel des
1) Vergl. z. B. Corneille, Horace II, 1, 52:
Vouz me pleureriez, mourant pour mou paysi
Pour un coeur genereux ce trepas a des charmes.
oder ibid., II, 3, 19:
Mourir pour le pays est un si digne sort,
Qu'on brigueroit en foule une si belle mort.
282
Geistes, das übertrug man umso williger auf die Kinder der Phantasie,
damit stattete man umso verschwenderischer die Helden und Frauen-
gestalten der Dichtung aus. So schuf Tasso sein „Befreites Jerusalem".
Er führte seine Leser in eine ideale Welt, denn seine Christen sind so
wenig wie seine Mohammedaner der Wirklichkeit entnommen, und wenn
er seine Heroinen auch mit allem Duft der Poesie schmückt, so sehen
wir in ihnen doch keine wirklichen Frauenbilder, keine Gestalten aus
dem warmen, vollen Leben. Und doch hat man mit Recht gesagt, daß
Tassos Personen trotz alledem, trotz ihrer inneren Unmöglichkeit voll-
kommen wahr sind, weil sie besser als irgend ein anderes Werk dem
Ideal ihrer Zeit entsprachen und die damals herrschenden Vorstellungen
von Rittertum und Frauenwürde in sich zum vollendeten Ausdruck
brachten.
Aus Italien war nun diese Anschauung von Heldentum nach
Frankreich gedrungen, war daselbst bereitwillig aufgenommen worden,
und hatte sich mit den alten Traditionen von den Pflichten eines voll-
kommenen Ritters verschmolzen. So hatte auch der französische Adel
sein Ideal gefunden. Freilich paßte es nicht recht in die modernen Ver-
hältnisse, allein nur umso heiliger wurde es gehalten. Wie es zu gehen
pflegt, je mehr die aristokratische Gesellschaft sich in ihrem Bestand
bedroht fühlte, umso eifriger versenkte sie sich in den schwärmerischen,
fast religiösen Kultus der gefährdeten ritterlichen Ideen.
Die Wirklichkeit entspricht freilich selten dem Ideal. Das letztere
verlangte von einem echten Ritter unbezähmbare Tapferkeit, makellose
Reinheit, edlen Sinn, hingebende Liebe. Im rauhen Leben fanden sich
diese Eigenschaften nicht so leicht zusammen. Aber man strebte doch
nach ihnen, und in den Träumen von einer vollkommenen Welt, in den
heroischen Dichtungen, herrschte dieses ideale Rittertum unumschränkt.
Schon in der .,Asträa" wird gelehrt, daß nur der Adelige wahr-
haft lieben kann, und da es ferner heißt, daß nur der wahrhaft Liebende
zu jeder großen That fähig sei, so ist es klar, daß man nur dem Edel-
geborenen den Preis des Lebens geben konnte.^) Diese Idee erhielt sich
auch später in Kraft; die Dichtungen huldigten derselben Anschauung,
und wählten ihre Helden nur aus der vornehmen Welt. Selbst Corneille
stand unter der Herrschaft dieser Tradition. So läßt er den Heraclius
in dem Stück gleichen Namens betonen, daß der edle Sinn ein Erbteil
edler Geburt sei;^) so sagt Kleopatra in „Pompee", daß die Fürsten
stets den Pfad des Ruhmes schreiten, wenn sie sich selbst vertrauen,
und daß sie nur fehlen, wenn sie sich von anderen Ratgebern beein-
flussen Jassen.^) Xur der Adel kann sich eines „hohen Sinns" und einer
1) Siehe I. Teil, 5. Abschn. S. 87 ff. dieses Werks. Ebenso läßt Du Eyer
in seinem Lustspiel „Les vendanges de Surenes'' (1635) sagen:
„ — — — — — Amour m'a fait connaitre
Qu'un veritable amant est tout ce qu'il veut etre."
-) Corneille, Heraclius V, 2, v. 49 : La generosite suit la belle naissance.
3) Corneille, Pompee II, 1, 14:
283
„schönen Seele" rühmen. Bei diesen Worten darf man freilich nicht an
die „schöne Seele" in Goethes „Wilhelm Meister" denken; die feine
Gesellschaft verstand darunter den ritterlich-romantischen Sinn, wie er
in den Komanen und den Schauspielen der Zeit verherrlicht wurde.
Noch Frau von Sevigne freute sich der schönen Seelen, die sie in La
Calprenedes Eoman „Kleopatra" fand, wenn sie es auch nicht Wort
haben wollte. \) Mit welcher Verachtung spricht man dagegen überall
vom gemeinen Volk. Der greise Horaz will bei Corneille das „dumme
Volk" nicht als Eichter über den Ruhm anerkennen.-) Im „Ödipus" des-
selben Dichters verschmäht Dirce, die das nächste Anrecht auf den
Thron von Theben hat und beim Volk beliebt ist, mit dessen Hilfe zu
siegen.^) Carlos, der vermeintliche Sohn des armen Landmanns in ,.Don
Sanche", rühmt sich, daß er das gemeine Blut seiner Eltern im Krieg
völlig verloren habe;*)
Die Regeln des Rittertums verlangten, daß jeder, der adeligen
Sinnes sein wollte, sich eine Dame erküren, ihr huldigen, sie vertei-
digen sollte, und daß er sich bemühte, sie durch aufopfernde Hingabe
zu gewinnen. Unter den zehn Geboten, welche sich im Asträatempel
finden, besagt das siebente, daß der Liebende seine Wünsche nicht ge-
stehen dürfe, selbst wenn ihn die Sehnsucht an den Rand des Grabes
brächte.") Die Dame selbst schuldet dem Mann, der ihr sein Leben
Les princes ont cela de leur haute naissance:
Tout est illustre en eux quand ils daignent se croire.
Et si le peuple y voit quelque döreglements,
C'est quand l'avis d'autrui corrompt leurs sentiments.
^j Mme. de Sevigne, Lettre ä Mme. de Grignau, 15 juillet 1671. „Cleo-
patre va son train, sans empressement toutefois, c'est aux heures perdues. C'est
ordinairement sur cette lecture que je m'eudors: le caractere m'en plait beau-
coup plus que le style. Pour les sentiments, j'avoue qu'ils me plaisent aussi,
et qu'ils sont d'une perfection qui remplit mon idee sur les belies ämes. Vous
savez aussi que je ne hais pas les grands coups d'epee, tellement que voilä qui
va bien, pourvu qu'on m'en garde le seci-et."
2) Corneille, Horace V, 3, 117 ff.
Horace, ne crois pas que le peupl« stupide
Seit le maitre absolu d'un renom bien solide.
Sa voix tumultueuse assez souvent fait bruit,
Mais un moment l'eleve, un moment le detruit.
Et ce qu'il contribue ä notre renommee
Toujours en moins de rien se dissipe en fumee.
C'est aux reis, c'est aux grands, c'est aux esprits bien faits
A voir la vertu pleine en ses moindres effets.
2) Corneille, Ödipe V, 1, 45. I. König Ödipus sagt dort von Dirce:
Pour Dirce. son orgueil dedaiguera sans deute
L'appui tumultueux que ton zele redoute.
*) Corneille, Don Sanche II, 3, 25:
— — — la guerre a consume
Tout cet indigne sang dont tu m'avais forme.
•'') S. Astree, t. II, eh. 5. Das siebente Gebot lautet: „Qu'il soupire,
qu'il languisse entre la vie et la mort, et toutefois qu'il ne dise point ce qu'il
284
widmet, keinen Dank. Sie darf es sogar nicht einmal gestehen, wenn
sie seine Gefühle erwidert; sie muß im Gegentheil spröde thun und
ihn höchstens von Zeit zu Zeit mit einem freundlichen Blick belohnen.
Hervorragende Damen gehen in ihrem Heroismus noch weiter. So lesen
wir in „Asträa" von Diana, Asträens Freundin, die von dem edlen
Silvandre geliebt wird. Sie liebt ihn wieder; aber gerade darum ent-
schließt sie sich, seine Huldigungen nur so lang zu gestatten, als sie
ihre Gefühle verbergen kann. Sollte sie ihre Neigung nicht mehr be-
meistern können, dann — dann wird sie, denken wir, den Geliebten
endlich beglücken? Im Gegenteil. Dann wird sie ihn so hart behandeln,
daß er sicher an der Erhörung seiner Wünsche verzweifeln und die
Liebe aus seinem Herzen bannen wird.^) Der echte Liebhaber muß sein
Glück in der Liebesqual finden, und wenn er bei seiner Schönen in Un-
gnade föllt, muß er bereit sein, sich das Leben zu nehmen.-)
veut". Man vergleiche damit die Stelle bei Saint-Amant: „La metamorphose de
Lyrian et de Sylvia", v. 41 (Bd. I der Ausgabe von Livet in der „Bibliotheque
Elzevirienne", 1854).
0 Dieux! combien de temps fut-il ä se resoudre,
Bien qu'il vit que son coeur s'alloit reduire en poudre,
A decouvrir sa peiue aux yeux qu'il adoroit.
Tant la discretion en ses moeurs operoit!
Et quoi qu'il püt souffrir, je erois que le silenee
Auroit de son ardeur eteint la violence
Par le coup desire d'une subite mort,
Avant qu'ä son respect il eüt fait tel effort.
1) Astree, t. II, eh. 6. Man vergleiche damit die Charakteristik der Mar-
quise de Sable in den Memoiren der Mme. de Motteville (I, S. 13). Es heißt
dort von dem Herzog von Montmorency: „Son coeur avoit ete occupe d'une
forte inclinaison pour la marquise de Sable qui etoit une de Celles dont la
beaute faisoit le plus de bruit quand la reine vint en France ; mais si eile etoit
aimable, eile desiroit encore plus de le paraitre; l'amour que cette darae avoit
pour eile meme la rendit un peu trop sensible ä celui que les hommes lui te-
moignoient .... On trouvoit une si grande delicatesse dans les comedies nou-
velles et tous les autres ouvrages en vers et en prose qui venoient de Madrid,
qu'elle avoit con9u une haute Idee de la galanterie que les Espagnols avoient
apprise des Mores. Elle etoit persuadee que les hommes pouvoient sans crime
avoir des sentiments tendres pour les femmes, que le desir de leur plaire les
portoit aux plus grandes et aux plus belies actions, leur donnoit de l'esprit et
leur inspiroit de la liberalite et toutes sortes de vertus; mais que d'un autre
cöte les femmes qui etoient l'ornement du monde et etoient faites pour etre ser-
vies et adorees des hommes, ne devoient souffrir que leurs respects."
2) Corneille, Pertharite II, l, v. 92 ff.:
L'amant est trop paye, quand son service oblige;
Et quiconque en aimant aspire k d'autres prix
N'a qu'un amour servile et digne de mepris.
Le veritable amour Jamals n'est mercenaire,
II n'est Jamals souille de l'espoir du salaire.
In Du Eyers „Scevole" beklagt Junia den vermeintlichen Tod Scävolas.
Sie hat ihn geliebt, aber sich wol gehütet, ihm je ihre Neigung zu verraten.
Sie sagt II, 1, 16 ff.:
Si j'ai par mes froideurs ton amour combattu,
285
Es versteht sich ferner, daß der echte Ritter niemals unter seinem
Stand liebt. In Corneilles „Medea" heißt es rühmend von Jason, daß
seine hohe Geburt ihn lehre, nur um Fürstinnen zu werben, und daß er
sich verachten müsse, wenn er seine Liebe anderen als Königstöchtern
geschenkt hätte/)
Dafür sollen anderseits alle .Vergehen, ja selbst Verbrechen, die
aus Liebe begangen werden, mit Nachsicht beurteilt werden. Sie ent-
ehren nicht. In Corneilles „Clitandre" (1632) lockt Dorise, eine Hof-
dame, ihre Nebenbuhlerin in einen öden Wald und versucht sie dort zu
ermorden. Am Schluß des Stücks wird sie wieder in Gnaden aufgenommen
und mit einem braven Mann verheiratet. Du Ryer schildert in seinem
„Alcionee" (1639) die Empörung eben dieses Alcionee gegen seinen
König, den Beherrscher von Lydien, der ihm die Hand seiner Tochter
Lydia versagt hat. Der König wird besiegt und muß nachgeben. Aber
Lydia ist zu stolz. Sie liebt zwar den Helden, weigert sich indessen.
ihm ihre Hand zu reichen, und dieser ersticht sich aus Verzweiflung.-)
Noch nachdrücklicher vertritt Scudery die Lehre, daß ein Ver-
brechen, zu dem die Liebe getrieben hat, verziehen werden muß. In
seinem Stück „L'amour tyrannique" überzieht Tiridate, König von Pontus,
aus Liebe zu seiner Schwägerin, der schönen Polyxene, seinen eigenen
Schwiegervater und seinen Schwager mit Krieg, besiegt sie und stürzt
sie ins Unglück. Er erscheint als ein rücksichtsloser Tyrann. Aber am
Schluß geht er in sich, bekehrt sich und beschließt, künftighin statt
der tyrannischen Liebe die vernünftige Liebe, d. h. die Liebe zu seiner
Frau, vorwalten zu lassen. Und damit ist alles wieder gut.
In den Lustspielen herrschte größere Freiheit. Dort durfte, wie in
der „Suivante" des Corneille, eine hochgestellte Dame sogar einen Be-
werber erhören, der ihr im Rang nicht ganz gleich stand; sie durfte
betonen, daß ihr Geliebter durch seine trefflichen Eigenschaften hervor-
leuchtet, und daß Vermögensrücksichten nur niedere Seelen bestimmen
können. Ein ähnliches Verhältnis findet sich in dem Lustspiel „La veuve"
von Corneille. Aber in beiden Fällen sind die erkorenen Herren doch
von Adel. Corneille versuchte in seinen Lustspielen den Geist der feinen
Si jamais cet amour qu'emporte ta belle äme,
Ne tira de ma beuche un aveu de ma flamme,
Je crois te satisfaire apres tant de douleurs
Lorsqu'entre Eome et toi je partage mes pleurs.
3) Corneille, Medee, I, 1, 2 ff.
Jason ne fit Jamals de communes maitresses :
II est ne seulement pour charmer des princesses,
Et hairoit l'amour, s'il avoit sous sa loi
Range de moindres coeurs que des Alles de roi.
^) Alcionee entschuldigt seine Empörung, indem er der Prinzessin zu-
ruft (III, 3):
„Mais helas! s'il est vrais que tout amour extreme
Des crimes qu'il commet est l'excuse lui-menie,
Combien doit ma princesse excuser mes _ forfaits,
S'ils partent d'un amour qu'on n'egala jamais!"
286
Gesellschaft seiner Zeit zur Darstellung zu bringen, und so finden wir
in ihnen ebenfalls den romantisch -ritterlichen Sinn vorherrschend. Die
geliebte Dame darf auch bei ihm nicht so schnell ihre Gefühle gestehen,
sie muß sich kalt zeigen, den Liebenden durch erheuchelten Zorn auf
die Probe stellen und ihm in jeder Weise den Sieg erschweren , um
dessen Wert zu erhöhen.
In der Wirklichkeit gestalteten sich die Verhältnisse freilich zu-
meist ganz anders. Der Geist ritterlicher Galanterie herrschte allerdings
in den Beziehungen der beiden Geschlechter zu einander, und die Chronik
der heiteren, von Festen und Vergnügungen belebten Zeit der Regent-
schaft hat viel von galanten Abenteuern und ernsten Werbungen, von
platonischen Freundschaftsbündnissen und sehr reellen Liebesverhältnissen
zu berichten. Aber immerhin belehren uns die Schauspiele und Romane,
wie man zu sein wünschte; die Memoiren und Lustspiele, wie man war.
Der Unterschied ist oft groß. Wenn Frau von Sevigne noch in späterer
Zeit für das ritterliche Ideal ihrer Jugend schwärmte, so konnte sie
es weder in der Erinnerung an ihren Gemahl, noch in dem Treiben ihres
Sohns verwirklicht finden.
Höher noch als die Pflicht der Liebe stand dem Edlen das Gebot
der Ehre und des Ruhms.
Auch hier muß man bemerken, daß der Begriflf der Ehre von der
vornehmen Welt jener Zeit anders aufgefaßt wurde, und sich wesent-
lich von der Idee unterschied, welche man sich etwa heute davon macht.
Wie das Ideal des 17. Jahrhunderts die Liebe in besonderer Weise ver-
stand, so hatte es auch für die Ehre nicht minder strenge und spitz-
findig ausgesonnene Gesetze.
Zu ihrem Verständnis dient ein Blick auf Corneilles „Cid", der
die Ideale des Jahrhunderts am deutlichsten zum Ausdruck gebracht hat.
Chimene hat ihren Vater durch das Schwert Rodrigos verloren. Dieser
durfte den Zweikampf nicht vermeiden, wollte er nicht von Chimene ver-
achtet werden. Er sagt ihr:
Die Du mich liebtest, da ich edel war,
Du könntest mich, war' ich entehrt, nur hassen.
Und Chimene bestätigt dies:
Wahr ist's, Rodrigo, bin ich Dir auch Feindin —
Daß Du die Schande flohst, kann ich nicht tadeln.^)
So weit versteht man auch heute noch vollkommen das Benehmen
der beiden Verlobten. Chimene aber geht weiter. Ihre Ehre erheischt,
daß sie sich räche, daß sie den Geliebten mit Todfeindschaft verfolge.
Hat sie ihr Ziel erreicht, ist Rodrigo gefallen, dann mag sie selbst den
Tod als einen willkommenen Freund suchen.
1) Corneille, Le Cid, III, 4, v. 42 :
Qui m'aima genereux, me hairoit infame . . .
ibid. III, 4, V. 57:
Ah, ßodrigue, il est vrai, quoique ton ennemie.
Je ne te puis puis blämer d'avoir fui l'infamie.
287
„Ich muß mich rächen, meine Ehre heischt es!
Die Ehre rein zu halten, und mein Leid
Zu enden, will ich ihn verfolgen, töten.
Und selbst dann sterben, i)
Das Gesetz der Blutrache tritt hier im Gewand höfischer Sitte zu
Tage ; es ist die alte barbarische Forderung der Wiedervergeltung, welche
hier als Ehrenpflicht erscheint. Wie nun Rodrigo sich dem Rachedurst
Chimenes gegenüber verhält, wie spitzfindig beide in der Ausübung ihrer
vermeintlichen Pflichten sind, werden wir an anderer Stelle sehen.
Noch ängstlicher ausgeklügelt zeigen sich die Gebote des Ehr-
gefühls in Corneilles ,.Don Sanche". Carlos, ein ausgezeichneter Ritter,
dessen Herkunft aber in Dunkel gehüllt ist, liebt die Königin Isabella
von Kastilien. Doch hegt er keine thörichten Hoffnungen. Ja, er sagt
ihr, daß er sie weniger achten und nicht mehr lieben könnte, wenn sie
sich unbegreiflicherweise herablassen sollte, ihn mit ihrer Neigung zu
beglücken.") Natürlich stellt sich am Schluß des Stücks heraus, daß
Carlos ein Königssohn ist — denn woher wäre ihm sonst solcher Adel
der Gesinnung gekommen?
Im „Pompee" geht die Königin Kleopatra noch weiter. Sie liebt
Cäsar, den Helden, aber ihre Ehre verlangt, daß Ägypten die Partei des
Pompejus ergreife und gegen Cäsar kämpfe. Aus reiner Liebe zu Cäsar,
und um sich dessen würdig zu erweisen, reizt sie zum Krieg gegen ihn.^)
Daß eine solche Denkart dem französischen Volk unverständlich bleiben
mußte, ist klar. Solche Verirrungen sind nur in einer Gesellschaft mög-
lich, die mit den Gefühlen zu spielen liebt, und darüber oft die Natür-
lichkeit einbüßt. Zum Glück besaß Corneille nicht allein die Gabe, der
1) Corneille, Le Cid, III, 3, v. 50 und 56:
II j va de ma gloire, il faut que je me venge.
Pour conserver ma gloire et finir mon ennui,
Le poursuivre, le perdre et mourir apres lui.
2) Corneille, Don Sanche, II, 2, 70:
Si par quelque malheur que je ne puls comprendre.
Du tröne jusqu'ä moi je la voyois descendre,
Commen^ant aussitöt ä vous moins estimer.
Je eesserois sans doute aussi de vous aimer.
3) Corneille, Pompee, II, 1, v. 3 ff.:
Cleopatre :
Et toujours ma vertu retrace dans mon coeur
Ce qu'il doit au vaincu, brülant pour le vainqueur.
Charmion :
Quoi! vous aimez Cesar! et si vous etiez crue,
L'Egypte pour Pompee armeroit ä sa vue,
En prendroit la defense, et, par un prompt secours.
Du destin de Pharsale arreteroit le cours!
L'amour, certes, sur vous a bien peu de puissanee.
288
feinen Welt zu gefallen ; er hatte auch das Geheimnis , die einfachsten
i!faturen, sein ganzes Volk zu begeistern und mit sich fortzureißen.
Fast gleichbedeutend mit der Ehre und unauflöslich mit ihr ver-
knüpft erscheint in dem Ideal der Zeit der Begriff des Ruhms. Das Wort
..ginire" bezeichnet oft die beiden Güter. Aber die Rücksicht auf den
Ruhm fälscht nicht selten die besten Thaten jener Helden. Wenn sie
nur für den Ruhm arbeiten und insofern nur die Befriedigung ihrer
Eitelkeit erstreben, so haben sie ihren Lohn dahin. Wenn Augustus (in
„Cinna") den Verschwörern verzeiht, so thut er es nicht allein, wie
man glauben möchte, aus Milde. Denn er ruft mit Emphase aus :
Jahrhunderte! Geschichte!
Bewahre meines letzten Siegs Gedächtnis. i)
Hätte Corneille den Kaiser als eitel und ruhmbegierig hinstellen
wollen, so hätte er ihm keine besseren Worte in den Mund legen können.
Aber er wollte ihn. den Anschauungen der Zeit entsprechend, ein edles
Gefühl ausdrücken lassen, und gerade weil wir ein solches heute nicht
mehr in diesem Ausspruch erkennen, mißfällt er uns. In dem „Ödipe"
hören wir, daß die Götter den Tod der Prinzessin Dirce verlangen. Nur
unter dieser Bedingung soll die Pest, welche Theben heimsucht, ver-
schwinden. Dirce erklärt sich freudig zum Tod bereit. Aber sie ist nicht
aus Menschenliebe so willig, zu sterben, sondern aus Ruhmsucht, und
dieser Zug ist weder natürlich, noch schön.-)
So wird denn ganz natürlich der Ehrgeiz zur Tugend gestempelt
und darf in dem Charakterbild des Helden nicht fehlen. Er wird für
die einzige Leidenschaft erklärt, die eines großen Geistes, eines echten
Edelmanns würdig sei. Der Mensch gilt nicht für wahrhaft groß, dem
nicht im Herzen hoher Ehrgeiz glüht. -^l Selbst die Frau muß nach Macht
streben, wenn sie vom Schimmer des Ruhms umstrahlt sein will. Einen
Thron zu erwerben, schien das höchste Ziel jedes edlen Gemüts.
1) Corneille, Cinna, V, 3, 35:
0 siecles! o memoire!
Conservez ä Jamals ma derniere victoire!
2) Corneille, Oedipe, III, 1, v. 1 ff. (Dirces Monolog):
Inexorable soif de gloire,
Dont l'aveugle et noble transport
Me fait precipiter ma mort,
Pour faire vivre ma memoire.
2) Corneille, Pompee, II, l, v. 74 ff. Kleopatra sagt dort:
J'ai de l'ambition, et, soit vice ou vertu,
Mon coeur sous son fardeau veut bien etre abattu;
J'en aime la chaleur, et la nomme sans cesse
La seule passion digne d'une princesse.
Ähnlich heißt es auch bei Quiuault, Stratonice, II, sc. 1. Philippe warnt
dort seine Nichte Stratonice:
Songez qu'ü faut regner et que l'ambitiou
Doit etre des grands coeurs l'unique passion,
Qu'il ne faut rieu ha'ir que ce qui peut vous uuire
Qu'il ne faut rien aimer ä moins que d'un empire.
289
Solche Lehren konnten gefährlich werden, wenn man sie in der
Wirklichkeit anwenden wollte, und die Geschichte der Fronde hat uns
bewiesen, daß man dies in der That auch versuchte. Wir haben gesehen,
wie sich die vornehmen Herren zur Zeit der Regentschaft, den Helden
der Romane und des Theaters gleich, blindlings in Abenteuer stürzten,
weil ihr „großer Sinn" ihnen keine Ruhe ließ. Die adeligen Frondeurs
erinnern an die Verschwörer in Corneilles „Cinna", an die römischen
Aristokraten in desselben Dichters „Sertorins". Die Heroinen der Fronde
ließen sich wie die Frauen der Dichtung von Ehrgeiz und Liebe in die
gewagtesten Unternehmungen mit fortreißen.^)
Unter Ludwig XIV., vor dessen Willen sich der Adel beugte,
mußte diese Richtung verschwinden und die bis dahin giltigen Ideale
sich ändern. Ludwig hatte in seiner Jugend zu sehr von der unruhigen
und ehrgeizigen Aristokratie gelitten, als daß er ihr hätte je verzeihen
können. In seinem Reich gab es fürderhin keinen Raum mehr für hoch-
fliegenden Ehrgeiz ; der Herrscher, der allmächtig über allen stand, dul-
dete bei anderen keine stolzen Pläne. Schon als Corneille im Jahr 1670
in seinem Schauspiel „Titus und Berenice" der Geliebten des Domitian
die ehrgeizigen Worte in den Mund legte, die Herrschaft sei das einzige
eines großen Geistes würdige Ziel, war er mit seiner Zeit nicht mehr
in vollem Einklang.-)
Wenn wir uns die Ideale vergegenwärtigen, welche während eines
großen Teils des 17. Jahrhunderts die Menschen begeisterten, so ge-
denken wir unwillkürlich anderer Zeiten, die unter der Herrschaft an-
derer Anschauungen standen. Wir staunen ob der Verschiedenheit des
Heldenideals in den einzelnen Epochen der Geschichte und bei den Haupfc-
völkern Europas. Welche Kluft trennt einen Helden wie den Cid von
Achill, der in der Feldschlacht seiner Mordlust freien Lauf läßt, am ge-
fallenen Feind unwürdige Rache ausübt, aber mit heißen Thränen seinen
toten Freund beweint. Diomedes und Odysseus dringen nächtlich in das
Lager der Troer und stechen die Krieger im Schlaf nieder. Was dem
Griechen natürlich dünkte, wäre dem ritterlichen Kämpfer des 17. Jahr-
hunderts ein Greuel gewesen, und was dieser als höchste Zierde eines
edlen Mannes erachtete, die Feinfühligkeit der Liebe, die schwärmerische
Verehrung des Weibes, wäre jenem unverständlich gewesen. Auch die
Griechen des Homer kannten feines höfisches Leben in den Palästen
ihrer Könige; ja, wie W. Jordan in der Einleitung zu seiner Homer-
ij Der Chevalier de Charny sagt in einer Charakteristik, die er von sieh
auf Wunsch der Prinzessin von Montpensier schrieb: „II me semble que de-
vant de me hasarder ä la galanterie, je dois m'etre fort hasarde ä la guerre, et
qu'il faut avoir fait plusieurs campagnes ä l'armee, premier que de faire un
quartier d'hiver ä la Cour". Mlle. de Montpensier, Portraits, ed. 1659, in 4", S. 340.
2) Corneille, Tite et Berenice, I, 2, v. 63 if. Domitia sagt dort zu Do-
mitian :
Et je n'ai point une dme ä se laisser charmer
Du ridicule honneur de savoir bleu aimer,
La passion du tröne est seule toujours belle,
Seule ä qui l'äme doive une ardeur immortelle.
Lotheißen, (Jescli. i. franz. Litteratur. i,,
290
Übersetzung richtig hervorhebt, die letzte Redaktion der homerischen
Gesänge fiel sogar in eine Zeit strenger aristokratischer Eichtung, aber
das glückliche Volk wußte sich in allen Verhältnissen die Wahrheit der
Empfindung zu erhalten.
Die Helden der Äneide stehen dem Ideal des 17. Jahrhunderts
schon näher. Die Verhältnisse des römischen Staats hatten unter Augustus
mancherlei Ähnlichkeit mit dem Frankreich Ludwigs XIII. Hier wie dort
entwickelte sich nach langen inneren Wirreu eine starke Monarchie,
und es bildete sich eine aristokratische Gesellschaft, die in ausgesuchtem
Lebensgenuß und in der Beschäftigung mit Kunst und Litteratur einen
Ersatz für die verlorene politische Machtstellung suchte.
Wie anders gestaltete sich hingegen das Heldenideal der nor-
dischen germanischen Völker. Die Recken der Xibelunge sind düster
und gewaltig. Der Himmel, der sich viele Monate des Jahrs hindurch
grau und finster auf die weiten Wälder Germaniens und Skandinaviens
senkte, die Natur der nordischen Länder überhaupt, mußte der Phantasie
des Volkes einen ernsten Charakter verleihen. Bei den einfachen Söhnen
des Xordens galt vor allem die köi-perliche Stärke; der gehörnte Sieg-
fried war ihr Ideal. Neben der Tapferkeit war die Mannentreue der
größte Schmuck des germanischen Helden. Der grimme Hagen ist ein
Charakter, wie er sich nirgends sonst wieder findet. Auch Siegfrieds
offener, vertrauender Sinn ist charakteristisch, und in dem Fiedler von
Alzey verkörpert sich des Volkes inniges, schwärmerisches Gemüt.
So unterscheidet sich die romanische Welt von der antiken wie
von der germanischen. Die Heldenfiguren des 16. und 17. Jahrhunderts
können sich allerdings mit den aus dem Volksgeist erwachsenen und
von der volkstümlichen Sage getragenen Helden nicht messen; nicht
einmal Tassos poetische Gebilde, sein Rinaldo, sein Tancred, seine Ar-
mida. Wenn der Cid zu einer Figur geworden ist, die gleich den Rittern
von der Tafelrunde, gleich dem Roland der Karlssage, in ewiger Jugend-
schönheit strahlt und in der ganzen Welt populär geworden ist, so ver-
dankt er das vielleicht weniger Corneille, als den spanischen Romanzen,
<iie in der Volkspoesie wurzeln.
Wir dürfen diese Einschränkung machen, ohne gegen die Poesie
<ies 17. Jahrhunderts ungerecht zu werden. Aber wir müssen uns doch
hüten, über das geistige Leben jener Epoche voreilig abzusprechen.
Unsere Zeit steht noch ungefähr auf dem Boden, welchen das
vorige Jahrhundert einnahm. Die Ideen, welche die Gebildeten des
18. Jahrhunderts begeisterten, sind auch uns noch lieb und teuer. Wir
verstehen den Kampf für die Herrschaft der Toleranz, für den Sieg der
Humanität, für die Befreiung des Volkes von drückenden Lasten. Denn
dieser Kampf, den man vor hundert Jahren führte, ist auch heute noch
nicht ausgetragen. Die Ideale des letztvergangenen Jahrhunderts sind
nicht mehr die unseren, aber wir können sie noch begreifen, noch
schätzen, wir können die Begeisterung, welche die Herzen unserer Groß-
eltern erfüllte, noch nachfühlen und eine Zeit mit solchen Idealen be-
wundern.
291
Anders aber stellt es sich, wenn wir uns in die Anschauungen
des 17. Jahrhunderts versetzen wollen. Wir stoßen dabei auf eine Rich-
tung, die jener der folgenden Zeit völlig entgegengesetzt war; wir finden
andern Geschmack, andere Ziele, Ideen, die uns zum Teil fremd und
unverständlich sind. Darum wird es uns heute oft so schwer, dem
17. Jahrhundert und seinen Werken gerecht zu werden. Gerade deshalb
aber ist es unerläßlicb, sich in die Empfludungen und in die Gedanken-
welt jener Epoche zu versetzen, bevor man sich über die einzelnen Er-
scheinungen derselben ein Urteil erlaubt.
„Und der Lebende hat Recht", sagt Schiller. So fällt denn die
heutige Zeit oft ein wegwerfendes Urteil über eine Epoche, die ihr so
fremdartig gegenübersteht. Es ist wahr, kein gewaltiger Sturm durch-
braust jene Welt und wühlt das Menschentum auf, daß es erbebt, daß
alle Fibern des Herzens zucken und der Geist in wunderbarer Spannung
aller Kräfte die tiefsten Geheimnisse des Seins zu ergründen sich ver-
mißt. Das 17. Jahrhundert bietet nicht das Schauspiel titanenhaften
Ringens, verzweifelter Auflehnung, gewaltigen Siegs oder jähen Unter-
gangs; kein Gedanke von allumfassender, die ganze Welt umspannender
Liebe bewegt jene Zeit; sie erscheint gar oft egoistisch und einseitig.
Aber in ihrer vielleicht weisen Beschränkung erlangt sie eine harmonische
Ausbildung, wie sie selten erreicht wird, und die ihr genügt.
Muß denn eine Epoche in der Geschichte als klein und armselig
verurteilt werden, nur weil sie den heutigen Menschen nicht sympathisch
ist? Eine Zeit, die eine Litteratur von solcher Größe und Bedeutung
schuf, kann nicht selbst kleinlich gewesen sein. Die Litteratur des
17. Jahrhunderts bildet doch noch immer den Höhepunkt der gesamten
litterarischen Arbeit in Frankreich, und in langer, unbestrittener Welt-
herrschaft hat sie ihre Kraft deutlich genug bewiesen.
Vergleichen wir das Heldenideal des 17. Jahrhunderts mit dem,
was die erbittersten Gegner der klassischen Litteratur, die Romantiker,
als Ideal betrachteten, so ist der Unterschied zwar groß in der Art der
Behandlung, keineswegs aber in der Auffassung selbst. Die Helden der
neuromantischen Schule sind ebensogut Gebilde der Konvention, wie
die Helden der klassischen Tragödie, dabei aber in ihrer Zeichnung oft
weniger wahr und natürlich als diese. Nehmen wir nur als Beispiel
zwei romantische Dramen, die bei ihrem Erscheinen außerordentliches
Aufsehen machten und von welchen das eine noch heute berühmt ist,
„Hernani" von Victor Hugo und „Antony" von Alexandre Dumas dem
älteren. Eine so unwahrscheinliche Figur, wie die Hernanis, hat das
Theater des 17. Jahrhunderts nirgends aufzuweisen. Hernani ist der
Sohn eines vom spanischen König zum Tod verurteilten, seiner Güter
beraubten Granden; er wächst arm in der Wildnis auf, die er barfuß
durchzieht. Er hat vom Himmel nichts als Luft, Licht und Wasser er-
halten, Gaben, die niemandem versagt sind. Er wird zum Räuber und
sieht sich bald an der Spitze einer blutgierigen Schar von einigen
tausend Geächteten. Aber er stammt von einem adeligen Geschlecht, und
die edelsten Gefühle sind ihm nicht fremd. Er ist ein eleganter, poe-
292
tischer Käuber. Nicht anders glaubte auch das 17. Jahrhundert, wie
wir gesehen haben, an die Macht der edlen Abstammung. Die Helden
der romantischen Litteratur müssen etwas Düsteres, Melancholisches
haben, etwas Byron'schen Weltschmerz, und Hernani nennt sich selbst
einen ,.fou furieux", einen „sombre insense". Antony hat denselben
Charakter, ohne die Poesie, die uns mit Hernani versöhnt. Antony ist
ein Mann, der seine Eltern nicht kennt, und darüber in die tiefste
Schwermut verfällt. Er wagt seine Liebe nicht zu gestehen, weil er
sich scheut, den Makel seiner Geburt zu enthüllen. Aber er ist ein
„Held". Er wirft sich den Pferden entgegen, die, scheu geworden, den
Wagen seiner Geliebten in rasendem Lauf mit sich fortreißen und diese
selbst mit einem schrecklichen Tod bedrohen. Bei allem „Heldentum"
mangelt ihm indessen jegliche moralische Kraft. Er jammert, geberdet
sich wie wahnsinnig und legt der von ihm geliebten Frau, die einem
andern angehört und die ihn flieht, mit teuflischer Kunst eine Schlinge.
Er gewinnt sie. raubt ihr die Ruhe und das Glück, und ersticht sie
zuletzt, als ihr Gatte sie überrascht. „Sie war mir nicht zu Willen, so
hab' ich sie gemordet!" ruft Antony dem eindringenden Mann entgegen.
Damit liefert er sich dem Henker aus, aber er hat den Ruf der Ge-
liebten gerettet!
Das ist kein Heldentum mehr, sondern das Gegenteil davon, und
eine solche Verirrung in der Auffassung der männlichen Größe hat sich
das 17. Jahrhundert nicht zu Schulden kommen lassen. „Antony" ist
freilich heute so gut wie vergessen, aber noch leben die Dramen Victor
Hugos. Ihre etwas rhetorische Kraft, ihre schöne, poesievolle Sprache,
ihr dramatisch effektvoller Bau gewinnen uns, und gern übersehen wir
die UnWahrscheinlichkeit, ja Unmöglichkeit der Charaktere und das
unserem Geschmack nach recht armselige Heldenideal, das sich in ihnen
verkörpert. Wenn wir dies aber bei den Dichtungen der neueren Zeit
thun, warum sollen wir nicht auch den herrschenden Auschauungen
einer früheren, unzweifelhaft großen Epoche billige Rechnung tragen?
Der Mensch sucht in der Poesie nicht bloß das Abbild des ge-
wöhnlichen Lebens; im Gegenteil, er will sich mit ihrer Hilfe den
Fesseln der Alltäglichkeit auf Augenblicke entziehen und in seiner Brust
höheren, edleren Gefühlen Raum geben. Wenn ihn dann der Dichter mit
sich führt in das Reich der Phantasie, was liegt ihm daran, daß nicht
alles der Wirklichkeit entspricht, was er dort findet? Wol aber trifft er
dort Menschen, deren Gefühle und Anschauungen den seinen verwandt
sind, nur daß sie ihm in veredelter, verklärter Form entgegentreten.
Versteht er ihren Wert und ihre Schönheit, so wird er gehobenen Sinns
von dem Werk scheiden, das ihm eine Stunde reinster Weihe geboten
hat. Er wird den Segen der Poesie empfinden, mag er nun als Kind
des 17. Jahrhunderts für die Ideale Corneilles oder als Romantiker des
19. Jahrhunderts für diejenigen Victor Hugos geschwärmt haben.
m.
Die Rivalen Corneiiles.
Wol in keiner Litteratur nimmt die dramatische Poesie eine so
hervorragende Stelle ein, wie in der französischen. Kaum hatte sich die
Bühne aus den ersten Anfängen heraus zu einer gewissen litterarischen
Bedeutung entwickelt, als sie auch die Gunst des Volkes gewann, und
die besten Talente sich ihr widmeten. Die dramatische Dichtung ist seit
ihrer ersten Blüte bis zur neuesten Zeit die populärste Gattung der
Litteratur in Frankreich geblieben.
Das Jahr 1629 war für die Geschichte des französischen Theaters
von hoher Wichtigkeit.
Sei es uns gestattet, noch einmal daran zu erinnern, daß in diesem
Jahr Jean Mairet mit seiner „Sophonisbe" das regelmäßige Drama be-
gründete, und der tragischen Poesie den Weg zeigte, auf dem sie
fernerhin wandeln sollte. Er rühmte sich nicht ohne Grund des Ein-
flusses, den er auf die anderen Dichter seiner Zeit ausgeübt habe.^)
Ein jugendlicher Feuereifer erfüllte die Dichter, welche für die
neugestaltete Bühne zu arbeiten unternahmen. Eine neue Generation mit
anderen Ideen, anderm Geschmack, anderm Charakter folgte auf Hardy.
In demselben Jahr, in welchem „Sophonisbe" erschien, traten mehrere
junge Dichter mit ihren Erstlingswerken vor das Publikum: Georges de
Scudery ließ eine Tragikomödie, „Lygdamon", und ein Schäferschauspiel,
„Les aventures de Rosileon", aufführen; Pichou verfaßte eine Tragi-
komödie, „Les folies de Cardenio", und Pierre Corneille aus ßouen
machte sich durch ein Lustspiel, „Melite", bekannt. Schon im Jahr zuvor
hatte ein noch nicht zwanzigjähriger Dichter, Jean de Eotrou, zwei
Lustspiele („L'hypocondriaque ou le mort amoureux" und „La bague de
l'oubli") zur Darstellung gebracht, und im Jahr 1630 traten Pierre du
Ryer mit einer Tragikomödie, „Argenis et Poliarque", Antoine Marechal
mit einer Pastorale, „L'inconstance d'Hylas", hervor.
Alle diese Männer, die sich fast zu gleicher Zeit erhoben, und
durch ihre Arbeiten dazu beitrugen, das Interesse an dem Theater und
1) In seiner Epitre dedicatoire vor den „Galanteries du duc d'Ossonne"
sagt Mairet mit einer Bescheidenheit, die vielleicht nicht ganz aufrichtig war:
„II est tres-vrai, que si mes premiers ouvrages ne furent guere bons, au moins
ne peut-on nier qu'ils n'aient ete l'heureuse semence de beaucoup d'autres meil-
leurs, produits par les fecondes plumes de Messieurs de ßotrou, de Scudery,'
Corneille et du Ryer, que je nomme ici suivant I'ordre du temps qu'ils ont com-
menee d'öcrire apres moi." Vergl. I. Teil dieses Werks, S. 215 ff.
294
der dramatischen Poesie zu beleben, erwarben sich bei ihren Zeitgenossen
Hohe Anerkennung, und mehreren unter ihnen gelang es, dauernden
Ruhm zu gewinnen. Rotrou, du Ryer, ja auch Scudery, behaupten ihren
Platz in der französischen Litteraturgeschichte, und weit über alle empor
schwang sich Corneille durch seine späteren dramatischen Werke. Aber
selbst wenn dieser den unverwelklichen Ehrenkranz, den ihm seine
klassischen Schauspiele ei warben, nicht errungen hätte, wenn er in
seiner ersten Manier geblieben wäre, verdiente er doch schon wegen
seiner Erstlingsdichtungen unsere besondere Aufmerksamkeit. Denn ein
feiner Kopf blickt uns aus ihnen entgegen, und wir fühlen in diesen
frühesten Arbeiten des Dichters den Hauch eines eigen gearteten, selb-
ständigen Geistes.
Wir haben darüber bald ausführlicher zu reden, und auch die
anderen oben erwähnten Dichter werden uns noch beschäftigen. Einige
von ihnen wirkten nur kurze Zeit und blieben ohne dauernden Einfluß;
andere waren noch viele Jahre lang neben Corneille thätig und wurden,
wie Rotrou, mit Recht gerühmt. Wieder andere, wie Scudery, galten nur
bei ihren Zeitgenossen als bedeutende Dichter, zumal sie das Talent
besaßen, durch Bramarbasieren und Lärmen besondere Aufmerksamkeit
zu erregen, und in ihrem glücklichen Selbstbewußtsein jede Gattung der
Litteratur mit ihren Werken bereichern wollten. Es gilt uns hier vor
allem, zu zeigen, in welcher Umgebung sich Corneille zuerst befand und
mit welchen Rivalen er in seiner Jugend zu ringen hatte.
Bevor wir jedoch die verschiedenen Dichter, die mit dem jugend-
lichen Corneille gleichzeitig für die Bühne arbeiteten, genauer betrachten,
wird es angemessen sein, noch einmal an den allgemeinen Charakter
der dramatischen Poesie in jener Zeit zu erinnern. In den Perioden des
Aufschwungs ist die Entwicklung oft außerordentlich rasch und durch-
läuft in kurzer Frist die verschiedensten Stadien, wogegen eine Kunst,
die einmal zu einer bestimmten Höhe gelangt ist, viele Generationen
hindurch unverändert bleiben und auch im Absterben noch jeder Neu-
gestaltung die größten Hemmnisse in den Weg legen kann.
Die Manier des alten Alexandre Hardy galt um das Jahr 1630
bereits nicht mehr als richtig; auch die gespreizte Redeweise, mit
welcher Theophile de Viau in „Pyramus und Thisbe" die vornehme Ge-
sellschaft in Entzücken versetzt hatte, konnte nicht als dauerndes Muster
gelten. Mairet hatte das historische Schauspiel um einen großen Schritt
weitergeführt, und das Theater nahm einen neuen Charakter an. Wir
haben schon gesehen, wie alles nach regelmäßiger Gestaltung des Dramas
drängte. Freilich fehlte noch viel, bis man zur ängstlichen Beobachtung
der sogenannten Einheiten gelangte. Noch herrschte, besonders in den
mehr romantischen Dichtungen, die größte Freiheit in Bezug auf den
Wechsel des Orts und der Zeit; der Dichter erlaubte sich, die Zuschauer
von einem Land in das andere zu versetzen, und zwischen den einzelnen
Akten lange Zeiträume als verstrichen anzunehmen.
Noch verlangte ein großer Teil des Publikums vor allem Ab-
wechslung auf der Bühne; und die meisten Zuschauer kannten keine
295
andere Freude im Theater, als die Befriedigung ihrer naiven Neugierde;
die Ereignisse selbst, die auf der Bühne sich abspielten, fesselten ihre
Aufmerksamkeit, und von den Forderungen der Poesie und Kunst hatten
sie keine Ahnung. So sagt auch der Dichter Rayssiguier in der Vorrede
zu seinem „Aminte" (1631), daß die Mehrzahl derer, die ihr Geld in
das Hotel de Bourgogne trügen, einen steten Wechsel von Abenteuern
auf der Bühne zu sehen wünsche. Deshalb dürften jene Dichter, welche
im Interesse der Schauspieler schreiben wollten, sich an keine Regel
binden.^)
Rayssiguier sprach damit die Meinung der dramatischen Dichter
aus, die mit dem momentanen Beifall zufrieden sind, und deren Zahl
ist immer groß. Trotzdem erkennt man deutlich, wie schon damals das
Drama einer strengeren Gestaltung zustrebte. Dies ergiebt sich nicht
allein aus den ersten Stücken Corneilles, sondern ebenso deutlich aus
den Werken der Dramatiker, die, gleichen Alters, in jenen ersten Jahren
mit ihm um den Preis in der dramatischen Dichtung rangen.
Es ist schon früher hervorgehoben worden und darf auch hier
nicht außer acht gelassen werden, daß die Dichtung jener Zeit wesent-
lich aristokratischen Charakter trug. Selbst das Schauspiel, das sich
doch an das große Publikum wandte, verleugnete diesen Charakter nicht.
Wenn auch das Volk im Schauspielhaus seinen Platz fand, so besaß es
noch zu wenig Erfahrung und war noch zu sehr jeder ästhetischen
Bildung bar, um nicht alles, was ihm geboten wurde, mit gleichem Sinn
hinzunehmen. Freilich ging die ästhetische Erziehung rasch, wie die
Geschichte des „Cid" beweist, allein in den letzten Jahren Hardys und
zur Zeit der ersten Versuche Corneilles und seiner Genossen hatte das
große Publikum auf die Haltung und die Richtung der dramatischen
Poesie kaum einen nennenswerten Einfluß. Die Dichtungen schilderten —
wenn sie nicht gerade Possen waren — nur eine vornehme Welt, zumeist
Fürsten, Könige und deren Hof. Für die hohen Kreise allein wurden
die Dramen gedruckt, ihnen wurden sie gewidmet. Sie allein besaßen
die Mittel, die Dichter zu belohnen.
Die dramatischen Werke zeigen zwar durch ihre Haltung, ihre
Sprache, ihre Gedanken den Geist der Gesellschaft, für die sie gedichtet
sind und aus der sie hervorgingen. Doch kann man nicht sagen, selbst
nicht von den Lustspielen, daß sie ein Bild der zeitgenössischen Ge-
sellschaft zu geben versuchen. Noch hält man sich zu viel an die
alte stereotype Welt der italienischen Stegreifspiele; es siad nur die Be-
gebenheiten, welche interessieren, nicht die Art, wie sie geschildert
werden. Noch kennt man nicht die Kunst der Charakteristik, und die
1) S. Rayssiguier, Vorrede zu: „L'Aminte du Tasse", tragicomedie (1631):
„La plus grande part de ceux qui portent le testen ä I'hötel de Bourgogne,
veulent que l'on contente leurs yeux par la diversite et changement de la scene
du theätre et que le grand nombre des accidens et aventures extraordinaires
leur Stent la connoissance du sujet. Ainsi ceux qui veulent faire le protit et
l'avantage des Messieurs qui rendent leurs vers, sont obliges d'ecrire saus ob-
server aucune regle".
296
auftretenden Personen verraten stets die Schablone. Selbst in den histo-
rischen Stücken ist von dem Streben nach geschichtlicher Wahrheit
kaum die Kede. La Calprenede läßt in seiner Tragödie: „La mort de
Mithridate" (1637) den König von Pontus in zierlichen Stanzen von der
Last der Krone reden, und jede Strophe mit einem eleganten Refrain
schließen.^)
Scudery anderseits zeigt in seinem „Mort de Cesar" einen Brutus,
der von der Unverletzlichkeit der legitimen Herrscher schwärmt.^)
In den Tragikomödien, den mehr romantischen Dramen, den Pastoral-
und Eitterdichtungen , ist natürlich jede Rücksicht auf historische und
geographische Wahrheit geschwunden. Dies war freilich an sich keine
Sünde gegen die Poesie; es konnte sogar ein Vorteil daraus erwachsen,
insofern die Phantasie des Dichters sich nicht beengt fühlte. So wie
Shakespeare das Böhmerland vom Meer umspült sein ließ, so verlegten
auch die französischen Dramatiker den Schauplatz ihrer Stücke nach
Sizilien, Griechenland oder einem andern fremden Land, ohne sich weiter
um dessen Natur und Einrichtungen zu kümmern. So wenig in diesen
Dramen eine Zeitangabe bestimmt war, so wenig fanden sich auch die
Orte charakterisiert. Es genügte, wenn das Land fremdartig genug er-
schien, um als Schauplatz für mancherlei seltsame Begebenheiten zu
dienen, und doch durfte es auch nicht so entlegen und barbarisch sein,
daß es die Entfaltung modernen höfischen Lebens unmöglich gemacht
hätte. Mit einem - Wort, es fehlte den Stücken jener Zeit die Individua-
lität. Spitzfindiger Witz vertrat die dramatische Leidenschaft. Alles war
verschwommen und nur ein starker Geist mit selbständiger Auffassung
1) La Calprenede, Mort de Mithridate V, 1. Eine Strophe genügt als
Beispiel :
„Gloire, grandeurs, seeptre, victoire,
Vous fütes mes honneurs passes.
Et de ces tristes passes
Je n'ai garde que la memoire.
Tout mon bonheur s'evanouit,
Mais le perfide qui jouit
Du bien que son crime lui donne,
Un jour avoüra comme moi
Que s'il connoissoit la couronne
Un berger craindroit d'etre roi."
Der letzte Vers bildet die Pointe jeder Strophe und den Refrain.
So schließt eine andere Strophe:
Mais si tous avoient comme moi
Senti le poids d'une couronne
Un berger craindrait d'etre roi.
2) Scudery, La mort de Cesar, I, 1, v. 25 ff.:
Les peuples que le sort a soumis ä des rois,
En doivent reverer la personne et les lois,
C'est lä mon sentiment, et je tiens que sans crime
Or ne peut renverser un tröne legitime.
Mais Cesar est injuste.*. ..
297
und eigentümlichem Charakter konnte der noch toten Form wahres Leben
einhauchen. Diese Aufgabe fiel bald Pierre Corneille zu.
Wie seit dem Erlöschen der Religionskriege und der völligen Nieder-
werfung der Hugenotten der kirchliche Eifer sich in weiten Kreisen ab-
gekühlt hatte, wie man sich den Dogmen gegenüber ruhig und fast
skeptisch verhielt, wie ein rationalistischer Zug durch das kirchliche
Leben ging, das offenbarte sich mittelbar auch in dem Drama jener Tage.
Man glaubte nicht mehr so ernstlich an Wunder und Zeichen, und die
Geistlichkeit wurde oft scharf mitgenommen. Von jeher hatte diese der
Satire in Frankreich als Zielscheibe gedient, und besonders die Mönche
sind stets die Helden oft sehr derber Erzählungen und SpäßQ gewesen,
aber an die Lehren der Kirche hatte sich der spöttische Geist nur selten
gewagt. Nun aber erklangen öfters Worte entschiedenen Zweifels, und
da sich solche Äußerungen nur in Form einer Kritik der alten Götter-
welt vorwagten, immer nur von Göttern und Opferern die Rede war,
konnte man den Dichtern ob solcher Stellen nichts anhaben, mochten
sie auch noch so deutliche Anspielungen enthalten. Es fallen manchmal
Reden, so herb und ungläubig, als seien sie von den skeptischen Dich-
tern des 18. Jahrhunderts zugeflüstert. So wird bei Rotrou, trotzdem er
später eine Märtyrer-Tragödie verfaßte, in seiner Tragikomödie „Ange-
liqiie'- ein Liebhaber, der Hilfe von dem Himmel erfleht, von seinem
Freund verspottet. Die Götter könnten sich mit dem Los der Menschen
nicht weiter befassen. Sie hätten genug damit zu thun, den Gang der
Himmelskörper in Ordnung zu halten, den Widerstreit der Elemente zu
regeln, zu donnern, zu belohnen und zu strafen, aber um die Bedürf-
nisse der einzelnen Menschen könnten sie sich nicht kümmern und noch
weniger auf die Gebete eines Thoren achten.') Auffallender noch sind
die Worte, welche Scudery in seinem „Tod Cäsars" dem Cassius in den
Mund legt. Porcia. die Frau des Brutus, ist von einer finsteren Vor-
bedeutung beim Opfer erschreckt worden und das Unternehmen, das ihr
Gatte gegen Cäsar plant, ängstigt sie. Cassius versucht, ihr Mut einzu-
flößen, indem er ihren Glauben für irrig, die Götter für ein Gebilde der
menschlichen Furcht erklärt und offen sagt, daß er nur den blinden Zu-
fall als den Herrn der Welt anerkenne.
1) Rotrou, Angelique ou La pelerine amoureuse, tragicoraedie. A Paris,
chez A. de Sommaville sans date. Acheve d'imprimer le 20 fevr. 1637. I, 1, 15.
Dort sagt Lucidor von den Göttern:
Ils donnent aux mortels avecque la elarte
Un pouvoir absolu dessus leur volonte:
Tout ce qu'ils ont cree sur la terra oü nous sommes,
Tout ce qu'ils ont soumis ä l'appetit des hommes,
N'est plus considere de leurs divinites.
C'est ä nous de pourvoir ä nos necessites.
Voir les biens et les maux, se servir du tonnerre,
Faire mouvoir les cieux et soutenir la terre,
Entretenir la guerre entre les Clements
Et disposer des prix comme des chätiments,
C'est le noble exercice oii leur pouvoir s'applique.
Et non pas de regir les voeux d'un frenetique.
298
„Wie seltsam ist die Blindheit uns'rer Zeit,
Wie schwach und thöricht ist der Geist des Mensehen,
Zu glauben, daß sf^in Glück so wie sein Weh
In eines Tieres Lunge sei geschrieben.
Und daß gewisser Götter gier'ge Schar
Zu den Altären niedersteige, um
Am Kauch der Opfer sich zu mästen: Opfer,
Orakel, VogelHug, Augurium,
Des Himmels und der Erde Götter — alles
Ist nichts als menschliche Erfindung — so schön
Als falsch! Was bleibt uns da zu fürchten?
Mag auch die Wahrheit dicht verschleiert sein,
Ich weiß, daß nur der Zufall unsre Welt
Eegiert.i)
Die dichterische Sprache der Franzosen in dem ersten Drittel des
17. Jahrhunderts ist schon bei früherer Gelegenheit charakterisiert worden.
Wir haben bei der Betrachtung der Lyrik gesehen, wie hohl und ober-
flächlich die Gedichte, wie gespreizt und gesucht der Gedanke, wie
geschmacklos oft der Ausdruck in ihnen war. Die Sprache gewann
durch sie an Beweglichkeit und Leichtigkeit, aber die Poesie schwand.
Fehler, die in der Lyrik zu Tage traten, konnten in der dramatischen
Dichtung nicht fern bleiben. Auch hier machte sich jene Mischung von
Koheit und Ziererei nur zu oft geltend ; neben dem derben, unverhüllten
Wort, das sich darin gefällt, keusche Gemüter zu erschrecken, fand sich
die gesuchteste Afifektation des Gedankens und Ausdrucks. Entweder ver-
fiel man in grobe Trivialität oder man geriet in den Marinismus, in
die Sucht nach Pointen und geistreichen Wendungen, in falsche Senti-
mentalität.^) Nur äußerst selten zeigt sich ein Hauch wahrer Poesie,
die platte Nüchternheit herrscht überall. Die Armut des Geistes, der
poesielose und doch schafFenslustige Sinn sucht sich dabei durch Künste-
leien zu helfen, und die dramatische Litteratur der von uns behandelten
J) Scudery, La Mort de Cesar, II, 4, 16:
Etrange aveuglement de ce siecle oü nous sommes!
0 faiblesse d'esprit! stupidite des hommes,
De croire follement, que leur bien et leur mal
Est ecrit au poumon d'un chetif animal;
Et que de certains dieux les troupes aifamees
Viennent dessus l'autel se paitre de fumees.
Oracle, saerifice, augure, vol d'oiseaux,
Dieux du eiel, de l'enfer, de la terre et des eaux,
Invention humaine, aussi belle que feinte,
Vous ne donnez point de sentiment de crainte.
Je penetre le volle et decouvre ä travers,
Que rien que le hasard ne conduit l'uuivers.
Jugez aprez cela de votre prophetie.
-) Die Pastoralsehauspiele zeigen denselben Geist der Künstelei. In La
Calprenedes „Clarionte", Du Eyers „Vendange de Sureue" findet man, wie in
den Schäferromanen, die Aufgabe des Menschen in den Liebesseufzern. In den
„Vendanges" wandeln die Personen mit Eomanen in der Landschaft umher und
reden in Pointen. I, 3, 48, sagt Polydor, seine Geliebte habe ihm ihr Bild ge-
schenkt, und auf näheres Befragen sagt er: „Sur mon coeur amoureux ses yeux
Tont crayonne".
299
Epoche erinnert nicht selten an so viele unbedeutende und jedes poeti-
schen Reizes entbehrende Dramen des vorigen Jahrhunderts. Ja, hin und
wieder findet man schon bei Rotrou und seinen Gefährten, was uns in
den Dichtungen des 18. Jahrhunderts so oft stört, die Scheu, die Dinge
beim rechten Namen zu nennen ; auch damals schon glaubte man durch
Umschreibung eines einfachen Ausdrucks der Würde des dramatischen
Stils in höherem Grad gerecht zu werden. So läßt Rotrou in seinem
Stück „ Doristee " seine Heldin, die diesen Namen trägt, berichten, wie
sie sich durch eine Ohrfeige der Zudringlichkeit eines vornehmen Herrn
erwehrt hat, und sie sagt:
„Gereizt von solchem Schimpf, drückt meine Hand
Auf seinem Antlitz ihre Formen ab."')
Überblickt man nun die beträchtliche Anzahl von Dichtern, welche
damals für die Bühne arbeiteten, so erkennt man aus der langen Reihe
von Namen, daß sich das Theater der besonderen Gunst des großen
Publikums wie der hohen Kreise erfreut haben muß. Aber nur wenige
dieser Dramatiker weisen selbständige Kraft und Originalität in ihren
Werken auf; nur selten geben sie uns etwas zu denken. Da finden wir
unter anderen Balthasar Baro, der in seiner Jugend Sekretär bei Honore
d'Urfe gewesen war und nach dessen Tod den Schlußband der „Asträa"
nach den handschriftlichen Aufzeichnungen des Verstorbenen vollendet
haben soll. Später trat er in den Dienst der Prinzessin von Montpensier,
und starb um das Jahr 1649 als hoher Finanzbeamter (Tresorier de
France) zu Montpellier. Seine Dramen und Schäferschauspiele, von welch
letzteren wir schon gesprochen haben, waren zahlreich und wurden oft
aufgeführt, haben aber für uns keine weitere Bedeucung.^)
Da war ferner der Dichter Pichou aus Dijon, der jedoch in seinen
besten Jahren 1631 unter dem Dolch eines Mörders fiel. Schöpferischen
Geistes scheint er nicht gewesen zu sein, denn die vier dramatischen
Werke, die er zur Aufführung brachte, stützen sich auf fremde Vor-
bilder. Am bekanntesten waren seine beiden Stücke „Les folies de Car-
denio" und „La Filis de Scire". Das erstere, ein Lustspiel, ist die
dramatische Bearbeitung einer Episode des „Don Quixote" (T. I, Ka-
pitel 23, 24, 27), und der edle Ritter von La Mancha mußte darin
die Rolle des Matamore spielen (1629). Das zweite Stück ist dagegen
nach dem, in Italien dem ,.Pastor fido" gleich geschätzten, Schäfer-
schauspiel „La Filii di Sciro" von Guidobaldo Bonarelli (1563 — 1608)
gearbeitet. Auch nach Pichous Tod standen seine Stücke noch längere
1) Rotrou, Doristee, I, 3, 97:
II s'approche, et ma main, sensible ä cette injure,
Sur sa joue aussitöt imprime sa figure.
Ähnlich ibid. II, 5, 35:
A ce mot il s'avance et d'un coup inhumain.
Sur ma joue innocente il imprime sa main.
2) Vergl. Les freres Parfaict V, 148. Titon du Tillet, Le Parnasse fran-
5ais, p. 234, u. I. Teil dieses Werks, S. 212.
300
Zeit auf dem Repertoire der französischen Schauspieltruppen, wie uns
Scudery in einem Lustspiel mitteilt.^) Ihre Sprache ist jedoch schwer-
fällig, oft unklar und unverständlich, und wirkt durch die Jagd nach
Pointen doppelt ermüdend.-) Der Held des erstgenannten Lustspiels,
Cardenio, ist während zweier Akte wahnsinnig und behandelt die Men-
schen, die ihm in der Wildnis begegnen, unter anderen Sancho Pansa,
sehr unglimpflich. Der Wahnsinn war damals ein beliebtes Auskunfts-
mittel der Dramendichter; die Helden der Stücke verfielen mit der größten
Leichtigkeit in diese Krankheit, in der sie dann meist allerlei erheiterndes
Unheil stifteten, wurden aber, sobald es galt, mit nicht minderer
Schnelligkeit wieder geheilt. Wir werden der Tollheit als Lustspielmotiv
noch öfter begegnen.
Auch der Advokat am Pariser Parlament, Antoine Marechal, reihte
sich unter die Theaterdichter, doch datieren nur zwei seiner Stücke,
„L'inconstance d'Hylas" (1630) und „La soeur valeureuse" (1633) aus
der Zeit vor dem „Cid"; seine meisten Arbeiten und darunter seine
besseren Werke, wie „Le railleur", erschienen später und weisen schon
den Einfluß Corneilles auf.^)
Bekannter war Gautier de Costes, sieur de La Calprenede^)
(1610 — 1663). Er war auf dem Schloß Toulgon in der Nähe der Stadt
Sarlat in der Dordogne geboren. Er selbst nannte sich gern einen
Gascogner, und scheint in seinem Charakter auch viele Züge dieses
Stamms gehabt zu haben. Als adeliger Junker kam er nach Paris, wo
er in die Leibgarde des Königs trat und bald durch seine flinke Zunge
und die Kunst, schnurrige Anekdoten zu erzählen, sich die Gunst der
Hofdamen und der Königin erwarb. Seine Bildung hatte er, wie er in
der Widmung seiner ersten Tragödie erzählt, hauptsächlich dem Amadis
zu verdanken, und mit diesem leichten ästhetischen Wissen ausgerüstet,
wagte er sich im Jahr 1635 mit einem historischen Trauerspiel hervor,
„La mort de Mithridate".'') Mithridates spricht darin wie ein Capitan
der Komödie, aber Beweise von seiner Thatkraft giebt er nicht. Sein
Sohn Pharnaces fällt von ihm ab und kämpft auf Seiten der Römer.
Das Stück läßt trotz aller Schwächen einiges Talent erkennen. Die
beiden Frauenrollen, die sich darin finden, erregten Bewunderung. La
Calprenede zeichnete die eine, Hypsicratee, die Gemahlin des Mithridates,
als eine Amazone, die sich mutig in den Kampf stürzt und die Feinde
1) Scuderj, La comedie des comediens. 16.34, 2. Act.
^) Man sehe z. B. Les folies de Cardenio I, 3, 5, wo Cardenio in eil
Monolog sagt:
Que mon impatience eprouvera d'ennuis
Et qu'en si peu de jours je souffrirai de nuits!
oder als Beispiel der verworrenen Constructionen : I, 3, 63:
Sa haine ne sera qu'une heureuse matiere
A la fidelite que je vous garde entiere.
3) Parfaict IV, 496.
*) Das s in Costes ist auszusprechen.
^) Gedruckt 1637 zu Paris bei A. de Sommaville.
301
in die Flucht schlägt; die zweite, Berenice, ist die sanfte und bei aller
Milde doch feste Frau des Pharnaces. Trotz ihrer Liebe zu diesem folgt
sie ihm nicht. Sie bleibt bei Mitbridates, der in Sinope belagert wird,
und die Unterredung, die sie mit ihrem Gatten hat, und in der sie ihn
von seinem verderblichen Weg zurückzurufen trachtet, galt als der Glanz-
punkt des Stücks. Und es liegt allerdings eine gewisse dramatische
Kraft in ihren Worten, wenn sie auch rauh und ungelenk sind.
„Dir, meinem Gatten, bin ich Treue schuldig,
Doch hab' ich königlichen Sinn, Du weißts.
Zieh hin bis in die fernsten Länder, wo
Der Strahl der Sonne kaum den Menschen leuchtet;
Verbreite Schrecken bis ans End' der Welt,
Wo nur der Himmel Deine Schritte hemmt;
Erhebe Dich zum Kampfe mit dem Schicksal,
Und siehst Du mich nicht stets an Deiner Seite,
Dann magst Du glauben, daß ich Dich nicht liebe!
Doch wenn Du gegen Deinen Vater Dich
Mit Rom verbündest, nach dem Throne strebst,
Den töten willst, der Dir das Leben gab —
Soll ich auch dann dein Beispiel noch befolgen?
— — — — — Ich flehe
Für Deine Schwestern, Deinen Vater, mich —
Doch mehr als für uns alle, flehe ich
Für Dich!"i)
Pharnaces kann nicht mehr zurück, er ist in der Hand der Römer,
und so fällt der König von Pontus. Sinope wird von den Feinden er-
stürmt. In seinem Thronsaal zeigt sich Mitbridates im letzten Akt, umgeben
von seiner ganzen Familie. Seine Frau und seine Töchter flehen ihn um
Gift an, das er ihnen auch endlich giebt, und an dem sie nach schwerem
Todeskampf auf der Bühne sterben. Auch Berenice folgt ihnen und
nimmt Gift. Mitbridates selbst besteigt dann seinen Thron, und läßt
sich von einem getreuen Diener in dem Augenblick durchbohren, da
Pharnaces auf der Schwelle erscheint. Natürlich wirkt dieser Anblick er-
schütternd auf den Empörer und auch dieser will sich umbringen, wird
aber noch rechtzeitig zurückgehalten, und damit endet das Stück.
^) La Calprenede, La mort de Mithridate III, 3 :
Berenice :
Je sais ce que je dois ä la foi conjugale,
Mais Sache que mon äme est une äme royale.
Va porter la terreur aux lieux plus retires
Que le flambeau du jour ait eneor eclaires.
Rends des cieux seulement tes conquetes bornees,
Arme-toi, si tu veux, contre les destinees :
Et si tu ne me vois compagne de tes pas,
Publie hardiment que je ne t'aime pas.
Mais servir les Romains contre ton propre pere
Usurper par sa mort un tröne hereditaire.
302
Ermutigt von dem Erfolg seines ersten Versuchs, verfaßte La
Oalprenede im Jahr 1636 — dem Jahr des „Cid" — eine Tragikomödie:
„Bradamante", die überaus schwach war, und im nächsten Jahr ein
nicht minder trauriges Schäferdrama voll Affektion und hohler Phraseo-
logie: „Clarionte". Prinz Fidamant von Majorka bemerkt in einem
wilden Wald Inschriften auf einem Felsen, und weiterhin, in Baumrinden
eingeschnitten, Verse, in welchen eine unglückliche Seele den Wanderer
bittet, er möge sie nicht beunruhigen. Solange eine unglückliche Seele
noch zierliche Verse in Baumrinden schneidet, sollte man denken, daß
sie ihr Weh zu tragen weiß. Fidamant wird jedoch von der beredten
Bitte gerührt, umsomehr, als er noch ein Grabdenkmal findet mit der
Inschrift :
Un Corps erre dans les deserts
Dont l'äme est ici renfermee.
Das klingt wie ein Neckrätsel, aber die Aufklärung wird bald
gegeben. Die Prinzessin Rosimene von Sardinien hat mit ihrem Bräutigam,
dem Prinzen Clarionte von Corsica, auf der Reise nach dessen Heimat
Schiffbruch an der Küste von Majorka erlitten. Auf dieser Insel herrscht
der grausame Brauch, jedes Jahr die schönsten Menschen den Göttern
in feierlichem Opfer darzubringen. Clarionte ist ergriffen worden, und
Rosimene, die sich hat retten können, hat dem Opfertod ihres Geliebten
aus der Ferne beigewohnt. Ihm gilt das Denkmal. In einem Monolog
giebt Rosimene ihrem Kummer Ausdruck, und wendet sich an ihre
Augen :
Ihr, meines grausen Unglücks erster Anstoß,
Vergießt ihr Augen, all mein Herzenbliit!
Und wenn mein Blut euch nicht genügen kann.
Gebt noch mein Herz — doch nein, ihr könnt es nicht').
In diesem Ton geht es fort, bis der fünfte Akt zu einem glück-
lichen Ende führt ; denn Clarionte, der heiß beweinte, ist nicht geopfert
worden, sondern findet nach mancherlei Abenteuern seine Rosimene
wieder. Von den anderen Dramen La Calprenedes ist noch der „Comte
4'Essex" zu nennen, der 1639 aufgeführt wurde , und als des Dichters
beste Arbeit galt. Mit ihm aber stehen wir schon in der folgenden
Periode, in der Corneille unbestritten die Führerschaft hat. Wir werden
von Calprenede noch zu reden haben, da er sich später vom Theater
abwandte und durch mehrere Romane hohen Ruhm bei seinen Zeitgenossen
erwarb.
Tenir le jour de lui, le lui vouloir öter,
Juges-tu qu'en cela je te doive imiter?
Je parle pour tes soeurs, pour ton pere et pour moi,
Et bien plus que pour nous, je deraande pour toi.
1) La Calprenede, Clarionte I, 2.
Vous, les Premiers auteurs de ma perte funeste,
Versez, mes yeux, versez tout le sang qui me reste.
Et si memo mon sang ne le contente pas,
Donnez encor mon coeur, mais vous ne pouvez pas.
303
Größere Aufmerksamkeit als die eben Genannten verdienen Du Ryer
und Rotrou , welche neben Corneille auch später mit Erfolg ihre Dich-
tungen aufführen ließen. Besonders Rotrou war mit Corneille befreundet.
Anfangs arbeitete er in der gewöhnlichen, bereits geschilderten Weise,
bald aber beugte er sich willig vor der Größe seines Freundes und suchte
ihm zu folgen. Du Ryer und Rotrou werden wir noch später begegnen.
Hier, wo es zunächst gilt, den Zustand des Theaters und den Charakter
der dramatischen Dichtung vor dem Erscheinen des „Cid" zu schildern,
müssen wir uns vor allem mit Scudery und Tristan l'Hermite be-
schäftigen.
Scudery hat es verstanden, die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen
zu erzwingen. Obwol er weniger poetische Begabung hatte, als mancher,
der vor ihm zurückstehen mußte, verstand er es doch, sich geltend zu
machen , und sich sogar ein Plätzchen in der Litteraturgeschichte zu
sichern. Er machte zu rechter Zeit so gewaltigen Lärm, dass man ihn
weithin hören mußte.
Scudery stammte aus einer adeligen Familie, die in dem Städtchen
Abt in der Provence ihren Sitz hatte. Der Vater war Soldat im Dienst
des Königs, und sein Beruf führte ihn nach Le Hävre in der Normandie,
wo er sich mit einem Fräulein aus wohlhabender Familie , der Tochter
eines Herrn de Brilly, vermählte. Dort wurde ihm auch das Geschwister-
paar geboren, das die Litteratur des 17. Jahrhunderts mit mannigfachen
Werken bereichern sollte und lange Zeit sich im Glanz des Ruhms und
der Popularität sonnen durfte.
Georges de Scudery, der ältere, erblickte das Licht der Welt im
Jahr 1601 und lebte bis 1667; seine um sechs Jahre jüngere Schwester
Madeleine sah noch den Beginn des folgenden Jahrhunderts (1607 — 1701).
Georges, mit dem wir es hier zunächst zu thun haben, war trotz seiner
Geburt auf normannischem Boden ein echter Südländer : sanguinisch,
schlagfertig und schnellen Geistes. Das rege Treiben der Handelswelt,
der Blick auf die weite See , die wechselnden Scenen im Hafen seiner
Geburtsstadt mögen bei ihm den Hang zum Abenteuerlichen und Roman-
tischen, der ihn charakterisiert, noch besonders verstärkt haben. In
seinem Auftreten erinnerte er gelegentlich wol an den Capitan der Komödie.
Dem Beispiel seines Vaters folgend, nahm er in seiner Jugend
Kriegsdienste und trat in die königliche Garde ein. Von seinen Kriegs-
thaten wissen wir nicht viel ; Scudery spricht zwar gern und oft von
ihnen in seinen Schriften, doch hält er sich in Allgemeinheiten, um der
Phantasie seiner Freunde keinen Zwang aufzuerlegen. Jedenfalls ver-
zichtete er frühzeitig auf militärischen Ruhm, denn er verließ den
Dienst schon im Jahr 1630, um sich ausschließlich der Dichtkunst zu
widmen. Mit wahrem Heldenmut stürzte er sich auf das Drama, und
verfertigte im Lauf von acht Jahren (1629 — 1636) zehn Tragödien,
Komödien und Schäferschauspiele. Bald stand er in der ersten Reihe
der Dichter, die um jene Zeit für die Bühne arbeiteten. Als er sein
Lustspiel „Le trompeur puni" im Druck herausgab, zierte er das Buch-
304
lein mit seinem Bildnis , um welches die bescheidenen Worte zu lesen
waren :
Et poete et guerrier
II aura du kurier, i)
Zwar bemühte er sich, auf den litterarischen Ruhm, den er erwarb,
geringschätzend herabzublicken ; denn als ritterlicher Herr hielt er es
für seine Pflicht, jegliche Gelehrsamkeit zu verachten, und umsomehr
auf seine Kriegsthaten zu pochen. Ein rechtschaffen gesinnter Junker
durfte nicht viel gelernt haben, und wenn dies ausnahmsweise doch
einmal der Fall war, mußte er sein Wissen wenigstens zu verbergen
suchen. So rühmt sich denn auch Scudery in der Vorrede zu „Lygdamon"
seiner Unwissenheit und prahlt, er habe mehr Lunten als Kerzen ver-
verbrannt.-) Die Großsprecherei war ein Hauptzug in seinem Charakter.
Darum betonte er auch in der erwähnten Vorrede, daß er sein Werk
dem Buchhändler überlassen, aber nicht verkauft habe. Ein solcher
Handel schien in jenen Kreisen unwürdig . während es für anständig
galt, für die Widmung eines Gedichts von einem hohen Herrn ein
huldvolles Geschenk anzunehmen.
Wie Scudery als Raufbold gegen Corneille auftrat, als er sich durch
den Erfolg des „Cid" in seinem Ruhm bedroht hielt, wird noch aus-
führlich berichtet werden. Die anfängliche Freundschaft der beiden Männer
verwandelte sich in unversöhnliche Abneigung. Wir haben indessen
keinen Grund , neben der Eifersucht noch gemeine Beweggründe für
diese Kampfeslust bei Scudery vorauszusetzen . und etwa zu glauben,
daß er sich die Gunst Richelieus habe erwerben wollen. Was man
sonst vom Charakter Scuderys weiß, berechtigt nicht zu solcher Hypo-
these. Er war einer der wenigen, welche Theophile de Viau in seinem
Unglück nicht verließen und sich nicht scheuten, ihre Freundschaft
für ihn offen zu zeigen. Wenige Jahre nach dem Tod des unglücklichen
Dichters besorgte er eine Ausgabe seiner Werke, mit einem von ihm
verfaßten Gedicht, ,,Le tombeau de Theophile", als Einleitung.^) Ebenso
erzählt man von seinem uneigennützigen und charakterfesten Verhalten
gegenüber der Königin Christine von Schweden, die ihn durch das Ver-
sprechen eines hohen Geschenks veranlassen wollte, den Namen eines
ihi- mißliebig gewordenen Grafen de la Gardie aus seinem Epos „Alaric"
zu streichen. Scudery antwortete auf diese Mitteilung in seiner hoch-
') Le trompeur puni ou rhistoire septentrionale. Tragicomedie par Mr.
de Scudery. A Paris 1635, chez Antoine de Sommaville in 4".
^) Preface zu „Lygdamon": „... La profession que je fais, etant toute
pleine de franchise, m'oblige ä porter le coeur sur les levres et ä t'avertir que
dans la musique des sciences je ne chante que par natura." Vergl. oben S 264 ff.
Cyrano Bergerac läßt in seinem „Pedant joue" (I, 1) den renommistischen Junker
Chateaufort ausrufen: „Des lettres! Ah, que me dites-vous? des ämes de terre
et de boue pourroient s'amuser ä ces vetilles, mais pour moi je n'ecris que sur
les Corps humains".
3) Über Theophile s. Teil I, S. 201. Die von Scudery besorgte Ausgabe der
Werke Theophiles erschien 1632 zu Eouen.
305
trabenden Manier, daß er den Altar, auf dem er einmal geopfert habe,
nicht zerstören könne. Aber von dem Pathos abgesehen , muß der Zug
bei Scudery umsomehr gefallen, als der Dichter durchaus nicht in
glänzenden Verhältnissen gelebt zu haben scheint.')
Mit seiner thörichten Feindschaft gegen. Corneille hat sich Scudery
selbst sehr geschadet, und eine vorurteilsfreie Prüfung seiner Leistungen
erschwert. Als Corneilles Ruhm einmal feststand, sah man in Scudery
nicht mehr einen litterarischen Gegner, sondern nur noch einen klein-
lichen Xeider. und die neue litterarische Schule, die von Boileau geführt
wurde, sah in ihm den Sündenbock, an dem sie ihren Mut kühlen
konnte, und der für alle Kollegen büßen mußte. Scudery war nicht
besser und nicht schlechter, als mancher andere Dichter jener Zeit, der
unangefeindet blieb. Aber freilich, niemand wußte auch, so wie Scudery.
durch sein Auftreten den Spott zu wecken und die Kritik zu reizen,
Einer der Getreuen des Hauses Rambouillet, in dem seine Schwester
Madeleine besonders gern gesehen war, erhielt er auf Verwendung der
Marquise im Jahr 164o von der Königin-Regentin den Posten eines
Gouverneurs von Notre-Dame de la Garde bei Marseille. Das brachte
ihm wol nur eine kleine Besoldung, aber statt so wenig als möglich
davon zu reden, erlaubte er sich, gelegentlich eine übertriebene Schilde-
rung des genannten Forts zu geben; dafür brachten nun ein paar gute
Freunde, Chapelle und Bachaumont, in ihrem witzigen Reisebericht aus
dem Süden von Frankreich eine boshafte Beschreibung dieses wichtigen
Postens. Auf der Anhöhe, die sich südlich von Marseille erhebt, und
von der sich ein bezaubernder Rundblick auf die alte, geschäftseifrige
Phokäerstadt und das blaue Mittelmeer eröffnet, steht heute eine präch-
tige Kirche, welche den proveu9alischen Schiffern von weitem schon als
Wahrzeichen und hoffnungskündender Gruß der Heimat erscheint. Damals
erhob sich dort ein von Franz I. erbautes Fort, welches eine alte, aus
dem Anfang des 13. Jahrhunderts stammende Kapelle umschloß. Das
Fort mag verfallen gewesen sein, aber die beiden Reisenden übertreiben
absichtlich, wenn sie auf der Höhe nur einen verfallenen Turm ge-
funden haben wollen, dessen Bewachung einem, wie sie behaupten, auf
die Thür gemalten Soldaten übergeben gewesen wäre. Auch berichten
sie von der Inschrift, die sie gelesen haben wollen:
„Portion de gouvernement
A louer presentement."^)
1) Vergl. Parfaict, Eist, du th. fran.;ais, IV, 439.
-) S. Chapelle et Bachaumont, Oeuvres. Nouvelle edition, precedee d'une
notice par M. Tenant de Latour. Paris 1854, chez P. Jannet. (Bibliotheque
elzevh-iennej, p. 89:
G'est Notre-Dame de la Garde,
Gouvernement commode et beau,
A qui suffit, pour toute garde,
Un Suisse avee sa hallebarde,
Peint sur la porte du ehäteau.
Gesch. d. franz. Litteratu
306
Doch stammt diese Satire erst aus späterer Zeit (1656), uiid
Scuderys Ruf als Dichter blieb lange unangetastet. Noch im Jahr 1650
wurde ihm die Ehre zu Teil, in die Akademie berufen zu werden. Um
diese Zeit fällt aber auch ein Wendepunkt in seinem Leben. In den
Unruhen der Fronde stellte er sich auf die Seite des revoltierenden
Adels, und wurde dafür nach dem Sieg der königlichen Partei auf einige
Jahre in die Normandie verwiesen. Er hatte gerade ein Epos, „Alaric",
veröffentlicht, mit dem er neue Lorbeeren zu gewinnen hoffte und mußte
nun seinen Gegnern den Platz räumen. Als er nach einigen Jahren
(1661) die Erlaubnis erhielt, nach Paris zurückzukehren, fand er die
Verhältnisse sehr zu seinen Ungunsten geändert. Der König bewilligte
ihm zwar eine Pension, aber die Anerkennung, die ihm früher nie ge-
fehlt hatte, fand sich nicht wieder ein. Das Eeich der Precieusen war
bedroht; der Geschmack stand im Begriff, eine entschiedene Wandlung
zu machen. Eine neue Schule erhob in der Litteratur ihr Haupt, und
man sprach von kecken jungen Männern, von Boileau, Moliere und
anderen, die es wagten, Autoritäten wie Chapelain und Scudery zu ver-
spotten.^)
Uns gilt es hier zunächst, Scudery als dramatischen Dichter
kennen zu lernen, und zwar wollen wir die Schauspiele prüfen, die er
in seiner Jugend im Wettstreit mit Corneille vor dessen ,.Cid" ver-
faßte. 2)
Aussi voyons-nous que nos reis,
En connoissant bien rimportance,
Pour le confier ont fait choix
Toujours de gens de eonsequence,
De gens pour qui, dans les alarmes,
Le danger auroit eu des charmes,
De gens prets ä tout hasarder,
Qu'on eüt vu longtemps Commander,
Et dont le poil poudreux eüt blanchi sous les armes.
Nach diesen beißenden Versen fahren die Eeisenden in Prosa weiter
fort: „Une description magnifique, qu'on a faite aut.refois de cette place, nous
donna la curiosite de Taller voir. Nous grimpames plus d'une heure avant que
d'arriver ä l'extremite de cette montagne, oii l'on est bien surpris de ne trouver
qu'une mechante masure tremblante, prete ä tomber au premier vent. Nous
frappämes ä la porte, mais doucement de peur de la jeter par terre, et apres
avoir heurte longtemps, sans entendre meme un chien aboyer sur la tour,
Des gens qui ' travaillaient lä proche
Nous dirent: Messieurs, lä dedans
On n'eutre plus depuis longtemps.
Le gouverneur de cette röche,
Retournant en cour par le coche,
A depuis ehviron quinze ans
Empörte la cle dans sa poche."
1) Man vergl. noch Parfaict IV, 430. Niberon, Memoires, t. XV.
2) Folgendes ist die Liste dieser Dramen: 1629: Lygdamon et Lydias
ou la ressemblance, tragicomedie ; 1631: Le trompeur puni ou l'histoire septen-
trionale, tragicomedie; 1632: Le vassal genereux, tragicomedie; 1634: La comedie
des comediens, poeme de nouvelle invention; 1835: Orante, tragicomedie; Le fils
307
Sein erstes Stück war „Lygdamon". Er dramatisierte darin eine
Episode der „Asträa", und in dem Vorwort, mit welchem er es be-
gleitete, als es im Druck erschien, brüstete er sich mit dem großen
Erfolg, den seine Dichtung bei Hof und bei den öffentlichen Vorstel-
lungen gefunden hätte. Sein nnchstes Stück, „Le trompeur puni", hat
er gar aus zwei verschiedenen Erzählungen zusammengesetzt. Er be-
nutzte abermals eine Erzählung in „Asträa" und erweiterte sie, indem
er eine Geschichte aus „Polexandre'", einem Roman Gombervilles, mit
einflocht. ^) Doch gelang es ihm nicht, diese beiden Teile zu einem wirk-
lichen Ganzen zu verschmelzen. Die Manier des ..Lygdamon" und des
„Trompeur" ist dieselbe; sie erinnert noch an die Hardy'sche Weise,
obwol sich Scudery auch öfters in geziertem Wesen gefiel, und man ihm
Marinismus vorwarf.") Da Scudery aber auch noch später auf das zweite
der genannten Stücke als eine ganz besonders gelungene und beliebte
Dichtung pochte, so wollen wir es etwas eingehender betrachten. Die
Vergleichung der Jugendwerke Corneilles mit den Stücken der gleich-
zeitigen Dichter wird dadurch wesentlich gefördert.
Der „Trompeur" spielt in den ersten drei Akten am Hof des
Königs von England. Eine edle Dame, Neree, und der nicht minder
edle Arsidor sind durch innige Liebe miteinander verbunden. Doch ein
anderer Ritter, Cleonte, giebt deshalb die Hoffnung nicht auf, Neree
für sich zu gewinnen, und sollte er auch falsche Mittel anwenden.
Einsam irrt er in dem Wald umher, ein klagender Celadon: er weint
und denkt dabei an die Überraschung der Göttin Thetis, wenn sie das
Wasser des Bachs, an dessen Ufern er wandelt, mit einem Mal salziger
finde als die Woge des Meers. Zu seiner Freude sieht er die Dame
seines Herzens mit ihrer Vertrauten, Glarine, nahen. Es entspinnt sich
zwischen ihnen ein scharfes Wortgefecht. jSTeree weist Cleonte ent-
schieden ab, und dieser beschließt nun, sich des edlen Wilds mit List
zu bemächtigen. Darauf kommt Arsidor, der in süßem Liebesflehen sich
an seine Dame wendet, während Cleonte bescheiden mit der Gesell-
schafterin zur Seite tritt. Arsidors Schweichelworte sollen Neree sehn-
süchtig stimmen und sie seinen Wünschen willfährig machen:
„Komm, schöne Göttin, blick in diese Quelle,
Wo sich der Bäume zarte Linien spiegeln;
Gestatte, daß in dieses Baches Silber
Mit eras'ger Sorge reines Gold ich mische,
Netzt hochbeglückt die Woge Deine Locken,
Glänzt sie dem Sand gleich, den der Tajo führt."^)
suppose, comedie; Le prince deguise, tragicomedie; 1G36: La mort de Cesar,
tragedie; Didon, tragedie; L'amant liberal, tragicomedie.
ij Über Gomberville s. I. Teil, S. 148.
-) Siehe „Lettre du desinteresse au sieur Mairet" in dem Streit über den
„Cid". Der Verfasser sagt in jener Schrift: „je ne bläme pas Mr. de Scudery
de savoir si bien son cavalier Marin".
3) Le trompeur puni, I, 3, 19 ff.:
Viens, ma belle deesse, et vois dans cette fontaine,
Ces arbres d'alentour tracer leur ombre vaino;
20*
308
Neree widersteht, aber Arsidor wird dadurch umso wärmer. Er
will sie in eine verschwiegene Grotte geleiten:
Sieh alle Tiere, die im Walde leben,
Die in der Luft, die in dem Meere wohnen,
Kurz alles, was sich regt auf dieser Welt,
Und sei es wilder, finst'rer als das Meer —
Zur Liebe zwingt sie alle die Natur!
Blick hin auf diesen Stein, den liebevoll
Mit hundert Armen jetzt der Epheu hält.
Sieh diesen Weinstoek, dessen Zweige zittern.
Weil er die Trennung von den Ulmen fürchtet, i)
Trotz dieses Aufgebots rhetorischer Kunst erlangt Arsidor nichts,
und Neree verabschiedet sich von ihm. Cleonte aber beginnt nun sein
trugvolles "Werk. Er tritt zu Arsidor heran, lächelt mitleidig über dessen
Liebeswerbuug und rühmt sich endlich der Gunst, mit der ihn Neree
beglücke. Sie habe ihm sogar versprochen, ihn die nächste Nacht in ihr
Haus einzulassen, und er lädt seinen bestürzten Freund ein, sich zur
bestimmten Stunde von der Wahrheit dieser Mitteilung zu überzeugen;
er werde sehen, wie das Thor sich ihm öffne. Eine kleine Zwischen-
scene führt darauf an den Hof des Königs von Dänemark, der seinen
Willen kund thut, eine Botschaft nacli England zu senden und für Al-
candre, den er vor allen seinen Eittern liebt und der solche Zuneigung
verdient, bei seinem königlichen Bruder um die Hand ISTerees zu bitten.
Dann aber führt die Handlung gleich wieder nach England zurück, in
die Wohnung Nerees, die sich rüstet, zum Schloß des Königs zu fahren,
wo sie erwartet wird.^) Der Schluß des Akts zeigt dann Cleonte und
SoufFre qu'en ce ruisseau. par un soin diligeut
Je fasse parmi l'or distiller de Targent,
Que lavant tes cheveux, cette onde ait l'avantage
De prendre la couleur du beau sable de Tage.
Die Verse machen einen doppelt peinlichen Eindruck, weil ein gezierter
Gedanke in unbeholfener Sprache ausgedrückt ist.
1) Le trompeur puni, I, 3:
Vois tous les animaux qui vivent dans les bois,
Ceux qui volent en l'air, ceux qui nageut en l'onde,
Bref, tous les habitants qui demeurent au monde,
Fussent-ils plus cruels et plus sourds que la mer,
La nature les pousse et les force d'aimer.
Tourne, tourne les yeux, regarde cette pierre,
Qu'etreint avec cent bras uu amoureux lierre;
Vois cette vigne ici, dont les faibles rameaux
Tremblent, de peur qu'elle a de quitter ses ormeaux.
-) Le trompeur puni, I, 6. Scudery bemüht sich, die Scene zu beleben
und den Dialog der Unterhaltung des wirklichen Lebens zu nähern. Die Scene
schließt mit den Versen:
Clarine:
„Oyez, que le cocher, pratiquant sa seience,
Fait preuve ä coup de fouet de son impatience,
Craignons de le fächer, ces gueux sont arrogants."
N e r e e :
„^'a, ma coiffe, raon masque, un mouchoir et des gants."*
309
Arsidnr auf der Straße vor dem Haus der Neree. Es ist dunkel, und
Arsidor muß sich in gebührender Entfernung halten. Cleonte giebt ein
Zeichen und tritt dann unter das Thor, aber nur um sich im Schatten
der Nacht unbemerkt davon zu schleichen. Arsidor, leichtgläubig, wie
die Liebhaber dei' damaligen Komödie nun einmal sein müssen, ist von
dem Leichtsinn und der Untreue der Geliebten überzeugt und flucht ihr
in absonderlicher Weise.')
Alle diese Vorgänge finden sich in dem ersten Akt zusammen-
gedrängt. Der folgende enthält zunächst nur Liebesklagen. Zuerst hören
wir Neree, die sich das Benehmen Arsidors nicht erklären kann. Sie
begreift nicht, warum er sie vermeidet, und in ihrer Bekümmernis er-
geht sie sich in den landläufigen schwärmerischen Redensarten von dem
Bach, den sie mit ihren Thränen schwellen machen wird, daß er schneller
fließe. Ja, sie bedroht das arme Wasser mit dem Tod durch das Feuer
ihrer Liebe.^) Nicht minder geziert und für uns ergötzlich ist ein Monolog
Arsidors, der in bewegten Stanzen erklärt, daß er Neree nicht mehr
lieben will und doch fühlt, daß er nicht von ihr lassen kann. „Du un-
beherztes Herz!" ruft er aus, „Du bist so schwacli, daß ich vergebens
Dich zu heilen suche. So verlaß mich denn, zieh hin, eile ihr nacb, der
Undankbaren, die Dich verwundet hat!'-^) Wie weit scheinen wir hier
noch von dem wahren Drama entfernt zu sein!
Bis dahin ist nur Arsidor durch die Kunst Cleontes umgarnt
worden; jetzt soll auch Neree an die Untreue ihres Geliebten glauben.
Cleonte erzählt seinem Freund, der König wünsche einer ihm teueren
Dame zu schreiben und ihr zu danken für alle Liebe und Güte, die sie
ihm bewiesen habe. Diesen Brief zu verfassen, habe er Auftrag erhalten
und er wisse sich nicht zu helfen. Arsidor. der ein guter Stilist zu sein
^) Le trompeur puni, I, 7, am Schhili:
Et conjure le ciel de chätier tes ruses,
Et qu'au bout de ueuf mois toi-meme tu t'accuses.
-) Le trompeur puni, II, 1, ;^1 ff.:
Ruisseau qui murmurez, si c'est de mon audace,
Gardez d'en gazouiller quand mon Arsidor passe,
Et si tu fuis d'ici de peur d'en discourir.
Je verserai des pleurs pour t'aider ä courir:
Mais si ton tiot ne coule et ne se precipite,
Que pour voir mon amant en son humeur depite.
Je jure qu'aussitöt comme tu l'auras dit,
Si le feu dessus Teau peut avoir du credit,
Que celui dont je sens la force souveraine
Briilera tes poissons jusqu'au fond de l'arene.
Nach solchen Reden fallen Ausdrücke wie der folgende (II, 1, 4) in dem
Mund Nerees umso stärker auf:
Je ne saurais trouver quelle mouche le pique.
•■j Le trompeur puni, II, 3, fünfte Strophe:
Coeur Sans coeur, rempli de faiblesse,
Que je täche en vain de guerir,
Sors, quitte-moi, va-t-en courir
Apres ringrate qui te blesse.
310
scheint, schreibt ihm den gewünschten Brief, welcher, wie man gleich
ahnt, in einer der nächsten Scenen bei Xeree als Beweismittel gegen
den Schreiber dient. So ist die Erbitterung endlich gegenseitig. Im
dritten Akt erscheint Neree sehr leidend. Bei Arsidor siegt das Mitleid
über den Unwillen; er besucht die Kranke, die er einst so heiß geliebt,
und die Mißverständnisse klären sich schnell auf. Arsidor fordert nun
den falschen Freund zum Zweikampf und ersticht ihn. Der Betrüger ist
bestraft und das Stück könnte somit schließen. Eine neue Geschichte
reiht sich aber in den folgenden Akten an , welche die ferneren Prü-
fungen des Liebespaars schildern. Denn während Arsidor wegen seines
Duells nach Dänemark flüchtet, wird Neree trotz ihres Sträubens auf
Befehl des Königs dem dänischen Gesandten als Braut für Alcandre mit-
gegeben. Arsidor hat bei einem armen Wirt Unterkunft gefunden. Er
ergeht sich beim Beginn des vierten Akts in einem Wald und hängt
seinen düsteren Gedanken nach, die er in einem Monolog mitteilt. Er
hat von dem Verlöbnis Nerees gehört und plant den Tod seines Eivalen.
Sein Sinnen wird durch eine Kampfscene unterbrochen; Arsidor bemerkt
einen Eitter, der, von Bewaffneten überfallen, nahe daran ist, zu unter-
liegen, eilt ihm zu Hilfe und rettet ihn. Der fremde Ritter bittet um
die Freundschaft seines Retters, verspricht ihm jegliche Unterstützung
seiner Pläne und ersucht ihn gelegentlich um einen Besuch in der
Stadt. Zugleich schenkt er ihm sein Bildnis, damit sie sich leichter
wieder erkennen. Von dem Wirt, dem er gleich darauf das Bild zeigt,
vernimmt Arsidor mit Schrecken, daß er Alcandre gerettet hat. So ent-
spinnt sich ein neuer Konflikt. Soll Arsidor auf seinen Mordplänen be-
harren? Soll die neue Freundschaft siegen? Er begiebt sich in die Stadt,
ohne einen festen Entschluß gefaßt zu haben. Dort erwarten ihn die
größten Ehren, und es kommt endlich zu einer offenen Erklärung
zwischen den beiden Männern. Alcandre und Arsidor sind Muster von
Edelsinn und Ritterlichkeit. Ein Wettstreit entsteht zwischen ihnen, wer
von ihnen sterben soll, um den andern glücklich zu machen. Der natür-
liche Gedanke, das Mädchen entscheiden zu lassen, kommt ihnen nicht.
Alcandre hat die ihm bestimmte Braut noch nicht einmal gesehen; an
ihm wäre es zunächst, das Liebesglück seines Freundes nicht zu stören.
Aber warum er deshalb sterben will, das konnten nur die empfindsamen
Seelen jener Zeit, die schwärmerischen Leser und Leserionen der Ritter-
und Schäferromane des 17. Jahrhunderts begreifen. Genug, die beiden
Freunde kommen endlich überein, daß das Schwert zwischen ihnen ent-
scheiden soll. Sie umarmen sich tief gerührt. „Adorable ennemi!" seufzt
Arsidor, und Alcandre antwortet entzückt: .Rival que je cheris!" Ja,
Arsidor erhebt sich zu dem Wunsch :
„Könnt' eine Frau zwei Gatten sich vermählen!
Das ist kein wahrhaft Gut, was man allein
Besitzt." 1)
^) Le trompeur puni, V, 3:
„Que ne peut une Alle epouser deux maris!
Le bien n'est pas vrai bien qui ne se communique!
311
Alcandre erwirkt bei dem König die Erlaubnis für Arsidor, einen
ernsten Zwist mit einem Unbekannten im Zweikampf ausfechten zu
dürfen. In feierlicher Versammlung, welche der Herrscher selbst mit
seiner Gegenwart beehrt, erscheinen zwei Ritter mit herabgelassenem
Visier. Der Kampf beginnt; da strauchelt der eine Kämpfer und fällt zu
Boden. Der andere will dem Zufall nicht den Sieg verdanken, er hält
inne und reicht seinem Gegner das Schwert zur Fortsetzung des Kampfes.
Allein ein so großmütiges Anerbieten wird nicht angenommen. Der
Ritter, der zu Boden gestürzt ist, erklärt sich für überwunden und
schlägt sein Visier zurück : der König erkennt zu seinem Schrecken
Alcandre. In diesem Augenblick meldet man die Ankunft Nerees, die
man unterwegs nur mit Mühe abgehalten hat, den Tod in den Fluten
zu suchen. Der König gebietet Arsidor, für einige Augenblicke das
Visier wieder zu schließen, und empfängt Neree mit der Nachricht, ihr
Arsidor sei im Kampf gegen den mit geschlossenem Visier dastehenden
Ritter gefallen. Eine ähnliche Täuschung erlaubt sich der König Don
Fernand in Corneilles .,Cid". In solchen Scenen, die man aus den
Romanen herübernahm, fand man ein gutes Mittel, noch vor dem Schluß
des Stücks einen starken Effekt anzubringen. Im „Cid" hat der König
indessen doch einen Grund , warum er sich den grausamen Scherz
gestattet, in dem Stück Scuderys aber liegt nicht der mindeste Anlaß
dazu vor. Neree erklärt dem fremden Ritter sogleich, daß er ein Tiger
sei, dem sie die Augen ausreißen werde, und ihre Überraschung ist
groß , als gleich darauf Arsidor sich zu erkennen giebt. Der dänische
König erklärt, bei seinem „Bruder von England" eine Fürbitte für das
schwergeprüfte Paar einlegen zu wollen, und für den unwahrscheinlichen
Fall, daß die erbetene Gnade nicht gewährt werde, sichert er ihm schon
jetzt eine neue Heimat in seinem Land zu. Er schließt mit den Worten :
Et soyez un exemple a la posterite
De traverses d'amour et de prosperite.
Die kurze Inhaltsangabe des Stücks genügt, die Manier Scuderys
kenntlich zu machen. Wie der „Trompeur puni" in seiner Komposition
schwach ist, so sind es auch die anderen dramatischen Werke Scuderys.
Sie gefielen aber durch mehrere Eigenschaften, die sie ihren Zeitgenossen
besonders empfahlen. Das große Publikum reizten sie durch die rasche
Folge von überraschenden Abenteuern und spannenden Ereignissen. Die
Energie , mit welcher der Verfasser seine Stücke führte , wäre jederzeit
anzuerkennen, mußte aber damals doppelte Wirkung machen. Den Beifall
der Gebildeten erwarb er anderseits durch seine oft gekünstelte Sprache,
und den Versuch , in seinen Hauptpersonen die Anschauungen der Zeit
über Liebe und Rittertum zur Anschauung zu bringen. Seine Helden
sind Männer von makelloser Tapferkeit und Treue , von großartigem
Edelmut, von weichem Gemüt. Sie schwärmen für ein Idol, und die
Dame ihres Herzens hat nicht minderen Adel der Gesinnung, als sie.
So ist sein „Lygdamon", so der Prinz Clearque in seinem „Prince
deguise". Unerkannt, als einfacher Ritter, kommt Clearque nach Sizilien,
kämpft dort für die schöne Prinzessin Argenie und erwirbt ihre Liebe.
312
Welche Begeisterung mußte eine solche Geschichte in einer Zeit erwecken,
welche die höchste Poesie in der gekünstelten Welt der Schäfer uud
Ritter suchte! Selbst die Bösewichter fehlen bei Scudery meist nur aus
Liebe. Cleonte im „Trompeur piini" hat keine andere Veranlassung zu
seinem falschen Thun. In dem „Vassal genereux" verfolgt ein Franken-
könig Lucidan aus Eifersucht seinen Vasallen Theandre, weil dieser die
Liebe der schönen Rosiclee erworben hat. Theandre wäre verloren, wenn
nicht das Volk rechtzeitig sich gegen seinen Tyrannen empörte. Lucidan
wird entthront und die Großen des Reichs erwählen Theandre zum König.
Dieser heischt von seinen neuen Unterthanen den Eid, daß sie seinem
ersten Gebot unweigerlich nachkommen werden, und als alle geschworen,
läßt er einen Vorhang wegziehen, und man erblickt Lucidan, den der
getreue Vasall als Herrscher proklamiert und für den er Gehorsam
fordert. Lucidan ist tief gerührt, bessert sich, und willigt nun in die Ehe
Theandres mit Rosiclee.
Wenn sich Scudery in seinen Tragikomödien und Lustspielen um
die Regeln von den Einheiten, von welchen schon viel gesprochen
wurde , nicht kümmerte , so strebte er in den zwei historischen Trauer-
spielen, die er 1636 spielen ließ, „La mort de Cösar" und „Didon".
nach Regelmäßigkeit in der Anlage und nach gewählter Sprache. Mairets
„Sophonisbe" diente noch immer als Vorbild. In dem Vorwort zu seinem
„Cesar", den er dem Kardinal Richelieu widmete, betont Scudery diese
strengere Haltung; er macht darauf aufmerksam, daß er die Einheit
der Handlung bewahrt habe, lobt sich wegen der Einteilung und Be-
handlung und findet, daß die Gedanken und die Sprache des Stücks der
Größe des dramatischen Gedankens entsprechen. Noch wechselt zwar in
dem „Tod Cäsars" die Scene öfters, aber ein einheitlicheres Zusammen-
fassen ist allerdings ersichtlich. Dafür fehlt aber auch der rasche Gang
der Entwicklung, und das Stück wird lahm aus Mangel an belebenden
Episoden. Der erste Akt wird durch Gespräche zwischen Brutus, Cassius
und Porcia ausgefüllt. Die letztere weiß zwar nur im allgemeinen, daß
ihr Gatte auf eine große That sinnt; aber sie spornt ihn nichtsdesto-
weniger an und erklärt sich selbst für furchtlos und stark. ^) Der zweite
Akt zeigt Cäsar und seine Umgebung. Antonius und Lepidus äußern ihr
Mißtrauen gegen Brutus; Calpurnia, die von bösen Träumen erschreckt
ist, bittet Cäsar dringend, nicht in die Senatssitzung zu gehen. Darauf
folgt wieder ein Zwiegespräch zwischen Cassius und Brutus. Der letztere
preist den Mut der Verschworenen, welche den Tod als das höchste Gut
1) In „La mort de Cesar", I, 2, v. 65, ruft Brutus ihr bewundernd zu:
0 d'un pere excellente heritiere!
On voit qu'il t'a laisse sa vertu toute entiere:
(Vertu que dans sa fin l'univers admira)
Et qu'il te fit sortir de ce qu'il dechira.
Der letzte Vers ist in seiner gesuchten Manier so unverständlich, daß
der Dichter es für gut hielt, im Druck die erklärende Bemerkung beizufügen,
man habe an die „entrailles" des Cato zu denken.
313
betrachten.^) Der dritte Akt bringt die Beratung Cäsars mit seinen
Freunden über die Annahme der Königskrone, und als Gegenstück dazu
in einer folgenden Scone die Versammlung der Verschworenen, in welcher
Brutus seine Genossen durch eine Rede entflammt, und ihnen selbst für
den Fall des Mißglückens ewigen Ruhm verheißt.-) Nur ein einziger
Verschwoi'ener erschrickt im letzten Moment, und beschließt, Cäsar zu
warnen. Dieser aber wird im vierten Akt doch von Brutus beredet, in
die Sitzung zu gehen, und dort, in der Halle des Senats, verfällt er
seinem Geschick. Scudery ordnet dabei an, daß nach der Mordscene ein
Vorhang den Senatsaal verhülle, „damit die Bühne nicht gegen die
Regel mit Blut befleckt werde''. Der fünfte Akt beliandelt die Entstehung
des Triumvirats und schließt mit der Leichenfeier für Cäsar. Die be-
rühmte Rede des Antonius verliert bei Scudery jede Kraft, ^) und das
Volk verhält sich sehr anständig dabei. Ein einziger Bürger antwortet
auf die Rede des Antonius und fordert die Menge auf, die Häuser der
Mörder zu verbrennen. Bevor diese fortstürmen kann, kommt ein anderer
Bürger und erzählt staunend , daß er den Geist des großen Cäsar habe
zum Himmel aufsteigen sehen , worauf dem Antrag des Antonius ent-
sprechend beschlossen wird, den Toten als Gott zu verehren und ihm
einen Tempel zu errichten.
In ganz ähnlicher Weise ist Scuderys „Didon" behandelt. Das
Stück hält sich genau an Virgil, und selbst die Erzählung von der Zer-
störung Trojas wird nicht ausgelassen. Äneas berichtet darüber in
200 Versen (I, 5).'') Der trojanische Held erscheint als das Muster der
Galanterie und verläßt Karthago nur auf das Gebot der Götter.'') Die
^) La mort de Cesar, IL 2, 17:
Tous regardent la mort comrae un souverain bien.
-) -La mort de Cesar, III, 2, 16: C'est vivre que mourir pour le pays natal.
3) Antonius beginnt folgendermaßen:
Le grand Cesar est mort: ee second Alexandre
(Helas, qui le croira!) n'est plus qu'un peu de cendre.
Et cette urue contient (ü triste souvenir!)
Ce que l'univers ne pouvoit conteuir.
^) In „Didon", I, 5 beginnt Aneas seine Erzählung in freier Bearbeitung
des Virgil'schen „Infandum, regina, jubes renovare dolorem'-.
„Belle reine, en parlant de nos derniers malheurs,
Vous voulez reveiller d'excessives douleurs.
Vous voulez que je conte en quelle sorte Troie
Vit mettre par les Grecs ses richesses en proie..."
5) Als Beispiel der galanten Reden des Äneas diene die Stelle des zweiten
Akts, wo Äneas und Dido im ^Yald, auf der Jagd vom Gewitter überrascht,
Zuflucht in einer Grotte suchen:
Ha, Madame,
Que ne m'est-il permis de vous ouvrir mon äme!
Que n'a mis la nature un cristal ä ce coeur,
Pour moütrer a travers le portrait du vainqueuri
Ha, que vous y verriez un visage adorable!
Etant comme le vötre, il est incomparable,
314
beiden Tragödien sind hauptsächlich wegen der Zeit ihrer Entstehung
bemerkenswert; sie stammen aus demselben Jahr, in welchem Corneille
seinen „Cid" dichtete, und sie lassen bereits die künftige Form der
klassischen Tragödie erkennen.
Schon das Jahr zuvor hatte Scuderj- ein Lustspiel, „Le Als sup-
pose", zur Aufführung gebracht. Eine Analyse davon ist nicht nötig,
da es nach althergebrachter Weise eine Reihe von absonderlichen Aben-
teuern, Verkleidungen und Verwechslungen aller Art enthält. Im Dialog
aber zeigt sich bereits der Einfluß der Corneille' sehen Lustspiele, inso-
fern auch Scudtny hier und da den Ton der Gesellschaft seiner Zeit zu
treffen trachtet.^)
Ein anderes Lustspiel, „La comedie des comediens" (1635), wäre
als zu unbedeutend nicht weiter zu besprechen, wenn es nicht für uns
ein historisches Interesse gewänne. Scudery führt darin eine reisende
Schauspielergesellschaft ein, und bezeichnet sein Stück selbst als ein
„poeme de nouvelle inveution'".-) Es ist in Prosa geschrieben, und ist
in seiner Komposition mehr als einfach. Ein Mr. de Blandimare reist
im Land umher, um seinen Neffen aufzusuchen. Dieser hat einige Zeit
zuvor die Heimat verlassen und seitdem kein Lebenszeichen mehr von
sich gegeben. Auf seinen Kreuz- und Querfahrten kommt Blandimare
nach Lyon, und da er sich langweilt, beschließt er ins Theater zu gehen.
Damit beginnt das Stück. Eine wandei-nde Truppe hat sich seit kurzem
in dem Haus neben dem Gasthof niedergelassen, macht aber schlechte
Geschäfte. Die Künstler sind, wie einer der Schauspieler klagt, wol
viermal schon unter Trommelschlag durch alle Straßen der Stadt ge-
zogen, aber noch ist es ihnen nicht gelangen, das Publikum anzulocken.
Auf ihren Anschlagzetteln bezeichnen sie sich als „comediens du roi".
Aber Blandimare spottet darüber; die Titel „Hofschauspieler" und
„königlicher Kammerherr" seien jetzt wolfeil zu haben, meint er. Er
fragt dann nach dem Eintrittspreis und erfährt, daß man acht Sous zu
bezahlen hat. Aber er bleibt auch der einzige, der Lust bezeugt, sich
etwas vorspielen zu lassen, und da er plötzlich in einem der Schau-
Et c'est lä seulemeut que ce divin soleil,
Y portant ses rayons, peut trouver son pareil.
1) Merkwürdig ist II, 1 der Monolog der Luciane, einer der Hauptper-
sonen des Stücks. Sie schwankt, ob sie dem Vater, der sie zu einer Heirat
nötigen will, gehorchen, oder ob sie dem Geliebten treu bleiben soll. Die Verse
erinnern in ihrem Bau, in ihrer Haltung, in den Antithesen sehr an die Strophen
ßodrigos am Schluß des ersten Akts im „Cid". Es heißt in der dritten Strophe:
Dures extremites qui partagent mon dme!
Lequel dois-je desobliger ?
De tous les deux cötes je trouve ä m'affliger.
De Tun je tiens le jour, et de l'autre la flamme.
Sie entscheidet sich zuletzt für den Geliebten:
Le nom de fille cede ä celui de maitresse.
-) La comedie des comediens, poeme de nouvelle invention par Mr. de
Scudery. Paris 1635, chez Aug. Courbe.
315
Spieler, der sich den stolzen Namen Belle-Ombre beigelegt hat, seinen
leichtsinnigen Neffen erkennt, so lädt er die ganze Gesellschaft zum
Abendessen in seinen Gasthof ein. So weit führt der erste Akt. Der
zweite zeigt uns die Herren und Damen der Truppe als Gäste Blandi-
mares. Doch erwarte man keine lebensvolle, übermütige Scene, nicht
das bunte Treiben und die Einfälle einer vagabundierenden Schar.
Blandimare unterhält sich in ernstem Gespräch mit den Schauspielern
und befragte sie um ihre Verhältnisse. Er entschuldigt sich, daß er die
Namen seiner Gäste nicht behalten könne, da sie alle ähnlich lauten,
und die Künstler Namen lieben wie: Bellerose, Belleville, Belleroche,
Beaulieu, Beaupre, Bellefleur, Belle-Epiue, Beau-Sejour. Beau-Soleil, Belle-
Ombre u. a. m. Natürlich sind das nur angenommene Namen, da man
die wirklichen Familiennamen zu entehren fürchtet. Blandimare erklärt,
er denke von Komödien und Versen wie von Melonen und Freunden:
wenn sie nicht vorzüglich seien, taugen sie gar nichts. Scudery durfte
dieses Wort schon einer seiner Personen in den Mund legen, da er ja
seine Verse für vorzüglich hielt. Blandimare zählt die Anforderungen
auf, die er an einen guten Schauspieler stellt, und fragt zuletzt nach
dem Eepertoire der Gesellschaft. Der Schauspieler Bellefleur nennt ihm
darauf die Hauptstücke, die sie spielen. Nach einem begeisterten Lob
des verstorbenen Hardy, dessen Werke noch oft gegeben würden, nennt
Bellefleur den „Pyramus" des Theophile, die „Silvio" Mairets, sowie die
bekanntesten Stücke Rotrous, Pichous, auch Corneilles. Natürlich werden
auch Scuderys Stücke erwähnt. Blandimare lobt den letzteren besonders
und nennt ihn den besten Schriftsteller unter den degentragenden Edel-
leuten. Die Schauspieler wollen schließlich eine Pastoral-Tragikomödie
von Scudery: „L'amour cache par l'amour" zur Aufführung bringen.
Dieselbe füllt die letzten drei Akte; Blandimare spielt selbst mit und
findet solchen Gefallen an der Kunst, daß er in einer kleinen Schluß-
scene bittet, in die Truppe als Mitglied aufgenommen zu werden.
Fassen wir unser Urteil über Scudery als dramatischen Dichter
zusammen, so ergiebt sich aus der Betrachtung dieser Reihe von Werken,
daß er, ohne Phantasie und Schwung des Gedankens, sich stets an
fremde Vorbilder anlehnen mußte. Seine Stoffe waren der Mehrzahl nach,
wenn nicht alle, fremden Autoren entlehnt. Aber er hatte die Gabe, das
Publikum, das noch nicht wählerisch war, zu fesseln und das nicht
minder wichtige Talent, seine kleine Kraft nach jeder Richtung hin gel-
tend zu machen. Deutlich aber ersieht man in seinen Stücken den Ver-
such, zu einer größeren Regelmäßigkeit zu gelangen. Im übrigen blicke
man nicht zu verächtlich auf Leute seines Schlags herab. Auch ihre
Arbeit ist nötig und nutzbringend. Sie sind nur Handwerker und be-
treiben ihr Geschäft demgemäß. Aber nur so bildet sich eine gewisse
Routine aus; nur durch sie und mit ihnen lernt man allmählich die
Gesetze des Dramas kennen, und aus ihren Reihen erhebt sich dann mit
einem Mal der große dramatische Dichter.
Unter allen Werken, welche dem ;,Cid" vorangingen, errang keines
so großen Erfolg, wie das Erstlingswerk, das ein junger Dichter,
316
Tristan THermite. ebenfalls im Jahr 1636, nicht lange vor Corneilles
Drama, aufführen ließ. Das Publikum war umsomehr von diesem neuen
Werk überrascht, als es den Namen des Verfassers in der Reihe der
dramatischen Dichter noch nicht hatte nennen hören. Der große Erfolg
eines ersten Werks hat etwas besonders Blendendes und erregt Hoff-
nungen, die nicht immer erfüllt werden. So ging es auch hier. Tristan
l'Hermite erzielte mit seinem Tiauerspiel „Mariamne" solchen Eindruck,
daß man in ihm. dem neu auftretenden Dramatiker, eine ganz außer-
ordentliche Kraft begrüßte. So wild hatte noch keiner die Leidenschaft
eines Tyi-annen, so rührend noch niemand die letzten Stunden einer
edlen Frau gezeichnet. Wir haben in ,. Mariamne" eines der ersten Rühr-
stücke, und können uns vorstellen, welche Thränen es den Zuschauern
entlockte. „Mariamne" erhielt sich auch neben dem „Cid" aufrecht und
machte ihm den Rang streitig. Lange freilich nicht, denn es ist seltsam,
welch sicheres Urteil das Publikum , selbst das ungebildete, entwickelt.
In der ersten Zeit vielleicht unsicher, befangen, geblendet, schenkt es
seine Vorliebe auf die Dauer nur den wahrhaft großen Schöpfungen. Der
Dichter der ..Mariamne" sollte dies auch an sich erfahren.
Francois Tristan l'Hermite war ein Altersgenosse Corneilles, denn
er war im Jahr 1601 zu Souliers in der Provinz La Marche geboren
und rühmte sich, altadeliger Herkunft zu sein. Er beanspruchte die
zweifelhafte Ehre, von dem blutdürstigen Minister Ludwigs XI., Tristan
l'Hermite , abzustammen . und führte seinen Stammbaum sogar bis zu
Peter dem Einsiedler, dem ersten Kreuzzugsprediger, hinauf. Als Edel-
page kam er schon in seinen Knabenjahren nach Paris und wurde dem
natürlichen Sohn König Heinrichs, dem Marquis de Verneuil, als Ge-
spiele beigesellt. Wie man in diesen Kreisen lebte, wie frühreif Tristan
wenigstens war, ahnt man, wenn man hört, daß derselbe mit 13 Jahren
ein Duell hatte und darin seinen Gegner tötete. Der Strafe zu entgehen,
flüchtete er nach England und trieb sich dort einige Jahre herum, soll
auch nach Schottland und Korwegen gekommen sein : doch wissen wir
das alles nur aus einem, viele Jahre später erschienenen Roman Tristans :
,.Le page disgracie'', in dem er seine Erlebnisse schilderte. Wie weit er
sich darin poetische Ausschmückungen gestattete, ist nicht zu bestimmen.
In den Hauptzügen mag er sich an die Wahrheit gehalten haben. Gewiß
ist, daß er auf einer Reise nach Spanien Frankreich wieder zu betreten
wagte und durch Geldmangel sich an der Weiterreise gehemmt sah.
Unter fremdem Namen trat er deshalb in die Dienste des hochverdienten,
durch seine lateinischen Gedichte bekannten Gaacher (Scaevola) de Sainte-
Marthe in Loudun, kam dann sogar 1620 an den Hof, wo er erkannt,
aber vom König begnadigt wurde. So weit führt der Roman und so weit
reichen unsere Kenntnisse von des Dichters Leben. Tristan hat zu den
zwei Bänden, die er 1643 veröffentlichte, noch zwei weitere fügen wollen,
allein sein Versprechen nicht erfüllt. Wahrscheinlich boten die folgenden
Jahre nicht mehr eine solche Reibe von Erlebnissen, wie sie im Roman
jener Zeit erwünscht waren. Man weiß nur, daß Tristan in den Dienst
Gastons von Orleans trat, daß er ein wilder Spieler war und in Armut
317
im Jahr 1655 infolge eines Lungenleidens starb. Außer drei Bänden
lyrischer Gedichte, die in der Weise jener Zeit abgefaßt sind und darum
für uns kein Interesse bieten, und neben dem schon erwähnten Roman
schrieb Tristan eine Reihe dramatischer Werke, die fast alle mit Erfolg
aufgeführt wurden und deren erstes jene oben erwähnte „Mariamne" war.^)
Aber nur mit dieser letzteren haben wir uns hier zu beschäftigen.^)
„Mariamne" behandelt die bekannte Episode aus dem Leben des
Herodes, den seine Schmeichler den Großen nannten. Eine seiner Frauen,
Mariamne, stammte aus dem Geschlecht der Makkabäer, und Herodes war
ihr mit besonderer Liebe zugethan. Nichtsdestoweniger hatte er ihre
ganze Familie, die letzten Sprossen des berühmten Heldengeschlechts,
ermorden lassen. Auch Mariamne schwebte in Lebensgefahr, als der
Tyrann von Augustus vorgeladen wurde, um sich zu rechtfertigen. In
seiner wilden Eifersucht hinterließ er einem seiner Vertrauten den Befehl,
Mariamne zu töten, im Fall man von seinem Sturz Nachricht erhalte.
Mariamne hörte von diesem geheimen Auftrag, und ihr Haß gegen
Herodes wuchs immer höher. Darum mußte auch sie endlich auf Befehl
des Herodes sterben, der nach ihrem Tod, wie es in dem dritten Buch
der Makkabäer heißt, von einem schlimmen Geist erfaßt, sich zu den
wildesten Blutthaten hinreißen ließ.
Im ersten Akt der Tristan' sehen Tragödie sieht man Herodes von
einem schweren Traum bedrängt. Das Gespenst des Aristobulus, den er
in einem Sumpf hat ertränken lassen, schreckt ihn aus seinem Schlaf.
Sein Bruder Pherore und seine Schwester Salome sprechen ihm Mut
ein, und versuchen gleichzeitig, ihn gegen Mariamne aufzureizen. Salome
vergleicht sie mit einem Felsen , weil ihr Herz so kalt sei . aber sie
erreicht mit diesem Tadel ihren Zweck nicht, denn Herodes gerät darüber
in weiche, lyrische Stimmung. Wenn Mariamne ein Felsen sei, so sei
sie ein Felsen von Alabaster , ihre Lippen überträfen den Rubin an
Farbe, ihre Augen seien Diamanten;^) und von Sehnsucht ergriffen,
schickt er einen Boten, sie zu rufen. Im zweiten Akt enthüllt zunächst
1) Tristans Gedichte sind in drei Bänden gesammelt: 1. „Les amours"
(1638). 2. „La Lyre*" (1641). 3. „Vers heroiques" (1648). Dazu noch „L'oflice
de la Sainte-Vierge", geistliche Gedichte. — Auf die „Mariamne" folgte 1639
„Panthee", tragedie ; 1645: „La folie du Sage", tragicomedie, „La mort de Se-
neque", tragedie, „La mort de Crispe", tragedie; 1653: „Amarillis", Pastorale,
nach der „Celimeiie" des Rotrou bearbeitet; 1654: „Le parasite", -comedie. Nach
des Dichters Tod erschien „La mort du grand Osman" (1656). — Über Tristan
l'Hermite vergl. Titon du Tillet, Le Parnasse fran^ais (S. 247); Pellisou und
d'Olivet, Histoire de l'Academie fran^aise.
2) Es liegt mir nur die zweite Ausgabe (revue et corrigee Paris 1637
chez Aug. Courbe), vor. Eine Vergleichung .mit der ersten Ausgabe wäre von
besonderem Wert, da die Dichter oft große Änderungen vornahmen.
•^) Tristan l'Hermite, La Mariamne, I, 3:
Si le divin objet dont je suis idolätre,
Passe pour un rocher, c'est un rocher d'albätre,
Un ecueil agreable, oii l'on voit eclater,
Tout ce que la nature a fait pour me tenter.
318
beseelt. Salome belauscM sie und reizt sie noch mehr auf; dann aber,
sobald die Fürstin, dem erhaltenen Euf gohorchend, sich entfernt hat, um
vor Herodes zu erscheinen, enthüllt sie in einem Monolog ihre schwarze
Seele. Durch Versprechungen und Lockungen aller Art weiß sie einen
königlichen Mundschenk zu falschem Zeugnis zu gewinnen. Derselbe
soll die Königin beschuldigen, sie habe durch ihn den König vergiften
wollen. Mariamne war unterdessen bei Herodes und muß ihm ihre Ge-
sinnung offen gezeigt haben, denn eine neue Scene beginnt damit , daß
der König in höchster Wut Mariamnen die Thür weist. „Sors vite de
ma chambre et n'y rentre jamais!" herrscht er sie in unköniglicher
Weise an. Diese Stimmung darf nicht unbenutzt bleiben. Der Mund-
schenk bringt seine Klage vor, und Herodes befiehlt, seine Gemahlin zu
verhaften. Der dritte Akt bringt die Gerichtsscene. Herodes geberdet
sich wie ein Wütender, während Mariamne ihre Würde und Hoheit
bewahrt. Die Richter sprechen auf die einfache Aussage des Anklägers
ihr Schuldig aus, und verdammen die Königin zum Tod. Mariamne
erklärt, daß der Tod ihr nur willkommen sei, sie gehe durch ihn zur
Unsterblichkeit ein, und ihr Haupt, das auf den Wink des Herodes
falle, werde geraden Wegs zum Himmel aufsteigen.^) Ihr Trotz schwindet
indessen, da sie ihrer Kinder gedenkt; sie weint, und der Anblick ihrer
Thränen stimmt den Tyrannen um. Seine Liebe siegt, und er will die
Fürstin begnadigen. Aber Mariamne spottet einer Liebe, die sie mit dem
Tod bedroht, und sie erinnert Herodes an den geheimen Befehl, den
er bei seiner Reise nach Rhodus gegeben hatte. Wütend darüber, daß
man ihn verraten hat, schickt der König seinen Minister Soesme und
einen der Enuchen , die einzigen, die von diesem Befehl wußten, zum
Tod. Doch ist damit der Sühne noch nicht genug. Der finstere Tyrann
fragt sich, durch welche Mittel Mariamne sich in den Besitz des Ge-
heimnisses gebracht habe, und er kann sich nur denken, daß sie
Soesme mit ihrer Liebe bezaubert habe. So erfüllt ihn die wildeste
Eifersucht und gleichzeitig die Furcht vor einem Mordanschlag von
Seite Mariamnes. Diese harrt unterdessen im Kerker der Entscheidung
über ihr Schicksal. Sie weiß, daß sie dem Tod nicht entrinnen wird.
Bald kommt auch der Kerkermeister thränenden Auges. Ihr Tod ist
entschieden, und unter allgemeiner Rührung wird die hohe, in ihr
Schicksal ergebene, mutige Frau von den Garden des Herodes zum
Schafott geführt. Der fünfte Akt ist eigentlich nur ein Nachspiel.
H n'est point de rubis vermeils comme sa beuche,
Qui mele un esprit d'ambre ä tout ce qu'elle touche,
Et Teclat de ses yeux veut que mes sentiments
Les mettent pour le moins au rang des diamants.
') Mariamne, III, 1: Mariamne zum König:
Poursuis, poursuis barbare et sois inexorable,
Tu me rends uu devoir qui m'est fort agreable.
Car je vais de la mort ä rimmortalite,
Ma tete bondissant du coup que tu lui donnes,
S'en va dedans le ciel se chargeant de couronnes.
319
Herodes widerruft den Blutbefehl, den er gegeben, allein es ist zu spät.
Seine Schergen waren allzu gehorsam. Xarbal, ein Vertrauter des Königs,
kommt und meldet in ausführlicher Weise den Tod der Königin. Außer
sich über den Verlu.st, wütet Herodes gegen sich selbst, gegen seine
Geschwister. Er verfällt in Wahnsinn, sieht Mariamne zum Himmel
steigen und stürzt endlich erschöpft und sinnlos zu Boden. Narbal aber
schließt das Stück mit dem Gemeinplatz, daß auch die Besten irren und
die Könige oft Sklaven ihrer selbst sind.^)
Mondory, der Direktor und Hauptdarsteller des Theaters im Marais-
viertel, spielte die Rolle des Herodes und entzückte das Publikum. Er
arbeitete dabei, wie man erzählt, so gewaltig, daß ihn bei einer der Vor-
stellungen der Schlag traf und er der Bühne entsagen mußte. Seine
Gönner, an deren Spitze Richelieu stand, statteten ihn dafür so reichlich
mit Pensionen aus. daß er sich jährlich auf 8000 — 10.000 Livres ge-
standen haben soll.-)
Die Mariamne ist eine der wenigen Tragödien aus der Zeit vor
dem „Cid", in welchen ein Versuch von Charakterschilderung gemacht
wird. Der Dichter hatte eine Ahnung davon, daß es bei einem drama-
tischen Werk nicht allein auf die Menge der Begebenheiten ankommt.
Aber die Kunst der Charakterzeichnung war doch noch sehr gering.
Herodes erscheint bei Tristan noch als einer jener haarbuschigen Ge-
sellen, von welchen Hamlet spricht, die den Tyrannen Übertyrannen.
Er ist ohne Größe, ohne Kraft, ohne irgend einen Zug, der die Auf-
merksamkeit auf sich lenken könnte. Auch Mariamne ist kein lebendiges,
warmes Frauenbild, und wenn sie rührt, so geschieht dies in einer jener
Abschieds- und Jammerscenen , in welchen ein zum Tod verurteilter
Held oder gar eine Heldin so mächtig auf die Thränendrüsen wirken
kann. Eine eigentliche dramatische Verwicklung, eine Steigerung, die
bis zur entscheidenden Krisis in Spannung hält, findet sich in dem
Stück nicht. Zudem ist die Sprache nachlässig gehandhabt , oft geziert
oder trivial. Wie weit ist es von dieser „Mariamne" zu der dramatischen,
künstlerischen Komposition des .,Cid", wie weit von Tristans Sprache
bis zu dem genialen Schwung, den Corneille seiner Rede zu geben weiß.
Neben den heldenhaften Figuren einer Chimene . einer Kamilla verblaßt
das Bild der Mariamne.
Aufs neue bestätigt es sich hier, daß die großen litterarischen
Erscheinungen zwar alle in langsamer Arbeit vorbereitet werden , und
von verschiedenen Seiten alles nach dem einen Ziele hindrängt, daß
aber doch nur das Genie den entscheidenden Schritt zu thun vermag,
mit dem das Ziel erreicht wird. Wie nahe bei Corneille stehen die
mitstrebenden, ihm befreundeten Dichter, wie deutlich spricht sich in
ihnen allen die Ahnung der gleichen Aufgabe aus . und wie weit ist
doch die Kluft, die ihn, den wahren, großen Dichter, von jenen trennt.
1) Mariamne, V, letzte Scene:
Mais les meilleur esprits fönt des fautes extremes,
Et les reis bien souvent sont esclaves d'eux-memes.
-) Über Mondory siehe den folgenden Abschnitt.
ly.
Corneilles Jugend.
(Iü0t3— 1636.)
Pierre Corneille stammte aus Eouen, der Hauptstadt der Xormandie.
und der Charakter des zähen, arbeitsamen Menschenschlags, der in diesem
Lande wohnt, hat sich auch in seinem größten Sohn deutlich aus-
geprägt. Der Boden der Xormandie ist mannigfaltig geformt; leichte
Höhen wechseln mit breiten Thälern, eine üppige Fruchtbarkeit giebt
dem Bewohner das Gefühl der Sicherheit und der Kraft. Getreide und
Obst gedeihen im Überfluß und weisen den Normannen auf den Land-
bau hin. Fette Weiden begünstigen die Viehzucht. Die Luft, welche bei
der Nähe des Meers feucht und schwer ist, giebt dem Volk ein derbes
Gepräge. Aber der Blick auf den Atlantischen Ocean. der an den steilen
Küsten des Landes anbraust, richtet den Sinn des Mannes in die Ferne,
ermuntert ihn zu kühner That und giebt seinem Geist den Schwung,
der ihn über die Scholle hinweghebt. Es ist ein festes, männliches Ge-
schlecht, das in seinen Adern noch einige Tropfen des alten Wikinger-
bluts verspürt.
So zeigt es sich in der Geschichte seit der Okkupation durch die
Normannen und seit den Tagen des Herzogs Wilhelm, der sein Kriegs-
volk zur Eroberung der britischen Nachbarinsel über den Kanal führte.
Ein echter Normanne war jener Taillefer, der sich vor der Schlacht bei
Hastings vom Herzog als Gunst die Erlaubnis erbat, den ersten Schlag
auf den Feind führen zu dürfen. Vor dem Heer herziehend, sang er so
herrlich vom großen Karl, von Roland und manchem frommen Held,
daß die Paniere wallten und die Herzen schwollen , und Ritter und
Mannen in hohem Mut entbrannten. Singend schleuderte er sein Schwert
in die Luft und fing es wieder auf; dann stürmte er, den anderen voran,
auf die Gegner los.^)
Diese Freude an Gesang und Poesie zeigte sich immer wieder. Mit
einer heiteren Erzählung, einem Gedicht fand man überall gern Auf-
nahme.-) Der franko-normännische Dialekt war lange Zeit die herrschende
1) Aug. Thierry, Histoire de la conquete de l'Augleterre, 1. Teil, 3. Buch,
S. 341, und die dort angeführten Quellen.
2) Vergl. Lenient, La satire en Frauce au moj-en-age, S. 72: „L'usage de
payer son ecot ä la gaiete commune par un couplet on un conte se repandit
de bonne heure en Normandie. Jean Le Chapelain nous l'atte.?te dans son dit
du sacristain de Cluny:
321
Sprache auf beiden Seiten des Kanals, und eine große Reihe von Poeten
dichtete in diesem Idiom. Der bekannteste von ihnen war Robert Wace,
der im 12. Jahrhundert lebte und dem man die zwei epischen Gedichte :
„Le Roman du Brut" und „Le Roman de Rou" zuschreibt. Auch die
Vaux de Vire, aus welchen das moderne Vaudeville entstanden sein soll,
stammen aus der Normandie. Olivier Basselin und Jean Le Houx, die
Sänger des Weins und des sorglosen Lebens, waren echte Kinder der
Normandie. Bei seiner Vorliebe für Werke der Dichtung kam es dem
Lande zu statten, daß es nicht weit von Paris entfernt war. Das
geistige Leben der Hauptstadt warf seine Wellen bis in die Normandie
hinein. Caen wurde als normannisches Athen gerühmt, und der Anteil,
den gerade diese Provinz an der Entwicklung der Litteratur nahm, war
sehr bedeutend. Malherbe stammte aus Caen, sowie Berthaut und Bois-
robert; George Scudery war zu Le Hävre geboren; auch Sarrazin und
Mezeray waren Normannen. Mit Corneilles Ruhm aber sollte das litte-
rarische Ansehen der Normandie bald aufs höchste steigen, \) und be-
sonders die dramatische Poesie schien dort ihre Heimat zu haben.")
So verschiedenartig auch die Werke der zwei bekanntesten nor-
mannischen Dichter: Malherbe und Corneille, sein mögen, so weisen sie
doch eine gewisse Verwandtschaft auf. Beide Männer haben die Gabe
des kräftigen Pathos, der klaren Rede, und es verbindet sich in ihnen,
wie im Charakter des normannischen Volks, Verständigkeit und Schwung
in merkwürdiger Weise.
Die Familie Corneille war seit lange in Ronen ansässig und er-
freute sich allgemeiner Achtung. Es war wie eine Tradition, daß sich
die ältesten Söhne dem Advokatenstand widmeten. Schon der Großvater
erscheint in einigen Urkunden als Advokat; der Vater bekleidete zwar
ein anderes wichtiges Amt, war aber daneben in die Liste der Advo-
katen eingetragen, und dessen Sohn, der Dichter, wählte den gleichen
Beruf. ^) Pierre Corneille, der Vater, war um das Jahr 1572 geboren
Usages est en Normandie
Que qui hebergiez est, qu'il die
Fabel ou chanfon ä son oste."
1) Ein sonst wenig bedeutender Dichter, der „Sieur de la Pineliere" aus
Angers, sagt in dem Vorwort zu seiner Tragödie „Hyppolite" (1635), viele er-
fahrene Leute hätten ihm geraten, nicht zu verraten, woher er stamme. „Pour
etre estime autrefois poli dans la Grece , il ne fallait que se dire d'Athenes :
pour avoir la leputation de vaillant, il fallait etre de Lacedemone, et mainte-
nant pour se faire croire excellent poete, il faut etre ne dans la Normandie."
Siehe Corneille, ed. Marty-Laveaux (in der Sammlung der „Grands ecrivains de
la France"), II, p. 4.
~) In Corneilles Lustspiel: „La galerie du Palais" (L 7, 6,) begegnen sich
zwei Edelleute, Lysandre und Dorimant, im Laden eines Buchhändlers und be-
sprechen sich über die neuesten litterarischen Erscheinungen :
Lysandre: Beaucoup fönt bien des vers, et peu la comedie.
Dorimant: Ton goüt, je m'en assure, est pour la Normandie...
d. h. hier soviel als: Du ziehst die dramatische Poesie vor.
3) Vergl. Taschereau, Vie de Corneille, 2. Aufl. Paris 1853, Jannet, S. 2.
Gosselins Schrift: G. Corneille (le pere), Rouen 1864, S. 16.
Lotheißeii, Gesch. d franz. Litteratur. 9^
322
und hatte die Stelle eines Forstmeisters in der Grafschaft Eouen („Maltre
des eaux et forets"). In jenen Zeiten war ein solches Amt sehr schwierig,
denn mit seiner Ausübung war oft persönliche Gefahr verbunden, und
es erheischte Festigkeit und Mut.^)
Die Normandie hatte in den Zeiten der Religionski-iege furchtbar
gelitten. Ihr Wohlstand war schwer geschädigt und auch die bessernde
Hand Heinrichs IV. konnte den tief eingewurzelten Übelständen nicht
immer abhelfen. Der Zustand des Landvolks war vor allem beklagens-
wert. Damals bedeckten noch große Waldungen einen Teil der Provinz,
und die Rechtsansprüche auf sie gaben zu häufigen und erbitterten
Streitigkeiten zwischen den Gemeinden und dem Staat oder den ein-
zelnen Gutsherren Anlaß. Die Weidgerechtigkeit und das Recht des Holz-
fällens waren seit den ersten Feudalzeiten fortwährend Veranlassung zu
Haß und Kampf. Die Aufsicht über die Wälder war sehr gering, und
die königlichen Beamten begünstigten die Unordnung, bei der sie sich
bereichern konnten. So nahmen die Wälder überraschend schnell ab, da
ihre Verwüstung keine Grenze hatte. Als König Heinrich IV. den Staat
aufs neue einrichtete, ließ er im Jahr 1591 alle Forstbeamten des Be-
zirks Ronen verhaften und ihnen wegen schlechter Amtsführung und
Bestechlichkeit den Prozeß machen. Sie verloren ihre Stellen, und einer
der Männer, welche an ihrer Statt ernannt wurden, war Pierre Corneille
der Vater (1599).') Die neue Forstverwaltung sollte die Interessen des
Staats wahren, und sah sich deshalb bald in Konflikt mit den Gemeinden,
die auf die Vorteile nicht verzichten wollten, welche die Waldungen ihnen
bis dahin geboten hatten.
Die Zeit war schwer, das Elend unter dem von Krieg und Pest
heimgesuchten Volk außerordentlich. Die Xormandie übertraf zudem die
anderen Provinzen durch die große Zahl ihrer Adelsgeschlechter. Sie
zählte noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts 10.000 Edelleute, 10 Herzog-
tümer, mehr als 40 Grafschaften, 50 Marquisate und entsprechend viel
Baronien.^) Je mehr Privilegierte in dem Land lebten, desto schwerer
mußten die Lasten der Abgaben auf das niedere Volk drücken, und
ganz besonders litt die Landbevölkerung unter diesen Zuständen. Von
den Forderungen des Staats trotz aller Edikte Heinrichs IV. erdrückt
und zur Verzweiflung gebracht, erhob sie sich mehr als einmal in wil-
dem Aufruhr. Besonders gereizt mußten sich die Bauern fühlen, wenn
sie mit den Ihrigen hungerten und froren, während sie ringsum die
Waldungen mit dem reichen Wildstand für das Vergnügen der großen
Herren und zu deren ausschließlichen Nutzen bewacht sahen. Wald- und
Jagdfrevel waren da unausbleiblich. Die Soldaten der aufgelösten Armeen,
die an das zuchtlose Treiben des Lagers gewöhnt waren und sich nicht
1) Vergl. Guizot, Corneille et son temps. 2. Aufl. Paris 1855, Didier &
Cie. S. 143 und 283.
2) Vergl. E. Gosselin, P. Corneille (le pere), S. 16.
3) Siehe „Etat geographique de la proviiice de Normandie", par le sieur
de Masseville. Ronen 1722, chez J. Besongne le Als. 2 Bände. Bd. I, S. 18.
32^
so leicht in das regelmäßige Leben und die Arbeit finden konnten, durch-
zogen zudem das Land, machten die Straßen unsicher und flüchteten
nach ihren Räubereien in die Wälder, die bei dem Zustand der Verwil-
derung, in dem sie sich befanden, eine sichere Zuflucht boten. Andere
dieser gewaltthätigen Menschen hetzten die Bauern zum Widerstand auf.
Oft sah man ganze Banden verzweifelter und erbitterter Bauern aus den
Dörfern ausziehen und in die Wälder einfallen, um zu jagen und Holz
zu fällen. Ihnen gegenüber hatten die Behörden einen schweren Stand.
Zwischen den Aufsehern, die an Zahl sehr gering waren, und den Land-
leuten kam es oft zu blutigem Kampf. Die Akten des Parlaments von
Eouen sind voll von Klagen über solche Vorfälle. So wird berichtet, daß
im Jahr 1612 bewaffnete Bauern zu wiederholten Malen in den Wald
von ßoumare drangen, der sich auf dem rechten Ufer der Seine fast
bis zu den Thoren von Rouen erstreckte. Corneille gebot damals nur
über vier Aufseher ; als er aber eines Tags die Meldung von einem neuen
Raubzug der Bauern erhielt, ritt er, von seinen vier Leuten und einem
Gerichtsbeamten begleitet, ohne Zögern hinaus, um seinen Wald zu
schützen. Bald stieß er auf einige Hunderfc Leute , welche mit Beilen
und Messern bewaffnet waren und eifrigst Holz fällten. Corneille sprengte
auf sie los, entriß einigen von ihnen die Instrumente und hieß alle den
Wald verlassen. Die Bauern weigerten sich dessen ; ihre Haltung wurde
immer drohender, sie riefen ihm zu, daß sie Hunger und Frost litten,
und mißhandelten seine Begleiter, so daß er sich bald genötigt sah, um-
zukehren. Auf seinen Bericht hin verfügte das Parlament strenge Maß-
regeln , um die Wiederkehr solcher Scenen zu verhüten , und bei der
harten Justiz jener Zeit kann man sich vorstellen, welcher Art diese
Maßregeln waren. Der Reisende, der zu jener Zeit das Land durchzog,
mußte starke Nerven haben, denn die zahlreichen Galgen an den Land-
straßen oder in deren Ermanglung auch die Bäume trugen nur zu viele
und zu deutliche Beweise für die Strenge der Gesetze.')
Daß solche Strafgerichte die Stimmung der armen Leute nicht ver-
besserten, auch die Wiederholung von Gewaltthätigkeiten und offener Auf-
lehnung nicht verhinderten, braucht kaum gesagt zu werden. Im Gegen-
teil, die Lage verschlimmerte sich immer mehr, und der Aufstand der
Va-nu-pieds im Jahr 1640 zeigte, wie hoch das Elend gestiegen war.
Der Steuerdruck war unerträglich, umso unerträglicher, als die „Taille",
die drückendste Auflage, nur von den Gemeinden, und zwar solidarisch
1) Vergl. Floquet, Memoire lu a l'Academie de Ronen, janv. 1837, mit-
geteilt von Guizot (S. 283). Scarrou erzählt in seinem „Roman comique" im
9. Kapitel, wie der Advokat Ragotin mit einem Kaufmann an einem Galgen
vorüberkommt, an dem nicht weniger als 14 Leichen hängen. Der Anblick
schreckt sie so wenig, daß sie sich mit einem der Körper einen rohen Scherz
erlauben. — Vergl. auch Sevigne, Brief vom 11. September 1675 aus Orleans:
„Nous avons trouve ce matin deux grands vilains pendus a des arbres sur le
grand chemin; nous n'avons pas compris pourquoi des pendus; car le bei air
des grands chemins, il me semble que ce sont des roues: nous avons ete occupes
ä deviner cette nouveaute; ils faisoient une fort mauvaise mine, et j'ai jure que
je vous le manderois."
324
gezahlt werden mußte. Je mehr Gemeindemitglieder verarmten, desto
schwerer drückte die Steuer auf jene, die noch etwas besaßen, und führte
auch sie einem schnellen Ruin entgegen. Im Jahr 1638 hatte das Parla-
ment von Eouen in einer Eingabe den Zustand des Landes mit den
schwärzesten Farben geschildert, und geklagt, daß wegen des Steuer-
drucks ganze Dörfer verödet ständen und die Bauern sich in die Wälder
flüchteten, um dem Gefängnis zu entgehen. Die Antwort auf diese Be-
schwerden war eine Erhöhung der Salzsteuer. Da brach der Grimm des
Volkes in wilden Flammen aus, die ganze aSTormandie geriet in Aufruhr;
bewaffnete Banden durchstreiften das Land, um Rache zu nehmen an
allen Leuten, die mit der Eintreibung der Steuern irgendwie zu thun
hatten ; die Steuerbureaux wurden verwüstet, die verhaßten Dränger ei--
schlagen. Die „Va-nu-pieds" gehorchten den Befehlen eines geheimnis-
vollen Führers, und selbst Ronen fiel in ihre Gewalt. Aber Richelieu
war nicht der Mann , solchen Trotz zu dulden. Einige Regimenter ge-
übter Truppen unter einem unbarmherzigen Führer zerstreuten die schlecht
bewaffneten Banden, und der Aufruhr ward im Blut erstickt; das Schaffot,
der Galgen und die Galeeren thaten das Übrige, künftighin jeden Ge-
danken an Widerstand zu unterdrücken. Das Volk sank in sein Elend
zurück, stumm und gebrochen.^)
Ähnlich ging es in anderen Provinzen auch noch unter Ludwig XIV.
Man schaudert, wenn man die Briefe von Frau von Sevigne über das
Wüten der Soldateska nach einem Aufstand in der Bretagne liest, und
so mag die furchtbare Schilderung, welche La Bruyere am Schluß des
Jahrhunderts von dem Bauer giebt, kaum übertrieben sein. Er spricht
dort von gewissen scheuen Tieren. Männchen und Weibchen, die schwarz
und von der Sonne verbrannt sich auf dem Land in großer Anzahl
finden, die den Boden mit unermüdlichem Fleiß umwühlen, die eine
menschliche Stimme haben, und wenn sie sich aufrichten, ein mensch-
liches Antlitz aufweisen, ja die wirklich Menschen sind.^)
Mit den Schilderungen der Frau v. Sevigne und La Bruyeres sind
wir freilich schon in eine spätere Periode geraten. Allein jene Äuße-
rungen beweisen nur umsomehr, wie groß die Leiden des Volkes waren.
und wie schwer anderseits die Aufgabe der Männer war, welche die Ver-
ordnungen der Regierung gegenüber den Ansprüchen der zürnenden Masse
zu verteidigen hatten. Die Forstbeamten trugen nebst den Steuererhebern
1) In seinem „Pompee" lätt Corneille Photin, den elenden Minister des
Königs Ptolemäus, sagen (I, 1, 104 ff.) :
La justice n'est pas une vertu d'Etat.
Le droit des reis consiste ä ne rien epargner.
La timide equite detruit l'art de regner.
2) Vergl. H. Martin, Histoire de France, Band 11, S. 505 ff. — Mme.
de Sevignes Brief an ihre Tochter, datiert .,La Silleraye, -24 sept. 1675" und
andere ihrer Briefe aus jenem Jahr über die Schlächtereien in der Bretagne.
La Bruyere, Caracteres, chap. de rhomme, n'^ 128 (Ausgabe von Servois in der
Sammlung der „Grands Ecrivains-*, II, S. 61).
325
einen Hauptteil des Hasses, und sahen sich oft genötigt, für ihr Leben
zu kämpfen, Pierre Corneille, der Vater, muß ein Mann von Energie
gewesen sein, denn er versah seinen Dienst gewissenhaft viele Jahre,
bis er sich 1620 zurückzog, obwol er nicht alt war. Zwanzig Jahre
steten Kampfes können einen Mann schon ermüden; doch scheint ein
langer Prozeß, in welchen ihn seine Gegner verwickelten und der schließ-
lich zu seinen Ungunsten entschieden wurde, ihn in seinem Entschluß
bestärkt zu haben. ^) Als viele Jahre später sein Sohn durch den „Cid"
die Aufmerksamkeit der weitesten Kreise auf sich zog und besonders
die Königin Anna dem Dichter ihre Huld zuwendete, weil er einen spa-
nischen Helden gefeiert hatte, da gedachte man auch der guten Dienste
des Vaters wieder, und König Ludwig lohnte ihn durch die Erhebung
in den Adelsland (1637).
Pierre Corneille der ältere vermählte sich am 9. Juni 1602 mit
Marthe Le Pesant, der Tochter eines Advukaten in Ronen. Eine be-
scheidene Wohlhabenheit gewährte ihm ein angenehmes Leben. Von seinem
Vater hatte er ein Wohnhaus in der Stadt geerbt und später, im Jahr
1608, kaufte er ein größeres Bauernhaus beim Dorf Petit-Couronne, am
Saum des großen Walds auf dem linken Seine-Ufer.-) Dort, in der wür-
zigen Landluft, verbrachte die Familie jedes Jahr einen großen Teil des
Sommers. Corneilles Ehe war mit Kindern reich gesegnet; seine Frau
gebar ihm drei Knaben und vier Mädchen. Das älteste Kind war Pierre
1) Der Prozeß drehte sich um eine Mauer, welche Corneille auf fremdem
Grund errichtet haben sollte, und währte von 1614 bis 1618. Siehe Gosselin,
S. 32 fif.
2) Das Haus in der Stadt. Rue de la pie (dessen Nachbarhaus der Vater
Corneille, wie man glaubt, gekauft hat und in welchem Thomas Corneille, der
jüngste Bruder Pierres, zur Welt kam), steht heute nicht mehr. Es war ein
zweistöckiges Haus mit drei Fenstern in der Front und war von einem mäch-
tigen Giebel überragt. Jouy, der Verfasser des „Hermite de la Chaussee d' An-
tin", sah es noch im Anfang des Jahrhunderts und berichtete darüber in einem
Artikel seines „Hermite de Province": „Maintenant", me dit Eugene, en m'en-
trainant dans ies detours sinueux de rues etroites , „je vais vous couduire de-
vant le monument le plus honorable et le plus glorieux pour la ville de Ronen.
Regardez", continua-t-il en me pla^ant devant une maison de fort mediocre
apparence, et dont le rez-de-chaussee est oceupe par la boutique d'un serrurier. . ,
J'ai vu la chambre oü retentirent Ies premiers vagissements de cet homme qui
devait faire eutendre sur la scene fran(;aise de si mäles et de si nobles aecents.
La cheminee, Ies croisees, Ies portes, tout a ete religieusemeut conserve. Seule-
ment on remarque 9a et lä quelques legeres traces des enlevements (|ue des
pelerins enthousiastes ont fait aux lieux qui ont vu naitre Corneille." — Petit-
Couronne liegt ungefähr eine Stunde von Rouen entfernt an der Seine. Ein
Weg, der von Weidenbäumen beschattet wird, führt zu dem Dorf, in dem man,
nachdem man die Kii-che hat rechts liegen lassen, nach etwa 10 Minuten zu
Corneilles Haus gelangt. Der „Conseil general" des Departements hat dasselbe
gekauft und läßt es zu einem Corneille-Museum herrichten. Das Häuschen war
sehr vernachlässigt, und soll jetzt im alten Stil wieder restauriert werden, d. h.
man hat das Getäfel neu gemalt, die Kamine hergestellt u. s. w. Zu ebener
Erde und im ersten Stock sind je drei Zimmer, ein Garten findet sich neben
dem Haus, und das Ganze ist von einer Mauer eingeschlossen.
326
Corneille, der am 6. Juni 1606 zu Ronen das Licht der Welt erblickte
und später seinen Xamen so berühmt machen sollte.^)
Das Leben einer gut bürgerlichen Familie war damals noch sehr
einfach. Antoine Corneille, der Bruder Pierres, wurde im Jahr 1644
zum Pfarrer von Freville ernannt. Zu seiner Ausstattung lieh ihm seine
Mutter einige Hausgeräte, zwölf Teller und sechs Schüsseln aus feinem
Zinn, drei Dutzend Handtücher und ähnliches mehr, dazu einen schwarzen
Tuchrock aus dem Nachlaß des Vaters, und Antoine stellte dafür einen
Schein aus, in welchem er dieses Darlehen anerkannte.-)
Pierre Corneille erhielt seine Bildung zu Ronen in einer von Je-
suiten geleiteten Anstalt, in der er sich vorteilhaft auszeichnete, wie die
Preise bezeugen, die er durch seinen Fleiß errang. Auch bewahrte er
seinen Lehrern immer ein freundliches Andenken und richtete noch in
seinem Alter an einen seiner ehemaligen Professoren ein Gedicht, in
welchem er sich mit Anerkennung und Dankbarkeit als dessen Schüler
erklärte. ^)
Nach vollendeten klassischen Studien widmete sich Corneille der
Rechtswissenschaft. Wenn sein Vater eine Zeit laug daran gedacht hatte,
1) Der Stammbaum Corneilles ist durch genaue Forschungen so weit als
möglich festgestellt. Ein Pierre Corneille wird schon 1542 erwähnt. Dessen Sohn
Pierre, „conseiUer referendaire , advocat", dann „commis au greife du Parle-
ment", hatte acht Kinder, von welchen das zweite (der älteste Knabe), Pierre
Corneille, der Vater des Dichters wurde. Dieser Pierre Corneille hatte wieder
sieben Kinder, wie die nachstehende Tabelle zeigt:
I Pierre Corneille
I Marthe Le Pesant
^ - .
Marthe Thomas Mag-
geb. 1623, verm. geb. 1625, als dra- delaine
mit M. de Fönte- matischer Dich- „gy, jg29^
nelle nnd Mutter ter neben seinem i 1635.
des in der Litte- Bruder späterbe- '
ratnrgescbichte kannt.
bekannten Fonte-
neUe.
-) Siehe Marty-Laveaux. Corneille, t. I, Notice biographique, p. XXXIII,
und Pieces justificatives, n^ LXXVI. Aus der Rechnungsablage für 1651—1652,
die Corneille als Kirchenrechner seiner Gemeinde schrieb, ersehen wir den Wert
des Gelds zu jener Zeit. Ein ^procureur au parlament", Mr. Ch. Lefebvre, zahlte
für ein ganzes Haus an die Kirehenkasse 50 Livres jährlicher Miete. Die jähr-
liche Besoldung der Priester betrug 20—27 Livres, wozu allerdings noch Neben-
einkünfte kamen. Ein Begräbnis kostete von 20 Sous bis zu 3 Livres, und wenn
die große Glocke dazu geläutet wurde, 6 Livres mehr.
3) Ode an den R. P. Delidel, De la compaguie de Jesus, sur son traite
de la theologie des saints (1668). Darin heißt es in der letzten Strophe:
Je fus ton disciple, et peut-etre
Que l'heureux eclat de mes vers
Eblouit assez l'univers
Pour faire peu de honte au maitre.
Als Nachschrift standen — mit leichter Änderung eines Horazischen
Verses — die Worte:
„Quod scribo et placeo, si placeo, omne tuum est.
Pi(
1 1 1
;rre Marie Antoine
Mag-
ffeb.
1606. geb. 1609, verm. geb. 1611,
delaim
mit einem Sieur trat in den
geb. 161
Ballain. geistlichen
Stand.
327
sein Amt auf den Sohn übertragen zu lassen, wie das ja üblich war,
so hatte er diesen Plan jedenfalls bald aufgegeben, da er von seiner
Stelle zu einer Zeit zurücktrat, als Pierre, sein Sohn, erst 14 Jahre
zählte. Dieser wurde 1624 unter die Zahl der Advokaten aufgenommen.
In den scharfen Reden und Gegenreden der dramatischen Helden, welche
der Dichter später auf die Bühne brachte, will man den Einflaß seiner
juristischen Studien erkennen. Eine solche Einwirkung ist wol denkbar,
wenn man auch die logische Strenge seiner Ausführungen und die Starr-
heit, welche seine Reden dadurch bisweilen erlangen, mehr noch auf
eine angeborene Eigenheit seines Charakters zurückführen muß. Übrigens
scheint Corneille in den ersten Jahren seiner Advokatur sich kaum mit
den Geschäften befaßt zu haben, denn in den späteren Dokumenten aus
seinem Leben wird dieser ersten Würde gar nicht gedacht. Erst zu Be-
ginn des Jahrs 1629 machte er einen ernstlichen Schritt, um eine feste
Stellung zu erlangen. Er kaufte zu jener Zeit von einem Herrn Pierre
de Morgerets zwei Ämter, nämlich die Stelle eines „Advocat du Roy au
siege des eaux et forets" und daneben die des „Premier avocat du Roi
en l'amiraute de France au siege general de la table de marbre du Pa-
lais". Die erste trug ihm ein jährliches Gehalt von 170 Livres, und
die zweite 150 Livres, zusammen 320 Livres ein. Doch waren noch
viele Nebeneinkünfte mit diesen Ämtern verbunden, und man hat an-
näherungsweise sein jährliches Einkommen auf 1200 Livres geschätzt,
eine Summe, die für jene Zeit nicht unbeträchtlich war.^) Die „Table
de marbre du Palais" war ein Senat, der über Fischerei- und Jagdfrevel
in zweiter Instanz, über Schiffahrtsstreitigkeiten in erster Instanz zu
urteilen hatte. Wir haben leider nicht viel bestimmte Nachrichten über
die Jahre, welche Corneille als junger Mann in Rouen verlebte. Wir
dürfen aber annehmen, daß er sich mit Eifer seinem neuen Beruf wid-
mete. Die Akten der Untergerichte sind nicht mehr erhalten. Doch hat
man vor nicht langer Zeit ein Manuskript in Rouen gefunden, das die
Sitzungsprotokolle der .,Amiraute" in den Jahren 1643 bis 1645 ent-
hält. Corneilles Name findet sich häufig in denselben, und wir ersehen
aus ihnen, daß er sein Amt gewissenhaft verwaltete. Der Rückschluß
ist bei einem Mann von Corneilles Charakter wol erlaubt, daß er auch
schon früher in ähnlicher Weise gearbeitet hat. Er selbst hat sich nur
selten über seine Jugendjahre geäußert, und die wenigen Gedichte, die
von ihm aus dieser Zeit erhalten sind, erlauben keine weiteren Schlüsse.
Corneille war keiner jener Lyriker, die, von überquellendem Gefühl und
jugendlicher Begeisterung fortgerissen, in ihren Liedern aussprechen
müssen, was sie bedrängt. Ist doch das Bewußtsein seiner poetischen
') Vergl. „Particularites de la vie judiciaire de Pierre Corneille", par
E. Gosselin, greffier archiviste ä la Cour imperiale de Rouen. (Extrait de la
Eevue de la Normandie, juillet 1865.) Rouen 18G5. Gosselia konnte eine Reihe
neuer Aktenstücke benutzen. Die Dokumente über die Cession der beiden Ämter
an Corneille sind vom 31. Dezember 1628 und vom 10. Januar 1629 datiert.
Entgegen dem Gebrauch wird darin der .\dvokatur Corneilles keine Erwähnung
gethan.
328
Kraft erst spät in ihm erwacht. Nach allem, was wir wissen, dürfen
wir uns Corneille als einen jungen Mann vorstellen, der in sorgenfreier
Stellung sein Leben nach Art der jungen Leute seines Stands verbrachte,
frisch und voll Interesse auch für geistige Arbeit, besonders für die
Werke der Litteratur. Wenn ihn der Winter an die Stadt fesselte , so
verlebte er die Sommermonate in Petit-Couronne oder er wanderte zu
seinem Freund, dem Abbe Legendre, nach dem schönen, hochgelegenen
Henouville, auf dem rechten Seine-Ufer, von wo aus der Blick das weite
Plußthal umfaßt.
Auch von Liebesgeschichten weiß er zu melden, aber er redet ohne
Begeisterung von ihnen. Vielmehr spottet er in kühlem Vers über seine
jugendliche Leidenschaftlichkeit.
„Einstens war ich auch so dumm,
Gingen mir die Schönen im Kopf herum" —
sagt er in einem seiner ersten Gedichte an einen Freund, den er, wie
es scheint, in seinem Liebeskummer trösten wollte. Auch er sei einst
so ein verliebter Thor gewesen, fügt er hinzu,
„Aufrecht oder knieend, das Haupt entblößt,
Heiter gestimmt, in Wehmut gelöst,
Verloren in der Träume Welt,
Oder von Eifersucht gequält."
Das ganze Kauderwelsch und die Eeimkunst der Verliebten sei ihm
geläufig gewesen.
„Doch blieb ich immer derselbe Thor,
Ob ich in Prosa oder in Versen schwor." i)
Doch spricht er auch einmal von einer ernsteren Neigung. In
seinem Gedicht „Excuse ä Ariste", das zu Anfang des Jahrs 1637 ge-
1) Siehe Corneilles Gedicht: „A Monsieur D. L. T." (Bd.,X, S. 25) der
Ausgabe von Marty-Laveaux in der Sammlung der „Grand Ecrivains de la
France", die wir bei allen Citaten aus Corneille benutzen werden.
V. 39. J'ai fait autrefois de la bete,
J'avois des Philis ä la tete . . .
Je me mettois ä tout usage,
Debout, tete nue, ä genoux,
Triste, gaillard, reveur, jaloux;
Je courois, je faissais la grue
Tout un jour au bout d'une rue.
V. 51. Tout ce petit meuble de bouche
Dont un amoureux s'escarmouche.
Je savois bien m'en escrimer.
Par lä je m'appris ä rimer;
Par lä je iis sans autre chose
Un sot en vers d'un sot en prose.
Et Dieu sait alors si les feux,
Les üammes, les soupirs, les voeux,
Et tout ce menu badinage
Servoit de rime et de remplage.
329
druckt wurde, aber nach des Dichters Versicherung schon einige Jahre
vorher verfaßt war, sagt er mit wehmütig dankbarer Erinnerung:
„Stets denk' ich gerne an die Zeit zurück,
Da ich erkannt der wahren Liebe Wert;
Als ich mein Herz verlor, begann mein Glück,
Die Liebe nur hat dichten mich gelehrt" —
und er versichert, daß seitdem keine andere je von ihm geliebt und be-
sungen worden sei.') Den Gedanken, daß nur der ein guter Dichter sein
könne, der wahrhaft liebe, finden wir auch an anderer Stelle von ihm
ausgedrückt.-)
Wir wissen nichts Genaueres über diese Geliebte. Es mag dieselbe
gewesen sein , die uns ein anderes Gedicht unter dem Namen Caliste
in traulichem Liebesgeflüster mit Tirsis zeigt. Tirsis (Corneille) drückt
sein Bangen und seinen Zweifel aus, ob er auch der Geliebten würdig
sei, sie aber beruhigt ibn mit dem schalkhaft-innigen, öfters wieder-
holten „Tu peux t'en assurer. " ^'') Das ist so ziemlich alles, was wir
von Corneilles Jugendliebe wissen. Aber um diese unbestimmte Über-
lieferung hat sich allmählich eine anmutige Legende gebildet. Ein
Freund Corneilles. so heißt es. führte diesen im Hause seiner Geliebten
ein und erntete dafür Undank. Denn Corneille gewann die Neigung des
Mädchens für sich. In dem Geschichtchen liegt ein kleines Lustspiel,
und die Liebenden mögen oft über den getäuschten Freund gelacht
haben. Die Idee lag nahe, den Vorfall für die Bühne zu bearbeiten,
denn Ronen, die große, belebte Stadt, folgte der Mode, wie Paris sie
angab. Wie dort der Geschmack an dramatischen Aufführungen in stetem
Zunehmen war, so auch in Rouen, das von den wandernden Schau-
spielern häufig berührt wurde. Wir mögen uns den jungen Advokaten
als eifrigen Besucher des Theaters vorstellen, und so konnte ihm der
Gedanke erwachsen, das kleine Liebesabenteuer dramatisch zu verwerten .
Auf diese Weise entstand vielleicht sein erstes Lustspiel „Melite".
Eraste und Tircis, zwei Freunde, gebildete junge Männer aus guter
Familie, begegnen sich auf der Straße und plaudern über ihre gesell-
schaftlichen Beziehungen und persönlichen Absichten. Eraste klagt über
die Sprödigkeit eines von ihm geliebten Fräuleins, Melite, welchem von
1) „Excuse ä Ariste", v. 58 ff. Bd. X, S. 77:
J'ai brüle fort longtemps d'une amour assez grande,
Et que jusqu'au tombeau je dois bien estimer,
Puisque ce fut par lä que j'appris ä rimer.
Mon bonheur commen9a quand mon äme fut prise.
Elle eut mes premiers vers, eile eut mes derniers feux.
Aussi n'aimai-je plus, et nul objet vainqueur
N'a possede depuis ma veine ni mon coeur.
2) Vergl. z. B. sein Lustspiel „La Galerie du Palais", I, 7, v.
Un bon poete ne vient que d'un amant parfait.
3) Corueille, Bd. X, S. 50.
330
seiner Werbung nichts hören will, obwol er ihm nun schon seit zwei
Jahren seine Huldigungen darbringt. Tircis spottet über die Leidenschaft
seines Freundes. Nach seiner Ansicht ist der Umgang mit schönen
Damen allerdings recht angenehm, und der Anfänger kann bei ihnen
vieles lernen. Aber wenn es an das Heiraten gehen soll, gilt es positiv
zu sein und auf Keichtum, nicht auf Schönheit zu sehen. Solche Reden
reizen Eraste, und da er Melite an der Thür ihres Hauses erscheinen
sieht, gerät er auf den Gedanken, ihr Tircis vorzustellen, damit sich
dieser von der Schönheit und dem Liebreiz des Mädchens überzeuge. Der
Einfall ist unklug und hat bittere Polgen für Eraste. Denn in einem
Augenblick gewinnt Tircis. was Eraste so lange vergeblich zu erwerben
sich bemüht hat, die Xeigung Melitens. Wenige Worte und Blicke
genügen. Tircis vergißt die skeptischen Lehren, die er kurz zuvor ge-
predigt hat, und giebt sich ganz seiner jungen Leidenschaft hin. Ob
dieses Verrats sich zu rächen, entwirft Eraste einen Plan, der ihm
doppelte Genugthuung bringen soll. Er will nicht allein Tircis und Melite
entzweien, er will auch Cloris, des Tircis Schwester, ihres Bräutigams
Philandre berauben. Die Intrigue, die er deshalb anzettelt, ist freilich
schwach, und Corneille verrät dabei die Unbeholfenheit des Anfängers.
Eraste läßt einige Briefe fälschen, in welchen Melite sicli an Philandre
wendet, ihm ihre glühende Liebe gesteht, und sich über Tircis verächt-
lich äußert. Philandre erhält diese Briefe und geht blindlings in die
plumpe Falle. Er bricht ohne Zögern mit Cloris, seiner Verlobten, und
zeigt Tircis triumphierend, was Melite geschrieben. Erschüttert, entsetzt be-
schließt dieser, seinem Leben ein Ende zu machen, und enteilt, ohne weiter
zu prüfen, ohne nur Melite ein Wort zu sagen. Bald erhält diese durch
einen Freund die Kunde von Tircis' Tod und bricht besinnungslos zu-
sammen. Ein solches Ergebnis hatte Eraste nicht erwartet; als er kommt,
um Zeuge seines Siegs zu sein, und die Nachricht von dem Tod der
beiden Liebenden erhält, umflort sich sein Geist. Wahnsinnig irrt er
umher und peinigt sich selbst mit den schwersten Anklagen. Er wähnt,
die Erde habe ihn verschlungen, und er sieht in jedem, der ihm be-
gegnet, einen der Unterirdischen, mit welchen er kämpfen müsse. Solche
Wahnsinnscenen waren , wie schon bemerkt wurde , ein beliebtes Aus-
kunftsmittel der damaligen Dichter und müssen dem Publikum besonders
gefallen haben.') Unter anderen trifft Eraste auch Philandre, den er für
Minos, den Richter der Toten, hält, und dem er reuig seine That ge-
steht. Damit ist schon viel gewonnen, zumal sich herausstellt, daß
Tircis noch nicht Hand an sich gelegt, und daß auch Melite sich wieder
erholt hat. So hat der fünfte Akt nur noch die Vereinigung der
Liebenden zu zeigen, welche dem von seinem Wahnsinn geheilten reu-
^) Vergl. Abschnitt III, S. 96, wo von ähnlichen Scenen in Rotrous
„Hjpocondriaque" und Pichons „Les, folies de Cardenio" die Rede ist. In
Retrous „La bague de roubli", einer Übersetzung aus dem Spanischen des Lope
de Vega, verliert der König Alfons von Sizilien sein Gedächtnis durch den Ein-
fluß eines magischen Rings, und so ließe sich noch manches Stück aus jener
Zeit anführen, in dem der Wahnsinn eine Rolle spielt.
331
mutigen Eraste verzeihen. Die kecke Cloris hat zwar ihren Liebhaber
verloren , allein in ihrem leichten Sinn tröstet sie sich , ja sie spottet
des Getäuschten, und weist die Geschwister wenigstens nicht entschieden
ab, als diese ihr in Eraste einen andern Bräutigam empfehlen. So ist
es nur der charakterlose Philandre, der zu büßen hat.
Im Jahr 1629 gab eine Schauspielertruppe in Rouen ihre Vor-
stellungen. Der Direktor derselben, Mondory, war ein einsichtiger Mann,
der auch als Schauspieler glänzte. Ihm brachte Corneille sein Lustspiel,
und sah es auch zur Aufführung angenommen. Mondory rüstete sich
gerade , nach Paris überzusiedeln , um das Theater in Marais zu über-
nehmen. Das Wagnis war groß; die Gesellschaft, welche bis dahin in
Marais gespielt hatte, war zu Grunde gegangen. Aber Mondorys Truppe
war gut, und er selbst sollte bald als der erste dramatische Künstler
in Paris angesehen werden. Er beschloß, Corneilles Lustspiel zuerst in
der Hauptstadt aufzuführen, ein Beweis, daß er sich viel davon versprach.
Die erste Vorstellung fiel höchst wahrscheinlich in das Jahr 1629.^)
Der Erfolg entsprach indessen anfangs den Erwartungen Mondorys nicht.
Die Kritik fand das Stück nicht effektvoll genug , und das größere
Publikum vermißte die Würze, an die es gewöhnt war.-) „Melite" führte
ihm eine Welt vor, die es kannte, denn es war die eigene Welt. Aber
ging man deshalb ins Theater? Wo blieben die Possenreißer, die Meister
der Fratze, die mehr als plumpen Spaße, die Handgreiflichkeiten und
all die herkömmliche Ungeschlachtheit, welche den Hauptreiz der bis
dahin besonders geschätzten Possen bildeten , und das unauslöschliche
Gelächter des Publikums hervorriefen? Erst nach einigen Vorstellungen
fand „Melite" wärmere Aufnahme. Vielleicht daß die Nachricht von der
anders gearteten Komödie erst ein feineres Publikum heranziehen mußte.
Denn wen hätte die erste Ankündigung eines neuen Stücks, dessen Ver-
fasser nicht einmal genannt wurde, anlocken können?^) Die Schauspieler
nannten die Dichter der aufzuführenden Stücke nur, wenn sie auf die
Anziehungskraft eines bekannten Namens rechneten, und auch das war
noch nicht lange üblich. Zieht man die Verhältnisse in Betracht, so
kann man sich über den anfänglich schwachen Beifall nicht wundern ;
es könnte eher auffallen, daß Corneille mit seinem Lustspiel so schnell
durchdrang. Denn schon nach einigen Vorstellungen würdigte man den
Fortschritt, den die „Melite" aufwies, und begrüßte die neue Richtung
1) Vergl. Parfaict IV, 460, Taschereau, Vie de Corneille, 'p. 7. Martj'-
Laveaux I, 129.
2j jn dem Vorwort zu ,.Clitandre" spricht Corneille von den Kritikern
„qui ont bläme l'autre de peu d'eifets", und in dem „Examen" desselben Stücks
sagt er: „J'entendis que ceux du metier la blämaient de peu d'effets et de ce
que le style en etoit trop familier".
3) Corneille sagt in der Widmung der „Melite" an Mr. de Liancour:
„ . . . quand je considere le peu de bruit qu'elle fit ä son arrive ä Paris, venant
d'un hemme qui ne pouvoit sentir que la rudesse de son pays, et tellement
inconnu qu'il etoit avantageux d'en taire le nom; quand je me souviens, dis-je,
que ses trois premieres representations ensemble n'eurent point tant d'afflueuce
que la moindre de Celles qui les suivirent dans le meme hiver etc."
332
mit Wärme. ^) Damit war Corneilles Ruf begründet; er fand niclit allein
Zutritt in den litterarischen Kreisen, er wurde auch in die aristokratische
Welt eingeführt, soweit sich dieselbe für Litteratur interessierte. Gleich
das folgende Drama, „Clitandre", durfte Corneille dem Freund der
Dichter, dem Herzog Heinrich von Longueville, widmen, und aus der
Zueignung erfahren wir, daß er ihm einzelne Akte schon vor der Auf-
führung vorgelesen hatte.
„Melite"'. das Lustspiel, das Corneille dem Pariser Publikum bot,
mußte in der That einen eigentümlichen Reiz für die Gebildeten haben.
Noch hatte niemand das moderne wirkliche Leben so auf der Bühne
wiederzugeben versucht. Zum erstenmal sah man ein Bild der feinen
Gesellschaft jener Tage an sich vorüberziehen; man vernahm auf den
Brettern die raffinierte Sprache der Stutzer und Schöngeister, wie sie in
den Salons zu hören war, und das ganze Stück hatte einen Ausdruck
der Wahrheit, der doppelt merkwürdig berühren mußte zu einer Zeit,
wo man gerade auf diese Eigenschaft im Lustspiel am wenigsten achtete.
Man höre z. B., wie Eraste seine Liebe schildert:
Mit meinem ganzen Sein gehör' ich ihr;
Nur wenn sie fern, beklag' ich diese Herrschaft.
Vergebens such' ich Rettung in der Flucht,
Und strebe meine Freiheit mir zu sichern.
Ein Blick genügt, der Zauber ihres Auges
Wirft mich zurück in meine frühern Fesseln.
So sehr verblendet mich der süße Reiz,
Daß ich die Heilung Hiebe, um zu leiden.
Auf diese und ähnliche Redensarten der herkömmlichen Galanterie ent-
gegnet Tircis mit spöttischem Wort:
.Mein Freund, bewundernswert ist Deine Laune,
Du stellst Dich elend, um beredt zu sein."^)
Tircis erklärt dieses ganze Gebaren, dieses Haschen nach schönen
Worten für Sache der Mode, für eitel Wind.
1) Examen de Melite: _Le .^ueces en fut surprenant: il etablit une nou-
velle troupe de comediens ä Paris, malgre le merite de celle qui etoit en pos-
session de s'y voir l'unique; il egala tout ee qui s'etoit fait de plus beau jus-
qu'alors, et me fit connoitre a la cour."
2) Meute I, 1, V. 5 ff.
Elle a sur tous mes sens une entiere puissance;
Si j'ose en murmurer, ce n'est qu'en son absence,
Et je menage en vain dans un eloignement
ün peu de liberte pour raon ressentiment:
ü'un seul de ses regards Tadorable contrainte
Me rend tous mes liens, en resserre l'etreinte,
Et par un si doux charme aveugle ma raison,
Que je cherche mon mal et fuis ma guerison.
und Tircis Antwort, ebendaselbst, v. 21:
Qiie je te trouve, ami, d'une humeur admirable.
Pour paroitre eloquet, tu te feins miserable
333
„Ein hübsch Gesicht verlangt ein schmeichelnd Wort :
Der Neuling mag in dieser Kunst sich üben.
Auch ich kann bei den Schönen feurig reden,
Da es die Mode also von uns heischt.
Und solche Worte, wie das Buch sie lehrt,
Sind dort an ihrem Platz. Da gilts vor allem,
Erdichtet Leid z\i klagen, und zu flehen
. Um Heilung, schwülst'gen Unsinn auch zu schwatzen,
Von künft'ger Wundert hat zu faseln, und
Zu schwören, daß kein Hindernis zu groß;
Doch alles das ist Wind und nichts als Wind."')
Wir haben hier eine der ersten Protestationen gegen die falsche
Manier des Ausdrucks und die hohle Galanterie. Wenn Tircis gleich
darauf Melite zum erstenmal gegenübersteht, gebraucht er natürlich
selbst die gerade erst von ihm getadelten Redensarten. „Seid nicht so
eisig gegen Liebesglut", sagt er im Stil der Precieusen. Allein, sobald
er wirkliche Leidenschaft für Melite empfindet, wird seine Sprache
einfacher und ruhiger, und durch die ersten Liebesscenen klingt es, als
ob der Dichter schöner Stunden seines eigenen Lebens gedächte. Das
Streben nach Wahrheit und richtiger Zeichnung, welches durch die
ganze Dichtung geht, bildet dessen Hauptverdienst. In dieser Richtung
zeigte sich am klarsten der Fortschritt, den das Lustspiel unter dem
Einfluß Corneilles machte. Er möchte die Schwächen seiner Zeit geißeln,
und versucht; Menschen aus der ihm bekannten Welt zu schildera.
Trotzdem kann „Melite" nicht als das erste wirkliche Lustspiel der
französischen Litteratur angesehen werden, denn noch sind die einzelnen
Personen des Stücks schattenhaft. Allerdings waren sie nicht mehr
Kopien der Lustspielpersonen des Altertums oder der italienischen Posse,
Figuren, welche auf der französischen Bühne ohne Halt und ohne Zu-
sammenhang mit dem wirklichen Leben erschienen ; Corneilles Menschen
standen schon auf dem realen Boden der französischen Gesellschaft,
aber das war auch ihr ganzes Verdienst. Der Dichter läßt zwar viel
von der bezaubernden Persönlichkeit Melitens reden, aber er versteht
es nicht, sie uns deutlich zu machen. In keinem Wort beweist Melite ihre
geistige Überlegenheit über die anderen. Zwischen Tircis und Eraste
ist der Unterschied kaum angedeutet, während Philandre schon etwas
plumper geschildert wird. Cloris erscheint zwar als ein Mädchen von
heiterem Gemüt und voll schalkhafter Laune, aber auch bei ihr geht
die Charakteristik nicht über leichte Andeutuno-en hinaus.
3) Ibid., V. 59:
Ces visages d'eclat sont bons ä cajoler;
C'est lä qu'un jeune oiseau doit s'instruire a parier ;
J'aime ä remplir de feux ma bouche en leur presence,
La mode nous oblige ä cette complaisance;
Tous ces discours de livre alors sont de saison:
II faut feindre des maux, demander guerison,
Donner sur le phebus, promettre des miracles;
Jurer qu'on brisera toute sorte d'obstacles;
Mais du vent et cela doivent etre tout un.
334
Erst nach einer Reihe vön Jahren und nach der Begründung der
klassischen Tragödie sollte Corneille auch den Ruhm erwerben, in seinem
„Menteur" das erste französische Lustspiel geschaffen zu haben.
Man hat sich vielfach bemüht, über das Urbild der Melite etwas
Genaueres zu finden. Allein außer Corneilles Wort, daß die Liebe ihm
die erste Anregung zu seiner Dichtung gegeben habe, besitzen wir keine
sichere Angabe. Viele Jahre verstrichen nach der Aufführung der
„Melite", bevor nur ein Wort über die Geliebte des Dichters verlautete.
Erst in einem Nekrolog Corneilles aus dem Jahr 1685 findet sich die
Bemerkung, daß der Dichter den Plan zu seiner „Melite" nach einem
persönlichen Abenteuer entworfen habe.^) Ähnliches berichtete Thomas
Corneille in seinem geographischen Wörterbuch gelegentlich eines Artikels
über Ronen (1708). Eine ausführlichere Erzählung gab erst Fontenelle
in seinem „Leben Corneilles".^) Fontenelle war allerdings der Neffe des
Dichters , aber sehr viel jünger als dieser , und seine Schrift erschien
über hundert Jahre nach der ,,Melite". Auch andere seiner Angaben
haben sich als irrig erwiesen, wie z. B. die Notiz, daß „Melite" schon
1625 aufgeführt worden sei. Übrigens nennt Fontenelle die Geliebte
nicht, sondern erzählt nur, man habe in Rouen lange Zeit eine Dame
mit dem Namen Melite bezeichnet. Erst später glaubte man auch den
■wirklichen Namen zu wissen. In einem Manuskript der Bibliothek zu
Caen wird zuerst gesagt, der Familienname des von Corneille geliebten
Mädchens sei Milet gewesen.^) Die Kirchenbücher und Register von
Rouen konnten nicht zu Rate gezogen werden, da sie große Lücken
aufweisen. So bleibt die Frage, die an sich geringfügig ist, unerledigt.
Aber wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, als liege hier eine
Legende vor. Man kann fast mit dem Blick verfolgen, wie die anmutige
Fabel entsteht , wächst, an Form gewinnt, und wie schließlich aus dem
Namen der Dichtung auch der Familienname des von Corneille mit seiner
Liebe beglückten Mädchens gebildet wird.
Im Druck erschien „Älelite" erst 1633. ■*) Diese Verzögerung darf
uns nicht Wunder nehmen, denn mit dem Druck entsagte der Dichter
jedem Anspruch auf Honorar. So lang ein Stück nur Manuskript war,
1) Siehe „Les nouvelles de la republique des lettres", janvier 1685.
^) Zuerst mitgeteilt 1729 von d'Olivet nach Pellissons Histoire de l'Aca-
demie francaise, dann 1742 von Fontenelle selbst in seiner Histoire du theätre.
(Ausgabe von 1767, t. IH, S. 82.)
3) Das Manuskript nr. 55 der Bibliothek zu Caen „Athenae Normannorum
veteres ac recentes" aus dem Jahre 1720 sagt nur: „Melita, nomen foeminae
cujusdam nobilis rothomagae". Das Manuskript nr. 57 : „Le Moreri des Normands",
par Jos. Andre Guiot de Rouen (2 B.), giebt den Namen Milet. Das Manuskript
aber, das kein Datum trägt, stammt nach der Ansicht des Oberbibliothekars von
Caen, Herrn Travers, aus der Zeit von 1784—1790 und hat in diesem Punkt
keine Autorität. Ich verdanke diese Mitteilungen der Gute des Herrn Professors
A. Büchner zu Caen.
*) Melite ou Les fausses lettres. Piece comique. A Paris 1633, chez Fran-
9ois Targa. Der zweite Titel verschwand in der Ausgabe von 1644, welche über-
haupt für alle Stücke nur den Haupttitel beibehielt.
335
mußten es die Theater ihm abkaufen; war es einmal gedruckt, galt es
als Gemeingut.
Eine geraume Zeit verstrich, bevor Corneille mit einem zweiten
Stück sein Glück versuchte. Hatte ihn die Kritik der „Meiite" irre ge-
macht , arbeitete er so langsam , oder hielten ihn seine Berufsgeschäfte
von der dichterischen Thätigkeit ab? Nach der wahrscheinlichsten An-
gabe ließ er erst im Jahr 1632 ein neues Werk aufführen, und zwar
war es diesmal eine Tragikomödie, „Clitandre". Wir dürfen annehmen,
daß wiederum Mondory das Stück für seine Truppe erworben hatte.
Über dessen äußeren Erfolg liegen uns keine besonderen Nachrichten
vor, aber da Corneille es noch in demselben Jahr 1632 drucken ließ,
dürfen wir annehmen, daß der Beifall nur mäßig war.')
„Clitandre" ist eine gründlich verfehlte Arbeit. Aber sie ist dadurch
interessant, daß sie uns einen Blick in die innere Arbeit Corneilles
gestattet. Noch war er sich über seine Aufgabe nicht klar, und
tastend suchte er seinen Weg. Er empfand, daß das französische Drama
in der Form, die es angenommen hatte, nicht genügen konnte, und er
bemühte sich, ihm eine neue, entsprechende Gestalt zu geben. Sein
,,Clitandre" sollte die Forderungen der Gelehrten in Hinsicht auf die
Einheit des Orts und der Zeit mit der Freiheit und Beweglichkeit der
Bühne, mit Hardys Manier, versöhnen. Ja, Corneille versuchte sogar
weiter zu gehen als Hardy, und erlaubte sich, Begebenheiten auf der
Scene zu zeigen, welche Hardy nur hätte erzählen lassen. In der Vor-
rede zu der ersten Ausgabe seines „Clitandre" rühmt er sich dieser
Kühnheit. Aber sie barg keinen Fortschritt in sich ; die Freiheit der
Bühne, wie Corneille sie in dieser Dichtung auffaßte, hätte das fran-
zösische Drama um 30 Jahre zurückgeworfen. Der Inhalt des „Clitandre"
ist in der Kürze kaum anzugeben. Das Stück spielt in dem Schloß
eines Königs von Schottland und dem einsamen Wald, der es um-
giebt. So meint der Dichter die Einheit des Orts doch zu bewahren.
Die schöne Caliste, ein Edelfräulein vom Hof, wird von Eosidor und
Clitandre, zwei vornehmen Herren, umworben, und der erstere sieht seine
Liebe erwidert. Aber gleichzeitig hat ßosidor in dem Herzen einer
andern Dame. Dorise, eine glühende Leidenschaft erweckt, und da er
sie nicht beachtet, faßt sie einen teuflischen Plan. Von Eifersucht ge-
trieben, lockt Dorise ihre glückliche Nebenbuhlerin unter einem falschen
Vorwand an eine einsame Stelle des Waldes, um sie dort zu töten. Zu-
fällig hegt der Bösewicht des Stücks, der verräterische Pymante , eben-
falls einen Mordanschlag gegen Eosidor, weil er nur nach "dessen Tod
hoffen kann , die Liebe der Dorise zu erwerben. Um seinen Plan aus-
zuführen , hat er zwei Leute Clitandres bestochen ; der eine derselben
hat die Handschrift seines Herrn nachgeahmt, eine Herausforderung an
Eosidor geschrieben, und ihm als Ort des Stelldicheins gerade jenen
Platz im Wald angegeben, an welchen Dorise ihre ahnungslose Freundin
1) Clitandre ou L'innocence deiivree, tragicomedie. A Paris 1632, chez
Franfois Targa.
336
führt. Dort erwartet ihn Pj-mante mit seinen zwei Spießgesellen , ver-
larvt und durch Bauerntracht unkenntlich gemacht. In einer Reihe rascher
Scenen entwickelt sich nun das Stück. Dorise will Caliste ermorden;
in demselben Augenblick bricht Eosidor verwundet und von drei Mord-
gesellen verfolgt, aus dem Gebüsch hervor. Sein Schwert zerbricht ihm
im Kampf, aber er entreißt der finsteren Dorise, die ihre Hand zum töd-
lichen Streich erhoben hat, die Waffe, erschlägt zwei seiner Angreifer und
zwingt den dritten. Pymante, zur Flucht. Durch diese glückliche Gegen-
wehr ist auch Caliste gerettet, und sie geleitet den vom Blutverlust
ermatteten Eosidor zum nächsten Dorf, um Hilfe zu finden. Dorise, die
sich verloren sieht, entschließt sich zur Flucht; sie legt die Kleidung
eines der Gefallenen an, gerät aber in die Hand Pymantes, dessen
frecher Lüsternheit sie sich nur dadurch erwehren kann , daß sie ihm
mit einer Haarnadel ein Auge aussticht.') Alles dies und mehr noch
geht auf der Bühne vor sich. Unterdessen hat man die beiden Leichen
als die der Leute Clitandres erkannt, und da die Herausforderung
Eosidors als von Clitandre geschrieben gilt, ist jeder Zweifel unzulässig.
Clitandre wird auf Befehl des Königs in den Kerker geworfen und soll
sterben. Doch er hat einen warmen Freund in dem königlichen Prinzen,
der sich seiner annimmt, und da man bald auch Dorise und Pymante
ergreift, letzterer seine schwarze That eingesteht und seinen Eichtern
sogar höhnisch entgegentritt, so wird Clitandres Unschuld noch zur
rechten Zeit erkannt. Der fünfte Akt bringt dann, ähnlich wie in
„Melite", das Bild des glücklichen Brautpaars Eosidor und Caliste, und
läßt den Zuschauer hoffen, daß sich auch Clitandre und Dorise zusammen-
finden werden. Diese hat ja nur aus Liebesleidenschaft gefehlt, und hat
zudem Anspruch auf Verzeihung erworben, da sie den Prinzen in einem
Kampf mit dem wütenden Pymante gerettet hat.
Dies ist ungefähr der Lihalt der Tragikomödie, wenn mau alles
Nebensächliche wegnimmt. Aber dies letztere überwuchert so sehr, daß
Corneille in seiner Vorrede zugesteht, es sei für den Zuschauer schwer,
das Stück zu verstehen, wenn er es nicht öfters sehe. Es erinnert uns
in mancher Hinsicht an Shakespeares „Titus und Andronicus". Nur ist
das englische Stück in dem Maß ungebundener und tumultuarischer, als
die englische Bühne die französische an Freiheit der Bewegung über-
1) Nachdem Pymante auf die genannte Weise sein Auge verloren hat
und Dorise ihm entschlüpft ist, redet der Schwerverletzte die Nadel, die ihm
in der Htind geblieben ist, folgendermaßen an (IV, 2, v. 19 ff.):
0 toi qui, secoudant son courage inhumain,
LoLn d'orner ses cheveux, deshonores sa main,
Execrable instrument de sa brutale rage.
Tu devois pour le moins respecter son Image:
Ce Portrait accompli d'uu chef-d'oeuvre des cieux,
Imprime dans mon coeur, exprime dans mes yeux,
Quoi que te commandät une äme si cruelle,
Devoit etre adore de ta pointe cruelle.
Damit war man zu den Pointen der Theophile'schen galanten Dramendichtung
zurücliS'ekommen.
337
traf. Selbst in dieser unregelmäßig-sten aller französischen Tragödien ist
-doch noch eine gewisse Ordnung gewahrt, sind die Massen von der
Bühne ferngehalten und herrscht der Alexandriner. Später fühlte sich
der Dichter so unangenehm von seiner Jugendarbeit berührt, daß er ver-
suchte, sie als das Ergebnis eines schlechten Scherzes hinzustellen. Als
er gelegentlich einer Aufführung der „Melite" nach Paris gerei.'-t sei,
habe man ihm vorgeworfen, daß er in seinem Stück die Eegel von der
Einheit der Zeit nicht befolgt habe. Darum habe er es unternommen,
ein Stück zu schreiben, das alle Regeln beachte und doch nichts tauge.
Die UnWahrscheinlichkeit dieser Erklärung springt in die Augen. Ein
junger Dichter spielt nicht so mit seinem Euf. Es erscheint uns viel
natürlicher, anzunehmen, daß Corneille auch mit diesem Stück den Ver-
such einer Neuerung machte. In diesem unverkennbaren Streben nach
Reformen verrät sich seine dramatische Begabung. Er war mit der her-
kömmlichen Form nicht zufrieden, und von seinem ersten Lustspiel an
enthüllt er immer wieder diesen Wunsch, dem Theater neue Gebiete zu
erschließen, dem Drama reichere und bessere Formen zu geben. Wie er
es in ..Melite" mit einem neuen Stil versuchte und in „Clitandre"' von
dem Herkommen abzuweichen sich unterfing, so werden wir auch in den
folgenden Dichtungen immer wieder dem mutigen, auf Reformen gerich-
teten Sinn Corneilles begegnen.
Der Zauber, den die Bühnenwelt auf alle ausübt, die ihr näher
treten, fesselte auch Corneille, und mit Feuereifer widmete er sich nun
der dramatischen Arbeit. Die Vorbereitung und Aufführung seiner Stücke
führte ihn öfters von Ronen nach Paris, veranlaßte ihn auch wol zu
längerem Aufenthalt daselbst. Corneille glaubte an sein Talent und hatte
dessen kein Hehl,^) aber seine Dichtungen zeigen auch, daß er es mit
seiner Aufgabe ernst nahm, und daß er fortwährend bemüht war, seine
Kunst auszubilden und zu entwickeln.
In den Jahren 1632 und 1633 dichtete er vier Lustspiele, die
sich in der Manier der Behandlung ziemlich gleichen: „La veuve", „La
galerie du Palais", „La suivante" und „La Place Royale". Über die
Zeit der Aufführung ist man nicht ganz sicher. Während man die zwei
letztgenannten Stücke früher in das Jahr 1634 verlegte, scheint es jetzt
mehr als wahrscheinlich, daß auch sie schon im Jahr zuvor aufgeführt
wurden. Die Thätigkeit des Dichters erschiene dann umso größer.-)
Corneille hat auch in seinen späteren Dramen die Schwierigkeiten,
welche Anlage und Plan bieten, nie ganz überwunden. Au«h in diesen
ersten Lustspielen ist die Handlung sehr einfach, die Intrigue mehr als
1) Dies geht aus späteren hämischen Bemerkungen seiner Gegner hervor.
So heißt es z. B. in der „Lettre du sieur Claveret" an Corneilie bei Gelegen-
heit des „Cid": „Ce ne sera pas un petit plaisir pour le monde, si vous conti-
nuez ä vous persuader d'etre si grand poete; il est vrai que des le premier
voyage que vous fites en cette ville, les judicieux reconnurent en vous cette
humein-."
2) Gedruckt erschien die „Veuve" im Jahr 1634, die anderen erst im
Jahr 1637, zugleich mit dem „Cid".
Lotheißep, Gesch. d. franz. Litteratur. oo
338
schwach. In dem erstgenannten Stück („La veuve") handelt es sich um
die Liebe zweier jungen Leute zu Ciarice, einer schönen Witwe aus vor-
nehmem Geschlecht. Einer dieser Liebhaber, Philiste, ein ehrlicher, treuer
Mann, ist zu schüchtern, um Ciarice seine Gefühle zu enthüllen. Er ist
zufrieden, wenn er nur zunächst ihre Freundschaft erwerben kann. Das
Auge einer Frau sieht jedoch zu scharf, um einen selbst stummen Ver-
ehrer nicht zu durchschauen, und so hat auch Ciarice ihres Freundes
wahre Gesinnung längst erkannt, ja, sie erwidert im stillen seine Nei-
gung. Ein Freund Philistes, Alcidon. liebt imlessen Ciarice gleichfalls,
und ist nicht so ängstlich in der Wahl seiner Mittel, wenn es gilt, zum
Ziel zu gelangen. Auch er erklärt sich nicht, aber nur um zuvor desto
sicherer Philiste bei der Geliebten zu verderben. Er schmeichelt sich in
das Vertrauen seines Nebenbuhlers ein und heuchelt warme Liebe zu
Doris, der Schwester Philistes. Gleichzeitig aber besticht er die alte Die-
nerin der Ciarice, und als die letztere sich eines Abends im Garten er-
geht, wird er durch eine Nebenthür eingelassen, überfällt die jange Frau
und raubt sie mit Hilfe einiger Gefährten. Er bringt sie in ein unweit
der Stadt gelegenes Landhaus, das ihm sein Freund Celidan zu dem
Behuf überlassen hat. Aber Celidan hat die böse That nur scheinbar
unterstützt. Kaum ist Ciarice in seinem Landhaus geborgen, so thut er
die nötigen Schritte zu ihrer Eettung. Alcidons Tücke wird erkannt,
und der Elende verliert nicht nur jede Hoffnung auf die Hand Clari-
cens, sondern auch, wie natürlich, jeden Anspruch auf Doris. Da ein
Lustspiel nach der damaligen Sitte aber mit einer ganzen Reihe von
Heiraten schließen muß, verspricht Doris dem braven Celidan ihre Hand,
während Ciarice ihren scheuen Freund Philiste beglückt.
Wie die Anlage des Stücks, ist auch die Zeichnung der einzelnen
Charaktere noch schwach, und übertrifft kaum die Kunst in „Melite".
Allerdings ist die Exposition im ersten Akt klar gegeben, und der Dichter
versucht die Schüchternheit Philistes deutlich zu zeichnen. Ciarice muß
ihm selbst ihre Liebe gestehen, damit er nur an sein Glück glaubt.
Aber keine Person erregt wirkliches Literesse. Philiste erinnert stark
an die bleichen Schäfergestalten des Lignon. Selbst bei der Nachricht
von dem Raub seiner Braut zeigt er keine Thatkraft. Statt alle Mittel
aufzubieten, Ciarice zu retten, redet er lieber davon, sich zu töten. Das
ist bequemer, zumal er mit den Vorbereitungen zu dem Selbstmord so
viel Zeit braucht, daß die Freunde ihm die Geliebte gerettet zurück-
führen, bevor er Hand an sich gelegt hat. Der Fortschritt Corneilles
offenbart sich aber deutlich in der feineren Führung des Gesprächs.
Vergleicht man in dieser Hinsicht die „Veuve" mit der „Melite", die
doch auch schon bemüht war, den modernen Ton der Unterhaltung zu
treffen, so sieht man die rasche Entwicklung. Besonders sind es die
beiden ersten Akte, welche diesen Vorzug aufweisen, und gleich die erste
Scene des ersten Akts ist bemerkenswert. Alcidon, der falsche Freund,
will Philiste über sein Verhältnis zu Ciarice ausforschen ; er rät ihm,
sich der Geliebten zu erklären, in der Hoftnuag, daß diese ihu zurück-
weise und für immer aus ihrem Haus verbanne. Er sagt ihm spöttisch:
339
Zwar bist Du ihr zu dienen sehr beflissen,
Doch scheu'st Du Dich, ein Liebeswort zu sagen.
Soll sie vielleicht zuerst den Hof Dir machen V
worauf Philiste entgegnet:
Mit nichten. Doch sie könnte mich erraten...^)
und er setzt dem Freund dann, seine Theorie auseinander. Er findet,
daß die Liebhaber gewöhnlich sehr thöricht zu Werke gehen, wenn sie
mit der Thür ins Haus fallen und die Geliebte mit ihren leidenschaft-
lichen Beteuerungen erschrecken :
Kaum sind in ihren Banden wir verstrickt,
ISo haben wir nichts Besseres zu thun.
Als ihr mit stürm'schem Wort zu huldigen.
Auf die Gefalir hin schimpflicher Begegnung.
Ein jeder Tölpel weiß sich so zu geben.
Statt seiner Liebe zeigt er seine Thorheit,
Um mit Verachtung nur belohnt zu werden.
Nein, Nein! Erst gilt's, die Liebe zu gewinnen,
Bevor man sich erklärt. Gleich zum Beginn
Sich ihren Sklaven nennen, macht sie stolz nur.
Und sprichst Du gar von ihrer Herrschermacht,
Eeichst Du ihr eine Waff"e gegen Dich.
Ein bess'res Mittel, scheint mir, führt zum Ziele:
Wir dienen der Geliebten, ohne Phrasen,
Wir richten uns nach ihrem Wohlgefallen
Und fügen alles, wie es ihr beliebt.
Und so, vertraut, in freundlichem Verkehr,
Gewinnen wir allmählich ihre Neigung.
So stellen wir den Schönen uns're Netze,
Die sie nicht seh'n, und somit nicht vermeiden.^)
^) „La veuve", I, 1, v. 9 ff. :
Alcidon :
Aupres d'elle assidu, sans lui parier d'amour,
Veux-tu qu'elle commence ä te faire la cour?
Philiste:
Non pas; mais pour le moins, je veux qu'elle devine.
2) „La veuve", I, 1, v. 23:
Aussitöt qu'une dame en ses rets nous a pris.
Offrir notre Service au hasard d'un mepris,
Et vous laissant conduire ä nos brusques saillies,
Au Heu de notre araour lui montrer nos folies,
Qu'un süperbe dedain punisse au meme instant,
II n'est si maladroit qui n'en flt bien autant.
II faut s'en faire aimer avant qu'on se declare.
Notre Submission ä l'orgueil la prepare.
Lui dire incontinent son pouvoir souverain,
C'est mettre ä sa rigueur les armes ä la main.
Usons, pour etre airaes, d'un meilleur artifice.
Sans en rien protester, rendons-lui du Service.
Kegions sur son humeur toutes nos actions.
Ajustons nos desseins ä ses inteutions,
Tant que par la douceur d'une longue hantise
Comme insensiblenient eile se trouve prise.
C'est par lä que Ton seme aux dames des appas,
Qu'elles n'evitent point, ne les prevoyant pas.
340
Über dieses vorsichtige Benehmen spottet Alcidon:
Ein and'rer möge diesem Beispiel folgen.
Die Liebe haß ich, die ich nicht gestehen darf.
\'on Lieb' nicht reden I Deine Weisheit lehrt
Gar närr'sche Regeln, denen ich nicht traue.
Das i^t nicht meine Art. Bei einer Dame
Vom schönen Wetter plaudern, ihr erzählen,
Daß die Pariser Straßen schmutzig sind,
Wo man den besten Wohlgerueh jetzt kauft.
Und welche Junker miteinander grollen;
Daß man im Schauspiel gute Verse hört.
Und der mit jener sieh verloben wird!
Welch schöner Zeitvertreib I Nein, blöder Freund,
Fang mutig mit dem Hauptkapitel an.
Sag, was Dir fehlt, und opf're nicht die Zeit,
Fruchtlos zu schwatzen und Dich abzumüh'n.i)
Der Hauptreiz, welchen die Jugendarbeiten Corneilles für uns noch
haben, liegt eben in der Art. wie er seine Personen miteinander ver-
kehren läßt. Wer sich genauer mit dem Dichter bekannt machen will,
freut sich, hier seine Entwicklung verfolgen und sehen zu können, wie
er bemüht ist, das Lustspiel des possenhaften Charakters zu entkleiden
und es zum Spiegelbild seiner Zeit zu gestalten. Corneille war sich dieses
Strebens wol bewußt, und in dem Vorwort zu der „Veuve" sagt er, das
Hauptverdienst seines Lustspiels liege in dessen „Xaivetät", womit er
eben die Einfachheit und größere Feinheit des Stils bezeichnen will.
Der Ruhm des jungen Dichters aus der Xormandie wurde durch
den Erfolg der „Veuve" sehr erhöht. ISTicht weniger als 26 Huldigungs-
gedichte, zum Teil namhafter Poeten und selbst rivalisierender Drama-
tiker, wie Mairet, Scudery, Rotrou, Du ßyer, Boisrobert, finden sich der
ersten Ausgabe des Stücks vorgedruckt. Allerdings war es damals Sitte
bei den Dichtern, sich gegenseitig in den Himmel zu erheben, und solche
Lobgedichte sind meistens nur als Hnflichkeitsbeweise zu betrachten.
Auch von Corneille haben wir ein Madrigal zu Ehren Scuderys und
dessen Tragikomödie „Le trompeur puny" (1633).-) Solche Komplimente
1) Ibid.
Suive qui le voudra, ce nouveau procede.
Mon feu me deplairoit cache sous ce rideau.
Xe parier point d'amouri Pour moi, je me defie
Des fantasques raisons de ta philosophie:
Ce ü'est pas lä mon jeu. Le joli passe-teraps
D'etre aupres d'une dame et causer du beau temps,
Lui jurer que Paris est toujours plein de fange,
Qu'un certain parfumeur vend de fort bonne eau d'ange,
Qu'un cavaUer regarde un autre de travers,
Que dans la comedie on dit d'assez bons vers,
Qu'un tel dedans le mois d'une teile s'accorde!
Touche, pauvre abuse, touche la grosse corde.
Conte 06 qui te mene et ne t'amuse pas
A perdre sottement tes discours et tes pas.
-) Corneille, Bd. X, S. 61. — Daß diese Huldigungsgedichte von vielen
nur als ein Mittel, Geld zu verdienen, angesehen wurden, ist gewiß. Jean Rou,
341
schlössen eifersüchtige Regungen nicht aus, und die Liebe der meisten
oben genannten Herren verwandelte sich in Haß, als sie sahen, daß der
von ihnen gepriesene Corneille sie mit seinem „Cid' weit überholte.
Aber die Zahl der Huldigungsgedichte, welche Corneille mit der „Veuve"
erntete, beweist doch, daß ein wirklicher Erfolg vorlag, und die An-
erkennung, welche ein so charaktervoller Mann wie Rotrou spendete, ist
nicht zu unterschätzen. Rotrou aber, der auch in der Folgezeit ein
Freund Corneilles blieb, zögerte nicht, schon damals dessen Überlegen-
heit anzuerkennen. Er sagte, freilich in dem herkömmlichen faden Stil :
Nichts kann an Schönheit je Claricens Bild erreichen,
Was immer auch ich schuf, es muß vor ihr erbleichen.
Du gabst ihr solchen Reiz, daß sie im Witwenkleid
Durch ihre Schönheit noch beschämt die schönste Maid.^)
Die Lustspiele, welche Corneille auf die „Veuve" folgen ließ, sind
in ähnlicher Manier verfaßt. Doch versuchte der Dichter abermals eine
Neuerung, die vielen Beifall fand. Im Bestreben, die Gesellschaft seiner
Zeit zur Darstellung zu bringen, geriet er auf die Idee, dem Pariser
Publikum ein Bild der eigenen Stadt zu geben. So fügte er in dem
nächsten Lustspiel einige Scenen ein, welche in der großen Gallerie des
Justizpalastes spielten. Dort fanden sich viele Verkaufslokale, vor welchen
sich ein reges Treiben entfaltete. Dieses Leben auf die Bühne zu bringen,
i-eizte Corneille; er zeigte es in einer bewegten Scene, in der sich die
Xäufer vor den Kaufläden schwatzend und im Verkehr mit den Ver-
käufern herumtreiben. Besonders lebhaft geht es vor dem Tisch einer
Modistin und der Auslage eines Buchhändlers zu. In die eifrige Unter-
haltung der Kunden über die aufliegenden Bücher mischt der Dichter
Anspielungen auf die neuesten Werke der Litteratur. Diese Scenen
standen zwar nur in losem Zusammenhans: mit dem eigentlichen Stück,
Advokat zu Paris unter der Regierung Ludwig XiV., erzählt in seinen Me-
moiren, daß er mit Claude Le Petit bekannt gewesen sei. Le Petit wurde 1664
wegen gotteslästerlicher Schriften und obscöner Gedichte verbrannt. Rou erzählt
von dem Elend, in dem derselbe lebte. „Qu'est-ce que mon coeur a ä demeler
avec ma bourse qui est plus plate qu'une punaise, et mes dents longues comme
un jour Sans pain, et sous lesquelles je n'ai pas ä mettre une croüte?" sagte
Le Petit zu Rou, um sich zu entschuldigen, daß er sein satirisches Gedicht:
„Paris ridicule" einem Verleger zum heimlichen Druck verkauft hatte, und Rou
fügt in einer Note hinzu: „La verite est, en effet, que le pauvre Petit ne vi-
voit que de livrets et d'eloges d'auteurs, ä la douzaine, propres a etre mis en
forme de sonnet ou d'epigramme et raadrigal, ä la tete de leurs ouvrages taut
bons que mauvais". Siehe Rous Memoiren, nach dem Manuskript des Haager
Archivs herausgegeben von Francis Waddington (Paris 1857, 2. Bd.). VergL
auch „Paris ridicule et burlesque au IT^e siecle". eine Sammlung verschiedener
satirischer Gedichte, herausojegeben von P. L. Jacob, bibliophile (Paris 1878,
Oarnier), S. IX.
1) Tel on me voit partout adorer ta Ciarice,
Aussi rien n'est egal a ses moindres attraits;
Tout ce que j'ai produit cede ä ses moindres traits;
Toute veuve qu'elle est, de quoi que tu Thabilles,
Elle ternit Teclat de nos plus heiles filles.
342
gefielen aber außerordentlich und gaben dem Lustspiel den Namen „La
galerie du Palais".-*) Seinen Hauptinhalt bildet jedoch die Geschichte
eines Liebespaars, das durch die Einflüsterungen einer eifersüchtigen
Freundin irre gemacht wird.
Corneille scheint sich dabei eine psychologische Studie als Auf-
gabe gestellt zu haben, allein noch war er nicht so weit vorgeschritten,
sie klar erfassen und mit Verständnis durchführen zu können. Zudem
täuschte ihn das Glück, das sein Stück durch die ebenerwähnte Neuerung
machte, und ließ ihn das dramatische Interesse nicht in der inneren
Kraft der Dichtung, sondern in Äußerlichkeiten suchen.
Das nächstfolgende Stück: ,.La Snivante". ist das schwächste unter
den Lustspielen Corneilles. Daphnis. ein Fräulein aus vornehmer Familie,
wird von zwei jungen Adeligen, Clarimond und Florame geliebt. Beide
suchen sich ihrer Dame auf sonderbare Weise zu nähern. Sie huldigen
scheinbar der Gesellschafterin des Fräuleins. Beide erlangen so Zutritt
in das Haus, und einmal so weit, will nun jeder dem andern seine
Rechte auf Amarante, die Gesellschafterin, abtreten. Sie stellen sich,
großmütig, sprechen von dem Opfer, das sie ihrer Freundschaft bringen,
und haben keinen sehnlicheren Wunsch, als von Amarante verworfen zu:
werden. Diese benutzt ihre Stellung um gegen ihre Herrin zu intriguieren,
zumal als sie entdeckt, daß Florame von Daphnis geliebt wird. Die
Verwicklung der letzten Akte beruht einzig auf der unnatürlichen Ver-
schweigung eines Namens. Daphnis erlangt ihres Vaters Zustimmung zu
ihrer Liebe; nur hält der Vater nicht Florame, sondern einen andern
für den von seiner Tochter begünstigten Bewerber. xVuf einmal aber
ändert er, von selbstsüchtigen Absichten geleitet, seinen Entschluß; er
will jetzt nur Florame zum Schwiegersohn und erklärt seiner Tochter,
sie müsse ihrer Neigung entsagen. Wieder wird kein Name genannt,
und erst nach vielem Hin- und Herzerren findet sich die allen erwünschte-
Lösung des Mißverständnisses. Die „Suivante" ist im allgemeinen ein
recht frivoles Stück, und Daphnis selbst übt die beste Kritik an ihm.
wenn sie (V. 8, v. 37) ausruft: „Qu'un nom, tu par hasard, nous a
donne de peine!"
Die „Suivante"' hatte wenig Erfolg, und Corneille nahm deshalb
in seinem nächsten Lustspiel : „La Place Royale", seine Zuflucht zu dem
Mittel, das sich schon einmal als wirksam erwiesen hatte; er verlegte
sein Stück nach Paris. Der größte Theil desselben spielt auf der Place
Royale, der belebtesten Promenade des damaligen Paris und einem der
vornehmsten Stadtteile. Weitere Beziehung zu dem Inhalt hat die Wahl
dieses Platzes nicht. Die Anlage des Lustspiels ist verwickelter als
bei den früheren , und seine ganze Haltung ist gekünstelt. Corneille
möchte wieder einen besonderen Charakter zeichnen, aber der Versuch
mißlingt ihm. Er will einen Sonderling, einen Philosophen ganz seltsamer
Art schildern. Alidor, so heißt der Held des Stücks, liebt und wird
wieder geliebt, aber gerade dieses Liebesglück wird ihm bedenklich, denn
^) La galerie du Palais ou l'amie rivale.
343
er fürchtet die Knechtschaft in der EheJ) Seine Ansichten über die
Liebe sind sophistisch ausgeklügelt, und da er fühlt, daß er seine Braut
Angelique zu sehr liebt, und somit seine Freiheit gefährdet ist, so ent-
schließt er sich, mit ihr zn brechen! „Puisqu'elle me plait trop, il me
faut lui deplaire", sagt er (I, 4, v. 6i)), und um dies Ziel, der Geliebten
zu mißfallen, schnell zu erreichen, beleidigt er sie auf die gröblichste
Weise. Er spielt ihr einen Brief in die Hand, den er an eine andere
Dame geschrieben hat, und in dem er über Angelique verächtlich spricht
und über ihre Häßlichkeit spottet. Von ihr zur Rede gesetzt, hält er
ihr den Spiegel vor, den sie der Sitte der Zeit gemäß am Gürtel trägt,
und sagt ihr:
„Cassez; ceci vous dit encor pis que ma lettre." (II, 2, 52.)
Als er dann aber hört, daß Angelique von seinem Freund Cleandre ge-
liebt wird, ändert er sein Benehmen. Er will diesem behilflich sein, das
Mädchen zu entführen. Zu dem Ende versöhnt er sich wieder mit An-
gelique, was ihm nicht schwer fällt, da diese ihn wirklich liebt, und
beredet sie , mit ihm zu fliehen , da sie zur Heirat mit einem andern
gezwungen werden soll. Um sie ganz sicher zu machen, giebt er ihr ein
Eheversprechen — das aber von Cleandre ausgestellt ist. Angelique
merkt den Betrug nicht, und sie wäre verloren, w'enn nicht zu der be-
stimmten Nachtstunde ihre Freundin Philis zufällig vor ihr an den Ort
der Zusammenkunft käme und von Cleandre und dessen Spießgesellen
geraubt würde. Jetzt erst erkennt Angelique die Falle, in die sie hatte
gelockt werden sollen, und im tiefsten Herzen verletzt, sehnt sie sich
nach der Stille des Klosters. Dafür wird aus dem Entführer und seinem
Opfer ein Paar, während Alidor sich glücklich preist, seine Freiheit ge-
rettet zu haben. Man ist manchmal versucht, diesen Junker für eine
parodistische Gestalt zu nehmen , obwohl Corneille eine solche Absicht
gewiß nicht gehabt hat.
Überblicken wir noch einmal die ganze Gruppe der dramatischen
Dichtungen Corneilles aus den Jahren 1629 — 1634, so drängt sich uns
^) La Place Eoyale ou L'amoreux extravagant. Das Stück gehört wahr-
scheinlich noch in den Beginn des Jahrs 1633, da das lateinische Gedicht Cor-
neilles au Richelieu (Bd. X, Seite G4) desselben schon Erwähnung thut. Darhi
heißt es v. 29:
Nee minus Augelicae dolor et suspiria spretae
Quam placuere tui, Phylli jocosa, sales.
Dieses Gedicht datiert aber aus dem Jahr 1633, und wurde zuerst ge-
druckt im Sommer 1634.
Vergl. z. B. die Ideen Alidors, die er I, 4, 26 ff. auseinandersetzt:
Je veux qu'ou seit libre au milieu de ses fers.
II ne faut point nourrir d'amour qui ne nous cede.
Je le hais, s'il me force; et quand j'aime, je veux
Que de ma volonte dependent tous mes voeux;
Que mon feu m'obeisse au Heu de me contraindre,
Que jepuisse ä mon gni l'augmenter et l'etraindre,
Et toujours en etat de disposer de moi,
Donner 'luand il me plait et retirer ma foi.
344
zunächst die Bemerkung auf, daß der Dichter mit Eifer nach neuen
Formen für die noch ungefüge dramatische Poesie seines Volkes suchte.
Er strebte danach, den Eahmen des Lustspiels zu erweitern und es
dem Geist seiner eigenen Zeit anzupassen; er sah im Geist ein feines
Charakterlustspiel als Ziel, das zu erreichen freilich erst einem Spä-
teren gegeben war. Er versuchte die Reste der alten Komödie abzu-
streifen. Die kupplerische Alte (die „nourrice"), die aus dem Drama der
Griechen und Römer zu den Italienern gekommen war, die man bei
Shakespeare findet, und die auch in den früheren französischen Bühnen-
dichtungen nicht fehlen durfte, machte bei Corneille der vertrauten
Dienerin (der „Suivante") Platz, aus der sich dann bald die kecke
Kammerzofe entwickelte, welche in dem Lustspiel der folgenden Zeit
eine so große Rolle spielen sollte.')
Eine ähnliche Arbeit zeigte sich in der Behandlung der Sprache.
Wir können den Weg verfolgen, den Corneille einschlug, um seine Sprache
auszubilden, zu verfeinern und geschmeidiger zu machen. In diesem Streben
konnte er der unbedingten Zustimmung seiner Zeitgenossen sicher sein.
Will man die Entwicklung ermessen, welche Corneilles Sprache binnen
weniger Jahre, von der „Melite" bis zum „Cid", durchlaufen hat, so muß
man seine Lustspiele nicht in der stark veränderten Form betrachten,
welche der Dichter ihnen in den späteren Ausgaben verlieh, sondern in
der Gestalt, in welcher sie zum erstenmal gedruckt wurden. Dann wird
man den jungen Corneille schon eher kennen lernen und die Mühe ahnen,
welche er auf seine Arbeit verwendete. Nur durch stete Arbeit, durch
fortgesetztes Feilen, durch unablässiges Ringen mit der noch spröden
Sprache gelangte Corneille zur Meisterschaft, die er im „Cid" enthüllte.
Trotz des Strebens nach feiner Sprache, das sich in der „Melite"
bemerkbar macht, sind die beiden ersten Stücke doch mit plumpen Aus-
drücken gefüllt, und Corneille glaubt noch, gleich den anderen Dichtern,
daß ein Lustspiel ohne freche Worte nicht gefallen könne. Immerhin
zeichnen sich selbst seine früheren Werke durch ihre Zurückhaltung
aus, und sind weit entfernt von der Roheit, die z. B. Mairet in seinem
„Duc d'Ossonne" noch aufweist.
Die Besuche in der Hauptstadt, die Aufnahme, die Corneille dort
in den litterarisch gebildeten Kreisen fand, der Umgang mit den Damen
der feinen Gesellschaft mögen ihn eines Besseren belehrt und seinen Ge-
schmack verfeinert haben.-) Schon in dem zweiten Lustspiel, in der
^J Die Suivante erscheint zum erstenmal in der „Galerie du Palais'--
-) Einige Beispiele mögen das Gesagte bekräftigen. „Melite", III, 3, v. 49,
lautete in der Ausgabe von 1633:
,.Oui, j'enrage, je creve, et tous raes sens troubles
D'un exces de douleur se trouvent accables!"
In den sjjäteren Ausgaben ist das Wort „je creve" durch „je meurs"
ersetzt. In „Melite"^ I, 5, triift Tircis seine Schwester im Gespräch mit ihrem
Verlobten und sagt ihnen folgende Impertinenz (v. 5, Ausgabe 1(333):
„Je pense ne pouvoir vous etre qu'importun,
Vous feriez mieux un tiers que d'en accepter uu."
345
„Veuve", ist der Fortschritt ersichtlich. Man findet dort wol noch nie-
dere, familiäre Ausdrücke, aber keine Gemeinheiten mehr, und auch die
späteren Stücke sind fast ganz rein.') Allerdings sind diese letzteren
erst mit dem „Cid" im Druck erschienen, und Corneille hatte somit
Gelegenheit, schon in der ersten Ausgabe viel zu verbessern.^)
Bemerken wir einesteils in der Sprache des Dichters eine fort-
schreitende Entwicklung, so finden wir andernteils in seinen frühesten
Stücken schon einige charakteristische Eigentümlichkeiten seiner späteren
Diktion. Vom Beginn an liebt Corneille einen gewissen Parallelismus in
der Eede, ein Abwägen der Perioden , und verbindet damit die Freude
an starken Antithesen.") Daß seine Sprache auch die Pointen kennt und
Die nächste Ausgabe schon hat dafür:
„De moins sorcier que moi pourroient bien deviner,
Qu"un troisieme ne fait que vous importuner."
Siehe ferner „Melite", V, 1, 19. Dort ruft Cliton, ein betrügerischer
Schreiber (Ausgaben 1633—1657):
„Adieu, soüle ä ton dam ton curieux desir",
Avofür Corneille später setzte:
„Contente ä tes perils ton curieux desir."
Ähnliche Steilen könnte man noch genug anführen, besonders aus „Cli-
tandre". So sagt dort z. B. Pymante am Schluß eines Monologs (IV, 2, 68, Aus-
gabe 1632):
„Satisfait par sa mort, mon esprit se modere.
Et va sur sa charogne achever sa colere."
In den Au.sgaben von 1644—1657 heißt es dafür:
„Et va sur ce spectacle assouvir sa colere."
Später änderte Corneille die Verse gänzlich. In der letzten Eedaktion
lauten sie :
„Destins, soyez enfin de mon intelligence,
Et vengez mon affront ou souffrez ma vengeance."
In „Clitandre", V, 3, liegt Eosidor verwundet im Bett, seine Braut Ca-
liste besucht ihn, und Eosidor klagt (Ausgabe 1632):
„Que le sort a pour moi de subtiles malices!
Ce lit doit etre un jour le champ de mes delices,
Et recule lui seul ce qu'il doit terminer."
Die ganze Scene wurde später sehr gekürzt und umgeändert. Auch eine
Menge populärer Ausdrücke, wie: tirer pays („Suivante", IV, 5, 15); pipeur
{„Place Eoyale", II, 1, 25); mettre en piqu'e {= fncher, „PI. Eoyale", II, 5, 6)
u. a. m. finden sich nur in den frühesten Ausgaben.
^) Eine Ausnahme bildet die „Suivante", I, 3, 20 (Ausgabe '1637— 1657).
-) Vielleicht kann man auch einen Teil der größeren Feinheit in der
Sprache, durch welchen die „Melite" sich vor „Clitandre" auszeichnet, dem Um-
stand zusehreiben, daß erstere später veröffentlicht wurde und Corneille also
schon mehr corrigieren konnte.
2) Man vergleiche z. B. „La veuve", IV, 1, 63:
Ton deplaisir lui plait, et tous autres tourments
Lui sembleroient pour toi de legers chatiments.
Elle en rit maintenant, cette belle iuhumaine;
Elle se päme d'aise au recit de ta peine.
346
nicht selten schwülstig und geziert ist, erscheint bei der Geschmacks-
richtung der Zeit nur natürlich.^)
Das Ziel, auf das Corneille hinarbeitete, war, wie gesagt, die
Schöpfung eines Lustspiels, welches das Leben und die Sitten seiner Zeit
zur Anschauung brächte. Er wollte ein Bild des behaglichen Lebens im
Kreis der vornehmen Familien und des reichen Bürgertums geben. Frei-
lich ist seine Zeichnung noch vielfach unbeholfen und ungenau; es fehlte
ihm eben noch gar viel, so besonders das Verständnis der Perspektive,
Apres tant de serments de n'aimer rieu que toi,
Tu la veux faire heureuse aux depens de sa foi;
Tu veux seul avoir part ä la douleur commune;
Tu veux seul te eharger de toute Tinfortune.
Oder „La veuve", H, 1, v. 1 ff.:
Secrets tyrans de ma pensee,
Eespeet, amour, de qui les lois
D'un juste et fächeux contre-poids
La tiennent toujours balancee.
Que Fun m'offre d'espoir! que l'autre a de rigeur!
Et tandis que tous deux tächent ä me seduire,
Que leur combat est rüde au milieu de mon coeur.
Unwillkürlich gedenkt man bei dieser Strophe an die Verse Don Rodri-
guos („Le Cid", I, 7, zweite Strophe):
Que je sens de rüdes combats!
Contre mon propre honneur mon amour s'interesse.
II faut venger un pere, et perdre une maitresse.
Liin m'anime le coeur, l'autre retient mon bras.
Reduit au triste choix ou de trahir ma flamme
Ou de vivi-e en infame.
Des deux cötes mon mal est infini.
1) In jeuer schon erwähnten Scene der „Place Royale" (II, 2), in welcher
Alidor seiner Braut den Spiegel vorhält, damit sie sehe, wie häßlich sie sei,,
antwortet Angelique mit tolgender Pointe:
S'il me dit mes defauts autant ou plus que toi,
Deloyal, pour le moins il n'en dit rien qu'ä moi:
C'est dedans son cristal que je les etudie;
Mais apres il s'en tait et moi j'y remedie;
II m'en donne un avis, saus me les reprocher.
Et me les deeouvrant, il m'aide ä les cacher.
Alidor antwortet ihr: „Vous etes en colere et vous dites des pointes". In
dieser höhnischen Antwort liegt auch eine Verurteilung des Dichters, welcher
der leidenschaftlich erregten Angelique eine einfache Sprache geben mußte. —
Vergl. auch „Melite", I, 4, v. 62. Philandre sagt dort zu seiner Braut, sie solle
in sein Auge blicken:
Tu n'y vois que mon coeur qui n"a plus un seul trait
Que ceux qu'il a re9us de ton charmant portrait,
Et qui tout aussitot que tu t'es fait paraitre,
Afin de te mieux voir, s'est mis k la fenetre...
oder „Clitandre", IV, 3, 21, Monolog des Prinzen Floridan während eines Ge-
witters :
Tes eclairs, indignes d'etre eteints par les eaux,
En out tari la source et seche les ruisseaux.
347
welche auch in der dramatischen Anordnung gewahrt sein will ; es fehlte
die Gabe der Beobachtung, das Talent der Charakteristik und der Reich-
tum an Ideen, welche das Lustspiel beleben müssen. Noch konnte er
sich dem Einfluß der italienischen Posse nicht genug entziehen ; wie
dort, so versteckt man sich auch bei ihm, belauscht man die anderen,
die ihre Geheimnisse auf offener Straße auskramen, und seine Personen
müssen jede, auch die plumpste Täuschung gläubig hinnehmen, damit
das Spiel gelinge. Die Wahrscheinlichkeit der Verwicklungen kam weniger
in Betracht als die Heiterkeit der einzelnen Scenen. Aber es war schon
genug, daß er versuchte, die Physiognomie seiner galanten Herren und
Damen zeitweilig zu beleben , und daß er die Notwendigkeit erkannte,
das Lustspiel zu verfeinern und es dem Publikum näher zu bringen.-')
Dieses Streben beweg ihn auch zur Vereinfachung des Plans. Wenn wir
von „Melite" absehen, finden wir in jedem seiner Lustspiele eine einzige
Verwicklung, die mit ihren verschiedenen Krisen und der endlichen
Lösung den Inhalt der Dichtung bildet. Corneilles eigene Richtung traf
hier wieder mit dem nationalen Geschmack zusammen. Die französische
Bühne hatte bereits einige festgezogene Grenzen . die zu überschreiten
schwer war. Das Streben nach Übersichtlichkeit und Klarheit wirkte auch
im Lustspiel bestimmend auf die Anlage und ließ einen größeren Reich-
tum von Verwicklungen und Begebenheiten nicht zu. Der Klassizismus
mit seiner einheitlichen Komposition und seiner Formenstrenge kündigte
sich bereits deutlich an. Wenn diese Beschränkung des Lustspiels auch
eine Verfeinerung seines Charakters im Gefolge hatte, so raubte sie ihm
doch ein gut Teil frischen Lebens und nötigte den noch ungewandten
Dichter zu Längen, die schwer empfunden werden. Zudem fürchtete man
bei vielen Zuschauern durch eine allzu getreue Wiedergabe der Zeit-
verhältnisse Anstoß zu erregen. Besonders ängstlich vermied man jede
Erwähnung der christlichen Kirche und ihrer Einrichtungen. Man be-
greift aber, wie fremdartig es auf die Zuschauer wirken mußte, wenn
in der „Melite", einem modernen Zeitbild, von den Göttern und der
Unterwelt die Rede war, wenn in „Clitandre" ein Mädchen erklärte, es
wolle zu den „Vestalinnen" flüchten. So war allerdings schon die Sprache
^) Lysandre sagt in der „Galerie du Palais", I, 7, 33:
„0 pauvre comedie, objet de tant de veines,
Si tu n'es qu'un portrait des actions humaines,
On te tire souvent sur un original,
A qui, pour dire vrai, tu ressembles fort mal"
und in der Epitre, die als Vorwort zur „Suivante" dient, heißt es: „La comedie
n'est qu'un portrait de nos actions et de nos discours, et la perfection des por-
traits consiste en la ressemblance. Sur cette maxime je täche de ne mettre en
la bouche de mes acteurs que ce que diroient vraiseniblablement en leur place
ceux qu'ils representent, et de les faire discourir en honnetes gens, et nou pas
en auteurs." Ebenda sagt Corneille: „Je ne me suis jatnais imagine avoir mis
rien au jour de parfait, je n'espere pas meme y pouvoir Jamals arriver; je fais
neans-moins mon possible pour en approeher, et les plus beaux succes des autres
ne produisent en moi quune vertueuse emulation qui me fait redoubler mes
efforts pour en avoir de pareils."
348
der „Asträa" gewesen, und auch Racan hatte in seinen ,. Bergeries " so
geredet. Wiederum wagte Corneille, hier weiter zu gehen. Er streifte
diese Vorsicht in seinen späteren Lustspielen mehr und mehr ab. Je an-
ständiger und feiner seine Sprache wurde, umso größere Freiheit konnte
er in der Darstellung moderner Verhältnisse walten lassen.^) Die ersten
Corneille'schen Stücke sind alle etwas farblos. Der Humor des Dichters
ging nicht auf derben Effekt aus, und selten erhob er sich zu leiden-
schaftlicher Sprache. Nichts ließ in ihm die dramatische Kraft ahnen,
welche er später enthüllte. Seine Lustspiele enthalten immer dieselbe
Liebeskomödie. In jedem Stück finden wir einen mehr oder weniger
sonderbaren Gesellen, der mit sich zu Rate geht, ob er lieben soll oder
nicht, und der in einem Freund einen gefährlichen Rivalen findet. Die
Liebhaber selbst verfallen häufig noch in Unnatur, und wenn sie sich
bei ihrer Geliebten in Ungnade sehen, so reden sie im Stil der Asträa
gleich von Selbstmord. Man könnte Lessings Wort von den Helden der
sogenannten Märtyrer -Tragödie auf sie anwenden: „Sie reden, als ob
Sterben und ein Glas Wasser trinken eins und dasselbe sei".-)
Wie hoch Corneille damals als Lustspieldichter geachtet wurde,
ersehen wir aus verschiedenen Zeugnissen seiner Zeitgenossen.
So rechnet Scudery in seinem Lustspiel „La comedie des Comediens",
das 1634 zum erstenmal aufgeführt wurde, die Werke Corneilles bereits
zu den beliebtesten Repertoire-Stücken der wandernden Truppen. Eine
andere Schrift aus derselben Epoche spottet über das Benehmen gewisser
unbedeutender Poeten, die im Theater eine Stunde lang die Köpfe in die
Höhe recken, um von einem der berühmten Dichter bemerkt zu werden
und ihn grüßen zu können. „Dort sitzt Rotrou, oder Du Ryer!" ruft
der eine. „Er hat mein Stück, das ihm ein Freund neulich vorlegte,
recht gelobt." Dann wird das ergötzliche Treiben eines andern geschil-
dert, der sich eine Weile entfernt und sich später entschuldigt, daß er
die Gesellschaft verlassen habe. Aber er habe Herrn Corneille begrüßen
müssen, der tags zuvor von Rouen angekommen sei, und der ihn am
1) In der „Place Eojale", V, 7, 74, sagt Angelique:
Un cloitre est desormais l'objet de mes desirs:
L'äme ne goüte point ailleurs de vrais plaisirs.
Und wie hätte ein solches Wort verletzen können? In der „Comedie des Tui-
leries", an der Corneille später für Richelieu mitarbeitete, ist allerdings in dem
ihm zugeschriebenen dritten Akt wieder die Rede von den Göttern, aber viel-
leicht war dies eine Bedingung des Kardinals, der freilieh gegen den kühnen
Vers (III, 2, 42j:
„Au retour d'Italie ötre encor scrupuleux"
nichts einzuwenden hatte.
2) Dramaturgie, 3. Stück. Schon zu Corneilles Zeit spottet Mareehal in
seinem „Railleur" über diese Manie (III, 3, 30):
— — le mal est bien divers,
De mourir en effet et de mourir en vers ;
Les poetes, les amans, quand l'ardeur les couvie,
Meurent tous, et Jamals ils ne perdent la vie.
349
nächsten Morgen zu Mairet führen und ihm ein neues dramatisches Werk
zeigen wolle.-')
Es war eine Zeit befriedigenden Schaffens für Corneille, und er
mag später, nachdem er seinen Ruhm fest begründet hatte, oft mit Sehn-
sucht auf die Epoche seines jugendlichen Strebens und unverkümmerten
Hoffens zurückgeblickt haben.
Damals fühlte er in sich bereits das beglückende Bewußtsein der
Kraft; er wußte sich auf dem Weg zur Höhe und sah sich schon als
Dichter anerkannt. Noch konnte er sich seines jungen Ruhms erfreuen,
ohne die Angriffe seiner Gegner fürchten zu müssen.
Wir wissen nicht, ob der Dichter während des längeren Aufent-
halts, den er öfters in Paris zu nehmen hatte, dem Kardinal Richelieu
vorgestellt wurde. Bei der bekannten Vorliebe des Kardinals für alles,
was auf das Theater Bezug hatte, wäre es fast zu verwundern, wenn er
sich Corneille nicht schon nach dessen ersten Erfolgen hätte rufen lassen.
Indessen liegen uns keinerlei Nachrichten darüber vor. Ebenso walirschein-
lich ist eine weitere Begegnung der beiden Männer im Sommer des
Jahrs 1633. Damals begab sich König Ludwig XIII. mit seiner Gemalin,
Anna von Österreich, zum Gebrauch der Bäder nach Forges in der Nor-
mandie. Die eisenhaltigen Quellen sollten die Königin stärken. Der kleine
Ort wurde für einige Wochen der Sitz geräuschvollen, glänzenden Lebens.
Der ganze Hof begleitete das Herrscherpaar, und auch Richelieu befand
sich in seinem Gefolge. Die Festlichkeiten drängten sich. Selbst ein
Theater durfte nicht fehlen. Von Seiten der Provinz wurde alles auf-
geboten, den hohen Besuch zu ehren, und der Erzbischof von Ronen, Fran-
cois de Harlay de Champvallon, ersuchte in diesem Sinn auch Corneille
um ein Begrüßungs- und Huldigungsgedicht. Der Dichter kam dem Auf-
trag nach, indem er ihn scheinbar ablehnte. In einem lateinischen Gedicht
wandte er sich an den Erzbischof und bat ihn, von seinem Wunsch
abzustehen. Die Thaten der Helden zu besingen sei die Aufgabe eines
Virgil. Er aber habe sich ein bescheideneres Ziel gesetzt, da seine geringen
Kräfte ihm nicht erlaubten, so hoch zu streben. Das Lustspiel sei
sein Feld, und darin habe er den Beifall aller, sowol des Hofes und der
Gelehrten, als auch des großen Publikums erworben. Allerdings erhebe
er sich in seinen Dichtungen manchmal auch zur höheren tragischen
^) La Pineliere, „La Parnasse ou la Critique des poetes" (1635), S. 60
bis 62. Dort heißt es von jenen Dichtern: „Ils tächent par toutes sortes de
moyens de voir tous ceux qui ecrivent. Ils auront la tete leve'e une heure en-
tiere ä l'hütel de ßourgogne pour attendre que quelque poete de reputation
qu'ils voient dans une löge regarde de leur cöte, afin d'avoir roccasion de leur
faire la reverence. Ils le montrent ä ceux de leur compagnie et leur disent:
„Voilä M. de Rotrou, ou M. du Ryer, il a bien parle de ma piece qu'un de
mes amis lui a depuis peu montree". Tantot ils s'eloigneront un peu d'eux, et
revieudront iucontinent leur dire : „Messieurs, je vous demande pardon de mon
incivilite; je viens de saluer M. Corneille qui arriva hier de Rouen. II m'a
prorais que demain nous irons voir ensemble M. Mairet, et qu'il me fera voir
des vers d'une excellente piece de theatre qu'il a commencee". S. Corneille, ed.
Martj-Laveaux, 11, 330.
350
Sprache, allein dann unterstütze ihn die Bühne mit ihrer Illusion, und
Roscius-Mondory wisse die Schwäche seiner Verse zu verbergen, indem
er ihnen Feuer und Anmut verleihe. Aber Triumphe, wie die des Königs
Ludwig, wolle er mit seinem Lied nicht entweihen, und Richelieus Ehre
dürfe er nicht dadurch schmälern, daß er ihn feiere. Er vergleicht dabei
jenen mit Achill, diesen mit Nestor, und sagt, Thaten, wie die Besiegung
der Hugenotten und die Kämpfe mit Spanien, zu verherrlichen, müsse er
anderen überlassen — einem Godeau oder Chapelain, denen er es mit
seinem schwachen Gesang nicht gleichthun könne. ■^)
Das Gedicht ist für uns hauptsächlich wegen der Äußerungen Cor-
neilles über sich und seine Kunst von Wert.
„Alles Gekünstelte fliehen, erscheint mir die wirkliche Kunst erst-j
sagt er darin und betont sein Streben, im Lustspiel nur das Bild des
wirklichen, den Dichter umflutenden Lebens zu geben. Das Theater sei
das Gebiet, auf dem allein er zu arbeiten berufen sei :
„Heische nicht mehr von mir; hier ist die Grenze des Geistes.
Wer mir die Bühne verschheßt, schließt meiner Muse den Mund.S)
Umso entschiedener betont er sein Verdienst um die dramatische
Poesie. Mit hohem Selbstgefühl sagt er von sich:
Siegreich steh' ich hier; es beseelt mich die Muse des Dramas,
Und es schmückt mich der Kranz, der um die Stirne sich schlingt.
Wenige kamen mir gleich, doch übertraf mich noch keiner,
Und mir nahe zu stehen, ist schon des Paihmes genug. *)
Das stolze Wort, das Corneille damals sprach, hat er durch seine
«päteren Werke gerechtfertigt. Übrigens scheint es, daß er sein Gedicht
nicht während des Hoflagers in Forges überreichte. Denn der Vers 54
erwähnt die Übergabe der Stadt Nancy, welche erst am 24. September 1635
erfolgte. Immerhin könnte Corneille das darauf bezügliche Distichon nach-
träglich eingefügt haben, da das Gedicht erst im Jahr 1634 zum Druck
gebracht ward.
1) P. Cornelii Eothomagensis ad illustrissimi Francisci archiepiscopi,
Normaniae primatis, invitationem, qua gloriosissimum regem, eminentissimum-
que cardinalem-ducem versibus ceiebrare jussus est, excusatio. S. Corneille
Oeuvres X, 64.
2) V. 19:
Ars artem fugisse mihi est.
3) V. 39 und 40:
Hie mihi sunt fines, nee me quaesiveris extra:
Carminibus ponent clausa theatra modum.
*) Hos gestit versare modos; hie nescia vinci
Nostro coronato vertice laurus ovat :
Me pauci hie fecere pareni, nuUusque secundum,
Nee spernenda fuit gloria pone sequi.
Man vergleiche damit ein ähnlich selbstbewußtes Wort, das er in einem späteren
•Gedicht, „Excuse ä Ariste", v. 36 sagt:
„Je sais ce que je vaux et crois ce qu'on m'en dit."
351
Da man ein Schauspiel in Forges hatte, und in dem Eepertoire
Corneilles Lustspiele gewiß nicht fehlten , lag es nahe für den Dichter,
sich auch daselbst einzufinden. Forges liegt nur etwa 40 Kilometei' nord-
östlich von Eouen, und die Reise war somit nicht allzu beschwerlich.
Während dieses Aufenthalts mag Corneille dem Kardinal näher getreten
sein; vielleicht erregte er auch schon damals die Aufmerksamkeit der
Königin Anna. Jedenfalls erfolgte bald nach dem Aufenthalt in Forges
Oorneilles Eintritt in die Gesellschaft der dramatischen Dichter, die für
Richelieu arbeiteten. Wahrscheinlich bezog er seitdem ein jährliches Ge-
halt von fünfhundert Ecus. Am 4. März 1635 wurde das erste Stück,
das man den „fünf Autoren" verdankte, die „Comedie des Tiiileries",
vor der Königin aufgeführt.^) Der dritte Akt dieses Lustspiels wird Cor-
neille zugeschrieben. Einzelue Wendungen und Ideen, die darin vorkommen,
und die man auch in anderen Dichtungen Corneilles findet, scheinen
diese Tradition zu bekräftigen. Doch währte die Beteiligung Corneilles
an den dramatischen Spielereien Eichelieus nicht lang. Man weiß, daß
der Kardinal ihm wegen seines wenig fügsamen Sinns zürnte, und daß
sich der Dichter bald nach Ronen zurückzog, wo ihn, wie er vorschützte,
Familienangelegenheiten fesselten. Er erkaufte seine Freiheit mit der Gunst
des Ministers, denn er war nicht der Mann, sich seinen Weg vorschreiben
zu lassen. In ihm wogte es auf und ab ; neue Entwürfe drängten sich
in seinem Geist, und ratlos versuchte er sich in der verschiedensten
Manier. Leider giebt uns kein Brief, kein Tagebuch, keine Freundesauf-
zeichnung Nachricht über Corneilles Pläne und Hoffnungen in jener so
wichtigen Epoche seiner Entwicklung. Aber seine Werke sprechen für ihn
und erlauben einen sicheren Rückschluß. Wir sehen, wie er sich für die
Pabrikarbeit unter Richelieus Aufsicht für zu gut hielt. Er fühlte sich
zu Größerem berufen, wenn er auch seinen eigentlichen Beruf zur tragischen
Poesie erst dunkel erkannte. Zum erstenmal versuchte er sich nun im
höheren Stil. Aber indem er sich der Tragödie zuwandte, mußte er sich
zunächst an die Vorbilder des klassischen Altertums halten. Die Lust-
spiele der Alten, sowie die Stücke der italienischen Stegreifkomödie
schienen auch damals schon für ein feineres Publikum nicht passend,
und die Idee einer Umbildung und Modernisierung des Lustspiels konnte
sich einem selbständigen Dichter leicht aufdrängen. In der Tragödie
dagegen standen die Werke der Griechen als unerreichte Muster da, und
wenn sich das antike Theater auch nicht in die neue Zeit übertragen
ließ, so strahlte es doch aus der Ferne in solchem Glanz, der Hoheit
und Schönheit, daß es dem modernen Kunstdrama, das nicht wie das
englische und spanische aus dem Volk erwachs , gewisse Gesetze als
unabänderlich auferlegte. Besonders bewunderte man Euripides, dessen
Pathos schon einen mehr modernen Charakter trägt, und neben ihm Seneca,
dessen rhetorisch gehaltene, auf gewaltsamen Effekt hinzielende Tragödien
als den Dichtungen der großen griechischen Tragiker ebenbürtig geschätzt
wurden , ja ihrer derberen Haltung wegen leichter begriffen und nach-
1) Über die „fünf Autoren" und ihre Werke s. Bd. I, S. 225
352
geahmt werden konnten. Darum hatte sich die junge französische Tra-
gödie an diesen Mustern zu bilden gesucht, und war besonders durch
Mairet in ihrer Richtung bestärkt worden. Auch Corneille sah sich ver-
anlaßt, zunächst hier anzuknüpfen, wenn er sich der tragischen Muse
zuwenden wollte.
So entstand seine Tragödie „Medea". Ein Brief Balzacs an Bois-
robert vom 3. April 1635, also schon vor dem Bruch mit dem Kardinal,
rühmt die Kunst Mondorys in der Rolle des „Jason-'. Die erste Aufführung
des neuen Stücks muß also schon früher stattgefunden haben.') Die „Medea-
ist indessen kaum als eine Originaldichtung Corneilles anzusehen. Sie ist
vielmehr eine ziemlich getreue Bearbeitung der gleichnamigen Tragödie des
Seneca, nur daß Corneille das lateinische Stück mit einigen Stellen aus Euri-
pides verbrämt und durch eigene Zuthat erweitert hat. Euripides führte in
einer kurzen episodischen Scene den König Ägeus von Athen in sein Trauer-
spiel ein. um der racheglühenden Kolcherin die Aussicht auf ein Asyl zu er-
öffnen. Seneca strich den König, aber Corneille nahm ihn nicht allein in
sein Stück wieder auf, sondern hatte noch die unglückliche Idee, ihn als
liebeberauscht hinzustellen und ihm eine größere Rolle zuzuweisen. Er
mochte fühlen, daß die Handlung der antiken Tragödie, des Chors be-
raubt, für die moderne Bühne zu einfach ist, und diese Beobachtung
verleitete ihn wahi'scheinlich zu dem Fehler , den greisen Ägeus als
Bewerber um die Hand Kreusas hinzustellen. Die unselige Vorliebe für
die ritterliche Galanterie, welche in der klassischen Tragödie der Fran-
zosen so manche Sünde verschuldete, machte sich schon zu Corneilles
Zeit geltend. Ageus wird von der Königstochter abgewiesen und wagt in
seiner Erbitterung einen Überfall auf die arglos am Gestade des Meers
sich ergehende Prinzessin. Jason und sein Freund Pollux kommen ihr
zur rechten Zeit zu Hilfe, bezwingen die räuberische Schar der Athener
und nehmen Ägeus selbst gefangen. In den Kerker geworfen, erwartet
er den Tod, erlangt aber durch die Zauberkräfte Medeas, die sich an
Kreusa rächen will, seine Freiheit wieder und bietet alsbald seiner Retterin
die Ehe an. Wir sind hier weitab von der antiken Tragödie und schwimmen
im vollen Strom moderner Romantik. Kreusa, die mit gutem Bedacht
weder im griechischen noch im römischen Stück erscheint, zeigt sich
uns bei Corneille als galante Prinzessin, die, einer echten Precieusen
gleich, über die Xatur der Liebe redet, ^) und es glücklich so weit bringt,
daß sie den Rest unserer Teilnahme verscherzt. Denn nachdem sie Medea
ihres Gatten beraubt hat, äußert sie noch die armselige Gier nach dem
Prachtgewand der Fremden und wird somit selbst die Veranlassung ihres
Untergangs.^) Auch vermeinte Corneille dadurch größeren Eindruck zu
erzielen, daß er König Kreon und seine Tochter, von dem höllischen
Feuer gepeinigt, auf der Bühne umher rasen ließ. Wenn aber irgendwo.
1).. Gedruckt erschien die „Medea" erst im Jahr 1639. Paris, bei Frau(;ois
Targa. Über Corneilles „Medee-* s. ausführlichen Aufsatz von Heine in Körting
& Koschwitz' „Französischen Studien", I. Bd. 3. Heft 1881.
2) Vergl. z. B. II, 5, v. 23 ff.
^) II, 4, V. 23: „La robe de Medee a donne dans mes jeux**.
353
war es hier am Platz, die Katastrophe nur erzählen zu lassen, wie die
beiden alten Dichter es gethan. Denn der Zuschauer wendet sich von
dem Bild der k(5rperlichen Leiden widerwillig hinweg und die Scene
wirkt nur abschwächend.
Überhaupt ist die Charakteristik der Personen, wo sie nicht eine
einfache Übertragung des Vorbilds ist, verfehlt. Jason ist noch niedriger
hingestellt als in der antiken Tragödie. Er ist nicht bloß untreu, er ist
auch gemein. Als Kreusa ihm ihr Verlangen nach dem Kleid Medeas
mitteilt, geht er ohne Zögern auf den Gedanken ein, versteckt sich in
der Nähe seiner ehemaligen Wohnung, um Medeens Dienerin zu erspähen,
mit ihr allein zu sprechen und mit ihrer Hilfe das Gewand zu er-
langen! Am auffälligsten ist die falsche Behandlung des Charakters der
Medea selbst. Großartig und erschütternd erscheint sie bei Euripides.
Dort ist sie das wilde, barbarische, aber kraftvolle, heroische Weib, die ge-
reizte Gattin, die beleidigte Mutter, die in einem Anfall von Wut zur
Tigerin wird. Bei Seneca hat sie von ihrer Größe bereits viel eingebüßt.
Die Aufgabe des Dichters bestand darin, den Charakter der Sage zu
wahren, die Hoheit des tragischen Vorgangs nicht zu schmälern und
doch die menschliche Natur Medeas zu betonen. Ihre Zauberkraft durfte
nicht besonders hervorgehoben werden, weil man sich sonst fragen mußte,
warum sie ihre Künste nicht früher zur Abwendung des ganzen U^nglücks
benutzt habe ? Nur wenn Medea als leidendes, verschmähtes, mit schnödem
Undank verfolgtes, überall verstoßenes Weib erscheint, wenn wir sehen,
wie sie aus Liebesleidenschaft gefehlt hat, und nun von derselben Leiden-
schaft, von wilder Eifersucht zur Raserei gebracht wird ; wenn wir, mit
einem Wort, eine furchtbar grimmige Menschennatur, aber doch eine
Menschennatur in ihr sehen, dann allein wird sie uns verständlich, dann
allein erregt sie trotz ihrer Frevel unser tiefes Mitgefühl. So hat
sie denn auch Euripides gezeigt. Bei Corneille aber betont sie jeden
Augenblick ihre Zauberkraft. Durch einen Schlag mit ihrem Zauber-
stab öffnet sie den Kerker des gefangenen Ägeus und befreit ihn von
seinen Ketten. Sie giebt ihm einen Ring, der ihn unsichtbar macht; sie
vermag einen Menschen so an die Scholle zu binden, daß ihm jede Be-
wegung unmöglich wird. Kurz, sie beherrscht Himmel und Erde, sie
gebietet dem Blitz, dem Sturmwind und der Woge des Meers; die ganze
Natur ist ihr unterthan.*) Darum kann sie auch erklären, daß sie keines
Menschen Macht fürchte und den Kampf mit der ganzen Welt nicht zu
scheuen habe.^) Indem aber Corneille in so scharfer Weise ihre über-
1) Nerine, Medeas vertraute Dienerin, sagt von ihr III, 1, v. 10:
Un mot du haut des cieux fait deseendre la foudre,
Les mers, pour noyer tout, n'attendent que sa loi.
L'air tient les vents tous prets ä suivre sa colere.
Tant la nature esclave a peur de lui deplaire.
^) Sie sagt IV, 5, v. 53 ff.:
Non pas que je les craigne, eux et toute la terre
A leur eonfusion me livreroient la guerre.
Mais je hais ce desordre . . .
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteiatur. 23
354
menschliche Natur betont, entrückt er sie mehr und mehr unserer Teil-
nahme. Die Medeasage war überhaupt seinem dichterischen Talent nicht
angemessen. Der Charakter der Heldin ist zu komplex und verlangt eine
eingehende psychologische Schilderung. Corneille aber konnte, wie wir
später sehen werden, wol kraftvolle, dämonische Frauengestalten schaffen,
aber er stellt seine Personen immer wie aus Einem Guß hin, fertig und
entschieden. Medea muß uns dagegen im Zustand des Schwankens, des
Seelenkampfes und der Herzensangst gezeigt werden, wenn sie uns be-
wegen soll. Dieser erste Versuch auf dem Gebiet der Tragödie erhob
Corneille noch nicht über die anderen tragischen Dichter seiner Zeit.
Selbst in der Sprache nicht. Man sollte denken, daß sich in der „Medea"
schon Anklänge an die hinreißende Sprache des „Cid" linden müßten,
da die beiden Dichtungen doch zeitlich einander nahe stehen. Gleichwie
das Gewitter sich oft durch ein leises Grollen in der Ferne ankündigt,
sollte man denken, klinge die geniale Kraft des ..Cid" auch schon in
einzelnen Lauten der früheren Tragödie an. Allein dem ist nicht so.
Wir haben schon gesagt, daß die „Medea", trotz der Änderungen, die
sich Corneille erlaubte, nicht als Originaldichtung anzusehen ist. Kräftige
Stellen finden sich wol darin, allein sie sind alle dem lateinischen Vor-
bild entnommen. ^) Immerhin bleibt der „Medea" das Verdienst, den
Dichter in die Tragödie eingeführt zu haben. War es auch nur eine
Übersetzung, an der er sich übte, so wurde ihm doch der Stil der Tra-
gödie vertraut. In der „Medea" erprobte Corneille seine Kraft vor der
entscheidenden That.^)
1) Selbst das berühmte „Mol" der Medea (I, 5, 48), in dem die fran-
zösische Kritik das erste Leuchten des tragischen Geistes in Corneille erblicken
will, scheint mir nicht kräftiger als die betreflfende Stelle bei Seneca.
Nerine :
Dans im si grand rever.s que vous reste-il?
Medee :
Moi
Moi, dis-je, et c'est assez.
Man vergleiche damit die Verse bei Seneca:
Nutrix :
Nihilque superest opibus et tantis tibi.
Medea :
Medea superest.
Das lateinische „Medea superest" klingt zum mindesten ebenso stolz
und kühn wie das französische „Moi".
-) Von allen dramatischen Bearbeitern der Medea- Sage steht uns Grill-
parzer mit seiner wunderbaren Dichtung am nächsten. Euripides ist einfacher;
er giebt die Fabel, wie sie ihm überliefert war, aber trotzdem er Medea in der
ganzen Herbheit ihres Charakters darstellt, weiß er doch durch die Schilderung
des gequälten Mutterherzens und durch das Pathos der Leidenschaft tief zu er-
schüttern. Es ist schwer, Griliparzers Werk mit dieser antiken Tragödie zu ver-
gleichen. Es steht uns näher, weil es modern gedacht und empfunden ist. So
ist die letzte Scene des fünften Akts, in welcher Medea von Jason Abschied
nimmt, gewiß großartig. In einer wüsten Gegend trifft Medea den aus Corinth
verstoßenen, geächteten, dem Verschmachten nahen Jason, und sagt ihm :
355
Nach „Medea" kehrte Corneille wieder zum Liistjjiel zurück. Im
Jahr 1636 kam seine „Illusion coraique" zur Aufführung.') Abermals
griff der Dichter in eine andere Welt und versuchte es mit einer neuen
Gattung, dem romantischen Zauber- und Possenspiel. Er knüpfte diesmal
an die Stücke der Commedia dell' Arte an, insofern er den Capitan aus
denselben herübernahm. Schon Antoine Marechal hatte ihm das Beispiel
dafür gegeben.^) In seinem Lustspiel ,. Le railleur"' erscheint der Capitan
Taillebras, der, mit dem überspannten Dichter Lycante wetteifernd, um
die Liebe einer jungen Dame wirbt. Der Charakter des Bramarbas ist
ganz so geblieben, wie ihn die Spanier und Italiener kannten. Taillebras
nennt sich selbstgefällig „den Schrecken des Erdballs" und rühmt sich
der Huldigungen . welche ihm Kaiser und Könige dargebracht haben
Leb wohl! nach all den Freuden früh'rer Tage.
In all den Schmerzen, die uns jetzt umnachten,
Zu all dem Jammer, der noch künftig droht.
Sag ich Dir Lebewohl, mein Gatte.
Ein kummervolles Leben bricht Dir an.
Doch was auch kommen mag: halt aus.
Und sei im Tragen stärker als im Handeini
Für das moderne Publikum, das gern nach jeder gewaltigen Erscheinung
eine sentimentale Abschwächung sucht, ist dieser stimmungsvolle Abschluß eine
Wohlthat. Aber die ganze Scene bleibt darum doch eine Abschwächung, und
ganz wahr ist dieses Mitleid der in ihrem Elend zur äußerlichen kalten Euhe
sich zwingenden Kindesmörderin nicht. Ich zweifle, ob die Griechen solche Rede
gebilligt hätten. Auch die Abschiedsworte Medeas:
Was ist der Erde Glück? — Ein Schatten!
Was ist der Erde Euhm? — Ein Traum!
enthalten eine philosophische Bemerkung, die mir mit dem Charakter der Medea
nicht recht zu stimmen scheint, und wenn sie ferner sagt:
Die wir im Unglück uns gefunden,
Im Unglück scheiden wir,
so ist das nicht mehr und nicht weniger als eine Pointe, wie wir sie auch bei
Corneille gefunden haben. Fern sei es von mir, an Grillparzers Grölie mäkeln
zu wollen; es soll nur im Vorübergehen gezeigt werden, daß selbst die besten
modernen Tragödien, die ihren Stoff aus dem Altertum nehmen, modernen Geist
atmen, daß sie modern denken und fühlen müssen. Wir werden auf diesen
Punkt zurückkommen, wenn wir von dem Charakter der klassischen französi-
schen Tragödie eingehender reden. Im Vorübergehen sei nur darauf aufmerksam
gemacht, daß der französische Dramatiker Ernst Legouve ebenfalls eine „Medea"
gedichtet hat, und daß eine Vergleichung dieses Stücks mit dem Grillparzer-
schen beweist, daß Legouve das letztere Stück gekannt, in den Hauptscenen
nachgeahmt und abgeschwächt hat.
1) Der spätere Titel des Lustspiels war einfach „L'illusion".
2) In der Vorrede zu seinem „Railleur", der 1636 aufgeführt und 1638
gedruckt wurde, sagte Marechal: „Je dirai pourtant en sa faveur que c'est le
premier capitan en vers qui a paru dans la sct-ne fran(;oise, qu'il n'a point eu
d'exemples et de modeles devant lui, et qu'il a precöde, au moins du temps,
deux autres qui Tont surpasse en tout le reste, et qui sont sortis de deux
plumes si fameuses et comiques dans „Tlllusion" et „les Visionnaires." Das
letztere Stück von Desmarets datiert übrigens nach der Angabe der Brüder Par-
faict aus dem Jahr lG:i7.
23*
356
sollen.'') Aber wenn ihm ein ernstlicher Kampf droht, flächtet er ohne
Zögern. .,Cherchons un autre gite, il fait ici trop chaud!" sagt er
lU, 7, 35.
Daß auch Don Quichote öfter auf die Bühne gebracht wurde und
durch sein Wesen au den Capitan erinnerte, ist schon früher bemerkt
worden.-)
Folgendes ist der Inhalt des Corneille'schen Lustspiels. Pridamant,
ein alter, gestrenger Herr von Adel, hat seinem Sohn Clindor einige tolle
Jugendstreiche nicht nachsehen wollen, und ihn dadurch so weit gebracht,
daß er das väterliche Haus heimlich verlassen hat und verschollen ist.
Voll Verzweiflung hat Pridamand viele Länder durchzogen, um eine Spur
seines Sohns zu finden; er hat den Po, den Rhein, die Maas, die Seine
und den Tajo gesehen, wie er sagt, allein vergebens. Ein Bekannter ge-
leitet ihn endlich zur Höhle des mächtigen weisen Zauberers Alcandre.
in der Xähe von Tours. Damit beginnt das Stück. Alcandre kennt die
Geschichte Pridamants und seines Sohns. Der letztere hat lange Zeit im
größten Elend gelebt und nur mühsam sein Dasein gefristet, befindet sich
jetzt aber in besserer Lage. Diese Mitteilung zu bekräftigen, zeigt Al-
candre in einem Zauberbild die kostbaren Kleider , welche Clindor jetzt
trägt. Damit ist natürlich der bekümmerte Greis nicht zufrieden, und
Alcandre beschließt, ihm die letzten Schicksale Clindors durch seine dienst-
baren Geister wie in einem Schauspiel darstellen zu lassen. Diese Komödie
in der Komödie fängt mit dem zweiten Aufzug an. Der Capitan Matamore
aus der Gascogne hat Clindor als Diener und Sekretär in seine Dienste
genommen. Matamore ist in eine junge Dame aus gutem Hause. Isabella,
verliebt und zweifelt nicht an seinem Sieg. „Quand je veux, j'epouvante;
et quand je veux, je charme", sagt er (II, 2, 38). Er erzählt, daß er
sich früher nicht mehr öffentlich habe zeigen können, weil er mit seiner
Schönheit allen Frauen den Kopf verdreht habe, und diese unendlichen
Triumphe hätten ihn an der völligen Eroberung der Welt gehindert.
Darum habe er Jupiter gezwungen, seine Schönheit etwas abzuschwächen.
Seitdem sei er nur schön, wenn er es wünsche. .,Et depuis, je suis beau,
quand je veux seulement" (II, 2, 6, 4.). Wenn man überhaupt den über-
triebenen, possenhaft verzerrten Charakter des Capitan im Lustspiel als
zulässig annimmt, muß man sagen, daß ihn Corneille mit viel Humor
behandelt hat. In seiner faden Selbstbewunderung spreizt sich Matamore
vor seinem Diener:
„Blick auf mein Antlitz her; es spiegelt sich
in ihm, o Freund, jedwede Tugend ab.^^j
In der herkömmlichen prahlerischen Weise redet er von seinen
Heldenthaten, so lange er keinen Gegner vor sich hat. Kaum aber erblickt
i) Vergl. I, 4, 1 und IV, 4, 1 ff.
^) Vergl. dritter Abschnitt S. 299.
3j II, 2, V. 98:
Contemple, mon ami, contemple ce visage :
Tu vois UQ abrege de toutes les vertus.
357
er seinen Rivalen Adraste in der Ferne, so enteilt er: „Denn", sagt er,
.Jener Mensch ist zwar feig, aber in seiner Frechheit könnte er doch
Streit mit mir anfangen. In der Stunde meiner Schönheit aber fehlt mir
der Mut.i)
Adraste, ein reicher Edelmann, der Isabella ebenfalls liebt, ist in seiner
Werbung nicht glücklicher als Matamore, denn es ist Clindor gelungen,
die Neigung des schönen und geistvollen Mädchens zu gewinnen. Adraste
hat jedoch den Vater für sich und hoft't mit dessen Hilfe zu seinem Ziel
zu gelangen. Matamore bedient sich Clindors, um Isabellen seine Gefühle
wissen zu lassen, und ist daher sehr empört, als er zufällig ein Gespräch
Isabellens mit Clindor belauscht, in welchem der letztere für sich selber
redet. Wütend stürmt er aus seinem Versteck, um den falschen Diener
zu töten. Nur die Wahl läßt er ihm frei, ob er durch einen Faustschlag
wie Glas zerbrochen, ob er bis in den Mittelpunkt der Erde gestoßen,
mit einem einzigen Schwertstreich in zehn Stücke gehauen, oder ob er
zum Himmel geschleudert werden will, daß ihn dort das Feuer verzehre.
Clindor aber hat seinen Herrn schon längst erkannt, als
„La souverain poltron, ä qui pour faire peur,
II ne faut qu'une feuille, une ombre, une vapeur",
und somit läßt er sich nicht erschrecken; er antwortet vielmehr mit
Drohungen und zwingt Matamore, auf jede Bewerbung um Isabellens
Hand zu verzichten. In diesem Augenblick stürmt Adraste mit seinen
Dienern auf die Scene. Er hat von dem Stelldichein gehört und will den
frechen Clindor strafen. Matamore flüchtet in Isabellens Haus, wo er vier
Tage lang unter dem Dach versteckt bleibt und nur Nachts in die Küche
schleicht, um sich etwas Nahrung zu suchen. Clindor aber setzt sich zur
Wehr; er ersticht seinen Gegner, wird umringt und verhaftet. Im vierten
Akt sehen wir ihn, zum Tod verurteilt, im Kerker. Aber Lyse, Isabellens
Zofe, hat den Kerkermeister durch ein Eheversprechen gewonnen. So gelingt
es Isabellen, den Geliebten zu befreien, nachdem sie von den Schätzen
ihres Vaters zusammengeraift, was sie gerade hat finden können, und die
beiden Paare retten sich durch die Flucht. Im fünften Akt zeigt der
Zauberer in einem andern Bild die Flüchtlinge in neuen Verhältnissen.
Sie sind Schauspieler geworden, und man sieht sie in der letzten Scene
einer Tragödie auftreten, in der Clindor ermordet wird und Isabella vor
Schmerz darüber stirbt. Pridamant, der nicht weiß, daß es sich hier nur
um ein Schauspiel handelt, ist vor Schmerz außer sich, wird aber durch
Alcandres Kunst schnell beruhigt; denn auf dessen Wink erhebt sich ein
Vorhang, und die Totgeglaubten treten mit anderen Schauspielern auf
die Bühne, ihre Kasseneinnahme zu theilen. Jetzt erst begreift Pridamant
die Stellung seines Sohns und erklärt sich mit derselben zufrieden, nach-
dem ihm der Zauberer in warmen Worten die Achtung geschildert hat,
in der das Theater allenthalben steht.-)
1) II, 2, 115:
Lorsque j'ai ma beaute je n'ai poiut ma valeur.
2) Siehe Teil I, Seite 227.
358
Die Biographea und Erklärer Corneilles haben diesem Lustspiel eine
besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In der That erwies Corneille schon
hier seinen Beruf für die Tragödie, indem er, ohne es zu wollen, dem
Capitan öfters eine Sprache in den Mund legte, welche jeden komischen
Anstrich verlor und so volltönend war, daß er sie ebensogut einem seiner
späteren Helden hätte geben können. Einige Beispiele seien hier an-
geführt. Matamore luft II, 2, 13:
„Le seul bruit de mon nom renverse les murailles,
Defalt les eseadrons, et gagne les batailles".
Die Verse sind so heroischen Ciiarakters, daß Boileau sich nicht
scheute, sie zum Lob des Prinzen Conde zu verwerten. In Boileaus
Epltre IV („Au roi"), Vers 133, heißt es:
Conde, dont le seul nom fait tomber les murailles,
Force les eseadrons et gagne les batailles.
Im dritten Akt (Sc. 4, Vers 1 ff.) legt Corneille dem Capitan
folgende Verse in den Mund:
Respect de ma maitresse, incommode vertu,
Tyran de ma vaillance, ä quoi me reduis-tu?
Que n'ai-je eu cent rivaux en la place d'un pere,
Sur qui, sans t'offenser, laisser choir ma colere!
Und Marty-Laveaux bemerkt mit Recht in seiner Ausgabe (IL
Seite 424), daß diese Stelle den Cid nicht verunzieren würde. Eine weitere
Anregung hat Boileau im fünften Akt (Sc. 5, v. 1) gefanden. Dort
heißt es:
Ainsi de notre espoir la fortune se joue,
Tout s'eleve ou s'abaisse au branle de sa roue.
was sich bei Boileau, Epitre Y, Vers 133 folgendermaßen gestaltet:
Qu'ä son gre desormais la fortune me joue
On me verra dormir au branle de sa roue. ^)
Doch auch außerdem scheint uns das Lustspiel, mit dem Corneille
die Thätigkeit seiner ersten Epoche abschloß, bemerkenswert durch den
Humor, der sich allerdings neben vielfachen Längen darin geltend macht,
und mehr noch durch die feine Zeichnung Isabellas. Wir haben hier eine
für die damalige Zeit sehr gelungene Charakterschilderung. In Isabella
verbindet sich heitere Laune und Anmut mit warmem Gefühl. Neckisch
und gewandt weist sie Adraste, den unwillkommenen Bewerber, zurück :
Die Diuge tragen oft verschied'ne Namen :
Mir gilt als Dornen, was ihr Rosen nennt;
Was ihr als Huldigung und Liebe preist,
Erscheint mir als Verfolgung und als Qual.-)
1) Der erste Vers ist wörtlich ßotrous „Doristee-' (IßSi), I, 2, v. 106 ent-
nommen. Cleagenor klagt dort:
Ainsi de notre espoir la fortuue se joue.
Ainsi les plus heureux ont un freie destin,
Et tel n'est pas le soir ce qu'il fut le matin.
2) II, 3, 19 :
359
Innig aber wird sie, wenn sie von ihrer Liebe zu Clindor spricht
Das ganze Glück der Erde liegt in ihr
Und sie allein macht mir das Leben teuer.
Für Dich mißhandelt werden ist ein Trost,
Und jede Qual gilt mir gleich einer Gunst,
Wenn ich für Dich sie leide.i)
Ihr warmes Herz offenbart sich , wenn sie die Thür des Kerkers
öffnet, um den Geliebten zu befreien, und ihre Sprache wird in diesem
Moment besonders einfach und natürlich. „Lyse, wir werden ihn sehen!"
sagt sie mit erstickter Stimme, und ihre Begleiterin sucht sie zu beruhigen,
indem sie warnend sagt: „Wie seid Ihr außer Euch!'-)
Die „Illusion" schließt die erste Epoche in Corneilles Dichterleben
ab. Mit ihr endet seine Lehrzeit. Obwol in ihren poetischen Ergebnissen
nicht gerade reich, ist diese Zeit doch von hohem Interesse für jeden,
der die Entwicklung Corneilles verfolgen will. Sein Talent entfaltete sich
im ganzen langsam ; sein Erstlingswerk stellte ihn nicht, gleich anderen
Dichtern, alsbald in die Reihe der bahnbrechenden Männer! Er warf nicht
wie der jugendliche Schiller seinen erschreckten Zeitgenossen ein Werk
flammender Leidenschaft entgegen. Dazu war sein Geist zu fest in sich
gegründet, und er hatte zunächst auch die Schwierigkeiten zu überwinden,
welche ihm die Sprache sowol, wie die noch ungefüge Kunst der
Scene boten.
Gewiß, die Jugendwerke Corneilles gehören nicht zu den Dichtungen,
welche ewiges Leben haben. Erst mit dem „Cid" betrat er die Bahn,
die ihn zur Höhe führen sollte. Allein so groß auch der Unterschied sein
mag, der zwischen seinen früheren Lustspielen und den Dramen seiner
reifen Jahre besteht, man erkennt doch auch in den ersteren bereits
viele Grundzüge des poetischen Charakters, wie er sich in der Folge ent-
wickelte. Von Anfang an zeigte Corneille den festen, verständigen, seines
Ziels klar bewußten Sinn, und nicht minder bewahrte er Adel und Rein-
heit des Geistes. In seinen Stücken atmet man reine Luft, und man kann
sagen, daß Corneilles Muse immer keusch geblieben ist.
Nous donnons bien souvent de divers noms aux choses:
Des epines pour moi, vous les nommez des roses;
Ce que vous appelez service, affection,
Je Tappelle supplice et persecutiou.
1) III, 8, 13:
Un bien qui vaut pour moi ia terre tout entiere,
Et pour qui seul enfln j'aime ä voir la lumiere.
Mais pour vous je me plais ä me voir maltraitee.
U n'est point de tourment qui ne me semble doux,
Si ma fidelite les endure pour vous.
2) IV, 9, 1: Isabelle:
Lyse, nous l'allons voir
Lyse:
Que vous etes ravie!
360
So entwickelt sich der Genius des Dichters lang-sam, aber sicher.
Sein Geist reift und kräftigt sich^ seine Menschenkenntnis wächst, die
Geheimnisse der Sprache werden ihm vertraut. In dem fortwährenden
Eingen mit seiner Aufgabe, dem Bestreben, das Drama weiterzuführen,
findet er endlich den rechten Stoff, im rechten Augenblick. Da verkörpert
er, von einer alten Heldensage begeistert, in dem „Cid" das Ideal seiner
Zeit, und reißt durch die Poesie, den Schwung und die jugendliche An-
mut, womit er seinen Eodrigo und dessen heroische Geliebte verklärt,
sein ganzes Volk zum lautesten Enthusiasmus hin. Er begründet damit
die französische Tragödie , wie er einige Jahre später , zur Komödie
zurückkehrend , durch seinen „Menteur" auch das wahrhafte Lustspiel
kennen lehrt.
V.
Der Cid.
Gering nur ist die Zabl der Dichtwerke, die sich einer ewigen
Jugend erfreuen. Umso teuerer sind sie dem Volk, dem sie angehören
und das gern die kleinen Schwächen übersieht, welche der Kritiker viel-
leicht an ihnen entdeckt. Ja, oft geben diese Schwächen einem solchen
Werk erst das charakteristische Gepräge; sie spiegeln den Geist der
Zeit, in der die Dichtung entstanden ist, deutlich ab und sichern ihr
dadurch den Eindruck der Wahrheit und des Lebens. Anschauungen
einer früheren Zeit, die uns heute fremd sind, werden uns begreiflich,
wenn sie von solchen Werken geti'agen werden.
So enthüllte der Genius des Dichters im „Werther", was die Brust
von Tausenden und aber Tausenden, ihnen selbst unbewußt, bewegte,
und die „Eäuber" des unerfahrenen Jünglings von der Karlsschule wirken
heute noch zündend auf jugendliche Herzen, mag man den Schwulst und
die Übertreibung dieser Dichtung im einzelnen noch so sehr tadeln.
Durch Werke dieser Art geht eben ein Hauch von Begeisterung
und Idealität, der allen Widerstand überwindet. Das stürmische Blut der
Jugend pulsiert in ihnen; sie wenden sich an die edlere Natur des
Volkes und führen es in eine Welt der Gefühle und Anschauungen,
welche bei aller Verschiedenheit der Äußerung im Grunde doch immer
dieselbe bleibt.
Daß aber eine Dichtung dieses Charakters Erfolg habe, muß sie
zur richtigen Zeit kommen. „Werther" würde heutzutage zwar auch ge-
schätzt werden, den Triumphzug um die Welt aber würde er nicht mehr
machen. Sollen solche Werke ewigen Rahm erwerben, so müssen sie als
die Boten einer neuen, aufstrebenden Zeit erscheinen; sie müssen sozu-
sagen nicht das Werk eines einzelnen sein, die ganze Nation muß an
ihnen mitgeschaffen haben. Nur wenn sie das Denken und Fühlen einer
ganzen Epoche in hervorragender Form zum Ausdruck bringen, wenn sie
wie die Stimme des Volkes selbst sind, dann nur werden sie im Bewußt-
sein der Nation auch für alle späteren Zeiten leben.
Ein solches Werk ist der „Cid", die bekannteste und populärste
Dichtung Corneilles, welche im Jahr 1G36 wenige Monate nach seiner
„Illusion" zur Aufführung kam. Manche spätere Tragödie des Dichters,
wie sein „Horace" oder „Cinna", mag in gewisser Hinsicht vollendeter
sein, keine birgt in sich einen solchen Zauber wie der „Cid", der das
Heldenideal des 17. Jahrhunderts zum lebendigsten Ausdruck brachte.
362
Die Thätigkeit für die Bühne war in den Jahren, die uns jetzt
beschäftigen, bereits sehr groß und die Zahl der dramatischen Dichter
beträchtlich. Im Jahr 1636 wurde dem Publikum eine Reihe neuer Stücke
der angesehensten damaligen Dramatiker geboten. Neben der „Illusion"
von Corneille finden wir Lustspiele und Tragödien von ßenserade, Des-
marets, Marechal, ßotrou, Scuderj' und Tristan. Rotrou allein erschien
mit vier dramatischen Werken, unter welchen sich die „zwei Sosier"
(Les deux Sosie) besonderen Beifalls erfreuten; Scudery trat mit seinem
ersten Trauerspiel „Der Tod Cäsars" nebst zwei anderen Stücken her-
vor, und besonders erwarb sich Tristans „Mariamne" ungeteilten Beifall.
Zu der großen Liste neuer dramatischer Dichtungen fügte nun auch
Corneille seinen „Cid". Wir wissen, daß er bereits in seinen früheren
Werken Reformen versucht, aber trotz aller Mühe nur geringe Fort-
schritte erzielt hatte. Aaf die rechte Bahn soll ihn erst ein älterer Freund
gewiesen haben, de Chalon, der früher als Sekretär im Dienst der Königin
Anna von Österreich gestanden und sich seit einiger Zeit nach Ronen
zurückgezogen hatte. In der Umgebung der Königin l)escliäftigte man
sich vielfach mit der spanischen Litteratur. die gerade damals ihre klas-
sische Höhe erreicht hatte. So soll denn Chalon die Aufmerksamkeit des
Dichters auf die spanische Bühne gelenkt haben. Ob dies wirklich nötig
war, ist jedoch fraglich. Das spanische Drama mußte damals jedem, der
sich mit dem Theater beschäftigte, bekannt sein, sowie die dramatischen
Dichter unserer Zeit das französische Theater nicht übersehen dürfen,
selbst wenn sie entgegengesetzte Wege wandeln. Hardy, Rotrou, Scu-
dery und viele andere hatten bereits spanische Stücke bearbeitet. Warum
soll Corneille allein auf diese anregenden Vorbilder nicht aufmerksam
gewesen sein? Die „Illusion" giebt ja den Beweis, daß dem so war.
Aber man erzählt weiter. Chalon habe den jungen Dichter überhaupt er-
mutigt, sich dem höheren Schauspiel zu widmen, und ihn geradezu auf
den spanischen Dramatiker Guillen de Castro verwiesen. Diese Nachricht
klingt wahrscheinlicher. Jedenfalls fand Corneille in einem Schauspiel
des genannten Dichters den Stoff zu seinem neuen Drama; noch mehr,
er fand dort auch, was er so lange gesucht hatte: die neue Weise der
dramatischen Dichtung. Guillen de Castro war zu Valencia im Jahr 1569
geboren und im Jahr 1631 nach bewegtem Leben in großer Armut zu
Madrid gestorben. Er war also ein Zeitgenosse Lope de Vegas und ein
Vorläufer Calderons. Dem Theater hatte er sich erst in späterer Zeit
gewidmet, mit seinen Schauspielen aber großen Ruhm geerntet. „Er wäre
noch berühmter geworden", sagt ein naiver Biograph Castros aus dem
vorigen Jahrhundert, „wenn er das Duell und das eheliche Unglück
weniger oft behandelt hätte."') Unter seinen dramatischen Werken ist
das Schauspiel „Las mocedades del Cid" (die Jugendthaten des Cid) am
^) Siehe Vincente Ximeno, Escritorfs del reyno de Valencia 1747 (2 Bde.,
1. Bd. S. 305) und E. Justo Pastor Fuster, Biblioteca Valeneiana (2 Bde. Va-
lencia 1827; eine Bearbeitung des erstgenannten Werks; I, S. 235). Ximeno
spricht von dem unruhigen Geist des Dichters und seinem unlenksamen Sinn,
der ihn die Gunst seiner mächtigen Beschützer habe verscherzen lassen.
363
bekanntesten. Er behandelt darin das erste ruhmreiche Auftreten des be-
kannten spanischen Nationalhelden, sein Eintreten für den beleidigten
Vater und sein Verhältnis zu Ximena, der Tochter des von ihm erschla-
genen Gegners. Das spanische Theater war, gleich der englischen Bühne,
frei in seinen Bewegungen und konnte eine Welt voll Leben in glän-
zenden Bildern zur Entfaltung bringen. Guillen de Castros Cid erinnert
in seiner Anlage, dem raschen Gang und dem Wechsel der Scenen an
die historischen Schauspiele Shakespeares. Aus dem rauhen, bluttriefenden,
abenteuernden Kriegsmann, wie er noch in der alten Chronik erscheint,
war der Cid allmählich zu einem Muster echter Kitterlichkeit umgewan-
delt worden. Das schloß eine gewisse Eauheit und die Freude am Blut
nicht aus. In dem ganzen Stück pulsiert dramatisches Leben, und wenn
sich auch hier und da kindlich plumpe Züge finden, welche dem heu-
tigen Geschmack unbegreiflich dünken, so sind doch viele Scenen wahr-
haft groß und ergreifend.
Castros Stück ist so wichtig für uns, daß wir es genauer be-
trachten müssen. Es ist nicht in Akte, sondern in drei „Tage" ein-
geteilt und umfaßt den Zeitraum von drei Jahren. Der erste „Tag" führt
uns zunächst in den Palast des Königs Don Fernando. In Gegenwart
des ganzen Hofes schlägt der König den jugendlichen Don Rodrigo zum
Ritter und überhäuft ihn mit Ehrenbeweisen aller Art, worüber unter
den anwesenden Großen manch neidisches Wort fällt. Die Damen da-
gegen haben nur Blicke der Bewunderung für den schönen Jüngling.
Die Prinzessin Doüa ürraca schnallt ihm selbst die Sporen an und ver-
rät, gleich ihrer Freundin Ximena, durch einzelne Äußerungen die Nei-
gung, die sie zu ihm beseelt. Nach dem Ende des feierlichen Vorgangs
entläßt der König seinen Hof und behält nur seine vertrauten Räte zu-
rück. Er will seinem Sohn, dem Infanten Don Sancho, einen Gouverneur
zur Seite stellen, und teilt den Versammelten mit, daß er nach reiflicher
Überlegung den greisen Don Diego, Rodrigos Vater, mit diesem Ehren-
amt bekleide. Darüber erhebt der tapfere Graf Gormaz, der den Bei-
namen Lozano, der Stolze, trägt, bittere Klage. Er macht Anspruch auf
diese W^ürde, und es kommt in Gegenwart des Monarchen zu einem hef-
tigen Wortwechsel zwischen ihm und Don Diego. Vergebens sucht der
König den Streit der beiden Granden zu schlichten. Der Graf läßt sich
schließlich in seinem Zorn so weit hinreißen, daß er seinem Rivalen ins
Gesicht schlägt. Die sehr dramatische Scene war gewiß von mächtiger
Wirkung. Don Diego, den dieser Schlag entehrt, hebt den Stock, auf
den er sich stützt, zur Abwehr und zum Kampf; aber ohrunächtig sinkt
sein Arm und in höchster Aufregung zerbricht er den Stab, der ihn
nicht geschützt. Er verläßt das Schloß, da ein entehrter Mann nicht
länger in der Nähe des Königs weilen darf. Auch der Graf stürmt fort,
und dem König, dessen Autorität hier nicht sehr groß erscheint, bleibt
nichts übrig, als allen Anwesenden Schweigen über den Vorfall aufzu-
erlegen, damit er umso leichter vermitteln könne. In der folgenden Scene
sieht man Rodrigo in seines Vaters Haus mit seinen zwei jüngeren Brü-
dern, welche ihm helfen, sich der Rüstung zu entledigen. Ihr Gespräch
364
wird durch die Ankunft Don Diegos unterbrochen, der verstört nach
Haus kommt, seine Söhne mit barschem Ton wegschickt und nach ver-
zweifeltem Monolog sein altes Schlaehtschwert von der Wand herablangt.
Er will versuchen, ob er es noch einmal zum Kampf schwingen kann,
aber sein Arm, der sich zu schwach erwiesen hatte, einen Stock zu heben,
vermag noch weniger das Schwert zu führen. So müssen ihn denn seine
Söhne rächen, und um ihren Mut zu erproben, ruft er zunächst die
beiden jüngsten Söhne, Hernan Diaz und Bermndo Layn. Er faßt sie
an den Händen und drückt sie so heftig, daß sie erschrocken auf die
Kniee fallen und weinend um Gnade flehen. Die Knaben haben nach
Diegos Urteil zu matten Geist, um ihn zu rächen; und er ruft nun
seinen liebsten Sohn, Rodrigo. In den Romanzen erscheint dieser als der
jüngste; der Dramatiker aber mußte hier von der Tradition abweichen,
und um den widrigen Eindruck der Feigheit zu vermeiden, die Brüder
als Knaben hinstellen. Rodrigo ist schon beleidigt, daß er, der älteste,
zuletzt gerufen wird. Auch empört er sich gegen die Behandlung, die
ihm der Vater zu teil werden läßt. Diego ergreift seine Hand und beißt
ihn in den Finger: ..Wärt Ihr nicht mein Vater, gab' ich Euch einen
Backenstreich", ruft Rodrigo außer sich. „Es wäre nicht der erste", ent-
gegnet finster Don Diego und berichtet nun seinem Sohn in fliegenden
Worten, was ihm widerfahren. Er heischt Rache von ihm, obwol der
Beleidiger der Graf Gormaz ist, dessen Tapferkeit bis jetzt niemand zu
widerstehen vermochte.
Allein gelassen, bricht Rodrigo in schmerzliche Klagen aus. Jetzt
erst hören wir von der Liebe des Jünglings zu Dona Ximena. Die Väter
wissen in dem spanischen Drama nichts von der Neigung der Kinder.
Rodrigos Gefühl empört sich bei dem Gedanken, daß er den Vater der
Geliebten bekämpfen, ihn vielleicht töten solle. Aber so groß auch sein
Schmerz ist, er zaudert nur wenige Augenblicke; die Erinnerung an die
Schmach, die sein Vater erlitten, heißt ihn jede andere Rücksicht ver-
gessen. Die Ehre rein zu erhalten, ist die höchste Pflicht, und der kasti-
lische Ritter wäre durch einen Schlag ins Gesicht für immer entehrt,
er und seine ganze Familie, wenn er die Beschimpfung nicht im Blut
des Feindes abwüsche. Rodrigo kennt dies strenge Gebot der Ehre und
beschließt, danach zu handeln. Im dritten Bild sehen wir einen großen
Platz vor dem königlichen Schloß, und nach den vorausgegangenen dra-
matisch belebten Scenen läßt der Dichter in meisterhafter Steigerung des
Interesses einen der bewegtesten und spannendsten Auftritte folgen, die
das Theater überhaupt kennt. An einem Fenster des Palasts zeigen sich
Dona Urraca und Ximena. deren Gedanken bei Rodrigo weilen. Don Gor-
maz und Don Peranzulez, sein Verwandter, kommen in ernstem Zwie-
gespräch über den Platz. Der letztere sucht den stolzen Grafen im Auf-
trag des Königs zu einer Ehrenerklärung für Don Diego zu bewegen,
allein Don Gormaz weigert sich dessen . da solche Sühnversuche dem
Beleidigten die Ehre nicht wiedergeben, wol aber auch noch den Belei-
diger entehren. Unter solchem Gespräch gehen die beiden Männer vor-
über; ihr Gesichtsausdruck, der Eifer ihrer Rede erfüllt die Frauen am
365
Fenster mit Unruhe. Sie ahnen eine unglückliche Verwicklung, und dieser
Eindruck wird noch erhöht, als sie gleich darauf Eodrigo in heftiger
Aufregung erscheinen sehen. Sie rufen ihn an , aber er vermag ihnen
anfangs nicht zu antworten, so groß ist der Sturm der Gedanken, die
sich in ihm bekämpfen. Endlich rafft er sich zusammen und antwortet,
wenn auch zerstreut, mit oinigeu Worten der Galanterie. Bald sieht er
Don Gormaz und Peranzulez zurückkommen, während gleichzeitig der
greise Diego vor die Thüre seiner neben dem Palast gelegenen Wohnung
tritt, um seinen Sohn zu entschiedener That anzufeuern. Es ist ein Mo-
ment größter Spannung. Unter den Augen des racheflehenden Vaters und
der entsetzten Geliebten tritt Rodrigo nun dem Grafen entgegen. Er hält
ihn an und fragt ihn mit gedämpfter Stimme, auf den Vater deutend,
ob er den Greis dort kenne? Auf die hochmütige Antwort des Grafen
folgt die kühne Herausforderung des Jünglings und der Zweikampf. Wäh-
rend Don Diego einerseits durch seine Gegenwart und seine Zurufe den
Sohn anfeuert, Gormaz ihn dagegen mit Fußtritten bedroht, eilt Ximena
in Verzweiflung herbei, um die beiden Streitenden zu trennen. Doch ver-
gebens; Kodrigos Andringen kann der Graf nicht widerstehen, es kommt
zum Kampf und Don Gormaz fällt. Ximena stürzt sich auf ihres Vaters
Leiche; das Gefolge des Grafen, das unterdessen zu Hilfe gekommen ist,
dringt wutentbrannt auf Don Rodrigo ein, und der junge Held wäre ver-
loren, wenn nicht Dona Urraca dem Kampf Einhalt geböte. Es mag
kaum ein Drama geben, das in seiner Exposition klarer und in seinem
Gang dramatischer wäre als dieser erste „Tag" des spanischen Stücks.
Der zweite „Tag", dem Corneille einen großen Teil seines zweiten und
dritten Akts entnahm, der aber mannigfaltiger und bewegter ist als die
französische Bearbeitung, zerfällt wieder in mehrere Bilder. In der ersten
Scene erhält der König die Kunde von dem Tod des Don Gormaz, und
gleich darauf erscheint von der einen Seite Dona Ximena mit einem ins
Blut des Vaters getauchten Taschentuch, um von dem König die Bestra-
fung des Mörders zu erflehen, während von der andern Seite Don Diego
sich naht, seinen Sohn zu verteidigen. Don Diego hat seine Wange mit
dem Blut des Gefallenen gerieben und damit den Schimpf gelöscht; er
kann nun zufrieden sterben und will gern sein Leben lassen, wenn ein
Opfer fallen soll. Der König behält sich seine Entschließung vor und
verfügt einstweilen die Haft Don Diegos, der jedoch in seinem Zögling,
dem Prinzen Don Sancho, einen Fürsprecher und Freund findet. Don
Rodrigo hält sich verborgen, doch nicht aus Furcht. Denn An der näch-
sten Scene bietet er sich Ximenen, die nach Haus gekehrt ist, selbst
als Opfer dar. Ein Wettstreit zwischen den Liebenden, die, um dem
Gebot der Ehre zu genügen, nun als Feinde einander gegenüberstehen,
zeigt die edle Gesinnung der beiden. Rodrigo will von ihrer Hand sterben,
sie aber liebt ihn noch, wenn sie auch ihrer Pflicht genügen und mit
allen Mitteln vom König die Rache für den Tod ihres Vaters verlangen
will. So heißt sie ihn gehen, besorgt, daß man ihn in ihrem Haus sehe,
und ihr Ruf darunter leide. Darauf folgt eine Reihe lebendiger Scenen,
in welchen der spanische Dichter sich von dem Gang der Geschichte
366
des Cid leiten ließ, die aber Corneille nicht benutzen konnte. In einem
wilden Thal trifft Diego seinen Sohn. Er dankt ihm noch einmal in be-
wegten Worten für die Rettung seiner Ehre. Der Alte muß nun wissen,
welches Opfer ihm sein Sohn gebracht hat. aber er berührt diese Wunde
mit keinem Wort, und zeigt hier mehr Takt als Corneilles Diego, der
seinen Sohn über den Verlust der Geliebten mit dem Hinweis auf an-
dere Frauen zu trösten sucht. Don Diego hat erfahren, daß die Mauren
in das Land eingebrochen sind, und er führt seinem Soha 500 Eeisige
zu, an deren Spitze er zum Kampf ausziehen soll.
Eine neue Verwandlung zeigt das Schloß, auf das sich Dona ür-
raca mit ihrer Mutter zurückgezogen hat. Schwermütig sitzt sie auf dem
Balkon und gedenkt Eodrigos. als dieser plötzlich mit seinen Kriegs-
gefährten erscheint. Er trägt auf seinem Helm einen gelben Federbusch
als Zeichen seiner Trauer, und in dem Zwiegespräch, das nun folgt,
zeigt sich die geheime Liebe der Lifantin wie die zartfühlende Zurück-
haltung des Ritters. Dann folgt eine Schlachtscene, in der die Mauren
vor Eodrigos Kraft erliegen, und die letzte Scene führt uns wieder an
den Hof des Königs nach Burgos. Ein Jahr ist seit dem Tod des Grafen
Gormaz verstrichen; Eodrigo kehrt siegreich aus dem Feldzug heim.
Noch hat er die blutige That, wegen der ihn Ximena verfolgte, nicht
gebüßt. Es ist schwer für den König, den siegreichen Helden zu strafen.
Doch Ximena erscheint in Trauergewand vor ihm uud erinnert ihn an
sein Versprechen. Aus ihren Worten klingt zwar ihre Neigung zu Ro-
drigo. aber fest wie früher besteht sie auf ihrer Rache, und der schwache
König schickt Rodrigo in die Verbannung, nachdem er ihn zum Zeichen
seines Danks umarmt hat.
Zwischen dem zweiten und dritten ..Tag" liegt wieder der Zeit-
raum eines ganzen Jahrs. Die Infantin ist an das königliche Hoflager
in Burgos zurückgekehrt, und zu Beginn des dritten „Tags" klagt sie
ihrem Vertrauten, Don Arias, daß sie die Liebe zu Rodrigo noch nicht
aus ihrem Herzen habe bannen können; aber sie erklärt auch, daß sie
im Interesse ihrer Freundin Ximena jede Hoffnung aufgegeben habe. Im
Verlauf des Stücks verkündigt der König, daß er Rodrigo wieder an
seinen Hof zurückrufe. Zum drittenmal erscheint Ximena und fordert
Rache. Der König, von der geheimen Neigung Ximenens unterrichtet,
gestattet, daß ein Bote die falsche Nachricht von Rodrigns Tod bringt.
Es geschieht, was er erwartet ; erschüttert von der Schreckensnachricht,
verrät Ximena ihre Liebe. Als sie jedoch hört, daß man sie getäuscht
hat. flammt ihr Zorn umso heftiger auf. und von der Leidenschaft des
Augenblicks hingerissen, erklärt sie sich bereit, mit ihrer Hand den
Ritter zu belohnen, dem es gelinge. Rodrigo im Einzelkampf zu töten.
Dieser selbst weilt unterdessen fern auf einer Wallfahrt in Galicien. In
einer Scene mystischen Charakters enthüllt er eine neue Seite seines
Wesens. Er trifft auf seinem Zug einen Aussätzigen an, aber während
sich seine Begleiter voll Abscheu von dem Elenden abwenden, pflegt ihn
Rodrigo mit eigener Hand und teilt mit ihm sein Lager und sein Mahl.
Im Schlaf aber verwandelt sich der Kranke : Rodrigo hat keinen Men-
367
sehen gepflegt, sondern St. Lazarus, der ihm nun in verklärter Gestalt
erscheint und ihm seine künftige Größe voraussagt. Nach diese Episode,
die in dem streng religiösen Sinn des spanischen iSTationaldramas ihre
Erklärung findet, führt der Dichter wieder in den königlichen Palast
zurück. Schon lange schwebt ein Streit zwischen den beiden Staaten
Kastilien und Aragon , und ein Krieg erscheint unvermeidlich. Da er-
scheint ein Abgesandter Aragons, der wegen seiner Kraft weithin be-
rühmte, unbesiegte Don Martin Gonzalez, und schlägt vor, den Streit
durch einen Zweikampf zur Entscheidung zu bringen. Er erklärt sich
bereit zum Kampf auf Leben und Tod mit jedem Eitter, den ihm der
kastilische Adel entgegenstellen werde. Aus der ganzen Schar der kasti-
lischen Eitterschaft wagt es indessen keiner, die Herausforderung an-
zunehmen: schon will der König den Vorschlag als unpassend zurück-
weisen, als Eodrigo, aus Galicien heimkehrend, erscheint und alsbald den
Übermut des Feindes zu strafen unternimmt. Martin Gonzalez hofft nun.
nicht nur seinem Lande den Sieg zu bringen, sondern auch Ximena für
sich selbst zu gewinnen. Eine trübe Stimmung lagert über dem kastili-
schen Hof. Der König denkt an sein Testament, und Ximena sucht eine
Stütze bei ihrer Freundin Dona Urraca, der sie ihre Verzweiflung ge-
steht. Zu stolz jedoch, der Welt ihr Gefühl zu zeigen, kleidet sie sich
in ein Festgewand und versucht, heiter zu erscheinen, während der Zwei-
kampf zwischen Eodrigo und Gonzalez über ihr Schicksal entscheidet.
Plötzlich kommt die Nachricht, daß ein Eitter mit dem Kopf Eodrigos
nahe, und Ximena läßt nun ihrer verhaltenen Leidenschaft freien Lauf.
Ja, sie hat Eodrigo heiß geliebt und erfleht vom König jetzt nur die
eine Gnade, er möge sie retten vor der verhaßten Verbindung mit dem
Fremden. Diese aufregende Scene unterbricht Eodrigo, der als Sieger
aus dem Zweikampf hervorgegangen ist und dessen Bote durch ein miß-
verstandenes Wort die Kunde von seinem Tod verbreitet hat.
Ximena giebt nun jeden längeren Widerstand auf und willigt in
die Verbindung mit Eodrigo, nachdem sie fast drei Jahre lang mit sich
und der Welt gekämpft hat, um den Manen ihres Vaters durch blutige
Eache gerecht zu werden.
Man hat einmal behauptet, es gebe, genau betrachtet, nur eine
sehr geringe Anzahl tragischer Stoffe; es seien immer dieselben großen
Probleme, die gleichen tragischen Konflikte, welche in den dramatischen
Dichtungen aller Zeiten und alier Völker behandelt würden. Mag dieses
Wort auch paradox erscheinen, so ist es doch insofern richtig, als die
Tragödie sich mit der Darstellung des Menschen befaßt und der Mensch
immer durch dieselben Leidenschaften zur tragischen Schuld getrieben
wird. Es sind stets die gleichen Kämpfe, die er mit sich und der Welt
zu bestehen hat. Aber diese wenigen Probleme — der Kampf des Ehr-
geizes mit der Pflicht, der Liebe mit der Ehre und wie sie sonst noch
heißen mögen — zeigen sich in den wechselnden Erscheinungen des
menschlichen Lebens, in dem Wirbel der einander bekämpfenden An-
sichten und Gefühle unter so mannigfaltiger Form, daß sie immer neu
erscheinen und daß eine jede Epoche dieselbe in anderer Weise beurteilt.
Der wahre Dichter wird solche Fragen im Geist seines Jahrhunderts
und dem Charakter seines Volkes gemäß behandeln. Er wird auf diese
Weise das, was seine Zeitgenossen im Innersten bewegte, in lebendiger
Form zum Ausdruck bringen und es, von der Dichtung verklärt, den
späteren Jahrhunderten überliefern.
Die Geschichte des Cid enthält gewiß ein solches Problem ; sie
stellt eine Aufgabe, die den Dichter reizen muß. In Spanien erwachsen,
mußte diese Sage dort vor allem ihren nationalen Charakter bewahren.
Wie aber, fragen wir weiter, hatte sich Corneille dem fremden Werk
gegenüber zu verhalten? Wie mußte er vorgehen, um aus dem spani-
schen Drama eine Originaldichtung zu schaffen, welche dem Sinn und
dem Wesen des französischen Volkes entsprach? Denn daß der Cid des
Corneille trotz des spanischen Vorbilds eine selbständige Arbeit ist,
darüber besteht wol kein Zweifel.
Zwei Hauptschwierigkeiten stellten sich dem französischen Dichter
dabei entgegen: der nationale Charakter des spanischen Dramas und die
Freiheit, deren sich die spanische Bühne erfreute. Castros Schauspiel
feiert vor allem den Xationalhelden und dessen vielbesungene Thaten.
Darum folgte auf dieses erste Stück, das die Jugend des Cid behan-
delte, ein zweites, welches die Thaten des zum Mann gereiften Helden
verherrlichte. Der spanische Dichter hielt sich an die Geschichte und
gab, wie Shakespeare in seinen Historien, eine Art dramatisierter Chronik.
Je vertrauter das Publikum mit den Begebenheiten war, die man ihm
auf der Bühne zeigte, umso höher stieg sein Anteil und sein Wohl-
gefallen daran. Ganz anders gestaltete sich die Aufgabe für Corneille.
Wol blieb der Cid der spanische Held, aber es galt doch den einsei-
tigen, national-spanischen Charakter der Sage abzuschwächen und dafür
das allgemein menschliche Interesse, das sich in dem Verhältnis Ko-
drigos zu Chimene lindet, mehr zu betonen. Schon deshalb mußte Cor-
neille die Handlung vereinfachen. Die Fülle der Begebenheiten mit den
kleinen episodischen Scenen, welche für das spanische Publikum einen
besonderen Reiz hatten, mußte weichen und das Hauptgewicht in dem
neuen Drama auf den Zwiespalt fallen, der sich zwischen den Geboten
der Ehre und der Liebe ergab. Corneille suchte vor allem den Wider-
streit der Pflichten zu schildern und eine befriedigende Lösung zu finden.
So erhält seine Dichtung einen allgemeineren, humaneren Gehalt. Wie
Castro die Wildheit der Chronik in seinem Drama gemildert und den
alten Vorkämpfern der Christenheit gegen die Mauren ritterlichen Geist
eingehaucht hatte, so wußte Corneille seinerseits manche Erinnerung an
das barbarische Mittelalter, die sich noch im spanischen Drama fand, zu
bannen und seine Dichtung im Sinn der neuen Zeit umzuwandeln. Sein
Cid wurde zum Träger der Anschauungen des 17. Jahrhunderts, und
die Ideale von Ehre und Liebe, welche sich jene Epoche gebildet, fanden
in ihm den beredtesten und hinreißendsten Ausdruck. Es war dies frei-
lich umso leichter, als diese Ideen selbst ihren Weg aus Spanien nach
Frankreich gefunden hatten.
369
Größer noch waren die Schwierigkeiten, welche Corneille bei dem
Bau seines „Cid" fand, da das französische Drama in seiner Form be-
reits einen entschiedenen Gegensatz gegen die Beweglichkeit der Spanier
aufwies. Wir haben schon gesehen, daß die französische Bühne den Weg
zur einfachen, stilvollen, ideal gehaltenen Tragödie eingeschlagen hatte,
und Corneille war zu sehr der Sohn seines Volkes und seiner Zeit, als
daß er gegen diese Entwicklung hätte ankämpfen wollen. Als er seine
„Melite" verfaßte, hatte er noch nichts von den dramatischen Kegeln
gewußt, welche Einheit des Orts, der Zeit und der Handlung vorschrieben.
Er hatte sich einfach an Hardy, als seinen Lehrmeister, gebalten. Seit
er aber von dieser neuen Theorie der Komposition gehört hatte, war er
bemüht, ihr so viel als möglich gerecht zu werden. Die Rücksicht auf
die Regeln beschäftigte ihn ernstlich bei seinen folgenden Lustspielen,
wie wir aus den Vorreden ersehen, mit denen er dieselben begleitete.
In seiner „Suivante" fügte er sich sogar allen Forderungen in Bezug
auf die drei Einheiten. Er hebt hervor, daß er den Zusammenhang der
einzelnen Scenen bewahrt und jedem Akt die gleiche Zahl von Versen
(340) gegeben habe. Er befolgte dabei den Grundsatz, daß man zunächst
streben müsse, dem Publikum zu gefallen, dann aber auch die Gelehrten
zu befriedigen. Bei alledem betonte er seine Freiheit.^)
Als Corneille das spanische Drama zu bearbeiten unternahm, konnte
es ihm nicht in den Sinn kommen, die Ungebundenheit seines Vorbilds
zu bewahren. Es war nur natürlich, daß er sein Stück in jeder Weise
vereinfachte. Er erlaubte sich zwar die Scene zu wechseln, aber er be-
wahrte dabei doch die Einheit des Orts. Guillen de Castros Drama spielt
bald in Burgos, bald im Okagebirge, bald in Galicien. Corneille ver-
legte den Schauplatz aller Begebenheiten nach Sevilla, so viel Schwierig-
keiten ihm auch aus dieser Anordnung erwachsen mochten. Die Ent-
wicklung, welche im spanischen Drama den Zeitraum von nahezu drei
Jahren umfaßt, wird in der französischen Dichtung auf die kurze Spanne
von 24 Stunden zusammengedrängt. Corneille wollte die Wahrscheinlich-
keit seiner Dichtung erhöhen, indem er die Einheit der Zeit festhielt,
und bedachte nicht, daß er sie gerade dadurch bedenklich gefährdete.
Ebenso zurückhaltend zeigt er sich in der Vorführung der Begeben-
heiten. Allerdings läßt er den Grafen Don Gormaz noch auf offener Bühne
die Hand gegen Don Diego heben, aber alle anderen Vorfälle, an welchen
das Stück so reich ist, werden nur von Augenzeugen berichtet. Auch in
diesem Punkt ist er weiter gegangen als sein Vorbild, und hat sich
genötigt gesehen, die Zahl der steifen „Vertrauten" zu vermehren.^) Kein
1) Vergl. das Lustspiel „La suivante", Epitre dedicatoire (edition Marty-
Laveaux, II, p. 119): „Ce n'est pas que je me sois assujetti depuis aux memes
rigueurs. J'aime ä suivre las regles; mais lein de me rendre leur esclave, je les
elargis et resserre seien le besoin... et je romps meme saus scrupule celle qui
regarde la duree de raction, quand sa s^verite me semble absoluraent incom-
patible avec la beaute des evenements que je decris."
-) Auch die späteren Ausgaben des „Cid" zeigen Corneilles Bestreben
nach Vereinfachung des dramatischen Gangs. Während in der ursprünglichen
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratur. 24
370
Zweifel, indem Corneille seinen „Cid" in dieser Weise bearbeitete, raubte
er ihm manchen lebendigen Zug, manches Element der Größe. Aber er
gab ihm auch größere Einheit, gleichmäßigeren Stil, er prägte ihm den
französischen Charakter auf. Seine Dichtung atmete noch den ritterlich-
enthusiastischen Geist des spanischen Originals, aber sie zeigte ihn ver-
feinert, der neuen Zeit angepaßt und über den engen nationalen Stand-
punkt emporgehoben.
Ganz besonders deutlich aber ist doch der Fortschritt, den Cor-
neille in der Kunst der Komposition und in der Sprache gemacht hatte.
Gleich die Exposition ist, wenn auch nicht so farbenreich wie bei Castro,
doch klar und dramatisch wirksam. In dem spanischen Drama fällt das
Hauptgewicht auf die Pflicht der Rache und das Ehrgefühl wird vor
allem betont; erst in zweiter Reihe handelt es sich um die Liebe des
jugendlichen Paars. Bei Corneille fällt von Anfang an mehr Gewicht auf
die Neigung, welche Rodrigo und Chimene zu einander hegen und die
von den Vätern begünstigt wird. Die Liebenden sehen ihre Wünsche
der Erfüllung nahe; umso ergreifender wirkt dann die plötzliche Wen-
dung, und umso rührender erscheint die spätere Entsagung.
Die drei ersten Aufzüge sind, gleich dem spanischen Stück, lebendig
im Gang und von höchster Spannung. Das Problem, dessen Lösung ge-
sucht werden soll, erregt unsere Teilnahme und die handelnden Personen
sind mit treffender Charakteristik gezeichnet. Welchen Portschritt zeigt
der „Cid" in dieser Beziehung gegen die Marionetten der gleichzeitigen
französischen Tragödie! Auch in der Zeichnung der einzelnen Personen
hat sich Corneille keineswegs ängstlich an sein Vorbild gehalten. Der
stolze Don Gormaz, der vorsichtige Don Diego erscheinen anders bei
ihm als bei Castro, selbst Rodrigo und Chimene sind von anderem Geist
beseelt. Corneille hat es verstanden, die Aufmerksamkeit der Zuschauer
auf seinen Helden zu lenken und für ihn einzunehmen, bevor er sich
nur auf der Bühne zeigt. Wir kennen ihn schon, denn Graf Gormaz
trägt Sorge, das Lob des jungen Ritters zu verkünden. Er sagt:
Vor allem zeigen Don ßodrigos Züge
Das edle Abbild eines wahren Helden.
Er stammt aus einem Haus, so reich an Kriegern,
DaJi ihre Wiege schon der Lorbeer kränzt.
Des Vaters Heldenmut war wunderbar
Und unerreicht, solang sein Arm noch kräftig.
Die Furchen seiner Stirn erzählen uns
Noch jetzt die Größe seiner Kriegesthaten
Und künden laut, was er einstmals gewesen.
Was ich vom Vater sah, hoff ich vom Sohn
Und es gefällt mir, liebt ihn meine Tochter. ^)
Form der erste Akt damit beginnt, daß der Graf sich billigend über die Be-
werbung Eodrigos äußert und von seiner Hoifnung, Gouverneur des Prinzen
zu werden, spricht, muß in der späteren Redaktion Elvire, Chimenens Ver-
traute, von ihrer Unterredung mit dem Grafen über diese Funkte nur berichten.
1) „Le Cid", I, 1, v. 29 ff.
371
Der dritte Akt bringt den Höhepunkt der Verwicklung, ' den Kampf
der Liebenden gegen einander und mit sich selbst. Chimene erklärt ihrer
Vertrauten, Elvira, daß sie trotz ihres Vaters Tod noch zu Rodrigo wie
zu einer Gottheit aufblicke,^) aber sie zögert doch keinen Augenblick,
zu thun, was sie als ihre Pflicht ansieht. Sie ist entschlossen, bis zum
äußersten zu gehen :
Ich muß mich rächen, also will's die Ehre,
Dann werd' auch ich, mein Leid zu enden, sterben. 2)
Sie kann Rodrigo nicht tadeln, daß er ihren Vater getötet, denn
auch er folgte dem Gebot der Ehre. Die modernen Begriffe von der
Ehre haben sich freilich geändert, und wenn der Zweikampf auch noch
nicht ganz aus den Sitten der heutigen Zeit geschwunden ist, würde in
unseren Tagen ein Dichter Ghimenens Pflicht anders aufzufassen haben.
So bleibt das Thema zwar immer dasselbe, aber die Behandlung ändert
sich mit den Zeiten.
Corneille stellt die Liebenden einander gegenüber; Rodrigo bietet
sich als Opfer dar. Er reicht Chimenen das Schwert, auf daß sie seine
Brust durchbohre, ihrer Rachepflicht genüge und sein unglückliches Da-
sein ende. Chimene weigert sich dieser That, sie will keine Mörderin
sein, sie will in offenem Gericht vom König Genugthuung für ihres
Vaters Tod erlangen. Mit seiner scharfen Dialektik und seiner Freude an
schroffen Gegensätzen verschärft Corneille noch die Bitterkeit und Un-
natur dieses Verhältnisses. Er steigert den Heroismus zu einem Punkt,
daß er unwahr zu werden droht.
— — — — Da Du so schwer mich schlugst —
ruft Chimene :
Hast Du bewiesen, daß Du meiner wert,
Nun zeig' ich mich Dein wert durch Deinen Tod.^)
Die merkwürdige Scene schließt mit wechselseitigen Klagen über
die Nichtigkeit des Glücks, und die zeitweilig hervortretende sanftere
Stimmung Chimenens läßt uns ahnen, daß eine Versöhnung früher oder
später möglich wird. Wenn dann im vierten Akt Rodrigo als Besieger
der Mauren und Retter seines Fürsten ruhmgekrönt heimkehrt, schwindet
jede Besorgnis um sein Los. Trotz aller Bemühungen Chimenens er-
scheint uns sein Leben nicht mehr gefährdet. Die beiden letzten Akte
1) Vergl. „Le Cid", III, 3, v. 18:
C'est peu de dire aimer, Elvire: Je l'adore.
^) „Le Cid", III, 3, 50:
II y va de ma gloire, il faut que je me venge.
Pour conserver ma gloire et finir mon ennui,
Le poursuivre, le perdre et mourir apres lui.
3) „Le Cid", III, 4, 83:
Tu t'es, en m'offensant, montre digne de moi;
Je me dois, par ta raort, montrer digne te toi.
372
sind deshalb nicht mehr von demselben dramatischen Interesse. Sie sind
trotz großer Schönheiten im einzelnen zu lang und zu spitzfindig ge-
halten. In einem Anfall von Verzweiflung fordert Chimene zum Zwei-
kampf gegen Rodrigo auf und erklärt sich selbst als Preis für den Sieger.
Als aber die Entscheidung naht und Rodrigo seine Absicht erklärt, sich
töten zu lassen, verzweifelt sie. Ihr Gefühl verrät sich ; sie fleht ihn an,
er möge sie vor einer verhaßten Ehe schützen, und erfüllt ihn durch
ein Wort, das ihr entschlüpft, mit neuem Lebensmut:
Kehr siegreich heim aus diesem Kampf, Rodrigo,
Der Preis des Siegers ist Chimenens Hand.i)
Nach dieser Bitte enteilt sie. Rodrigo aber bricht in lauten Jubel
aus und ruft die begeisterten Worte:
Wo war' ein Feind, der jetzt mir widerstände?
Heran, ihr Mauren und ihr Navarresen,
Ihr Helden alle des hispan'schen Landes,
Vereinigt Eure Scharen wider mich,
Mein Arm ist nun zu jedem Kampf gefeit.
Zu hoch ist meine Hoffnung nun gestiegen.
Ihr seid zu schwach, mich ferner zu gefährden. 2)
In der That ist der Ausgang nicht mehr zweifelhaft. Die Versöh-
nung und Ehe zwischen Rodrigo und Chimene erscheint nur noch als
eine Frage der Zeit. Wir wissen, daß der König Recht hat, wenn er
zum Schluß sagt:
— — — Verschwinden wird
Der Widerstand, den ihre Ehr' erfordert.
Vertrau' der Zeit, vertraue Deinem Ruhm
Und Deinem König I^)
In den letzten Tagen des Monats November 1636 war eine große
Vorstellung im Theätre du Marals. Mondory, Corneilles Freund seit dessen
ersten dramatischen Versuchen, hatte den ,Cid" zur Aufführung an-
genommen und, hingerissen von der Schönheit der Dichtung, alles auf-
geboten, um ihren Erfolg zu sichern. Neue Dekorationen und glänzende
Kostüme erhöhten den Reiz des Schauspiels. Mondory selbst gab den
„Cid", Mademoiselle Villiers die Chimene,^) und es heißt, die Schau-
1) „Le Cid«, V, 1, 92:
Sors vainqueur d'un combat, dont Chimene est le prix.
2) „Le Cid", V, 1, 94:
Est-il quelque ennemi qu'ä present je ne dompteV
Paroissez, Navarrois, Maures et CastiUans.
Et tout ce que l'Espagne a nourri de vaillants;
Unissez-vous ensemble, et faites une armee,
Pour combattre une main de la sorte animee.
Joignez tous vos efforts contre un espoir si doux;
Pour en venir ä bout, c'est trop peu que de vous.
3) „Le Cid", V, 7, 67:
Pour vaincre un point d'honneur qui combat contre toi
Laisse faire le temps, ta vaillance, et ton roi.
*) Die Bezeichnung „Mademoiselle" wurde bekanntlich aucli für verhei-
ratete Damen gebraucht. Sie bezeichnete die bürgerliche Abkunft.
373
Spieler hätten sich selbst übertroffen. Es war ein glänzender, beispiel-
loser Erfolg. Der „Cid" wirkte mit der Macht einer Offenbarung, die
eine neue dramatische Kunst enthüllte. Die feinste Gesellschaft drängte
sich in das Theater und die vornehmsten Herren begnügten sich mit
bescheidenen Plätzen in der Ecke, um nur den Zauber der Coi-neiile'schen
Verse auf sich wirken zu lassen. Der „Cid" bildete lange Zeit den
Gegenstand jeder Unterhaltung, man citierte ihn, die Kinder lernten die
schönsten Stellen auswendig und ,. Schön wie der Cid" war bald ein viel
gebrauchtes Sprichwort.^) Von der Hauptstadt ging das Stück in die
Provinz und in das Repertoire einer jeden fahrenden Truppe.
In den Briefen der Marquise de Sevigne finden wir noch an vielen
Stellen einen Nachklang dieser Begeisterung. Corneille erinnerte sie an
ihre Jugend^ da sie noch schwärmte und der „Cid" ihr als das Ideal
der ritterlichen Größe erschien. Viele Jahre später meldet sie ihrer
Tochter, daß sie einige Stücke Corneilles wieder gelesen und noch immer
dieselbe Bewunderung für den Dichter hege. „Mein alter lieber Corneille
soll leben!" ruft sie ein andermal und gesteht, daß sie immer noch gern
von Kämpfen und heroischen Thaten liest.-)
Das Geheimnis des außerordentlichen Erfolgs, den der „Cid" er-
rang, birgt sich in der Thatsache, daß kein anderes Stück des ganzen
Jahrhunderts den Geist und den Charakter der Zeit so vollständig zum
Ausdruck gebracht hat, wie gerade der „Cid''. Was das französische
Volk in jenen Jahren fühlte und ahnend voraussah, das Bewußtsein der
Stärke und die Größe der kommenden Zeit, das findet sich in Corneilles
Drama ausgesprochen. Die Epoche des inneren Friedens und der äußeren
Erfolge gab den Franzosen den Schwung jugendlicher Kraft, und in
gleicher Weise geht durch den „Cid" ein Hauch der Begeisterung, des
Edelmuts, der ritterlichen Hingabe. In ihm lebt das Feuer der Jugend;
1) Mondory berichtete im Januar 1637 in einem Brief an Balzac: „On
a vu seoir en corps aux bancs de ses loges ceux qu'on ne voit d'ordinaire que
dans la Chambre doree ou sur le siege des fleurs de lis. La foule a ete si grande
ä nos portes, et notre lieu s'est trouve si petit, que les recoins de theätre qui
servoient les autres fois comme de niche aux pages, ont ete des places de faveur
pour les cordons bleus, et la scene y a ete d'ordinaire paree de croix de Cheva-
lier de Tordre." — Pellisson erzählt in seiner „Histoire de l'academie" : „II est
malaise de s'imaginer avec quelle approbation cette piece fut re^ue de la cour
et du public. On ne pouvait se lasser de la voir, on n'entendait autre chose
dans les compagnies, chacun en savait quelque partie par coeur, on la faisait
apprendre aux enfants, et en plusieurs endroits de la France il etait passe en
proverbe de dire: cela est beau comme le Cid".
-) Brief vom 23. Mai 1671: „Nous avons relu des pieces de Corneille, et
repasse avec plaisir sur toutes nos vieilles admirations". — Brief vom 9. Mäi'z
1672: „A propos de comedie, voilä „Bajazet". Si je pouvois vous envoyer la
Champmesle, vous trouveriez cette comedie belle; mais sans eile, eile perd la
moitie de ses attraits. Je suis folle de Corneille; il nous redonnera encore Pul-
cheiie, oü l'on verra encore:
La main qui crayonna
La mort du grand Pompee et l'amour de Cinna.
II faut que tout cede ä son genie." — Derlei Stellen über Corneille könnte man
viele anführen.
374
wie arm erscheint neben ihm die Poesie der vorausgegangenen fünfzig
Jahre; wie greisenhaft erscheint Malherbe neben dem männlichen feu-
rigen Corneille. Was die feine Gesellschaft damals als Ideal verehrte,
eine romantische Ritterlichkeit in dem Gewand moderner Galanterie, das
fand sie hier verkörpert. Corneilles Dichtung sprühte von Jugendkraft
und Jugendmut, sie appellierte an das Herz, an die stürmischen Gefühle
der Jugend, und war jedem verständlich, selbst wenn er den Codex der
ßitterwelt nicht kannte. Den Zauber zu erhöhen, mit dem er die Herzen
gewann, hatte Corneille eine Sprache gefunden, so hinreißend, wohl-
lautend und kräftig, wie sie in Frankreich noch nicht gehört worden
war. Weich genug, um jede Schattierung des Gefühls auszudrücken, trug
sie einen heroischen Charakter und das Gepräge der Kraft. So wurde
der „Cid" die volkstümlichste Dichtung des ganzen klassischen Jahr-
hunderts. Und volkstümlich ist er geblieben bis zum heutigen Tag. Er
ist so echt national, daß er noch heute in Frankreich bei der Auffüh-
rung die Zuschauer zu begeistern vermag, während im Ausland jeder
Versuch, ihn neuerdings zur Darstellung zu bringen, mißlungen ist.^)
Werke, die der lebendige Ausdruck ihrer Zeit sind, müssen auch
die Fehler dieser Zeit aufweisen, und der „Cid" trägt sie deutlich er-
kennbar zur Schau. Corneille war nicht frei von der Sucht nach Pointen
und nahm dieselben umso leichter auf, als er sie auch in seinem spa-
nischen Vorbild fand. Die auffallendsten Pointen sind geradezu aus dem
Spanischen übersetzt.-) Dem Geschmack seiner Zeit entsprechend, ver-
fällt Corneille öfters in eine gesuchte Redeweise. Er gefällt sich dann
in gekünstelter Empfindung und liebt es, in Momenten der Leidenschaft
spitzfindige Disputationen anzubringen. Daß sein Drama auch durch die
strenge Beobachtung der drei Einheiten verliert, ist schon bemerkt worden,
und mit dieser Schwäche hängt es zusammen, daß sich die Rolle der
Infantin so nichtssagend gestaltet.^) Und doch verschwinden diese Fehler
1) Bekannt ist Napoleons Vorliebe für Corneille, dessen „Cid" er sich
1806 in St. Cloud spielen ließ. Ebenso wird erzählt, daß er ihn in der Nacht,
die der Schlacht bei Austerlitz voranging, gelesen habe.
-) Vergl. die Klage Chimenens über den Tod ihres Vaters, wo sie von
dem Blut spricht, das vor Zorn rauche, nicht für seinen König vergossen worden
zu sein (II, 8, v. 17):
Ce sang qui tout sorti, fume encor de courroux
De se voir repandu pour d'autres que pour vous.
oder den Vers (III, 3, 8), wo Chimene jammert:
La moitie de ma vie a mis l'autre au tombeau . . .
was heißen soll, daß Rodrigo (die eine Hälfte ihres Lebens) ihren Vater (die
andere Hälfte) getötet habe. Für diesen Vers fand Corneille das Vorbild bei
Castro :
La mitad de mi vida
Ha muerto la otra mitad.
Weitere Beispiele dieser Art kann man leicht finden.
^) Im Jahr 1734 erschien in Amsterdam ein Buch, das mehrere bekannte
Tragödien in einer Bearbeitung enthielt. Der Verfasser hatte sich nicht genannt,
man glaubte jedoch, Jean Baptiste Rousseau in der Arbeit zu erkennen. Unter
375
alle vor dem gewaltigen Eindruck, den die Dichtung als Ganzes hervor-
bringt. In ihr fand die französische Tragödie ihre erste feste Gestalt,
wie sie sich zwei Jahrhunderte lang behaupten sollte. So eröffnet der
„Cid" in Wahrheit die Epoche der klassischen Litteratur in Frankreich.
Wie Schillers „Don Carlos" die Gährung in den Geistern der deutschen
Jugend, wie seine „Jungfrau" und sein „Teil" das Wiedererwachon der
nationalen Gesinnung in Deutschland erkennen lassen, obwol diese Dra-
men nur Episoden einer fremden Geschichte behandeln, so spiegelt sich
auch im „Cid" das französische Volk, wie es in der ersten Hälfte des
17. Jahrhunderts dachte und fühlte, so zeigt der „Cid" ganz besonders
das Bild des stürmischen, seiner Unabhängigkeit noch bewußten, fran-
zösischen Adels, bevor derselbe in dem letzten Versuch, sich frei zu er-
halten, für immer unterlag.
diesen Bearbeitungen findet sich neben Tristans „Mariamne', dem „Don Japhet"
des Scarron und dem „Florentin" des La Fontaine auch der „Cid". Darin war
die Eolle der Infantin und ihres Vertrauten gestrichen und neben anderen Än-
derungen auch der Schluß dahin umgeformt, daß Rodrigo nicht auf die Zu
kunft vertröstet wird, sondern sogleich die Hand Chimenens erhält. Der König
schheßt das Stück mit den Versen:
„Approche-toi, Eodrigue, et toi reyois, ma fille.
De la main de ton roi l'appui de la Castille."
Durch diese harten, unglücklichen Verse wird das Übel noch verschärft,
über das man besonders Klage führte. Dennoch wurde das Schauspiel in dieser
Form für die Bühne angenommen, da es den Gang der Handlung beschleunigt.
Auch Mlle. Rachel, welche im Jahr 1842 den „Cid" wieder zur Aufführung
brachte und die Rolle der Chimene spielte, behielt noch diese Bearbeitung bei,
und erst in neuerer Zeit hat man das Drama in seiner alten, richtigen Form
zur Darstellung gebracht. — Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß
Voltaire und nach ihm Laharpe die Behauptung aufstellten, daß Corneille weniger
de Castro als das Stück eines andern spanischen Dramatikers, Diamante („El
honrador de su padre"), nachgeahmt habe. Die neueren Untersuchungen haben
bewiesen, daß Diamantes Stück erst 1658 in Madrid erschien und eine Nach-
bildung der Corneille'schen Dichtung war. Wir haben also nicht weiter darauf
einzugehen. Vergl. Hyppol. Lucas, Documents relatifs ä l'histoire du Cid (Paris
1860, Alvares); Schack, Geschichte des spanischen Theaters, Bd. III, und Cor-
neille (ed. Marty-Laveaux), Bd. III, S. 4 und 238.
TL
Der Streit über den .,Cid".
Wenn Corneille schon vor dem ^Cid" als einer der
Dichter galt, so hob ihn der außerordentliche Erfolg dieses Dramas mit
einem Mal über die Schar der anderen Dramatiker hoch empor. Er sah
sich von der Begeisterung der gebildeten Kreise getragen, von dem
Sonnenglanz plötzlich erworbenen Ruhms bestrahlt.
Der Beifall war zu groß, zu allgemein, der Sieg zu plötzlich, als
daß Neider und Gegner alsbald zum Wort hätten kommen können, Sie
fehlten Corneille nicht, aber sie waren eine Zeit lang völlig verblüfft
und stumm. Sie mußten sich erst zurechtfinden , bevor sie ihre Kritik
üben konnten, und so lange mochte sich Corneille ungestört seines Siegs
erfreuen. Xeue Entwürfe beschäftigten seinen Geist, und er plante Dra-
men, die seinen Euhm noch höher tragen sollten. Der Gedanke, die
Kämpfe der Horatier und Kuriatier dramatisch zu behandeln, war ihm
schon damals vertraut. Mußte er sich nicht zu neuer Dichtung angespornt
fühlen, wenn er sah, wie mächtig er auf das Volk einwirkte, wie günstig
auch der Hof und der hohe Adel sich ihm erwiesen? Der „Cid" wurde
dreimal binnen kurzer Zeit im Louvre aufgeführt. Die Königin Anna,
die als spanische Tnfantin nie ganz heimisch in Frankreich wurde, fand
an Corneilles Drama ein besonderes Gefallen. Von ihrem Gemahl ver-
nachlässigt, von der antispanischen Politik Richelieus verletzt, freute sie
sich doppelt der Dichtung, die einen spanischen Helden pries und ihr
als eine Huldigung für Spanien erschien, Sie mochte sich für Augen-
blicke in ihre Heimat zurückversetzt wähnen , und ihrem Einfluß darf
man es wol auch zuschreiben, wenn der König wenige Monate nach
dem Erscheinen des „Cid", um den Sohn zu belohnen, der früheren
treuen Dienste des Vaters gedachte und ihn in den Adelsstand erhob.')
Anders freilich als im Kreise der Königin und im großen Publi-
kum dachte man im Palais Cardinal. Richelieu war Corneille schon von
1) Das Adelsdiplom ist vom 24. März 1637 datiert. Der Vater Corneilles
hatte seit 17 Jahren sein Amt aufgegeben. Daß der Dichter in dieser Standes-
erböhung eine Belohnung für sich sah. sagt er in einem späteren Gedicht,
„Sonnet au Roy" (1657, Oeuvres X, n^ XLIV, p. 135):
La noblesse, grand roi, manquoit ä ma naissance;
Ton pere en a daigne gratifier mes vers.
37'
früher her gram. Er zürnte dem Dichter, der sich seiner Leitung ent-
zogen hatte und dessen Triumph auf der Bühne ihm wie eine trotzige
Herausforderung erscheinen mochte. Die Berichte der Zeitgenossen sagen
geradezu, der Kardinal sei eifersüchtig gewesen.^) Seine Verstimmung
wurde nicht gehoben, als im Februar 1637 der Kardinal in seinem
Palast das zweite Lustspiel der „fünf Autoren", den „Blinden von
Smyrna", aufführen ließ. Das Stück fand nicht den gehofften Beifall,
obwol es vor einer geladenen Gesellschaft dargestellt wurde, und es ge-
lang ihm nicht, den Ruhm des „Cid" zu verdunkeln.
Kein Zweifel, Richelieu sah den Dichter des „Cid" mit ungünstigem
Auge, allein man würde ihm unrecht thun, wollte man den Grund dieser
Abneigung nur in niedrigem litterarischen Neid suchen. Er ließ den
„Cid" auf seiner eigenen Bühne aufführen, und wenn er sich dann an
einer Parodie desselben, die Boisrobert verfaßt hatte, ergötzte, so können
wir darin noch keinen Beweis für seine Eifersucht erblicken.^) Es ist
fraglich, ob Richelieu einen Feldzug gegen Corneille unternommen hätte,
wenn ihn nur litterarische und persönliche Abneigung beseelt hätte. Aber
es kamen politische Gründe hinzu, welche ihn veranlaßten, gegen das
Stück aufzutreten. Je mehr die Königin den „Cid" begünstigte, weil sie
ihn von spanischem Geist beseelt fand, umso widerwärtiger mußte er
dem Kardinal werden, der die spanische Partei bekämpfte. Das erneute
Vordringen spanischen Einflusses in der Litteratur konnte unter Um-
ständen auch der Politik eine andere Richtung geben. Zudem erblickte
Richelieu in dem „Cid" einen trotzigen Protest gegen seine Gesetzgebung;
ein Kokettieren mit der unruhigen Adelspartei, welche nur mühsam im
Gehorsam gegen den Staat gehalten wurde. Die Dueilwut kostete alljähr-
lich Hunderte von Opfern.^) Vergebens hatten die Könige (seit Hein-
rich IV.) strenge Verordnungen gegen dieses Unwesen erlassen, ver-
gebens die Duellanten mit dem Tod bedroht und einige auch hinrichten
lassen ; es war nicht gelungen , der Unsitte zu steuern , und nun bot
sich in dem „Cid" ein Drama, das sich um ein Duell drehte und in
welchem der Zweikampf als Ehrensache dargestellt wurde. Der König
verlangte darin, daß Don Gormaz die Ehre des von ihm schwer belei-
1) Vergl. Tallemant des Reaux, Historiettes (Boisrobert), II, 163; Pellisson,
Histoire de l'Academie, p. 87.
2) Tallemant erzählt an der angegebenen Stella, daß die bekannte Scene
des „Cid" (I, 5) zwischen Don Diego und Don Rodrigo:
Don Diegue :
Eodrigue, as-tu du coeurV
Don Rodrigue:
Tout autre que mon pere,
L'eprouveroit sur l'heure...
von dem Parodisten dahin abgeändert wurde, daß auf des Vaters Frage: „Eo-
drigue, as-tu coeur?" der Sohn antwortete: „Je n'ai que du carreau".
3) Vergl. was S. 32 und S. 2G7 über die Duellwut gesagt ist.
378
digten Don Diego durch eine offene Ei-klärung wiederherstelle, der stolze
Graf aber entgegnete dem Abgesandten des Königs:
Entschuldigungen führen nicht zum Frieden.
Der sie empfängt, hat nichts, und der sie giebt,
Erniedrigt sich, so daß durch solche Sühne
Statt eines Mannes zwei geschädigt werden
In ihrer Ehre.i)
Die Verse sind aus dem spanischen Stück übertragen und Cor-
neille hatte bei seiner Arbeit wol kaum bedacht, welchen Unwillen er
damit erregen würde; aber daß die Stelle großen Anstoß gab, ist nicht
zu bezweifeln. Schon in der ersten Ausgabe strich sie der Dichter. Ähn-
liche Verse, die er nicht weglassen konnte, finden sich jedoch durch
das ganze Werk zerstreut. So betont Chimene einmal, daß ihre Ehre
blutige Eache heische ; -) ebenso sagt Diego seinem Sohn ßodrigo, eine
Beleidigung, wie er sie empfangen, könne nur durch Blut abgewaschen
werden, und er entläßt ihn mit dem finsteren Wort: Stirb oder töte.^)
Aber nicht genug, daß der „Cid" den Zweikampf verherrlicht; er
schildert auch in dem Grafen Gormaz den Trotz der Großen, welche die
Eebellion gegen die Krone als ein Recht betrachten. Don Gormaz scheut
sich nicht zu sagen :
Wenn's gilt, die Ehre fleckenlos zu wahren,
Ist leichter Ungehorsam kein Verbrechen ... ■•)
und der König erscheint zu schwach, um den hochmütigen Grafen im
Gehorsam zu erhalten.
So erschien der „Cid" dem modernen Staat gegenüber als der Lob-
redner der früheren Zeiten und der Selbstherrlichkeit des Rittertums ;
damals erachteten ja die Barone den König nur als den ersten unter
ihresgleichen und riefen das Schwert als Schiedsrichter an. Wenn die
aristokratische Welt in diesem Charakter des „Cid" einen Anlaß mehr
für ihren Beifall fand, so mußte Richelieu aus demselben Grund über
das Auftreten des Dichters gereizt sein, und es genügte für die Höf-
1) „Le Cid", II, 1:
Ces satisfactions n'appaisent point une äme.
Qui les refoit n'a rien, qui les fait se diffame.
Et de pareils accords l'eflfet le plus commun
Est de perdre d'honneur deux hommes au lieu d'un.
2) „Le Cid", III, 3, 50:
Chimene:
II y va de ma gloire, il faut que je me venge.
3) „Le Cid", I, 5, 14:
Diegue:
Ce n'est que dans le sang, qu'on lave un tel outrage;
Meurs ou tue.
■•) „Le Cid", n, 1, 15:
Don Gormaz:
Monsieur, pour conserver tout ce que j'ai d'estime,
Desobeir un peu, n'est pas un si grand crime.
379
linge und Schmeichler des Ministers, diese Stimmung zu kennen, um
sich gegen Corneille zu erheben und auch die anderen Neider des Dich-
ters zu ermutigen.
Corneille hatte schon vielfach durch sein Selbstgefühl angestoßen
und gerade damals bot er seinen. Gegnern einen willkommenen Vorwand
zum Angriif durch ein Gedicht, das er ungefähr gleichzeitig mit der
ersten Ausgabe des „Cid" im Jahr 1637 veröffentlichte.-') Ein Freund
hatte ihn um ein Lied gebeten, das er in Musik setzen könne, und Cor-
neille beantwortete diesen Wunsch mit seinem Gedicht „Excuse ä Ariste".
Darin entschuldigte er sich mit seinem Unvermögen auf diesem Gebiet.
Sein Talent weise ihn auf das Theater; dort aber habe er Großes ge-
leistet, er kenne seinen Wert, und seinen Euhm verdanke er nur sich
allein und seiner Kraft.^)
Das stolze Wort des Dichters entfesselte den Haß seiner Feinde,
die ihn mit heftigen Vorwürfen überhäuften. Sie betonten vor allem, daß
er nur ein spanisches Stück übertragen, und somit keinen Anteil an
dem Euhm habe, den man dem Dichter des „Cid"' gebe. Unter den
Gegnern thaten sich besonders Mairet, Scudery und Claveret durch Bitter-
keit hervor. Wir brauchen jedoch auf die einzelnen Schriften gegen Cor-
neille nicht weiter einzugehen. Es genügt anzuführen, daß sich eine
grimmige litterarische Fehde entwickelte, daß sich Gegner und Freunde
Corneilles in Broschüren und Schriften aller Art, in Gedichten und Epi-
grammen bekämpften. Der Streit wurde bis auf die Straße getragen, wo
die Ausrufer die verschiedenen Schriften darüber, Pamphlete und lose
Blätter, zum Verkauf anboten. Waren die Angriffe ebenso plump wie
heftig , so muß man zugeben , daß auch die Verteidigung oft recht
unglücklich war.
^) Ausgegeben wurde die erste Auflage des „Cid"' Ende März 1637. Das
acheve d'imprimer ist vom 24. März datiert.
2) „Excuse ä Ariste", v. 36:
Je sais ce que je vaux, et crois ce qu'on m'en dit.
V. 50:
Je ne dois qu'ä moi seul toute ma renommee.
Die Biographen sind über den Zeitpunkt der Veröffentlichung des Ge-
dichts nicht einig, da es zuerst ohne Datum gedruckt wurde. ' Taschereau in
seiner „Vie de Corneille" (p. 301) ist der Meinung, es sei erst während des
Streits um den „Cid" veröffentlicht worden, denn Scudery spräche in seiner
Kritik des „Cid" nicht davon. Allein Taschereau irrt, denn Scudery spielt in
seiner Einleitung sehr deutlich auf dieses Gedicht Corneilles an, und so hat
Marty-Laveaux (Oeuvres de Corneille, III, Notice) wol das Richtige getroffen,
wenn er die Veröffentlichung etwa gleichzeitig mit dem „Cid" annimmt. Cor-
neille hat betont, daß das Gedicht einige Jahre älter sei als der „Cid", und
daß dem so ist, beweist der Vers 36 :
J'ai peu de voix pour moi, mais je les ai sans brigue.
So konnte er nach dem Erfolg des „Cid" nicht mehr reden. Veröffent-
licht wurde das Gedicht aber jedenfalls erst später.
380
Nur eine Schrift sei liier, als die wichtigste und umfangreichste
Kritik des Corneille'schen Dramas, ausführlich erwähnt. Es sind dies die
„Observations sur le Cid", mit welchen Scudery gegen seinen Landsmann
und früheren Freund auftrat.
Nach einigen einleitenden Worten, in welchen Scudery beteuert,
daß er geschwiegen hätte, wenn Corneille in seiner maßlosen Eitelkeit
nicht zu weit gegangen wäre, kommt er auf den Wert des „Cid" zu
sprechen und will beweisen: 1. daß die Fabel des Stücks nichts tauge;
2. daß Corneille die wichtigsten Regeln des Dramas verletzt habe; 3. daß
der Bau des Dramas schlecht sei; 4. daß die Verse nicht minder
fehlerhaft seien; 5. daß, wenn der „Cid" Schönheiten enthalte, sie ent-
wendet seien, und daß somit 6. jede Bewunderung, die man dem Werke
Corneilles zolle, ungerechtfertigt erscheine. Man sieht, Scudery wollte
Corneille recht gründlich vernichten. In seiner Abhandlung darf man
freilich kein tieferes Verständnis der Poesie erwarten. Er zeigt sich viel-
mehr als der echte Vertreter jener spießbürgerlichen Kritik, die nichts
begreift, was über die gewöhnlichen Kreise ihres Daseins hinausgeht,
Jener Kritik, welche Shakespeares Julia eine entartete Person nennt,
Komeo ins Zuchthaus gesetzt haben will, und Goethes Gretchen als un-
moralisch verabscheut. Aber Scuderys Schrift erlebte bei dem Interesse,
das der „Cid" überall erweckt hatte, in kürzester Zeit drei Auflagen und
wurde die Veranlassung, daß auch die Akademie sich in den Streit
mischte. Wir müssen deshalb die Kritik etwas eingehender betrachten.
Scudery behauptet zunächst, daß der „Cid" Corneilles ohne eigent-
liche Verwicklung sei, und nicht in Spannung versetze, da man gleich
von Anfang an den glücklichen Ausgang voraussehe. Überhaupt habe
Corneille gegen die wichtigsten Regeln der dramatischen Dichtung , be-
sonders aber gegen die Wahrscheinlichkeit gefehlt. Er habe die vielen
Ereignisse aus dem Leben des „Cid" in einem Zeitraum von vierund-
zwanzig Stunden zusammengedrängt, was doch ganz unmöglich sei. Man
sieht, Scudery verlangt keineswegs die Einheit der Zeit, die er ja in
seinen Stücken auch nicht berücksichtigt hatte ; er tadelt vielmehr Cor-
neille darüber, dass er sie habe festhalten wollen. Es sei ferner nicht
glaublich, daß der König die beiden Gegner nach einer solchen Beleidi-
gung frei umhergehen lasse, statt sie in Arrest zu setzen, wie sicli dies
allerdings bei Guillen de Castro findet. Ebenso unglaublich sei es, daß
Don Diego fünfhundert Edelleute an einem kleinen Hof zu seinem Schutz
vereinigen könne; wenn dies aber auch möglich sei, so verstoße doch
Don Diego gegen jedes Gebot der Höflichkeit, indem er diese Leute zu
Hause lasse, während er selbst in der Stadt umherirre, um seinen Sohn
zu suchen. Auch der König erscheine als höchst nachlässig, denn er hätte
sich gegen den Überfall der Mauren schützen können, wenn er nur den
Hafen mit einer Kette geschlossen hätte. Bei der Masse der sich drängen-
den Begebenheiten kämen dann solche ünwahrscheinlicbkeiten vor , wie
im fünften Akt, wo Rodrigo nach seiner Unterredung mit Chimene fort-
eile, seine Rüstung anlege, mit Don Sancho kämpfe und ihn besiege,
alles, während auf der Bühne 140 Verse gesprochen würden !
381
Der „Cid" verstoße zudem gegen die Moral. Jede Tugend sei aus
dem Stücii verbannt, Chimene sei eine entartete, gottvergessene, zuciit-
lose Tochter, eine üanaide. Allerdings habe gerade der dritte Akt das
Publikum entzückt, und man habe besonders jene Scene bewundert, in der
Rodrigo im Hause Chimenens erscheint und sich als Opfer anbietet. Aber
jeder Verständige, bemerkt Scudery, schaudere, wenn er sich vorstelle,
daß in diesem Moment die Leiche des Vaters noch im Hause liege. Über-
haupt sei das Stück barbarisch und grausam. Alle seine Personen hätten
in ihrem Charakter etwas vom Matamore, besonders aber Don Gormas,
der sich zudem als schlechter Menschenkenner erweise. Denn er lobe
anfangs Don Sancho als trefflichen Ritter, und doch lasse sich derselbe
später so leicht von Rodrigo besiegen. Corneille sei in seiner Führung
der Scenen oft unklar; so besonders in dem Auftritt, wo Don Arias im
Auftrag des Königs vom Grafen Genugthuung für Don Diego verlange.
Dafür fänden sich wieder viele Episoden, die mit dem eigentlichen Stück
nur lose verknüpft seien. Die ganze Rolle der Infantin sei unnötig und
offenbar nur eingefügt, um der Schauspielerin Beauchäteau eine Rolle
zuzuweisen. Wie ganz anders, wie viel größer erscheine dem „Cid" gegen-
über Tristans „Mariamne". Tristan habe sich auch Episoden erlaubt, wie
zum Beispiel die prächtige Erzählung vom Traum des Herodes, aber er
habe sie immer meisterhaft in den Gang seines Stücks zu verweben ge-
wußt. Was das Verständnis bei Corneille noch ferner erschwere, sei der
Umstand, daß die Bühne bei ihm oft verschiedene Orte vorstelle, so daß
der Zuschauer gar manchmal nicht wisse, wo er eigentlich sei.-^) Schließ-
lich kritisiert Scudery auch die Sprache Corneilles. findet, daß er ein
schlechtes Französisch spreche, und läßt dann eine 'ange Reihe tadelnder
Bemerkungen über einzelne Ausdrücke und Verse des Dramas folgen.
Nicht zufrieden mit diesem direkten Angriff, suchte Scudery auch
die Meinung der hervorragendsten Kritiker für sich zu gewinnen. In dieser
Absicht wandte er sich an die Akademie und an Balzac, den Philosophen
von der Charente, der damals als ein unfehlbares Orakel auf dem Gebiet
der litterarischen Kritik angesehen ward. Scudeiy hoffte, daß Balzac ihm
in seinem Urteil beipflichten werde, allein er sah sich in seiner Hoffnung
getäuscht. Balzac antwortete ihm zwar in vorsichtiger Weise und gab
dem stürmischen Kritiker darin recht, daß der „Cid" die dramatischen
Regeln verletzt habe; aber er that ihm keineswegs den Gefallen, das
Stück zu verurteilen. Es gebe keinen italienischen Baumeister, der das
Schloß von Fontainebleau nicht stilwidrig gebaut finde und es einen Stein-
haufen nenne, und doch bilde es die stattliche Wohnung der französischen
Könige. Die Regeln der Kunst anwenden und ein Werk schaffen , das
gefalle, sei zweierlei. Wenn Scudery Corneille beschuldige, das Publikum
geblendet und bezaubert zu haben, so sei dies ein Vorwurf, der viele
Dichter stolz machen würde. Corneille besitze eben ein Geheimnis, denn
1) Dieser Vorwurf wird nur verständlich, wenn man die seenischen Ein-
richtungen der damaligen Bühne kennt. Vergl. den Abschnitt : „Die Bühne und
die Aufführungen".
382
er habe zwar die Regeln der Kunst verletzt, aber mehr geboten, als
bloße Kunst, und wenn der „Cid" schuldig sei. so habe seine Schuld
doch großen Lohn geerntet.')
Die Akademie, an welche sich Scudery ebenfalls gewandt hatte, um
deren Urteil zu erlangen, fühlte sich weniger unabhängig als Balzac,
und geriet über das Ansinnen Scuderys in nicht geringe Verlegenheit.
Denn einesteils war sie Zeuge gewesen, welche Begeisterung der „Cid"
in allen Klassen des Publikums erweckt hatte und einzelne ihrer Mit-
glieder hatten vielleicht selbst seinem Zauber nicht widerstehen können;
so daß es schwer, ja gefährlich schien, sich gegen Corneille auszusprechen.
Aber andernteils wußten die Herren von der Akademie auch sehr genau,
liaß Richelieu, ihr Protektor, den „Cid" verurteilte, und sie waren nicht
Willens, den Zorn des mächtigen Ministers wegen eines ihnen immerhin
fremden Werks zu erwecken. Ihre Statuten boten ihnen einen erwünschten
Ausweg, denn diese besagten, daß die Akademie fremde Werke nur mit
Zustimmung des Autors vor ihr Forum ziehen dürfe. Sie lehnte also
Scuderj's Vorschlag, über seinen Streit mit Corneille zu urteilen, einfach
ab. Ihre Verlegenheit war indessen damit nicht beseitigt. Es stellte sich
bald heraus, daß der Kardinal ein Urteil der Akademie über den „Cid"
wünschte und Boisrobert mit den dazu nötigen Verhandlungen beauftragt
hatte. Dieser mußte vor allem Corneilles Einwilligung erlangen, daß der
litterarische Prozeß vor dem Gericht der Akademie ausgetragen werde.
Aber der Dichter weigerte sich lange Zeit, auf diese Forderung einzu-
gehen und mit Recht. Endlich aber ließ er, von Boisrobert bedrängt, in
seinem Unmut das Wort fallen, die Herren von der Akademie möchten
nach ihrem Belieben handeln,-) und diese wegwerfende Äußerung wurde
von dem gewandten Unterhändler als zustimmende Antwort aufgefaßt.
Die Akademie hatte nun keine weitere Ausflucht mehr, zumal Richelieu
ihr sagen ließ, daß er ihr Urteil über den „Cid" zu hören wünsche und
diese Botschaft mit dem vieldeutigen Wort begleitete^ er werde ihre Freund-
schaft zu vergelten wissen.^) In dem Vorwort, mit welchem Corneille eine
spätere Ausgabe seines „Cid" begleitete, protestiert er zwar gegen die
1) Vergl. I. Teil, S. 113. Balzacs Brief, der mit der Jahreszahl 1638 im
Druck erschien, aber wol schon Ende 1637 ausgegeben wurde, war jedenfalls
schon einige Monate zuvorgeschrieben. Es heißt darin: ..„II n'y a point d'ar-
chiteete d'Italie, qui ne trouve des defauts en la strueture de Fontainebleau et
qui ne l'appelle un monstre de pierre: ce monstre neanmoins est la belle de-
meure des rois et la cour y löge commodement Ce que vous reprochez
ä l'auteur du Cid, qui vous avouant qu'il a viole les regles de l'art, vous oblige
de lui avouer qu'il a un secret, qu'il a mieux reussi que l'art meme... Ainsi
vous Temportez dans le cabinet, et 11 a gague au theätre. Si le Cid est cou-
pable, c'est d'un crime qui a eu recompense; s'il est puni, ce sera apres avoir
triomphe."
-) Brief CorneUIes an Boisrobert v. 13. Juni 1637: „Messieurs de l'aca-
demie peuvent faire ce qui leur plaira ; puisque vous m'ecrivez que Monseigneur
seroit bleu aise d'en voir leur jugement, et que cela doit divertir son Eminence,
je n'ai rien ä dire."
3) Nach Pellisson sagte der Kardinal zu seinem Vertrauten: „Paites savoir
«es messieurs que je le desire et que je les aimerai comme ils m'aimeront."
383
Annahme, als habe er den ßichterstuhl der Akademie anerkannt, allein
diese widerstand dem Befehl Richelieus nicht länger und wählte im Sommer
1637 aus ihrer Mitte eine Kommission, welche den Streitfall zunächst
studieren und einen gründlichen Bericht erstatten sollte. Diese Kommission
wurde von den drei Akademikern Bourzey, Chapelain und Desmarets,
dem Liebling des Kardinals, gebildet. Fünf Monate vergingen, bevor das
endgiltige ausführliche Urteil von der Akademie festgestellt wurde. Die
Kommission hatte freilich ihren Bericht mehrmals umändern müssen.
Der Kardinal hatte sich die Arbeiten vorlegen, selbst auf seinen Reisen
nachschicken lassen, den Bericht der Kommission mit eigenhändigen Rand-
glossen versehen und sich zweimal mit der Fassung desselben nicht ein-
verstanden erklärt. Einmal war ihm der Tadel zu mild, ein andermal
fand er die Lobsprüche, welche Corneille gespendet wurden, übertrieben,
und erst die Form , welche Chapelain dem Urteil gab , fand seine Be-
willigung. Im Manuskript gewiß bald bekannt, wurden die „Sentiments
de l'academie fran^oise sur la tragicomedie du Cid" erst im Jahr 1638
durch den Druck veröffentlicht.
Das Gutachteii der gelehrten Gesellschaft ist früher häufig als ein
Meisterwerk betrachtet worden ; selbst Voltaire urteilt noch so. Später
aber wurde die Akademie umso heftiger deswegen angegriffen, und der
Hauptvorwurf, den man ihr bis auf die heutige Zeit macht, gipfelt
darin, daß Corneille durch die strenge Kritik irre gemacht worden sei.
Infolge dieser Angriffe habe er die Bahn des freieren volkstümlichen
Dramas verlassen und sich den strengen pedantischen Regeln unterworfen,
welche ihn zu dem allerdings stilvollen, aber steifen und dem Volk fremden
klassischen Schauspiel hätten führen müssen.
Daß die Akademie unter dem Druck des mißgünstigen Kardinals
arbeitete, und diesem zu Gefallen ihr Urteil modelte, darüber kann kein
Zweifel bestehen.^)
Keinesfalls aber können wir zugeben, daß es einen großen, be-
stimmten Einfluß auf die Entwicklung des französischen Dramas aus-
geübt hat. Dies zu beweisen, müssen wir die Arbeit der Akademie etwas
genauer betrachten.
Nach einer längeren gelehrten Einleitung wird betont, daß unregel-
mäßig gebaute Stücke immer nur zufällig durch die Schönheit einzelner
Stellen gefallen könnten, und dann werden die tadelnden Bemerkungen
Scuderys der Reihe nach vorgenommen und geprüft. Wenn dieser Kri-
tiker beweisen wollte, daß die Geschichte des „Cid" zu einer drama-
tischen Behandlung nicht tauglich sei, so behaupte er mehr, als er
beweisen könne; aber er habe vollkommen Recht, Corneilles „Cid" zu
tadeln, weil er gegen die Regeln der Wahrscheinlichkeit verstoße. In
1) Ein Brief Chapelains au Boisrobert vom 31. Juli 1637 ist charakte-
ristisch. Chapelain bittet darin, dem Kardinal bemerklich zu machen, daß die
beste Manier, das Publikum über die Schwäche des Cid aufzuklären, darin be-
stände, daß man weniger wichtige Teile des Dramas lobe, dann werde die Aka-
demie nicht parteiisch erscheinen, nicht unpopulär werden und ihr verdam-
mendes Urteil umsomehr Gewicht haben. Vergl. Taschereau, S. 84.
384
einem Drama dürften allerdings außerordentliche Ereignisse geschildert
werden, aber der Dichter müsse sie so herbeizuführen wissen, daß der
Zuschauer stets an die Möglichkeit und die Wahrheit derselben glauben
könne, und das sei in dem vorliegenden Drama nicht der Fall. Die Aka-
demie tadelt ferner, daß Chimene von dem Dichter als edel geschildert
werde, da sie doch höchst unedel handle; der Charakter möge geschicht-
lich wahr sein, aber auf der Bühne erscheine er als ungeheuerlich. Zum
wenigsten hätte Corneille einen andern Schluß erfinden sollen. Es hätte
sich z. B. am Ende herausstellen können, daß Don Gormaz nicht der Vater
Chimenens wäre, oder der Dichter hätte ihn in dem Zweikampf mit
ßodrigo nur schwer verwundet werden und wieder genesen lassen sollen.
Die Vermählung Rodrigos mit Chimene hätte auch durch den Nachweis
gerechtfertigt werden können, daß das Wohl des ganzen Landes sie ge-
bieterisch erheische. Am besten wäre es freilich gewesen, wenn Corneille
die Dramatisierung der spanischen Sage gar nicht versucht hätte.
Scudery tadle ferner mit Eecht, daß Corneille so viele wichtige
Handlungen in den Zeitraum von vierundzwanzig Stunden einschließe,
daß er besonders Chimene an dem Tag, da ihr Vater gefallen sei, in
die Heirat mit dem Mörder willigen lasse. (Chimene willigt, nebenbei
gesagt, nicht in die von dem König vorgeschlagene Heirat, aber es ist
klar, daß sie in einiger Zeit einwilligen wird und so wollen wir über
den Ausdruck der Akademie nicht streiten.) So handle kein anständiges
Mädchen, selbst keine Person, die schon jedes Ehrgefühl und jede Mensch-
lichkeit verloren habe. Wenn Chimene auf der Bühne gefallen habe, so
sei das nicht, weil man ihre Leidenschaft edel gefunden habe, sondern
weil dieselbe vortrefflich ausgedrückt sei. Wie oberflächlich die Kritik der
Akademie ist, beweist ferner die Bemerkung, daß der Besuch Rodrigos
bei Chimene im dritten Akt nicht so tadelnswert sei, wie Scudery meine;
es sei nur zu mißbilligen, daß Corneille seinen Helden so weit vordringen
lasse, da er doch auf dem Weg dahin von den Dienern des Hauses hätte
aufgehalten werden müssen. Überhaupt hätte Rodrigo am besten gethan.
sich selbst das Leben zu nehmen . wenn er seine That durch den Tod
sühnen wollte. Sein ganzes Benehmen aber zeige, daß sein Vorsatz nicht
sehr ernst gemeint sei. Auch darin giebt die Akademie Scudery Recht,
daß Corneille die Technik des Theaters nicht kenne, weil die Bühne im
„Cid" verschiedene Orte vorstelle. Er habe die Einheit der Zeit gewahrt,
so hätte er sich auch bemühen sollen, die Einheit des Orts zu beobachten.
.Freilich findet man diesen Fehler", setzt die Akademie hinzu, „in den
meisten unserer dramatischen Dichtungen, und es scheint, daß die Nach-
lässigkeit der Dichter das Publikum daran gewöhnt hat.') Schließlich
geht die Akademie auf die einzelnen sprachlichen und grammatischen
Bemerkungen Scuderys ein, um dieselben teils für richtig, teils für unbe-
gründet zu erklären.
^) „II est vrai que c'est un defaut que Ton trouve en la plupart de nos
poemes dramatiques, et auquel il semble que la negligence des poetes ait ac-
coutume le public.
385
Mit dieser Entscheidung schien der Streit beendet. Der Kardinal
war zufrieden und Corneille, der anfangs die Absicht hatte, der Akademie
zu antworten, gab diesen Gedanken auf, wie es scheint, auf den Wunsch
Richelieus, der ihm immer noch aus seiner eigenen Kasse eine jährliche
Pension von öOOEcus auszahlen ließ.^) Auch ließ Richelieu seinen Trabanten,
Scudery, Mairet und den anderen, Schweigen gebieten. Nur der erstere
konnte sich nicht gleich beruhigen; nachdem er Corneilles Werk kritisiert
hatte, wollte er auch beweisen, daß er es besser machen könne. Darum
schrieb er im Jahr 1638 die Tragikomödie „L'amour tyrannique". in
welcher er das Thema von der Macht der Liebe in seiner Weise behan-
delte und von der ganzen Koterie mit gebührenden Lobsprüchen ver-
herrlicht wurde.')
Aber gesiegt hatte Richelieu doch nicht. Der „Cid" blieb die Be-
wunderung, die Freude des französischen Publikums. Ausgabe folgte auf
Ausgabe. Im Jahr 1637 erschienen allein vier und bis zum Jahr 1644
zählt man deren schon neun, was für die Verhältnisse jener Zeit außer-
ordentlich viel ist. Wie der „Cid" populär wurde, wie er auf allen, selbst
den kleinsten Bühnen in Frankreich dargestellt wurde, ist schon früher
geschildert worden. Boileau verurteilte dreißig Jahre später die Machina-
tionen der Gegner, als er sagte:
Umsonst verschwört sich ein Minister selbst
Den Cid zu stürzen; sieht doch ganz Paris
Nur mit Rodrigos Augen auf Chimene;
Mag die Akademie auch laut ihn tadeln,
Des Volks Bewunderung bleibt ihm umso sicherer. 3)
und dieses Urteil ist geblieben.
Daß Corneille Anfeindungen solcher Art ausgesetzt war, ist am
Ende nur natürlich. Aber man hat ihnen unseres Erachtens eine zu
große Bedeutung beigelegt. Es wird erzählt, Corneille habe sich, tief
gekränkt und an sich selbst irre, nach Rouen zurückgezogen, einige Jahre
lang geschwiegen und dann mit seinem „Horace" die Bahn der streng
regelmäßigen Tragödie betreten. Der Kampf um den „Cid" bilde somit
den Ausgangspunkt einer neuen Richtung, und alle diejenigen, welche
diese Entwicklung beklagen , haben der Akademie und Richelieu die
Schuld daran beigemessen. Zur Bekräftigung dieser Ansicht beruft man
sich auf einen Brief Chapelains an Balzac vom 15. Januar 1631*. Cha-
pelain meldet darin, daß Corneille seit drei Tagen in Paris sei und ihn
aufgesucht habe, um über das Urteil der Akademie mit ihm zu reden.
1) Pellisson, Histoire de l'academie franyaise. Ed. 1743. T. I, p. 12;.! 11',
Fontenelle, Vie de Corneille, p. 100 (Ausg. 1767), Taschereau, p. 92.
2) Über Scudery und dessen Stück siehe S. 285.
3) Boileau, Satire IX, v. 239 ff.:
En vain contre le Cid un ministre se ligue,
Tout Paris pour Chimene a les yeux de ßodrigue.
L'academie en corps a beau le censurer,
Le public revolte s'obstine ä l'admirer.
Lotheißen, Gesch. d. franz. Lilteratur. 25
386
Er arbeite nichts mehr und Scudery habe durch seinen Streit dies wenigstens
gewonnen (!), daß Corneille entmutigt und seine poetische Ader vertrocknet
sei. Halb spöttisch erzählt Chapelain dann weiter, daß er versucht habe,
den Dichter zu einem neuen Werk zu ermuntern, aber vergebens. Cor-
neille spreche nur noch von den Kegeln und was er der Akademie hätte
erwidern können. Doch die Gesetze des Aristoteles erkenne er immer
noch nicht an.^) Prüfen wir die Verhältnisse genauer, werden wir ein
anderes Ergebnis finden.
Allerdings begab sich Corneille nach seinem „Cid" wieder nach
Eouen, wie er dies auch früher öfters gethan hatte. Gewiß hatte er die
Kränkung, die ihm seine Gegner bereiteten, lebhaft empfunden; aber er
war ein viel zu energischer, seiner Kraft bewußter Geist, um sich so
leicht irre machen zu lassen, wie ja Chapelain selbst bemerkt. Es ist
nicht anzunehmen, daß der Dichter, den der Hof belohnte und das
Publikum bewunderte, sich so leicht von der Bahn hätte abbringen lassen,
die ihn zu solchen Erfolgen geführt hatte. Wir wissen zudem, daß er
im Vollgefühl seines Triumphes schon im Jahr 1637 an seinem „Horace"
arbeitete, und wenn er auch Chapelain keine Mitteilung von seinen Plänen
machen wollte, so ist es doch gewiß, daß er im Jahr 1638 diese Tra-
gödie vollendete und vielleicht schon an „Cinna" arbeitete.^) Es mag
Politik von ihm gewesen sein, daß er eine Zeitlang nichts von sich hören
ließ, um den Unwillen des Kardinals zu beschwichtigen. Dafür spricht
der Umstand, daß er gerade Richelieu seinen „Horace'" widmete, und in
der Zueignung sagte, der Respekt habe ihn bisher schweigen lassen
(,,le silence oii mon respect m'a retenu jusqu'ä present")- Hatte er doch
auch nach seiner „Melle" längere Zeit kein neues Werk unternommen.
Zudem darf man nicht vergessen, daß Corneille ein Amt in Ronen hatte,
das ihn, wie wir heute wissen, genügend in Anspruch nahm. Gerade um
jene Zeit sah er sich durch die Ernennung eines zweiten Advokaten an
der „Table de marbre" des Parlaments zu Ronen in seinem Einkommen
bedroht, wie uns seine Eingaben an den König vom 15. Oktober 1638
und vom 3. Juni 1639 beweisen. Sein jüngster Bruder Thomas war so weit
herangewachsen, daß seine Ausbildung größere Kosten verursachte, und
gerade um diese Zeit starb der Vater (12. Februar 1639). Ihm, dem
ältesten Sohn, dem nunmehrigen Haupt der Familie, lag es daher ob,
für Mutter und Geschwister weiterhin zu sorgen. Rechnet man noch zu
1) „II ne fait plus rien et Scudery a du iiioins gagne cela, en le que-
rellant, qu'il l'a rebute du metier et lui a tari sa veine .... Je Tai, autant que
j'ai pu, rechautfe et encourage ä se venger et de Scudery et de sa protectrice
en faisant quelque nouveau Cid, qui attire encore les suiFrages de tout le monde
et qui montre que l'art n'est pas ce qui fait la beaute; mais il n'y a pas moyen
de l'y resoudre."
2) S. deu Brief von P. Corneille an ßotrou, 14. Juli 1637, also während
der Zeit der heftigsten Angriffe; Corneille schreibt darin von der Freude, die
ihm eine Reise zu ßotrou nach Dreux bereiten würde, und setzt hinzu: „Mais
c'est un plaisir que je ne saurai avoir encore de lougtemps, vu que je veux vous
moutrer une nouvelle piece qui est loin d'etre finie".
387
diesen Hindernissen, die sich seiner poetischen Thätigkeit in den Weg
stellten, die Aufregung hinzu, welche einen jeden Bewohner der Normandie
ergreifen mußte, als im Jahr 1639 ein blutiger Aufstand die Provinz
und Ronen selbst heimsuchte, so wird es begreiflich, warum Corneille
erst im Jahr 1640 mit einem neuen dramatischen Werk hervortrat.
Zudem hat die Akademie den Dichter nur im Vorübergehen wegen
der Vernachlässigung der Regeln getadelt. Der Hanptangriff Scuderys.
sowie der Akademie richteten sich, wie wir gesehen haben, hauptsächlich
gegen die vermeintliche Immoralität des „Cid" und gegen die ün Wahr-
scheinlichkeit der darin vorkommenden Begebenheiten. Hätte Corneille
die Einheit der Zeit weniger beachtet, die Kritik wäre vielleicht nicht
ganz so scharf ausgefallen. Scudery tadelt es, daß der „Cid" zu viel
Episoden habe, und die Akademie billigt diesen Vorwurf, indem sie be-
merkt, der Stoff des .,Cid" sei zu verworren und beschwere das Gedächtnis.
In diesem Tadel birgt sich allerdings, wenn auch verhüllt, doch deutlich,
der Wunsch nach jener nüchternen „Einheit der Aktion", welche der
späteren Tragödie so verderblich wurde. Allein dieser Wunsch war schon
früher ausgesprochen worden, und das Streben nach der regelmäßigen
Form einerseits und der Einfachheit und Übersichtlichkeit der Dichtung
anderseits war schon vor dem „Cid" stark zü Tage getreten. Auch Cor-
neille bemühte sich schon früher, in seinen Lustspielen, die Einheit der
Zeit und des Orts annähernd zu wahren. Sein „Cid" ist schon^ wie die
Tragödien Scuderys und Tristans, in der Weise der regelmäßigen Tra-
gödie angelegt. Die Massen sind bereits von der Bühne ausgeschlossen ;
die wenigsten Begebenheiten spielen sich auf offener Bühne ab, und die
einzelnen Scenen bewegen sich fast nur in Reden und Gegenreden. Bereits
oben wurde darauf hingewiesen, wie eifrig Corneille bemüht war, die
üppige Fülle des spanischen Dramas zu beschränken und es der engeren
Form der französischen Bühne anzupassen. Auch ohne den Spruch der
Akademie wäre Corneille in den späteren Stücken zu größerer Regelmäßig-
keit gelangt; seine ganze vorhergehende Thätigkeit läßt dies erkennen.
Auch hat er niemals Wort haben wollen, daß die Akademie ihn belehrt
habe, und doch war er immer offenherzig und hat seine Fehler anerkannt.
In dem kritischen Aufsatz, mit dem er in der Gesamtausgabe seiner
Werke 1660 den „Cid" begleitete, rühmt er seine Dichtung noch als die
glänzendste und wirkungsvollste, die seit fünfzig Jahren erschienen sei.^)
In derselben Ausgabe veröffentlichteer einige Aufsätze über .die drei Ein-
heiten der Tragödie, und in dem ersten Aufsatz behauptet er aufs neue,
daß man über die Regeln des Aristoteles hinausgehen dürfe, wenn man
1) „Examen du Cid", zuerst in der Ausgabe des Jahrs 1660. Darin heißt
es: „Bien que ce seit celui de mes ouvrages oii je me suis permis le plus de
licence, il passe encore pour le plus beau aupres de ceux qui ne s'attachent
pas ä la derniere severite des regles; et depais einquante ans qu'il tient sa
place sur nos theätres, Thistoire ni l'effort de rimagination n'y ont rien fait
voir qui en ait efface l'eclat." Die Berechnung der fünfzig Jahre ist etwas stark
übertrieben, denn 1660 zählte man erst 24 Jahre seit der ersten Aufführung.
Aber spricht so ein Dichter, der sich bekehrt hat?
25*
388
nur etwas Großes schaffe; und was noch ohne Vorbild gewesen sei, könne
später als Vorbild dienen. An einer andern Stelle betont er, daß er niu-
drei Stücke, den ..Horace", den „Pompee"' und den „Polyeucte"', nach
den strengen Forderungen der dramatischen Gesetze aufgebaut habe. Wo
bleibt da der als verhängnisvoll gebrandmarkte Einfluß der Akademie?
Es scheint uns erwiesen, daß Corneille niemals ein Drama in der
Art des spanischen oder englischen geschaffen hätte. Langsam, aber unauf-
haltsam bewegte sich das französische Theater in der Eichtung, die zur
stilvollen Form führte , und auch Corneille wurde durch seine Natur,
die zur Klarheit und logischen Schärfe neigte, auf diese Bahn geführt.
Die heftigen Kämpfe, in welche er sich verwickelt sah, drehten sich doch,
genau genommen, um kein entscheidendes Princip.
VII.
Die Höhezeit Corneilles.
(1636—1652.)
Corneilles Leben war nicht reich an merkwürdigen Begebenheiten.
"Weder bezauberte er durch den Glanz einer hervorragenden Persönlich-
keit, noch zog er den Blick der Menschen durch eine abenteuerliche
Existenz auf sich. Sein Leben war das eines friedlichen Bürgers seiner
Zeit. Die Mehrzahl der Dichter, die sich in dem Jahrhundert vor ihm
bemerkbar gemacht hatten, waren gewissermaßen aus ihrem Kreis heraus-
getreten. Marot, Regnier, Theophile und so viele andere gehörten mehr
oder weniger zu der Klasse der genialen Vagabunden. Einzelne Dichter,
wie Ronsard oder Philippe Desportes, mochten eine Ausnahme bilden,
da sie zu den herrschenden Kreisen, dem Adel oder der Kirche, ge-
hörten.
Zum erstenmal aber erhob sich in Corneille ein großer Dichter,
der, dem Bürgertum entstammt, bürgerlich lebte und trotz seines jungen
Adelsbriefes seine bürgerliche Unabhängigkeit zu bewahren trachtete.
Seine Werke spiegeln zwar wesentlich die vornehme Welt ab, ja die
Ideen dieser letzteren finden gerade in Corneille einen begeisterten Ver-
treter; aber unverkennbar kündigt sich ihm doch eine neu aufsteigende
Schicht des Volkes an, das Bürgertum, das seine Kraft fühlt und sich
zur Geltung zu bringen entschlossen ist.
Die bescheidene, rein bürgerliche Existenz Corneilles bietet dem
Biographen wenig Anhaltspunkte, wenn er von den Werken absieht.
Diese bilden die Hauptmarksteine seines Lebens.
Die Jahre, welche Corneille nach dem Erfolg seines „Cid"' und
den heftigen Kämpfen um denselben zu Ronen in der Stille verbrachte,
gingen nicht ungenützt vorüber. Entwürfe zu neuen dramatischen Werken
beschäftigten ihn lebhaft. Er griff nun auf die Welt des alten Rom
zurück und fand dort Elemente, die seinem Charakter ganz besonders
zusagten. Darum hat er auch den Stoff seiner Stücke in den folgenden
Jahren mit wenig Ausnahmen alle der alten Geschichte entnommen.
Wiederum war es eine neue Weise, die er in seinen Römerdramen ver-
suchte. Er arbeitete zunächst an einer Tragödie, welche die Geschichte
der Horatier und Curiatier behandelte, und dachte gleichzeitig an ein
zweites Schauspiel, seinen „Cinna". Für die beiden Stücke hatte er kein
Vorbild und er konnte sie nach Gutdünken ausführen. Seinen Gegnern
jeden Vorwand zu neuen Angriffen zu nehmen, mag er mit besonderer
390
Vorsicht gearbeitet haben. Er bemühte sich offenbar, die verlorene Gunst
Richelieus wieder zu gewinnen, und bequemte sich dazu, seinen ,, Horace"'
vor der Aufführung einem kleinen Kreis von Kritikern und Schöngeistern
bei Boisrobert vorzulesen. Chapelain, L'Estoile. der Abbe d'Aubignac.
der sich später in seinen dramaturgischen Arbeiten durch Pedanterie
hervorthat. wohnten nebst einigen anderen dieser Vorlesung bei. Richelieu
erwies sich gnädig und ließ den „Horace" auf seineoi Haustheater
im ., Palais Cardinal" zuerst aufführen. Es war dies wahrscheinlich
in den ersten Monaten des Jahres 1(340. Wenigstens spricht Chapelain
in einem Brief an Balzac vom 9. März 1640 von dieser Vorstellung als
einem noch jungen Ereignis. Corneille widmete sein Stück später dem
Kardinal und sagte in der Zueignung, daß er ihm alles zu verdanken
habe, was er geworden sei. Diese Schmeichelei überrascht uns umso-
mehr, als wir in Corneille einen unabhängigen Charakter zu sehen ge-
wohnt sind. Aber jeder Mensch muß mit dem Maß seiner eigenen Zeit
gemessen werden, und die überschwenglichen Ausdrücke, wie sie damals
in den Dedikationen üblich waren, wurden so wenig ernst genommen,
wie die huldigenden Schlußformeln in den Briefen der heutigen Zeit.
Zudem erscheint Corneilles Wort bei genauerer Betrachtung nicht ganz
unbegründet. Wir werden sehen, daß kurz bevor „Horace" im Druck
erschien, der Dichter nur auf des Ministers Fürsprache die Hand der
Geliebten erhielt, und so dürften wir vielleicht dem Liebenden den
übertriebenen Ausdruck der Dankbarkeit zu gute halten.
Corneilles Freund, Mondory, stand nicht mehr an der Spitze des
Theaters in Marals. Als es sich deshalb darum handelte, den „Horace"
einem größeren Publikum vorzuführen, hatte Corneille keine Veranlassung
mehr, seine Dichtung der Truppe des Marals anzuvertrauen, und er trug
sie zu den Schauspielern des Hotel de Bourgogne,
Von dem Dichter des „Cid" erwartete man sich wieder ein Werk,
das die Herzen in ähnlicher Weise wie das frühere bewegen und rühren
müsse. Darin fand man sich allerdings getäuscht. Obwol das neue
Drama in mancher Hinsicht reifer und vollendeter erschien als der
„Cid", errang es doch bei weitem nicht seinen Erfolg. Corneille
sagt geradezu, es sei durchgefallen,^) und wenn dieser Ausdruck auch
zu stark ist, so erzielte „Horace" doch höchstens, was wir heute einen
Achtungserfolg nennen. Daß dem so kam, ist nur natürlich. Das Publikum
fand sich einer ihm fremden Welt gegenüber, und die Vorgänge, welche
die Tragödie schilderte, waren nicht geeignet, Begeisterung zu erwecken.
Corneille behandelte in seinem „Horace" die von Livius erzählte be-
kannte Geschichte von dem Kampf der Horatier und Curiatier. Für eine
Welt, in der solche Vorgänge möglich sind, kann man sich nicht er-
wärmen. Ein Konflikt zwischen der Liebe zur Familie und der Vater-
landsliebe könnte sich allerdings tragisch gestalten. Allein er müßte,
wie in jeder wahren Tragödie, unabwendbar erscheinen, sich den han-
delnden Personen mit Notwendigkeit aufdrängen. Das aber ist in „Horace"
Siehe sein „Examen d'Horace".
391
nicht der Fall; mit etwas Menschlichkeit in dem Eat der Römer und
Albaner müßte man leicht eine andere Wahl treffen können, und das
Gefühl, daß der Konflikt nur durch barbarische Willkür herbeigeführt
wird, kann nicht anders als kältend auf den Zuschauer wirken.
Zudem zerfällt ..Horace" in zwei fast selbständige Dramen. Das
erste schildert die Gefahr Roms, die patriotische Opferfreudigkeit der
Horatier und den durch sie erfochtenen Sieg ; der zweite Teil dagegen
enthält die Gerichtsverhandlung über einen Schwestermord und hängt
mit dem Vorhergehenden nur lose zusammen.
Jener erste Teil, welcher die Tragödie bis zur Hälfte des vierten
Aufzugs umfaßt, ist in seinem knappen Bau, seiner steten dramatischen
Steigerung vortrefflich. Es geht durch sie ein Zug gewaltiger Größe,
und der zweite und dritte Aufzug besonders gehören zu dem Besten,
was Corneille gedichtet hat. Nehmen wir einmal die Art der französi-
schen Tragödie als gegeben hin. so müssen wir anerkennen, daß wenig
Scenen in ihrer Einfachheit wirksamer sind als dieser Teil des „Horace".
Der erste Akt, der als Exposition vielleicht etwas lang ist. ver-
setzt uns in die qualvollen Momente der Ungewißheit, der peinlichen
Aufregung von der Entscheidungsschlacht, die nach zweijährigem Krieg
endlich die Geschicke Roms und Albas bestimmen soll. Der Dichter führt
uns weder in das Feldlager, noch auf den Marktplatz; er zeigt uns
weder die Soldatenhaufen noch den Rat der Feldherren und Staats-
männer; er zeigt nur die Rückwirkungen der großen Begebenheiten auf
eine einzelne Familie. Aber indem er uns in das stille Haus des Ho-
ratius führt und die Verwüstung zeigt, die der Krieg hier anrichtet,
öffnet er doch den Blick auf das Allgemeine.
So schildert der Maler in einem kleinen Gemälde, das ein von den
Feinden verwüstetes Haus und die im Widerstand gefallenen Bewohner
darstellt, die Schrecken des Kriegs vielleicht ergreifender als ein anderer,
der auf breiter Leinwand ganze Regimenter malt, wie sie, in Pulver-
dampf gehüllt, in gewaltigem Stoß aufeinander prallen. Corneille und mit
ihm die klassische Tragödie handelt nicht anders. Sie beschränkt sich,
um desto sicherer zu wirken.
Im ersten Akt des „Horace" lernen wir zunächst die Frauen der
Familie kennen. Sabina, die Gattin des Horatius und die Schwester der
Curiatier, klagt ihr Leid, denn wie der Krieg auch enden mag, sie sieht
nur Trauer für sich voraus, da ihr Herz geteilt ist. Auf welche Seite
auch der Sieg sich neigen möge, sie bewahrt
.,Die Thränen den Besiegten, und den Haß
Den Siegern." i)
Wie sie, ist Camilla, des Horatius Schwester, von banger Un-
gewißheit gequält, denn auch ihr Herz ist zwischen Römern und Albanern
geteilt, da sie mit einem der Curiatier verlobt ist. Der Kampf zwischen
den beiden Städten ist fast ein Bruderkrieg. Ein Orakel, das Camilla
Horace I, 1, M:
Mes larmes aux vaincus et ma haine aux vainqueurs
392
Frieden und Vereinigung mit Curiatius verheißt, flößt ihr allerdings
Zuversicht und Mut ein. Ihre Hoffnung scheint sich zu bestätigen, als
ihr Bräutigam selbst erscheint. Camilla zeigt hier eine schöne mensch-
liche Xatur. Sie wähnt im ersten Augenblick, Curatius habe seine Lands-
leute heimlich verlassen. Obwol sie diesen Schritt nicht billigen könnte,
sucht sie ihn doch zu entschuldigen. Allein Curatius hatte seine Pflicht
nicht verletzt, er bringt nur die Kunde, daß zwischen den beiden Heeren
ein Waffenstillstand abgeschlossen sei und man sich geeinigt habe, den
Zwist der beiden Völker durch einen Zweikampf zu entscheiden. Im
zweiten Aufzug hören wir, daß die drei Horatier als Vorkämpfer für
Rom erkoren sind; Sabinens Gatte zeigt sich als Held und Mann. Ei-
lst stolz auf die Ehre, die man ihm erwiesen, aber er bleibt bescheiden
und ruhig. Einfach und ohne große Worte spricht er zu Curatius von
seiner Absicht zu siegen oder zu sterben. Da bringt ein Bote die Mel-
dung, daß von Seiten der Albaner die drei Curiatier zum Kampf be-
stimmt seien, und die Lage, die eben noch so hoffnungsreich schien,
wird mit einem Male furchtbar. Die Aussicht, mit den Schwägern auf
Tod und Leben kämpfen zu müssen, entsetzt Curiatius. der sich bei
aller Tapferkeit ein menschlich fühlendes Herz bewahrt hat. Umso
schroffer äußert sich der Kömer, dessen Gemüt solche Anwandlungen
von Schwäche nicht kennt. Klar wie Krystall, aber auch so hart und
scharf sind seine Worte. Von seinem Land zum Kampf bestimmt, blickt
er nicht vorwärts und nicht rückwärts. Daß ihm ein schweres Opfer
auferlegt wird, kann seinen Ruhm nur erhöhen. Er wird beweisen, daß
sein Vaterland ihm über alles geht.
„Dem Vaterlande opfern, was uns teuer,
In einem andern Selbst uns zu bekämpfen;
Dem Feinde trotzen, den der Gattin Bruder
Verteidigt und der Bräutigam der Schwester;
Zerreißen diese Bande, für sein Land
Sich waffnen gegen ein Geschlecht, für das
Man willig selbst sein Leben geben möchte.
Gewiß, nur uns ward solche Kraft verlieh'n!^ i)
In diesem Sinn geht er frisch, fast heiter zum Kampf.
,.Piom hat gewählt, ich prüfe ferner nicht.
So leichten Herzens, als ich einst die Schwester
Gefreit, werd' ich den Bruder jetzt bekämpfen.
Genug darum der überflüss'gen Rede —
Alba ruft Euch, ich kenne Euch nicht mehr.^j"
1) Horace, II, 3, 31 ff.:
Mais vouloir au public immoler ce qu'on aime,
S'attacher au combat contre un autre soi-meme,
Attaquer un parti qui prend pour defenseur
Le frere d'une femme et Tamant d'une soeur,
Et rompant tous ces noeuds, s'armer pour la patrie
Contre un sang qu'on voudroit racheter de sa vie,
üne teile vertu n'appartenoit qu'ä nous.
2) Horace, II, 3, 75:
393
Deshalb aber brauche kein Haß sie zu entzweien, meint ei-, und
solle er von der Hand der Curiatier fallen, so bitte er seine Schwester,
sie möge nicht um ihn klagen, sondern dem Sieger die Hand reichen.
Anders geartet ist Curiatius. Auch er hat keinen Augenblick gezögert,
sein Glück dem Wohl des Vaterlands zu opfern. Aber sein Fühlen
zeigt sich edler und reiner. Er wird seine Pflicht thun, aber nur mit
Trauer. Er ahnt das Weh, das ihm und den Seinen bevorsteht, seine
Seele ist traurig und resigniert. Darum giebt er auf jenes harte Wort
seines Schwagers: „Ich kenne Euch nicht mehr", die rührende Antwort :
Ich kenn' Euch noch; das ist es, was mich tötet,i)
wie er ihm schon zuvor gesagt hatte:
„Es birgt sich Barbarei in dieser Kraft.
Ein dunkel Leben gilt mir mehr als solch
Ein Euhm."2)
Die Scene belebt sich nun. Die Frauen eilen auf die Schreckens-
kunde herbei, den starren Sinn der Männer zu erweichen und den Kampf
zu verhindern. Aber umsonst. Selbst der greise Vater Horatius unter-
drückt jede Eührung und hat nur Worte der Ermunterung, ja der Un-
geduld :
„Verliert Ihr Eure Zeit mit Weibern noch?
Bestimmt zu blut'gem Kampfe, laßt Ihr Euch
Von Thränen rühren?" ^j
Der dritte Aufzug steigert noch die Spannung. Mit welcher Angst
müssen die Frauen, die der greise Horaz im Haus zurückhält, den Nach-
richten von dem entsetzlichen Kampf entgegensehen. Corneille zeigt hier,
welche Fortschritte er in der Technik des Dramas gemacht hat. Noch
einmal leuchtet die Hoffnung auf Abwendung des Unglücks, da es heißt,
die beiden Heere hätten die empörende Gegenüberstellung der nahe ver-
wandten Männer nicht geduldet; aber nur zu bald meldet der Vater,
daß der Kampf doch begonnen habe, und nicht lauge, so kommt die
Eome a choisi mon bras, je n'examine rien:
Avec une allegresse aussi pleine et sincere
Que j'epousai la soeur, je combattrai le frere;
Et pour trancher enfin ces discours superflus,
Albe nous a nomme, je ne vous connois plus.
M Horace, II, 3, 81:
Je vous connois encore, et c'est ce qui me tue.
^) Horace, II, 3, 34:
Mais votre fermete tient un peu du barbare :
L'obscurite vaut mieux que tant de renommee.
3) Horace, II, 7, 1:
Qu'est-ce-ci, mes enfants? Ecoutez-vous vos flammes,
Et perdez-vous encor le temps avec des femmesV
Prets ä verser du sang, regardez-vous des pleursV
394
vernichtende Kunde von der Niederlage Roms. Zwei Horatier sind ge-
fallen, der dritte, Sabinens Gatte, hat sich zur Flucht gewendet. Der
Greis ist außer sich. Sein Sohn hat ihn entehrt, und er gelobt, dem
Feigen mit eigener Hand den Tod zu geben. Vergebens sucht man ihn
zu besänftigen. Was hätte er der Übermacht gegenüber thun sollen?
fragt man ihn. „Sterben!" ruft der Greis, und das heroische Wort, das
in seiner Furchtbarkeit erschütternd wirkt, bildet wol den Höhepunkt
der Tragödie.^)
In dieser verzweifelten Stimmung schließt der dritte Akt. Die Tra-
gödie des 17. Jahrhunderts ließ zwischen den einzelnen Akten nur sehr
kurze Unterbrechung eintreten, und um den Zusammenhang deutlicher
zu machen, den Vorhang nicht einmal fallen.-) Daher kann es nicht
überraschen, daß der Vater von dem wirklichen Ausgang des Kampfes
beim Beginn des vierten Aufzugs noch nichts weiß. Umso größer ist
seine Überraschung, als ihm Valere, der im Auftrag des Königs kommt,
in beredter Erzählung den Sieg Roms berichtet. Das bittere Gefühl ver-
wandelt sich in Entzücken, und der Ausbruch der Freude des alten
Mannes ist hinreißend :
0 Sohn! 0 Lust! Du Ehre meines Alters!
Du unverhoiFte Stütze Deines Lands!
0 röm'sche Kraft! Du echter Sohn, Horaz!
Du hast Dein ganz" Geschlecht mit Ruhm verklärt!
Wann kann ich Dich in meine Arme schließen ?
Abbitten, was ich gegen Dich empfunden.
Und Deine Siegerstirn mit Thränen netzen! 3)
Während der ganzen Scene, und besonders während der Erzäh-
lung Valeres, ist Camilla zugegen. Ihr Blick hängt an dem Mund des
Berichtenden, ihre steigende Angst drückt sich deutlich in ihrer Hal-
tung, auf ihrem Gesicht aus, bis endlich das verhängnisvolle Wort, daß
ihr Bräutigam unter dem Schwert ihres Bruders gefallen ist, ihr einen
Schrei der Verzweiflung auspreßt. Aber der große Schmerz macht stumm ;^)
1) Horaee, III, 6, 29:
Julie :
Que vouliez-vous qu'il fit contra troisV
Le vieil Horaee
Qu'il mourüt.
-) Seit einiger Zeit hat man in Paris bei der Aufführung klassischer
Dichtungen diesen Gebrauch wieder aufgenommen.
3) Horaee, IV, 2, 69:
0 mon fils, ö ma joie! 6 Thonneur de nos jours!
0 d'un Etat penchant l'inespere secours!
Vertu digne de Rome, et sang digne d'Horace
Appui de ton pays, et gloire de ta race!
Quand pourrai-je etouffer dans tes embrassements
L'erreur que j'ai forme de si faux sentiments?
Quand pourra mon amour baigner avec tendresse
Ton front victorieux de larmes d'aliegresse ?
•*) Vergl. Corneilles „Pertharite", III, 3, 95:
Les plus grands deplaisirs sont les moins eclatants.
395
auch Camilla findet keine Worte, selbst nicht dem Vater gegenüber, der
sie vergebens beruhigen will :
Es ist nicht recht, ob eig'nem Leid zu weinen,
Wenn es des Vaterlandes Sieg begründet...^)
sagt er und meint, ein Verlobter sei ja nicht unschwer zu ersetzen. Sie
möge sich fassen und den Bruder mit echt römischem Sinn empfangen.
Camilla denkt anders. In einem etwas langen, vielleicht auch etwas
zu deklamatorischen Monolog macht sie ihrem Herzen Luft, sobald sie
sich allein sieht. In der Ironie der Verzweiflung ruft sie ihm nach :
Er soll es seb'n, daß ich entartet bin,
Unwert des Vaters, der so festen Sinns,
Unwert des edlen Bruders!-)
Und als dann Horaz in das Haus des Vaters heimkehrt, begleitet
von einem Krieger, der die Schwester der drei Curiatier als blutige Tro-
phäe vor ihm herträgt, als Horatius im Rausch des Siegs seine Schwester
zur Huldigung auffordert, da bricht ihr Zorn in hellen Flammen aus.
Sie begrüßt nicht den Sieger, sondern sie beklagt den Toten ; sie tritt
Horatius wie eine Rachegöttin entgegen, flucht ihm und ihrer Vater-
stadt Rom :
Mög' solch ein Leid Dein Leben einst verdüstern,
Daß Du nach meinem Los noch neidisch blickst!
Mögst Du durch feige That den Ruhm besudeln.
Der Deinem wilden Herzen teuer ist.
0 Rom, Du einz'ger Zielpunkt meines Hasses !
Rom, das mir den Geliebten jetzt geraubt!
Rom, Deine Wiege, Deines Herzens Stolz,
Rom. das ich hasse, weil es Dich verehrt!
Die Nachbarvölker mögen sich verbünden,
Um Dich zu stürzen auf dem schwanken Grund !
Und wenn die Macht Italiens nicht genügt,
Vereine sich der Orient mit dem Abend,
Und über Berge, über Meere ziehen
Zahllose Völker her von allen Enden
Zu seinem Fall! Im Bürgerkrieg zerfleische
Die Stadt sich selbst und breche ihre Mauern!
Ich ruf den Zorn des Himmels her auf sie.
Damit ein Feuerregen sie zerstöre!
Könnt' ich den Blitz doch niederfahren sehen,
Der sie in Asche legt' und Deinen Lorbeer!
Könnt' ich, die Schuld all dieses Unglücks tragend,
1) Horace, IV, 3, 3:
On pleure injustement des partes domestiques,
Quand on en voit sortir des victoires publiques.
2) Horace, IV, 4, 45 :
Degenerons, mon coeur, d'un si vertueux pere;
Soyons indigne soeur d'un si genereux frere!
C'est gloire de passer pour un coeur abattn,
Quand la brutalite fait la haute vertu.
396
Des letzten Römers letzten Atemzug
Vernehmen und dann glücklich sterben! i)
Der wilde Fluch raubt Horatius jede Besinnung. Seiner selbst nicht
mehr mächtig, zieht er sein Schwert und stürzt auf die Schwester los.
Diese flieht und wird von dem Käsenden hinter der Scene getötet.
Damit wird die rauhe Größe des römischen Patrioten, die schon
zuvor manchmal verletzte, zur Barbarei, und Horatius, der zwar nicht
unsere Sympathien erwerben konnte, der aber doch eine gewisse kühle,
mit Grauen gemischte Bewunderung erregte, wird jetzt zum Mörder.
Wenn uns auch die Tragödie zeigen soll, wie der Mensch durch eigene
Schuld untergeht, so darf sein Fehler doch nicht derart sein, daß wir
uns von dem Schuldigen mit Gleichgiltigkeit oder Verachtung abwenden.
Selbst ein Verbrecher wie Richard III. vermag uns zu fesseln, weil er
in seinen TJnthaten Kraft und überlegenen Geist an den Tag legt und
wir ihn wol verabscheuen . aber nicht für einen gewöhnlichen Mörder
halten können. Horatius dagegen verliert durch den Mord seiner Schwester
unsere Teilnahme: er sinkt zum rohen Gladiator herab. Zudem beginnt
mit Caraillas Untergang ein anderes, für sich bestehendes Drama. Die
Gerichtsverhandlung des fünften Aufzugs behandelt einen neuen Kon-
flikt, der sich aber keineswegs um ein großes Princip dreht. Man mag
darauf hinweisen, daß der Vater Horatius der eigentliche Träger des
Stücks sei und damit seine einheitliche Komposition zu wahren ver-
suchen, der Schlußakt bleibt doch eine Zuthat, die trotz des Talents,
mit welchem Corneille die einzelnen Reden, besonders die des Vaters,
behandelt hat, keinen Eindruck macht. Ein Held, der sein Vaterland
gerettet, dann durch eine schwere Blutthat sich befleckt hat, wird mit
^) Horace, IV, 5, 41 :
Puissent taut de malheurs accompagner ta vie,
Que tu tombes au point de me porter envie;
Et toi, bientöt souiller par quelque lächete
Cette gloire si chere ä ta brutalite.
Rome, l'unique objet de mon ressentiment!
Rome, ä qui vient ton bras d'immoler mon amant!
Rome, qui t'a vu naitre, et que ton coeur adore,
Rome enfin que je hais parce qu'elle t'honore!
Puissent tous ses voisins ensemble conjures
Saper ses fondements encore mal assuresi
Et si ce n'est assez de toute l'Italie,
Que rOrient contre eile ä TOccident s'allie;
Que cent peuples unis des bouts de l'univers
Passent pour la detruire et les monts et les mers;
Qu' elle-meme sur soi renverse ses murailles,
Et de ses propres mains dechire ses entrailles !
Que le courroux du ciel allume par mes voeux
Fasse pleuvoir sur eile un deluge de feuxl
Puisse-je de mes yeux y voir tomber ce foudre,
Voir ses maisons en cendre, et tes lauriers en poudre,
Voir le dernier Romain ä son dernier soupir,
Moi seule en etre cause, et mourir de plaisir!
397
Kecht von seinen Richtern milde beurteilt, aber indem sie ihn begna-
digen, rauben sie ihm den Rest der Teilnahme. Ein Mörder, der durch
königliche Gnade von der verdienten Strafe befreit wird, ist kein Held
mehr, wenn er auch große Thaten vollbracht hat.
In der Selbstkritik, mit der er die Ausgabe seiner Stücke später
einleitete, hat Corneille mit der ilim eigenen Offenheit diese Fehler in
„Horace" anerkannt. Trotz derselben wird man diese Tragödie stets zu
den schönsten Blüten der französischen Poesie rechnen. Welches drama-
tische Werk ist überhaupt so vollkommen, daß es nicht Raum ließe zu
kritischen Bemerkungen ?
Wenn „Horace" bei den ersten Aufführungen weniger gefiel, weil
das Publikum mit anderen Erwartungen gekommen war, so erwarb er
mit der Zeit immer größeren Beifall und blieb zwei Jahrhunderte lang
ein Lieblingsstück der Gebildeten, denn er ist niemals ganz von dem
Repertoire der französischen Bühne geschwunden.
Wenn aber Corneille die Schwächen seiner Tragödie selbst an-
erkannte, so war er doch nicht willens, sie gegenüber den obgenannten
Kritikern, welchen er sie vorlas, gelten zn lassen. So weit wollte er sich
nicht demütigen. Er wollte ihnen eine Ehre erweisen, aber sich nicht von
ihnen meistern lassen. Und doch hatten sie diesmal Recht, denn sie er-
hoben hauptsächlich gegen den fünften Akt Einwendung. Die Art frei-
lich, wie sie bessern wollten, bewies nur ihre geistige Armut. Der Abbe
d'Aubignac meinte in seiner Weisheit, Camilla könne sich ja durch einen
unglücklichen Zufall selbst in das Schwert des Bruders stürzen und so
die Schuld des Horatius vermindern. Überhaupt sei ein Prozeß in solchem
Fall den Gefühlen des französischen Adels nicht entsprechend, und Va-
lere, der Camilla liebt und nach deren Tod als Ankläger des Mörders
auftritt, hätte die Erschlagene mit dem Schwert rächen sollen.^) Cor-
neille antwortete darauf, daß er ja Römer und keine Franzosen habe
schildern wollen.^) Zudem hätten die Gegner nicht verfehlt, aufs neue
über die Verherrlichung des Duells zu klagen. Lief doch bereits das
Gerücht um, man bereite einen neuen litterarischen Feldzug gegen Cor-
neille vor.
Wie aber auch die Absichten der noch immer rührigen Gegner
des Dichters sein mochten, sie wurden vereitelt, noch ehe sie zur Aus-
führung reif waren. Eine neue Dichtung Corneilles folgte dem „Horace"
auf dem Fuß und erregte einen Enthusiasmus, der an den Erfolg des
„Cid" erinnerte.
Dieses neue Schauspiel war ..Cinna".
ij D'Aubignac, Pratique du theätre, page 433 und 436: „Un coup de
fureur seroit plus conforme ä la generosite de notre noblesse, qu'une actiüu de
chieane qui tient un peu de la lachete et que nous haissons-*. — Im Druck er-
schien „Horace" erst 1641, weil CorneiUe durch diese Verzögerung seine Ein-
nahmen erhöhte. Chapelain, der einige Tausend Livres Pension von dem Herzog
von Longueville bezog, fand solches Vorgehen anstößig und sprach in einem
Brief an Balzac von den „poetes mercenaires"!"
2) Examen d'Horace.
398
^Horace" war, wie schon gesagt, im Frühling 1640 zum ersten-
mal aufgeführt worden, ,.Cinna" folgte ihm wahrscheinlich schon im
Herbst darauf.^)
Im Jahr zuvor war der Aufstand der Va-nu-pieds in der Normandie
in Strömen von Blut erstickt worden.'-^) Die Stadt Rouen selbst hatte
schwer unter der Strenge Richelieus zu leiden. Sie mußte über eine Mil-
lion Livres Kontribution zahlen, der Gemeinderat wurde aufgelöst, und
die Thätigkeit des Parlaments, das nicht die gewünschte Strenge gezeigt
hatte, suspendiert.
Corneille, der Advokat bei dem Parlament war, sah sich durch die
strengen Maßregeln ebenfalls berührt, und unter den Männern, welche
der Justiz Richelieus zum Opfer fielen, mögen Freunde und Bekannte des
Dichters gewesen sein. In dieser für seine Heimat so trüben Zeit oder
bald nachher entstand der „Cinna", der das Bild einer Verschwörung
gegen den Kaiser und dessen Milde gegen die Schuldigen entrollte. Man
hat neuerdings auf den möglichen Zusammenhang zwischen den Vorgängen
in der Normandie und Corneilles „Cinna" hingewiesen und die Frage
aufgeworfen, ob der Dichter nicht durch das, was er selbst erlebt hatte.
zu seinem dramatischen Werk angeregt worden sei, und ob er nicht
vielleicht indirekt einen Appell an Richelieus Milde habe richten wollen.^)
Der Gedanke hat etwas für sich. Und doch verleiten uns mehr
unsere modernen Anschauungen als Äußerungen Corneilles selbst, diese
Ideenverbiudung bei dem Dichter vorauszu^tzen. Für ihn konnte sich
zwischen der Revolte der armen Bauern und der Verschwörung der
römischen Aristoki-atie kaum ein Vergleichungspunkt ergeben. Mit noch
größerem Recht dürfte man annehmen, der Kampf der französischen
Großen gegen die erstarkende Macht des Königtums habe ihm die An-
regung zu seinem Schauspiel gegeben. Denn dieser Widerstand führte zu
jener Zeit zu immer neuen Katastrophen und Richelieu bedurfte seiner
ganzen Energie, um den Trotz des hohen Adels zu bändigen. Aber wozu
überhaupt nach solchem Zusammenhang suchen? Die Dichtung jener Zeit
war der Politik fremd, und die Bühne galt noch nicht als Mittel poli-
tischer oder philosophischer Propaganda. Corneille kannte die Geschichte
von Cinnas Verschwörung aus Senecas Buch über die Milde und den
„Essais" von Montaigne und fand darin den Stotf zu einem Schauspiel,
wie er ihn besser und für sein Talent passender gar nicht wünschen
konnte."*)
Corneille hatte hier Gelegenheit, die altrömische Welt mit dem
ganzen Aufwand seiner Kunst zu schildern. Diesmal führte er nicht in
die alten rauhen Zeiten der Könige zurück, sondern in die glanzvollen
Jahre der augusteischen Herrschaft, als Rom die Herrscherin der Welt
1) „Cinna ou la clemence d'Auguste" erschien im Druck erst 1643.
2) Siehe Abschnitt IV, „Corneilles Jugend", S. 323—324.
3) Der erste, der auf diese Umstände aufmerksam gemacht hat, war Ed.
Fournier, Notes sur la vie de Corneille, p. CXVII — CXIX, die seinem „Corneille
ä la Butte-St. Roch" vorausgeschickt sind.
*) Seneca, de dementia lib. I. Montaigne, Essais 1, I, eh. 23.
399
und der Mittelpunkt des geistigen Lebens der Völker war. Der macht-
volle Bau des Weltreichs stand noch unerschüttert, wenn auch der Patriot
in deutlichen Anzeichen den kommenden Verfall vorahnend erblickte.
Corneille zeigt uns Kaiser Augustus auf der Höhe seiner Macht.
Aber ist auch jeder offene Widerstand längst geschwunden , der Haß
gegen ihn glüht noch in den Herzen vieler seiner früheren Gegner. Zu
diesen gehört ein Enkel des Pompejus, Cinna, dessen Familie stets dem
Haus der Julier feindlich war, und der selbst gegen August die Waffen
getragen hat. August glaubt ihn versöhnt zu haben und schenkt ihm
sein volles Vertrauen; er ehrt ihn und bekleidet ihn mit den höchsten
Staatsämtern. Doch hat sich der feine Menschenkenner diesmal getäuscht;
Cinna liebt Emilia, die Tochter eines von August früher zum Tod ge-
schickten Patriziers, und diese gewinnt ihn für ihren ßacheplan. Sie
wird in der kaiserlichen Familie wie eine Tochter geliebt, aber trotzdem
hegt sie nur den einen Gedanken, den Vater zu rächen. Sie gewinnt
Cinna durch das Versprechen, die Seine zu werden, sobald er den Tyrannen
gestürzt habe. So wird aus dem Freund Augusts ein Verschwörer ; Cinna
vereinigt eine Anzahl vornehmer Römer zu geheimer Verbindung und
plant mit ihnen die Ermordung des Kaisers. In den Versammlungen der
Verschworenen redet Cinna zwar große Worte von Freiheit und alt-
römischer Kraft, aber der eigentliche Beweggrund seines Handelns bleibt
doch persönliches Rachegefühl und Schwäche gegenüber den Wünschen
einer verführerischen Frau. Es wäre ein Irrtum, wollte man glauben,
daß Corneille in seinem „Cinna" das Ideal eines römischen Helden habe
zeichnen wollen. Im Gegenteil, wir finden in dem ganzen Schauspiel
nur ein Gemälde der beginnenden Zerrüttung und der allgemeinen Charakter-
schwäche, welche es allein möglich machte, daß bald so furchtbare Zeiten
über Rom hereinbrachen. Cinna selbst ist kein Staatsmann, nur ein
schwächlicher Liebhaber, dem es an Voraussicht und Überlegung fehlt.
Der Dienst der Herrin geht ihm vor dem Dienst der Freiheit. Er sagt
zu Emilia:
„Ob mir der Himmel gnädig oder hart,
Ob er mir Ruhm verleiht, ob Schimpf und Tod,
Ob Rom sieh für mich ausspricht oder nicht —
Starb' ich in Eurem Dienst, bin ich beglückt." i)
Noch offener zeigt er sich in der folgenden Scene. Er gesteht ein,
daß er seine Mitverschworenen täuscht:
„Da ich der Römer Elend schilderte,
Verschwieg ich doch die Quelle unseres Hasses,
Den Tod des Vaters."-)
1) Cinua, I, 3, 117:
Pour moi soit que le ciel me soit dur ou propice,
Qu'il m'^leve a la gloire ou me livre au suplice,
Que Rome se declare ou contre nous,
Mourant pour vous servir, tout me semblera doux.
2) Cinna, I, 4, 63:
Et leur parlant tantöt des miseres romaines,
Je leur ai tu la mort qui fait maitre nos haines.
400
aber er ist sich offenbar der Niederträchtigkeit dieses Spiels nicht
bewußt.
Cinna ist kein Mann der That, kein Fanatiker der Freiheit , wie
Brutus. Er ist nur in der Kunst der Rhetorik geübt, und wenn ihn auch
die alten Traditionen im Angesicht des Todes ruhig und fest zu bleiben
heißen, so hat er doch nichts vom wahren Helden in sich.
Wie anders steht ihm Augustus gegenüber. In ihm möchten wir
die Hauptperson des Stücks erkennen, und jedenfalls ist er sein interessan-
tester und am besten gezeichneter Charakter. Augustus hat seine Herr-
schaft auf Gewalt begründet und seinen Thron über einem Meer von Blut
errichtet. Nun er sein Ziel erreicht hat, ist er enttäuscht und erkennt
die Nichtigkeit seines Ehrgeizes. Einsam steht er auf der Höhe; die
Macht scheint ihm schal und der ]!ilühe unwert, die er aufgewandt hat,
um sie zu erwerben.
„Zur Höh' gelangt, drängt's mich, hinabzusteigen", i)
sagt er. Er ist müde und verachtet die Menschen. Darum will er die
Bürde der Herrschaft abschütteln. Er beruft seine beiden vertrautesten
Ratgeber, Cinna und Maxime, um ihnen die Frage vorzulegen, ob er
nicht, wie ehedem Sulla, seine Macht dem Senat zurückgeben soll? Wenn
Cinna nur aus Patriotismus handelte , müßte er dem Kaiser zureden,
diesen Gedanken auszuführen. Allein, da er an den Wunsch der Geliebten
denkt, bietet er seine ganze Beredsamkeit auf. den Kaiser von seinem
Vorhaben abzubringen. Augustus läßt sich in der That umstimmen, und
soll dafür beim Opferfest des folgenden Tags von Cinna und dessen
Genossen erdolcht werden. Doch die Verschwörung wird verraten , und
zwar aus Liebeseifersucht. Die Verschworenen werden verhaftet und der
Tod scheint ihnen gewiß. August ist jedoch des Blutvergießens müde.
Er läßt Cinna vor sich rufen und hält ihm seinen Undank, aber auch
seine politische Ohnmacht vor. Sein Wort ist vernichtend :
„Erkenn' Dich selbst, steig in Dein Herz hinab;
Du bist geehrt in Rom. umschwärmt, geliebt.
Man fürchtet Dich, man hascht nach Deiner Gunst,
Dein Glück ist hoch und Deine Macht ist groß.
Doch wärst Du nur ein Spott für Deine Neider,
Beschränkt' ich Dich auf Deine Kraft allein.
Zur Macht erhob Dich nichts als meine Gunst,
Und nur durch sie vermagst Du Dich zu halten.-' '^)
Cinna, II, 1, 16:
„Et monte sur le faite, il aspire ä descendre.-'
Cinna, V, 1, 93 ff:
Apprends ä te connoitre, et descends en toi-meme:
On t'honore dans Rome, ou te courtise, on t'aime,
Chacun tremble sous toi. chacun t'offre des voeux,
Ta fortune est bien haut, tu peux ce que tu veux
Mais tu ferois pitie meme ä ceux qu'elle irrite,
Si je t'abandonnois ä ton peu de merite.
Ma faveur fait ta gloire, et ton pouvoir en vient,
Elle seule t'eleve, et seule te soutient.
401
Cinna verteidigt sich nur schwach, und sein Ansehen steigt nicht
in der nächsten Scene , in der Emilia sich als Anstifterin des ganzen
Komplots anzeigt. Sie will Cinna retten oder mit ihm sterben. Augustus
zeigt sich höheren Geistes als alle seine Gegner. Er will vergessen, und
statt zu strafen, bietet er die Hand zur Versöhnung. „Soyons amis,
Cinna!" sagt er zu dem gedemütigten Mann, und dieses in seiner Ein-
fachheit und an solcher Stelle großartige Wort gewinnt ihm die Herzen.
Auch auf die Zuschauer verfehlt es bei der Aufführung niemals seinen
Eindruck. Freilich darf man dabei nicht daran denken, daß August kurz
zuvor Cinna als einen schwachen, ohnmächtigen Menschen charakterisiert
hat. Denn Milde einem solchen Feind gegenüber erscheint weniger ver-
dienstlich. Auch erzählt Voltaire, daß bei einer Vorstellung des „Cinna"
der Marschall de la Feuillade, der seinen Sitz auf der Bühne hatte, dem
Augustus bei dessen ersten wegwerfenden Äußerungen zugerufen habe:
„Tu rae gätes le Soyons amis!" Ob Augustus wirklich noch an Cinnas
Freundschaft glauben kann, ist eine andere Frage. Der Dichter scheint
gefüblt zu haben, daß ein Zweifel daran gestattet ist, und er legt darum
der Kaiserin Livia zum Schluß die prophetischen Worte in den Mund,
daß nun die Zeit der Mordanschläge vorüber sei, Augustus die Kömer
entwaffnet habe und künftig die Herrschaft ungefährdet führen werde.
Mit besonderer Vorliebe hat Corneille die Heldinnen seiner Schau-
spiele behandelt. Wie für Chimene und Camilla, so hat er auch für Emilia
seine glänzendsten Farben aufgeboten. Während die Männerwelt in „Cinna"
schwach erscheint, weist Emilia den altrömischen Charakter in seiner
herben Größe auf, wie ihn Corneille verstanden hat. Er will sie mit den
Tugenden einer Lucrezia, einer Porcia und Arria ausstatten. Sie trägt
fast männlichen Sinn im Busen, und das Blutvergießen der Bürgerkriege
hat auch ihr Herz verhärtet. Dabei fühlt sie ihren Wert als Herrin der
Welt, und verächtlich blickt sie auf jede Königskrone herab :
„Weil Du mehr bist als König, wähnst Du schon
Etwas zu sein! Wer auf dem Erdenrund
Hält einem Bürger Roms sieh ebenbürtig?" i)
Ihr edler Sinn verhindert sie jedoch nicht, in ihrem Rachedurst
Freundschaft und Dankbarkeit gegen Augustus zu heucheln; durch diesen
Zug verletzt sie uns und verscherzt die aufrichtige Teilname. Wie anders
läßt Corneille später die Witwe des Pompejus handeln, als sie von einer
Verschwörung der Ägypter gegen Cäsars Leben hört? Sie ist die erste,
die ihren Feind warnt, denn sie will nicht durch Verrat siegen :
„Wer von ihm weiß und duldet ihn, der teilt
Die Schmach!" 2)
1) Cinna, III, 4, 84:
Pour etre plus qu'un roi, tu te crois quelque chose!
Aux deux bouts de la terre en est-il un si vain,
Qu'il pretende egaler un citoyen romain?
2) La Mort de Pompee, IV, 4, 26:
Mais avec cette soif que j'ai de ta ruine.
Je me jette au-devant du coup qui t'assassine.
Lotheiße II, Gesch. d. franz. Litteratnr.
402
Der Erfolg des neuen Schauspiels war außerordentlich groß. Noch
in seinen späteren Jahren erfreute sich Corneille der Erinnerung an diese
ruhmreiche Zeit. Sein Triumph wurde ihm diesmal nicht wie bei dem
.,Cid-' verbittert, denn der Krieg, den man gegen ihn seit diesem Drama,
bald offen, bald versteckt, geführt hatte, war nun endgiltig ausgefochten.
"Wenn „Horace" noch keine Entscheidung gebracht hatte, so konnte sich
„Cinna" des entschiedenen Sieges rühmen. Die kleinen Neider wurden
von nun au nicht mehr gehört und Corneille galt unbestritten als der
größte dramatische Dichter seines Landes. Die boshafte Kritik der Feinde
hatte Corneille zur Anspannung seiner Kräfte, zu größerer Strenge gegen
sich selbst in seiner Arbeit gespornt, und der bittere Kampf war insofern
nicht ohne gute Früchte geblieben.
Als sich Racine später in ähnlicher "Weise angegriffen sah, und
in bitterem Unmut der dramatischen Dichtkunst entsagen wollte, konnte
ihn sein Freund Boileau mit ßecht auf das Beispiel des energischen
Corneille verweisen:
„Von seinen Neidern angetrieben, stieg
Manch großer Geist zum Gipfel seines Ruhms.
Der Feinde Haß flößt neue Kraft ihm ein,
Cinna erschien, als man den Cid verfolgte." i)
Alles in allem genommen, ist ,. Cinna" Corneilles bestes "Werk,
und der Dichter selbst urteilte so. Andere seiner Dramen, wie der ewig
junge „Cid", haben mehr Feuer und poetischen Schwung; einzelne
Charaktere, wie Paulina in „Polyeucte", sind Schöpfungen von einem
Adel und von einer Reinheit, wie sie die Personen in „Cinna" nicht
erreichen. Aber wenn wir die Dichtung als Ganzes betrachten, erscheint
sie doch vollendet und harmonisch, wie keine andere. Die Komposition
ist selbständig und mit sicherer Hand von Corneille gearbeitet; der
Geist des Dichters erscheint gereift und männlich, selbst die Sprache
hat sich seit dem „Cid" noch geklärt und zu größerer Einfachheit
und Schönheit erhoben.
Was den Eindruck des Schauspiels beeinträchtigt, ist die falsche
Betonung der Ehre und des Ruhms, oder vielmehr die unrichtige Auf-
fassung dieser Begriffe. Allein darin folgte der Dichter nur dem Zug
seiner Zeit, von deren Anschauungen wir weiter oben schon ausführlich
gesprochen haben.-)
Et forme des desirs avec trop de raison,
Pour en aimer l'effet par une trahison:
Qui la sait et la soufFre, a part ä Tinfamie.
1) Boileau, epitre VII (ä Racine), v. 49—52:
Mais par les envieux un genie excite
Au comble de son art est mille fois monte;
Plus on veut raffoiblir, plue il croit et s'elance.
Au Cid persecute Cinna doit sa naissance.
-) Siehe den Abschnitt II dieses Bands: „Die Ideale der Zeit". Balzac,
der auch den „Cid" schon günstig beurteilt hatte, war von „Cinna" noch
mehr entzückt. In seiner abgemessen pedantischen und so oft übertriebenen
403
„Cinna" brachte dem Dichter reiclilichen Gewinn, zuerst durch
die Aufführungen, dann durch den Druck. Der Präsident der Finanz-
kammer zu Montauban, Pierre de Puget, seigneur de Montoron, schenkte
Corneille 200 Pistolen zum Dank dafür, daß der Dichter ihm sein
Stück gewidmet hatte. Montoron war einer der reichsten Finanzleute und
bekannt wegen der Freigebigkeit, mit der er die Schriftsteller und
Dichter bedachte.^;) Leider ließ sich Corneille bei dieser neuen Dedikation,
mehr noch als bei seinem „Horace", zu Schmeicheleien hinreißen, die
seiner unwürdig waren. Er pries seines Gönners allezeit offene Hand,
verglich ihn mit Augustus und erwähnte sogar die kriegerischen Tu-
genden Montorons, obwol derselbe niemals Gelegenheit gehabt hatte, sie
ernstlich zu bethätigen. Corneille gab sich damit eine Blöße, welche
seine Gegner sehr gut zu benutzen verstanden. War es ihnen mißlungen,
seinen dichterischen Wert herabzusetzen, so verschrieen sie nun seinen
persönlichen Charakter, und die .,Lobreden ä la Montoron" wurden
sprichwörtlich. Die Widmung des „Cinna" ist in ihrer ungemessenen
Übertreibung gewiß nicht zu rechtfertigen. Aber wir sehen sie deshalb
noch nicht als Beweis für die Habsucht und den knechtischen Sinn
Corneilles an, der während eines langen Lebens und oft im Kampf mit
Mühsal aller Art seine Unabhängigkeit stets zu wahren bedacht war.
Wir haben schon bei anderer Gelegenheit darauf hingewiesen, daß
Corneille als Haupt der Familie für seine Geschwister zu sorgen hatte,
und daß er sich gerade damals in seinem Einkommen als Advokat be-
droht sah. Dazu kam, daß er mit dem Gedanken umging, sich zu ver-
heiraten. Er bewarb sich, wie es heißt, längere Zeit um Marie de Lam-
periere, die Tochter eines Beamten in dem Städtchen Les Andolys, in
der Nähe von Ronen. ^) Aber seine Bemühungen waren vergebens, denn
der Vater verweigerte seine Zustimmung. Von streng bürgerlichem Geist
erfüllt, sah er mit Mißtrauen auf einen Mann, der den reellen Boden
eines Staatsamts verließ, sein Geschäft vielleicht manchmal vernachlässigte,
um Träumereien nachzuhängen ; dessen Einkommen dadurch schwankend,
dessen Zukunft unsicher war, und der noch dazu mit Leuten in Ver-
weise schrieb er an Corneille (17. Januar 1G43): „J'ai senti un notable sou-
lagement depuis l'arrivee de votre paquet, et je crie Miracle ! des le commence-
ment de ma lettre. Votre Cinna guerit les malades : il tait que les paralytiques
battent des mains; 11 read la parole ä un muet...Vous nous faites voir Rome
tout ce qu'elle peut etre ä Paris et ne l'avez point brisee en la remuant
C'est une Rome de Tite-Live et aussi pompeuse qu'elle etoit au temps des pre-
miers Cesars. Vous avez meme trouve ce qu'elle avoit perdu dans les ruines
de la Republique, cette noble et magnauime tierte. . . Vous etes le vrai et fidele
interprete de son esprit et de son courage. Je dis plus, Monsieur; vous etes
souvent son pedagogue et l'avertissez de la bienseance quand eile ne s'en sou-
vient pas. Vous etes le reformateur du vieux temps, s'il a besoin d'embellissement
et d'appui. Aux endroits oii Rome est de brique, vous la remplissez de marbre;
quand vous trouvez du vide, vous le remplissez d'un chef-d'ueuvre." (Sollte hier
der Keim zu dem Urteil La Bruyeres liegen: „Corneille depeiat les hommes
comme ils devraient etre, Racine comme ils sontV")
1) Montoron verlor später sein Vermögen und starb 1664 zu Paris.
-) Mr. de Lamperiere war lieutenant-general aux Andelys.
404
kehr stand, die doch immer noch als verdächtig und unmoralisch an-
gesehen wurden. Fontenelle erzählt in der Biographie seines Onkels,
daß es der Vermittlung Eichelieus bedurft habe, um den Vater günstig
zu stimmen.') Ein Mann, für den der Kardinal solche Freundschaft an
den Tag legte, mußte doch ein ganz besonderer Herr sein. Das Ver-
hältnis zwischen Eichelieu und Corneille erscheint hier wieder in einem
neuen Licht. Der Kardinal hatte Corneille unter seine Leibpoeten ge-
zählt und war von ihm verlassen worden; er hatte den ..Cid" verfolgt,
und doch dem Dichter eine Pension aus seiner eigenen Kasse bewilligt;
er hatte den „Horace" zuerst bei sich aufführen lassen, und erschien
nun gar als der Vertraute Corneilles. Die beiden Männer müssen sich
in eigentümlicher Weise angezogen und abgestoßen haben. Richelieu
liebte das Theater zu sehr, um nicht mit Interesse auf einen Mann zu
sehen, der die dramatische Litteratur so hoch erhob, und auch Corneille
konnte einem solchen Förderer seiner Kunst nicht jede Anerkennung
versagen. Aber beide Männer hatten einen festen Charakter; Richelieu
war gewöhnt zu herrschen und vertrug keinen Widerstand, am wenigsten
den indirekten, unausgesprochenen Widerstand, das Streben, sich seinem
Einfluß zu entziehen, und Corneille seinerseits mochte mehr als einmal
mit den Zähnen knirschen, wenn er seinen Willen vor dem des Ministers
beugen mußte. Die beiden Männer vertrugen sich nicht miteinander,
dazu hatte jeder einen zu starren Sinn. Aber wenn sie sich abstießen,
so fühlten sie sich doch auch wieder zu einander gezogen durch die
gleiche Vorliebe für die Bühne. Als der Mächtigere konnte Richelieu
leichter verzeihen. Corneille hat die Gegnerschaft des Kardinals gegen
den ,.Cid'' und den schweren Kampf, den er dadurch zu bestehen hatte,
niemals vergessen und seine bitteren Worte über Richelieu nach dessen
Tod beweisen es zur Genüge.-)
Man weiß nicht einmal genau, wann die Hochzeit Corneilles ge-
feiert wurde. Höchst wahrscheinlich fiel sie in das Jahr 1640. Ein la-
teinisches Gedicht von Menage aus jener Zeit erzählt uns, daß der
1) Fontenelle, Vie de Corneille, p. 122 (t. III der Oeuvres de Fontenelle,
Paris 1767).
2) Ein Quatrain, das er auf den Tod des Kardinals dichtete, besagt:
Qu'on parle mal ou bien du fameux Cardinal,
Ma prose ni mes vers n'en diront jamais rien:
II m'a fait trop de bien pour en dire du mal,
II m'a fait trop de mal pour en dire du bien.
Bald aber, als er in einem Sonett den Tod Ludwigs XIII. beklagte,
rief er:
L'ambitiou, Torgueil, l'audace, Tavarice,
Saisis de son pouvoir, nous donnereut de lois,
Et bien qu'il füt en sei le plus juste des rois,
Son regne fut pourtant celui de l'injustice.
Man hat auf die merkwürdige Steigerung in den Vorwürfen aufmerksam
gemacht, die Corneille gegen den Kardinal erhebt, und welche den Geiz als
das stärkste Übel an letzter Stelle betont. Doch könnte das nur des Reims
halber geschehen sein.
405
Dichter in der Hochzeitsnacht schwer erkrankte und in Paris bereits
die Nachricht seines Todes umlief. Im übrigen wird von Marie de
Lamperiere nicht viel berichtet und das ist ja auch ein Lob. Sie scheint
«ine einfache, gute Frau und eine brave Mutter gewesen zu sein. Man
war früher in Bezug auf Familiennachrichton besonders zurückhaltend
und hatte nicht, wie heute, den Wunsch, einen Blick in das häusliche
Leben hervorragender Menschen zu werfen. Auch von Corneilles Leben
in den nächstfolgenden Jahren wird uns kaum etwas berichtet Wir
dürfen annehmen, daß er in glücklicher Ehe lebte, in angestrengter
Thätigkeit zu Kouen sich seinem Amt widmete^) und in seinen Muße-
stunden jene Dramen dichtete, mit welchen er die französische Bühne
bereicherte. Die Aufführung dieser Werke, sowie das Bedürfnis, mit den
litterarischeu Kreisen der Hauptstadt in Verbindung zu bleiben, führten
ihn jedenfalls öfter nach Paris.
Auf „Horace" und ..Cinna" folgte die Tragödie „Polyeucte". Die
früheren Biographen haben die erste Aufführung dieses Stücks ebenfalls
in das Jahr 16-10 gesetzt. Eine Stelle in der Korrespondenz Corneilles,
auf welche Marty-Laveaux zuerst aufmerksam gemacht hat, beweist jedoch,
daß „Polyeucte" bedeutend späteren Ursprungs ist. Ein lateinischer Brief
des Pariser Parlamentsrats Claude Sarrau an Corneille vom 12. Dezember
1642 erwähnt ein Gerücht, das bis zu ihm gedrungen sei. demzufolge
Corneille an einer religiösen Dichtung arbeite, und Sarrau spricht die
Hoffnung aus, der Dichter werde seinen drei göttlichen Dramen bald ein
neues folgen lassen.^) Das Datum des Briefs kann nicht falsch sein, da
der Tod des Kardinals Richelieu, der anfangs Dezember 1642 erfolgte,
von Sarrau erwähnt wird. Wir hätten hier also wieder eine zweijährige
Pause in der dichterischen Arbeit Corneilles, wie nach der „Melite" und
dem „Cid". Der eben angeführte Brief gestattet nun den Schluß, daß
Corneille seinen „Polyeucte" — denn kein anderes Werk kann unter der
religiösen Dichtung, von der Sarrau spricht, verstanden werden — ■ im
Lauf des Jahrs 1642 gearbeitet und erst anfangs des folgenden Jahrs
zur Aufführung gebracht hat.^)
„Polyeucte" enthält eine Märtyrer- und Heiligengeschichte. Ein
oder der andere christliche Blutzeuge hat vvol schon früher als Held einer
Tragödie dienen müssen, allein diese Märtyrerdramen waren ohne Kunst
gemacht und somit auch unbeachtet geblieben.^)
1) Siehe „Particularites de la vle judiciaire de P. Corireille, relevees
par des documents nouveaux par E. Gosselin, greffier-archiviste k la Cour Im-
periale de Rouen." Gosselia hat aus alten Gerichtsprotokollen aus den Jahren 1643,
1644 und 1645 nachgewiesen, dali sich Corneille — entgegen der früheren An-
sicht — seinem Amt mit allem Eifer widmete.
2j Marty-Laveaux' Ausgabe Corneilles, X, p. 424 und 438 in der Samm-
lung des Grands ecrivains: Claudius Sarravius Petro Cornelio „Ut valeas
tu cum tuis Musis scire imprimis desiro, et utrum tribus eximiis et divinis tuis
dramatis quartum adjungere mediteris. . . . Inaudivi nescio quid de aliquo tuo
poemate sacro, quod an perfectum sit quaeso, rescribe".
3) Gedruckt wurde „Polyeucte" im Herbst 1643.
*) So der „Saint-Eustache" von Baro (1639).
406
Die Spanier hatten allerdings schon lang ihre Heiligenschauspiele,
aber in Frankreich kam diese Gattung erst durch Corneille zu Ansehen.
Diesmal las er seine Tragödie vor der Aufführung im berühmten blauen
Salon der Marquise de Rambouillet vor. Denn er gehörte seit einiger
Zeit zu den eifrigen und intimeren Freunden des Hauses. Die Schön-
geister, welchen der Dichter dort sein Werk zur Beurteilung vorlegte,
zauderten indessen mit ihrer Billigung. Sie erschraken darüber, daß
das Christentum und die christliche Kirche auf der Bühne profaniert
werden sollte, und beauftragten Voiture, dem Dichter ihre Bedenken
mitzuteilen. Corneille ließ sich indessen nicht beirren und der Erfolg,
den „Polyeucte" bei der öifentlichen Aufführung erlangte, gab ihm Recht.
Und dennoch war die Warnung seiner Freunde aus dem Haus Rambouillet
nicht so unbegründet, wenn auch die Voraussetzungen, von welchen sie
ausgingen, irrig waren.
Wie wenig ein Märtyrer wie Polyeucte sich zum Helden einer
Tragödie eignet, hat Lessing aufs klarste nachgewiesen. Sei es uns gestattet,
die betreffende Stelle hier mitzuteilen.
Lessiug schreibt in seiner Dramaturgie: „Xun leben wir in einer
Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallt,
als daß jeder Rasende, der sich mutwillig ohne alle Not, mit Verachtung
aller seiner bürgerlichen Obliegenheiten, in den Tod stürzt, den Titel
eines Märtyrers sich anmaßen dürfte. Wir wissen jetzt zu wohl die
falschen Märtyrer von den wahren zu unterscheiden ; wir verachten jene
eben so sehr, als wir diese verehren, und höchstens können sie uns eine
melancholische Thräne über die Blindheit und den Unsinn auspressen,
deren wir die Menschheit überhaupt in ihnen fähig erblicken. Doch diese
Thräne ist keine von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will.
Wenn daher der Dichter einen Märtyrer zu seinem Helden wählt: daß
er ihm ja die lautersten und triftigsten Beweggründe gebe! daß er ihn
ja in die unumgängliche Notwendigkeit setze, den Schritt; zu thiin, durch
den er sich der Gefahr bloßstellt! daß er ihn ja den Tod nicht freventlich
suchen, nicht höhnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein Held zum
Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter
leiden." ')
Allerdings stellt Lessing im Verlauf seiner Abhandlung die Dichtung
Corneilles über die anderen Märtyrerdramen, allein er findet, daß doch
auch „Polyeucte" gegen einige Hauptforderungen der Tragödie verstoße.
Polyeucte hat keine zwingende Veranlassung, den Tod zu suchen. Seine
Frömmigkeit hat ihn jedes menschlichen Gefühls beraubt. Seit wenigen
Tagen ist er mit einer der edelsten, reinsten Frauen, Pauline, vermählt.
Diese ist die Tochter eines vornehmen Römers, Felix, der als Gouverneur
die Provinz Armenien verwaltet. Auf Geheiß ihres Vaters hat sie Polyeucte,
dem Haupt einer armenischen Adelsfamilie, die Hand gereicht, obwol sie
von Rom her das Bild eines tapferen, aber unbemittelten Jünglings, Sever,
im Herzen trug, und sie ist entschlossen, ihre Pflicht im vollsten Umfang
'j Lessing, Dramaturgie. Erstes Stück vom 1 Mai 1767.
407
zu erfüllen, sich ganz ihrem Gatten zu weihen. Polyeucte wählt aber
gerade diese erste Zeit seiner Ehe, sich im Christentum unterrichten zu
lassen, und das Stück beginnt damit, daß er zur Taufe geht.
Einmal in die christliche Gemeinschaft aufgenommen, ist er von
dem Fanatismus und der Unduldsamkeit der Neubekehrten entflammt.
Er hält es für seine Pflicht, den heidnischen Gottesdienst zu stören und
die Götterbilder in dem Tempel umzustürzen, und wird bei seinem tempel-
schänderischen Beginnen alsbald verhaftet. Ein kaiserlicher Befehl hat
aber über jeden Christen die Todesstrafe verhängt. Vergebens ist Paulinens
und ihres Vaters Bemühen, Polyeucte zur Mäßigung zu stimmen und ihn
so zu retten. Vergebens tritt selbst Sever, der unerwartet nach glück-
licher Kriegsthat als des Kaisers Günstling und Freund in Armenien
erscheint, für ihn ein. Polyeucte kennt keine andere Sehnsucht, als durch
schleunigen Tod in das Himmelreich aufzusteigen. Ihm erscheint das wie
ein vorteilhafter Tauschhandel. Für einen raschen Tod erwirbt er ja die
ewige Glückseligkeit. Er ist so frei von jeder menschlichen „Schwäche'%
wie er das nennt, daß er völlig vergißt, welche Pflichten ihn an das
irdische Leben binden, daß er als Bürger Pflichten gegen den Staat hat,
und für das Lebensglück seiner Gattin , die ihm so viel geopfert , ver-
antwortlich ist. Die rührende Bitte Paulinens müßte sein Herz bewegen :
„Denkt des Geschlechts, aus welchem Ihr entsprossen,
Denkt Eurer Thaten, Eurer selt'nen Kraft!
Ihr seid geliebt vom Volk, geehrt vom Kaiser,
Der Eidam dessen, der das Land regiert.
Zudem mein Gatte — doch das wiegt nicht schwer.
Beglückt es mich, gilt es für Euch nicht viel." ^)
Polyeucte ahnt so wenig den wahren Wert und die Herzensgröße
seiner Frau, daß er sie nicht nur mit empörendem Gleichmut aufgiebt,
sondern für sie zu sorgen glaubt, indem er sie wie ein Vermächtnis an
Sever vererben will. Auf tiefste verletzt, ruft ihm Pauline zu:
„Grausamer Mann, wenn Du mich töten willst,
Mußt Du mich auch beschimpfen? "2)
Selbst Jesus hatte einen Moment der Schwäche, als er die Stunde
seines qualvollen Todes nahen sah. Polyeucte aber weiß nicht, was
Schwanken heißt. Er mag ein Heiliger sein, aber er ist kein Mensch mehr,
und doch können wir nur mit Wesen Mitleid haben, deren Natur der
unseren ähnlich ist, und welche Gefühle und Leidenschaften haben wie
wir. Polyeucte wird von seinem Schwiegervater zum Tod geschickt. Der
1) Polyeucte, IV, 3, 13:
Daignez considerer le sang dont vous sortez,
Vos grandes actions, vos rares qualites:
Cheri de tout le peuple, estime chez le priuce,
Gendre du gouverneur de toute la province,
Je ne vous compte ä rien le uom de mon epoux,
C'est un bonheur pour moi qui n'est pas graud pour vous.
^j Polyeucte, V, 3, 6:
Tigre, assassine-moi du moins sans m'outrager.
408
charakterlose Felix fürchtet einerseits den Zorn des Kaisers, wenn er
dessen Gebot mißachtet, anderseits hofft er durch sein Urteil Severs Gunst
zu erwerben. Denn der Tod Polyeuctes giebt ja Paulinen die Freiheit
wieder. Doch seine niedrigen Berechnungen erweisen sich als irrig.
Polyeuctes Märtyrertod thut Wunder. Pauline wird durch ihn plötzlich
für das Christentum gewonnen und verkündet laut und triumphierend ihre
Erleuchtung :
^Mein Irrtum schwand: ich seh', ich weiß, ich glaube!" i)
Noch erstaunlicher ist der Eindruck der Katastrophe auf Felix,
den des Himmels. Gnade ebenfalls erleuchtet, so daß er sein Amt nieder-
legt und sich offen zum Christentum bekennt. Selbst Sever wird zum
Freund der Christen und seine Äußerungen lassen seine baldige Bekeh-
rung voraussehen.
Die Tragödie schließt also mit dem Sieg der neuen Lehre. Doch
sind es nicht die Christen, sondern die heidnischen Personen des Stücks,
Sever und Pauline, welche unsere Sympathie erwecken. Sever ist der
edle, feinfühlende Mann, der jede niedere Regung des Herzens zu be-
siegen weiß; Pauline erweist sich als ein reines, pflichtgetreues Weib.
Sie ist ruhig und zurückhaltend, denn sie hat in harter Lebensschule
ihre Gefühle zu bemeistern gelernt. Aber ihr Herz schlägt doch warm
und stark, und mutig hat sie sich ihrer neuen Lebensaufgabe gewidmet.
Das moderne französische Drama würde es sich kaum entgehen
lassen, in Pauline eine unglückliche, verkannte, melancholische Frau zu
zeichnen: Corneille hat sie höher gestellt; er hat aus ihr eine Heldin
gemacht, die ihre Pflicht erfüllt, ohne viel Worte zu machen. Da sie
ihren Gatten mit dem Tod bedroht sieht, erklärt sie Sever. den sie einst
geliebt hat, daß eine Verbindung zwischen ihnen für alle Zeiten unmög-
lich sei, und Sever würdigt ihr Zartgefühl und beugt sich vor der Ho-
heit ihres Geistes. So fällt in dieser Tragödie, die zur Verherrlichung
des Christentums dienen soll, die schönste Rolle dem Heidentum zu. Cor-
neille hat das freilich nicht beabsichtigt. Indem er Pauline und ihren
Vater sich bekehren läßt, will er zeigen, daß sie schon vorher des
Christentums würdig waren und nur die Stunde der Erleuchtung fehlte.
Aber gerade diese unerwartete Bekehrung schwächt den Schluß ab. Pau-
line, die so menschlich, so natürlich fühlt, ist Zeuge der Hinrichtung
ihres Gatten. Man sollte denken, daß diese entsetzliche Scene sie auf
das Tiefste erschüttern müßte. Allerdings thut sie das, aber in anderem
Sinn als wir erwarten. Sie fühlt sich mit einem Mal für das Christen-
tum gewonnen. Sie hat nun kein Wort mehr des Schreckens und der
Trauer, sie ist in ihrem ganzen Wesen geändert. Ob zu ihrem Vorteil?
Ihre letzte Rede läßt uns das nicht glauben. Uns scheint, daß der milde
Sinn, der sie früher beseelte, sich nun in harten Fanatismus umgewan-
delt hat. Sie ruft ihrem Vater zu:
1) Polyeucte, V, 5, 9:
„Je vois, je sais, je crois, je suis desabusee."
409
„Sieh mich getauft mit diesem frommen Blut.
Auch ich bin Christin, ist das nicht genug?
Schick mich zum Tod, um Deinen Rang zu wahren.
Den Kaiser fürchte und den Zorn Severs.
Willst Du nicht selber fallen, muß ich sterben.
Schon ruft mein Gatte mich zum sel'gen Tod;
Nearch und er, sie öffnen mir die Arme.
Führ mich zu Deinen Göttern, die ich hasse:
Sie stürzten nur das eine Götzenbild,
Ich will die ander'n brechen. . ."i)
Daß in Zeiten religiöser Verfolgung und tiefgehender Aufregung
der mutige Tod eines Menschen andere mit der Kraft zu gleichem Tod
erfüllt, ist gewiß. Aber solche Märtyrer haben auch in ihrem früheren
Leben schon einen mystischen Zug, einen Hang zum Fanatismus gezeigt.
Nicht so Pauline. Ihr Charakter war bis zum Moment ihrer Bekehrung
so klar und sicher, und nur das reinste Menschentum beseelte sie, daß
wir uns diese letzte Wandlung nicht erklären können ; sie ist nicht
motiviert, ist ein Wunder — und Wunder sind zum wenigsten nicht
dramatisch wirksam.
„Polyeucte" leidet an einem Grundfehler, an der irrigen Auf-
fassung des religiösen Fanatismus. Trotzdem gehört diese Tragödie in
die Reihe der größten Werke Corneilles. In der Anlage vortrefflich, stei-
gert sich das Interesse fortwährend bis zum vierten Akt, welcher mit
der Kerkerscene zwischen Polyeucte und Pauliue den Höhepunkt der
Spannung erreicht. Die Figur der Pauline allein sichert dem Werk die
Bewunderung aller Zeiten; ihr Charakterbild ist eine der schönsten und
reinsten Schöpfungen der Litteratur. In ihrem ganzen Wesen liegt eine
Zartheit, wie sie Corneille keinem seiner Frauenbilder wieder verliehen
hat. Dies zeigt sich besonders in einer der hervorragendsten Sconen des
ersten Akts, in welcher Felix, der niedrig denkende, egoistische Vater
Paulinens, dieser die Nachricht bringt, daß Sever nicht tot ist, wie man
geglaubt hat, und daß er in wenig Stunden vor ihr stehen wird. Felix
fürchtet die Rache Severs, und er verlangt von seiner Tochter, sie solle
ihre Macht über das Herz ihres ehemaligen Geliebten benutzen, um ihn
günstig zu stimmen. Pauline kennt den Charakter Severs besser; sie
weiß, daß ihm Rachegedanken fern liegen. Aber sie weigert sich, ihn
wieder zu sehen:
„Ich bin ein Weib und kenne meine Schwäche!"
1) Polyeucte, V, 5, 10:
De ce bienheureux sang tu rae vois baptisee;
Je suis chretienne enfin, n'est-ce point assez dit?
Conserve en me perdant ton rang et ton credit;
Redoute l'empereur, apprehende Severe:
Si tu ne veux perir, ma perte est necessaire;
Polyeucte m'appelle a cet heureux trepas;
Je vois Nearque et lui qui me tendent les bras.
Mene, mene-mois voir tes Dieux que je deteste.
Ils n'en ont brise qu'un, je briserai le reste.
410
Weil sie ihrer Pflicht getreu bleiben will, mißtraut sie ihrer Kraft.
Sever hat ihr Herz besessen und nur mit Mühe hat sie ihre Liebe be-
kämpft. „Ich kann ihn nicht wiedersehen!" ruft sie, und dieser Angst-
schrei einer reinen Seele läßt Panlinen besser erkennen, als es lange
Reden thun könnten. „Ich kann ihn nicht wiedersehen!" wiederholt sie
aufgeregt, aber fest entschlossen.*) Später, wenn sie die Zusammenkunft
mit Sever nicht vermeiden kann, sagt sie ihm ausdrücklich, daß sie
ihren Gatten liebt, denn sie duldet auch nicht den Schatten eines Miß-
verständnisses.')
,.Polyeucte" wurde von seinem ersten Erscheinen an sehr bewun-
dert und die Nachahmungen blieben nicht aus. Doch ist von allen nur
Rotrous „Saint-Genest" zu erwähnen, von welchem später noch die Rede
sein wird.
Die römische Welt, welche Corneille in „Horace" und „Cinna"
geschildert hatte und die auch den Hintergrund in „Polyeucte" bildet,
lieferte dem Dichter gleichfalls den Stoff zu seiner nächsten Tragödie,
dem „Tod des Pompejus" ^) („La mort de Pompee"). In welches Jahr
dieses Stück fiel, ist ebenfalls nicht ganz sicher. Wenn „Polyeucte",
entgegen der früheren Annahme, erst anfangs 1643 zur Aufführung
gelangte, so muß auch das Datum des „Pompejus" hinausgerückt werden.
In dem Vorwort zu seinem „Monteur" sagt der Dichter, er habe dieses
Lustspiel und den „Pompejus" in demselben Winter geschrieben, und
so müssen wir deren Entstehen wol in den Winter 1643 — 1644 setzen.*)
1) Polyeucte, I, 4, 77 ff.
Pauline:
Mon pere, je suis femme, et je sais ma faiblesse,
Je sens dejä mon coeur qui pour lui s'interesse.
Et poussera sans deute, en depit de ma foi,
Quelque soupir indigne et de vous et de moi.
Je ne le verrai point.
Felix:
Rassure un peu ton äme.
Pauline:
II est toujours aimable, et je suis toujours femme,
Dans le pouvoir sur moi que ses regards ont eu,
Je n'ose m'assurer de toute ma vertu.
Je ne le verrai point.
2) Polyeucte, II, 2, v. 1.
3) Als Tragödie bezeichnete Corneille auch Stücke wie „Cinna" und
„Pompee", die wir Schauspiele nennen würden.
*) Im Druck erschien „Pompee" anfangs 1644, also wahrscheinlich bald
nach der ersten Aufführung. Der „Menteur" wurde 1644 veröffentlicht. In einem
Brief Balzacs an Corneille, datiert vom 10. Februar 1643, heißt es allerdings :
„Vous serez Aristophane quand il vous plaira, comme vous etes dejä Sophocle".
Soll man daraus schließen, daß der „Menteur" doch schon damals geschrieben
war? Ich glaube nicht. Balzac schmeichelt zwar oft unverschämt, aber wenn
er den „Menteur" gekannt hätte, wäre ihm eine Vergleichung mit den aristo-
phaneischen Lustspielen doch kaum in den Sinn gekommen. Vielleicht hatte
Corneille von seiner Absicht geschrieben, sich wieder einmal im Lustspiel zu
411
Diese Annahme wird auch von einer Stelle im „Menteur" be-
kräftigt. Das Palais Cardinal wird dort die Wohnung der Könige ge-
nannt. Die Eegentin, Königin Anna, bezog den Palast aber erst im
Jahr 1643 mit ihren beiden Kindern, dem jungen König Ludwig XIV.
und seinem Bruder Orleans.^)
Corneille hielt sehr viel von seinem „Pompejus". Er hatte seine
Freude an stolzer, volltönender Rede, und meinte, in keinem andern
Stück habe er eine so markige Sprache geführt, wie in diesem.^) Aber
wenn es auch durch seine Rhetorik glänzt, so ist es kaum dramatisch.
Der Beginn allerdings ist vortrefflich. Dem König Ptolemäus von Ägypten
ist zugleich mit der Nachricht von der Schlacht bei Pharsalus die Bot-
schaft zugekommen, daß Pompejus auf der Flucht vor Cäsar sich zu ihm
begeben wolle, und der erste Akt zeigt den ägyptischen Fürsten in Be-
ratung mit seinen Ministern. Ihre Mehrzahl rät, den flüchtigen Feldherrn
zu ermorden und durch diese That die Gunst Cäsars zu erwerben. Kleo-
patra, die Schwester des Königs, erhebt sich gegen die Anschläge jener,
„aus Schmutz geformten Seelen-' und jener „Pest des Hofs" (II, 2, 140).
Allein sie dringt mit ihrer Ansicht nicht durch. Photin, der einflußreichste
Mann im Rat des Ptolemäus, vergiftet den Sinn seines Herrn mit ver-
derblichen Lehren.
Des Staatsmanns Kraft beruht nicht auf dem Recht.
Der König hat das Recht, niemand zu schonen.
Zaghafte Billigkeit vernichtet nur
Die Kunst des Herrschens. Der muß immer fürchten,
Der ungerechte Thaten ängstlich scheut.
Wer alles können will, muß alles wagen." 3)
Auf den Rat seiner Minister beschließt Ptolemäus die Ermordung
des flüchtigen Pompejus. Leider entspricht der Fortgang des Stücks
versuchen. Wenn Balzac in demselben Brief Corneille den „Vater des Lust-
spiels" nennt, so mochte er an die früheren Komödien des Dichters denken.
') Le Menteur, II, 5, 11:
Et l'univers entier ne peut rien voir d'egal
Aux süperbes dehors du palais Cardinal.
Toute une ville entiere, avec pompe bätie,
Semble d'un vieux fosse par miracle sortie,
Et nous fait presumer, a ses süperbes toits,
Que tous ces habitants sont des dieux ou des rois.
Richelieu hatte seinen Palast dem König vermacht.
-) S. Examen de Pompee: „Pour le style, il est plus eleve en ce
poeme qu'en aucun des miens, et ce sont, sans contredit, les vers les plus pom-
peux que j'aie faits."
3) Horace, I, 1, 194:
La justice n'est pas une vertu d'Etat.
Le droit des rois consiste ä ne rien epargner.
La timide equite detruit l'art de regner.
Quand on craint d'etre injuste, on a toujours ä craindre.
Et qui veut tout pouvoir, doit oser tout enfreindre.
412
nicht dem spannenden Beginn. Pompejus erscheint gar nicht auf der
Bühne, und seine klägliche Ermordung wird nur erzählt. Cäsar wird
dagegen handelnd eingeführt, aber merkwürdigerweise ist seine Figur
gänzlich verfehlt. Er erscheint bei Corneille nur als süßlicher Galan.
Daß der historische Cäsar zu keiner Zeit Liebesabenteuer verschmähte,
beweist die Geschichte der Kleopatra. Aber Corneille giebt ihm für seine
Kriegszüge kein anderes Motiv als die Liebe. Der Cäsar Corneilles hat
Kleopatra schon früher zu Rom gesehen und geliebt, und sein Herz
treibt ihn darum, sie aufzusuchen. Ehrgeiz und Herschsucht sind ihm
völlig fremd ; hätte sein Widersacher ihm vertraut, so hätte sich ein
friedliches Abkommen leicht gefunden. ,.Wenn Pompejus nicht geflohen
wäre", sagt Cäsar zu Cornelia, „ich hätte Zwietracht und Neid zer-
treten, hätte ihn beschworen, meinen Sieg zu vergessen, mich zu lieben,
und ich wäre glücklich gewesen, neben ihm als seinesgleichen zu
leben."') Ihr Streit habe auf einem Mißverständnis beruht. Das klingt
sehr großmütig, aber auch sehr unwahrscheinlich, wenn man an den
erbitterten Krieg denkt, den die beiden Männer in Wirklichkeit mit-
einander geführt haben. Wollte Corneille vielleicht die Falschheit Cäsars
zeigen, der mit glatter Sprache seine Feinde zu beschwichtigen trachtet?
Der Verlauf des Stücks erlaubt solchen Schluß nicht; Cäsar soll als
Held aufgefaßt werden, und selbst Cornelia, seine erbitterte Feindin, ruft
bewundernd aus:
„Daß ich solch hochgesinnten Mann muß hassen!"-)
Dieser Cäsar gleicht den berühmten Romanhelden des 17. Jahr-
hunderts auf ein Haar; ähnlich den Rittern von König Artus' Tafel-
runde ist er ausgezogen, für die Ehre seiner Dame zu streiten und
jeden Fremden zum Lob ihrer Schönheit zu zwingen. Er redet zu Kleo-
patra, wie nur je ein precieuser Edelmann im Hotel de Rambouillet
girren konnte : ^)
Gäb's einen Fürsten, dessen Liebe Euch
Auf einen würdigeren Thron erhöbe,
Ich zöge gegen ihn — nicht zur Eroberung,
Nur Euch zu dienen, würd' ich ihm verbieten.
Erst wenn ich solchen Gegner überwunden,
Dürft' ich ans Glück Euch zu gefallen denken.
i) Horace, III, 4, 65:
Alors, foulant aux pieds la diseorde et s'envie,
Je l'eusse conjure de se donner la vie,
D'oublier la victoire et d'aimer un rival,
Heureux d'avoir vaincu pour vive son egal.
^) Pompee, III, 4, 92:
0 ciel, que de vertus nous me faites hau!
^) Pompee, IV, 3, 21:
S'il etoit quelque tröne oü vous pussiez paraitre
Plus dignement assise en captivant son maitre,
J'irois, j'irois ä lui, moins pour le lui ravir,
Que pour hü disputer le droit de vous servir.
413
Nur deshalb hob ich meinen Arm zum Kampf,
Um solch ein kostbar Recht mir zu erwerben.
Selbst bei Pharsalus zog ich mehr das Sehwert
Für dieses Recht als gegen den Pompejus,
Da Eure schönen Augen mich bestrickt,
Und Eurer Lieb' ich würdig wollt' erscheinen,
Schwang ich mich auf zum Herrscher Roms, der Welt.i)
Corneilles Held hat vom historischen Cäsar nichts als den Namen ;
er erscheint ohne Größe, und die weitere Entwicklung des Dramas ist
mühsam, ohne Spannung. Ptolemäus sieht sich in seiner Erwartung auf
Cäsars Dank getäuscht, und plant einen verräterischen Überfall der
Kömer. Aber Cornelia hört von der Verschwörung, und weil sie zunächst
Ptolomäus bestraft wünscht, auch als echte Eömerin nicht zugeben
kann, daß an einem Tag die zwei größten Feldherren Eoms unter dem
Messer eines Barbaren königs fallen, warnt sie Cäsar. Die weiteren Be-
gebenheiten, der Aufstand der Ägypter, der blutige Kampf in den Straßen
Alexandrias, der Tod des Ptolomäus, alles wird nur berichtet — „Pom-
pejus" enthält nicht weniger als vier große Erzählungen — und das
Stück endet damit, daß Cornelia sich zum Heer Catos begiebt. Scheidend
droht sie mit ihrem Zorn und ihrer Rache, Cäsar aber widmet sich
^anz seiner Liebe zu Kleopatra, die er zur Königin von Ägypten erhebt.
Diese letztere ist nicht minder modern geschildert als Cäsar; sie ist
eine französische Prinzessin, ohne eine Spur von orientalischer Glut.
Dafür kennt sie genau die spitzfindigen Gesetze der Galanterie.
Daß ein Dichter den historischen Charakter seiner Helden nicht
bewahrt, darf man ihm nicht zum Vorwurf machen. Er zeichnet einen
Charakter, wie er ihm vorschwebt, und nennt ihn nach Belieben. Aber
diese Freiheit ist ihm nur unter einer Bedingung gestattet. Wir ver-
langen, daß die Menschen, die er uns zeigt, in sich wahr seien, mögen
sie nun heißen, wie sie wollen. Shakespeares Römer sind auch keine
historisch getreuen Zeichnungen, aber wir sehen in ihnen doch wahr-
hafte Menschen. Der Feldherr, den Shakespeare Cäsar nennt, ist ein
ehrgeiziger Mann, der nach der Krone strebt und darum von fanati-
schen, kurzsichtigen Menschen ermordet wird, ohne daß sie die verlorene
Freiheit des Landes zurückbringen könnten. Die Tragödie Shakespeares
bietet ein ergreifendes, wahres Bild, obgleich die Römer, die darin auf-
treten, deutlich den englischen Typus tragen. Diese innere Wahrheit
aber fehlt Comeilles „Pompejus'', und auch die glänzendste Diktion
') Et je n'aspirerois au bonheur de vous plaire.
Qu'apres avoir mis bas un si grand adversaire.
C'etoit pour acquerir un droit si precieux
Qua combattait partout mon bras ambitieux;
Et dans Pharsale meme il a tire l'epee
Plus pour le conserver que pour vaincre Pompee.
Et vos beaux yeux enfin m'ayant fait soupirer,
Pour faire que votre äme avec gloire y reponde,
M'ont rendu ie premier et de Rome et du monde.
414
vermag solche Schwäche nicht zu verdecken. Im Gegenteil, die Unwahrheit
der Charaktere verführt den Dichter, der Sprache Gewalt anzuthun,
und in dem Bestreben, ihr die möglichste Erhabenheit zu geben, verfällt
er häufiger als sonst in Schwulst.^) Die einzige. Corneilles würdige
Figur dieser Tragödie ist Cornelia, obwol auch sie deui Vorwurf, zu
deklamatorisch gehalten zu sein, nicht ganz entgeht.
Die Geschichte Corneilles führt uns nun zu einem Werk, das eine
ähnliche Bedeutung in der Litteratur erlaogte wie der „Cid". Sahen wir
in diesem das erste klassische Schauspiel, so leitete das Lustspiel „Le
Menteur" (,.Der Lügner"), das Corneille auf „Pompejus" folgen ließ,
zu der höheren Charakterkomödie. Wie der „Cid", war auch der „Men-
teur" die Bearbeitung eines spanischen Musters. Wie eng sind doch die
Geschicke der Völker miteinander verflochten ! Wie mächtig ist die geistige
Wechselwirkung der Xationen aufeinander! Spanien besonders, das mit
seinen weiten Besitzungen in Europa dominierte, finden wir in dem 16.
und 17. Jahrhundert von bestimmendem Einfluß auf den verschiedensten
Gebieten.
Corneille war kein besonderer Kenner des Spanischen, aber er
kehrte doch immer wieder zum spanischen Theater zurück, das ihm schon
einmal zu großem Triumph verholfen hatte. In einem Band spanischer
Dramen hatte er das Lustspiel ..La verdad sospechosa" („Die verdäch-
tige Wahrheit") gefunden, das eine Zeit lang unter dem Namen Lope
de Vegas gedruckt wurde, in Wahrheit aber von Don Juan Kuiz de
Alarcon (f 1630) herrührte. Dieses Stück gab ihm die Anregung zu
seinem neuen Lustspiel.
Die spanische Komödie hatte damals einen hohen Grad der Aus-
bildung erreicht. Ein feiner Geist beseelte sie, und eine ausgebildete,
poetische, nur zu oft gesuchte Sprache erhöhte ihren Beiz. Freilich
räumte sie der regellosen Phantasie einen größeren Spielraum ein, als
wir Nordländer schön finden; die Natur des Spaniers, der viel von den
Mauren angenommen hatte, verlangte darin ihr Recht. Spanische Dramen
können daher nördlich der Pyrenäen nicht populär werden, so sehr der
Kenner sie bewundern mag. Das erwähnte Lustspiel Alarcons ist ein
geistvolles Werk echt spanischen Charakters. Sein heiteres, aber ver-
wickeltes Spiel in wenig Worten klar zu machen, ist schwierig. Über-
gehen wir die zahlreichen Episoden und nebensächlichen Verwicklungen,
so ergiebt sich als Hauptinhalt des Stücks etwa die folgende Geschichte.
2) Man siehe z. B. Pompee, II, 2, 75, wo der Bote, der die Ermordung
des Pompejus berichtet, von dem Sterbenden sagt:
Immobile ä leurs coups, en lui-meme il rappeile
Ce qu'eut de beau sa vie et ee qu'on dira d'eUe.
oder V. 80:
Et son dernier soupir est un soupir illustre I
Corneille hatte den Stoff in Lucans „Pharsalia" gefunden, und da er
dieses Epos sehr bewunderte, eine Reihe von Versen daraus in freier Über-
tragung in sein Drama aufgenommen. Der rhetorische Charakter des „Pompee"
wurde dadurch vielfach erhöht.
415
Ein junger Edelmann, Don Garcia, den sein Vater von der hohen Schule
in Salamanca heimgerafen hat, um ihn zu verheiraten, erweist sich als
ein in vieler Hinsicht braver Jüngling, aber seine guten Eigenschaften
werden durch einen großen Fehler verdunkelt. Don Garcia gefällt sich
darin, die Unwahrheit zu sagen. Dies bringt ihn in tausend Verlegen-
heiten, und schließlich straft sich seine Manie auf empfindliche Weise.
Don Garcia begegnet zwei reizenden Damen, erkundigt sich nach ihren
Namen — Jacinta und Lucrezia — verwechselt sie aber und schwärmt
von seiner Liebe zu Lucrezia, da er doch Jacinta meint. Im Lauf des
Stücks verwickelt er sich in offenbare Widersprüche, denn er bemüht
sich um Jacintas Neigung, während er stets seine Leidenschaft für Lu-
crezia beteuert. Zum erstenmal spricht er hier die Wahrheit, aber sein
Wort ist verdächtig, und er wird am Schluß von seinem erbitterten
Vater genötigt, die wirkliche Lucrezia zu heiraten. Das ganze Stück ist
in heiterer Weise durchgeführt und reich an jenen Verwechslungen und
Mißverständnissen, welche sich bei den spanischen Sitten leichter als
anderswo ergaben.
In der Vorredezu s einem Stück sprach Corneille mit der größten
Bewunderung von dem spanischen Lustspiel, und alles Lob, das sein
„Monteur" ihm eingebracht hatte, wies er dem spanischen Dichter zu.
Noch 16 Jahre später sagte er, er gäbe gern zwei seiner besten Stücke
dafür, wenn er den ,,Menteur" als sein Original werk bezeichnen könnte.^)
Er hat Alarcons Stück nicht wörtlich übersetzt, aber in seiner Bearbei-
tung sich doch eng an das Vorbild gehalten. Freilich bedingte schon
die ümgießung der spanischen Verse in französische Alexandriner be-
trächtliche Änderungen in Haltung und Ton der Rede.
Außerdem mußte Corneille, dem Charakter seiner heimischen Bühne
entsprechend, auf die Beweglichkeit des spanischen Lustspiels verzichten,
die Verwicklung vereinfachen, und somit fielen nicht allein viele Scenen
ganz weg, andere konnten auch nur in sehr freier Nachahmung ge-
geben werden.
Corneille verlegt die Scene, die bei Alarcon bald im Park, bald
im Haus, bald auf der Straße spielt, nach Paris auf den Platz vor den
Tuilerien und auf die „Place Eoyale". Das zieht viele Unwahrschein-
lichkeiten nach sich, wie z. B. daß Dorante (Garcia) seinem Vater auf
offener Straße zu Füßen fällt, um ihm die Lüge von seiner Heirat recht
glaubhaft zu machen. Auch die schalkhafte Laune des spanischen Ori-
ginals wird oft bedeutend abgeschwächt, und manche Unklaiheit des
französischen Lustspiels hat ihren Grund in dei Nötigung, den ursprüng-
lichen Plan zu vereinfachen.-) So sehr sich ferner Corneille bemühte,
1) Siehe sein „Examen du Menteur".
-) So z. B. ist es bei Alarcon richtig motiviert, dafj Don Garcia von
seinem Vater einen neuen Diener zugewiesen erhält, und daü sich dieser über
die Lügen seines jungen Herrn, den er noch nicht kennt, entsetzt. In Corneilles
Stück ist das Verhältnis zwischen Dorante und Cliton nicht so klar dargelegt.
Cliton thut sehr erstaunt, wenn er seinen Herrn die Unwahrheit reden hört,
und doch sollte er ihn schon kennen.
416
deu fremdartigen Charakter des Stücks abzustreifen, indem er z. B. den
Lügner statt von den Kämpfen in Amerika von seinen Feldzügen in
Deutschland prahlen ließ, so konnte er doch die Intriguen. die auf der
spanischen Lebensweise beruhten, den französischen Verhältnissen nicht
völlig- anpassen. Sein Stück behielt darum immer etwas Fremdartiges,
wenn man auch von der „Commedia dell" Arte" her an Verwechslungen
und Täuschungen aller Art gewöhnt war. Dem Madrider Publikum war
es verständlich, wie zwei Mädchen durch kokettes Spiel mit der Mantille
sich unkenntlich machen und einen Fremden täuschen können. Nach
Paris übertragen, verlor dieses Spiel an Wahrheit und somit an Interesse.
Alarcons Werk hat ebensoviel vom Intriguenstück wie von der
Charakterkomödie. Das Verdienst Corneilles ist es, in seiner Bearbeitung
die letztere Seite besonders betont zu haben, denn darin liegt ilie Be-
deutung des „Menteur'.
Es ist das erste französische Lustspiel, in welchem sich eine ernst-
liche Charakterstudie findet. Ein Lustspiel, dessen Personen nicht dem
wirklichen Leben entnommen sind und nicht wahrhaftige Charaktere dar-
stellen, kann wol erheitern, aber auf litterarische Bedeutung hat es
keinen Anspruch. Der „Menteur'" zeigte den französischen Dichtern den
Weg, den sie zu gehen hatten, und insofern gilt Corneille mit Recht
als der Begründer des modernen französischen Lustspiels.
In dem Bestreben, vor allem den Charakter eines Lügners zu
zeichnen, wich Corneille in der Schlußscene von dem Gang des Origi-
nals ab. Als Dorante (Garcia) seines Irrtums inne wird und erkennt,
daß er Ciarice für Lucrece gehalten hat, will er sich abermals mit einer
Lüge aus der Verlegenheit ziehen. Er habe Claricen nur den Hof ge-
macht, sagt er, weil er bemerkt habe, daß sie ihn foppen wolle. So
bleibt allerdings Dorante seinem Charakter bis zum Ende getreu, aber
de]- heitere Schluß des spanischen Stücks, wonach der Lügner zur Strafe
für seine Unwahrheit eine Frau nehmen muß, die er nicht mag, geht
verloren. Denn dem Corneille'schen Lügner erscheint die wirkliche Lu-
crece, die er als Frau heimzuführen genötigt wird, bereits liebenswerter
als Ciarice, um die er sich zuvor bemüht hat. So kann denn auch Cliton,
der Diener, das spöttische Schlußwort an die Zuschauer richten :
Ihr glaubtet, daß er sich nicht retten könnte.
So lernt von ihm jetzt, wie man lügen muß.')
Der „Menteur" zeichnet sich wieder durch seine Sprache aus. Wie
Corneille schon in seinen früheren Lustspielen den Ton der feinen Ge-
sellschaft hatte treffen wollen, so versucht er es jetzt wieder, und mit
noch besserem Erfolg. Eine große Anzahl heiterer und glücklicher Wen-
dungen, die er seinem Stück eingefügt hat, zeigen aufs neue, daß Cor-
Lüse.
1) Le Menteur, V, 7, 17 und 18:
Vous autres qui doutiez s'il pourroit en sortir,
Par un si rare exemple apprenez ä mentir.
Das spanische Stück schließt im Gegenteil mit einer Warnung vor der
417
neille auch die Gabe des Humors besaß. Eine sehr gehmgeue Scene ist
z. B. die, in welcher Dorante auseinandersetzt^ wie man prahlen müsse,
um den Damen zu gefallen:
„Erringt man einer Dame Gunst so leicht,
Wenn man ihr zierlich sagt: Empfaht
Die Huldigung, die Eure Schönheit heischt?
Ich kehrte jüngst erst von der hohen Schule,
Bedürft Ihr Auskunft über die Gesetze?
Ich hab' das ganze Corpus Juris inne.
Die Institutionen, die Pandekten,
Und weiß, was unsre Professoren lehrten!
Welch Anseh'n kann uns solche Sprache geben!
Wie wird die stolzen Herzen sie erweichen!
Ein Paragraphenmann ist so galant!
Ganz anders führt man sich als Kriegsheld ein!
Das ist so schwer nicht, wie es scheint; man schneide
Ein grimmiges Gesicht, man fluche tüchtig,
Und lüge nur zur rechten Zeit; man werfe
Mit Worten um sich, die sie nicht versteh'n:
Darin liegt das Geheimnis dos Erfolgs.
Man nenne Lamboy, Gallas, Johann Wert,
Citiere Orte mit barbar'schen Namen —
Je härter sie fürs Ohr sind, desto besser —
Und rede nur von Linien und von Gräben,
Eedouten, Schanzen, vorgeschobnen Werken;
Ob's paßt, ob nicht, gleichviel: man imponiert,
Und was man ihnen vorlügt, wird bewundert.
Gar mancher hat mit Hilfe solcher Suada
Sich zum bewährten Kriegsmann aufgeschwungen.^)
1) Le Menteur, I, 6, U:
Oh! le beau compliment a charmer une dame.
De lui dire d'abord: J'apporte ä vos beautes
Un coeur nouveau venu des universites;
Si vous avez besoin de lois et de rubriques.
Je sais le Code entier avec les Authentiques,
Le Digeste nouveau, le vieux, i'Infortiat,
Ce qu"en a dit Jason, Bälde, Accurse, Alciat!
Qu'un si riebe discours nous rend considerables !
Qu'on amollit par lä de eoeurs inexorables!
Qu'un homme ä paragraphes est un joli galant !
On s'introduit bien mieux ä titre de vaillant:
Tout le secret ne git qu'en un peu de grimace,
A mentir ä propos, jurer de bonne gräce,
Etaler force mots qu'elles n'entendent pas.
Faire sonner Lamboy, Jean de Vert et Galas,
Nommer quelques chäteaux de qui les noms barbares
Plus ils blessent l'oreille, et plus leur semblent rares,
Avoir toujours en bouche angles, lignes, fosses,
Vedette, contrescarpe, et travaux avances:
Sans ordre et sans raison, n'importe, on les etonne;
On leur fait admirer les bayes qu'on leur donne,
Et tel, ä la faveur d'un semblable debit,
Passe pour un homme illustre, et se met en credit.
Lotheißen, Geech. d. franz. Litteratur.
418
Cliton wird durch die steigende Geschicklichkeit seines Herrn in
der Kunst des Lügens überrascht und so zur Bewunderung hingerissen,
daß er — einer alten, noch heute giltigen Schauspielertradition zufolge
— nach einer besonderen Meisterleistung im vierten Akt seinem Herrn
den Rockzipfel küßt.^) Aber auch er ist reich an heiteren und witzigen
Einfällen. So sagt er einmal seinem Herrn:
Ihr seid gestopft mit Wahrheit jeder Art
Nur gebt Ihr sie nicht von Euch. 2)
Corneille hätte seine Natur verleugnet, wenn er seiner Sprache
nicht auch stellenweise höheren Schwung gestattet hätte. So klingt ein
Monolog Alcippes, des eifersüchtigen Freundes, der sich von Dorante
übervorteilt glaubt, ganz tragisch, und berühmt ist die Scene zwischen
Dorante und seinem Vater Geroute. Der alte Herr ist seinem Sohn mit
aller Liebe entgegengekommen, aber von diesem unwürdig betrogen
worden. Dorante hat ihm eine lange Geschichte vorerzählt, wie er zu
einer Heirat gezwungen worden sei. und spottet noch des greisen Mannes,
der die Verheimlichung der Ehe verzeiht und nur den Wunsch hat,
seine Schwiegertochter kennen zu lernen. Erst als Geronte von anderer
Seite die Wahrheit erfährt, bäumt er sich auf und sein Unwille wird
doppelt ergreifend. Der würdige Edelmann sieht sich durch das gemeine
Laster seines Sohns entehrt. Mit blitzendem Auge und bebendem Mund
tritt er Dorante gegenüber und schleudert ihm die Frage ins Gesicht:
Seid Ihr ein Edelmann?
Dorante sucht mit schalem Witz abzulenken, aber der empörte
Greis beruhigt sich nicht so leicht.
„Wer sich von Adel nennt, und lügt wie Du,
Der lügt, wenn er es sagt, und war es nie!
Giebt es ein Laster, das gemeiner ist?
Das einen Mann, der in dem Cult der Ehre
Erzogen ward, mit schwärz'rem Flecken schändet ?
Giebt"s eine Schwäche, giebt es eine Handlung,
Die wahrhaft edlem Sinn verhaßter wäre?
Ein jeder Widerspruch wird ja zum Schimpf,
Dem' er nur mit Gefahr des Lebens trotzt.
Der ihm ein Schandmal auf die Stirne drückt,
Das er mit Blut nur wieder tilgen kami."^)
1) Le Menteur, IV, 4.
2) Le Menteur, IV, 3, 37:
Vous avez toute le Corps bien plein de verites,
II n'en sort jamais une.
3) Le Menteur, V, 3, 19:
Qui se dit gentilhomme, et ment comme tu fais,
II ment quand il le dit, et ne le fut jamais.
Est-il vice plus bas, est-il taehe plus noire,
Plus indigne d'un hemme eleve pour la gloireV
Est-il quelque faiblesse, est-il quelque action
Dont un coeur vraiment noble ait plus d'aversion,
419
Wenn dann Dorante ihm die Wahrheit zu enthüllen verspricht,
muß er sich sagen lassen:
Kennt Deine Zunge denn die Wahrheit?
Der edle Zorn des Vaters müßte auf Dorante vernichtend wirken.
Aber dieser hat nur ein wegwerfendes Wort für den ganzen "Vorgang. •
So sehr seine Freunde auch seine sonstigen Vorzüge rühmen, wir
können schwer an sie glauben, wenn wir sehen, wie völlig er jedes
Verständnis für Moral und Pflicht eingebüßt hat. Das ist denn auch
die Klippe, welche das sonst treffliche Werk gefährdet. Corneille
suchte den Charakter Dorantes später durch die Bemerkung zu recht-
fertigen, derselbe entwickle bei seinen Lügen so viel Geistesgegenwart
und Anmut, daß man ihm nicht gram sein könne, und gestehen müsse,
ein Dummkopf könne wenigstens solchen Fehler nicht haben. ^) Das ist
nur halb wahr ; der Fehler, in den Dorante verfällt, ist gemein und der
Träger des Stücks kann uns deshalb nicht interessieren. Auch hat man
mit Recht bemerkt, daß Dorante in so thörichter Weise, ohne jeden
Grund und in den Tag hinein lügt, daß man bei ihm fast an eine
Geisteskrankheit denken möchte. Die Schilderung eines seiner Sinne
nicht Mächtigen gehört aber nicht mehr auf die Bühne. Trotz dieses
Fehlers hat sich indessen der „Monteur" his heute auf dem Repertoire
<les französischen Theaters erhalten. Der frische und männliche Geist,
der es teilweise belebt, seine kernige, packende Spraclie, der lebhafte
Gang des Spiels und der Humor, der sich fast jung erhalten hat, sichern
ihm immer noch den Beifall des Publikums.
Um jene Zeit, als Corneille durch den „Menteur" dem französischen
Publikum zeigte, welch hohe Aufgabe man dem Lustspiel stellen müsse,
begann ein junger Schauspieler, Poquelin, seine Künstlerwanderung
durch die Provinz. Ein halbes Menschenalter sollte noch verstreichen,
bevor er nach Paris zurückkehrte, das französische Lustspiel durch seine
unsterblichen Geisteswerke begründete und es zugleich auf eine seitdem
nicht wieder erreichte Höhe führte.
Es liegt noch eine ziemlich lange Strecke zwischen dem „Menteur'-
und dem „Misanthrope" ; aber wer vermöchte den Einfluß zu bestimmen,
welchen Corneilles Lustspiel auf Moliere ausgeübt? So wird eine Dichtung
oft nicht allein durch den inneren poetischen Wert, sondern auch durch
die Epoche bedeutsam, in der sie erscheint.
Die Zeitgenossen waren des Lobes voll für das neue Lustspiel;
begeisterte Freunde verglichen den Dichter mit Menander, Plautus und
Terenz,^) und Corneille selbst spricht in dem Stück, das er folgen ließ,
Puisqu'un seul dement! lui porte une Infamie
Qu'il De peut efifacer, s'il n'expose sa vie,
Et si dedans le sang il ne lave Taffront
Qu'un si honteux outrage imprime sur son front?
^) Siehe Corneilles „discours du poeme dramatique".
2) Man vergleiche das lateinische Gedicht, das der Holländer Constantin
Huyghens von Zuylichen an Corneille richtete, und das sich in der Ausgabe des
„Menteur" von 1645 abgedruckt fand.
420
der „Suite du Menteur" von dem Erfolg, den er mit seinem neuen
Versuch auf dem Gebiet der Komödie errungen habe.^) Der große Bei-
fall, den der „Menteur" fand, ermutigte den Dichter, eine Fortsetzung
desselben unter dem einfachen Titel „La suite de Menteur" zu schreiben.
Der Gedanke war nicht glücklich. Es ist immer eine mißliche Sache, au
eine schön abgeschlossene Komposition wieder anzuknüpfen. Die Personen
des ersten Werks haben in unserem Geist ihr bestimmtes Gepräge er-
halten. Nach den Ausführungen des Dichters haben wir uns von ilmen
ein festes Bild gemacht, das wir nur ungern sich verändern sehen. So
steht Dorante als Prototyp eines lügenhaften Gecken vor uns; gleich
einem Werk der Skulptur trägt dieser Charakter seine unveränderlichen
Züge. Mit einem Mal sollen wir die uns bekannte und vertraute Person
in einer neuen Phase der Entwicklung sehen, auf die uns das erste
Stück nicht vorbereitet hat. Dadurch unterscheidet sich die willkürliche
Fortsetzung eines schon abgeschlossenen Stücks von den Schauspielen
einer Trilogie. In der letzteren hat der Dichter von Anfang an seine
Komposition in größerer Weise angelegt, und ein jeder Teil fügt sich
harmonisch in das Ganze ein. Anders aber verhält es sich bei einer
einfachen Wiederanknüpfung an ein gegebenes Stück. Seine Personen
sollen uns wieder vorgeführt werden, aber sie dürfen sich nicht bloß
wiederholen ; sie sollen ein neues Interesse bieten, und der Verfasser
sucht nach einer weiteren Entwicklung der gegebenen Charaktere. Und
doch ist eine solche in den meisten Fällen kaum möglich. Wie soll
z. B. der Lügner in einem zweiten Stück dargestellt werden? Abermals
in Verlegenheiten, in die er durch seine Schuld gerät? Dann hätte man
keine Fortsetzung, nur eine Variante des ersten Stücks. Das mochte
auch Corneille denken, und so suchte er ihn als gebessert zu schildern.
Dorante soll sich in der „Suite" als Ehrenmann rehabilitieren, aber da
ist er eben nicht mehr der alte Dorante. Wir finden nur ein neues
Lustspiel, dessen Personen zufällig dieselben Namen tragen, wie die
Personen des vorhergehenden Stücks.
Um eine Fortsetzung zum „Menteur" zu geben, wählte Corneille
wieder ein spanisches Lustspiel, das er in seiner Weise bearbeitete.
Diesmal benutzte er eine Dichtung von Lope de Vega, „Amar sin saber
ä quien" (Lieben, ohne zu wissen wenV). Er änderte die spanischen
Namen, fügte eine Menge Anspielungen auf sein früheres Stück ein.
und glaubte dadurch das Interesse des Publikums für seine Person zu
steigern.
1) La Suite du Menteur, I, 3, 46. Cliton erzählt dort seinem Herrn, mau
habe seine Abenteur auf das Theater gebracht:
La piece a reussi quoique fälble de style,
Et d'un nouveau proverbe eile enrichit la ville,
De Sorte qu'aujourd'hui presque en tous les quartiers
On dit quand quelqu'un ment, ciu'il vient de Poitiers.
Und Voltaire erzählt in dem Commentar zu dieser Stelle, noch zu seiner
Zeit habe man, wenn jemand bei Tisch zu sehr renommierte, dem Diener zu-
gerufen: „Ceiton, donnez ä boire ä votre maitre."
421
Wir treffen Dorante in einem Kerker zu Lyon und hören, daß er
Lucrece, die ihm am Schluß des „Menteur" als Braut aufgezwungen
wurde, nicht geheiratet hat. Am Tag vor der Hochzeit ist er geflohen,
hat dabei die ganze Mitgift seiner Braut geraubt, und sich zwei Jahre
in Italien herumgetrieben. Während dieser Zeit ist sein braver Vater
gestorben und Dorante hat sich endlich auf die Heimreise begeben, um
seine Erbschaft anzutreten. In der Nähe von Lyon war er Zeuge eines
erbitterten Zweikampfes ; er eilte mit gezogenem Degen auf die Kämpfer
los, um sie zu trennen, nnd kam gerade recht, um einen derselben
sterbend zusammensinken zu sehen. Während er aber vom Pferd sprang,
dem Verwundeten zu helfen, schwang sich der Mörder auf das Tier und
sprengte davon. Die herbeieilende Wache fand Dorante mit entblößtem
Degen, blutbespritzt, allein, neben einer Leiche und schleppte ihn als
Mörder in das Gefängnis.
So zeigt sich uns Dorante anfangs nicht im besten Licht. Seine
Flucht mit dem Vermögen des von ihm verlassenen Mädchens macht
ihn sogar widerwärtig. Umsomehr erstaunt man, ihn, nachdem er von
seinem Wortbruch, seinem Diebstahl und anderen Abenteuern erzählt hat,
als tüchtigen Menschen zu finden. Denn in dem weiteren Stück haben
wir es mit dem Helden des spanischen Lustspiels zu thun, der hoch-
herzig und ritterlich handelt. Der wirkliche Gegner des Gefallenen,
Oleandre, wird ebenfalls verhaftet und mit Dorante konfrontiert. Der
letztere erkennt ihn zwar augenblicklich wieder, erklärt aber mit Be-
stimmtheit, daß derselbe dem Mann, den er habe fliehen sehen, durchaus
nicht gleiche. Cleandre ist für diese großmütige Aussage, die den Ver-
dacht gegen Dorante doch nur bestärken kann, dankbar; mehr aber
noch seine Schwester Melisse, die dem Gefangenen ihr Herz schenkt,
noch ehe sie ihn kennt. Sie sendet ihm durch ihre Zofe Geld, Süßig-
keiten und einen zärtlichen Brief. So entspinnt sich ein Liebesverhältnis
zwischen den zwei jungen Leuten, die sich gar nicht kennen. Darauf
bezieht sich denn auch der Titel des spanischen Stücks. Melisse kommt
später verkleidet in das Gefängnis; ihre Verbindungen haben ihr die
Pforten geöffnet, und die Scene, in der sie sich endlich entdeckt und
ihre Neigung orten eingesteht, ist reizend und lebhaft geführt. Ein
anderer Freund Dorantes, Philiste, bewirkt unterdessen die Freilassung
des Gefangenen ; die weitere Untersuchung hat seine Unschuld ergeben .
Allein nun stellt es sich heraus, daß Philiste ebenfalls um die schöne
Melisse wirbt, und Dorante hält sich verpflichtet, zurückzutreten. Der
Wettstreit der beiden, von welchen jeder den andern an Opfermut über-
treffen will, endigt mit dem glücklichen Bund Dorantes und Melissens.
Lopes Stück ist ein schönes, vornehm heiteres Spiel, eines der vielen
Mantel- und Degenstücke, deren Hauptreiz in den überraschenden Ver-
wicklungen und in der geistvollen und anmutigen Sprache liegen. Diesen
Charakter bewahrte auch Corneilles Bearbeitung. Allein sie war insofern
ein Kückschritt, als sie ihr Augenmerk weniger auf die Zeichnung der
Charaktere legte, und sie enttäuschte das Publikum, das eine wirkliche
Portsetzung des „Menteur" erwartet hatte. Die „Suite du Menteur" ist
422
deshalb doch an Schönheiten und interessanten Scenen reich. Noch im
Beginn des 19. Jahrhunderts versuchte der durch seine Lustspiele be-
kannte Dichter Andrieux zweimal, freilich erfolglos, das Stück zu bearbeiten
und es, so verjüngt, dem Repertoire des französischen Theaters dauernd
einzubürgern.
Xach zwei Lustspielen kehrte Corneille wieder zur Tragödie zurück,
und als ob er sich dafür entschädigen wollte, daß er die volltönende
Sprache der Tragik so lange vernachlässigt hatte, wählte er nun einen
Stoff, der an Grausen seinesgleichen suchte. So entstand „Rodogune".
Das Stück gehört zu den bekanntesten Dichtungen Corneilles ; es bietet
zumal den Schauspielerinnen dankbare Aufgaben in der Darstellung der
zwei leidenschaftlichen Frauen, die sich in der Tragödie feindlich
gegenüberstehen. Aber wenn ..Eodogune" sich als bühnenkräftig erwies,
so ist sie doch durch eine weite Kluft von den früheren Meisterwerken
Corneilles geschieden. Es fehlt ihr nicht an Kraft und finsterer Leiden-
schaft, aber statt der lebendigen Empfindung bietet sie häufig frostige
Deklamation. Statt fortschreitender und spannender Handlung zeigen die
ersten vier Akte ein ermüdendes Schwanken in ein und derselben Situation,
und erst der letzte Aufzug bringt in überstürzender Hast Fortschritt
und Lösung. Der Tragödie liegt eine Erzählung des Appianus Alexan-
drinus zu Grunde ; ^) doch hat sich der Dichter, wie dies sein Recht
war, große Freiheit in der Bearbeitung des Stoffes erlaubt. Es ist schwer,
sich das Verhältnis der einzelnen Personen zu einander klar zu machen,
und schon deshalb erkaltet das Interesse an den Vorgängen. Kleopatra,
Königin von Syrien, ist eine herrschsüchtige, leidenschaftliche Frau.
In früherer Zeit war ihr Gemahl, Nicanor, in die Hände der Parther
gefallen, und hatte nach längerer Gefangenschaft versprochen, Rodo-
gune, die Schwester des Partherkönigs, zu heiraten. Daraufhin war er
freigelassen worden und mit seiner jungen Braut der Heimat zugezogen.
Kleopatra hatte sich unterdessen an die Herrschaft gewöhnt, und war
nicht gewillt, einer Nebenbuhlerin zu weichen. In wilder Eifersucht stellte
sie sich an die Spitze einer Schar von Bewaffneten, überfiel den heim-
kehrenden Xicanor und tötete ihn mit eigener Hand. Rodogune, die ihr
Land verlassen hatte, um einen Thron zu besteigen, fiel in die Hände
ihrer Feindin und ihre Gefangenschaft war schwer. Darüber entbrannte
ein neuer Krieg mit den Parthern, die bis Seleucia, der Hauptstadt von
Syrien, vordrangen. Kleopatra wurde zum Frieden gezwungen und mußte
versprechen, die Herrschaft an einen ihrer Söhne abzutreten, dem mit
der Krone auch die Hand Rodogunes zufallen sollte. Kleopatra hat aus
ihrer Ehe mit Nicanor zwei Söhne, Zwillinge, die sie bis zu diesem
letzten Friedensschluß in Ägypten hat erziehen lassen. Niemand weiß,
wer von ihnen, ob Seleucus oder Antiochus, das Recht der Nachfolge hat.
Die Königin hat sich vorbehalten, den Erstgeborenen in dem ihr passend
scheinenden Moment zu nennen, und hofft durch diese Ungewißheit den
Gehorsam ihrer Söhne zu erzwingen.
^) Appianus Alexandrinus, Syrische Kriege. Kap. 67—09.
423
Dies ist die Lage in Seleucia beim Beginn des Stücks. Die beiden
Frauen, Kleopatra und Rodogune, bassen einander mit tödlichem Grimm.
Sie sind beide stolz, kühn, blutgierig. Eine jede sinnt auf den Tod der
Feindin und will sich der Prinzen als der Werkzeuge ihrer Rache be-
dienen. Darum erklärt Kleopatra ihren Söhnen, sie werde den auf den
Thron erheben, der ihr das Haupt Rodogunes bringe, und Rodogune,
die von beiden Prinzen geliebt wird, erklärt ihrerseits, nur den zu lieben,
der es wage, die Mutter zu töten und den Mord des Vaters zu rächen.
Die Prinzen sehen sich somit vor einer hübschen Alternative. Sie
stehen zwischen zwei Furien, ohne irgend welche Thatkraft aufzuweisen.
Ihre brüderliche Liebe ist musterhaft; ein jeder will dem andern seine
Ansprüche auf Krone und Macht abtreten. Gegenüber den finsteren For-
derungen der beiden Frauen sind sie aber völlig ratlos. Sie verweigern
zwar die Thaten, die ihnen zugemutet werden, aber weiter gehen sie
nicht. Sie weinen und klagen, vermögen jedoch nicht, sich zu einer ent-
schlossenen Handlung aufzuraffen. Lessing findet den Eindruck, den sie
machen, fast komisch, denn er sagt: „Aber wenn sie beide fein tugend-
haft sind, so will keiner weder die eine, noch die andere totschlagen;
so stehen sie beide und sperren das Maul auf, und wissen nicht, was
sie thun sollen, und das ist eben das Schöne daran". ^) In dieser Arm-
seligkeit der beiden Prinzen liegt indessen nicht die einzige Schwäche
der Tragödie. Kleopatra erkennt bald, welche Neigung ihre Söhne be-
seelt, und ihre Eifersucht wird zur blinden Wut. Bevor sie zugiebt, daß
ihre Nebenbuhlerin den Thron besteigt, den sie verlassen muß, mögen
lieber ihre Söhne sterben! Mit diesem blutigen Gedanken rüstet sie sich
zur Rache. Sie erklärt Antiochus für den ältesten , übergiebt ihm die
Herrschaft und bereitet das Fest seiner Hochzeit mit Rodogune. Km"z
vor der feierlichen Vermählung des jungen Königs erschießt sie mit
eigener Hand Seleucus, dann reicht sie dem neuen Königspaar nach
alter Sitte einen Trunk. Er enthält ein schnellwirkendes Gift; aber in
dem Augenblick, da Antiochus den Becher an die Lippen setzt, erhält
er die Nachricht, daß Seleucus sterbend im Park des Schlosses gefunden
worden sei. Der unglückliche Prinz habe erklärt, er sei von einer ihm
teueren Hand ermordet, aber den Namen zu nennen, sei er durch
den Tod verhindert worden. Seleucus kann mit seinem Wort nur Kleo-
patra oder Rodogune geraeint haben. Die beiden Frauen beschuldigen
denn auch einander in wenig gewinnender Weise; Antiochus denkt nicht
an strenge Untersuchung, sondern ist gleich bereit, sich selbst zu töten,
da sein Leben doch für alle Zeiten durch den furchtbaren Verdacht, den
er gegen Mutter und Gemahlin hegen müsse, vergiftet sei. Seine Um-
gebung hält ihn vom Selbstmord zurück, und Antiochus entschließt sich,
weiter zu leben , solange es der unbekannten Mörderin gefalle. Zum
zweitenmal nimmt er den Becher aus Kleopatras Hand, aber nun fällt
ihm Rodogune in den Arm, denn sie fürchtet Gift, und Kleopatra wagt
einen letzten verzweifelten Schritt. Das königliche Paar sicher zu machen,
1) Lessing, Dramaturgie, 31. Stück.
424
trinkt sie zuerst. Mag sie selbst auch sterben, wenn nur die Verhaßten
mit ihr erliegen. Aber Antiochus richtet noch einige Worte der Ent-
schuldigung an sie, bevor er den Becher an die Lippen setzt, und diese
Verzögerung rettet ihn. Das Gift wirkt in Kleopatra so schnell, daß
ihre Unthat klar wird. Sterbend flucht sie dem Sohn und dessen Ge-
schlecht :
Der Himmel nehme Euch als Opfer hin.
Und räche meine Frevel noch an Euch !
Nur Schrecken, Zwietracht, wilde Eifersucht
Erwachse Euch aus Eurem Ehebund!
Und um das Unglück noch nach Wunsch zu krönen,
Werd' Euch ein Sohn, der mir in allem gleicht.')
Lessing hat sich in der „Hamburger Dramaturgie*' ausführlich mit
..Rodogune" beschäftigt, und er betont dort, daß das dramatische Genie
sich nur mit Begebenheiten, die ineinander gegründet seien, nur mit
Ketten von Ursachen und Wirkungen beschäftige. Und gerade diese Folge-
richtigkeit und Notwendigkeit in der Entwicklung vermißt er in ,. Rodo-
gune". Nichts entwickle sich darin auf natürliche AVeise, und Kleopatra
sei ein Monstrum, das sich in den unsinnigsten Bravaden des Lasters
ergehe.^) „Der größte Bösewicht", sagt er, „weiß sich vor sich selbst
zu entschuldigen, sucht sich selbst zu überreden, daß das Laster, welches
er begeht, kein so großes Laster sei, oder daß ihn die unvermeidliche
Notwendigkeit, es zu begehen, zwinge. Es ist wider alle Natur, daß er
sich des Lasters als Laster rühmt, und der Dichter ist äußerst zu tadeln,
der aus Begierde, etwas Glänzendes und Starkes zu sagen, uns das
menschliche Herz so verkennen läßt, als ob seine Grundneigungen auf
das Böse, als auf das Böse gehen könnten." ^)
1) Eodogune, V, 4, 217:
Puisse le ciel tous deux vous prendre pour victimes.
Et laisser choir sur vous les peines de mes crimes !
Puissiez-vous ne trouver dedans votre union
Qu'horreur, que Jalousie et que confusion.
Et pour souhaiter tous les malheurs ensemble,
Puisse naitre de vous un fils qui me ressemblel
-) Dramaturgie, 29. Stück.
3) Dramaturgie, 30. Stück. Vortrefflich hat Sainte-Beuve in seinen „Noii-
veaux lundis" (VII. p. 216) über Lessings Urteil gesprochen. Er sagt : „Nou's
recusons volontiers les etrangers, comrae si, du cöte de l'art, ils n'etaient pas,
k certain degre, nos juges... II y a un tribunal europeen, apres tout. Ainsi
sur Corneille : certes il merite pour nous le nom de grand; mais, lorsqu'il
arrive, couronne de ce titre, aux yeux des Allemands, par exemple, lorsqu'un
eminent critique, Lessing, s'attendant a trouver en lui, sur la foi de sa renom-
mee, quelqu'un de rüde, mais de sublime et de simple, vient k l'ouvrir ä une
page d'avance indiquee, que trouve-t-il? II prend Rodogune, la piece dont Cor-
neille se faisait le plus d'honneur: il l'accepte pour le chef-d'oeuvre du poete,
et l'analj'sant, la dissequant sans pitie, Dieu sait ce qu'il en pense et ce qu'il
en dit! Ce n'est pas k nous de le repeter. Lessing a raison, et il a fort. II a
raison, cherchant un genie simple et sublime qu'on lui a vante, de s'etonner de
ne rencontrer qu'un bei esprit complique, recherche, enfle, fastueux. II a tort,
car les beaut^s de Corneille, Celles qui ravissent, qui enlevent et qui fönt passe
425
Dem gegenüber könnte man an Shakespeares „Riebard III." er-
innern, der ganz offen erklärt, er sei „gewillt, ein Bösewicht zu werden''^
oder an Jago, der sich brüstet:
„ — — — — aus Höir und Nacht
Sei diese Unthat an das Licht gebracht."
Eine solche unmenschliche Bosheit, wie sie Kleopatra zeigt, er-
scheint indessen bei einer Frau besonders unerträglich. Das hätte Les-
sing vielleicht hervorheben sollen. Kleopatra ist eine herrschsüchtige,
kräftige, ja gioß angelegte Natur wie Richard. Aber sie wird zur Mör-
derin ihrer Kinder, und das ohne inneren Kampf, ohne irgend eine Re-
gung mütterlichen Gefühls. Selbst Medea, das furchtbarste Weib, das je
von der tragischen Muse geschildert worden ist, tötet ihre Knaben erst
nach gewaltsamem inneren Kampf und in einem Anfall von Wut. Kleo-
patra tobt allerdings fortwährend, aber sie verrät durch keine Zuckung
des Herzens, daß auch nur eine Spur menschlicher Empfindung in ihr
lebt, und darum erschüttert sie nicht, sie empört. Diesen widrigen Ein-
druck zu erhöhen, steht ihr in Rodogune eine Feindin gegenüber, die
von dem Geliebten den Mord der Mutter verlangt und die wir noch dazu
als eine edle, heroische Prinzessin mit zartem Gefühl bewundern sollen.
Selbst in der Sprache erreichte Corneille diesmal nicht die gleiche
Höhe. Neben einzelnen Stellen, die seine ganze Kraft und den Glanz
seiner Diktion aufweisen, finden sich dunkle Verse, nachlässige Kon-
struktionen und ein deklamatorischer Ton. Sollten die Sorgen für die
zunehmende Familie, die gesteigerten Anforderungen des Lebens seinen
Sinn bedrängt und den Schwung seines Geistes gelähmt haben ?^)
Von „Rodogune" ab können wir eine neue Manier in Corneilles
dramatischer Komposition erblicken. Er legte von nun an mehr Gewicht
auf die Situation, und statt an die Zeichnung der Charaktere zu denken,
suchte er hauptsächlich durch seltsame Verwicklungen und überraschende
Lösungen zu wirken. Seine Schauspiele wurden komplizierter; nicht in
der äußeren Form, welche die gleiche blieb, sondern in den künstlich
ausgesonnenen Verhältnissen der einzelnen Personen zu einander. Es
bedarf oft der größten Aufmerksamkeit, will man verstehen, um was es
sich in seinen folgenden Stücken handelt.
Damit schlug Corneille die Bahn ein, welche die dramatischen
Dichter seiner Zeit, ihm folgend, mit Vorliebe wandelten, die Bahn der
sogenannten romanesken Tragödie. Ihre Schwierigkeiten sind nicht so
groß, die augenblickliche Wirkung ist leichter zu erreichen. Aber der
sur tous ses defauts, il ne les sent pas, et elles sont veritablement autre parr
(iue dans cette piece ingenieusement monstrueuse qu'il a choisie an exeraple. II
y a done malentendu,"
') Im Vorübergehen sei erwähnt, daß ein wenig bekannter Dichter, Ga-
briel Gilbert, im Jahr 1644 wenige Monate vor Corneilles „Rodogune" eine Tra-
gödie gleichen Namens aufführen ließ. Gilbert muß von dem Corneille'schen
Werk Kenntnis gehabt haben, denn die ersten vier Akte sind ein schlechtes
Plagiat davon, der fünfte Akt ist dagegen ein mattes Produkt seiner eigenen
Muse, da ihm der letzte Akt Corneilles wahrscheinlich unbekannt geblieben war.
426
Wert dieser Werke ist zweifelhaft, und keine der späteren Dichtungen
Corneilles hat je wieder, auch nur annähernd, die Bedeutung des „Cid"
oder des „Cinna" erreicht. Der große Beifall des Publikums, dessen sich
Corneille noch oft zu erfreuen hatte, darf uns darüber nicht täuschen.
Auf „Rodogune" folgte eine neue Märtyrertragödie, „Theodora",
zu der Corneille den Stoff in einer Schrift des heiligen Ambrosius ge-
funden hatte. ^) Theodora ist eine jener heroischen Christenseelen, wie
Polyeucte, die kein höheres Glück träumen, als gemaitert und getötet
zu werden, um die Heiligkeit ihres Glaubens und ihre eigene Seelen-
stärke zu bekunden. Theodora hat solche Eile mit ihrem Tod, daß sie
Valens, den römischen Statthalter von Syrien, anfleht, er möge die glück-
liche Stunde ihrer Marter beschleunigen.-)
Valens will ihr den Gefallen nicht thun. Er will sie empfindlicher
strafen und schickt sie in ein berüchtigtes Haus, wo sie den Insulten
einer gemeinen Menge ausgesetzt ist. Doch ein treuer Freund bewahrt
sie vor der Schande und verhilft ihr zu einer anständigen Hinrichtung.
Die Idee des Stücks ist so undramatisch wie möglich. Die heikle
Geschichte, welche Corneille darin bearbeitete, war am wenigsten zur
Darstellung auf der Bühne geeignet. Trotz aller Vorsicht, mit der er
sein Thema behandelte, um nicht anzustoßen, konnte er das Drama
nicht retten. Es mißfiel und verschwand nach wenigen Aufführungen von
dem Repertoire.
Im Winter 1(346 auf 1G47, um die Jahreswende, trat Corneille
mit seinem „Heraclius" auf, einem Drama, das eine Episode aus der
Geschichte der byzantinischen Kaiser behandelt.
Die Fabel des Stücks ist wiederum so verwickelt, daß Corneille
selbst meinte, man müßte es mehrmals aufführen sehen, wenn man es
ganz verstehen wolle. ^) Damit hat er sich selbst sein urteil gesprochen.
Sein „Heraclius" mag bedeutende Schönheiten im einzelnen haben, und
der Charakter der Pulcherie hat in der That etwas von dem Geist der
großen Heroinen Corneilles, ein wahrhaft dramatisches Werk ist diese
Dichtung nicht. Ein echtes Drama muß uns packen, mitfortreißen, muß
uns spannen und erregen. Wenn wir aber Mühe haben, über die Per-
sonen ins Klare zu kommen, und froh sind, überhaupt nur einmal
zu begreifen, wer sie sind und was sie wollen, so kann von drama-
^) De virginibus, lib. II.
2) Theodore, 11, 5, 21:
Hätez, hätez ces heureux chätiments,
Qui feront mes plaisirs et vos contentements.
3) Siehe die Kritik, die Corneille seinem Stück vorausgesetzt hat. Boileau
hatte Recht, wenn er, auf Heraclius anspielend, in seiner" Art Poetique, III,
v. 29, sagte:
Je me ris d'un acteur qui, lent ä s'exprimer,
De ee qu'il veut d'abord ne sait pas m'informer,
Et qui debrouillant mal une penible intrigue,
D'un divertissement me fait une fatigue.
427
tischer Wirkung nicht die Rede sein. Kaiser Phocas hat sich durch ein
schweres Verbrechen des Throns von Byzanz bemächtigt. Er hat seinen
Vorgänger, Kaiser Mauritius, mit seiner ganzen Familie ermorden lassen.
Ihm zur Seite steht sein Sohn Martian, der ihm in jeder Hinsicht un-
ähnlich, ein Bild aller ritterlichen Tugenden ist. Dessen Freund wiederum
ist der tapfere Leonce. Nun verbreitet sich das Gerücht, daß Heraclius,
ein Sohn des Mauritius, noch am Leben sei. Als solcher wird Leonce
entdeckt und soll sterben. Aber Martian beansprucht plötzlich auch die
Ehre, Heraclius zu sein. Es heißt, Leontine, eine edle Frau, habe vor
Jahren ihr eigenes Söhnchen geopfert, um Heraclius zu retten, und dann
des Kaisers Phocas gleichalterigen Knaben als ihren Sohn erzogen,
während Heraclius als kaiserlicher Prinz aufgewachsen sei. Daraus ent-
steht ein solches Gewirr von Verwechslungen, schwierigen Situationen
und großmütigen Handlungen, daß man in der That Mühe hat, sich
zurecht zu linden. Zum Schluß wird Phocas ermordet, Martian-Heraclius
Kaiser. Er vermählt sich mit Leontines Tochter, während Leonce, der
wahre Martian, die Schwester des Heraclius heimführt.
Calderon hat in seinem Stück „En esta vida todo es verdad y
todo mentira" (,Jn diesem Leben ist alles Wahrheit und alles Lüge")
dieselbe Geschichte behandelt, freilich in ganz anderer Weise. Aber
einige Verse, die sich darin finden, erinnern an Corneilles Drama, und
die Frage drängte sich auf, welches Dichters Werk das ältere sei. Bei
der völligen Verschiedenheit der beiden Stücke kommt freilich wenig
auf die Entscheidung an ; doch scheint es nach den neuesten Studien
wahrscheinlicher, daß Corneille sein Drama frei erfunden hat, und daß
Calderon davon angeregt wurde, sein phantastisch-romantisches Stück zu
schreiben.^)
Zehn Jahre waren nun verflossen, seitdem die Akademie ihr Gut-
achten über den „Cid" abgegeben hatte. Der Kampf, der die Gemüter
so sehr erbittert hatte, war längst beigelegt, und Corneille stand un-
bestritten an der Spitze der dramatischen Dichter. Rotrou, der ihm auch
in den bösen Tagen treu geblieben war, hatte keinen Widerspruch zu
fürchten, als er ihn um jene Zeit von der Bühne herab verherrlichte.
In seiner Tragödie „Saint-Genest" (1646) befragt der Kaiser Diocletian
den Schauspieler Genest über den Stand der neueren Litteratur und
dieser antwortet, nach einigen Ausdrücken unbegrenzter Bewunderung
für die Alten, mit den folgenden Versen, die eine deutliche, Anspielung
auf Corneille enthalten :
1) Vergl. die Notice zu Heraclius in der Ausgabe Corneilles von Marty-
Laveaux (CoUection des Grands Ecrivains de la France), V, 115 ff. und eben-
daselbst p. 134 den Brief des Herrn Viguier an M. Marty-Laveaux. Der Haupt-
verteidiger der gegenteiligen Ansicht ist nach dem Vorgang Voltaires neuer-
dings Ad. Fr. V. Schack in seiner Geschichte des spanischen Theaters. Jeden-
falls kann keine Ausgabe des Calderon'sehen Stücks vor 1664 nachgewiesen
werden, und Corneilles Versicherung, daß sein Drama eine Originaldichtung
sei, muß bei seinem Charakter genügen. (Examen: „Cette tragedie a encore
plus d'effort d'invention que celle de Rodogune".)
428
Die neuesten Werke, die Eoms wahrhaft würdig,
Die höchsten Schöpfungen des großen Mannes,
Der sich durch seine selt'nen Geistesthaten
Auf dem Theater hohen Euhm erwarb,
Und dessen Kunst auch seinem Ruf entspricht,
Sind nach Pompejus und August benannt.
Die hehren Dichtungen, in welchen er
Mit Meisterhand den röm'schen Geist gezeichnet,
Sind uns'res Volkes Lust, der Bühne Stütze,
Und ihre Schönheit wird auch Euch entzücken, i)
Xur die Akademie schien sich dem allgemeinen Urteil gegenüber
noch spröde zurückzuhalten. Der Tod hatte in der letzten Zeit mehrere
ihrer Mitglieder hinweggerafft, und man sollte erwarten, daß bei der
Wahl ihrer Xachfolger sich die Stimmen auf Corneille hätten vereinigen
müssen. Doch dem war nicht so. Die erlauchte Gesellschaft zog mehrmals
andere, unbedeutende Männer vor. Allerdings stand der Wahl Corneilles
ein Hindernis in den Statuten der Gesellschaft entgegen, welche ver-
langten, daß die Akademie nur solche Mitglieder aufnehmen dürfe, welche
ihren Wohnsitz in Paris hätten. Xun hatte man allerdings bei Balzac
vor Jahren eine Ausnahme gemacht; allein eine einfache Hinweisung
auf diese Bestimmung mußte es selbst den Anhängern Corneilles schwer
machen, ihm ihre Stimme zu geben. Principiell war die Mehrheit jeden-
falls nicht gegen ihn eingenommen, denn es genügte ein Brief des
Dichters , in welchem er versprach, künftig einen Teil des Jahrs in
Paris zu wohnen, um alsbald seine Wahl zu sichern. So wurde er am
22. Januar 1647 in die Akademie berufen. Die feierliche Rede, mit der
er der Sitte gemäß sich in der Gesellschaft einführen mußte, überrascht
durch den Schwulst, der die innere Leere nicht verdecken kann. Daß
er seitdem längeren Aufenthalt in Paris genommen, wie er in Aussicht
gestellt hatte, ist nirgends zu ersehen.-)
Aus Italien drang um jene Zeit eine neue Gattung dramatischen
Spiels nach Frankreich herüber. Wie man den Glanz der Poesie durch
äußere Ausstattung, prachtvolle Dekorationen und überraschende Maschi-
nerien zu erhöhen suchte, so sollte nun auch die Musik zu dem Reiz
der Vorstellungen beitragen. Man erfand das „Schauspiel mit Musik und
1) Eotron, „Le veritahle Saint- Genest", I, v. 4.
Nos plus nouveaux sujets, las plus dignes de Rome,
Et les plus grands efforts des veilles d'un grand homme,
A qui les rares fruits que la muse produit
Ont acquis dans la scene un legitime bruit.
Et de qui certes Tart comme l'estime est juste,
Portent les noms fameux de Pompee et d'Auguste.
Ces poemes sans prix oü son illustre main
D'un pinceau sans pareil a peint l'esprit romain,
Reudront de leurs beautes votre oreille idolätre,
Et sont aujourd'hui l'äme et l'amour ou theätre.
-) In die Zeit nach seiner Wahl in die Akademie fällt ein Gedicht Cor-
neilles, ,.La poesie a la peinture", in dem auch Chapelain gepriesen wird. Das
Jahrhundert habe nur einen Mäcen und nur einen Virgil. Chapelain scheint
429
Gesang", aus dem sich bald in rascher Entfaltung die moderne Oper
bildete. Im Jahr 1640 hatte man zum erstenmal in Paris ein solches
Werk, ,,Le mariage d'Orphee et d'Eurydice" zur Aufführung gebracht
und andere Stücke dieser Art folgten. Für den Karneval des Jahrs 1648
wurde Corneille von Seiten des Hofes beauftragt, ein ähnliches Stück
zu schreiben. Er erhielt dafür zum voraus die Summe von 2400 Livres
und so entstand seine „Andromeda", zu der die Musik von dem durch
seine abenteuerlichen Kreuz- und Querzüge bekannten Virtuosen Dassoucy
geliefert wurde. ..Andromeda" ist ein Zauber- und Spektakelstück, in
welchem die Götterwelt vom Olymp herabsteigt, um an den Vorgängen
unter den Menschen teilzunehmen. Das größte Aufsehen machte indessen
der Ritt des Perseus, der auf dem Pegasus durch die Lüfte schwebte.
Die Ausstattung, welche der Italiener Torelli geleitet hatte, war nach
Angabe der Zeitgenossen überaus prachtvoll. Doch kam das Stück nicht
vor dem Jahr 1650 zur Aufführung, da zuerst eine Krankheit des jungen
Königs und dann die trüben politischen Verhältnisse den Gedanken an
Hoffeste verscheucht hatten.
Die Unruhen der Fronde begannen. Paris besonders litt unter den
Wirren. Da es auf der Seite der Frondeurs gegen Mazarin und die Re-
gentin stand, sich sogar mit Waffengewalt gegen die Regierung erhob
und eine Belagerung aushielt, mußten alle Interessen der Kunst schweigen.
Die Theater siechten und schlössen endlich; die Schauspieler trugen
Waffen und traten in die Reihen der Kämpfer ein. In den Mazarinaden
wird u. a. Jodelet, ein bekannter Komiker, als Führer einer martiali-
schen Schar geschildert. Corneille verbrachte diese Zeit wohl in der Stille
zu Rouen und bereitete weitere Dramen vor. Obwol er sich, soviel wir
wissen, niemals thätig in die Politik mischte, gehörte er doch zur könig-
lichen Partei in seiner Vaterstadt. Wenigstens ist diese Haltung Cor-
neilles wahrscheinlich; denn wir lesen, daß er im Jahr 1650 auf könig-
lichen Befehl an Stelle eines Anhängers der Fronde zum Procureur der
„Etats de Normandie" ernannt wurde. Die Gunst der Königin-Regentin,
die ihm seit dem „Cid" sicher war, wirkte wol auch hier entscheidend
mit. Als freilich nach einem Jahr Longueville, der Hauptfrondeur in der
Xormandie, seinen Frieden mit der Regierung schloß, wurde Corneille
geopfert und der frühere Procureur wieder in seine Stelle eingesetzt.
Kaum war die Ruhe in etwas hergestellt, als Corneille ein neues
Werk in Paris aufführen ließ. „Don Sanche d' Aragon" wurde entweder
zu Ende 1649 oder in den ersten Tagen des Jahrs 1650 ~ dargestellt
und fand anfangs großen Beifall. Corneille nannte sein Stück eine
„heroische Komödie", um schon durch diese Bezeichnung anzudeuten,
daß er es wieder mit einer neuen Gattung versuchen wollte. Wir würden
seine Dichtung heute als ein „romantisches Schauspiel" bezeichnen. Dies-
mal hatte Corneille sein Drama wieder nach Spanien verlegt, um seiner
Vorliebe für eine ritterliche, romantische Welt einen größeren Spielraum
zu gewähren. In ..Don Sanche'' finden wir die Geschichte eines groß-
herzigen Ritters, Carlos, der Wunder der Tapferkeit verrichtet hat und
am Hofe der Königin Isabella von Kastilien in hohem Ansehen steht.
430
Er ist der Sohn eines armen Fischers von Aragon, aber er schämt sich
seiner dunklen Herkunft und deckt sie mit dem Schleier des Geheim-
nisses. Isabella, die ihm im stillen ihr Herz geschenkt hat, überhäuft
ihn mit Ehren, um ihn für die verächtliche Behandlung, die er von
Seiten der Granden ihres Landes erleidet, zu entschädigen. Auch Elvira.
die einzige Tochter des aus seinem Eeich vertriebenen Königs von Ara-
gon, sieht ihn gern. Keine der beiden hohen Frauen, die gedrängt werden,
einen Gatten zu wählen, wagt jedoch. Carlos auf den Thron zu berufen.
Sie würden sich selbst durch solche Wahl entehren. Zum Glück für alle
kommt ein Geheimnis zu Tage, wonach Carlos nicht der Sohn jenes
Fischers, sondern der Bruder Elvirens, der Sohn des inzwischen ver-
storbenen Königs von Aragon ist. Ihn vor den Nachstellungen der Feinde
sicherzustellen , hat ein treuer Höfling den Knaben gleich nach seiner
Geburt in Sicherheit gebracht und ihn in der Stille erziehen lassen. So
besteigt Carlos als Don Sanche von Aragon den Thron und seine Ver-
mählung mit Isabella führt zur glücklichen Vereinigung der beiden Länder.
Corneille entfaltete in dieser ..heroischen Komödie", deren Held
keine geschichtliche Figur ist, einen Teil seiner alten Kraft : die schöne
Dichtung hat etwas von dem Feuer des „Cid" in sich. Dort wie hier
ist es ein Jüngling adeligen Gemüts, der unsere Teilnahme gewinnt.
Allein der gesuchte chevaleresk-galante Ton, der im „Cid" nur Beigabe
im Geschmack der Zeit war. herrscht in ,.Don Sanche" so sehr vor.
daß er jedes natürliche Gefühl zu verdrängen droht. Es fehlt diesem
Drama an der höheren belebenden Idee, an dem Gehalt, der es für die
späteren Geschlechter lebendig erhalten hätte.
„Don Sanche" gefiel, aber nicht lange. Das Stück verschwand
bald vom Eepertoire und wurde während vieler Jahre nicht mehr in
Paris gegeben. Corneille schrieb dies einem besonderen Mißgeschick zu.
„Don Sanche" habe an hoher Stelle nicht gefallen, sagte er, und müsse
sich begnügen, in der Provinz bewundert zu werden.') Die Stelle ist
dunkel. Manche, wie z. B. Voltaire und Guizot, glauben diese Worte
auf Conde deuten zu sollen, der in seinem Stolz mißbilligt habe, daß
ein armer Fischerssohn sich so edel zeige. Allein da Carlos sich später
als Prinz von Geblüt enthüllt, konnte selbst der hochmütigste Aristokrat
nichts mehr gegen seinen Heldencharakter einwenden. Viel eher, scheint
uns, mochte sich der meuterische Prinz, der gegen die Königin-ßegentin
focht, von jenen Stellen des Dramas beleidigt fühlen, in welchen von
dem Usurpator Don Garcia gesprochen wird, der die rechtmäßige Königin
von Aragon verdrängt hat. Gleich die erste Scene konnte ihm als eine
Anspielung erscheinen; dort sagt Dona Leonor. die vertriebene Königin
von Aragon, zu ihrer Tochter:
1) Siehe das „Examen" zu „Don Sanche". Darin sagt Corneille: „üne
disgräce particuliere fit avorter toute sa bonne fortune. Le refus d'un illustre
suffrage dissipa les applaudissements que le public lui avoit donnes trop libe-
ralement, et aneantit si bien tous les arrets que Paris et le reste de la cour
avoient prononces en sa faveur, qu'au bout de quelque temps eile se trouva
releguee dans les provinces. oü eile conserve encore son premier liistre."
431
Nach so viel Unglück sendet uns der Himmel
Doch endlich wieder eine Freudenbotschaft.
Ganz Aragon hat sich für uns erhoben,
Die Beute dem Tyrannen abgejagt,
Die Schmach der Knechtschaft endlich abgeschüttelt,
Und seiner Fürstin will es wieder huld'gen.ij
Andere wollen aus Corneilles Bemerkung auf die Gegnerschaft
Mazarins schließen, der in dem Helden Carlos eine Ähnlichkeit mit
Cromwell gefunden habe. Mit Recht verwirft Marty-Laveaux diese Er-
klärung. Aber selbst bei der ersten Annahme bleibt es unklar, wieso
ein tadelndes Wort Condes gegen „Don Sanche" mehr hätte bewirken
können, als seinerzeit Richelieus Mißbilligung des „Cid". Denn daß nicht
von einem Verbot des Stücks die Rede war, zeigt Corneilles Ausdruck,
infolge der hohen Mißbilligung habe sich das Stück „nach einiger Zeit"
auf die Provinz angewiesen gesehen. Möglich, daß der Dichter einer
tadelnden Kritik zuschrieb, was doch nur die Schuld des Schauspiels
selbst war.
„Don Sanche" wurde von „Nicomede" übertroffen, den Corneille
zu Anfang des Jahrs 1651 folgen ließ. Er nannte sein Stück eine Tra-
gödie, obwol es mit einer allseitigen Versöhnung abschließt. Denn er
erlaubte sich, einen der häufigen blutigen Vorgänge im Reich eines
finsteren asiatischen Tyrannen nach seiner Weise umzugestalten und
statt der verdorbenen Welt des kleinen orientalischen Hofes ein Bild
heldenkräftiger, edler Mensclien zu zeichnen. Er führt uns in den Palast
<les Königs Prusias von Bithynien. Dieser wollte, wie Justinus erzählt,
seinen ältesten Sohn Nikomedes töten lassen, um einem Sohn aus zweiter
Ehe die Thronfolge zu sichern, verlor aber bei diesem Versuch selbst
sein Leben. ''^)
In der Tragödie Corneilles ist Nicomedes ein wahrer Held, furchtlos,
bescheiden, fest. Hannibal hat ihn die Geheimnisse der Kriegführung
gelehrt, und der junge Prinz ist von Sieg zu Sieg gezogen. Am Hof
seines Vaters aber herrscht die Königin Arsinoe, die zweite Gemahlin
des Prusias. Sie arbeitet an dem Sturz des Erstgeborenen, um ihrem
Sohn Attalus den Thron zu sichern, und wird dabei von dem römischen
Gesandten Flaminius unterstützt, der in Nicomedes einen furchtbaren
Gegner seines Volkes voraussieht. Dieser verläßt auf die Kunde der
Vorgänge am Hof sein Heer und kommt ohne Schutz, sich selbst ver-
trauend, nach Nicomedia, der Hauptstadt, zurück. Nicht ■ die Krone
allein, auch seine Braut, die Prinzessin Laodice von Armenien, soll ihm
durch Attalus geraubt werden. Seine Gegenwart, glaubt er. genüge. Er
blickt mit vernichtendem Hohn auf seine Gegner herab, auf die Römer
sowol, wie auf seinen, in Rom erzogenen Bruder Attalus, der
ij Siehe „Don Sanche", I, 1.
1) Die geschichtlichen Vorgänge, die dem Stück zu Grunde liegen, er-
zählt Justinus XXXI \', c. 4. — Vergl. Diodorus Siculus in dem Fragment der
Bücher XXX und XXXII, sowie Appian. Bell. Mithrid. c. 2—7.
432
.Beim Anblick eines röm'schen Adlers zittert,
Und sich vor dem Aedilen beugt . . "* ^)
Ein andermal warnt er diesen mit beißendem Spott:
„Ich sorge, Herr, ein Römer könnt' Euch hören.-)
Mit demselben Stolz, derselben kalten Überlegenheit, mit der seiner
selbst bewußten eisigen Kuba tritt Nicomedes auch dem römischen Ab-
gesandten entgegen, welcher Freundlichkeit und Ernst, Versprechungen
und Drohungen gleich gut zu gebrauchen versteht, um die Herrschaft
des Senats in diesen fernen Ländern zu begründen. Aber wenn er
Prusias und Arsinoe beherrscht, findet er doch unerschütterlichen Wider-
stand bei Nicomedes und Laodice. Letztere ist hinreißend in ihrer Ent-
rüstung und stolzen Haltung, dem Römer gegenüber, und die Scene
zwischen ihr und Flaminius ist meisterhaft (HI, 2). Nicomedes wird auf
Befehl des Königs verhaftet, aber das Volk empört sich, und Attalus
selbst dem die Anmaßung des Flaminius die Augen öffnet, rettet den
bedrohten Bruder. Der Schluß ist zwar lebendig und spannend, aber
nicht ganz folgerichtig. Die allgemeine Versöhnung ist unwahrscheinlich
und schwächt den Eindruck der vorausgegangenen machtvollen Scenen.
Das unglücklichste Drama, das Corneille bis dahin noch verfaßt
hatte, war „Pertharite, roi des Lombards". Gewöhnlich wird dessen
erste Aufführung in das Jahr 1653 gesetzt, aber Marty-Laveaux beruft
sich auf ein Geschichtchen Tallemants, um wahrscheinlich zu machen,
daß -Pertharite'' schon anfangs 1652 gespielt wurde. ^) Angeregt von
einer Stelle in des Paulus Diaconus Buch „De gestis Longobardorum",
wo erzählt wird, daß König Grimoald in einer Regung von Großmut die
Anhänger des von ihm vertriebenen Pertharite verschonte, unternahm es
Corneille, den Königshof der Longobarden zu Mailand als den Sitz edler
Helden und hochherziger Frauen zu schildern, wie er kurz zuvor die
asiatischen Despoten idealisiert hatte. "*) Diese Licenz hätte ihm nicht
geschadet, wenn es ihm wirklich gelungen wäre, Heldenfiguren zu zeichnen.
Allein dem ist nicht so. Pertharite hat sein Land an Herzog Grimoald
verloren, ist geflohen und es heißt, er sei im fernen Ungarland ge-
storben. Grimoald wirbt um die Hand Rodelindes, der Witwe des ver-
triebenen Königs. Diese widersteht, selbst als Grimoald, von einem
^) Nicomede, I, 1, 52:
Qui tremble ä voir un aigle, et respectc un edile.
-) Nicomede, I, 2, 38:
Seigneur, je crains pour vous qu'un Romain vous eeoute.
^) Tallemant des Reaux, Historiettes, IV, 27.... „Au carneval de
1(352, Mme. de Montglas tit une piaisante extravagance chez la presidente de
Pommereuil. Ou y devoit jouer Pertharite, roi des Lombards, piece de Corneille
qm n'a pas reussi..."
■^) So sagt Grimoald z. B. zu dem bösen Garibalde, der ihn zu unge-
rechter That verleiten will (II, 3, 41):
Porte, porte aux tyrans tes damnables maximes
Je hais I'art de regner qni se permet des crimes.
433
gewissenlosen Ratgeber verleitet, sie mit dem Tod ihres Söhnchens be-
droht. Plötzlich aber taucht Pertharite wieder auf. Nachdem zwei Akte
hindurch von ihm gesprochen worden und man gespannt ist, ihn zu
sehen, erscheint er am Schluß des dritten Akts, aber nicht als Held
und Verteidiger seiner Krone, sondern demütig bittend. Er will auf sein
Land verzichten, wenn man ihm nur seine Frau zurückgiebt. Die Ent-
täuschung, die der Dichter damit seinem Publikum bereitet, ist groß.
Selbst Rodelinde will den Ritter von der traurigen Gestalt nicht an-
erkennen und behauptet, ein Betrüger suche sie zu täuschen, der echte
Pertharite könne so nicht reden.
In den späteren Ausgaben hat Corneille denn auch die allzu kläg-
liche Rolle seines Helden gemildert. Als Betrüger verhaftet, soll derselbe
sterben; ein treuer Anhänger will ihm zur Flucht verhelfen; allein der
Versuch mißlingt, und Grimoald, dessen Herz sich abwechselnd zu Rode-
linde und zu Edwige, der Schwester Pertharites, hingezogen fühlt, giebt
in seiner Großmut Mailand an seinen früheren Herrscher zurück, heiratet
Edwige und erhält damit den Besitz von Pavia. So endigt alles in
schönster Eintracht. Das Publikum brachte jedoch in diese Harmonie
einen grellen Mißklang, denn es ließ „Pertharite" entschieden fallen.
Doch kann sich die unglückliche Tragödie vielleicht eines andern Ver-
dienstes rühmen. Racine soll später in ihr die Anregung zu seiner
.,Andromaque" gefunden haben, und allerdings sieht sich in dem letzteren
Stück die troische Fürstin vor derselben Alternative, wie in „Pertharite"
die Königin Rodelinde. Bei Racine ist es Pyrrhus, welcher der Witwe
Hektoi-s droht, ihren Sohn Astyanax den Griechen zum gewissen Tod
auszuliefern, wenn sie nicht einwillige, ihm ihre Hand zu reichen. Eine
weitere Ähnlichkeit zwischen der bald Leidenschaft atmenden, bald
schwermütigen Tragödie Racines und dem Corneille'schen „Pertharite"
ist freilich nicht vorhanden.
Corneille trug die Niederlage schwer. Er ließ sein Stück zwar
drucken und appellierte so noch einmal an das öffentliche Urteil, aber
in seiner Vorrede nahm er Abschied von dem Publikum. Seine Worte
klingen tief traurig. „Die unfreundliche Aufnahme", sagt er, „welche
dieses Werk bei dem Publikum gefunden hat, zeigt mir, daß die Zeit
des Rückzugs für mich gekommen ist, und daß ich von allen Lehren
meines Horaz nur noch die beherzigen soll :
Solve seiiescentem mature sanus equum, ne
Peccet ad extremum ridendus et ilia ducat.^)
Es ist besser, daß ich mich freiwillig zurückziehe, als daß ich
warte, bis man mich heimschickt, und es ist nur natürlich, daß ich
nach zwanzigjähriger Arbeit bemerke, wie ich zu alt werde, um noch
in der Mode zu sein. Doch nehme ich die Genugthuung mit mir weg,
daß ich die französische Bühne in besserem Zustand verlasse, als der
war, in dem ich sie fand, in Hinsicht der Kunst sowol, wie der Moral.
Die großen Geister, die zu meiner Zeit für sie arbeiteten, haben viel
1) Horat. Ep. I, 1, v. 8.
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratur.
28
434
dazu beigetragen, und ich schmeichle mir mit dem Gedanken, daß auch
meine Bemühungen ihr nicht geschadet haben. Glücklichere Männer
werden nach uns auftreten, die das Theater zur Vollkommenheit führen
und in völliger Keinheit hinstellen werden. Das wünsche ich von ganzem
Herzen." ^
Der große Dramatiker, dessen Erscheinen Corneille hier prophe-
tisch verkündete, lebte schon, aber Corneille selbst erkannte ihn später
nicht als den von ihm versprochenen Messias an.
Noch im Jahr 1664, als er in der Gesamtausgabe seiner bis
dahin erschienenen Werke jedes Stück in einem kritischen Aufsatz be-
sprach, erklärte er bei Gelegenheit des „Pertharite", daß ihm die
Erinnerung an den Mißerfolg zu schmerzlich sei, als daß er davon
reden könne.
So zog er sich also von dem Theater, das ihm lieb geworden,
zurück und schien den Aufregungen, welche ihm die Bühne in so
reichem Maße geboten hatte, für den Rest seines Lebens entsagen zu
wollen. Hätte eine gütige Muse ihn in diesem Entschluß bestärkt, sie
hätte ihm manche bittere Enttäuschung erspart, und sein Dichterruhm
hätte kaum etwas eingebüßt.
Aber Corneille wäre eben nicht der große Dichter gewesen, der
er trotz so mancher Schwäche war. er hätte nimmer die Bedeutung
erlangt, die ihm niemand auf dem Gebiet der dramatischen Litteratur
absprechen kann, wenn er nicht in dem Zauberbann der Bühne ge-
standen hätte. Der Triumph ist in der Welt des Theaters, wo die
Phantasie das Scepter führt, doppelt berauschend ; selbst eine Niederlage
wirkt selten ernüchternd, sondern lockt nur mit bestrickender, dämo-
nischer Gewalt zu neuem Versuch. Corneille mochte den festen Entschluß
gefaßt haben, nichts mehr für die Bühne zu schreiben; da das heilige
Feuer in ihm glühte, war es ihm unmöglich, sich für immer von dem
Feenland fern zu halten.
1) Au lecteur: La mauvaise reception que le public a faite ä cet
ouvrage m'avertit qu'il est temps que je sonne la retraite, et que des preceptes
de mon Horace je ne senge plus k pratiquer que celui-ci: Öolve... II vaut
mieiix que je prenne eonge de moi-meme que d'attendre qu'on me le donne
tout-a-fait; et il est juste qu'apres vingt annees de travail, je commeuce ä m'a-
percevoir que je deviens trop vieux pour etre encore ä la mode. J'en remporte
cette satisfaction, que je laisse le theätre fran(,-oi3 en meilieur etat que je ne
Tai trouve, et du cöte de l'art et du cöte des moeurs: le grands genies qui
lui ont prete leurs veilles de mon temps y ont beaueoup contribue; et je me
flatte jusqu'ä penser que mes soins n'y'ont pas nui: il en viendia de plus
heureux apres nous qui le mettront ä sa perfection, et acheveront de l'epurer;
je le souhaite de tout mon coeur.
VIII.
Spätere Thätigkeit Corneilles und letzte Lebensjahre.
Corneille stand in der Kraft seiner Jahre, als er sich entschloß,
jeder weiteren dramatischen Arbeit zu entsagen. Noch waren ihm über
dreißig Jahre beschieden, aber die Geschichte dieses letzten Lebens-
abschnitts ist traurig und erweckt peinliche Empfindungen. Denn er blieb
seinem Vorsatz nicht getreu und kehrte nach einigen Jahren zur Bühne
zurück, fand aber dort nicht mehr das alte Glück, wenn er auch noch
manchen augenblicklichen Erfolg erzielte. Seiner Kraft bewußt, fühlte er
umso schmerzlicher, wie er in dem Kampf mit einer neuen Zeit unter-
lag. Es war kein reiner Zufall gewesen, daß er um die Mitte des Jahr-
hunderts, nach der Unterdrückung der Fronde, auf jede fernere Thätig-
keit für die Bühne verzichtete. Die große Umwälzung in den politischen
und socialen Verhältnissen Frankreichs fand damals ihren Abschluß. Mit
der Gesellschaft, die zu jener Zeit verschwand, verloren auch die bis
dahin giltigen Anschauungen ihre Herrschaft, und mit der unumschränkten
Monarchie erhob sich zugleich ein neuer Geschmack. Corneille hatte nicht
zur Partei der Frondeurs gehört, allein er hatte doch im Sinn und im
Geschmack der mit der Fronde unterliegenden Aristokratie gedichtet. Als
er nach sechsjähriger Zurückgezogenheit wieder mit einem dramatischen
Werk auftrat, stand er einer ihm innerlich fremden Welt gegenüber, so
ergeben sie ihm auch scheinbar sein mochte. Neue Grundsätze, neue
Theorien, neue Ideale kamen in ihr zur Geltung, und der Dichter fühlte
sich nicht mehr von der Begeisterung des Publikums wie früher ge-
tragen.
Das Leben Corneilles gleicht in seiner zweiten Hälfte einer Tra-
gödie, denn sein fruchtloser Kampf mit der moderneu Zeit, sein qual-
volles und vergebliches Ringen, um den Anforderungen der jüngeren
Generation zu entsprechen, ist wahrhaft tragisch. Die verschiedenen
Phasen dieser traurigen Entwicklung und dieses mühseligen -Kampfes, in
dem Corneille zuletzt unterliegen sollte, zu erzählen, ist die Aufgabe des
folgenden Abschnitts.
Der Mißerfolg des „Pertharite'' hatte den Entschluß des Dichters,
sich zurückzuziehen, zur Reife gebracht. Man irrt wol kaum, wenn man
annimmt, daß Corneille nicht plötzlich und in der ersten Aufwallung
des Unwillens einen so folgenschweren Entschluß gefaßt hat. Der Ge-
danke dazu mag ihm früher schon öfters gekommen sein. Bei den spär-
lichen Nachrichten, die uns aus jener Zeit über ihn vorliegen, ist es
freilich schwer, die Wahrheit zu ergründen. Aber vielleicht erlaubt eine
436
ruhige Prüfung der Verhältnisse, in welchen der Dichter lebte, doch einen
annähernd richtigen Schluß auf die Motive, welche ihn leiteten.
Corneille war seinem ganzen Charakter nach nicht für den Ver-
kehr mit Fremden oder ihm fernstehenden Personen geschaffen. Er fühlte
sich unbehaglich in größerer Gesellschaft und war überhaupt wenig an-
ziehend im Umgang. Sein Stolz, sein ungeschmeidiges Wesen verletzte
viele. Das Theater aber hatte damals so heißen Boden wie heute, und
Corneille mag das oft genug erfahren haben. Die Geschichte des „Cid"
beweist es uns , und weitere Unannehmlichkeiten sind schwerlich aus-
geblieben. So oft ihn auch die Aufführung seiner Dramen nach Paris
lockte, immer wieder kehrte er gern heim in sein friedlich stilles Privat-
leben und die geräuschlose, geregelte Thätigkeit. die seiner daselbst war-
tete. Mit welcher Freude mag er sein bescheidenes Tuskulum in Petit-
Coui'onne begrüßt haben, wenn er der heißen Pariser Luft, den Intri-
guen der Bühnenwelt, dem Verkehr mit den Litteraten und der vor-
nehmen Gesellschaft entronnen war. Freilich ließ ihn der Zauber nicht
frei, und in dem stillen Hafen dachte er bald wieder an neue Fahrten
und Siege.
Seitdem er geheiratet hatte^ fand er zu Haus eine schöne Stätte,
wo Liebe und Friede herrschten; mit der Zeit mehrte sich die Zahl der
Kinder, deren Erziehung bald größere Aufmerksamkeit verlangte. Durch
den Tod seines Vaters war Corneille das Haupt der Familie geworden,
und ihm oblag die Verwaltung des ganzen Vermögens, sowie die Sorge
für die jüngeren Geschwister. Daß Corneille auch seines Amts mit Eifer
waltete, haben wir schon früher gesehen, und alles deutet darauf hin.
daß er in Ronen eine allseitig geachtete Stellung inne hatte. Er gehörte
zum Kirchen vorstand seines Sprengeis, war auch von Ostern 1(551 bis
1652 Kirchenrechner. Noch ist die ausfuhrliche Eechnungsablage, die
er am Schluß dieser Periode verfaßte, erhalten.
So gestaltet sich aus den vereinzelten Angaben doch ein freund-
liches Bild von dem Leben des Dichters in Ronen. Die Familie erfreute
sich eines für jene Zeit ansehnlichen Vermögens. Sie lebte im Wohl-
stand, da der Vater Corneille durch Sparsamkeit und sorgsame Verwal-
tung die Habe beträchtlich vermehrt hatte. ^) Die Pension des Vaters.
1) Vergl. A. Tougard, Nouveaux documents inedits sur le patrimoine de
P. Corneille, in der „Revue de Rouen" 186S (S. 624). Dort werden, nach neuer-
dings aufgefundenen Aktenstücken, verschiedene Ankäufe Corneilles des Vaters
erwähnt. 1(313 erwarb er zwei Grundstücke (^ o acre und IV3 vergee) für 105 L.
Im Jahr 1614 tauschte er einige Läudereien um und kaufte 1616 wieder Boden
für 250 Livres (1 acre und 5 vergees); einen ähnlichen Besitz erwarb er 1623,
ebenso 1628. Beträchtliche Geldsummen waren an verschiedene Schuldner aus-
geliehen. 162U hatte er 1767 L. gegen eine jährliche Rente von 120 L., 1624
320U L. gegen eine Rente von 200 L. dargeliehen; 1629 erhielt er von anderen
Schuldnern 3166 Livres zurück, und 1634 finden wir wieder ein Darlehen von
2800 Livres .verzeichnet, das ihm 200 Livres jährlich trug. Corneille besaß noch
außerdem an verschiedenen Orten Grund und Boden, und seine Ausstände be-
schränkten sich wol kaum auf die hier angegebenen Summen. Zählt man dazu
noch den Besitz des Hauses in der Stadt, sowie des Häuschens in Petit-Cou-
ronne, so wird man gewiß sagen dürfen, daß die Familie wohlhabend war.
437
die Einkünfte, welche der Sohn aus seinem Amt zog, und der Gewinn,
welchen ihm seine dramatischen Werke brachten, erhöhten die Mittel der
Familie. Als Pierre Corneille das Amt eines Kirchenrechners niederlegte,
widmete seine Mutter der Gemeinde 100 Livres zur Anschaffung eines
Bahrtuchs aus Sammt, ein Geschenk, das für jene Zeit immerhin be-
deutend war.
Doch die Verhältnisse ändei'ten sich allmählich. Langsam, aber
stetig sank der Wohlstand des Hauses. Wir werden an einer späteren
Stelle dieses Abschnitts genauer davon zu reden haben. Aber schon
ziemlich früh kann man den Beginn der Verlegenheiten bemerken.
Der Tod des Vaters brachte den Wegfall der Pension. Fast gleich-
zeitig sah sich der Dichter in seinem Einkommen geschmälert, da man
einen zweiten Advokaten neben ihm ernannte (1638). Corneille prote-
stierte dagegen, klagte, sah sich aber nach zweijährigem Prozeß ab-
gewiesen und zu den Kosten verurteilt.
Vielleicht lag in diesen Verhältnissen mit ein Grund der größeren
Produktivität Corneilles, der auf solche Weise einbringen wollte, was er
verloren hatte. In den Jahren 1643 — 1646 ließ er sechs neue Stücke
aufführen, so daß auf jedes Jahr fast zwei große Dichtungen kommen.
Aber jedes neue dramatische Werk rief ihn nach Paris und verlangte
einen längeren Aufenthalt daselbst. Ein beträchtlicher Teil des Gewinns
ging darüber wieder verloren, und die häufige Abwesenheit von Rouen
trug nicht dazu bei, die Geschäfte der Advokatur zu heben. Die Kosten
des Haushalts aber stiegen fortwährend, denn bald belebten sechs Kinder
das Haus. Madame Corneille mag ihrem Gatten öfters vorgestellt haben,
daß eine Änderung nötig sei. Allein ein Mann entsagt ungern einer
Thätigkeit, die ihm Ehre bringt. Erst das Zusammentreffen von zwei
wichtigen Ereignissen scheint Corneille zu dem Entschluß gebracht zu
haben, der dramatischen Thätigkeit wirklich zu entsagen.
Im Jahr 1651 hatte Corneille eine poetische Übersetzung der „Nach-
folge Christi" von Thomas a Kempis begonnen und die zwanzig ersten
Kapitel veröffentlicht, um zu sehen, wie man seine Arbeit aufnehme.
Man hat eine Zeit lang die sonderbarsten Gründe aufgesucht, um zu er-
klären, warum Corneille diese Übersetzung unternommen habe. Einige
behaupteten, die Kirche habe ihm diese Arbeit als Buße für ein lascives
Gedicht auferlegt. Allein es ist bewiesen, daß das fragliche Gedicht nicht
von Corneille herrührt und somit von einer Buße dafür nicht die Rede
sein kann.^) Auch Taschereaus Ansicht über die Veranlassung zu dieser
Übersetzung ist nicht stichhältig. Der verdienstvolle Biograph Corneilles
dachte an die häufig wiederkehrenden Angriffe, welchen das Theater von
Seiten der Zeloten ausgesetzt war und noch ist, und meinte, Corneille
habe den Fehler, für ein so sündhaftes Vergnügen des Volkes gearbeitet
zu haben, mit einem frommen Werk sühnen wollen.-) Corneille widerlegt
') Man vergleiche die Einleitimg zur Übersetzung der „Imitation" in
Marty-Laveaux' Ausgabe von Corneille, Bd. VIII, S. II ff.
2) Taschereau, Vie de Corneille, 1. IV, S. 157 (edit. Elzevirienne).
438
diese Ansicht selbst dadurch, daß er ein Jahr nach dem Erscheinen des
ersten Teils der Übersetzung seinen „Pertharite" aufführen ließ, auch
später noch ausdrücklich seine Stimme gegen die allzu ängstlichen und
engherzigen Eiferer erhob. ^)
Man hat nicht nötig, so weit zu suchen. Corneille war ein gläubiger
Christ, der über Dogmen und religiöse Streitfragen nicht viel grübelte,
sondern den ihm überlieferten Glauben ohne viel Skrupel und Zweifel
hinnahm. Das beweist sein Amt bei der Gemeinde, sowie der freund-
schaftliche Verkehr, den er mit seinen alten Lehrern, den Jesuitenpatres
in Eouen, unterhielt. Wie sehr Übersetzungen der Psalmen, überhaupt
geistliche Gedichte in der Mode waren, ist schon früher bemerkt worden."')
Man denke nur an Eacans Paraphrase der Psalmen. Fast gleichzeitig
mit Corneilles Übersetzung erschienen zwei andere Übertragungen des-
selben Buchs, ^) und so ist es das Einfachste und Natürlichste, auch
bei unserem Dichter nicht nach weiterliegenden Veranlassungen zu
suchen, vielmehr anzunehmen, daß er einem Drang seines Herzens folgte,
als er seine Arbeit begann.
Sie sollte jedoch wichtige Folgen für ihn haben. Seine Über-
setzung erntete großen Beifall und brachte ihm materiellen Gewinn. Die
Königin ließ ihm den Wunsch ausdrücken, er möge das schöne Werk
fortsetzen, und so veröffentlichte er schon 16.52 einen zweiten Teil. In
derselben Zeit aber, in welcher seine fromme Dichtung so warme An-
erkennung fand, brachte ihm sein „Pertharite" auf der Bühne eine ent-
schiedene Niederlage.
Das Gefühl der Bitterkeit, das ihn wegen dieses Mißerfolgs er-
füllte, ließ ihn den vielleicht schon länger geplanten Schritt nun wirk-
lich thun. Wenn er früher aus Rücksicht auf sein Einkommen nicht
gewagt hatte, dem Schaffen für die Bühne zu entsagen, so konnte er
sich jetzt eher dazu entschließen, da ihm der Absatz seiner „Imitation
de Jesus-Crist" neben persönlicher Genugthuung auch materielle Vorteile
verhieß. Er verdiente mit ihr mehr als mit seinem besten drama-
tischen Werk, wie er selbst sagte. Corneille wußte zu rechnen, wenn
auch der Vorwurf der Habsucht, den man ihm gelegentlich macht, un-
begründet ist. Finanzielle Rücksichten dürfen wir daher bei seinen Ent-
schlüssen recht wol als bestimmend voraussetzen. Zudem wurde er 1653
von einer schweren Krankheit heimgesucht, die ihn in seinen religiösen
Gefühlen noch bestärkte.
So brach er mit dem Theater und verbrachte einige Jahre zu
Ronen, fern von den Pariser Kreisen, die ihm früher nahe gestanden
hatten. Er lebte seinem Amt, seiner Familie. Daß er heitere Geselligkeit
^) Vergl. Corneilles Vorwort zu seinem „Attila" (1667). Selbst in den
Worten, mit welchen er seine Übersetzung dem Papst Alexander VII. widmete,
spricht er von seinen Verdiensten um das Theater, und dad er in seinen Stücken
die Moral, in einigen sogar die wahre Christentugeud verherrlicht habe.
2) Siehe I. Teil, VIII. Abschnitt, S. 139 und 141.
3) Die eine von Antoine Tixier, Lyon 1653; die andere von Jean Des-
marets, 1654.
439
nicht floh, zeigen uns einzelne seiner Gedichte aus jener Epoche.') Aber
indem er immer mehr zum braven Bürger und Hausvater wurde, verlor
er die Fühlung mit der litterarischen Welt und das Verständnis der
neuen Zeit, die hereinbrach. Seine poetische Thätigkeit beschränkte sich
auf die Fortsetzung seiner Übersetzung des Thomas a Kempis, die in
mehreren Abteilungen erschien. Erst 1656 veröffentlichte er den letzten
Abschnitt, nachdem er, wie es scheint, kurz zuvor wieder ernstlich er-
krankt gewesen war. In Paris wenigstens hatte man sich schon die
jSTachricht seines Todes erzählt. Mit der Herausgabe des letzten Teils der
„Imitation" hielt er aber seine Arbeit nicht für abgeschlossen. Auflage
folgte auf Auflage; bei einer jeden suchte er zu bessern und zu feilen,
ein Beweis, wie sehr ihm sein Gedicht am Herzen lag; erst in der Aus-
gabe des Jahrs 1671 gab er ihm die letzte, definitive Form.
Der Wert einer solchen poetischen Paraphrase ist problematisch,
denn bei ihr gilt es nicht, das Meisterwerk eines fremden Dichters oder
Schriftstellers in einer andern Sprache möglichst getreu wiederzugeben;
es soll vielmehr dem Original ein neuer Glanz durch das poetische Ge-
wand verliehen werden, das ihm der Bearbeiter umlegt. Eine Paraphrase
ist aber kaum etwas anders als eine Verwässerung. In der „Imitation"
war Corneille allerdings bemüht, sich dem Gedankengang des Thomas
a Kempis so viel als möglich anzuschließen, ja er hat gestrebt, selbst
im Ausdruck dem Original nahe zu kommen; aber gar oft verleitet ihn
der Zwang des Reims, der Strophe oder der Harmonie zu einer Erwei-
terung. Eine Zeile des Thomas wird dann wol durch eine ganze Strophe
wiedergegeben. Wie sehr dadurch die ursprüngliche Einfachheit des
frommen Buchs leiden mußte, ist klar. Die Worte eines so kindlich-reli-
giösen, milden, seinem Gott und seinem Heiland mit vollster Seele hin-
gegebenen Menschen widerstreben sogar der poetischen Form. Der Vers
ist hier eine störende Zuthat. Mag darum Corneille auch in vielen Ein-
zelheiten glücklich gewesen sein und die Sprache als Meister gehand-
habt haben, seine Arbeit hat deshalb seinen Ruhm doch nicht erhöht,
denn sie ist für die französische Litteratur keine Bereicherung gewesen.
Hier drängt sich uns die Frage auf, ob Corneille sein Exil, das
ihn der Bühne fernhielt, immer leichten Herzens trug und sich niemals
nach der Aufregung der entscheidenden ersten Vorstellungen zurück-
sehnte? Erglühte sein Herz nie mehr, wenn das Bild eines Helden vor
seinem Geist aufstieg? Gestalteten sich in seiner Phantasie nicht öfters
die verschiedenen Phasen einer großen geschichtlichen Entwicklung zu
ebensoviel bewegenden Scenen einer Tragödie?
Es ist fast unmöglich, solche sehnsüchtige Rückkehr zu der Ideen-
welt einer früheren Zeit bei ihm nicht anzunehmen. Wir sehen denn
auch bald, wie er einer entschiedenen Aufforderung, wieder für die Bühne
zu arbeiten, Folge leistete. Wiederum mag er in seiner Neigung durch
1) Vergl. z. B. das Sonett aus dem Jahr 1658, Nr. XL VI in dem Band X
der Marty-Laveaux'schen Ausgabe. Eine Dame hatte ihm beim Spiel ein Ge-
dieht abgewonnen, und Corneille zahlte seine Schuld mit diesen Versen.
440
die Eücksicht auf eine notwendige Erhöliung seiner jäiii-liclien Einkünfte
bestärkt worden sein. Zum mindesten fällt sein Entschluß, sich dem
Drama wieder zuzuwenden, in die Zeit, da seine L'bersetzung der „Nach-
folge Christi'- beendet war und keine große Einnahme mehr von ihr zu
hoffen stand.
Eouen sah häufig wandernde Schauspielertruppen innerhalb seiner
Mauern, und Corneille war nicht so strenger Sinnesart, daß er sich ent-
halten hätte, das Theater zu besuchen. Warum sollte er sich des Ein-
drucks nicht freuen, den seine Bühnenwerke auf die Zuschauer machten?
War doch sein Bruder Thomas, dessen erstes Stück („Les engagements
du hasard") er 1647 dem Hotel de Bourgogne zur Aufführung empfohlen
hatte, seitdem immer für die Bühne thätig gewesen. Thomas Corneille
hatte im Jahr 1656 einen für jene Zeit beispiellosen Erfolg mit seinem
Trauerspiel „Timocrate" gehabt. Die Brüder aber wohnten zusammen,
und man weiß, daß sie ihre Arbeiten genau miteinander besprachen.
Zu Ostern 1658 hatten gar zwei Schauspielertruppeu ihre Zelte
in Eouen aufgeschlagen. Die eine stand unter der Leitung eines Edel-
manns, Philibert Gassaud, sieur du Croisy. Die andere wurde von Mö-
llere geleitet. In dem Wettstreit der beiden Gesellschaften unterlag die
erstere, deren Mitglieder schließlich fast alle zu Moliere übertraten. Auch
Croisy schloß sich ihm an und blieb seitdem ein treuer Gefährte seines
neuen Direktors.') Moliere hegte bereits den Plan, sich nach Paris zu
begeben, und hatte darum sein Eepertoire aufs beste gestaltet. Gewiß
waren Corneilles berühmteste Stücke darin aufgenommen, und wir dürfen
annehmen, daß die beiden Corneille eifrige Besucher seines Theaters
waren. Unter den Künstlerinnen der Moliore'schen Gesellschaft ragte be-
sonders Mlle. du Parc durch Schönheit und gewinnendes, vornehmes Wesen
hervor. Als echte Diva eroberte sie die Herzen des Publikums im Sturm,
und die Zahl ihrer Verehrer war unendlich. Zu ihnen gehörten auch die
beiden Brüder Pierre und Thomas Corneille. Der erstere richtete sogar
einige galante Gedichte an sie, unter anderen auch eine Art Liebes-
erklärung, in der er sich freilich sehr bescheiden ausdrückt:
Nicht verlang" ich Lieb" um Liebe,
Seh' ich meine grauen Haare.
Selbst die Besten gelten nichts mehr,
Kommen sie in böh're Jahre.-)
1) Siehe Moliere, ed. Molaud, IL Bd., S. XXIX. — F. Bouquet, „Moliere
et sa troupe ä Reuen", in der „Revue de la Normandie", 1865, p. ]43. — Croisy
war der erste Darsteller des „Tartuffe".
2) Siehe Corneille, ed. Marty-Laveaux, Bd. X, Nr. XL VII, sur le depart
de Mme. la Marquise de B. A. T." (Die Schauspielerin hatte den Namen Mar-
quise wegen ihres vornehmen Wesens erhalten.)
V. 46: Non qu'enfin mon amour pretende coeur pour coeur;
Je vois mes cheveux gris: je sais que les annees
Laissent peu de merite aux ämes les mieux nees.
Dafür sagt er ihr auch ein andermal:
Marquise, si mon visage
A quelques traits un peu vieux,
441
Er kenne seine Schwäcbe, sagt er ihr, er habe zu lange geliebt,
um noch liebenswert zu sein. Er habe versucht, ihr fern zu bleiben,
und sie habe es nicht einmal bemerkt. Wenn sie ihm wenigstens ein
böses Gesicht gemacht hätte — .,une heure de grimace ou froide ou
serieuse" • — aber nein, er sei ihr völlig gleichgiltig! Und doch sei seine
Neigung nicht wertlos, denn ein Dichter könne besser lohnen als ein
König, da er ewigen Ruhm verleihe. Am Schluß dieser Liebesklage aber
heißt es mit heiterer Wendung:
Also klagte Freund Cleandre,
Und sein Liebesleid schwand hin I
Glücklich lebt er ohne Dame,
Sie auch glücklich ohne ihn.
Wohl dem Mann, der nur im Liede
Von der Qual der Liebe girrt,
Der ein freies Herz bewahret
Und im Vers nur feurig wird.i)
Es ist klar, Corneille trug keine Leidenschaft im Herzen, und seine
Frau konnte ruhig sein. Der Dichter zählte damals 52 Jahre, und wenn
er für die genannte Schauspielerin schwärmte, so war dies neben der
Bewunderung auch ein Gefühl von Dankbarkeit für die schöne Darstel-
lung der von ihm geschaffenen Heldinnen. Kein Grund liegt hier vor,
von einer wirklichen späten Leidenschaft des Dichters zu reden. Man darf
dabei nicht übersehen, daß, wenn Corneille in seinen Tragödien seine eigene
Sprache schuf, er in Gelegenheitsgedichten und galanten Versen zumeist
die banale Redeweise der Lyriker seiner Zeit gebrauchte. Schrieb er doch
auch der „illustren Sappho", Mlle. de Scudery, ein Madrigal für einen
Kuß, den sie ihm auf die Hand drückte. Und ähnliche Gedichte hat
man noch mehr von ihm.-)
Eine andere Frage beschäftigte ihn seit einiger Zeit. König Lud-
wig XIV. hatte durch eine Verordnung vom 30. Dezember 1656, die
Souvenez-vous Cju'ä mon äge
Vous ne vaudrez guere mieux.
i Corneille, ed. Marty-Laveaux, Bd. X, Nr. LVIH, S. 165.) Mlle. du Parc wurde
-päter von Racine für das Hütel de Bonrgogne gewonnen, wo sie die Andro-
maciue spielte.
1) Ibid. V. 95:
Ainsi parla Cleandre, et ses maux se passerent,
Son feu s'evanouit, ses deplaisirs cesserent;
II vecut Sans la dame, et vecut sans enniii.
Comme la dame ailleurs se divertit sans lui.
Heureux en son amour, si l'ardeur qui Tanime
N'en con^oit les tourments que pour s'en plaindre en rime.
Et si d'un feu si beau la Celeste vigueur
Peut enflammer ses vers sans echautfer son coeur.
') Manche Biographen, so neuerdings J. Levallois („Corneille inconnu",
p. 170 ff.) sprechen von der Liebe des Dichters in tragischen Worten. Eine
solche Episode wäre allerdings interessant und gäbe der Lebensgeschichte Cor-
neilles etwas mehr Farbe; allein die Annahme einer solchen leidenschaftlichen
Neigmig scheint uns durch nichts begründet.
442
im Jahr 1661 und 1664 wiederholt wurde, alle seit 1634 verliehenen
Adelsdiplome für ungiltig erklärt und sich nur vorbehalten, einige der-
selben ausnahmsweise zu bestätigen. Infolge dieser Maßregel hatte sich
Corneille wahrscheinlich schon im Jahr 1657 mit einem Sonett an den
König gewendet und ihn um Anerkennung seines Adels gebeten. König
Ludwig XIII. habe ihm den Adel verliehen, um ihn als Dichter zu ehren,
und dies sei der einzige Lohn, der ihm zu teil geworden. Der Sohn
möge das von dem Vater verliehene Geschenk nicht wieder zurücknehmen.^)
Seine Bitte wurde gewährt, der Adel blieb ihm erhalten. Vielleicht führte
ihn diese Veranlassung nach Paris und zu Foucquet. dem Generalinten-
danten der Finanzen. Nikolaus Foucquet war zu diesem Amt im Jahr
1652 gelangt. Die Finanzverhältnisse des Landes und die verwickelte
Weise der Verwaltung gaben damals den Finanzministern bei weitem
mehr Macht und Einfluß, als sie in den modernen Staaten besitzen.
Foucquet hatte ein riesiges Vermögen erworben und rechnete nach Ma-
zarins Tod fest darauf, die Stelle eines leitenden Ministers zu erhalten.
Allein Ludwig XIV. wollte sich keinen Vormund mehr gefallen lassen, und
selbst Foucquets Macht mißfiel ihm. Der ehrgeizige Minister, dessen Ver-
waltung allerdings vielfache Mißbräuche geduldet, ja begünstigt hatte,
stürzte im Augenblick, da er sein Ziel erreicht glaubte (1661). und be-
schloß sein Leben in trauriger Kerkerhaft. Genaueres über Foucquet wird
in den Abschnitten über Moliere zu sagen sein. Hier genügt es, auf die
Freigebigkeit des Mannes hinzuweisen, der die Künste und die Poesie
liebte, großen Aufwand machte und sich als Mäcen gab. Wie er für
Lafontaine sorgte, so erwies er sich auch als Gönner Corneilles, als dieser
im Jahr 1657 nach Paris kam und ihm vorgestellt wurde. Es scheint.
daß Foucquet den Dichter mit einem reichen Geldgeschenk bedachte,
ihn zugleich aber auch drängte, wieder für die Bühne zu arbeiten.-)
1) Corneille, ed. Martj-Laveaux, Bd. X, Nr. XLIV, S. 135.
La noblesse, grand roi, manquoit ä ma naissance;
Ton pere en a daigne gratifier mes vers,
Et mes vers anoblis ont couru l'miivers
Avecque plus de pompe et de magniflcence.
Ce fut lä, de sou temps, toute leur recompense
Dont meme 11 honora tant de sujets divers,
Que sur ce long abus tes yeux enfin ouverts
De ce melange impur ont su purger la France.
Par cet illustre soin mes vers deshonores
Perdront ce noble orgueil dont tu les vois pares,
Si dans mon prämier rang ton ordre me ravale.
Grand roi, ne souffre pas qu'il ait tout son effet.
Et qu'aujourd'hui ta maiu, pour moi si liberale,
Reprenne le seul don que ton pere m'a fait.
-) In der poetischen Widmung au Foucquet, mit welcher Corneille seinen
.lOedipe" begleitete, ist es klar ausgesprochen, daß Foucquet ihm Geld zuwies.
Leider sind die Verse entsetzlich. „Vers presentes ä Monseigneur le procureui-
443
Corneille mochte schon längst eine solche äußere Nötigung- wünschen, wenig-
stens zeigt der Eifer, mit dem er sich aufs neue der dramatischen Dichtung
zuwandte, wie gern er der Aufforderung nachkam. Er bat Foucquet, ihm
einen Stoff zu bezeichnen, den er dramatisch behandelt wünschte, und
aus drei Aufgaben, die ihm der Minister zur Auswahl stellte, wählte er
die Geschichte des Ödipus. Mit jugendlichem Feuer ging er an die Arbeit
und schon nach zwei Monaten konnte er sein Trauerspiel vorlegen. Es
wurde im Januar 1651* zum erstenmal aufgeführt und erntete großen
Beifall. König Ludwig lohnte den Dichter nun ebenfalls mit einem reichen
Geschenk, und der Lorbeer der früheren Jahre schien sich verjüngt und
frisch um seine Stirn zu winden. Voll Selbstgefühl und jugendlicher Be-
geisterung rief er in der Widmung an Foucquet das stolze Wort :
Nocli lebt in mir Rodrigos Feuerseele,
Die Kraft, die den Horaz zum Kampf gestählt,
Noch ist die Hand nicht schwach, die Cinnas Bild
Und des Pomppjus Größe hat gezeichnet.^)
Und doch war dieses Gefühl der Kraft, das ihn belebte, trügerisch.
Wol sah sich Corneille bei seiner Rückkehr mit allgemeinem Jubel be-
grüßt, wol feierte man in ihm den unerreichten Dichter, wol bewunderte
man auch die Schauspiele, die er in den nächsten Jahren in rascher
Folge bot, aber trotzdem ist es klar, daß diese zweite Dichterjugend
künstlich war, daß die Bedeutung, welche den früheren Dramen Cor-
neilles innegewohnt hatte, sich in den Werken der späteren Zeit nicht
mehr findet. Corneille hat das selbst bald schmerzlich gefühlt. So klagt
er in einem Gedicht an Ludwig XIV., daß seine Kraft erloschen, daß
er müde sei. Der alternde Dichter sehe sich vernachlässigt und man
finde seine Verse frostig, zumal die Mode der Zeit jetzt nur Zärtlich-
keit atmende Stücke verlange. Nur wenn sich ihm die Jlöglichkeit biete,
seinen König unter dem B^ld eines Helden auf der Bühne zu verherr-
lichen, dann flamme in ihm das alte Feuer wieder auf.-)
general Foucquet, surintendant des finances." Nachdem sich Corneille beklagt
hat, daß er für seine Arbeiten nur leere Lobesworte geerntet habe, sagt er
V. 17—20, zu sich selbst gewendet:
Mais aujourd'hui qu'on voit un heros maguamine
Temoigner pour ton nom une tonte autre estime,
Et repandre l'eclat de sa propre bonte
Sur l'endurcissement de ton oisivete.
1) Vers ä Foucquet, v. 30 ff.:
Depuis que je t'ai vu, je ne vois plus nies rides:
Et plein d'une plus claire et plus noble vision,
Je prends mes cheveux gris pour cette Illusion.
Je sens le meme feu, je sens la meme audace,
Qui fit plaindre le Cid, qui fit combattre Horace,
Et je me trouve encor la main qui crayonna
L'ame du grand Pompee et l'esprit de Cinna.
-) Corneille, ed. Marty-Laveaux, Bd. X, Nr. LXVIII, S. 186, v. 27:
Que ne peuvent, grand Roi, tes hautes destinees
Me rendre la vigueur de mes jeunes annees!
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Überblicken wir zunächst die Reihe seiner letzten dramatischen
Arbeiten. Sie wird durch „Oedipe'-' (1659) eröffnet; in dem nächsten
Jahr kam „La Toison d'or" („Das goldene Yließ"). 1662 folgte „Ser-
torius" und 1663 „Sophonisbe". Ein Jahr später (1664) wurde „Othon"
und 1666 „Agesilas" aufgeführt. 1667 gab Corneille den „Attila",
1670 im Wettstreit mit Racine „Tite et Berenice", 1671 gemeinsam
mit Molitn-e und Quinault die „Psyche", 1672 „Pulcherie" und endlich
1674 „Surena", sein letztes Stück.
Eingehend jedes dieser Werke zu besprechen, ist nicht nötig. Sie
geben uns keine weitere Aufklärung über den Charakter des Dichters
und haben auf die Entwicklung der französischen Litteratur in keinerlei
Weise eingewirkt. Einzelne Verehrer Corneilles versuchen es zwar immer
wieder nachzuweisen, daß die letzten Arbeiten des Dichters ungerecht
behandelt werden, und zeigen dabei auf den äußeren Erfolg hin, den
sie zu ihrer Zeit errungen haben. ^) Sie erzählen uns der Wahrheit gemäß,
daß es für das Tlieater im Marais oft eine Lebensfrage war, ein neues
Stück von Corneille ankündigen zu können, und daß auch das Hotel de
Bourgogne dem Dichter bereitwillig seine Pforten geöffnet habe. Wir
wissen, daß Meliere mehrere Stücke Corneilles zur Aufführung brachte
und gute Geschäfte mit ihnen machte. So erzielte er z. B. mit „Titus
und Berenice" in 21 Vorstellungen eine Einnahme von über 15.000 Livres.
Allein alle diese Nachrichten beweisen nur, daß Corneilles Stücke, auch
die der letzten Zeit, Aufmerksamkeit erregten. Wenn ein Mann wie Cor-
neille mit einem neuen Werk hervortritt, so kann dies nicht unbeachtet
bleiben. Wer sich für die Bühne und die Litteratur interessiert, wird
womöglich seiner Aufführung beiwohnen ; daher die Theater jeder-
zeit gern ein neues Werk aus der Feder eines bekannten Dichters an-
nehmen, da sie einer Reihe von Vorstellungen sicher sind ; damit ist
aber für dessen Wert noch nichts bewiesen. Die Geschichte des Thea-
ters zeigt im Gegenteil zur Genüge, daß ein Schauspiel anfangs recht
zugkräftig und doch sehr bald veraltet und vergessen sein kann.
Die letzten elf Dramen Corneilles behandeln sehr verschiedene Stoffe;
sie zeigen Römer und Griechen, Parther, Hispanier und Hunnen, sie
führen in die Götterwelt des Olymp und in die finstere Sagenwelt des
fernen Kolchis. Sie sind an Wert sehr verschieden, doch sind die meisten
Quainsi qu'au temps du Cid je ferois des jalousl
Mais j"ai beau rappeler un souvenir si doux,
Ma veine qui charmoit alors tant de balustres,
K'est plus qu'un vieux torrent qu'ont tari douze lustres.
Au beut d'une carrlere et si longue et si rüde,
On a trop peu d'haleine et trop de lassitude:
Ä force de vieillir un auteur perd son rang;
On croit ses vers glaces par la froideur du sang;
Leur durete rebute, et leur poids incommode.
Et la seule tendresse est toujours k la mode.
1) Vergl. u. a. „Corneille inconnu" par Jules Levallois, Paris 1876, Didier
Cie., chap. II (Le? succes persistant), S. 25.
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ohne dramatisches Leben. Jedes Stück hat einzelne kraftvolle Scenen,
im ganzen aber scheint Corneille die Aufgabe des Dramas mehr und
mehr verkannt zu haben. Er stellte sich allerdings in jedem seiner Stücke
eine große Aufgabe. In „Sertorius" sah er den römischen Volksmann
im Kampf gegen die Aristokratie. In „Othon"' entrollte er das Gemälde
der Intriguen und kleinlichen Vorgänge am Hof der römischen Cäsaren;
„Titus und Berenice" schildern den Kampf der Liebe mit der Pflicht,
freilich in anderer Weise, als einst der „Cid" es gethan. Aber die Auf-
gaben, die sich Corneille in diesen und anderen Stücken stellte, fanden
nur eine schwache Lösung. Nur selten noch gelang ihm eine lebens-
wahre Zeichnung. In endlosen Reden und Gegenreden behandeln seine
Personen die Frage, die sie beschäftigt, und was das Schlimmste ist,
diese Frage ist oft nebensächlich und verdient solche Betonung gar nicht.
Nehmen wir z. B. „Sertorius", ohne Zweifel die beste unter den spä-
teren Arbeiten Corneilles. Es galt darin, den Unabhängigkeitskampf der
Lusitanier gegen Rom zu zeigen und die edle Einfachheit des Sertorius
gegenüber der Verderbtheit der römischen Machthaber hervorzuheben.
Statt nun in kräftigen Zügen das Bild dieses gewaltigen Kampfes und
des endlichen Zusammenbruchs der lusitanischen Freiheit zu schildern,
legt Corneille das Hauptgewicht auf eine nebensächliche, von ihm erfun-
dene Verwicklang. Viriate, die geschichtlich nicht bekannte Königin der
Lusitanier, fürchtet nach dem Sieg des Sertorius über die Römer ihren
Thron zu verlieren. Sie sieht voraus, daß Sertorius gegen die Stadt Rom
selbst ziehen und sie ihrem Schicksal überlassen wird. Dies zu verhin-
dern, bietet sie dem schon ergrauten Feldherrn ihre Hand an. Fast zu
derselben Zeit erscheint Aristia, die Gemahlin des Pompejus, die dieser
auf Befehl Sullas hat verstoßen müssen, im Lager des Sertorius. Auch
sie trägt sich dem römischen Feldherrn an. Wenn er sie heiraten und
somit ihre Ehre wieder herstellen will, verspricht sie ihm die Unter-
stützung einer großen Zahl mächtiger Freunde in Rom, die nur auf ihren
Wink warten , um in das Lager der Lusitanier zu eilen. Natürlich ist
auch diese Kombination eine Ertlndung Corneilles, der, ohne es zu wollen,
die Römer gar armselig hinstellt. Die einflußreichen Freunde Aristias
fragen bei ihren politischen Entschlüssen nur nach der Laune einer Frau !
Sertorius sieht sich nun in die unangenehme Lage versetzt, zwischen
den beiden Frauen zu wählen. Beide erklären offen, daß sie den alten
Herrn nicht lieben, sondern sich ihm nur aus anderen Gründen anbieten,
die eine aus Politik, die andere aus Rachsucht. Sertorius selbst erscheint
als Schwächling, der zwischen beiden Frauen hin- und herschwankt, und
dadurch in das Licht eines doppelzüngigen Mannes gerät. Ihm gegen-
über sehen wir Pompejus als Feldherrn des römischen Heers. In einer
Unterredung, die er mit seiner verstoßenen Frau hat, erklärt er ihr, daß
er sie nach wie vor liebe. Zwar habe er auf Sullas Befehl eine andere
heiraten müssen, aber Aristia möge etwas Geduld haben. Sobald er den
Tyrannen nicht mehr fürchten müsse, werde er seine jetzige Gemahlin
verstoßen und sie, Aristia, wieder zu sich nehmen! Das sind dieselben
Römer, die Corneille früher so stolz und edelmütig zeichnete. Von Staats-
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männiscbem Sinn und Gebaren findet man weder bei Sertorius noch bei
Pompejus eine Spur; alles ist auf persönliche Gründe zurückzuführen.
Eine berühmte Scene ist die Unterredung, welche die beiden Männer mit-
einander haben (III, 1), in welcher sie abwechselnd mit Schärfe und
Ironie, mit Beredsamkeit und Wärme einander zu gewinnen suchen, aber
in welcher sie nichts von politischer Einsicht und wirklich großen Zielen
verraten. Sertorius, der von den Lusitaniern an die Spitze ihres Staats
gestellt worden ist, denkt nicht daran, die Freiheit des ihm vertrauenden
Volkes zu sichern, sein Blick ist nur auf Rom gerichtet. Und die Königin
Viriate. die im ganzen Stück so viel von der Unabhängigkeit ihres Volkes
spricht und in Spanien ein Gegengewicht gegen die römische Macht er-
richten will, setzt schließlich die Römer zu Erben ihres Throns und
ihrer Herrschaft ein! So fällt denn auch Sertorius nicht für eine Idee,
nicht durch den Stahl eines politischen Gegners, sondern er wird von
seinem Unterfeldherrn Perpeuna aus Eifersucht ermordet. Perpeuna ist
eben auch ein Bewerber um der Königin Hand. Zudem ist der Zuschauer,
wie Voltaire mit Recht tadelt, auf den Tod des Sertorius nicht vor-
bereitet; es fehlt daher die Spannung, die Steigerung vor der Kata-
strophe, und die Nachricht von dem Tod des Sertorius geht fast ohne
Eindruck vorüber. „Sertorius" ist nichtsdestoweniger an Schönheiten
reich, aber sie liegen alle in den Einzelheiten der Ausführung. Man
wird durch die Sprache dieser Tragödie oft an die frühere Kraft des
Dichters erinnert. Die hohlen Redensarten, die den „Oedipe" verunstalten,
sind hier verschwunden, die Rede ist markig, bestimmt und geht auf
ihr Ziel los. Ein rascherer Pulsschlag belebt die Dichtung, stellenweise
findet sich die alte Wärme, der Schwung der besten Zeit wieder. So,
wenn Aristia in Pompejus noch die frühere Liebe zu erkennen glaubt,
und, ihrer Bewegung nicht mehr Meisterin, in leidenschaftlicher Freude
jeden andern Gedanken von sich wegweist:
Hinweg mit dir, gehäss'ge Eifersucht,
Du schwarzes Kind des Zorns, du Feind des Ruhms,
Nicht hör' ich mehr auf dich, armsel'ger Haß.
Vei-gessen ist es. wie man mich beschimpft! —
Wer mag mir noch von neuer Ehe reden!
Ich bin Pompejus' Gattin, und mein Herz
Gehört nur ihm, da er mich wieder liebt.
Nichts von Sertorius! Aber, Herr, gebt Autwort,
Was sagt dies Herz, das Ihr mir wieder schenkt?
Nichts von Sertorius! — Ach, was ich auch sage,
Ihr ruft mir nicht in gleicher Weise zu:
Nichts von Emilia! ^)
1) Sertorius, III, 2, v. 20 ff.:
Sortez de mou esprit, ressentimeuts jaloux,
Noirs enfants du depit, ennemis de ma gloire,
Tristes ressentimeuts, je ue veux plus vous croire.
Quoi qu'ou m'ait fait d'outrage, il ne m'en souvient plus.
Plus de nouvel hymen, plus de Sertorius;
Je suis au grand Pompee; et puisqu'il m'aime encore,
Puisqu'il me rend son coeur, de uouveau je l'adore:
447
Ganz im Gegensatz zu Corneilles anderen Dramen, die meistens
nach kraftvollem Anfang und spannender Steigerung gegen das Ende
zu schwächer werden, behauptet sich „Sertorius" so ziemlich auf der
Höhe und ist bemerkenswert durch den Ton leidenschaftlicher Ironie,
den er am Schluß noch anschlägt.
Alle diese Vorzüge vermögen indessen nicht, den Gesamteindruck
der Tragödie zu erhöhen. Und wie „Sertorius" in seiner Anlage mangel-
haft ist, so sind es auch die anderen Werke dieser Epoche. In seinem
„Othon" zeichnet Corneille einen Höfling, der ohne sein Verdienst, ohne
sein Bemühen von aufrührerischen Soldaten die Krone erhält, und der
in einem Augenblick großer Entscheidung nur an eine Herzenssache
denkt, diese selbst aber in kleinlicher Weise behandelt. Am Schluß kommt
er triumphierend als Kaiser. Er hört, daß der Vater seiner geliebten
Plautina durch Mörderhand gefallen ist, aber er findet als Trostwort nur
ein fades Kompliment. Er selbst, sagt er zu Plautina, sei mehr tot als
ihr Vater. Und wenn sie ihm in ihrer Güte nicht das Leben wieder-
gebe, so werde er vor ihren Augen sterben, um ihr mit seinen letzten
Atemzügen noch zu huldigen.^) Zu dieser Schwäche der Auffassung ge-
sellt sich noch ein anderer persönlicher Vorwurf, den manche Kritiker
dem Dichter machten. Er habe in seinem „Othon" dem König ge-
schmeichelt und sein Verhältnis zu MUe. de la Valliere poetisch verherr-
licht. Diese Anklage zu begründen, verwies man vorzugsweise auf eine
Scene des ersten Akts, in welcher Plautina dem zum Gemahl der Prin-
zessin Kamilla bestimmten Othon ihre Freundschaft anbietet.-)
Man muß schon den Wunsch haben, in Corneille einen Schmeichler
zu finden, wenn man in dieser Scene eine Ermutigung Ludwigs zum
Ehebruch sehen kann. Viel eher mochte Corneille bei manchem politi-
schen Wort dieses Stücks an seinen König gedacht haben. ^)
Der Herzog von Grammont nannte ..Othon" das Brevier der Kö-
nige, machte aber damit seinem Fürsten ein schlechtes Kompliment.
In „Agesilas"' schaltete Corneille achtzeilige Verse zwischen den
Alexandrinern ein, um sich von der Tyrannei dieses Versmaßes, das
bereits als allein seligmachend in der Tragödie galt, zu befreien. Sein
Plus de Sertorius! Mais, Seigneur, repondez ;
Faites parier ce coeur qu'enfin vous me rendez.
Plus de Sertorius. Helas! quoi que je die,
Vous ne me dites poiut, Seigneur: „Plus d'Emilie!"
1) Othon, V, 7, V. 6 ff. :
— — Helas! je suis plus mort que lui.
Et si votre beute ne me rend une vie
Qu'eu lui per(,'ant le coeur uu traitre m'a ravie,
Je ne reviens ici qu'en malheureiix amant,
Faire hommage ä vos yeux de mou dernier moraent.
'^) Othon, I, 4, V. 19.
3) Othon, II, 4, 47. Dort heißt es von Othon:
Du timon qu'il embrasse, 11 se fait le seul guide.
Man vergl. I. 1, 21.
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Versuch war indessen zu ängstlich und er erreichte damit nichts weiter,
als daß er dem Ganzen einen melodramatischen Charakter gab. Wir
sehen in .^Agesilas" galante spartanische Krieger und Spartanerinnen,
die nur mit ihrem Liebeskummer beschäftigt sind. Wenn wir uns die
Nachkommen des Lykurg und Leonidas gewöhnlich anders vorstellen, so
könnten wir doch einmal von der geschichtlichen Wahrheit absehen,
wenn nur die Liebesgeschichten, die uns in „Agesilas" vorgeführt werden,
an sich ein menschliches Interesse erweckten. Allein hier liegt der Haupt-
fehler. Es beleidigt uns, drei Liebespaare zu sehen, die keinerlei Teil-
nahme erwecken und in dem Bewußtsein, nicht zu einander zu passen,
immer neue Kombinationen . neue Verlöbnisse untereinander versuchen.
So werden die einzelnen Figuren wie auf einem Schachbrett fortwährend
verschoben, bis sich endlich die rechten Paare zusammenfinden.
Es folgte dann „Attila". Unter dem Xamen des Frankenkönigs
Meroväus und seines Sohns soll Corneille hier wieder König Ludwig und
den Dauphin verherrlicht haben. Es ist möglich, daß er seiner Dichtung
durch den Hinweis auf die glänzende Zukunft des Frankenreichs einen
besonderen Glanz verleihen wollte, doch bleibt diese Frage ohne Bedeu-
tung und jedenfalls konnte seine indirekte Huldigung das Drama nicht
retten. Attila. der Held des Stücks, wird von Corneille als grausamer
und mißtrauischer Barbar geschildert. Daneben aber hätte er ihm eine
gewisse heroische Größe lassen sollen. Attila mußte zwar als „Gottes-
geißel" auftreten, aber zugleich als ein Mann erscheinen, der, mit scharfem
Blick für die Schwäche der Nachbarstaaten begabt, sich ein großes Ziel
vorgesteckt hat und es unbeirrt und mit allen Mitteln verfolgt. Was
aber soll man zu einem Attila sagen, der seine Wut manchmal vergißt,
um die Sprache der Galanterie zu reden, der von seinem sehnsuchts-
vollen Herzen spricht und in gewundenen Worten behauptet, daß seine
Vernunft dem Blick eines schönen Auges nicht widerstehen könne ?V)
Ähnliches gilt auch von den übrigen Stücken.
Die Herzogin von Orleans, Henriette von England,^) wünschte die
Liebe des Kaisers Titus zur Königin Berenice dramatisch behandelt zu
sehen und beauftragte damit gleichzeitig Corneille und seinen jungen
Rivalen Racine. Jeder schrieb sein Schauspiel, ohne von der Arbeit des
1) Attila, III, 1, V. 45:
Je sens combattre encor dans ee coeur qui soupire
Las droits de la beaute contre ceux de Terapire.
L'effort de la raison qui soutient mon orgueil
Ne peut non plus que hü soutenir un coup d'oeil;
Et quand de tout moi-meme eile m'a rendu le maitre,
Pour me rendre ä mes fers eile n'a qu'ä paroitre.
-) Henriette von England, Tochter König Karls I. und der Königin Hen-
riette Marie von Frankreich, war durch ihre Mutter eine Enkelin Heinrichs IV.
Geboren 1644, wurde sie 1661 mit Philipp v. Orleans, dem Bruder Ludwigs XIV.,
vermählt und starb im Jahr 1670, noch bevor die beiden von ihr bestellten
Stücke zur Autführung kamen. Bossuet hielt ihr eine seiner berühmtesten Grab-
reden.
449
andern zn wissen, bis dann die beiden Dramen gleichzeitig und zur all-
gemeinen Überraschung aufgeführt wurden. Während Corneilles Stück
bereits von der Moliere'schen Truppe einstudiert wurde, kündigte plötz-
lich das Hotel de Bourgogne eine „Berenice" von Eacine an. Die letz-
tere Vorstellung fand am 21. November statt und acht Tage später, am
28., war die erste Aufführung von Corneilles „Titus et Berenice". Auf
dem ihm ungünstigen Gebiet der Liebestragödie unterlag Corneille. Doch
der ganze Wettstreit gehört mehr in die Geschichte Racines, und so
werden wir ihn seinerzeit ausführlicher besprechen.
Corneille behandelte diese an sich schon undramatische Liebes-
geschichte noch besonders trocken. Als sei das menschliche Herz eine
Ware, so wird es in seinem Stück behandelt. Domitian, des Titus Bruder,
treibt einen wahren Schacher mit seiner Liebe und gilt doch als ein
echter, braver Liebhaber. Titus aber denkt eine Zeit lang daran, sich
mit Domitia, der Tochter des alten Kaisergeschleclits, zu vermählen,
weil er sie fürchtet!
Weder das Schauspiel von Pulcherie , der Herrscherin von Kon-
stantinopel, noch die Tragödie von dem parthischen Helden Surena sind
anziehend genug, um sie einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Es
ist ein hartes Wort, aber es muß doch gesagt werden. Die letzten Stücke
Corneilles sind mehr und mehr nach der Schablone gearbeitet; die Helden
sehen sich alle einander ähnlich, sie reden dieselbe Sprache, hegen die-
selben Anschauungen und Gefühle, und sie alle, ob sie nun Otho, Titus
oder Surena heißen, ermangeln der Größe.
Ist es deui Dichter doch in seiner „Sophonisbe" gelungen, in
manchen Punkten hinter Mairets Stück zurückzubleiben, das über dreißig
Jahre zuvor die Epoche der regelmäßigen Tragödie eröffnet hatte. Mairet
ließ Sophonisbes Gemahl, den König Siphax, in der Schlacht fallen, be-
vor er die Königin als Gattin Massinissas zeigte. Bei Corneille vermählt
sie sich mit dem numidischen König, obwol Siphax noch am Leben ist.
Das wirkt geradezu abstoßend auf unser Gefühl. Die Scene, in welcher
Siphax mit Ketten belastet vor Sophonisbe erscheint, von ihr mit Vor-
würfen überhäuft und mit Verachtung behandelt wird, ist widerlich,
zumal Sophonisbe an anderen Stellen die ausgespitzten Lehren des
galanten Lebens vorträgt (t. 2, v. 96 ff.). Daß die Sprache des Cor-
neille'schen Stücks diejenige Mairets in jeder Hinsicht übertrifft, ist
selbstverständlich.
Aber auch in dieser Hinsicht ist ein Rückschritt Corneilles wahr-
zunehmen. Seine Sprache war niemals ganz korrekt gewesen, und die
Verhältnisse erklären dies zur Genüge. Die Kraft und der Schwung des
Aufdrucks, die Hoheit des Gedankens lassen in den früheren Werken
jede Unregelmäßigkeit leicht übersehen. In den meisten Stücken aus der
letzten Epoche tritt aber der Mangel an Klarheit und Korrektheit umso
schärfer hervor, je ärmer die Gedankenwelt des Dichters wird. Das mehr-
jährige zurückgezogene Leben in Ronen war nicht ohne störenden Ein-
fluß auf ihn geblieben. Nicht minder deutlich zeigt sich in seiner Sprache
die Einwirkung der preciösen Kreise, die in übertriebener Weise nach
Lotheißen, (iescli. d. franz. Litteratur. ou
450
schöngeistigem ätlierischen "Wesen haschten. Das tritt schon in seinem
„Ödipus" deutlich zu Tage, der eine Fundgrube für preciöse Redens-
arten ist und wo die Geziertheit des Ausdrucks mit der Dunkelheit wett-
eifert.^) In „Titus und Berenice" findet sich eine Stelle, die wol pomp-
haft klingt, aber durchaus sinnlos ist.-)
Die Schuld dieser betrübenden Erscheinung liegt nicht in Corneille
allein. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß die Verkettung der
Umstände, die rasche Wandlung der politischen Verhältnisse und die
schnelle Entwicklung der Sprache dera alternden Dichter die größten
Schwierigkeiten bereiten mußten.
Am besten. Corneille hätte dem jungen Geschlecht die fernere dra-
matische Arbeit überlassen. Allein seine äußere Lage drängte ihn zu
weiteren Kompositionen. Und da er fühlte, daß das Publikum anders ge-
artet war und andere Ansprüche erhob, so that er seinem Wesen Ge-
walt an, um dem geänderten Geschmack zu entsprechen. Daher sein ver-
1) So sagt (I, 1, V. 5j Theseus, der in Theben weilt und sich nun um
Dirce, die Tochter des Lajus, bewirbt:
Quelque ravage aftreux qu'etale ici la peste,
L'absence aux vrais amants est encor plus funeste.
Acte IV, 1, V. 3 ff. sagt Dirce, als Theseus, von dem Orakel getäuscht,
ihr Bruder zu sein glaubt und statt ihrer sterben will:
Et ce jaloux honneur qui ne consentoit pas
Qu'un frere me ravit un glorieux trepas,
Apres cette douceur fierement refusee,
Ne me refusoit point de vivre pour Thesee.
Et laissoit doucement corrompre sa fiert^
A l'espoir renaissant de ma perplexite.
Acte V, 8, V. 36, sagt Nerine, die Dienerin der Königin Jokaste, als sie
deren Verzweiflung schildert:
Et nos pleurs par respect attendent ses soupirs.
2) Tite et Berenice. I, 2, 1. Domitian kommt zu Domitia, die er liebt.
die aber in vier Tagen den Kaiser Titus heiraten soll. Er sagt ihr:
„Faut-il mourir, Madame? et si proehe du terme
Votre illustre constance est- eile encore si ferme,
Qua les restes d'un feu que j'avois cru si fort
Puissent dans quatre jours se promettre ma mortV
Über diese Verse ist viel gespottet worden. Boileau soll mit Beziehung
auf sie zwei Arten von Galimathias unterschieden haben: den einfachen Gali-
mathias, bei dem der Verfasser zwar wisse, was er sagen wolle, aber das Publi-
kum nicht, und den doppelten Galimathias, von dem weder der Verfasser noch
das Publikum etwas verstünden. — Der Schauspieler Barre, der die Rolle des
Domitian in Molieres Truppe zuerst zu spielen hatte, habe sich, heißt es weiter,
zuerst an seineu Direktor um Erklärung der dunklen Stelle gewendet, und da
dieser den Sinn nicht habe finden können, sei Barre zuletzt zu Corneille selbst
gegangen. Corneille habe sie geprüft und endlich gestanden, daß er sie auch
nicht verstehe. „Mais recitez les toujours; tel qui ne les entendra, les adnii-
rera " Siehe „Eeereations litteraires ou Anecdotes et remarques sur differents
Sujets recueillies" par M. C. ß** (Cizeron Rival), Paris et Lvon 1765, p. 67.
Corneille, edit. Marty-Laveaux, Bd. III, S. 101.
451
zweifeltes Haschen nach Neuem. Konnte er auch mit der Weichheit, dem
leidenschaftlichen Ton der Racine'schen Tragödie nicht wetteifern, so
konnte er doch vielleicht durch andere Mittel gefallen. Darum strebte
er nach Eleganz der Kede und verfiel in Manieriertheit ; wählte er seine
dramatischen Stoffe aus entlegenen Zeiten und Ländern, und machte da-
durch nur den grellen Widerspruch zwischen der barbarischen Welt, die
er schildern wollte, und der Art, wie er sie schilderte, umso deutlicher.
Er wollte, wie er selbst erklärte, von den faden Galanterien der modernen
Stücke nichts wissen, und gründete das Hauptinteresse seiner Werke auf
schwache Liebesverhältnisse, die er möglichst trocken behandelte. Er griff
endlich zu dem Reiz der Ausstattung und versuchte es mit Spektakel-
stücken, wie z. B. dem „Goldenen Vließ".
Von diesem und einem andern Gelegenheits- und Ausstattungs-
gedicht, der „Psyche", mögen darum noch einige Worte gesagt werden.
Das „Goldene Vließ" verfaßte Corneille im Auftrag eines reichen
Sonderlings, des Marquis de Sourdeac, der zur Feier des Friedensschlusses
zwischen Frankreich und Spanien (1659), sowie der Vermählung des
Königs mit der Infantin Maria Theresia von Österreich (1660) ein großes
Fest auf seinem Schloß in der Normandie veranstaltete.^)
Die Dichtung Corneilles war jedoch nicht die Hauptsache, sie mußte
sich den Anforderungen der aus Italien herübergekommenen Kunst sceni-
scher Ausstattung fügen. Niemals hatte man in Frankreich schönere
Dekorationen, überraschendere Verwandlungen gesehen, als bei dieser Auf-
tührung. Auch Musik und Gesang durfte nicht fehlen. Das Reich der
Oper nahte heran. Da sah man auf der Bühne die unwirtbare Küste
von Kolchis, wo der Phasis in schäumenden Wogen über Felsen herab-
stürzte. Aus den Fluten des Meers stiegen Tritonen und Sirenen empor,
während vier Windgötter eine kostbare Muschel über die Wasserfläche
zogen, aus welcher die Königin Hypsipyle, die frühere Geliebte des Jason,
hervortrat. Dann wieder sah man das Innere eines prachtvollen Palasts,
der sich auf Geheiß der Medea plötzlich zur Hölle verwandelte, wo sich
Schlangen und Drachen, Elefanten, Löwen, Tiger und sonstiges böses
Getier tummelten. Der letzte Akt führte in den dichten Hain des Mars
zu dem goldenen Vließ. Götter flogen vom Himmel zur Erde herab und
wieder empor; Medea selbst schwang sich zuletzt mit dem Vließ in die
Lüfte und entführte das Palladium von Kolchis. Der verzweifelte König
Aetes wandte sich um Schutz an seinen Vater, den Sonnengott, und so
öffnete sich im Schlußbild in strahlender Majestät der Himmel. Über die
sonnenleuchtende Wohnung des Helios hinaus erblickten die entzückten
Zuschauei- den Herrn des Olympos mit allen Göttern ; das Wort des Zeus
löste die Verwirrung auf Erden und verhieß auch für Kolchis eine fried-
liche Zukunft.
Die Berichte der Zeitgenossen sind überschwänglich in ihrem Lob.
Aber sie sprechen immer nur von der Ausstattung, nicht von der Dich-
tung; und mit Recht, denn die letztere kann keinen Anspruch auf dra-
1) Siehe S. 274.
452
niatischen Wert erheben.') Bedeutend höher steht „Psyche", obwol auch
dieses Werk nur ein Gelegenheitsstück: mit Ballett ist.
„Psyche" ist die gemeinsame Arbeit Molieres und Corneilles, und
schon aus diesem Grund interessant. Der König hatte sich für den Kar-
neval des Jahrs 1671 ein großes Schaustück bei Meliere bestellt. Dieser
wählte den Eoman seines Freundes Lafontaine , um daraus ein buntes
Zauberstück za fertigen. Aber die Zeit mangelte ihm; er entwarf wol
den Plan, schrieb auch den Prolog, den ersten Akt und einige weitere
Scenen (II, 1. und III. 1), dann aber bat er seinen Freund Corneille
um Hilfe, und dieser vollendete das Stück in der kurzen Zeit von vier-
zehn Tagen. Quinault, der später als Dichter von Operntexten besonders
beliebt wurde, schrieb die einzulegenden Lieder und Gesänge, und LuUi
komponierte die Musik dazu. In kürzester Zeit war alles bereit, und der
König konnte sich nach Wunsch des heiteren Spiels, der prachtvollen
Ausstattung und der musikalischen Beigaben erfreuen.
Das Stückchen macht an sich keine großen Ansprüche, aber man
verspürt in der raschen Führung des Ganzen die Hand des praktischen
Schauspielers und großen Lustspieldichters. Moliere mag durch sein Wort
auch Corneille aufgefrischt haben. In den Teilen, die von Corneille her-
rühren, herrscht nicht minder ein heiterer, kräftiger Ton. Es ist merk-
würdig, daß Moliere gerade in diesem Stück indirekt der alten Art des
Dramas, also gerade dem Drama seines Mitarbeiters, das Urteil sprach.'^)
Der Stoff, die reizende Erzählung von der Liebe des Amor und der
Psyche, paßte allerdings wesentlich für die moderne Schule. Auch Cor-
neille versuchte sich diesmal mit Glück in dieser Manier. Seine Verse
sind leicht und gefällig, und in einer berühmten Stelle erhebt er sich
nicht allein zum Ausdruck wahrer Innigkeit, er schlägt darin auch den
Ton schwärmerischer Zartheit an, den die neuere Zeit so liebte und die
man bei Corneille kaum erwartete. Es ist dies die naiv sinnliche Liebes-
erklärung, welche Psyche an Amor richtet.^) Daß Corneille bewußt darauf
1) Jason ist iu der beliebten Manier der damaligen Liebhaber gezeichnet.
Er schwankt zwischen Medea und Hypsipyle und ist ein Ausbund von Galan-
terie. So sagt er zu Medea (II, 2, v. 119):
Quel heur de pouvoir dire en terminaut mon sort:
Uu respect amoureux a seul cause ma mort!
'-) In der ersten Scene des ersten Akts besprechen die zwei Schwestern
der Psyche voll Neid die Bewunderung, welche die letztere allenthalben erweckt.
Die eine, Aglaure, tadelt es, daß Psyche so zuvorkommend sei ; sie öffne jeder-
mann die Arme und verheiße ihm sein Glück. Dann fährt sie v. 111) foi't:
Notre gloire n'est plus aujourd'hui conservee,
Et l'on n'est plus au temps de ces nobles fiertes
Qui par un digne essai d'illustres cruautes,
Vouloient voir d'un amant la eonstance eprouvee.
3) Psyche, III, 3, v. 19 :
A peine je vous vois, que mes frayeurs cessees
Laissent evanouir l'image du trepas.
Et que je sens couler dans mes veines glacees
Un je ne sais quel feu que je ne connois pas.
453
ausging, sein Stück in dieser ihm sonst fremden Tönart zu schreiben,
verrät er deutlich. Einmal erinnert er sogar an Theophiles „Pyramus'-,
jenes Urbild der galanten Komödie, welches die feine Welt zur Zeit, da
Corneille noch ein Jüngling war, entzückte.') Eine solche Sprache hatte
schon damals etwas wie Moderduft , und sie bei Corneille zu finden,
macht einen gar seltsamen Eindruck auf uns.
Neben seinen dramatischen Arbeiten hatte Corneille die geistliche
Poesie nicht vernachlässigt. Im Jahr 1665 veröffentlichte er die „Lou-
anges de la Sainte Vierge", eine poetische Übersetzung des lateinischen
Gedichts „Laus beatae Virginis" von Sankt Bonaventura. Fünf Jahre
später (1670) erschien eine ganze Sammlung geistlicher Gedichte von
ihm, zum größten Teil Übersetzungen („Offices de la Vierge; les sept
psaumes penitentiaux ; vepres et complies du dimanche; Instructions chre-
tiennes et prieres chretiennes", eine Auswahl von Meditationen und Ge-
beten aus der schon früher von ihm übersetzten „Nachfolge Christi" ;
zuletzt auch eine Übersetzung des römischen Breviers). Corneille erwies
sich in diesen wie in den früheren Werken ähnlicher Art als ein ge-
wissenhafter Übersetzer. Es gelang ihm oft, den Ausdruck seines Ori-
ginals in knapper und treffender W^eise wiederzugeben; seine Sprache
war ernst und würdig. Aber alle unsere Bedenken gegen derlei Über-
tragungen werden durch diese Vorzüge nicht behoben. In der großen
Sammlung seiner geistlichen Gedichte fallen die Psalmen am meisten auf.
Ihre Übersetzung durch Corneille steht über der einst so gerühmten
J'ai senti de l'estime et de la complaisance,
De l'amitie, de la reeonnaissance ;
De la compassion les cbagrias innocents
M'en ont fait sentir la puissance;
Mais je n'ai point encor senti ce que je sens.
Je ne sais ce que c'est; mais je sais qu'il me charme,
Que je n'en eongois point d'alarme:
Plus j'ai les yeux sur vous, plus je m'en sens charmer.
Tout ce que j'ai senti n'agissoit point de meme,
Et je dirois que je vous aime,
Seigneur, si je savois ce que c'est que d'aimer.
1) Man vergl. das Couplet Amors, III, 3, v. 158 ff., worin er seine Liebe
schildert und worin er auf Psychens Frage, ob er eifersüchtig sei, antwortet:
Je le suis, ma Psyche, de toute la nature:
Les rayons du soleil vous baisent trop souvent;
Vos cheveux souffrent trop les caresses du vent.
Des «iu'il les tiatte j'en murmure;
L'air meme que vous respirez
Avec trop de plaisir passe par votre bouche;
Votre habit de trop pres vous touche;
Et sitöt que vous soupirez.
Je ne sais quoi qui m'effarouche,
Craiüt parmi vos soupirs des soupirs egares...
Man versrl. ferner Theophiles „Pvramus und Thisbe", IV, 1, 42 ff., und
[. Teil dieses Werks. S. 204.
454
Eacan'schen Paraphrase,^) aber die poetische Kraft und die Erhabenheit
des Originals verliert sich auch bei ihm vollständig. 2)
Haben wir bisher hauptsächlich Corneilles poetischer Thätigkeit
unsere Aufmerksamkeit gewidmet, so wenden wir nun, bevor wir von
ihm scheiden, unseren Blick noch einmal auf ihn selbst, auf seine spä-
teren Lebensschicksale und die Erlebnisse seiner Kinder.
Mit „Surena" hatte Corneille seine dramatische Arbeit abgeschlossen,
und nur wenige Gelegenheitsgedichte stammen aus seinen letzten Lebens-
jahren. Schon im Jahr 1662 hatte er sich entschlossen, seinen Wohn-
sitz in Ronen aufzugeben und mit seiner und seines Bruders Thoraas
Familie nach Paris überzusiedeln. Nur gewichtige Gründe konnten den
schon alternden Mann zu einer solchen Veränderung bewegen. Man hat
die Vermutung ausgesprochen, daß eine Hauptveranlassung zu dieser
Uebersiedlung in den mißlichen finanziellen Verhältnissen Corneilles zu
suchen sei. Der Dichter habe vermeiden wollen, seine Lage in Ronen
zu offenbaren. Es scheint dieser Gedanke bei genauerer Prüfung nicht
zulässig. Gerade in dem Jahr 1662 ließ sich der König eine Liste ein-
heimischer sowie fremder Dichter, Schriftsteller und Gelehrter vorlegen,
die er mit einem Jahresgehalt auszeichnen könnte. Der Minister Colbert
ließ durch Chapelain das gewünschte Verzeichnis zusammenstellen. Cor-
neilles Name fand sich auch darin, und wenn er auch nicht so hoch
wie Chapelain bedacht wurde, erhielt er doch eine königliche Gabe von
jährlich 2000 Livres. Rechnet man die Zinsen einiger noch erhaltener
Kapitalien, sowie die Rente hinzu, welche Äcker und Häuser abwarfen ;
bedenkt man, daß Corneille als Mitglied der Akademie jährlich 1500 Livres
bezog und darauf zählen konnte, für jedes neue Schauspiel etwa 2000 Livres
zu erhalten, so dürfen wir schon annehmen, daß er sich aus anderen
Gründen zu dem immerhin für ihn schweren Schritt entschloß. Wollte
Corneille auch ferner für das Theater thätig sein, so war eine öftere
Anwesenheit in Paris unumgänglich, die Reise dahin aber in den schwer-
fälligen Postkutschen eine Anstrengung, der sich ein junger Mann wol
leichten Muts unterziehen konnte, die aber für Corneille bereits sehr
lästig, für seine Gesundheit gefährlich werden konnte. Zudem wuchsen
1) Vergl. I. Teil dieses Werks, S. 141.
^j Man vergl. z. B. Psalm XVIII. Er beginnt in der lateinischen Über-
setzung: „Coeli enarrant gloriam Dei. et opera manuum ejus annuntiat firma-
mentum". Nach Luther iinter der Zahl XIX: „Die Himmel erzählen die Ehre
Gottes und die Veste verkündiget seiner Hände Werk. Ein Tag sagt es dem
andern und eine Nacht thut es kund der andern". Corneilles Übertragung be-
ginnt :
Des Celestes lambris la pompeuse etendue
Fait l'eloge du Souverain,
Et tout le firmament ne preschte ä la vue
Que des ouvrages de sa main.
Le jour prend sein d'apprendre au jour qui lui succede
Ce que sa parole a produit.
Et la nuit qui l'a su de la nuit qui lui eede
L'enseigne ä celle qui la suit.
455
die Kinder heran und der Dichter glaubte wol, in Paris, an der Quelle
der Gnaden, für seine Söhne leichter und besser sorgen zu können. Da
nun sein Bruder Thomas, sein treuer Gefährte, ebenfalls für die Pariser
Bühne arbeitete, und deshalb wol den Umzug befürwortete, so braucht
man nicht nach anderen Gründen zu suchen.
Die beiden Familien konnten der freundlichsten Aufnahme in Paris
sicher sein. Corneille hatte im Jahr 1662 den Höhepunkt seines poetischen
Schaffens zwar schon längst überschritten, aber gerade damals war fast
jede tadelnde Kritik ihm gegenüber verstummt, und er konnte sich, aller-
dings nur eine kurze Zeit, des glücklichen Bewußtseins allgemeiner An-
erkennung erfreuen.') Eine Überlieferung besagt, Corneille habe anfangs
als Gast im Hotel de Guise in der Rue du Chaume gewohnt. Dies könnte
jedenfalls nur kurze Zeit gewesen sein, wenn sich die Angabe nicht gar
auf eine frühere Zeit bezieht, in der Corneille vielleicht sein Absteig-
quartier in dem genannten Palais hatte, so oft ei nach Paris kam.
Jedenfalls wohnte er später in der Rue d'Argenteuil auf der Butte Saint
Roch. Diese Straße ist allerdings unweit des Palais-Royal und des Louvro,
lag aber zur damaligen Zeit in einer ziemlich verwilderten Gegend. Sie
war nur halb ausgebaut, schmutzig und der Aufenthaltsort niedrigen
Gesindels. Heute ist die Butte Saint Roch schon längst abgetragen. Zu
Corneilles Zeit erhob sich der kleine Hügel noch, der Weinstöcke und
Obstbäume trug und auf dessen Höhe einige Windmühlen ihre langen
Arme drehten. Nicht weit von Corneille wohnte sein Bruder Thomas in
der Rue du Glos Georgeot. Ebenfalls nahe, in der Rue de Richelieu,
gegenüber der Mündung der Rue Traversiere, erhob sich das Haus
Molieres. Schon der geschäftliche Verkehr brachte die beiden Männer
öfters zusammen, und mehr als einmal mögen sie, ihre Pläne besprechend,
auf der Butte Saint Roch sich ergangen haben. Moliere, der anfangs
auch mit Racine eng befreundet war, sah diesen sich abwenden und
ganz in das Lager des rivalisierenden Hotels de Bourgogne übergehen.
Umso fester mag er darum an Corneille gehalten haben.
In Paris fand dieser jedoch nicht die Verbesserung seiner Lage,
wie er gehofft hatte. Im Gegenteil; Kummer und Bedrängnis stellten
sich nur zu bald ein. Die zwei ältesten Söhne Corneilles waren in das
Heer getreten, nachdem der jüngere von ihnen als Page bei der Herzogin
von Nemours seine Laufbahn begonnen hatte. Das Leben und die Aus-
rüstung eines Offiziers kostete mehr Geld als sein Gehalt betrug, und
der Vater hatte viel Geld zuzuschießen, wenn er wollte, daß seine Söhne
standesgemäß lebten. Da kamen drückende Sorgen, zumal als die könig-
liche Kasse das Gehalt des Dichters immer unregelmäßiger, schließlich
gar nicht mehr zahlte. Schon ums Jahr 1665 beklagte sich Corneille
in einem kleinen Gedicht über die Verzögerung der Zahlungen,-) und
1) Moliere huldigte ihm in den „Fächeux", I. 1, 54. Mazarin hatte sclion
früher in einem Saal seines Palasts die Bildnisse Homers, Virgils, Tassos und
Corneilles, als der vier größten Dichter, anbringen lassen.
-) Corneille, ed. Marty-Laveaux, Bd. X, Nr. LXVII, S. 185. Au roi pour
le retardement du payement de sa pension.
456
vom Jahr 1679 an blieben sie ganz aus. Corneille war damals 73 Jahre
alt. Die Theater zahlten ihm schon lange nichts mehr, da er ver-
stummt war. Die Kapitalien des väterlichen Vermögens waren allmählich
alle aufgezehrt worden. Man braucht deshalb noch nicht, wie manche
wollen, die Frau des Dichters als schlechte Haushälterin hinzustellen.^)
Aber noch härterer Kummer lastete auf ihm. Sein dritter Sohn, Charles,
war ihm im Alter von 14 Jahren 1667 gestorben; der zweite Sohn,
dessen Vorname nicht bekannt ist, war in demselben Jahr bei der Be-
lagerung von Douai am Fuß verwundet und zu seiner Heilung nach
Haus gebracht worden. Er fiel einige Jahre später bei der Belagerung
von Grave (1674). Immer trauriger gestaltete sich die Lage des greisen
Dichters. Unterdessen wurde das Schloß zu Versailles mit einem un-
erhörten Aufwand gebaut und man feierte die glänzendsten Hoffeste.
Thomas, der letzte Sohn Corneilles, hatte sich dem geistlichen
Stand gewidmet, und König Ludwig ihm eine Pfründe in Aussicht ge-
stellt. Allein auch diese blieb aus. Es klingt wie ein Schrei der Ver-
zweiflung aus dem Gedicht, in dem Corneille sich an den König wendet
und ihm vorhält, daß ein großer Monarch nur versprechen darf, was
er halten will.-) Ludwig nahm das kühne Wort ruhig hin, löste aber
erst im Jahr 1680 sein Versprechen ein und ernannte Thomas zum
Abbe von Aiguevive. Als solcher hatte er jährlich 3000 Livres zu
beziehen; ob er sie aber regelmäßig erhielt, und ob er seinem Vater
etwas davon überließ, ist nirgends zu ersehen. Allein wenn er auch
einen Teil seines Einkommens zur Unterstützung seiner Eltern verwendet
haben sollte, so genügte sein Beitrag nicht, die Sorgen aus seinem
väterlichen Haus zu bannen. Zuletzt mußte sich Corneille sogar ent-
schließen, sein väterliches Haus in Rouen abzugeben. Seine jüngste
Tochter trat in ein Dominikanerkloster und mußte als Aassteuer die
Summe von 3000 Livres einzahlen. Diese konnte der Vater nicht anders
als durch den Verkauf seines Hauses aufbringen. Er erhielt dafür im
Jahr 1683 den Betrag von 4300 Livres, so daß ihm nach Abzug der
Zahlung für seine Tochter nur wenig übrig blieb.
Grand Roi, dont nous voyons la generosite
Montrar pur le Parnasse un exces de bonte,
Que n'ont Jamals eu tous les autres,
Puissiez-vous dans cent ans donner encor des lois
Et puissent tous vos ans etre de quinze mois
Comme vos commis fönt les nötres.
1) Es ist Thatsache, daß Corneille vom Jahr 1644 an eine Reihe von
Kapitalien, die früher ausgeliehen worden waren, im Namen seiner Mutter
kündigte und einzog. So erhob er 1644 die Summe von 2800 Livres, 1645
1767 Livres, 1646 3-200 Livres. Dann verkaufte er 1650 seine Advokatur, und
es ist nicht anzunehmen, daß er die Summen, die er so erhielt, alle wieder
auslieh. Noch 1683 verkaufte er neun Grundstücke gegen eine Rente von 95 Livres.
-) Corneille, Oeuvres X, Nr. LXXXVI, S. 308. Placet au roi. Dasselbe
schließt mit den Worten:
,.Un grand roi ne promet que ce qu'il veut tenir."
457
Einmal noch konnte der greise Dichter die Rückkehr des früheren
Glücks hoffen. Es war bei Gelegenheit großer Festlichkeiten zu Versailles.
Der König befahl, eine Reihe der besten Schauspiele Coi'neilles aufzu-
führen. Konnte diese aufs neue strahlende Sonne der Hofgunst nicht
auch die schon lang erkaltete Freundlichkeit des Publikums für den
Dichter wieder beleben ? Wenn Ludwig ihn auch fernerhin stützen, seine
anderen Tragödien huldreich anblicken wollte, dann werde ihn auch
die ISTation wieder gerechter beurteilen. So sagte er in einem Gedicht
an den König, und er glaubte wirklich, daß nur ein Zufall, nur Miß-
gunst seinen letzten Arbeiten den ihnen gebührenden Ruhm vorenthalten
habe.^) Er hielt den König für mächtig genug, auch den Geschmack
seines Volkes zu lenken. Ludwig erfüllte seinen Wunsch nicht, und so
verlor der Dichter jede Hoffnung und den Rest des Selbstvertrauens.
Noch einmal versuchte er bei der Vermälung des Dauphin (1680) seine
Kraft in einem Festgedicht, das er selbst überreichte. Doch war es nicht
bloß eine leere Formel der Bescheidenheit, wenn er von seinem erschöpften
Geist sprach :
0 welche Qual für mich, den's Alter brach,
Dafj ich Dir nichts zu bieten mehr vermag
Als einen müden Geist. 2)
Immer düsterer umzog sich der Lebensabend des Dichters. Es war
einsam geworden um ihn; Moliere war tot, und außer seinem Bruder
sah er nur wenige Freunde. Die Armut zu schildern, in die er in seinen
letzten Jahren geraten war, führt man gewöhnlich den Brief eines
Landsmanns und Verwandten aus Ronen an, der ihn in Paris aufsuchte.^)
Der Briefsteller erzählt darin, wie er mit Corneille gespeist habe und
dann mit ihm ausgegangen sei. In der Rue de la Parcheminerie sei
Corneille in die Bude eines Schuhmachers getreten, um sich seine zer-
rissenen Schuhe flicken zu lassen. Wieder zu Hause angelangt, habe er,
der Schreiber, dem Dichter seine Börse angeboten, dieser aber jede Gabe
abgelehnt. Die ganze Geschichte klingt nicht so entsetzlich. Corneille
hielt nicht viel auf sein Äußeres, und warum sollte er sich nicht auch
einmal seine Schuhe flicken lassen? Aber die Erzählung gewinnt einen
andern Charakter durch den kleineu Satz, mit dem der Freund aus
Ronen schließt: „Ich habe darüber geweint, daß ein solches Genie in so
tiefes Elend versunken ist!" Damit bekommt sein Bericht eine düstere
Färbung. Um so sprechen zu können, muß er andere deutliche Spuren
der Armut und Bedrängnis gesehen haben, und die Klage preßte sich
in diesem letzten Satz zusammen.*)
1) S. Corneille, Oeuvres X, Nr. LXXXVII, S. 309: „Au roi."
-j Corneille, Band X, Nr. XCII, S. 334. A Monseigneur, siir son ma-
riage, v. 7
Quel supplice pour moi, que l'äge a tout use.
De n'avoir ä t'offrir qu'un esprit epuise!
^) M. Emanuel Gaillard hat zuerst diesen Brief mitgeteilt. S. Precis des
traveaux de TAeademie de Roueu pour l'anuee 1634, p. 167.
■*) Ahnliches weiß Voltaire zu berichten. Er hörte von den Freunden
seines Vaters oft genug bitter über die Vernachlässigung klagen, die man Cor-
458
Seit vier Jahren schon hatte Corneille die königliche Pension ver-
loren. Einzelne Stimmen haben versucht, die Überlieferung von der
Armut Corneilles zu bestreiten. Allein die Verhältnisse sprechen zu laut.
Ein Greis, der berühmteste Dichter, den Frankreich bis dahin noch be-
sessen, verliert, da er schwach und krank wird, den kleinen Ehrensold,
den ihm der König früher bewilligt hat. Ludwig XIV. hat ihn vergessen,
die Minister haben Wichtigeres zu thun als für einen Corneille zu sorgen,
der nur schlecht gelernt hat sich zu bücken: keiner der vielen vor-
nehmen Herren, die so gern Mäcenas spielen, denkt daran, dem großen
Mann zu helfen. Sie haben für Andere zu sorgen, die kleiner an Geist,
aber amüsanter als Gesellschafter sind. Es ist eine Schande, daß Cor-
neille sich zuletzt gezwungen sah, eine Bittschrift an Colbert zu richten,
und ihn um Auszahlung der Pension anzuflehen. Aber auch da noch
verfolgte ihn das Unglück ; Colbert starb um jene Zeit, und so blieb das
Gesuch unbeachtet. Die Kräfte des Dichters waren erschöpft, er wurde
krank, und seine Krankheit zehrte die letzten Mittel auf. Die Not muß
dringend gewesen sein, sonst hätte Boileau, der ihm persönlich fremd
war. und ihn mehr als einmal angegriffen hatte, sich nicht in der Weise
für ihn verwendet, wie er es that. Als er von der traurigen Lage Cor-
neilles hörte, eilte er zum König und schilderte ihm des Dichters Not.
Er erbot sich, auf seine eigene Pension zu dessen Gunsten zu verzichten,
wenn die Staatskasse außer Stand sei zu zahlen. Ludwig XIV. schickte
dem Kranken auf der Stelle 200 Louisd'or, allein die Hilfe kam zu spät.
Zwei Tage nachdem ihm die königliche Spende überbracht worden war,
hauchte Corneille seinen Geist aus. Er starb in den Frühstunden des
1. Oktober 1684 im 79. Lebensjahre, und seine Leiche wurde in der
Kirche St. Roch beigesetzt. Aber erst Ludwig Philipp von Orleans, der
spätere König, ließ 1821 die Stätte durch eine Büste und eine Gedenk-
tafel bezeichnen.
Das Äußere Corneilles war nicht gerade ansprechend. Die wenigen
Porträts, die man von ihm besitzt, zeigen ihn mit einem ziemlich regel-
mäßigen Gesicht, starker Nase, zurückweichender, nicht sehr hoher Stirn,
etwas hervortretendem Mund, aber schwachem Kinn. Der Ausdruck des
Gesichts ist trotz der scharf geschnittenen Züge nicht gerade bedeutend.')
Im Foj^er des Theätre franv'ais steht an einem Ehrenplatz seine Büste
neille in den letzten Jahren seines Lebens habe zu teil werden lassen. (Brief
Voltaires an Duclos v. 31. August 1761.) Noch schärfer spricht er in dem Brief
an den Abbe d'Olivet (September 1761): „Croyez-moi, le pauvre homme etait
neglige comme tout grand homme doit l'etre parmi nous. 11 n'avait nulle con-
sideration, on se moquait de lui; il allait & pied, il arrivait crotte de chez son
libraire ä la comedie; on siffla ses douze dernieres pieces, ä peine trouva-t-il
des comediens qui daignassent les jouer. Oubliez-vous que j'ai ete eleve dans la
cour du Palais, par des personues.qui avaient vu longtemps Corneille?" Vol-
taire ist etwas übereilt in seinen Äußerungen; wir wissen, daß das Schicksal
der letzten Stücke Corneilles nicht so traurig war. Aber ein gut Teil Wahrheit
steckt doch in Voltaires Worten.
1) Die besten Bilder sind die Stiche von Michel Lasne und Fiequet. Ein
Porträt Corneilles war von Lebrun gemalt.
459
von Caffieri, die aber nur nach den Porträts gefertigt ist. Sie stammt
aus dem Jahr 1777, und kann also keinen Anspruch auf besondere
Ähnlichkeit erheben.
Im Umgang war Corneille schwerfällig, seine Unterhaltung schleppend.
Sagte er doch von sich selbst:
J'ai la plume feconde et la bouche sterile,
Bon galant au theätre et fort mauvais en ville,
Et l'ün peut rarement m'ecouter sans ennui
Que quand je me produis par la bouche d'autrui.i)
„Wenn man Mr. de Corneille sah", sagt ein Zeitgenosse, „hätte
man nicht geglaubt, daß er die Griechen und Eömer so trefflich reden
ließe, und daß er die Gefühle und Gedanken der Helden so vorzüglich
zum Ausdruck bringen könnte. Das erste Mal, daß ich ihn sah, hielt ich
ihn für einen Kaufmann aus Rouen: sein Äußeres sprach nicht für seinen
Geist, und seine Unterhaltung war so schwerfällig, daß sie jedem lästig
ward, wenn sie länger dauerte. Gewiß, Mr. de Corneille vernachlässigte
sich zu sehr.^) ..." Derselbe Gewährsmann behauptet, Corneille habe
nie korrekt französisch gesprochen.
Mit solchem Charakter konnte Corneille an dem glänzenden Hof
Ludwigs kein Glück machen. Er war zu unabhängigen Geistes und zu
stolz, um sich viel zu beugen. Man hat ihm allerdings einige über-
triebene Dedikationen vorgeworfen, und gewiß, Corneille war keiner jener
antiken Charaktere, die er selbst so gern zeichnete, aber bei alledem
war er kein Schmeichler. Er fühlte seinen Wert und glaubte, daß er
reichen Lohn verdient habe und ihn nicht erst zu erbetteln brauche.
Diesem Gefühl hat er manchmal Worte geliehen, wenn die Verlegenheiten
des äußeren Lebens ihn zu stark bedrängten. So brachte ihn, was viel-
leicht nur der naive Ausdruck seines unpraktischen Wesens war, in den
Euf der niederen Habsucht. So lang seine Verhältnisse nicht genauer
bekannt sind, sollte man sich hüten, auf ein paar Verse hin einen Mann
wie Corneille zu verurteilen. Wäre sein Charakter geschmeidiger gewesen,
so hätte er mit leichter Mühe seine Einkünfte verdoppelt. Aber er war
eben kein Höfling und kein Diplomat. Wir haben gesehen, wie scliarf
er Ludwig XIV. an sein Versprechen erinnerte, und die Verse, in
welchen er es that, blieben nicht etwa unbekannt. Sie finden sicli in
dem „Mercure galant" vom Jahr 1677 abgedruckt. Mit erstaunlichem
Freimut hatte er schon früher in dem Prolog zu dem „Goldenen Vließ"
zum König gesprochen. Er ließ darin das Land Frankreich auftreten
und zur Siegesgöttin, die sich über Undankbarkeit beschwert, die kühnen
Worte sagen:
^) Siehe den Brief Corneilles an Pellisson, wahrscheinlich aus dem
Jahr 1636. Corneille, ed. Marty-Laveaux. X, S. 477.
2) S. Melanges d'histoire et de litteratiire par M. de Vigneul-Mar ville
4. edit. Paris 1725, t. I, pag. 193. Vergl. Voltaires Brief an den Abbe d'Olivet,
Sept. 1861 : „Mon pere avait bu avec Corneille: il me disait que ce grand hemme
etait le plus ennuyeux mortel qu'il eüt jamais vu et rhomme qui avait la con-
versation la plus basse."
460
Sind meine Söhne nur zum Krieg geboren?
Der Ruhm, der sie umstrahlt, wird mir verderblieh.
Ich zitt're vor mir selbst und meinen Siegen.
Mich zu beschützen, ziehn zum Kampf sie aus,
Doch kehren sie als Sieger nur zurück.
Um meine Lande zu verwüsten. —
Vom Sieg gekrönt, fühl" ich die Kraft mir schwinden.
Der Staat ist blühend, doch die Völker seufzen.
Und ihre welken Glieder beugen sich.
Erdrückt von meiner stolzen Thaten Last.
Der Ruhm des Thrones wird des Volkes Unheil. i)
So redete er in dem Festspiel, das er zu Ehren der Vermählung
Ludwig XIV. dichtete, als Frankreich verhältnismäßig noch gesund und
kräftig dastand. Wie viel schärfer mag sein ürtheil später geklungen
haben. Freilich begann um jene Zeit bereits der Eroberungs- und Ruhmes-
taumel die Köpfe zu verdrehen. Damals erwuchs im Land der Glaube
an die Unüberwindlichkeit der französischen Heere, und allgemein wurde
die Überzeugung, daß Frankreich berufen sei, über Europa zu herrschen.
So dürfen wir uns nicht wundern, später auch manche verkehrte An-
sicht über die kriegerische Politik des Königs in Corneilles Gedichten
zu finden.
Es bleibt uns noch ein Wort über die Familie Corneilles zu
sagen übrig.
Daß ein überaus herzliches, schönes Verhältnis in Corneilles Haus
geherrscht hat, wird von allen bestätigt, die die Familie kannten. Thomas
führte die Schwester der Frau Pierre Corneille als Gattin heim, und es
heißt, die beiden Paare hätten lange nur Einen Haushalt, nur Ein ge-
meinsames Besitztum gehabt. Eine Schwester der beiden Dichter, Martha
Corneille (geb. 1623), war die Vertraute ihrer poetischen Arbeiten.
Pierre soll ihr gewöhnlich zuerst seine Dichtungen vorgelesen und ihren
Rat darüber eingeholt haben. Sie heiratete einen Advokaten zu Rouen,
Le Bovier de Fontenelle, und wurde die Matter des in der französischen
Litteratur lange mit Anerkennung genannten Dichters und Schriftstellers
Fontenelle (lt)57 — 1757), der auch eine Biographie seines großen Oheims
schrieb.
Pierre Corneilles Witwe zog sich nach Les Andelys zurück, wo
sie ihre Jugend verlebt hatte, und starb dort im Jahr 1694. Von seinen
') La Toison d'or. Prologue, v. 20.
La France:
Ah! Victoire, pour fils n'ai-je que des soldats?
La gloire qui les couvre, a moi meme fuueste.
Sous mes plus beaux succes fait trembler tout le reste;
Ils ne vont au bombat que pour me proteger.
11s n'en sortent vainqueurs que pour me ravager.
A vaincre tant de fois mes forces s'affoiblissent :
L'Etat est florissant, mais le peuples gemissent;
Leurs membres decharnes courbent sous me hauts faits.
Et la gloire du tröne aceable les sujets!
461
Kindern waren ihm zwei Söhne in den Tod vorausgegangen; ein anderer
Sohn und die jüngste Tochter hatten die Weihen erhalten; der erstere
war Abbe von Aiguevive in der Touraine geworden, die letztere in ein
Dominicanerinnen-Kloster getreten. So blieb nur der älteste Sohn, Pierre,
der als Hauptmann in einem Kavallerieregiment den Dienst aufgab und
sich mit Marie Cauchois, der Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns
ausEouen, vermählte. Er starb schon 1698 und hinterließ einen Sohn,
Pierre-Alexis, dessen Nachkommenschaft ziemlich zahlreich bis auf unsere
Zeit zu verfolgen ist. Ein Pierre-Alexis Corneille starb 1868 als Mitglied
der Deputiertenkammer, und an seiner Stelle wurde sein Sohn gewählt.
Doch muß man bemerken, daß neuerdings berechtigte Zweifel aufgestiegen
sind, ob der Hauptmann Pierre Corneille wirklich einen Sohn hinter-
lassen habe. Denn im Jahr 1699 wird in den Akten des Parlaments
von Kouen Antoine Corneille, Abbe von Aiguevive, als der einzige Erbe
des im Jahr zuvor verstorbenen Pierre Corneille genannt. Dann wären
Pierre-Alexis und seine Nachkommenschaft als Glieder einer andern
Familie zu betrachten.^)
Die älteste Tochter des Dichters, Marie, war in zweiter Ehe mit
Jaques Adrian de Farcy aus einer normannischen Adelsfamilie ver-
heiratet. Deren Tochter vermählte sich 1701 mit Adrian de Cordaj. Die
Urenkelin dieses Mannes war Charlotte de Corday, welche 1793 auf dem
Schaffet endete. So sehen wir in dem heldenmütigen Mädchen, das in
seinen Adern das Blut des großen Corneille fühlte, die letzte jener he-
roischen Frauen, welche der Dichter mit so viel Vorliebe gezeichnet hat.
In mancher stillen, stimmungsvollen Nacht mag sich die Enkelin an
ihres Ahns flammenden Versen begeistert haben. Vielleicht fühlte sie
sich der hohen Seele einer Camilla verwandt, oder sie gedachte, da sie
in patriotischer Verblendung ihr Vaterland durch einen Mord zu retten
suchte, der Worte Emilias, die Rom durch den Tod Augusts befreien
wollte :
Wie ist es süß, den Tod der Seinen rächen!
Doch höh'rer Euhm krönt den Tyrannenmord!
In ganz Italien soll man jubelnd rufen:
Die Freiheit Eoms ist der Emilia Werk!-)
") S. Gosselin, Pierre Corneille le pere. Reuen 1864, S. 42.
2) Cinna I, 2, 5.5:
Joingnons a la douceur de venger aus parents,
La gloire qu'on remporte ä panier les tyrans,
Et faisons publier par toute l'Italie:
„La liberte de Rome est l'oeuvre d'Emilie "
IX.
Corneilles Ideen über das Drama. — Sein Stil und
poetischer Charakter.
Die vorausgehenden Abschnitte haben zwar die dramaturgischen
und ästhetischen Anschauungen, von welchen sich Corneille leiten ließ,
im allgemeinen deutlich erkennen lassen. Doch ist es bei einem Mann
von seiner Bedeutung wünschenswert, sie noch einmal genau und im
Zusammenhang zu betrachten.
Corneille selbst erleichtert uns diese Aufgabe. In den späteren
Jahren seines Lebens hat er mehrere Aufsätze veröffentlicht, in welchen
er die Gesetze des Dramas untersuchte. Er gründete dabei seine Aus-
führungen zumeist auf Beispiele, die er seinen eigenen Werken entnahm.
Man biaucht daraus nicht zu schließen, daß er diese Aufsätze haupt-
sächlich in der Absicht geschrieben habe, seine Dichtungen zu vertei-
digen; denn sein Ruhm war gerade zu jener Zeit am wenigsten bestritten.
Seit seinen ersten Lustspielen hatte er sich mit der Theorie des Dramas
beschäftigt und sich stets Rechenschaft von seiner Arbeit zu geben ver-
sucht. Wir erkennen in seinen Dichtungen deutlich die Spuren einer
genau abwägenden Überlegung und wissen, wie eifrig er bemüht war,
die Formen des Dramas innerhalb gewisser Grenzen umzubilden. Von
dem Tag an, da er nach der Aufführung der ..Melite" von der Existenz
der strengen dramatischen Gesetze vernahm, quälte er sich mit ihren For-
derungen ab. In den Vorreden zu seinen Stücken kam er immer wieder
auf sie zurück, aber er ließ sich nicht einschüchtern und behauptete im
ganzen immer denselben Standpunkt. War er auch als Sohn seiner Zeit
für Regelmäßigkeit und Ordnung eingenommen und opferte er deren Ge-
boten mehr als uns gut dünkt, so war er doch zu sehr Dichter, als daß
er sich nicht gegen die peinliche Strenge rein formaler, willkürlicher Vor-
schriften gesträubt hätte.
Die Ausgabe der Werke, weiche Corneille im Jahr 1648 veran-
staltete, enthielt in dem zweiten Band eine erste größere Abhandlung
über die Regeln des Dramas, und als er im Jahr 1660 eine neue, ver-
mehrte Sammlung seiner dramatischen Werke veröffentlichte, begann er
jeden Band mit einem besonderen Aufsatz über diese Fragen, die ihm
so wichtig erschienen. Der erste Aufsatz behandelt den Nutzen des dra-
matischen Gedichts und dessen einzelne Teile (de l'utilite et des parties
du poeme dramatique); in dem zweiten spricht Corneille von der Tra-
gödie überhaupt (discours sur la tragedie et sur les moyens de la traiter
463
Selon le vraiseiiiblable et le necessaire), und in dem dritten untersucht
er die Gesetze von den drei Einheiten des Dramas, nämlich der Hand-
lung, der Zeit und des Orts. In bescheidener Weise und gewissermaßen
entschuldigend, sagt er im Beginn der ersten Abhandlung, daß er es
wage, seine Ansichten vorzubringen, da er sich auf eine fünfzigjährige
Erfahrung stützen könne. ^)
Lessing ist daher zu scharf gegen Corneille aufgetreten, wenn er
in seiner Dramaturgie (76. Stück) von ihm sagt: ,.Corneille hatte seine
Stücke schon alle geschrieben, als er sich hinsetzte, über die Dicht-
kunst des Aristoteles zu kommentieren. Er hatte 50 Jahre für das Theater
gearbeitet und nach dieser Erfahrung würde er uns unstreitig vortreff-
liche Dinge über den alten dramatischen Codex haben sagen können,
wenn er ihn nur auch während der Zeit seiner Arbeit fleißiger zu Rat
gezogen hätte. Allein dies scheint er höchstens nur in Absicht auf die
mechanischen Kegeln der Kunst gethan zu haben. In den wesentlicheren
ließ er sich um ihn unbekümmert, und als er am Ende fand, daß er
wider ihn verstoßen, gleichwol nicht wider ihn verstoßen haben wollte,
so suchte er sich durch Auslegungen zu helfen und ließ seinen vortreff-
lichen Lehrmeister Dinge sagen, an die er offenbar nie gedacht hatte."
Lessing irrt hier in mehreren Punkten. Wir haben gesehen, wie
Corneille sich während seines ganzen Lebens, und nicht erst im Alter,
mit Aristoteles und den dramatischen Gesetzen beschäftigte. Er hat seine
Abhandlungen auch nicht verfaßt, als er alle seine Stücke schon ge-
schrieben hatte, denn er ließ später noch neun Dramen folgen, darunter
„Sertorius", „Othon" und „Psyche". Am wenigsten aber erlaubt ist ein
Zweifel an der Aufrichtigkeit Corneilles. Gegen sich selbst war der
Dichter immer streng und sagte es offen, wenn er gefehlt zu haben
glaubte. Daß er die Poetik des Aristoteles in manchen Punkten falsch
verstand, daß er ihn äußerlicher auffaßte, als — Dank Lessing — die
lieutigen Erklärer thun, ist gewiß. Aber dies ist ein Vorwurf, der die
ganze frühere Zeit trifft. Lessing hätte eben früher kommen sollen. Wie
oft finden sich in einem Mann die Eigenschaften des Dichters und des
Kritikers, des Philosophen und Philologen in so wunderbarer Weise wie
in ihm vereinigt? Corneille war wol Dichter, aber er machte keinen
Anspruch darauf, Philosoph zu sein.
Darum betonte er auch, daß er nicht glaube, unfehlbar zu sein.
Viele seiner Dramen hätten keinen Beifall gefunden, und so liege es
ihm fern, anderen seine Ideen aufdrängen oder selbst eigensinnig an
ihnen festhalten zu wollen. Er habe nicht den Ehrgeiz, einen Codex
der Dramaturgie zu geben, dazu seien seine Studien nicht gründlich
genug. Er wolle nur auseinandersetzen, wie seine Anschauungen über
das Drama sich allmählich in ihm entwickelt hätten. Das erklärt denn
auch, warum er die Beispiele zumeist seinen Dichtungen entlehnte. Er
übte damit eine Art Selbstkritik aus, und nur unter diesem Gesichts-
punkt sind seine Aufsätze zu beurteilen. Wir beschäftigen uns mit ihnen.
'j „Je basarderai qiic4que chose sur cinquante ans de travail sur la scene.
464
nicht um die Gesetze der dramatisclieii Poesie besser kennen zu lernen.
sondern um Corneille, den. Dichter, richtiger zu würdigen.
Versuchen wir es nun, aus den verschiedenen Aufsätzen und den
in seinen Vorreden zerstreuten Bemerkungen seine Hauptideen über das
Theater und besonders über die Tragödie zusammenzustellen.
Corneille geht, wie dies nicht anders zu erwarten ist. von dem
antiken Theater aus. Er kennt keinen höheren Eichter in Sachen der
Ästhetik als Aristoteles, den er einmal ,,notre docteur unique"') nennt.
Ebenso erfüllt ihn Horaz mit Hochachtung, und er citiert ihn oft zur
Bekräftigung seiner Ideen. Trotzdem unterwirft er sich der Autorität
der Alten nicht in allen Punkten; er ist Aristoteles nicht sklavisch
unterthan und z. B. mit dessen Erklärung von dem Wesen der Komödie
durchaus nicht einverstanden.-) Die Kenntnis der Alten gilt ihm nicht
als eine hinreichende Vorbereitung für den dramatischen Dichter.^) In
dieser Überzeugung von der notwendigen Selbständigkeit der modernen
Bühne hat Corneille manche Neuerung versucht und dadurch die Ent-
wicklung des französischen Dramas wesentlich gefördert. Dieses Ver-
dienstes war er sich bewußt, und am Schluß seiner Abhandlung über
den Nutzen des dramatischen Gedichts wiederholt er denn auch, was er
schon Jahre zuvor gesagt hatte, daß der moderne Dramatiker allerdings
die Vorschriften der Griechen möglichst befolgen möge, daß er aber auch
weiter gehen dürfe. Sklavisch solle man jene Regeln nicht befolgen, sei
es auch nur um das Lob des Horaz zu verdienen, der von den Dichtern
seiner Zeit gesagt habe :
Nee minimum meruere decus, vestigia graeca
Ausi deserere,*)
oder um das Wort desselben Dichters:
0 imitatores, servura pecus
zu vermeiden.'') Mit Selbstgefühl citiert er den Satz des Tacitus, daü.
einst als alt und mustergiltig erscheinen werde, was jetzt noch neu sei
und durch frühere Beispiele entschuldigt werden müsse.'')
^) Siehe Vorrede zum „Heraclius".
2) Vergl. Aristoteles, Über die Dichtkunst, herausgegeben von Moriz
Schmidt (Jena 1875, bei Dufft), S. 10 und 11: „Die Komödie dagegen ist, wie
gesagt, eine nachahmende Darstellung gemeiner Naturen u. s. w."
3) Epitre zur „Suivante-' : „Pour faire maintenant reussir une piece, ce
n'est pas assez d'avoir etudie dans les livres d'Aristote et d'Horace."
**) Horat. Epist. ad Pisones, v. 286:
Nicht gering erscheint das Verdienst der heimischen Dichter,
Die, voll Mut, es verschmähten, die Bahn der Griechen zu wandeln.
•^) Horat. Epist. lib. I, 19, v. 19:
0 nachäffende Schar, blind dienendes Vieh!
") Tacitus, Annal. XI, c. 24: „Inveteraseet hoc quoque et quod hodie ex-
emplis tuemur, inter exempla erit."
465
Corneille hatte erkannt, daß sich das moderne Theater nicht allzu
ängstlich beschränken dürfe, und ihn beseelte die Hoffnung*, daß auch
manches Werk seines Geistes späteren Dichtern als Vorbild dienen werde.
Wenn Aristoteles sagt, die Geschichte nur weniger Familien der Vorzeit
biete den Stoff zu wahrhaft schönen Tragödien,^) so beansprucht Cor-
neille das Recht, seine Helden auch aus der Geschichte der späteren
Jahrhunderte zu wählen. Ohnehin werde durch den Wegfall des Chors
das Drama zu arm und der moderne Dichter müsse sein Stück durch
Episoden beleben. Noch nachdrücklicher sagt er einige Jahre später, die
Art des griechischen Schauspiels passe nicht füi- die neue Zeit, und wer
nur ihren Spuren folgen wolle, werde wenig Erfolg erzielen. „Allerdings",
fügt er hinzu, „läuft man Gefahr, sich zu verirren, wenn man den be-
tretenen Weg verläßt, und man verirrt sich oft genug ; doch verirrt man
sich nicht jedesmal, und manche kommen sogar schneller zu ihrem Ziel.-)
So zeigt sich in seinen Meinungen ein gewisser Zwiespalt; er
schwankt fortwährend zwischen zwei Richtungen hin und her. Denn wenn
er einerseits größere Beweglichkeit verlangt, als ihm die Gesetze des
antiken Theaters zu bieten scheinen, so empfiehlt er anderseits manche
strengere, willkürlich ersonnene Regel. Er meint unter anderem, alle
irgend wichtigen Personen einer Tragödie müßten schon im ersten Akt
vorgeführt werden.
Ganz besonders beschäftigt sich Corneille auch mit der Frage des
Zwecks, den das Drama habe. Er sucht ihn in dem moralischen Ein-
fluß, den es durch seine Sentenzen und edlen Gedanken ausüben könne.
Direkter noch wirke es dadurch, daß es Laster und Tugenden in leben-
digem Bild schildere und die ersteren verabscheuen, die letzteren lieben
lehre. Man brauche nicht zu besorgen, daß die bewundernswerte Schil-
derung eines lasterhaften Menschen darum den Zuschauer verleite, das
Laster selbst zu bewundern. Dies klar zu machen, sagt er: „Wie das
Bildnis einer häßlichen Frau doch schön sein kann und man nicht nötig
hat, hervorzuheben, daß das Original dadurch noch nicht liebenswürdig
wird, so geht es auch mit unserem lebendigen Gemälde." ^)
1) Siehe Aristoteles, Über die Dichtkunst, ed. M. Schmidt, S. 30 u. 31.
2) Examen d'Agesilas (1666): „Leurs regles sont bonnes, mais leur me-
thode n'est pas de notre siecle, et qui s'attacheroit ä ne marcher que sur leurs
pas, feroit sans deute peu de progres et divertiroit mal son auditoire. On court
a la verite quelque risque de s'egarer, et meme on s'egare assez souvent quaud
on s'ecarte du chemin battu: mais on ne s'egare pas toutes les fois qu'on s'en
ecarte ; quelques-uns en arrivent plus tot oü ils pretendent, et chacun peut ha-
sarder ä ses perils."
3) Siehe Corneüles Epitre vor der „Suite du Menteur". Nachdem er dort
gesagt hat, daß er zweierlei Nutzen findet, fährt er fort : „Celle-lä se rencontre
aux sentences et, reflexions que Ton peut adroitement semer presque partout ;
celle-ci en est la naive peinture des vices et des vertus. Pourvu qu'on les saehe
mettre leur jour, et les faire connoitre par leurs veritables caracteres, celles-ci
se feront aimer, quoique malheureuses, et ceux-lä se feront detester, quoique
triomphants. Et comme le portrait d'uae laide femme ne laisse pas d'etre beau,
et qu'il n'est pas besoin d'avertir que Foriginal n'en est pas aimable pour em-
pecher qu'on l'aime, ü en est de meme dans notre peinture parlante".
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratur. 3q
466
Der Aufsatz über die Tragödie beschäftigt sich ganz besonders
mit dieser Frage und der Definition, welche Aristoteles von der Auf-
gabe der Tragödie giebt.
Der Stagirite sagt bekanntlich, die Tragödie solle so angelegt sein,
daß sie durch Furcht und Mitleid eine von derartigen Affekten reini-
gende Wirkung übe. Um diese Wirkung zu erreichen, müsse uns der
Dichter Menschen zeigen, die weder vollkommen gut, noch völlig schlecht
seien; Menschen, die weder durch Tugend und Gerechtigkeit besonders
hochgestellt seien, noch durch Laster und Verworfenheit ins Unglück
gestürzt würden, vielmehr Menschen, die nicht infolge sittlicher Schlech-
tigkeit, sondern schwerer Verirrung von Unglück betroffen würden.^)
Erst Lessing hat diese Definition des Aristoteles richtig aufgefaßt. Cor-
neille kam über die alte Erklärung nicht hinaus, nach welcher die Tra-
gödie die Zuschauer von den in dem Stück geschilderten Leidenschaften
reinigen und heilen solle.
Er kann sich aber deshalb mit der so verstandenen Lehre des
Aristoteles nicht befreunden. Sein „Cid" habe großen Erfolg gehabt,
meint er, und widerlege damit den Aristoteles. Rodrigo und Chimene
fehlen nur aus Liebesleidenschaft, aber sie erwecken in keinem Zuschauer
den Abscheu vor der Liebe und heilen also keineswegs von dieser
Schwäche. Auch die Erklärung des griechischen Philosophen, daß es der
Zweck der Tragödie sei, Mitleid und Furcht zu erwecken, und daß ihre
Helden weder vollkommen edel, noch vollkommen schlecht sein dürften,
scheint ihm nicht ganz richtig. Er beruft sich dabei auf seinen „Poly-
eucte". der außerordentlich gefallen habe, obwol der Held des Stücks
ohne Fehl sei. Ebenso seien sein Heraclius und Mcomede vortreffliche
Männer, die wol Mitleid, aber keine Furcht einflößen könnten. Umgekehrt
habe die „Rodogune" gefallen und doch sei die Hauptfigur der Tragödie,
Königin Kleopatra, ein durch und durch verworfenes Weib. Sie diene
allerdings als warnendes Beispiel und könne die Zuschauer bessern. Nicht
als ob viele Mütter mit dem Gedanken an Kindesmord sich trügen, aber
manche Frau werde doch, gleich Kleopatra, durch Habsucht auf einen
falschen Weg geleitet, und erkenne hier vielleicht, bis wohin jene Leiden-
schaft führen könne. Um Aristoteles' Ansicht gelten zu lassen, will Cor-
neille daher die Stelle so verstanden wissen, daß die Tragödie entweder
Mitleid oder Furcht erwecken müsse.
Es liegt auf der Hand, daß Corneille sich in seiner Auslegung
geirrt und die Aufgabe der Tragödie höchst äußerlich aufgefaßt hat.
Lessings Erläuterungen zu der Stelle des Aristoteles gehören gewiß zu
den geistreichsten und scharfsinnigsten Interpretationen, die je versucht
worden sind. Er weist überzeugend nach, daß nach der Ansicht des
Aristoteles die Tragödie zugleich Mitleid und Furcht in uns erregen soll,
Mitleid mit dem Schicksal des Helden, und Furcht, daß das „so bemit-
leidete Übel" uns selbst treffen könne. Lessing beweist, daß die Tragödie
1) Siehe Aristoteles, Über die Dichtkunst, ed. M. Schmidt, S. 14 u. 15,
sowie S. 28—31.
467
die Zuschauer nicht von den Leidenschaften heilen soll, die sie ihnen
auf der Bühne vorführt, sondern daß sie „unser Mitleid und unsere Furcht
erregen soll, bloß um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber
alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen". Sie soll diese Furcht
reinigen und klären, und gerade darin, in diesem erhebenden Moment
liegt die sittliche Stärkung, welche die Tragödie bietet.
Mit dieser Erklärung sind alle Einwände, welche Corneille gegen
Aristoteles erhob, widerlegt. Deshalb braucht man Corneille dieses Miß-
verständnis nicht als Verbrechen anzurechnen, und wenn Lessing be-
hauptet, die Aufsätze Corneilles hätten der französischen Tragödie in
ihrer Entwicklung sehr geschadet, so ist er zu streng. Lessing meint,
die späteren Zeiten hätten die Ansichten Corneilles als Orakelsprüche
verehrt, und die französische Tragödie würde ohne ihren Einfluß eine
andere Form angenommen haben. Allein dem ist nicht so. Daß Cor-
neille sehr bald nach der Veröffentlichung seiner Abhandlungen eine neue,
ihm nicht gerade freundlich gesinnte Dichterschule sich erheben sah,
widerlegt die Ansicht von seiner alle bezwingenden Autorität.
Von größerem Belang als diese Untersuchungen erscheinen die
Aufsätze, in welchen sich Corneille über die einzelnen Gesetze der dra-
matischen KoTQposition genauer Rechenschaft zu geben versuchte. Denn
diese Ansichten haben oft einen bestimmenden Einfluß auf seine Werke
ausgeübt. Wir sollten hier vielleicht die Gesetze der griechischen Tragödie
zur Vergleichung heranziehen, denn das athenische Theater war in Frank-
reich jedenfalls lange und mehr als in anderen Ländern das Vorbild der
tragischen Dichter. Allein wir verschieben diese Gegenüberstellung der
durch eine zweitausendjährige Kluft getrennten Welten bis zu der
Zeit, da wir von der vollendeten Form zu sprechen haben, in welche
Racine die nationale Tragödie zu kleiden wußte.
Wir wollen hier nur das Zunächstliegende ins Auge fassen, und
sehen, wie sich Corneille den Gesetzen gegenüber verhielt, welche von
den Gelehrten aufgestellt und vom Publikum bereitwillig hingenommen
worden waren, die aber den Dichtern oft sehr lästig und hemmend er-
schienen.
Corneille verlangt zunächst als Vorwurf für eine dramatische Dich-
tung eine mächtige historische Begebenheit. Jede Tragödie soll einen
großen Hintergrund haben und eine besondere Idee verkörpern. In seinem
„Horace" will er den Patriotismus, in „Cinna" die letzten Zuckungen
der republikanischen Freiheit in Rom, in „Sertorius" den Widerstand
gegen die Diktatur einzelner glücklicher Feldherren darstellen. Noch seine
letzte Tragödie „Surena" zeigt den Kampf des Orients mit dem vor-
dringenden Römertum. Nicht selten irrt sich Corneille in seiner Auf-
fassung des Stoffs und gefährdet damit von Anfang an den Erfolg seiner
Dichtung. Aber er stellt sich mit dieser Anschauung von der Aufgabe
des Dramas auf einen hohen Standpunkt, und seine Dichtung wird freier
und idealeren Schwungs als die Werke seiner Zeitgenossen.
Corneille lehrt ferner, daß die Liebe nur die zweite Stelle in einer
Tragödie einnehmen dürfe, und er erlaubt sich öfters heftige Ausfälle
30*
468
gegen die zarten, schmachtenden Dichter seiner Zeit, welche die Liebes-
sehnsucht als einziges Motiv aller Handlungen kennen, und nur Liebes-
tragödien schreiben. \) Nichtsdestoweniger kranken auch seine Helden an
dieser von ihm getadelten Schwäche. Sie tragen alle eine große Liebe
im Herzen; so verlangte es das Ideal des Ritters und Helden, wie die
damalige Gesellschaft es verstand. Die Heroen Corneilles reden viel von
ihrer Liebe, sind galant und wahre Muster ritterlichen Edelsinns. Die
Ehre steht ihnen aber noch höher als die Liebe. In ihrem „großen Sinn"
besiegen sie die gefährliche Leidenschaft und opfern sich und ihr Glück
der großen Sache, die sie verteidigen. Leider hängt von dem Kampf mit
der Liebe, den sie auszufechten haben, stets die Entscheidung der tra-
gischen Verwicklung ab, und so mag Corneille eine politische Frage,
eine historische Begebenheit behandeln, welche er will, und so groß sie
sei, er schiebt sie zumeist in den Hintergrund, und sein Stück dreht
sich fast immer um eine unbedeutende und oft interesselose Liebes-
geschichte. Einen Schritt weiter, und die Tragödie räumt der Darstellung
der Herzenskämpfe , den Schilderungen der Liebesleidenschaft grund-
sätzlich die erste Stelle ein, und gelangt damit zu Racine.
In seiner dritten Abhandlung bespricht Corneille die Gesetze der
dramatischen Einheiten, — der Handlung, der Zeit und des Orts. Er
beschäftigt sich darin zunächst mit der Einheit der Handlung (der „unite
d'action", die er auch „unite d'intrigue" und „unite de peril" nennt),
und erklärt sich mit dieser ersten Forderung für völlig einverstanden.
Er tadelt sich selbst, daß er in seinem „Horace" diese Einheit des In-
teresses nicht gewahrt, sondern in den beiden letzten Akten ein völlig
neues Drama angefügt habe. In der That wird niemand die Regel von
der Einheit der Handlung bestreiten, wenn sie nicht zu engherzig auf-
gefaßt wird. Schon Euripides erlaubte sich mehrere Fabeln in einem
Stück zu mischen, und Aristoteles bezeichnet diese Art, für die er sich
allerdings nicht begeistert, als episodische Tragödie. Die französische
Dichtung faßte aber das Gebot der Einheit ganz außerordentlich streng
auf und verbannte jeden Vorgang, welcher nicht unumgänglich notwendig
zum Verständnis der Haupthandlung war. Sie vergaß, daß auch im Leben
jede größere Begebenheit durch verschiedene Einflüsse bestimmt wird
und auf vielfache Veranlassungen zurückzuführen ist. Im Streben nach
Klarheit übersah man, daß es auch eine höhere dramatische Einheit
giebt, in welcher mehrere scheinbar getrennte, nebeneinander hergehende
Handlungen sich schließlich zusammenfinden. Die Tragödie geriet damit
in Gefahr, leer und monoton zu werden ; sie erlahmte und wurde ver-
anlaßt, die Lücken in den einzelnen Akten durch ermüdende Reden und
Gegenreden auszufüllen.
Von dem Gesetz über die Einheit gelangt Corneille in seiner Ab-
handlung zu den Regeln über den Aufbau der Tragödie und zu der
*) S. u. a. seine Vorrede zur „Sophonisbe" 1663. Eacines „Alexandre"
erschien erst 1665; Corneilles Tadel ist also nicht gegen ihn, sondern gegen
Quinault gemünzt.
469
Verbindung der Scenen untereinander, zu der von den Franzosen lange
Zeit so hoch gerühmten Kunst der „liaison des scenes". Die Idee, daß
ein jeder Akt ein in sich abgeschlossenes Kunstwerk sein müsse, führte
zu der Vorschrift, daß keine völlige Unterbrechung in dem Spiel ein-
treten, und die Scene während eines Aktes nie leer bleiben dürfe. Über
diese Vorschrift hatte Corneille schon in einem früheren Aufsatz (in der
Ausgabe von 1648) gesprochen. Er giebt zu, daß sie weder Aristoteles
noch Horaz kennen, daß auch Guarini in seinem „Pastor Mo" sie
nicht beobachtet habe. So wenig kritischen Sinns war die Zeit, daß man
eine solche Zusammenstellung vertragen konnte. Auch Corneille hält die
Beobachtung der Regel von der Verbindung der Scenen nicht für uner-
läßlich, aber er ist der Meinung, daß sie zur Verschönerung eines Werks
beitrage. Wie äußerlich man damals noch alles auffaßte, zeigt Corneille
wieder mit seiner Beweisführung. Er beruft sich auf zwei seiner Frauen-
rollen, die Infantin im „Cid" und Sabine im „Horace". Beide seien
ziemlich passiv. Aber nur die erstere werde als unnötig getadelt. Cor-
neille findet diesen Tadel nicht ungerecht, aber er sucht den Grund dazu
nur in dem Umstand, daß die Scene einmal nach Abgang der Infantin
leer bleibe.^) Ihr Erscheinen wäre gerechtfertigt, wenn mit ihrer Hilfe
eine engere Verbindung der Scenen hergestellt worden wäre. Die Rolle
der Sabine erfülle diese Aufgabe, und deshalb werde sie geduldet, obwol
sie, genau betrachtet, ebenso unnötig sei, wie die Infantin.
Das zweite Gesetz bezieht sich auf die Einheit der Zeit („l'unite
de temps"). Auch Aristoteles dringt auf die Beobachtung derselben.
„Die Tragödie, sagt er, ist nach Möglichkeit beflissen, den Zeitraum
eines Tags als Dauer der Handlung innezuhalten, oder überschreitet ihn
nur unbedeutend."^) Corneille quält sich nun mit der Untersuchung der
Frage, ob ein Tag hierbei als ein Zeitraum von 24 oder nur von
12 Stunden zu gelten habe. Die großen Begebenheiten, die sich zumeist
auf eine längere Epoche verteilen, müßten in der Tragödie zusammen-
gedrängt werden. Er beruft sich dabei auf Aeschylus, der in seinem
„Agamemnon" zuerst den Wächter die Feuersignale sehen läßt, welche
den Fall Trojas verkünden, und gleich darauf den siegreich heimkehrenden
Völkerfürsten selbst einführt. Der Dichter dürfte nicht zu sehr gegen
die Wahrscheinlichkeit sündigen, meint Corneille. Eine Vorstellung, welche
höchstens zwei Stunden dauere, könne doch nicht einen gar zu langen
Zeitraum umfassen, denn die dramatische Dichtung sei eine Nachahmung
des Lebens, und je wahrscheinlicher und der Wirklichkeit entsprechender
die Entwicklung des Dramas sich gestalte, umso vollendeter sei es.
Der nüchtern verständige Sinn, der sich in dieser Beweisführung geltend
macht, irrt diesmal, oder vielmehr, er sieht zu kurz. Es ist dem Zu-
schauer gewiß ebenso schwer, sich vorzustellen, daß die Ereignisse sich
im Laufe eines Tags so überstürzen, wie die französische Tragödie es
häufig zeigt, als binnen zwei Stunden in seiner Phantasie die Begeben-
') Nach ihrem Monolog I, 3.
-) Aristoteles, ed. M. Schmidt, p. 12 und 13.
470
heiten mehrerer Jahre vorübergleiten zu lassen. Die Arbeit der Phantasie
ist dieselbe, ob sie sich im Theater eine große Begebenheit als in
24 Stunden oder in eben so viel Monaten abgespiegelt vorstellen soll.
Beruht doch das ganze damatische Spiel auf der Mithilfe der Einbildungs-
kraft des Zuschauers. Es soll wol ein Bild, nicht aber eine sklavische
Nachahmung des menschlichen Lebens bieten.
Um aber innerhalb der engen Grenzen, welche durch die Regel
der dramatischen Einheiten für die Darstellung einer Begebenheit ge-
zogen sind, doch etwas Freiheit der Bewegung zu bewahren, empfiehlt
Corneille das Mittel der Erzählungen. Mit ihrer Hilfe kann man jede
grelle That von der Bühne verbannen, man kann aber auch die Ereig-
nisse selbst beliebig beschleunigen, ohne die Handlung auf der Bühne
in schnelleren Gang zu bringen. Die Einrichtung der Scene, besonders
die Zulassung der Zuschauer [auf ihr, nötigte die Dichter, immer
häufigeren Gebrauch von der Erzählung zu machen, und schließlich ver-
schwand jeder energische Vorgang von der Bühne. '"So wurde die Er-
zählung, trotz der Kunst, die dabei oft angewandt ward, zu einem
der leidigsten Teile der französischen Tragödie, zumal gewöhnlich einer
jener frostigen Vertrauten den Bericht vorzutragen hatte. Sei es übrigens
noch einmal bemerkt, daß Corneille sich dieser Regel nicht erst nach
dem „Cid" unterwarf, sondern sie schon in seinen vorausgehenden Lust-
spielen beobachtete.
Das dritte Gesetz bezog sich auf die Einheit des Orts. Die
Griechen kannten es nicht. In den ,.Eumeniden" des Aeschylus sieht
man zuerst das Heiligtum zu Delphi, dann wird die Scene nach Athen
vor den Tempel der Pallas und zuletzt in den Areopag am Fuß des Ares-
hügels verlegt. Der „Ajax" des Sophokles spielt zuerst im Lager der
Griechen, dann in einer einsamen Gegend am Ufer des Meers. Es war
den gelehrten Ästhetikern in der Zeit der Nach-Renaissance vorbehalten,
diese Regel von der Einheit des Orts auszuklügeln. Die Dichter sträubten
sich zwar lang gegen sie, allein da sie sich in Bezug auf Handlung
und Zeit so strengen Einschränkungen unterwarfen, konnten sie auf die
Dauer auch dieser Forderung nicht widerstehen. Corneille hat sich seine
Freiheit bis zu einem gewissen Grad in dieser Frage gewahrt. Im „Cid"
wechselt der Ort mehrmals. Daß man dabei keine Verwandlung der De-
korationen brauchte, werden wir später sehen. ^) In „Cinna"" spielt die
Scene bald im Palast des Augustus, bald im Haus der Emilia, im „Men-
teur" sieht man sich abwechselnd im Garten der Tuilerien und auf der
Place Royale. Auch in den späteren Stücken erlaubte sich der Dichter
die Scene zu wechseln. Er suchte sich mit der Erklärung zu helfen,
daß, wenn ein Stück nur in demselben Haus, in derselben Stadt oder
in der Umgebung der Stadt spiele, die Einheit des Orts doch gewahrt
sei. Nur drei seiner Stücke, „Horace", „Pompee" und „Polyeucte", be-
wahren die Einheit des Orts ganz streng. Die erste Tragödie spielt in
einem Saal in der Behausung des greisen Horatius, „Pompee" in dem
Siehe Abschnitt XI, „Die Bühne und die Vorstellungen"
471
königlichen Palast zu Alexandria und „Polyeucte" in einem Vorsaal, der
zu den Gemächern des Felix, des Polyeucte und der Pauline führt. Die
Eücksicht auf diese Einheit nötigte den Dichter bereits, Polyeucte seihst
als Gefangenen in diesem Saal bewachen zu lassen. Die Bestimmung des
Orts wurde in der französischen Tragödie mit der Zeit immer unbe-
stimmter und verschwommener, und das folgende Jahrhundert verlegte
die Tragödien oft in einen ganz ideal gehaltenen Raum.
In seinen aphoristischen Bemerkungen über die französische Litte-
ratur hat La Bruyere ein feines Urteil über Corneille gefällt. Er ver-
gleicht ihn mit Racine. Denn die Frage über den Wert der beiden
Dichter und den Vorzug, der dem einen vor dem andern gebühre, wurde
damals in Frankreich ebenso eifrig verhandelt, wie später in Deutsch-
land der Streit über die Stellung, welche Goethe und Schiller zu ein-
ander einnehmen.
La Bruyere sagt an der erwähnten Stelle: „Corneille ist in seinen
besten Stellen unerreichbar; er hat dann ein ihm eigentümliches Ge-
präge, das nicht nachgeahmt werden kann. Aber er ist ungleich. Cor-
neille zwingt uns seine Charaktere und seine Ideen auf, Racine schmiegt
sich den unseren an; jener zeichnet die Menschen, wie sie sein sollten,
dieser zeichnet sie, wie sie sind. Der erstere", setzt er hinzu, „wirke
mehr mit dem Verstand, der andere durch die Leidenschaft".^) Diese
Worte sind zwar sehr anerkennend für Corneille, enthalten aber, ohne
es zu wollen, einen starken Tadel. Wenn Corneille seine Menschen
zeichnet, wie sie sein sollten, und nicht, wie sie sind, so entsprechen
seine dramatischen Gemälde nicht der Wirklichkeit, sind nicht in allen
Punkten wahr. Wir bestreiten diese Auffassung keineswegs. Aus allen
Dramen Corneilles geht hervor, daß er nur wenig in der Weit, im Ver-
kehr mit den Menschen gelebt hat. Die eigentliche Menschenkenntnis
geht ihm ab; er dringt nicht in die Tiefe des Herzens, um den ge-
heimsten Regungen der menschlichen Natur nachzugehen und die lei-
sesten Schwingungen der Seele zu erforschen. Corneille bildet seine Fi-
guren aus der Phantasie heraus, oft über Lebensgröße ; er verleiht ihnen
riesige Verhältnisse, gewaltige Leidenschaften. Sein Talent verweist ihn
auf die große Komposition; er muß „al fresco" malen. Aber seine Welt
ist nicht recht die unsere. Sie ist vielleicht größer, fester^ und seine
Menschen erscheinen anders geartet. Seine Helden haben etwas Starres;
so sind sie, so bleiben sie. Von psychologischer Entwicklung ist nicht
1) La Bruyere, „Caracteres" in dem Kapitel „Des ouvrages de Tesprit",
Nr. 54: „Corneille ne peut etre egale dans les endroits oü il excelle; 11 a pour
lors un caractere original et inimitable; mais il est inegal. .. Corneille nous
assujettit ä ses caracteres et ä sesidees; Kacine se conforme aux nötres; celui-
lä peint les hommes comme ils devraient etre, celui-ci les peint tels qu'ils sont. . .
Ce qu'il y a de plus beau, de plus noble et de plus imperieux dans la raison,
est manie par le premier ; et par l'autre ce qu'il y a de plus fiatteur et de plus
delicat dans la passion".
472
viel bei ihnen zu findea ; Corneille kennt keine schwankenden, keine wer-
denden Charaktere. Er zeigt nirgends , wie selbst ein starker Mensch
unter dem Druck der Begebenheiten sich allmählich wandeln kann, wie
ein Macbeth zum Tyrannen wird, wie sich Nero aus einem wohlwollenden
Kegenten zum blutigen Ungeheuer entwickelt.^) Corneille giebt seinen
Charakteren ein- für allemal ihre Haltung. Seine Personen sagen selbst,
wie sie sind, und sie sagen es öfters da, wo sie es besser durch Thaten
kund thäten. Corneille stellt in seinen Dramen verschiedene Charaktere
einander gegenüber, und aus ihrem Zusammenstoß entsteht ein Konflikt,
der gewöhnlich mit dem Untergang des einen Kämpfers endet. In diesem
Zwiespalt giebt es kaum einen Zweifel, ein Bedenken ; ein jeder schreitet
gerade auf seinem Weg fort. Der Cid zögert einen Moment, ob er dem
Gebot der Ehre oder der Liebe folgen soll. Aber nach diesem einen
Augenblick der Schwäche ist er gefeit und fest. So hat auch Cinna einen
Moment des Schwankens, aber seine Emilia, die eigentliche Heldin des
Stücks, kennt keine Schwäche, so wenig wie Polyeucte. In .,Horace"
sind die Römer wie aus einem Guß, ehern und kaum einer menschlichen
Rührung fähig; selbst Kamilla hat etwas Starres in ihrem Charakter,
und nur Curiatius, der Vertreter des unterliegenden Volkes, zeigt wahr-
haft humane Regungen. Vielleicht in dem Bewußtsein dieser etwas ge-
waltsamen Charakteristik bemüht sich Corneille ersichtlich um psycholo-
gische Detailmalerei, allein er wird dabei zu leicht subtil und verliert
sich in Kleinigkeiten. Dazu kommt seine Vorliebe für den Redekampf.
Nur zu häufig stellt er zwei Feinde einander gegenüber und läßt sie
ihre Sache wie vor Gericht verteidigen. Dann sehen wir keine Hand-
lungen, sondern hören nur Reden darüber, und man gedenkt dabei leicht
der äußeren Lebensstellung des Dichters.
So streiten in „Horace" (III, 4) in dem Augenblick, da das ganze
Glück der Familie und des Vaterlands auf dem Spiel steht, Sabina und
Kamilla miteinander, wer von ihnen mehr verlieren könne. Auch der
ganze fünfte Akt dieses Schauspiels ist nur eine Gerichtsscene mit An-
klage- und Verteidigungsreden und dem schließlichen Urteil. Ein an-
deres Beispiel bietet „Don Sanche". In diesem Stück soll, wie schon
früher erzählt worden ist, die Königin Isabella von Kastilien zur Wahl
eines Gemahls schreiten. Die Stände des Reichs haben ihr aus den Großen
des Landes drei edle Herren vorgeschlagen, und diese sollen sich nun
im Einzelkampf mit Don Carlos messen. Wer ihn besiegt, erhält die
Hand der Fürstin. Don Alvar wird zuerst aufgerufen, aber vor dem Be-
ginn des Zweikampfs enthüllt er uns seine Verlegenheit. Er liebt die
Prinzessin Elvira; siegt er, so gewinnt er zwar die Hand der Königin
und die Krone, aber er verliert seine Geliebte. Der Sieg würde ihm
darum wie eine Strafe erscheinen. Also, wird man denken, verzichtet er
auf den Kampf und den möglichen Sieg. Mit nichten. Einem Tliron zu
entsagen, wenn man ihn erlangen kann, ist nach den Anschauungen
jener fiktiven Ritterwelt unehrenhaft. Don Alvar wäre Elvirens unwert,
') Wie in Racines „Britannicus'
473
wenn er sie in einem solchen Fall nicht" aufgäbe. Er streitet also um
Isabellens Besitz, d. h. er kämpft in der Absicht, Elvira zu verlieren;
aber er will sie nur verlieren, um sich ihrer würdig zu erweisen. Das
ist keine Leidenschaft mehr und kein wahres Gefühl, das ist schon
Künstelei, zumal der ritterliche Don Alvar nicht bedenkt, daß er im
Fall des Siegs sich einer Täuschung der Königin, die auf Liebe rechnet,
schuldig machen würde. Derlei Beispiele könnten noch mehr angeführt
werden.
Die Zeitgenossen rühmten Corneille nach, daß er die Personen
seiner geschichtlichen Dramen nicht reden lasse, wie moderne Menschen,
sondern daß er ihnen den historischen Charakter gebe und sie im Geist
ihrer Zeit, im Charakter ihres Landes sprechen lasse. Diese Bemerkung
ist richtig, wenn man Corneilles Dichtungen mit den Erzeugnissen an-
derer gleichzeitiger und späterer Dramatiker vergleicht. Man würde heute
sagen, daß Corneille die Lokalfarbe zu bewahren strebt, allerdings nicht
in der pedantischen Weise des modernen Theaters, das oft die ganze
Kunst in den Aufgaben des Dekorateurs und des Regisseurs zu finden
scheint.
Saint-Evremont, der bekannte Kritiker des 17. Jahrhunderts und
ein warmer Verehrer Corneilles, sagt in einem seiner Aufsätze über den
„Alexandre" des Racine, dem jungen Dichter fehle noch das wahre Ver-
ständnis des Altertums. Diejenigen, welche einen Helden der alten Ge-
schichte dramatisch behandeln wollten, müßten zuvor in den Geist des
zu schildernden Volkes eindringen, sowie den Charakter des Helden selbst
und seiner Zeit ergründen. Ein asiatischer Despot müsse anders als ein
römischer Konsul reden. Aber man liebe diese historische Treue in Frank-
reich nicht. Das habe Corneille bei seiner „Sophonisbe" erfahren, die
nur deshalb mißfalle, weil darin die karthagische Fürstentochter ihrem
Charakter gemäß gezeichnet sei.') Saint-Evreniont irrt hier mit seinem
Dichter. Nicht die historische Treue an sich mißfiel, sondern daß Cor-
neille im Eifer, historisch wahr zu sein, die Gesetze der dramatischen
Schönheit verletzte. Der Dichter darf nie vergessen, daß er für Menschen
seiner eigenen Zeit und seines eigenen Landes dichtet, und daß er nicht
jeden fremden, ungeregelten Sinn , jede wilde Leidenschaft als Zeichen
eines heroischen Geistes kann gelten lassen. Unter welchem Kostüm der
Dichter den Menschen auch zeige, er muß stets die menschliche Natur
schildern, wie wir sie verstehen.^') Corneille hat die verschiedensten
1) Saint-Evremont, Dissertation sur la tragedie de Racine, intitulee
Alexandre le Grand, II. Bd. S. 300, in der Amsterdamer Ausgabe 1706 : „De lä
vient t|u'on nous reproche justement de ne savoir las choses (jue par le rapport
«lu'elles ont avec nous; dont Corneille a fait une injuste et fächeuse experience
dans sa „Sophonisbe".... Corneille, qui presque seul a le bon goüt de l'anti-
quite, a eu le malheur de ne plaire pas ä notre siecle, pour etre entre dans le
genie de ces nations, et avoir conserve ä la fiUe d'Asdrubal son veritable ca-
ractere. "
2) Die historische Wahrheit ist dem dramatischen Dichter nicht Zweck,
sondern Mittel zum Zweck — sagt Lessing (Dramaturgie, 11. Stück).
474
Völkerstämme auf die Bühne gebracht, abei' es ist ihm nicht immer ge-
lungen, in seinen Personen das Pulsieren eines warmen Herzens zu
zeigen. „Corneilles Griechen reden besser, als die wirklichen Griechen
einst geredet haben", ruft Saint-Evremont begeistert aus, „und seine
Kömer und Karthager besser, als die ehemaligen Bewohner von Rom
und Karthago!" Dieses Lob und das anerkennende Urteil La Bruyeres
enthalten genau denselben Tadel.
Charakteristisch für Corneille ist besonders die Art, wie er seine
Heldenfiguren als fehler- und fleckenlose Muster hinstellt. Er freut
sich ihrer moralischen Größe, ihrer Reinheit und ihres edlen Sinnes.
Eodrigo, Polyeucte, Cäsar, Xicomede, Don Sanche, Heraclius gehören
alle zu diesen ideal gehaltenen Charakteren. Corneille lehrt in seinen
Dramen wie kaum ein anderer Dichter den Adel der Pflichterfüllung, die
Größe selbstloser Hingebung und heroischen Opfermuts. Freilich ver-
lieren seine Helden an dramatischem Interesse, wenn sie jeder mensch-
lichen Schwäche bar erscheinen. Aber was die Dichtung einbüßt, gewinnt
der Dichter. Es ist ein bemerkenswerter Zug in seinem Charakter, daß
er sich in dem Gedanken menschlicher Größe wie berauschen konnte.
Verbrecherische und elende Charaktere finden sich dementsprechend
nicht viel in der großen Reihe seiner dramatischen Gestalten, und wenn
er einen Verbrecher oder einen Tyrannen zeichnet, giebt er auch ihm
immer noch einige menschliche Regungen.
Attila freilich ist ohne einen gewinnenden Zug geschildert, und
furchtbarer, unmenschlicher noch als er erscheint Kleopatra in der „Rodo-
gune". Sie ist ein Ausbund von Abscheulichkeit, die keiner Regung des
Mitleids zugänglich ist und die eigenen Söhne dem Tod weiht, wie sie
Jahre zuvor ihren Gemahl ermordet hat. Die Berechtigung eines solchen
Charakters mag manchen fraglich erscheinen, weil sie nicht an die ab-
solute Schlechtigkeit eines Menschen glauben mögen. Jedenfalls haben
Shakespeare in Eichard IIL und Jago, Schiller in seinem Franz Moor
würdige Gegenstücke geboten. Lessing urteilt streng, wenn er bei Be-
sprechung der „Rodogune" sagt: „Dergleichen miß geschilderte Charak-
tere, dergleichen schaudernde Tiraden sind bei keinem Dichter häufiger
als bei Corneille, und es könnte leicht sein, daß sich zum Teil sein Bei-
name des Großen mit darauf gründe. Es ist wahr, alles atmet bei ihm
Heroismus, aber auch das, was keines fähig sein sollte und wirklich
auch keines fähig ist, das Laster. Den Ungeheuren, den Gigantischen
hätte man ihn nennen sollen, nicht den Großen. Denn nichts ist groß,
was nicht wahr ist." ^ Wenn Lessing von Crebillon so gesprochen hätte,
wäre es richtiger gewesen. Corneille aber hat im allgemeinen keinen Ge-
fallen an dem absolut Greulichen.
Die Vorzüge des Corneille'schen Dramas liegen nicht zum gering-
sten Teil in den kraftvoll gestalteten Situationen, in der Macht der be-
geisterten Rede, die wie ein Strom donnernd dahinbraust und das Herz
des Zuhörers in mitfühlendem Jubel schwellen oder ihn in banger Sorge
^) Lessings Dramaturgie, 31. Stück.
475
erzittern macht. Corneille ist Meister in der Kunst, zu packen, zu er-
schüttern, mit sich fortzureißen; sein Dialog ist oft fesselnd und span-
nend. Das spanische Theater hatte ihn das Geheimniß gelehrt, wie ein
Drama energisch vorangeführt werden muß und ihn zugleich in seinem
verwandten heroischen Naturell bestärkt. Er selbst charakterisiert sich
einmal sehr richtig als eine „Mischung von Kraft und Klarheit".')
Darum gelang ihm auch der Ausdruck milder Wehmut viel weniger und
das Naive fehlte ihm gänzlich.
Oorneilles Sprache trägt das Gepräge seines Geistes. Sie ist markig
und nachdrücklich, klar und bestimmt, aber ungleich. Sein Wortvorrat
ist groß, und er scheut auch die Ausdrücke des gewöhnlichen Lebens
nicht. In der Zeit der raschen sprachlichen Entwicklung hat er viel von
dem Reichtum der früheren Epoche bewahrt, und doch spricht er bereits
mit der stilvollen Beschränkung der späteren Zeit. Wie seine Dramen
direkt und ohne Episodenbeiwerk auf ihr Ziel lossteuern, so ist auch
seine Sprache knapp und entschieden. Es ist ihr mehr um die Sache
zu thun als um den Schmuck. Corneille ist im Gebrauch von Bildern
und poetischen Umschreibungen mäßig, aber seine Rede ist doch öfters
rhetorisch gefärbt. Sie liebt Antithesen und symmetrisch gebaute Kon-
struktionen. In diesem Punkt unterscheidet sich Corneille wesentlich von
Racine, der in Gedanken und Haltung einfacher, in der Behandlung
der Sprache aber kunstvoller ist. Corneilles Stil ist altvaterisch ver-
glichen mit der wie ein Kunstwerk ausgearbeiteten, fein ciselierten,
bilderreichen Sprache Racines. Corneille redet fest, männlich, mit prä-
gnanter Kürze, gerät dabei aber leicht in falsches Pathos und wird un-
gelenk; Racine ist leidenschaftlich und bezaubert den Zuhörer allein
schon durch die Harmonie seiner Verse. ^)
^) Corneille, Vers ä Foucquet, als Widmung vor seinem „Oedipe", v. 47 ff:
Que dix lustres et plus n'ont pas empörte
Cet assemblage heureux de force et de clarte,
Ces Prestiges secrets de l'aimable imposture
Qu'ä l'envi m'ont pretee et l'art et la nature.
. '^) Ein Beispiel des symmetrischen Aufbaues, „Cid", II, 8, v. 13 :
Sire, mon pere est mort; raes yeux ont vu son sang
Couler ä gros bouillons de son genereux flaue;
Ce sang qui tant de fois garantit vos murailles,
Ce sang qui tant de fois vous gagna des batailles,
Ce sang qui tout sorti fume encor de courroux
De se voir repandu pour d'autres pour vous...
Oder „Cid", IV, 3, v. 91 :
Et la terre, et le fleuve, et leur flotte et le port
Sont des champs de carnage oii triomphe la mort.
Beispiele von Antithesen, Cinna, I, 3, 21:
Vous eussiez vu leurs yeux s'enflammer de fureur,
Et dans un meme instant, par un effet contraire,
Leur front pälir d'horreur et rougir de colere. . .
Oder noch gesuchter, Polyeucte, II, 2, 10, Severe sagt, daß er in der Schlacht
den Tod suchen will:
476
Unter Corneilles 23 historischen und mythologischen Schauspielen
behandelt nur der ,.Cid" eine Begebenheit der neueren Geschichte; am
zahlreichsten sind die ßömerdramen vertreten. Bei der unbestrittenen
Herrschaft der klassischen Studien in der damaligen Zeit war die Vor-
liebe für dramatische Bearbeitung der alten Geschichte nur natürlich.
Der Dramatiker hatte zudem den Vorteil, daß er in diesen längst ver-
gangenen Begebenheiten ein großes kräftiges Leben und doch neutralen
Boden fand. So bewegt sich denn auch Corneille mit Vorliebe im alten
Rom. „Corneille lebt zu ßouen, doch sein Geist ist in Rom", sagt ein
moderner Dichter von ihm.^) Entgegen den Lobsprüchen Saint-Evremonts
finden wir freilich in Corneilles Römerdramen keine große historische
Treue ; sie versetzen uns vielmehr in eine eingebildete Welt. Wie Balzac
diese römische Welt verstanden und sie der Gesellschaft des Hauses
Rambouillet zu Gefallen aufgeputzt hatte, haben wir schon gesehen.-)
Aber ist das Bild der alten hellenischen und römischen Zustände, wie
es sich die moderne Zeit entwirft, nicht auch nur eine Fiktion? In der
Bemerkung, daß die französischen Römerdramen unhistorisch sind, liegt
also kein Vorwurf. Aber sie fehlen darin, daß sie die menschliche Natur,
die sich immer gleich bleibt, insofern entstellen, als sie den Helden des
Altertums einen Heroismus geben, der mehr und mehr erstarrt und sich
schließlich nur in sonoren Phrasen vom Römertum ergeht. Auch Cor-
neilles Dramen sind nicht frei von diesem Fehler. Schon im „Pompee"
macht sich diese Richtung geltend und gewinnt in den späteren Werken
immer mehr an Kraft.
Was ihnen aber dennoch eine gute Aufnahme sicherte, war
die Übereinstimmung des Dichters mit seinem Publikum in der Auf-
fassung der Begriffe von Ehre und Ruhm. Die Dichtungen Corneilles
waren für ein kriegerisches Volk, für einen unruhigen, kriegslustigen
Si toutefois. apres ce coup morte) du sort,
J'ai de la vie assez pour chereher une mort.
Berühmt ist das Wort des Cid (IV, 3, 65) von der „obscure clarte qui
tombe des etoiles".
Schließhch seien auch einige Stellen angeführt, welche die Art des
knappen, kräftigen Ausdrucks erkennen lassen.
Horatius, II, 1, 39:
Qui veut mourir ou vaincre, est vaincu rarement.
Horatius, IV, 5, 32:
Je Fadorois vivant, et je le pleure mort.
Cinna, III, 4, 85:
Pour etre plus quun roi, tu te crois quelque chose!
Heraclius, II, 1, 39 : „Das Bild eines Tyrannen" :
S'il ne craint, il opprime, et s'il n'opprime, il craint.
^) Victor Hugo, Contemplations, t. I, livre 1, n^ 9 :
Corneille est ä Reuen, mais son äme est ä Rome.
2j Siehe I. Teil. VII, S. 113.
477
Adel eine kräftige Anregung; mochte das Ideal irrig sein, es war nicht
entnervend, sondern stärkte den Sinn zu mutiger That. Das erklärt die
Vorliebe Napoleons für Corneille; sagte er doch, er hätte den Dichter
zu einem Fürsten und Pair seines Soldatenreichs erhoben, wenn er zu
seiner Zeit gelebt hätte.
Ähnlichen Charakters wie die Helden Corneilles sind auch seine
Frauengestalten. Auch bei ihnen zeigt sich mehr Abstraktion als wirk-
liche Menschenkenntnis. Frauencharaktere so zarter, hingebender Natur,
wie sie Racine in seiner „Andromaque", seiner „Monime", seiner „Iphi-
genie" schuf, sucht man bei Corneille vergebens. Er bildet lieber Hel-
dinnen, heroisch, groß und hoheitsvoll. Zwar läßt er Dirce sagen, daß
die Frauen vom Himmel geschaffen seien, um zu lieben und geliebt zu
werden,-) aber er zeichnet in ihnen doch vor allem Heldinnen, die
nichts Höheres als Ehre und Euhm kennen und jedes weichere Gefühl
ihren Geboten unterwerfen. Sie haben alle eine gewisse Familienähnlich-
keit, hassen selbst aus Pflichtgefühl und schreiten ihrem Ziel zu, un-
bekümmert ob der Folgen, die sie treffen können. Umso merkwürdiger
ist es, daß gerade Corneilles Frauenbilder populär geworden sind. Die
großen Figuren einer Chimene, Kamilla und Paulina sind in das Be-
wußtsein des Volkes übergegangen, wie kaum eine andere Gestalt der
Dichtung; sie sind gleich Heldinnen der nationalen Geschichte noch heute
lebendig. Auch in seinen späteren Dramen finden sich ähnliche, wenn
auch blassere Figuren, so Pulcherie, Viriate und Aristie.
Kein Wunder, daß der Dichter lange Zeit der Liebling gerade der
Frauen war. Die französischen Damen, die sich in der Zeit der Fronde
an die Spitze des Aufstands stellten und das Volk zum Kampf auf-
riefen, wie die Herzogin von Longueville oder wie Mademoiselle de Mont-
pensier, waren zwar keineswegs Muster von Reinheit und sittlicher Größe,
und konnten keinen Anspruch erheben, als Ideal echter Weiblichkeit ge-
ehrt zu werden, aber sie hatten Kraft und Energie und fühlten in sich
einen Hauch jenes Geistes, der die Heldinnen Corneilles belebte. „Vive
donc notre vieil ami Corneille!" rief Frau von Sevigne noch entzückt
aus, als schon längst eine andere Zeit angebrochen war. andere An-
schauungen herrschten und der Sänger des Heroismus anfing, vernach-
lässigt zu werden.^)
1) Oedipe, 1. 1, 65.
2) Mme. de Sevigne ä Mrae. de Grignan, 16 mars 1672: „Vive donc notre
vieil ami Corneille! Pardonnons-lui de mechants vers, en faveur des divines et
sublimes beautes qui nous transportent : ce sont des traits de maitre qui sont
inimitables".
X.
Rotrou und Du Ryer.
Neben Corneille kannte die Zeit der „fröhlichen" Regentschaft
noch viele Dichter, deren dramatische Werke sich großen Beifalls er-
freuten. Doch hat die Nachwelt die meisten von ihnen so gut wie ver-
gessen, und die Namen nur weniger Männer in ehrender Erinnerung
bewahrt. Wir nennen hier nur Jean de Kotrou und Pierre du Ryer.
Auch ihre Arbeiten sind zwar veraltet, allein man erkennt in ihnen
doch dramatisches Talent, und wir sehen aus ihnen am besten, was
Corneille mit den zeitgenössischen Dramatikern gemein hatte und worin
er sich von ihnen unterschied.
Jean de Rotrou stammte aus einer angesehenen Familie von Dreux
in der Provinz Isle de France (heute Departement Eure et Loire). Die
Familie Rotrou rühmte sich, dem Staatsdienst und dem Richterstand
schon viele tüchtige Männer geliefert zu haben. Jean de Rotrou selbst
war am 19. August 1609 geboren, also drei Jahre jünger als Corneille.
Von seinen Lebensschicksalen wird uns nicht viel berichtet. Zu keiner
Partei gehörig, und unbekümmert um äußeren Erfolg, hat er niemand
mit Lobgedichten geschmeichelt, aber auch keinem mit feindlichem Tadel
weh gethan. Er ist wie ein sorgloser Geselle durchs Leben gegangen,
hat es genossen, so gut er konnte, hat mit dem Elend gekämpft und
ist seiner niemals Herr geworden. In dem Foyer des Theätre frangais,
wo eine Reihe von Büsten und Standbildern an die hervorragenden
dramatischen Dichter Frankreichs erinnert, sieht man nicht weit vom
Bild Corneilles einen interessanten Kopf, in dessen freien, kecken Zügen
sich Kraft und Offenheit aussprechen. Es ist die Büste Rotrous, welche
der Bildhauer Caffieri 1783 gearbeitet hat. Die Porträtähnlichkeit mag
nicht ganz sicher sein. Wer aber des Dichters Schicksal kennt, findet
in dem Gesicht die Eigenschaften ausgedrückt, welche auf sein Leben
so großen Einfluß hatten. Leichtsinn, Mut und Sinnlichkeit. Sein Kopf
erinnert an die Büste Molieres, die von Houdon gefertigt ist; nur zeigt
er nicht die Melancholie, welche des letzteren Antlitz verschleiert.
Rotrou mag die damals übliche klassische Schulbildung genossen
haben. Schon mit 16 Jahren schrieb er Gedichte, welche in den litte-
rarischen Kreisen beifällig aufgenommen wurden. Es war die Zeit, da
die fade Lyrik in ihrer höchsten Blüte stand, und man kann nicht er-
warten, daß ein junger Mensch von so wenig Erfahrung anders als im Stil
der herrschenden Mode gedichtet habe. Der Erfolg seiner Gedichte gab
479
ihm den Mut, sich auf der Bühne zu versuchen. So fand er sich, wie
wir gesehen haben, mit Corneille zusammen, und gehörte zu der Schar
jugendlicher Dichter, welche sich neben Mairet geltend machten.')
Sein erstes dramatisches Werk, die Tragikomödie „L'hypocondriaque
ou le mort amoureux", wurde im Jahr 1628 zum erstenmal aufgeführt.")
Die Hauptidee des unglaublich verwickelten Stücks ist kurz die, daß ein
junger griechischer Cavalier, Cloridan, von seinem Vater an den Hof
nach Korinth geschickt wird. Nur ungern verläßt er seine geliebte Perside.
Unterwegs hat er das Glück, die schöne Cleonice vor dem frechen An-
griff eines tollen Liebhabers zu retten, und er gewinnt dadurch, ohne
es zu wollen, die Neigung der Geretteten. Durch eine abscheuliche List
bringt diese Cloridan dazu, an den Tod seiner Perside zu glauben. Aber
der böse Anschlag bringt ihr keinen Nutzen. Cloridan wird wahnsinnig,
wie das die Liebhaber damals so gern thaten, und glaubt selbst gestorben
zu sein. In einer Grabkapelle des Schlosses, in dem er Aufnahme ge-
funden, legt er sich in einen offenen Sarg, und es kostet eine ganz
besondere List, ihn wieder zur Vernunft zurückzubringen. Man sagt ihm,
er werde eine zauberische Musik hören, welche die Kraft besitze, die
Seelen der Abgeschiedenen aus der Unterwelt zurückzurufen. Dann ertönt
eine feierliche Melodie, und hinter den Grabmonumenten hervor treten die
früheren Besitzer des Schlosses und erheben bittere Klage, daß man
sie in ihrer Grabesruhe störe. Der eine Schatten schießt sogar voll
Zorn auf Cloridan. Dieser fühlt nichts von der zwingenden Macht der
Musik. Statt daraus zu schließen, sie tauge nichts, kommt er in einer
allerdings wahnsinnigen Logik zu dem Schluß, daß er doch nicht tot
sein könne, da die Musik ihn nicht belebt habe. So wird er gerettet
und das Stück endet mit dem Glück zweier Liebespaare. Der bescheidene
Dichter ließ sich von dem Beifall, den er erntete, nicht blenden. In dem
Vorwort, mit dem er sein Stück begleitete, entschuldigte er sich damit,
daß er nur einem Auftrag des Grafen von Soissons nachgekommen sei.
Es giebt wol treffliche Dichter, aber nicht mit 20 Jahren.^)
Die Liste seiner weiteren dramatischen Dichtungen ist groß. Fast
jedes Jahr schrieb er zwei oder mehrere Stücke, die meistens auf der
Bühne des Hotel de Bourgogne aufgeführt wurden. Allein, da sie noch
ganz in der Manier Hardys verfaßt sind, beanspruchen sie keine besondere
Beachtung. Rotrou selbst legte ihnen wol kaum sehr großen Wert bei.
Er stürzte sich in das wilde Pariser Treiben und führte, wie es scheint,
mit lockeren Kameraden ein wahres Vagabundenleben.
Die Leidenschaft des Spiels beherrschte ihn, und er lebte hin im
„Taumel und schmerzlichen Genuß". Sein Talent diente ihm nur dazu,
die Mittel zu solchem Leben zu gewinnen. Freilich konnte ihm die kärg-
liche Entlohnung, die ihm das Theater gab, nicht genügen, und wenn
1) Siehe Abschnitt III dieses Bands, S. 293 ff.
2) Sie erschien im Druck zu Paris 1631, bei Toussaint du Bray.
3) „II y a d'exeellents poetes, mais non pas ä Tage de vingt ans." Über
die scenische Ausstattung des Stücks vergl. Abschnitt XI dieses Bands.
480
er auch vielleicht von Seiten seiner wohlhabenden Familie unterstützt
wurde, geriet er doch in Schulden. So oft die Bedrängnis gar zu hoch
stieg, warf er hastig ein neues Stück auf das Papier. Das unerschöpf-
liche Kepertoire des spanischen Theaters bot ihm dabei Vorbild und
Stütze. Man glaubt, Eotrou sei geradezu als Dramaturg bei dem Hotel
de Bourgogne angestellt gewesen. Jedenfalls stand er in enger Ver-
bindung mit dem Theater, was ihn noch mehr in den Strudel des auf-
reibenden Lebens mit fortriß. In späteren Jahren gedachte er dieser
Stürme seines Jünglingsalters mit Bedauern.')
Zum Glück war Eotrou nicht ohne Freunde, die er durch sein
Talent und auch sein offenes, liebenswürdiges Wesen gewonnen hatte.
Bald machte er die Bekanntschaft Chapelains (1632) und erwarb des
einflußreichen Mannes Gunst. In einem Brief an Godeau, den Bischof
von Grasse, that Chapelain des jungen Dichters Erwähnung. Es sei
Schade, daß ein Mensch von so schöner Begabung in so schimpflichen
Banden liege („ait pris une servitude si honteuse"); was aber in seiner
Macht sei, werde er thun, ihn daraus zu befreien. Bezog sich dieses
Wort auf Rotrous Stellung zum Theater? Aber schimpflich konnte man
doch das Amt eines Theaterdichters nicht nennen, und Chapelain meinte
vielleicht nur die böse Gesellschaft, in die Rotrou geraten war, und
die Leidenschaften, von welchen er sich beherrschen ließ. Jedenfalls
hielt er Wort und machte Richelieu auf den jungen Dramatiker auf-
merksam. Der Kardinal nahm ihn in seinen Dienst und gesellte ihn zu
den anderen Dichtern, welche seine dramatischen Ideen auszuführen hatten.
So besserte sich Rotrous äußere Lage. Neben seiner Arbeit für den
Kardinal schrieb er immer noch für das Hotel de Bourgogne, und er
gehörte zu den fruchtbarsten und beliebtesten Schauspieldichtern. Mit
Corneille war er befreundet und blieb ihm auch später, nach dem Erfolg
des „Cid", getreu, obwol er durch seine Stellung beim Kardinal leicht
in die Intrigue gegen ihn hätte verwickelt werden können. Rotrou kannte
keinen Neid, und so erhielt sich fortwährend ein schönes Verhältnis
zwischen den beiden Männern. Corneille nannte den Freund einmal seinen
„Vater", vielleicht um anzudeuten, daß ihn derselbe zuerst in die Ge-
heimnisse der dramatischen Technik eingeweiht habe. Noch später
scherzte er einmal, daß er und Rotrou genügten, um das armseligste
Theater über dem Wasser zu erhalten. Rotrou seinerseits erkannte sehr
bald die Ueberlegenheit seines Freundes, und gab sich willig dessen
1) So klagt er in einem Gedicht „A son ami M** qui veut partir pour
Dreux" (zwölfte Strophe):
Lors je me resouviens des sales voluptes,
Oü jadis nous faisions une chute commune,
Mais que le souvenir de ces jours criminels
En l'etat oii je suis, m'offense la memoire.
Als Rotrou diese Verse schrieb, war er noch ein Jüngling! Das Gedicht
findet sich in einer kleinen Sammlung Gedichte, betitelt: „Autres oeuvres poe-
tiqiies du Sr. Rotrou. A Paris 1631, chez Toussaint du Bray.
481
Einfluß hin. Auf Corneilles Anraten soll er sich noch einmal dem Stadium
der alten dramatischen Dichter zugewandt haben. Das tiefere Verständnis
des antiken Geistes blieb ihm zwar verschlossen, aber seine fortschreitende
Entwicklung, sein Streben nach Maß und dramatischer Gestaltung mag
doch zum Teil auf diese nachträgliche Bekanntschaft zurückgeführt
werden. So schrieb er denn auch nach griechischem Vorbild eine „Anti-
gene" (1G38) und eine „Iphigenie in Aulis" (1640), aber freilich ganz
in dem Geist seiner eigenen Zeit. Selbst in der schwachen Bearbeitung
scheint indessen die dramatische Kraft des euripideischen Dramas mächtig
gewirkt zu haben. Auch einige plautinische Possen bearbeitete Rotrou.
Am meisten verdankte er jedoch unstreitig dem direkten Einfluß Cor-
neilles, dem er in einer seiner letzten und bekanntesten Tragödien, dem
„Veritable Saint-Genest", ein Ehrendenkmal errichtet hat, das ihn selbst
nicht minder ehrt.')
Obwol Rotrou zu den bekanntesten und beliebtesten dramatischen
Dichtern gehörte, hat sich doch kaum eine genaue Nachricht über seine
Lebensumstände erhalten. Aus den Dedikationen, mit welchen er seine
Werke begleitete, ersehen wir, daß er in einem gewissen Verhältnis zu
den miteinander verwandten Häusern Soissons und Longueville stand.-)
Er las dort gelegentlich seine Arbeiten vor, scheint sich aber doch seine
Freiheit bewahrt zu haben. Daneben hatte er sich, vielleicht auf An-
dringen der Familie, in seiner Vaterstadt Dreux die Stelle eines „lieute-
nant particulier et civil, assesseur criminel et commissaire examinatenr
au bailliage et comte de Dreux" gekauft. Trotz dieses langen Titels
scheint ihm das Amt Muße genug gelassen zu haben, denn er gab sich
auch ferner in Paris seiner gewohnten Lebensweise hin. Seine Verhält-
nisse wurden nicht besser, und die Gläubiger bedrängten ihn nach wie
vor. Das Geld, das er einnahm, verschwand in der kürzesten Zeit. Um
sich einen Notpfennig zu sichern, habe er öfters die Goldstücke, die er
erworben, in einen Haufen Reisig geworfen, so erzählt eine launige Tra-
dition. Sie dort zusammenzusuchen, sei ihm zu lästig gewesen, aber in
dem Maß, als der Holzvorrat sich verringert habe, sei er allmählich wieder
zu seinem Geld gekommen. Sicherer als die Geschichte von dieser eigen-
tümlichen Sparbüchse ist die Nachricht, daß Rotrou im Jahr 1647 einer
kleinen Summe wegen in das Schuldgefänguis wanderte. Sich aus der
Haft zu erlösen, verkaufte er seinen „Venceslas", das beste seiner Stücke,
um zwanzig Pistolen. In dieser Tragödie hatte er wol gegeben, was
seine Kräfte erreichen konnten. Die folgenden Dichtungen waren schon
schwächer, und es ist kaum anzunehmen, daß Rntrous Talent sich noch
mehr geklärt und gekräftigt hätte, auch wenn er länger gelebt hätte.
Aber ein frühzeitiger Tod raff'te ihn im besten Mannesalter hinweg. Eine
bösartige Epidemie, eine Art Fleckfieber, brach in Dreux aus, und ver-
breitete Schrecken und Trauer. Rotrou war gerade in Paris, aber anf
1) Vergl. oben S. 428.
-) Siehe die Widmung des Stücks „Les deux pucelles" an das Fräulein
von Longueville. Darin nennt er sich „un tidele sujet de la maison de Soissons."
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratur. ijj
482
die Kunde davon eilte er pflichtgetreu nach Dreux zurück, um seines
Amtes zu walten. Einem Freund in Paris meldete er noch von der
schrecklichen Zahl der Menschen, welche der Krankheit in der kleinen
Stadt zum Opfer fielen. „In dem Augenblick, da ich schreibe, läuten
die Glocken für die zweiundzwanzigste Person, die heute gestorben ist.
Mich wird es treffen", fügte er hinzu, -„wenn es Gott gefällt." Wenige
Tage darauf traf es ihn, und er starb den 27. Juni IGöO.
Bei seiner sorglosen Manier war ihm nie der Gedanke gekommen,
seine dramatischen Werke in einer Gesamtausgabe zu vereinigen. Seine
35 Stücke sind alle nur einzeln im Druck erschienen.') Mehrere hatten
großen Erfolg, aber der Umstand, daß man auch später nicht daran
dachte, wenigstens eine Auswahl neu zu drucken, beweist, daß seine
Popularität rasch verschwand. Er starb während der Unruhen der Fronde,
und nach deren Beendigung zeigte es sich sehr bald, welch große Wand-
lung der Geschmack erlitten hatte. Corneilles Ruhm überstand die ge-
fährliche Krisis; die geringeren Dichter wurden vergessen, denn sie ver-
alteten nach wenig Jahren.
Dennoch haben die späteren Dichter Rotrou recht wohl gewürdigt,
und manchen komischen Zug, manche Scene aus ihm entlehnt. So er-
innert eine Scene in Molieres „Fourberies de Scapin" an einen ähnlichen
Auftritt in Rotrous Lustspiel „La soeur". Auch die tolle Scene des
„Bourgeois gentilhomme" (IV, 5); wo Herr Jourdain zum Mamamouchi
erhoben wird, scheint einer Scene desselben Rotrou'schen Stücks nach-
gebildet, wenn man nicht etwa annehmen will, daß Rotrou und Moliere
aus einer dritten italienischen Quelle geschöpft haben.
Zwei Tragödien Rotrous verdienen es, daß man ihnen einen Augen-
blick der Aufmerksamkeit widmet, sein „Saint-Genest" (1646) und sein
„Venceslas" (1657). Zu der ersteren war er durch „Polyeucte" angeregt
worden, mit welchem Stück Corneille die Märtyrertragödien eingeführt
hatte. Schon 1645 hatte Des Fontaines in einer Tragödie die Legende
des Saint-Genest dramatisiert.-) Sanctus Genesius war Schauspieler und
hatte, wie es in der Überlieferung heißt, einst auf der Bühne einen
Christen darzustellen. Während seines Spiels wurde er von der Wahrheit
der Worte, die ihm der Dichter in den Mund legte, so betroffen, daß
er sich ernstlich vor dem versammelten Publikum als Anhänger Christi
bekannte, und auf Befehl des Diokletian sterben mußte. Ein Jahr später
als Des Fontaines bearbeitete Rotrou denselben Stoff, aber in anderer
Weise. Er suchte seinem Stück besonders dadurch größeres Leben zu
geben, daß er nicht allein auf der Bühne eine Bühne zeigte (das hatte
ja auch Corneille in der „Illusion" gethan), sondern daß er auch hinter
dieselbe, zu den Maschinisten und den sich kostümierenden und in der
Erwartung auf- und abgehenden Schauspieler n^ sowie in die kaiserliche
Loge führte. Die scenische Einrichtung war durch diese Mannigfaltigkeit
des Schauplatzes nicht sonderlich erschwert, da man sich damals durch
1) Die Liste derselben s. Parfaict IV, S. 410.
2) Les freres Parfaict, VI, S. 363.
483
die gemischte Dekoration zu helfen wußte, von der wir weiter unten
reden werden.^)
Das zweite der genannten Stücke führt uns nach Polen. Der König
dieses Landes, Venceslas, hat zwei Söhne. Ladislas und Alexandre. Der
ältere ist leidenschaftlich, ausschweifend, eine gewaltthätige, wilde Natur.
Nachts durchstreift er die Straßen der Stadt, und jeden Frevel, den man zu
beklagen hat, jede Mordthat, welche nächtlicher Weile verübt wird, scheint
den erschreckten Bürgern von dem Prinzen angestiftet, wenn nicht selbst
vollbracht. Ladislas läßt sich sogar zu drohenden Worten über seinen
Vater hinreißen, der ihm zu lange lebt. Kurz, er hat, wie der letztere
ihm vorwirft, von einem König nichts, als nur die Begierde, König zu
sein.^j Auch seinen Bruder, den edlen und milden Prinzen Alexandre,
haßt er. Hat er doch schon den Degen gegen ihn gezückt, und
er wagt es, dem König ins Gesicht zu erklären, daß, ehe die Sonne
ihren Lauf vollendet habe, er sich an dem Prinzen gerächt haben müsse.
König Venceslas ist ein ebenso guter als schwacher Herr. Da weder
Bitten, noch Drohungen, selbst das Gefängnis den Sinn des Thronfolgers
nicht bändigen können, versucht er es mit einem andern Mittel und
ernennt ihn zum Mitregenten. Er hofft nun, der Regent werde vergessen,
was er als Prinz gehaßt, doch er irrt sich. Ladislas erklärt ihm rund
heraus, daß er seinen Haß vorziehe. Mit derselben Feindschaft, wie den
Bruder, verfolgt er auch den Günstling des Königs, den Herzog von
Kurland, zumal da dieser im Begriffe steht, sich mit der reizenden
Herzogin Cassandra zu vermählen, die auch Ladislas mit seiner unge-
stümen Liebeswerbung verfolgt. Cassandra weist den Prinzen standhaft,
ja verächtlich zurück, und entflammt damit dessen heißes Blut zum
höchsten Zorn. Offen droht er, ihren Geliebten zu ermorden.^) Und nur
zu schnei! führt er seine Drohung aus. Er hört, daß der Herzog von
Kurland sich in aller Stille mit Cassandra vermählt hat. Wenige Stunden
nach der Trauung lauert er seinem Rivalen auf, und von der Dunkelheit
begünstigt, erdolcht er ihn. Aber nicht den Herzog, seinen eigenen
Bruder hat er getötet. Es zeigt sich jetzt, daß der Herzog nur zum
Schein um Cassandra warb, um ihre Ehe mit dem Prinzen Alexandre
zu verheimlichen. Der König ist über den Brudermord entsetzt und will
die ganze Strenge des Gesetzes walten lassen. Ladislas wird zum Tod
verurteilt und soll auf dem Schaffot sterben. Aber trotz seiner Greuel-
thaten ist er bei dem Volke wegen seiner Tapferkeit, seines freien,
leutseligen Benehmens beliebt, und die empörte Menge umringt bittend
und drohend das Schloß. Der König nimmt Abschied von seinem Sohn
und ermahnt ihn, würdig zu sterben. Angesichts des Todes findet Ladislas
seinen großen Sinn wieder. Von allen Seiten bestürmt man den König
um Gnade, selbst Cassandra bittet für den Prinzen. Um aber gerecht
1) Vergl. Abschnitt XI dieses Teils.
2) Eotrou, Venceslas I, 1, 20:
„Vous n'avez rien d'un roi que le desir de l'etre.
8) Ibid. II, 2, 114 ff.
31*
484
zu bleiben, und doch seinen Sohn zu retten, verfällt Venceslas auf einen
sonderbaren Ausweg. Er entsagt der Krone, und Ladislas wird dadurch
zum König und unverletzlich. So ist er gerettet. Doch zeigt er sich der
Gnade auch wert, denn er erscheint nun wie umgewandelt. Seine edle
Natur hat obgesiegt, und mit Vertrauen kann man ihm das Scepter
in die Hand legen. Ja, das Stuck schließt mit einer Hinweisung auf die
mögliche Verbindung zwischen ihm und Cassandra.
Das Hauptthema, der Bruderzwist, ist oft behandelt worden und
kann zu wahrhafter Tragik entwickelt werden. Auch Eotrou ist, in den
ersten Akten wenigstens, glücklich. Er hat spannende Scenen, eine
scharfe Charakteristik und seine Sprache ist bei aller Einfachheit im
ganzen kräftig und schön. Die Leidenschaft pulsiert in der Dichtung.
Aber die Lösung wirkt abschwächend. Wie sollen wir mit einem Male
an die Wandlung eines so wilden, störrischen und bösartigen Charakter.s
glauben? Statt uns der Kettung des Ladislas zu erfreuen, empfangen
wir nur einen peinlichen Eindruck von der Schwäche des Königs. Auch
Shakespeare zeigt in seinem Prinzen Heinz einen tollen, lebenslustigen
•Jüngling, der sich in der Gesellschaft von Fallstaff gefällt und voll
Übermut allerlei nächtlichen Unfug treibt; aber sein Heinz ist kein
schlechter Mensch, kein Räuber und Mörder, und wenn die schwere
Stunde kommt, die ihn zum Thron beruft, findet sie ihn ernst und ent-
schlossen. In Rotrous Stück verletzt besonders die Aussicht auf die Ehe
zwischen Ladislas und Cassandra, mit welcher das Stück schließt. Man
gedenkt hier unwillkürlich des „Cid", der auch in dem Hinweis auf die
besänftigende Einwirkung der Zeit den erfreulichen Abschluß findet. Und
doch lassen sich die beiden Stücke in dieser Hinsicht kaum vergleichen.
Eodrigo ist das Ideal des ritterlichen Helden, der sein Leben im ge-
fährlichen Zweikampf mit dem berühmtesten Krieger seiner Zeit wagt,
nur um die Ehre seines Vaters zu retten, und der alles seiner Pflicht
opfert. Ladislas dagegen erdolcht aus elender Eifersucht den Gemahl der
von ihm geliebten Frau, und damit, allerdings ohne es zu wollen, seinen
Bruder. Wie kann die Witwe des so freventlich Gemordeten dem Mörder
ihre Hand reichen, ohne sich selbst zu entwürdigen? Darum änderte
später auch Marmontel den Schluß des Stücks ab und ließ Cassandra
sich erdolchen. Denn noch im vorigen Jahrhundert wurde „Venceslas"'
mit Erfolg gespielt. Es geht ein kräftiger Geist durch das Ganze, wenn
es auch die großen Werke Corneilles nicht erreicht. Man vergleiche z. B.
die dramatische Scene im „Cid", wo Chimene vor dem König erscheint
und um Rache fleht (II, 8), mit der ähnlichen Scene in „Venceslas"
(IV, 6), in der Cassandra sich dem Monarchen zu Füßen wirft und den
Prinzen Ladislas als Mörder ihres Gatten anklagt.^)
M Die Schlußworte des Cid:
Pour vaincre un point d'honneur qui combat contre toi
Laisse faire le temps, ta vaillance et ton roi
haben geradezu Piotrou die Schlufjworte seines „Venceslas" eingegeben:
485
Wie Corneille und Rotrou, gehörte auch Pierre du Kyer zu der
damals noch geringen Zahl von Dichtern, welche ihren bürgerlichen
Stolz nicht opfern mochten. Wie jene beiden Dichter, sah er sich deshalb
auch im Kampf mit den Sorgen des täglichen Lebens, aber besser als
jene hat er es verstanden, dieselben durch einen genügsamen Sinn zu
bannen. Die Liebe zur Unabhängigkeit hatte er von seinem Vater Isaac
du Ryer geerbt. Schon jener hatte eine gute Stelle als Sekretär bei dem
Herzog von Bellegarde aufgegeben, und bescheiden von dem Ertrag einer
kleinen Stelle im Hafenamt bei Saint-Paul in Paris gelebt. Eine Samm-
lung von Schäfergedichten und andere Poesien hatte er unter dem Titel
,.Les printemps perdu'" veröffentlicht, und der Sohn setzte die litterarische
Tradition fort. Er muß ums Jahr 1600 geboren sein, denn schon 1618
ließ er sein erstes Stück, „Aretaphile", aufführen, das zwar nie gedruckt
wurde, sich aber in einigen Abschriften erhielt.') In den folgenden Jahren
verfaßte er eine Reihe dramatischer Werke, darunter zwei nach dem
englischen Schäferroman „Argenis" des Barclay (1630 und 1631). Du
Ryer schien vom Glück begünstigt; der König ernannte ihn zu seinem
Sekretär, und so durfte er auf eine sorgenfreie Zukunft rechnen. Aber
schon 1633 verkaufte er das Amt wieder, denn er suchte sein Glück
an anderer Stelle. Er wollte heiraten. Die Frau, die er sich wählte, Gene-
vieve Fournier, stammte aus der Klasse des kleinen Bürgertums, und
er führte mit ihr ein glückliches Leben. Aber es galt nun, doppelt
fleißig zu arbeiten, da er auf sich allein angewiesen war, und die litte-
rarische Arbeit zu jener Zeit nur selten goldene Früchte trug. Um ein-
facher leben zu können, floh er die geräuschvolle Stadt, und zog in ein
Dorf unweit Paris, in der südöstlichen Richtung nach Picpus zu gelegen.
Dort lebte er ungestört seiner bald zahlreichen Familie und seinen Ar-
beiten, nahe genug der Stadt, um der litterarischen Welt und dem Theater
sich nicht zu entfremden, und doch weit genug, um sich aller Vorteile
Cassandre
Puis-je Sans un trop lache et trop sensible efifort
Epouser le meurtrier, etant veuve du mort?
Puis-je. . .
Le roi
Le temps, ma fille.
Cassandre
— Ah, quel, temps le peut faire?
Le prince
Si je n'obtiens au moins, perraettez que j'espere,
Taut de soumissious lasseront vos mepiis,
Qu'enfiü de mon amour vos voeux seront le prix.
Die Stelle mag zugleich den Unterschied in der Sprache zeigen, die ge-
drungene Kraft Corneilles und die abschwächende, verbreiternde Manier Rotrous,
der doch noch weit über den anderen Dramatikern stand.
') Die Brüder Parfaict setzen seine Geburt in das Jahr 160ö. Dann
könnte das Datum des ersten Stücks nicht passen, und doch scheint diese letztere
Angabe sicher. Parfaict, bist, du th. fr. V, 535 ff.
486
eines gesunden und stillen Landlebens zu erfreuen. Von Zeit zu Zeit
kam ein Freund, ihn in der Einsamkeit aufzasuclien, und Du Eyer tischte
dann anf, was sein Haus besaß. Schwarzbrot und Milch, auch Obst,
wenn die Jahreszeit es gerade bot. Die Städter glaubten ihn arm und
unglücklich, während er doch in seiner philosophischen Einfachheit zu-
frieden war. Seine Frau stand ihm als sorgsame Haushälterin und Mutter
seiner Kinder treu zur Seite, und erleichterte ihm die Arbeit durch ihre
Sparsamkeit und praktische Art. Geistige Anregung bot sie ihm nicht,
und er scheint deren auch nicht bedurft zu haben. In dem Brief an
einen Freund preist er ihre Tugenden mit manchem naiven Wort. „Sie
haben gewiß von dem armen B . . . reden gehört. Er hatte ein vor-
nehmes, englisches Fräulein geheiratet, die ihn mit dem Stock bearbeitete,
wenn er ihrer Ansicht nach nicht fleißig genug war. Meine Frau ist
weder Engländerin, noch vornehm: aber sie ist eine gute Frau, die mich
in unglaublicher Weise liebt und ehrt. Sie schafft im Haus mehr, als ich
von sechs Dienstboten fordern könnte. Sie hält mein Zimmer und meinen
Alkoven rein und glänzend wie zwei Spiegel; sie macht mein Bett so
vorzüglich, daß ich besser ruhe als ein Prinz auf der ganzen Erde, und
überdies versteht sie eine treffliche Suppe zu bereiten. Ich meinerseits
kann nicht begreifen, wie man mit so wenig Geld so gutes Essen liefern
kann, und so bewundern wir uns gegenseitig trotz unser Armut. Sie
bewundert mein Übersetzertalent, und ich bewundere ihr Talent als
Hausfrau."^)
Zunächst widmete sich Du Ryer mit Eifer dem Theater, doch war
er weniger fruchtbar als die meisten seiner Genossen. Auch auf ihn
scheint Corneille starken Einfluß geübt zu haben. Die ersten Stücke,
meist Tragikomödien, behandelten jene faden, den Schäferromanen ent-
nommenen Abenteuer. Erst die feinere Behandlung des Lustspiels, welche
Corneille in seinen ersten Werken versuchte, führte auch die anderen
Dramatiker dazu, die wirklichen Verhältnisse ihrer Zeit und der sie um-
gebenden Gesellschaft als Thema ihrer Komödien zu wählen. So entstand
1635 Du Eyers Stück „Les vendanges de Surenes", das in dem kleinen,
westlich von Paris gelegenen weinreichen Ort Surenes spielt, ohne je-
doch sonst auf die Gegend besonderen Bezug zu nehmen. Du Ryer zeich-
nete darin die wohlhabende Bürgerklasse von Paris und würzte sein
Stück mit allerlei Anspielungen auf den Zeitgeschmack und die zeit-
genössische Litteratur. Während der eine in respektvoller Liebe schmachtet,
wie es die feine Mode verlangt, spottet ein anderer über die galanten
Liebhaber, die den Celadon und die Helden der .,Asträa- nachäffen. Es
fallen scharfe Worte über die Dichterlinge und besonders über jene, die
^) Der Brief, der in (Furetieres) Essai de Lettres familieres, 1690
;,p. 16), mitgeteilt wird, findet sich auch abgedruckt hei Edouard Fournier: „Le
theätre fran^ais au Ißme et au ITme siecle, ou choix des comedies les plus
remarquables anterieures ä Meliere" (Paris, bei Laplace, Sanchez & Cie., 2 Bde.),
Band II, S. 73 ider kleinen Ausgabe). Man vergl. ziigleieh den ganzen Aufsatz
Fourniers über Du Eyer, der als Einleitung vor dessen Lustspiel „Les ven-
danges de Surenes" steht.
487
sich im Theater auch noch zu Kritikern über die Werke der anderen
aufwerfen. Im ganzen hat das Lustspiel manchen glücklichen Vers, aber
auch noch manche Derbheit, und die kleine Intrigue ist für fünf Akte
gar zu leer und schwach.
Deutlicher noch als in dem genannten Lustspiel zeigen die spä-
teren Schauspiele Du Ryers wachsenden Ernst in der Auffassung und
Behandlung der Stoffe. Es konnte wol auch kaum anders sein, nachdem
Corneille in einer Reihe von trefflichen Werken ein Vorbild gegeben
hatte, das nicht gut zu übersehen war. Du Rycr nahm später gern seine
Helden aus der griechischen und lateinischen oder auch der biblischen
Geschichte. So schrieb er eine „Lucrezia"', einen „Saul", eine „Esther",
einen „Scävola". Das letztere Stück gilt neben seiner ,,Alcyonee", einer
trotz mehrerer kräftigen Verse schwächlichen Arbeit, als sein bestes Werk,
und gewinnt an Interesse durch die Notiz , daß es von einer neuen
Schauspielertruppe unter der Leitung des jungen Moliere mit Erfolg auf-
geführt worden sei ^) (1646). Du Ryer bemühte sich offenbar, den heroi-
schen Geist, den Corneille seinen Römern eingehaucht hatte, zu bewahren.
In seinen Römerdramen redet man denn auch viel von der unüberwind-
lichen römischen Tapferkeit, und das gerade in dem Augenblick, da Rom
fast verloren ist. Seine Römer schreiten stets auf Stelzen einher, und
das einfache, natürliche Gefühl, das bei Corneille immer noch mächtig
hervorbricht, geht bei Du Ruyer fast ganz verloren. Es sei hier nicht
weiter hervorgehoben, wie naiv man den Tyrannenmord als Heldenthat
feierte, sobald er im Nebel der alten Geschichte vorkam und nicht zu
ahnen schien, daß man die seltsame Theorie auch auf die Neuzeit an-
wenden könne, ja schon angewendet hatte. Wenn in Du Ryers Drama
Mucius Scävola nach seiner That vor Porsenna geführt wird und des
Tods gewärtig ist, prahlt er, man erkenne die allzeit unbesiegbaren
Römer daran, daß sie Unmögliches zu vollbringen und zu erdulden
wüßten.') Gegenüber diesem Heldenjüngling steht Junia, die Tochter des
Brutus, die römische Jungfrau. Als Gefangene in das Lager des Por-
senna gebracht, geht sie dort frei herum und feuert durch ihr Zureden
den ohnehin schon mordlustigen Scävola noch mehr an. Die beiden lieben
sich, obwol Junia sich darüber Vorwürfe macht. „Denn in dem Herzen
einer echten Römerin darf nur die Liebe zum Vaterland herrschen.''^)
Sie erklärt Scävola, daß ihre Neigung zu ihm augenblicklich schwinden
wenn sie sähe, daß er zu der großen befreienden That erst an-
1) Man vergleiche den Aufsatz von Eudore Soulie darüber in dem „Cor-
respondent litteraire'*, 25 janvier 1865, p. !;4 ff.
-) Du Ryer, Scevole, IV, 5, v. 7 :
Je suis Romain, Porsenne,
Et tu vois sur mon front la liberte Romaine.
Le propre des Romains en tous lieux invincibles,
C'est de faire et souffrir les choses impossibles.
3) Scevole, II, 1, v. 1.
488
gefeuert werden müßte. ^) Tarquinius ist noch am besten gezeichnet; sein
Hochmut und seine Härte treten deutlich zu Tage, während König Por-
senna ohne besondere Charakteristik ist, und dessen Sohn Aruns, der
Junia liebt, dabei ein Freund des Scävola ist, und vermitteln will, ganz
der unwahren Romantik des 17. Jahrhunderts angehört. Merkwürdig ist
eine Scene zwischen Tarquinius und Porsenna. Der erstere drängt zum
Angriif auf das fast wehrlose Rom; Porsenna zögert, weil die Auguren
keine befriedigende Antwort geben. Die Eingeweide der Opfertiere zeigen
unheilvolle Vorbedeutungen. Tarquinius läßt solchen Grund nicht gelten.
Er braust auf, daß ein tapferer Mann sich nach einem toten Tier richten
könne. Derlei Grübeleien und solcher Aberglaube seien gut, um das nie-
dere Volk zu täuschen, aber ein Mann wie Porsenna dürfe doch nicht
glauben, daß die Eingeweide der Tiere das Heiligtum seien, in welchem
das Schicksal seinen Willen verkünde. Das beste Augurium liege für
einen Herrscher in seiner Macht und seinem Mut.-)
Tarquin zeigt sich hier als böser Rationalist. Aber deshalb darf
man nicht zu weit gehen und glauben, daß Du Ryer einen versteckten
Angriff gegen die christliche Kirche damit gewagt habe. Ausfälle ähn-
licher Art waren zwar den Dichtern des folgenden Jahrhunderts ge-
läufig,") aber Du Ryer wollte mit diesen Worten nur zeigen, welch höh-
nische Verachtung Tarquinius gegen alle ihm unbequemen Einrichtungen
zur Schau trug.
Trotz aller Geschicklichkeit seiner trefflichen Hausfrau, der koch-
kundigen Frau Genevieve, reichten die Einkünfte, welche Du Ruyer durch
seine dramatischen Werke hatte, nicht hin, alle Bedürfnisse der Familie
zu befriedigen. Die Kinder wuchsen heran und verursachten größere
Ausgaben. Diese zu bestreiten, verlegte sich Du Ryer auf Übersetzungen
aus dem Griechischen und Lateinischen. Ciceronianische Schriften, Livius,
Seneca, De Thou wurden der Reihe nach von ihm üliertragen und seine
1) Scevole, III, sc. 4, v. 59 ff. und v. 87 ff.
2) Scevole, II, 4, v. 5ff.:
Quoi, vous vous etormez? Cette äme grande et forte
Craint un presage vain, craint une bete morte?
Donc, vous vous figurez qu'une bi'te assommee
Tienne notre fortiine en son ventre enfermee.
Et que des animaux les sales intestins
Soient un temple adorable oii parlent les destins?
Ces superstitions et tout ce grand mystere
Sout propres seulement ä trompeur le vulgaire.
C'est par lä qu'on le pousse ou qu'ou retient ses pas,
Selon qu'il est utile au bien des potentats.
Mais les reis, meprisent ces pleurs et ces bassesses,
Doivent etre au-dessus de toutes ces foiblesses,
Ils ont des bons succes les presages en eux,
Selon qu'ils sont puissants ou qu'ils sont courageux.
^) So z. B. Voltaire in seinem „Oedipe" :
Les pretres ne sont pas ce qu'un vain peuple pense,
Notre credulite fait toute leur science.
4^9
Arbeiten fanden Beifall. Andere Schriftsteller des klassischen Altertums,
wie Horodot, bot er nur in modernisierter Ausgabe. Er nahm zu diesem
Behuf eine ältere Übersetzung, deren Französisch er verbesserte und im
Geschmack seiner Zeit umgestaltete. Sein Schicksal recht tragisch hin-
zustellen, vielleicht auch aus Spott über des Mannes bürgerlich prosaische
Lebensweise, erzählte man sich im Kreise der „guten Freunde", daß
seine Übersetzungen mit 3 Frauken für den Druckbogen bezahlt würden
und daG man ihm für je 100 Alexandriner 4 Franken, für je 100 klei-
nere Verse gar nur 40 Sous berechne. Daß diese Ziffern falsch sind,
liegt auf der Hand. Das Honorar, welches die Schriftsteller von Ruf
damals gewöhnlich bezogen, war nicht unbeträchtlich, und Du Eyer ge-
hörte zu den bekanntesten Dichtern. Auch seine Übersetzungen waren
sehr gesucht, obwol er selbst nicht viel davon hielt. Darüber giebt er
uns in dem schon erwähnten Brief den besten Aufschluß.^)
„Sie loben also meine Seneca-Übersetzung ! Gehen Sie doch! Mich
fangen Sie damit nicht. Ich will Ihnen nur gestehen, lieber Herr, daß
ich sie in sechs Monaten gefertigt habe, und daß ich sechs Jahre nötig
hätte, wenn ich eine gute Arbeit liefern wollte. Meine Übersetzung ist
nur eine Übersetzung von Villeloin. Ein einziger Unterschied besteht
zwischen ihm und mir. Er glaubt es gut zu macheu und versteht es
auch nicht besser; ich aber kenne meine Fehler und könnte Besseres
liefern. Ja, ich bin eitel genug, zu glauben, daß ich ein d'Ablancourt
oder ein Vaugelas sein könnte, und bin nur ein Marolles geworden.-)
0, Fortuna, Du bist hart! Du hast mich gegen meinen Willen genötigt,
meinen Euf zu opfern! Doch Du wirst mich nie dazu bringen, auch
meine Ehre zu opfern, und meinen Freund will ich nicht betrügen. Ich
schulde Ihnen diese offene Sprache, weil Sie so gütig sind, mir manch-
mal Geld zu leihen. Ich sende Ihnen hierbei die 20 Pistolen, die Sie
mir neulich vorgeschossen haben.
„Die Buchhändler haben mich neulich hier in meinem Dorf auf-
gesucht und mir 200 Ecus gebracht. Ich habe sie augenblicklich meiner
Hausfrau überliefert, die davon entzückt ist und mich in meinem Elend
glücklich macht.... Übrigens muß ich Ihnen erzählen, daß Madame
Bilaine mit meinem guten Freund Courbe mir die 200 Ecus, die sie
mir für die Übersetzung der Ciceronianischen Eeden noch schuldete,
selbst gebracht hat. Ich werde Ihnen diese letzteren nächstens schicken.
Die feine Buchhändlerin kam in großem Staatsgewand und küßte mich
so freundlich, daß man wol sieht, wie man im Justizpalast "ebenso gut
wie bei Hof die artige Weise des Grußes erlernen kann, die neuerdings
von unserer galanten Nation in die Sitten eingeführt worden ist. Kurz,
Madame Bilaine hat mein Herz gewonnen und hat mir einen Vorschuß
1) Siehe Fournier, a. a. 0., S. 73.
2) Ablancourt (Nicolas Perret d') 1606—1664 übersetzte Thukydides, Xeno-
p hon,. .Cäsar, Tacitus u. a. m. Vaugelas, der berühmte Grammatiker, fertigte
eine Übersetzung des Curtius, an der er 30 Jahre gearbeitet haben soll. Ville-
loin, Abbe de Marolles (1600—1681) übersetzte Virgil und Martial. Menage be-
zeichnete die Übersetzung des letzteren als „Epigrammes contro Martial".
490
von 1000 Livres auf meine Livius-Übersetzung angeboten, die tüchtig
voranschreitet. Meine Hausfrau spitzte bei diesem Vorschlag die Ohren
und flüsterte mir zu: .Nimm sie beim Wort, mein lieber Mann". Ich
folgte ihr, und die 1000 Livres wurden dem armen Du Eyer in blanken
Gold- und Silberstücken ausgezahlt. Aber ich will nicht weiter davon
reden, um Sie nicht zu langweilen. Nur werde ich mich bemühen, künftig
besser als bisher zu arbeiten. Ich kann das jetzt versprechen, da ich
Sie bezahlt und doch noch immer 400 Ecus vor mir habe: solange es
mir gedenkt, bin ich nie so reich, das heißt weniger arm gewesen."
Der Brief, der übrigens für die Öffentlichkeit bestimmt war, be-
weist, daß Du Eyer zwar vielfach von Geldverlegenheiten gee[uält wurde,
aber daß er doch nicht so schlechtes Honorar bezog, wie man erzählte.
Ein Mann, den die Verleger aufsuchen und den sie durch Vorschüsse
zu fesseln suchen, mußte beim Publikum beliebt sein. Auch andere Nach-
richten bestätigen das Ansehen, dessen Du Eyer genoß. Der Erfolg seiner
Übersetzungen mußte ihm umso willkommener sein, als die dramatischen
Werke, die er in den Jahren 1648 — 1654 auf seinen „Scävola" folgen
ließ, wenig Beifall fanden,^) und er sich, gleich Corneille, entschloß, sein
Glück auf der Bühne nicht mehr zu versuchen.
Die letzten Jahre seines Lebens erscheinen uns wie der matte Ab-
schluß eines gut begonnenen Schauspiels. Denn der Philosoph Du Eyer.
der die Unabhängigkeit so hochgeschätzt, der sich in die Einsamkeit
und Einfachheit zurückgezogen hatte, verwandelte sich schließlich doch
in einen Höfling, um sich eine gute Stelle und ein schönes Einkommen
zu sichern. Seine Frau starb und nach ihrem Tod war der kleine Haus-
halt bald zerrüttet, zumal das Theater keine Einnahme mehr brachte.
So entschloß sich Du Eyer denn doch wieder, in die Dienste eines hohen
Herrn einzutreten. Er wurde Sekretär des Herzogs von Vendöme, der
ihm bald auch die gut bezahlte Sinekure eines Historiographen von
Frankreich verschaffte. Nun war er ein gemachter Mann, und als er
gar 1655 sich zum zweitenmal, und zwar mit einer reichen Frau, Marie
de Bonnaire, verheiratete, schien sein Glück begründet. Der finanziellen
Sorgen ledig, bewohnte er ein Haus in dem scliönsten Teil des dama-
ligen Paris, in der Eue des Tournelles und später ein anderes in der
Nähe des Chäteau de Bercy. Aber er sollte sich nicht lange eines sorg-
losen Lebens erfreuen. Der Tod ereilte ihn drei Jahre nach seiner Heirat,
im Jahr 1658. Von den Dichtern, welche mutig und hoffnungsfreudig
in den dreißiger Jahren sich dem aufblühenden Drama gewidmet und so
wohlverdienten Erfolg errungen hatten, blieb nur Corneille, um die Tradi-
tionen der heroischen Tragödie gegenüber einer neuen, anders denkenden
Schule zu verteidigen.
1) Es waren dies die Tragödien: „Themistocle", „Nitocris, reine de Ba-
bylone", und die Tragikomödien: „Dinamis, reine de Carie-* und „Anaxandre"
XL
Die Bühne und die Aufführungen.
Wir haben die Entwicklung des französischen Theaters aufmerksam
verfolgt; aber unsere Darstellung wäre unvollständig, wenn wir seine
äußeren Verhältnisse unberücksichtigt lassen wollten. Ein dramatisches
Werk kann in seiner wahren Bedeutung nur erkannt werden, wenn es,
seiner Natur entsprechend, lebendig dargestellt wird. Je mehr es wirk-
lich dramatisch gedacht und gearbeitet ist, umso nachdrücklicher ver-
langt es auf der Bühne selbst, seine Kraft zu erweisen, und diese
Forderung ist doppelt gerechtfertigt, wenn die Dichtung einer früheren,
uns schon fremd gewordenen Epoche angehört. Wir mögen uns noch
so sehr in das Studium der tragischen Werke längst vergangener Zeiten
vertiefen, wir werden ihnen nie das volle Verständnis abgewinnen,
solange sie nicht von der Bühne herab zu uns gesprochen haben. Erst
das lebendige Wort und die Darstellung führen wahrhaft in den Geist
der dramatischen Dichtung ein, denn sie allein erlauben uns, ihren Cha-
rakter und den Eindruck, den sie ausüben kann, völlig zu erkennen.
Darum erfüllt die nationale Bühne eines Landes nur ihre Pflicht,
wenn sie die klassischen Werke ihrer Litteratur auch nach Jahrhunderten
noch durch pietätvolle Aufführungen in dem Sinn des Volkes lebendig
erhält.
In einem großen dramatischen Werk birgt sich indessen ein zwei-
facher Geist. In ihm, wie in jeder echten Dichtung, lebt, über den
Wechsel der Zeit und des Geschmacks erhaben, in ewiger Schönheit der
Geist der wahren Poesie. Daneben aber spricht aus ihm auch der Geist
des Jahrhunderts, in dem es entstanden ist. Äußere Umstände, ge-
schichtliche und sociale Verhältnisse sind von zwingendem Einfluß auf
einen Dichter, und geben seinem Werk das, was späteren Generationen
oft fremd und unverständlich darin erscheint. Die mo'dernen Auf-
führungen älterer Dramen suchen mit Recht dieses Nebensächliche, diese
fremdartige Zuthat soviel wie möglich abzustreifen, um die Größe und
Schönheit der Dichtung rein und ungemischt zur Geltung zu bringen.
Mit dieser Änderung wird sie freilich modernisiert, denn die äußeren
Verhältnisse der Bühne, die Einrichtung und Ausstattung der Scene, die
Manier des Vortrags und des Spiels sind der Mode unterworfen und
verändern sich mit jedem Jahrhundert. Es ist klar, daß eine historisch
ganz getreue Wiederholung älterer Schauspiele, d. h. ihre Darstellung
in der Weise der früheren Zeit, nicht möglich ist. Da sie von modernen
492
Schauspielern vor einem modernen Publikum aufgeführt werden, geht auch
ein Hauch moderner Auffassung und modernen Lebens in sie über.
Umso gewisser erwächst dem Literarhistoriker die Aufgabe, jene
äußeren Verhältnisse und scheinbar unwichtigen Nebenumstände zu be-
rücksichtigen. So wertlos sie beim ersten Anblick auch für das Ver-
ständnis eines Dichtwerkes erscheinen mögen, man findet bald, dass sie
oft wesentlich zur Kenntnis eines Dichters beitragen. Was anfangs
vielleicht als unbegreifliche Eigentümlichkeit eines Mannes erschien, das
enthüllt sich bei genauerer Betrachtung dieser äußeren Verhältnisse gar
manchmal als das Ergebnis zwingender Umstände.
Wir wollen es also versuchen, im Geist die alte Bühne wieder
aufzubauen, wie sie Corneille in den ersten Jahren seiner Thätigkeit
kannte. Denn auch in diesen Äußerlichkeiten unterschied sich das
Theater der späteren Zeit, die Bühne Racines, vielfach von dem Theater,
auf welchem zuerst der „Cid" und „Polyeucte" gespielt wurden. Wenn
es gelingt, eine lebendige Anschauung der alten Bühne mit ihren uns
so seltsam anmutenden Einrichtungen zu geben und die damalige Weise
des dramatischen Spiels deutlich zu machen, so ist das ein großer
Gewinn. Dann ist der richtige Hintergrund gefunden, auf dem sich
die Helden und Heldinnen Corneilles deutlich abheben und in ihrer
wahren Natur erkennen lassen.
Wir haben schon früher Gelegenheit gefunden, die Einrichtung
eines Theaters und die Art der Aufführungen während der ersten Jahr-
zehnte des 17. Jahrhunderts zu schildern. \) Seitdem hatten sich die
äußeren Verhältnisse nur langsam geändert.
Bei den wandernden Truppen zumal war alles noch wie zuvor;
wir haben das aus der „Comedie des Comediens" von Scudery gesehen
und auch Scarrons „Eoman comique" belehrt uns zur Genüge darüber,
der Provinz wäre, dürfen wir uns doch hier nicht weiter damit ab-
geben. Daß aber auch in Paris die Schauspielhäuser noch nicht viel
So interessant indessen eine Betrachtung des Schauspielerlebens in
für die Schönheit und Bequemlichkeit gethan hatten, beweist ein im
Jahr 1643 erschienenes Buch von Sorel („La maison des jeux).-) Der
Verfasser beschreibt darin ausführlich die verschiedenen Gesellschafts-
spiele und andere Arten der Unterhaltung. Dabei spricht er auch vom
Eoman und vom Schauspiel. Den ersteren verurteilt er entschieden;
über den Wert des zweiten läßt er einige Freunde streiten. Einer der-
selben, Ariste, erhebt sich gegen die Regellosigkeit der Stücke und
tadelt die Theatersäle. Die Galerien mißfallen ihm besonders, weil man
die Schauspieler dort nur von der Seite sehe. Das Parterre sei wegen
1) Siehe I. Teil dieses Werks, Abschnitt X, S. 189 ff.
2) La maison des jeux, oü se treuvent les divertissemens d'une Com-
pagnie, par des narrations agreables et par des jeux d'esprit et autres entretiens
D'une honneste conversation. A Paris 1643, chez Nicolas de Sercy. 2 Bände.
Der Name des Verfassers. Sorel, ist auf dem Titel nicht genannt.
493
des Gedränges sehr unbequem. Eine Menge Strolche mische sich dort
unter die anständigen Leute, um Streit anzufangen, nach dem Degen
zu greifen und die Vorstellung zu stören. Ariste klagt, dass diese
Menschen im Theater schwatzen, pfeifen und unaufhörlich schreien. Da
sie umsonst eingelassen würden und nur kämen, um die Zeit tot-
zuschlagen, so hätten sie nicht das mindeste Interesse an dem aufzu-
führenden Stück. Diese Beschwerden sucht sein Freund Hermogene als
unbegründet zurückzuweisen, wobei er die Theater und die neuen
dramatischen Dichtungen verteidigt. Früher sei das Hotel de Bour-
gogne allerdings nur eine Stätte für grobe und kunstlose Gaukler
gewesen, die ihr Publikum mit der Trommel eingeladen und nur den
Pariser Pöbel als Zuschauer gehabt hätten. Nun aber sei es anders.
.,Jetzt haben wir berühmte Schauspieler, welche von dem König und
dem Prinzen unterstützt werden, und welche ernste, tüchtige Stücke
aufführen, Stücke, welche das keuscheste Ohr anhören kann und die des
strengsten Philosophen würdig sind".^)
Die dramatischen Aufführungen, welche bei festlichen Gelegen-
heiten dem Hof und dem hohen Adel geboten wurden, waren allerdings
mit besonderer Pracht ausgestattet. Aber das eigentliche Theater war zur
Zeit, da Corneille seine Hauptwerke schuf, noch nicht viel eleganter ein-
gerichtet, als es unter Alexandre Hardy gewesen war. Der Geist freilich,
der in dem Hause waltete, hatte sich in der kurzen Zeit unverkennbar
veredelt, und das war die Hauptsache.
Eine ganz besondere Beachtung erheischt die scenische Einrichtung
der älteren französischen Bühne.
Während man in England noch zu Shakespeares Zeit eigentliche
Dekorationen nicht kannte, sondern in einem von Teppichen geschlossenen,
vom Publikum rings umgebenen Raum spielte, und somit der Ein-
bildungskraft freiesten Spielraum ließ, ging man in Frankreich einen
andern Weg und folgte mehr dem Vorbild Italiens. Der künstlerische
Sinn des italienischen Volkes suchte auf der Bühne auch für das Auge
Befriedigung und verlangte von der scenischen Einrichtung gefällige
Bilder. So hatte man in den italienischen Theatern bald schöne Deko-
rationen, künstliche Maschinerien und fein ausgesonnene Verwandlungen,
kurz, eine reiche Ausstattung der Scene. In solcher Umgebung konnte
man Frauenrollen nicht von jungen Männern spielen lassen, sondern
öffnete bald auch Künstlerinnen den Zugang zur Bühne. Wir haben
schon erzählt, mit welcher Begeisterung man in Frankreich die ersten
italienischen Schauspielergesellschaften, welche zu Gastspieleu über die
Alpen kamen, begrüßte. ^) Bald eiferten die heimischen Komödianten
den fremden Künstlern nach, und gingen auch ihrerseits in die Fremde,
ihre Geschicklichkeit zu zeigen. Im Jahr 162U wagte sich eine
fi-anzösische Truppe nach London, und versprach sich von dem Auf-
1) La maison des jeux. Band I. Drittes Buch. S. 400 ff. — S. 421 ff.
über das Theater.
2) Siehe I. Teil dieses Werks, Abschnitt X, S. 176 ff.
494
treten einiger Künstlerinnen, die zu ilir geliörten, besonderen Erfolg.
Allein ihre Erwartungen wurden grausam getäuscht. Die puritanischen
Lehren hatten in England bereits die Oberhand gewonnen. Jedes
Maskenspiel und jede dramatische Ergötzung wurde von den Eiferern als
eitel Trug und sündhafte Gaukelei verdammt. Die französischen Schau-
spielerinnen wurden ausgezischt und gröblich insultiert, ihr Auftreten als
ein unverzeihlicher Verstoß gegen den Anstand verschrieen.
Nicht minderes Ärgernis gab wenige Jahre später, 1633, eine
andere französische Gesellschaft, die über den Kanal kam; der bekannte
puritanische Agitator Prynne veröffentlichte damals seine heftige Streit-
schrift gegen das Theater, „Histriomastix", die er freilich mit dem
Verlust seiner Ohren bezahlte. Denn man fand in ihr eine Beleidigung
der Königin, die bei einem Hoffest in einem Maskenspiel mitgewirkt
hatte.')
Wenn das französische Theater sich beeilte, vieles von der Spiel-
weise der Italiener anzunehmen, auch die Frauen auf der Bühne zuzu-
lassen, so fand es dagegen mehr Schwierigkeit in der Behandlung der
Dekorationen. Großen Aufwand konnte es sich hierin vorderhand nicht
gestatten.
Bis vor kurzem hat man auf die Frage nach der dekorativen
Ausstattung der älteren französischen Bühne keine genügende Antwort
zu geben gewußt. Es war sicher, daß man zur Zeit Hardys und Cor-
neilles nicht die nötigen Maschinen und überhaupt nicht die Mittel
besaß, viele scenische Verwandlungen vorzunehmen. Und doch verlegten
die Dichter die einzelnen Scenen ihrer Stücke oft in die verschiedensten
Gegenden, und in den gedruckten Tragödien wird der Wechsel der Scene
wenigstens teilweise angegeben.^) So spielt Eotrous „Hypocondriaque".
wie wir gesehen haben, auf dem Weg nach Korinth, in einem düsteren
Wald, einem Schloß und einem Grabgewölbe. Corneilles „Illusion"
beginnt mit einer Scene in der Wildnis, vor der Höhle eines Zauberers :
die nächsten Akte spielen auf der Straße, der vierte im Gefängnis und
der fünfte führt wieder zur Höhle zurück. Der „Cid" hat offenbar als
Schauplatz abwechselnd den Palast des Königs, das Gemach der Infantin.
einen öffentlichen Platz und die Wohnung der Chimene. Wie nun hat
man sich die Einrichtung der Bühne vorzustellen, da sie den Anforde-
rungen des Dichters entsprechend verschiedene Scenerien vorstellen sollte,
und doch den Wechsel der Dekoration vermeiden mußte?
Ein Manuskript, das zu dem Archiv des „Hotel de Bourgogne"
gehörte und jetzt in der Nationalbibliothek aufbewahrt wird, giebt auf
diese Frage eine überraschende Antwort.^) Es enthält die Beschreibung
1) Vergl. Ben Jenson und seine Schule. Von Wolf Grafen von Baudissin,
Leipzig 1835, Brockhaus. Bd. 1, S. XLVI und XLVII.
') So heißt es, um ein Beispiel anzuführen, in Scuderys Lustspiel: „Le
fils suppose", Paris 16.36, chez Aug. Courbe im zweiten Akt: „la scene change";
„la scene change encore"; im dritten Akt: „la scene rechange encore", ohne
weiter anzugeben, in welcher Art die Scene wechselt.
sj „Memoire de plusieurs deeorations . . commence par Laurent Mahelot
495
der Dekorationen von 71 Stücken des alten Repertoires, und viele er-
läuternde Zeichnungen dazu. Man findet darunter die Vorschriften für
die Inscenierung von Tragödien und Tragikomödien Hardys, Rotrous,
Scuderys, Corneilles u. a. m.
Wir erkennen daraus, wie das Theater durch die Tradition wenig-
stens äußerlich noch mit den alten Mysterienspielen zusammenhing.
Denn in der Anordnung der Dekorationen findet sich noch das frühere
Princip des Nebeneinander gewahrt. Jn dem Mysterium „von dem
Leben, Leiden und Tod, von der Auferstehung und Himmelfahrt Christi",
das 1547 zu Valenciennes vor der Sanct Nikolauskirche aufgeführt
wurde, wies die außerordentlich breite Bühne zehn verschiedene Scenen
gleichzeitig und nebeneinander auf. An dem einen Ende war das
Paradies dargestellt, wo sich wahrscheinlich Gott, von der Engelschar
umringt, zeigte ; weiterhin sah man Nazareth , dann den jüdischen
Tempel, die Stadt Jerusalem, und so weiter bis zu der Hölle, die
am andern Ende der Bühne angebracht war. Die Dekorationen waren
nicht weiter voneinander geschieden. Auf dem einen breiten Hinter-
grund sah man neben der Krippe zu Nazareth einen schmalen Tempel,
daneben ein paar Häuser u. s. f. Das Spiel währte 25 Tage, während
dessen die Bühne unverändert blieb, nur daß die verschiedenen Auf-
tritte an den entsprechenden Plätzen bald vor der einen, bald vor der
andern Dekoration zur Darstellung kamen. ')
In ähnlicher Weise stellte auch das Theater zu Hardys und Cor-
neilles Zeit seine Dekorationen zusammen.
So zeigte die Bühne in Hardys „La folie de Clidamant" (um 1619)
im Hintergrund einen Palast, links als Seitendekoration das Meer mit
einem Schilf, und rechts ein schönes Zimmer, das sich öffnen und
schließen ließ, und in dem man ein Bett stehen sah. („Bien pare avec
des draps", wie das Manuskript vorschreibt.) Hardys Stück hat sich nicht
erhalten. Wol aber kennen wir Rotrous „Hypocondriaque"', und die Vor-
schriften des Manuskripts über dessen Inscenierung sind daher doppelt
interessant. Als Hintergrund sah man eine Totenkapelle, die durch zwei
große Kandelaber erleuchtet wurde, und in der mehrere Särge standen.
Die eine Seitendekoration stellte ein Schloß vor und daneben stand ein
Baum, an den im vierten Akt ein Page gefesselt wurde, während sich
auf der andern Seite ein Wald mit einer Höhle und einer Quelle zeigte.
Durch eine besondere Vorrichtung, wahrscheinlich durch einen Teppich,
war der Hintergrund, die Kapelle, verhüllt, um erst im. geeigneten
et continue par Michel Laurent en l'anuee 1673." Es war ein glücklicher
Gedanke, auf der Pariser Weltausstellung 1878 eine Exposition theätrale zu
veranstalten, und darin eine Anzahl dieser Bühnendekorationen in verkleinertem
Maßstab, aber genau nach der Angabe der Handschrift herstellen zu lassen.
Man konnte sich auf diese Weise von dem Eindruck einer solchen Buhnen-
einrichtung die beste Eecheuschaft geben.
1) Die Bühne des Mysteriums zu Valenciennes war ebenfalls in der
Exposition theätrale ausgestellt. Es standen dazu drei gut erhaltene Manu-
skripte mit Malereien zu Gebote.
496
Moment gezeigt zu werden. Damit war der erste Schritt gethan, der zu
der Kunst der scenischen Verwandlungen führen sollte; aber allerdings
war der Weg noch weit bis zu der Geschicklichkeit, mit der die heutigen
Theaterniaschinisten die Bühne beherrschen.
Auch die „Illusion" von Corneille findet sich unter den Stücken,
deren Dekoration von dem Manuskript angegeben wird. Auch hier bot
der Hintergrund das Bild eines stattlichen Palastes. Auf der rechten
Seite, vom Zuschauer aus gerechnet, erhob sich ein grüner Hügel, an
dessen Abhang mehrere Stufen zu dem Eingang einer Höhle führten.
Auf der linken Seite sah man einige Bäume, welche nach der Angabe
des Manuskripts einen Park vorstellten. Als weitere, im Stück notwendige
Requisiten, werden „eine Xacht, ein beweglicher Mond, Nachtigallen,
ein Zauberspiegel, ein Zauberstab" und einige andere Kleinigkeiten an-
geführt.
In „Lisandre et Caliste" von Du Eyer (1636) war die Dekoration
noch mannigfaltiger. „In der Mitte des Theaters", heißt es im Manuskript,
„erhebt sich das kleine Kastell aus der Rue Saint-Jacques, in der die
Fleischer wohnen. Der eine Fleischerladen hat ein Fenster, dem gegen-
über ein anderes vergittertes Fenster in dem Gefängnis zu sehen ist, so
daß Lisandre mit Caliste reden kann. Das Ganze muß im ersten Akt
noch verdeckt sein, und darf sich nur im zweiten Akt zeigen, in dem
es auch wieder verhüllt wird. Der Vorhang kann zugleich ein Schloß
darstellen.') Auf der einen Seite der Bühne erhebt sich ein Berg, auf
dessen Gipfel eine Einsiedelei steht. Aus einer zweiten Einsiedelei am
Fuß dieser Höhe tritt ein Eremit. Auf der andern Seite sieht man ein
Zimmer, zu dem man einige Stufen hinaufsteigt, und in das man von
hinten eintreten kann . . . Man braucht auch eine Nacht."
Diese Beispiele zeigen zur Genüge, wie das ältere französische
Theater die Bühnendekoration verstand. Von dem Wunsch beseelt, den
Schauplatz des Stücks schon durch die Dekoration kenntlich zu machen,
bei dem Mangel an Maschinerien jedoch in die Unmöglichkeit versetzt,
bei jedem Scenenwechsel auch die Dekorationen zu ändern, fand man
den Ausweg, alle in dem Stück vorkommenden Örtlichkeiten in einem
Gesamtbild zu vereinigen. Natürlich waren manche nur angedeutet; aber
so nur war es den Schauspielern möglich, ihr Spiel bald in die Wildnis,
bald auf eine Straße oder wohin der Dichter wollte, zu verlegen, ohne
sich mit mühsamen Verwandlungen abgeben zu müssen. Sie brauchten
sich nur beim Beginn jedes Aufzugs in der Nähe der Coulisse zu halten,
welche den Ort der beginnenden Handlung bezeichnete. Wechselte er
im Lauf des Akts, so genügte eine weitere ähnliche Andeutung von
Seiten der Künstler. Wenn der Dichter trotzdem ein Mißverständnis oder
eine Unklarheit in Bezug auf den Ort befürchtete, so trug er Sorge,
eine der Personen alsbald durch ein Wort genügende Aufklärung bringen
zu lassen. Auch hier mag Corneilles „Illusion" uns einige Belege geben.
') „La fermeture sert de palais." Otfenbar wurde eine Art Vorhang vor-
gezogen, auf dem ein Schloß gemalt war.
497
Der erste Akt spielt, wie schon gesagt, vor der Höhle des Magiers, und
gleich der Beginn der ersten Scene belehrt den Zuschauer über die Gegend,
in die er sich versetzen soll. Dorante deutet auf die Höhle und sagt:
„Der Zauberer, dem die Natur gehorcht,
Hat diese dunkle Grotte sich erwählt
Zum Aufenthalt." ')
Die folgenden Aufzüge waren auf den freien Platz vor einem Palast
und in einen Park verlegt; aber der Zuschauer wußte bereits, daß alle
Vorgänge nur als Schattenbilder zu gelten hatten, die der Magier herauf-
beschwor. Unter anderm führt eine Scene ins Gefängnis. Da aber das
oben erwähnte Manuskript bei der Anordnung der Dekoration darauf
nicht Rücksicht nimmt, darf man annehmen, daß auch hier ein Vorhang
half, der den Hintergrund verbarg. Wenn dann Clindor in Ketten er-
schien und von den Schrecken seiner Lage redete (IV, 7, 3), so ver-
stand das Publikum, wohin es sich versetzen sollte.
In ähnlicher Weise half sich Corneille auch in den anderen Jugend-
werken mit einem gelegentlichen Wort, selbst wenn die Scenerie kaum
einer Erklärung bedurfte. So heißt es in der „Galerie du Palais" gleich
zu Beginn:
„— — — Seh' ich recht,
Führt ihn sein Vater her zu uns'rer Straüe." ~)
Die Scene spielte also auf der Straße, wie auch die Dekorationen
zu beiden Seiten der Bühne genugsam andeuteten. Auch in diesem Stück
war der Hintergrund anfangs durch einen Vorhang geschlossen. Erst
in der vierten Scene des ersten Akts wurde derselbe weggezogen, und
bot dem Publikum eine doppelte Überraschung. Einmal hatte es eine
Verwandlung der Scene mitten im Akt, und dann sah es ein Bild der
eigenen Stadt. Denn der Hintergrund zeigte die Verkaufsläden in der
großen Galerie des Justizpalastes. Natürlich waren nur einzelne Buden
zu sehen, aber Käufer und Verkäufer unterhielten sich über die aus-
gelegten Gegenstände, und Dorimant fordert einen Freund zu einem Gang
durch die Halle auf.^) Ein Irrthum war also kaum möglich.
In der Tragikomödie „Les folies de Gardenie" von Pichou (1629)
stellte die Bühne auf der einen Seite eine Straße, auf der andern einen
öden Wald vor. In der ersten Scene des zweiten Akts sagt Cardenio,
daß er sich der Wohnung der Geliebten nähere : die Scene spielt also
in der Stadt. Wenn Cardenio dann im Beginn des dritten Akts ausruft,
er habe sich die öde, schreckensvolle Gegend zum Aufenthalt erkoren,
1) Corneille, „L'illlusion comique-', I, 1, v. 1 und 2:
Ce mage, qui d'un mot renverse la nature,
N'a choisi pour palais que cette grotte obscure.
2) Corneille, la Galerie du Palais I, 1, v. 21:
Si j'ai bonne vue,
Le voilä que son pcre amene vers la rue.
3) Ibid. I, 8, 2:
„Faisons un tour de salle."
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratur. 32
498
so ersteht vor dem Geist des Zuschauers alsbald das Bild einer einsamen
Landschaft.')
Im Jahr 1635 ließ Pierre Du Eyer sein Lustspiel „Les vendanges
de Surenes" aufführen, und das Manuskript der Nationalbibliothek schreibt
vor, daß man im Hintergrund auf einer von der Seine bespülten Anhöhe
das Dorf Surenes sehen müsse, und die Seitencoulissen Weinberge und
Obstgärten vorzustellen hätten.^) Der größeren Deutlichkeit halber be-
ginnt das Stück mit der Frage Philemons an seinen Freund Tirsis:
„Bist Du nur deshalb nach Surenes gekommen,
Um elend hier zu leben, oder gar
Zu sterben?"'")
Ähnlich legten die griechischen Dramatiker den Personen ihrer
Tragödien beim Auftreten einige erklärende Worte in den Mund, um
dem Zuschauer deutlich zu machen, wen er vor sich sah und in welche
Gegend er sich zu versetzen hatte.
Diese Beispiele werden genügen, das System der Inscenierung klar
zu machen.
Zu der modernen Manier, die scenischen Bilder sorgsam und bis
ins Kleinste getreu der Wirklichkeit nachzubilden, steht jene alte Weise
freilich in grellem Gegensatz. Die Kückkehr zu ihr käme dem mo-
dernen Theaterpublikum als eine Barbarei vor, und wäre in der That
unmöglich. Ob aber das heutige System der Ausstattung höher steht
und künstlerischer ist, bleibt die Frage. Das allzugroße Gewicht, das
man jetzt auf die Genauigkeit der scenischen Einrichtung legt, ist kein
gutes Zeichen. Die Bühne mag noch so trefflich gemalte Dekorationen,
noch so überraschende Maschinerien und geschmackvoll ausgedachte
Gruppierungen aufweisen, sie muß doch immer an die Einbildungskraft
der Zuschauer und ihren guten Willen appellieren. In diesem Fall aber
kommt es auf ein bischen mehr oder weniger gemalte Leinwand nicht
an, und eine einfache Dekoration, welche die Aufmerksamkeit des Zu-
schauers von der Hauptsache, der Dichtung und deren Darstellung, nicht
ablenkt, ist besser als eine Inscenierung, in welcher die Kunst des Malers
und Maschinisten Triumphe feiert, durch die aber das Schauspiel selbst
gefährdet wird. Die Dekorationsweise des älteren französischen Theaters
ist jedoch aus einem andern Grund zu tadeln. Die Zusammenstellung
der verschiedenartigsten Coulissen, das Gemisch von Architektur. Land-
1) Pichou, Les folies de Gardenie, II, 1, 59:
J'approche du legis oü ma belle captive
Abandonne aux soupirs sa passion craintive.
Ibid. III, 1, v. 9:
J'ai choisi ce desert et rhorreur de ces lieux.
2) „ mais aus deux eötes du theatre 11 faut planter de vignes, fa^ou
de Bourgogne, peintes sur du cartou taille ä jour."
^) Du Eyer, Les vendanges de Surenes, I, 1, 1:
N'as-tu quitte Paris pour venir ä Surene,
Qu'ä dessein d\ mourir ou d'v vivre ä la gene?
499
Schaft und Zimmereinrichtung macht jede einfache harmonische Anordnung
der Dekoration unmöglich und ist deshalb aus ästhetischen Gründen zu
verwerfen.
Die Einsicht in diese scenische Anordnung der alten französischen
Bühne gewährt uns Aufklärung über manche bisher unverstandene Eigen-
tümlichkeiten der Dramen jener Zeit.
Tnter anderen Verhältnissen hätte diese Weise der Dekoration
allmählich zu einer größeren Beweglichkeit des Theaters geführt: im
17. Jahrhundert mußte sie das Streben nach Eegelmäßigkeit begünstigen.
Allerdings bewahrten die Dichter bei dieser Art der kombinierten Dekora-
tionen die Freiheit ihrer Bewegung, aber sie konnten sich doch der
Überzeugung nicht verschließen, daß sie dem Publikum das Verständnis
oft erschwerten. Wenn Scudery in seiner Streitschrift gegen den „Cid'*
Corneille den Vorwurf machte, er besäße die Technik der Bühne nicht, ^J
so bezog sich derselbe wahrscheinlich auf den Scenenwechsel. Aber
Scudery wollte damit nicht tadeln, daß der Schauplatz so oft wechsle,
sondern nur, daß Corneille dem Publikum nicht klar mache, welchen
Schauplatz es sich bei einer neuen Scene vorstellen solle. Statt nun zu
versuchen, diesem Übelstand durch wirklichen Wechsel der Dekorationen
abzuhelfen, schlugen die Dramatiker den entgegengesetzten Weg ein,
und vermieden mehr und mehr, den Schauplatz wenigstens innerhalb
eines Akts zu verändern.
Wie aber kleine Umstände und scheinbar unbedeutende Einrich-
tungen oftmals nachhaltigen Einfluß auf große Verhältnisse ausüben
können, wenn sie in einem entscheidenden Zeitpunkt hervortreten, so
half auch damals eine an sich unwichtige Kassenspekulation der Richtung,
welche im Sinn der Theoretiker die strengste Einheit der Komposition
verlangte, zum Sieg.
Bei Gelegenheit eines großen Bühnenerfolgs räumten die Künstler
des „Hotel de Bourgogne" einigen Zuschauern Plätze auf der Bühne
ein. Wann dies zum erstenmal geschah, ist nicht mit Sicherheit fest-
zustellen. Aber die einmalige Vergünstigung wurde bald zur festeu Ein-
richtung, und man sah seitdem auf jeder Seite der Bühne eine, bald
auch mehrere Eeihen Sitze für das Publikum. Die Plätze waren teuer;
Moliere sagt einmal, daß sie einen halben Louisd'or kosten, ein für jene
Zeit sehr hohes Eintrittsgeld. Eine niedrige Balustrade schied sie von
den Schauspielern. Das Publikum, das sich an diesen bevorzugten Plätzen
zusammenfand, bestand meistens aus vornehmen jungen Leuten, reichen
Theaterfreunden und Gönnern, welche sich viel erlauben durften, oft in
das Spiel hineinredeten und recht störend werden konnten.-) Aber die
1) Siehe Abschnitt VI dieses Bands, S. 381 und 384.
2) Crebillon sagt in seiner „Lettre sur les spectacles": On ne savait
quelquefois, si le jeune seigneur qui allait prendre sa place, a'etait point Tamou-
reux de la piece qui venait jouer son röle. C'est ce qui donna lieu ä ce vers
„On attendait Pyrrhus: on vit paraitre un fat!"
Später fanden sich auf jeder Seite der Bühne neun Reihen Sitze, welche
durch eine vergoldete Balustrade von den Schauspielern getrennt waren. Aber
500
Sitte war in England schon recht heimisch, und hatte bei dein Fehlen
jeder Dekoration auch keinen großen Nachteil gebracht; die heutigen
Prosceniumlogen sind kaum etwas anders, als die alten Bühnensitze.
Treten heute die Schauspieler, wie das häufig geschieht, auf das Pro-
scenium vor, so spielen sie inmitten des Publikums, ohne daß es diesem
einfiele, sich darüber zu beklagen. Ja, einige neuere Theater, wie z. B.
das Pariser Opernhaus, kennen sogar Logen auf der Bühne, die vom
Publikum geschieden sind, wenn der Vorhang fällt.
Allein bei der schmalen Scene des alten französischen Theaters
hatte das Vordringen des Publikums auf die Bühne eine schlimme Folge.
Die Seitendekorationen wurden verdeckt und verloren ihre Bedeutung.
Damit wurde die kombinierte Dekoration unmöglich, und in der That
scheint sie bereits gegen die Mitte des Jahrhunderts außer Gebrauch
gekommen zu sein.
So sahen sich die Dichter genötigt, den halb widerwillig ein-
geschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Sie fügten sich der Regel von
der Einheit des Orts. Die weitere konsequente Entwicklung dieser Regel
führte mit der Zeit zu einer neutralen, fast ideellen Scene, wo sich alle
Parteien trafen und jeder Streit ausgefochten wurde. Schließlich ver-
schwand aus der Tragödie jede Beziehung auf nationale und historische
Verhältnisse, und der Pulsschlag des Lebens stockte in diesen Werken.^)
Doch diese Form des Dramas sollte sich erst später, in dem
18. Jahrhundert entwickeln. Zur Zeit Corneilles und Racines besaß das
Theater noch Freiheit und Kraft, und ließ nur in einzelnen Erschei-
nungen die Anzeichen künftiger Erstarrung erkennen.
Wie völlig übrigens die Erinnerung an die kombinierte Dekoration
selbst den Zeitgenossen schwand, beweist das Urteil, welches einer der
bekanntesten Ästhetiker des Jahrhunderts, der trockene und pedantische
d'Aubignac, über Corneilles „Cinna" fällte. Er könne nicht begreifen,
schrieb er, wie man in einem offenbar sehr belebten Saal des kaiser-
lichen Palasts sich über geheime Anschläge gegen den Kaiser besprechen
könne. Er habe nie verstanden, wie der Dichter an einem und dem-
die vornehmen und übermütigen Herren, die hier zumeist ihre Plätze fanden,,
begnügten sich nicht immer mit ihrem Sitz und versperrten oft jeden Zugang.
Darüber wäre u. a. die Tragödie „Childeric" von Morand beinahe gefallen
(173G). In einer besonders pathetischen Scene sollte ein Bote mit einem Brief
kommen, konnte aber durch die Masse der auf der Bühne stehenden Zuschauer
trotz aller Mühe nicht durchdringen. Plötzlich rief eine Stimme aus dem Par-
terre: „Place au facteuri" und die tragische Stimmung des Publikums wich
einer allgemeinen Heiterkeit. Man vergleiche die interessanten Grundrisse des
Saals der Comedie fran9aise in dem Werk „Arehitecture fran^aise" von Blondei
(Paris 1752], dann die „Notice historique sur les anciens bätiments de la Comedie
franyaise", par M. Jules Bonnassies. Paris 1867, und Ad. Jullien, „La comedie et
la galanterie au ISme siecle". Paris 1879 (Les spectateurs sur le theätre),
p. 63 ff.
1) Man vergleiche über die Pariser Theater-Ausstellung und die daran
sich knüpfenden Fragen einen Aufsatz von Francisque Sarcey in dem Feuilleton
des Journals „Le Temps" vom 23. September 1878 und einen andern von Hugo
Wittmann in der Wiener „Neuen Freien Presse" vom 1. November 1878.
501
selben Ort Cinna und Emilia von der Verschwörung gegen das Leben
des Augustus, und Augustus mit Cinna über die Ordnung des Staats
reden lassen könne. ^) D'Aubignacs Kritik erschien im Jahr 1669 in
seinem Werk über das Theater. Offenbar spielte man .,Cinna" unter
Beachtung der Einheit des Orts, und nabm der Handlung damit jeden
Charakter der "Wahrscheinlichkeit. Und doch hätte man sich erinnern
müssen, daß das Stück früher jedenfalls als an zwei Orten spielend dar-
gestellt wurde, wenn auch keine Verwandlung stattgehabt hatte. Aber
selbst Corneille vermied es, an die kombinierte Dekoration zu erinnern.
Vielleicht erschien sie ihm als barbarisch, und er begnügte sich, in
seinem kritischen Vorwort zu „Cinna" darauf aufmerksam zu machen,
daß das Stück an zwei verschiedenen Orten spiele, im Palast des Kaisers
und in der Wohnung der Emilia. „Um jene Teilung des Orts etwas zu
verbessern", schrieb er in seiner Abhandlung über die drei Einheiten,
„möchte ich zweierlei vorschlagen: einmal, daß man nie während eines
Akts wechsle, sondern nur zwischen den Akten, wie dies für die drei
ersten Aufzüge des „Cinna" der Fall ist, und zweitens, daß diese
beiden Orte nie verschiedene Dekorationen nötig hätten,
und daß keiner der beiden Orte je genannt werde, sondern daß man
nur allgemein angebe, die Scene spiele zu Paris, Kom, Lyon u. s. w."
Wie in dem System der Dekorationen, unterscheidet sich das ältere
Theater auch in der sonstigen Weise der Ausstattung, besonders in Be-
zug auf das Kostüm, von der modernen Bühne. Wir lesen wol oft, daß
man bei besonderen Gelegenheiten, bei Festvorstellungen oder der Auf-
führung neuer Stücke, von welchen man sich viel versprach, durch die
Pracht der Kostüme zu glänzen gesucht habe. Man berichtet von der
Freigebigkeit Richelieus und anderer Gönner des Theaters, welche den
Schauspielern die Mittel zu kostbarer Ausstattung gaben. Aber man darf
dabei nicht an historisch treue Kostüme denken und nicht etwa glauben,
daß die Regie des alten Theaters in einem Stück aus der römischen Ge-
schichte für Römertracht, in einer Tragödie, die im Orient spielt, für
orientalische Anzüge gesorgt habe. Die Tracht des 17. Jahrhunderts,
das Staatskleid, wie die herrschende Mode es vorschrieb, war ein- für
allemal das Kostüm, in dem der Schauspieler auftrat, mochte er einen
Heros der Mythologie wie Herkules, oder einen Pompejus, oder einen
Cid spielen.'^) Selbst Attila mußte es sich gefallen lassen, seine hunnische
Tracht gegen das vornehme Gewand des 17. Jahrhunderts zu vortauschen.
Die großen Perrücken kamen für Helden und Götter des Theaters (nicht
für die Gesellschaft) um das Jahr 1621» in die Mode. Wir wissen, daß
Mondory sich dagegen auflehnte und mit kurz geschnittenem Haar spielte,
wegen dieser Kühnheit aber auffiel und mit seiner Ansicht nicht durch-
drang.^) Daß wir diese Nichtbeachtung des historischen Charakters in
1) D'Aubignac, Pratique du theätre, p. 396.
2) Sorel, La maison des jeux, p. 453.
•') Vergl. Taschereau, Noten zu dem L Buch, Nr. 9, S. 279.
502
der Anordnung der Kostüme nicht billigen, haben wir wol kaum zu sagen.
Aber man braucht sich auch nicht über jene Weise der früheren Zeit
zu entsetzen. Auch hier vYie bei der Dekoration ist vieles Sache der
Konvention, und die großen Dramatiker der Spanier, Engländer und
Franzosen fühlten sich durch das unhistorische Kostüm, das die Schau-
spieler zu ihrer Zeit trugen, in keiner Weise beengt. Shakespeares und
Calderons Stücke wurden von den Schauspielern in der Tracht ihrer Zeit
dargestellt, und noch im vorigen Jahrhundert hat Garrick keine andere
Weise, sich zu kostümieren, gekannt. Höchstens gab man als Andeu-
tung eine leichte Zuthat zum modernen Kleid, dem römischen Krieger
einen antiken Helm oder einen Mantel, der an eine Toga erinnern konnte.
Scarron erzählt in seinem Roman von einem umherziehenden Komödianten,
der eine Nachtmütze mit verschiedenfarbigen Strumpfbändern aufputzt
und zu einer Art Turban formt. Derselbe Künstler trägt Hosen wie die
Schauspieler, wenn sie einen Helden des Altertums vorstellen.^) Mehr
noch für Äußerlichkeiten dieser Art zu thun, hielt man nicht für nötig.
Der Respekt vor der historischen Treue, der realistische Sinn der
Gegenwart kann sich schwer mit einer solchen Auffassung befreunden,
und doch fragt es sich, ob nicht die ängstliche Sorge, in jedem Punkt
dem geschichtlichen Charakter einer Zeit und eines Landes zu entsprechen,
der modernen dramatischen Poesie sehr geschadet; ob nicht die Gelehr-
samkeit den dichterischen Sinn gedrückt hat? Gerade die modernen
Werke, die ganz in Lokalfarbe getaucht sind und die Menschen der ver-
schiedensten Zeiten und Völker getreu so schildern wollen, wie die Ge-
schichtsbücher sie uns zeigen, sind gar häufig unwahr und gespreizt
bis zum Äußersten. Wo sind die modernen Römerdramen, die sich mit
Shakespeares „Julius Cäsar" oder selbst Corneilles „Horace" vergleichen
lassen? Die Helden dieser Tragödien aber trugen das spanische Kostüm,
wie es im 16. und 17. Jahrhundert in Europa getragen wurde. Die
erste Ausgabe des „Polyeucte" (1643) ist mit einer Vignette geziert,
welche den Helden des Stücks zeigt. Er ist dargestellt, wie er im Tempel
die heidnischen Idole mit einem Hammer zerschlägt, und der Zeichner
gab ihm den spanischen Wams, die kurzen, gepufften spanischen Hosen,
Handschuhe und einen Federhut. Sicherlich war er so auf der Bühne
erschienen. Noch Voltaire sah ihn in ähnlichem Anzug, nur hatte zu
dessen Zeit das spanische Kostüm der französischen Hoftracht Platz ge-
macht. Aber damals noch wie früher nahm Polyeucte seinen Hut ab,
wenn er beten wollte; noch immer zog er die Handschuhe aus, bevor
er die Hände faltete, und Sever kam mit dem Hut auf dem Kopf, wäh-
rend Felix ehrerbietig vor ihm das Haupt entblößte.^) Wenn wir in den
Ausgaben anderer Tragödien Kupfer finden, die sich in der Zeichnung
des Kostüms mehr an die historische. Wahrheit halten, darf uns das
nicht beirren. Bringt z. B. der „Scävola" des Pierre du Ryer (1647)
1) Scarron, Ptoman comique, chap. I, p. 9, edit. Victoire Fournel (Paris
1857, Jannet).
') Vergl. Voltaires Kommentar zu „Polyeucte-', IV, 3, v. 107.
503
ein Bild, welches König Porsenna, Tarquinius und Muciiis Scävola in alt-
römischer Tracht vorstellt, so können wir daraus nur schließen, daß der
Zeichner sich bei der Ausschmückung des Buchs an die Geschichte ge-
halten habe, nicht aber, daß die Schauspieler bei der Aufführung in
römischem Gewand erschienen seien.') Voltaire bringt eine ähnliche Notiz
wie über „Polyeucte" auch über die Aufführung des „Cinna". Er be-
zieht sich in seinem Kommentar auf einen Ausspruch Penelons über die
allzu prunkhafte Sprache, welche man oft in der Tragödie den Körnern
gebe, und fügt hinzu. „Der Erzbischof von Cambray hatte umsomehr
Recht, dieses falsche Pathos zu tadeln, als die Schauspieler zu seiner
Zeit diese Schwäche durch eine lächerliche Übertreibung in der Klei-
dung, der Deklamation und dem Spiel noch fühlbarer machten. Augustus
erschien in der Haltung eines Matamore; er trug eine Perücke, die
vorn bis zu den Hüften herabfiel und mit Lorbeerblättern ausstaffiert
war. Darüber trug er einen Hut mit zwei Reihen roter Federn. So von
gallischen Gauklern auf einer kleinen Bühne dargestellt, bekam Augustus
einen sonderbaren Charakter. Er setzte sich auf einen riesigen Lehn-
sessel, zu dem man zwei Stufen emporstieg, und Maxime und Cinna
saßen auf zwei kleinen Taboui'ets. Die hochtrabende Deklamation ent-
sprach vollkommen diesem Aufputz, und besonders verfehlte Augustus
nicht, auf Cinna and Maxime mit edler Verachtung herabzublicken''.^)
In Mairets „Sophonisbe" findet sich allerdings ein Vers, der für
eine größere Rücksicht auf historisches Kostüm zu sprechen scheint.
Massinissa sieht am Schluß des vierten Akts einen Soldaten herbeieilen
und fragt, was der Krieger „in römischer Tracht" bringe? Indessen ist
schon oben bemerkt worden, daß man sich, um ein besonderes Kostüm
anzudeuten, oft mit kleinen Abzeichen begnügte, und so mag es auch
dort gewesen sein. Denn daß man zur Zeit Mairets die Kostümfrage
anders aufgefaßt und die historische Wahrheit sorgfältiger zu bewahren
gesucht hätte, ist undenkbar. Wenn man das Publikum einmal daran
gewöhnt hat, auch in dieser Hinsicht eine gewisse Treue zu fordern, so
kann man nicht mehr zu der naiveren Art zurückkehren. Zudem be-
weisen uns andere Berichte über die Aufführungen von Mairets „Sopho-
nisbe", daß das Publikum damals durchaus nicht an den Realismus der
Inscenierung gewöhnt war. König Siphax erschien im Lauf des Stücks
als Gefangener in Ketten, und selbst diese schienen schon zu viel. Sie
beleidigten das ästhetische Gefühl jener Zeit. Darum riet auch Corneille
später, solche äußeren Mittel wegzulassen. „Das Gefängnis, in das ich
Ägeus werfen lasse, bietet einen unangenehmen Anblick, den ich zu ver-
^) Le Scevole de M. Du Ryer. Paris 1647, chez Antoiue de Sommavüle.
-) Voltaire, Kommentar zu „Ciuna", II, 1, v. 3. Daß noch Moliere, der
sich auch mit tragischen Rollen abgab, als Cäsar in Corneilles „Pompee" mit
einem großen Lorbeerkranz erschien, geht aus den Spottversen seiner Gegner
hervor :
Sa perruque qui suit le cöte qu'il avance
Plus pleine de laurier qu'un jambon de Mayence. . .
heißt es in dem „Impromptu de l'hötel de Conde", sc. 4, v. 24.
504
meiden rate. Gitter, welche den Schauspieler vom Publikum trennen und
mehr als die Hälfte seiner Person verbergen, haben zur Folge, daß die
Handlung schleppend wird. Manchmal läßt es sich nicht vermeiden, und
einige der Hauptpersonen müssen auf der Bühne verhaftet werden; aber
dann begnügt man sich besser damit, ihnen Wächter zu geben, welche
ihnen überall folgen und weder Schauspiel noch Handlung beeinträchtigen." ')
In „Polyeucte" diente darum der Saal, in dem sich auch die anderen
Personen trafen, zugleich als Gefängnis des Märtyrers, und seine Haft
war. wie schon früher gesagt wurde, nur durch die ihn begleitenden
Wächter angedeutet.
Im Lustspiel und in der Posse fand man solch ängstliche Rück-
sicht nicht für nötig. Die Würde eines Kunstwerks, die sich auch in
der einheitlichen Form zeigen sollte, wurde hier nicht beansprucht. Darum
erlaubten sich die Dichter des Lustspiels größere Freiheit in der Anord-
nung und dem Wechsel der Scenen. Der „Menteur" spielt an zwei ganz
verschiedeneu Orten, die nach Unterdrückung der kombinierten Dekora-
tion auch auf der Bühne durch zwei Scenerien deutlich unterschieden
wurden. Ähnlich verhielt es sich mit den übrigen Lustspielen. Daß später
das höhere Lust- und Charakterschauspiel, wie der „Misanthrope" und
„Tartufe", sich an die strenge Weise der Komposition hielt, kann nicht
überraschen. Dieselbe Freiheit, welche das Lustspiel und die Posse für
den Bau und die Haltung ihrer Stücke bewahrten, besaßen sie auch für
die Kostüme. Von der feinen, modischen Tracht der vornehmen, adeligen
Gesellschaft und der solid einfachen Kleidung des Bürgerstands bis herab
zur bunten, phantastischen Jacke des Lustigmachers fanden alle Kostüme
ihre Anwendung. Besonders in der Posse war der tollen Laune alle Frei-
heit gelassen. Und darum wurde sie auch noch längere Zeit mit der
Maske gespielt, wie ja auch die Damen unter den Zuschauern das Ge-
sicht unter einer Halbmaske verbargen. Solange die Frauenrollen durch
junge Leute dargestellt wurden, trugen diese eine Maske, was umso
weniger auffiel, als die Damen im gewöhnlichen Verkehr auf der Straße
und auf Reisen noch lange die Maske gebrauchten. Besonders wurden
die alten Dienerinnen (les nnurrices) und die Soubretten, deren Sprache
mehr als frei war, von jungen Leuten dargestellt, nachdem schon lange
Schauspielerinnen in den feineren Rollen auftraten. Daß Corneille in
seiner ,. Galerie du Palais" die gemeine „Xourrice" durch eine Zofe er-
setzte und sie von einer Schauspielerin darstellen ließ, ist schon gesagt
worden. Aber auch die Männer maskierten sich öfters auf der Bühne.
In der ,. Suite du Menteur" erzählt der Diener seinem Herrn, daß man
ihn in Paris aufs Theater gebracht habe und selbst den seligen alten
Herrn mit der Maske spiele.-) Andere, zumal die Clowns der Posse, die
durchtriebenen Diener, die in dem Kostüm der italienischen Zunni auf-
1) Comeille, „Examen" zu Medee.
2) Corneille, Suite du Menteur, I, 3, 42:
,.Votre feu pere meme est joue sous le masque*-
505
traten, puderten sich das Gesicht.^) Von Moliere wissen wir, daß er noch
den Mascarille in seinen „Precieuses ridicules" mit einer Maske gab.
Einen merkwürdigen Einblick in das bunte Treiben der Schau-
spieler hinter der Scene gewährt uns Kotrou in seinem „Saint-Genest".
Der römische Schauspieler Genest (Genesius) bespricht sich in der ersten
Scene des zweiten Akts, während er sich ankleidet und seine Rolle über-
blickt, mit dem Dekorateur und sagt ihm, daß er etwas mehr für die
Schönheit der Coulissen hätte thun sollen. In der dritten Scene sehen
wir eine Schauspielerin Marcelle, welche ihr Kostüm bereits angelegt hat
und, ebenfalls mit der Rolle in der Hand, von ihren Triumphen träumt.-)
Schließlich sei noch mit einem Wort des Vortrags und des Spiels
gedacht. Wir haben zwar nicht viel genaue Angaben über die Art.
in welcher die Schauspieler die Verse recitierten, und wie weit sie in
ihrem Spiel realistisch waren, aber soviel ersehen wir doch, daß der
Unterschied der älteren Spielweise von der neueren groß war. Es liegt
4ies in der Natur der Sache. Wie in der Beredsamkeit die Art des
Vortrags sich fortwährend ändert und der Mode unterworfen ist, so
auch die dramatische Kunst. Man spielt heute in Frankreich ganz
anders als vor hundert Jahren, sowie man damals anders auf den
Brettern redete, als man es im 17. Jahrhundert gethan hat. Dennoch
zwang der strenge Charakter der französischen Tragödie, der sich
während zweier Jahrhunderte erhielt, auch den Schauspieler, gewisse
Regeln immer zu beobachten. Die Tragödie war durch die Forderung
') Scarron, Rom. com., I, eh. 5, S. 27: „11 se farinoit ä la farce".
-) Rotrou, Le veritable Saint-Genest, II, 1. Saint-Genest zum Dekorateur
über die Dekoration:
11 est beau; mais encor, avec peu de depense,
Yous pouviez ajouter ä sa magnitic-ence,
N'y laisser rien d'aveugle, y mettre plus de jour,
Donner plus de hauleur aux travaux d'alentour,
En marbrer les dehors, en Jasper les colonnes,
Enrichir leur tirapans, leurs cimes, leurs couronnes
Mettre en vos coloris plus de diversite,
En vos carnations plus de vivacite,
Dl aper mieux ces habits, reculer ces paysages,
Y lancer des jets d'eau. refondre leurs oinbrages;
Et surtout en la toile oii vous peignez vos cieux
Faire uu jour naturel, au jugement des yeux;
Au lieu que la couleur m'en semble un peu nieurtrie.
Le decorateur
Le temps nous a manque plutot que l'industrie.
In der dritten Scene kommt Marcelle (achevant de s'habiUer et tenant
son i-üle) :
Dieux! comment en ces lieux faire la comedie?
De combien d'etonrdis j'ai la tete etourdie!
Combien, ä les ou'ir, je fais de languissans!
Par combien d'attentats j'entreprends sur les sens!
Ma Vüix rendroit les bois et les rochers sensibles;
j\les plus simples regards sont des nieurtres visibles. etc.
506
der Einheiten in gewisser Hinsicht realistisch; sie begab sich aber
durch die Behandlung des Dialogs, die eigentümliche Zeichnung der
Charaktere und die ängstliche Scheu vor jeder Handlung auf der Bühne,
kurz durch ihre ganze sonstige Haltung auf ein ideales Gebiet. Diesen
doppelten Charakter trug auch das Spiel der Künstler. Nur muß man
dabei nicht außer acht lassen, daß man im 17. Jahrhundert sich
stärkerer Nerven als heute rühmen konnte, und daß man auch im
Theater gern grelle Farben und entschiedenen Ton liebte. Noch bi&
zum heutigen Tag spricht der französische Schauspieler eine tragische
Eolle anders, als sie von einem nordischen Künstler gegeben wird.
Daran ist zum Teil schon der Alexandriner Schuld, dessen ganzer Bau
in seiner Regelmäßigkeit, seinem Tonfall und durch den Zwang der
Keime dem Vortragenden eine schwere Arbeit auferlegt, nur um nicht
in Monotonie zu verfallen. Der französische Künstler hat unendliche
Mühe, diese Klippe zu vermeiden; er sucht nach Nuancen, nach Har-
monie und Abwechslung, wo der englische und deutsche Schauspieler
den fünffüßigen jambischen Vers einfach behandeln und fast wie in
Prosa reden kann. Das französische Publikum freut sich darum auch
mehr als ein anderes an dem Klang des schön dahinrollenden Verses.
Der Schauspieler gefällt ihm, der die vornehme tragische Sprache mit
besonderer Rücksicht anf den AYohlklang behandelt, sie bald im Donner-
gang dahin brausen, bald wieder in langsamem Vortrag voll und gewichtig
ins Ohr fallen läßt, ohne daß jede Nuance der Deklamation gerade dem
Inhalt des Verses völlig entspräche. Dies ist die alte Tradition der
Tragödie, während die französischen Künstler im Schau- und Lustspiel
den natürlichen Ton bewahren und, wie bekannt, in der meisterhaften
Einfachheit und Harmonie des Spiels unübertroffen sind.
In früheren Zeiten war die ebenerwähnte Art der Recitation in
der Tragödie noch bedeutend stärker, und der Vortrag näherte sich
öfters dem Recitativ. So verspottet Moliere in seinem „Impromptu du
Versailles" die emphatische Weise der Schauspieler des Hotel de Bour-
gogne, die einem König selbst in einfachen Scenen immer einen „ton
de demoniaque" geben, und z. B. in Corneilles „Horace" Cariatius und
Camilla einander anschreien lassen ^). Wenn das noch zur Zeit Moliere&
1) Moliere, „Impromptu de Versailles", sc. 1. Moliere erzählt dort von
einem Stück, das er früher einmal zu schreiben beabsichtigt. Darin hätte er
einen Dichter und einen Schauspieler zusammenbringen wollen. Der Schau-
spieler hätte zur Probe einige A'erse aus dem „Nicomede" in einfacher Weise
vorzutragen und der Dichter ihn zu unterbrechen: „Comment! vous appelez
cela reciter? C'est se railler; il faut dire les choses avec emphase. Ecoutez-moi."
(II contrefait Montfleury, comedien de rhotei de Bourgogne )
„Te le dirai-je, AraspeV" etc.
Voyez-vous cette posture? Remarquez bien cela. La, appuyez comme
il faut le dernier vers. Voilä ce qui attire l'approbation et fait faire le brouhaha.
Mais, Monsier, auroit repondu le comedien, il me semble qu'un roi pui s'en-
tretient tout seul avec son capitaine des gardes, parle un peu plus humaine-
ment et ne preud guere ce ton de demoniaque Dann folgt eine Stelle aus
„Horace": „Voiei comme 11 faut reciter cela. (II imite MUe. de Beauchäteau,
507
der herrschende Ton auf der Bühne war, wieviel mehr muß er früher
daselbst heimisch gewesen sein ! Waren doch die Monologe deshalb
hauptsächlich bei den Schauspielern beliebt, besonders wenn sie in
Stanzenform gefaßt waren, weil sie eine schöne Deklamation erlaubten.
Wir würden heute sagen, weil man darin recht schreien konnte. Voltaire
bestätigt das in seinem Commentar zu „Horace" (III, 1). „Die Schau-
spieler verlangten damals Monologe. Die Deklamation und besonders
der Vortrag der Frauen ähnelte dem Gesang. Die Dichter waren ihnen
hierin willfährig."
Suchen wir uns nach dem Gesagten in die Vergangenheit zurück-
zuversetzen und folgen wir der Menge, wie sie sich eines schönen Nach-
mittags zur Zeit der prunkvollen Regentschaft in das Schauspielhaus
des „Hotel de Bourgogne" in der Rue Mauconseil drängt. Wol fühlen
wir uns darin anfangs seltsam befangen. Das starke Parfüm des
17. Jahrhunderts hat uns etwas Befremdendes, es betäubt uns den
Sinn. Aber wenn wir uns nur ein wenig an diese Luft gewöhnt
haben, schwindet der erste Eindruck. Eine längst versunkene Welt
ersteht vor unseren Blicken zu neuem Sein. Immer lebendiger wird
das Bild. Der von einigen Kerzen spärlich beleuchtete Saal füllt sich,
in dem Parterre steht die ungeduldige, unruhige Menge, in der Logen-
reihe nehmen vornehme Herren neben feinen Damen mit Halbmasken
Platz; auf einer besonderen Bank lassen sich die Kollegen des Verfassers,
die dramatischen Dichter und die Kritiker nieder. ^) Auf der Bühne
selbst engen auf jeder Seite einige Reihen Zuschauer den schmalen Raum
noch mehr ein, und zwischen ihnen beginnen die Künstler ihr Spiel.
Es ist das rechte Publikum für diese Stücke. Es versteht noch so
manches, was den Späteren fremd erscheint, denn es lebt noch in der
Welt der Ideen und Empfindungen, die der Dichter, wenn auch verklärt,
in seinem Werk zur Darstellung bringt. So sind Schauspieler und
Publikum durch das Bewußtsein gegenseitigen Verhältnisses, geheimer
Sympathie verbunden. Voll Spannung und nicht ohne Gefühl des Schauers
sehen wir den Brettern des „Hotel Bourgogne" wunderbare Gestalten
entsteigen. Schatten umschweben uns, Helden und Heldinnen der früheren
Zeit, die sich bald zu wirklichen Menschen von Fleisch und Blut ver-
körpern. Die tote Scene belebt sich und hallt wieder von dem Ausdruck
ritterlichen Edelsinns und zartfühlender Liebe. Bilder voll Leidenschaft
eomedienne de l'hötel de Bourgogne.) Voj-ez-vous comme cela 'est naturel et
passionne? Admirez ce visage riant qu'elle conserve dans le plus grandes
afflictions" etc.
Man vergl. ferner die Stelle aus der Schrift „Avertissement du theätre
de M. M. Montfleury pere et Als", 3 vols. (Paris 1739), mitgeteilt von Parfaict
VII, 133: „On ignoroit alors au theätre l'art de parier en i-ecitant des vers
tragiques; le spectateur etoit seduit par une prononciatiou cadencee, qui tenoit
plus du chant que de la declamation ; l'acteur ne savoit emouvoir qu'en outrant
les sentiments; la simple nature, ornee uniquement des graces necessaires pour
l'embellir sans la defigurer, eüt paru froide..."
1) Eine interessante Stelle über diese besonderen Sitze der Dichter und
Kritiker findet man in Du Ryers „Vendanges de Surenes", III, 2, 75 ff.
508
und Hoheit ziehen an uns vorüber und führen uns in ein Leben ein,
das zu dem Gebaren der heutigen Welt in vielfachem Gegensatz steht,
das uns aber durch seine bewußte Originalität den Beweis liefert, wie
berechtigt es einst gewesen ist.
Mag die spätere Kritik noch so viel an jenen Dramen aussetzen:
sie sind doch in Wahrheit der entschiedenste Ausdruck ihrer Zeit. Und
darum zündet die kräftige Eede, darum facht das zarte Wort des
Liebenden, wie die romantische That des Ritters die Begeisterung der
Zuschauer zu hellen Flammen an. Die eben noch so laute Menge im
Parterre lauscht in andächtiger Stille, um bald stürmischen Beifall durch
den Saal erbrausen zu lassen.
Die französische Tragödie ist heute tot. Aber sie hat zwei-
hundert Jahre lang gelebt und geherrscht, nicht bloß im eigenen Land,
sondern auch bei den Nachbarvölkern. Sie war eine Macht, die Be-
achtung erheischt, und die Grundlage zu dieser Größe haben Corneille
und die aristokratische Gesellschaft in der ersten Hälfte des Jahrhunderts
gelegt.
XII.
Die philosophische Arbeit.
Descartes.
Neben der Entwicklung auf dem politischen, kirchlichen und socialen
Gebiet, die auch von dem schwächsten Auge bemerkt werden konnte,
neben der unverkennbaren Wandlung im künstlerischen und litterarischen
Geschmack der Nation ging eine andere Bewegung einher, die zwar
nicht so sehr in die Augen fiel, aber deshalb nicht weniger tiefgreifend
in ihrer Wirkung war. Es ist dies die philosophische Bewegung. Die
jeweilig herrschende Eichtung in der Philosophie lehrt uns nicht allein
die innerste Gedankenwelt einer Zeit und ihre Stimmung erkennen, sie
zeigt auch deutlich den Weg, den die kommenden Generationen ein-
schlagen werden. Unbemerkt, aber umso sicherer, dringen die Lehren
der gerade geltenden Philosophie in alle Anschauungen des Lebens ein ;
sie beeinflussen die Wissenschaft, die Politik, die Litteratur. So herrschte
Kant während des vorigen Jahrhunderts in Deutschland, so machte sich
später die Lehre Hegels geltend, und welche Rolle im Leben der heutigen
Zeit der Satz Darwins vom Kampf ums Dasein spielt, ist bekannt. Darum
ist es keine müßige Frage, wenn wir nach der philosophischen Arbeit
des 17. .Jahrhunderts in Frankreich forschen. Erst wenn wir diese ver-
stehen, wird uns das Wesen der ganzen Zeit und dadurch auch der
Charakter der litterarischen Thätigkeit vollkommen verständlich. Es kann
uns nicht in den Sinn kommen, eine erschöpfende Geschichte der fran-
sösischen Philosoiphie in jener Zeit zu geben. Nur soweit sie zur Litte-
raturgeschichte gehört und diese erklären kann, darf sie hier ihren
Platz ^nden.
Die Scholastik hatte Jahrhunderte lang ihre Herrschaft bewahrt,
bis sie in der Zeit der Renaissance und der Reformation nicht mehr
genügte, und ein neuer, kräftiger Hauch das Geistesleben der Völker
erfrischte. Aber die Reformationsversuche weckten den Widerstand, und
so lang fanatisch erregte Parteien in blutigem Kampf miteinander rangen,
war an eine fortschreitende Geistesarbeit kaum zu denken. Schließlich
mußte freilich aus der allgemeinen Verwirrung und dem Haß eine
mildere Auffassung der Dinge und gegenseitige Toleranz erwachsen.
510
sowie auch die Morgensonne siegreich aus den dichten Nebeln der Xacht
emporsteigt.
"Wir haben gesehen, wie Montaigne und Charron als Kern ihrer
Lehre die Ansicht von der Unsicherheit alles Urteils aufstellten, und
einen gemäßigten Skepticismus empfahlen.')
Jedoch mit dem bloßen Zweifel mag sich die Menschheit nicht
lange begnügen. Kaum hatten die Kämpfe ausgetobt, so begann die
geistige Arbeit wieder aufs neue. Abermals wurde eine Eeformation ver-
sucht, nicht minder gewaltig und folgenschwer als die kirchliche, die
Reformation auf dem Gebiet des Denkens und der philosophischen An-
schauung.
Der alte Kampf, der die Gemüter der Men sehen von jeher be-
schäftigt und die Welt in zwei feindliche Lager spaltet, der Kampf
zwischen den Geboten streng kirchlichen Glaubens und den Forderungen
des logischen Denkens entspann sich schon unter Heinrich IV. aufs
neue. Nach den Kriegen der Liga erhob sich die katholische Kirche
wieder zu neuer Macht, und mit der Stärkung der Staatsgewalt ging
die Kräftigung der Kirche Hand in Hand. Gleichzeitig lebten aber, wenn
auch in schwachem Anfang, die philosophischen Studien wieder auf.
Eine Zeit lang standen sich Theologie und Philosophie nicht gerade
feindlich gegenüber. Doch bald wuchs die Bewegung; denn die Philo-
sophie traute sich die Kraft zu. selbständig die Wahrheit zu finden.
Freilich konnte das nicht mit Hilfe der alten Methode geschehen. In
der Erkenntnis der Natur sah man nun das Mittel, zum Ziel zu gelangen,
und diese Wendung machte eine längere Dauer des Waffenstillstands
zwischen den beiden Gewalten "unmöglich. Langsam, aber sicher bereitete
sich der Umschwung vor, und dieser noch halb verdeckte Widerstreit
erfüllte das 17. Jahrhundert. Der offene und erbitterte Kampf sollte erst
in der darauffolgenden Epoche ausbrechen.
Gleich im Beginn der neuen philosophischen Bewegung zeigten
sich zwei verschiedene Richtungen innerhalb derselben, eine sensualistisch-
skeptische und eine idealistische Schule.
Die erstere erhob sich zuerst, und wurde besonders in England
mächtig, während sie in Frankreich lange Zeit Mühe hatte, zur Geltung
zu gelangen.
Italien war auch hier vorangegangen. Schon 1565 hatte Telesio
mit seinem Werk über die Erforschung der natürlichen Ursachen den
Weg gezeigt. Giordano Bruno, der begeisterte Apostel eines reinen
Naturalismus, hatte seine Lehre mit dem Tod gebüßt (1600). England
folgte. Man wendete sich vorzugsweise der Physik zu, mit welchem
Namen man alles bezeichnete, was zur Sinnenwelt gehört, und strebte
nach der Erkenntnis der Dinge und ihres innersten Wesens.
„Daü ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau alle Wirkenskraft und Samen,
Und thu' nicht mehr in Worten kramen I"
1) Siehe Teil I dieses Werks, Abschnitt II, S. 39 ff.
511
Diese Verse, die Goethe seinem von Wissensdurst gequälten Faust
in den Mund legt, spiegeln wunderbar das Streben der englischen Philo-
sophie des 17. Jahrhunderts wieder. Im Jahr 1620 veröffentlichte Francis
Bacon sein Epoche machendes Werk, das Xovum Organon, worin er
der neuen Philosophie den Weg zeigte. Er verwies auf die Induktion
als die allein richtige Methode, die von dem einzelnen ausgeht, um sich
zu dem Allgemeinen zu erheben. Bacon lehrte, daß nur die genaue Be-
achtung vieler einzelnen Thatsachen, nur das Experiment, zur sicheren
Erkenntnis der Wahrheit führt, und wurde damit der Begründer der
modernen Wissenschaft.
Gleichzeitig mit Bacon lebte Thomas Hobbes (1588 — 1679), wenn
auch seine Hauptwerke erst lange nach dem Novum Organon erschienen.
Hobbes kam öfters nach Paris, lebte längere 2reit daselbst und trat in
regen Verkehr mit den hervorragenden französischen Philosophen Gas-
sendi, Descartes, Mersenne u. a. m. Wie er auf sie einwirkte, so erhielt
er auch lebendige Anregung von ihnen, und zum erstenmal seit langer
Zeit traten die beiden Länder, England und Frankreich, in lebendigere
geistige Verbindung. Der Verkehr sollte immer stärker werden und das
so lange feindlich abgeschlossene Inselreich von unberechenbarer Ein-
wirkung auf Frankreich werden.
Hobbes bekannte sich offen zum Sensualismus ; er lehrte, daß alle
Beobachtungen, die der Mensch machen kann, nur mit Hilfe der Sinne
vor sich gehen, daß jeder Gedanke, jede Erkenntnis des Menschen auf
der Thätigkeit der Sinne beruht. Wir können die Dinge selbst nicht
erkennen, sondern haben nur Sinneseindrücke von ihnen, welche je nach
dem Zustand unserer Sinne sich ändern. So ist unsere Erkenntnis mangel-
haft, unser Wissen schwankend. Empfinden und Denken sind nach Hobbes
nur verschiedene körperliche Vorgänge, bedingt durch Veränderungen im
Körper. Alles Leben, alles Sein beruht auf Bewegung, und der Mensch
ist einer Maschine vergleichbar, die durch bestimmte Kräfte getrieben
wird. Hobbes ist, was die Erkenntnislehre betrifft, Skeptiker, und wird
zum Fatalisten, wenn er seine Lehre auf die moralische Welt anwendet.
Die sensualistische Philosophie hatte auch in Frankreich ihre
Anhänger. Ihr Haupt war Pierre Gassendl (eigentlich Gassend), dessen
Ansehen bei seinen Zeitgenossen groß war, wenn es auch später bei dem
steigenden Ruhm seines Gegners Descartes Not litt. Gassendl stammte
aus der Provence. Er war am 22. Januar 1592 zu Champtercler bei
Digne geboren. Seine Eltern waren sehr arm, und bestimmten ihn, da
er geistige Begabung zeigte, für die Kirche. Schon In seinen jungen
Jahren erregte er Aufsehen durch sein Wissen; bald wurde er zum
Lehrer an der lateinischen Schule in Digne ernannt, und studieite neben-
her Theologie und scholastische Philosophie. Im Jahr 1617 wurde er
als Professor nach Alx berufen, wo er die aristotelische Philosophie
vortragen sollte, aber schon damals gegen sie auftrat. Die aristote-
lische Philosophie war im Lauf der Zeit so umgestaltet worden, daß von
der ursprünglichen Lehre des Gründers wenig mehr erhalten war. Gas-
sendl aber huldigte dem Skeptlcismus und sein erstes Buch war gegen
512
die Aristoteliker gerichtet/) Gasseudi fand viele Freunde, wurde später
Abbe in Digne, und Richelieu übertrug ihm 1641 eine Lehrkanzel der
Mathematik in Paris. In der Hauptstadt trat er in regen Verkehr mit
den vorzüglichsten Gelehrten und Denkern seiner Zeit, mit Hobbes, Des-
cartes, La Mothe, Le Vayer u. a. Mit Galilei tauschte er Briefe. Aber
er trat mit seinen Werken nicht hervur, sondern begnügte sich zumeist
mit dem direkten Einfluß, den er auf seine zahlreichen Schüler ausübte.
Er starb den 24 Oktober 1655, und erst nach seinem Tod wurden seine
philosophischen Hauptschriften veröffentlicht.-)
Bayle nennt in seinem „Dictionnaire historique et critique" Gas-
sendi den größten Philosophen unter den Philologen, und den größten
Philologen unter den Philosophen. Das Urteil ist nicht ohne L-onie, und
beweist, daß Bayle der Lehre Gassendis keine höhere Bedeutung zu-
schrieb. Aber wenn dies auch richtig ist, dürfen wir sie doch nicht
übersehen. Gassendi war der Vertreter einer in der ersten Hälfte seines
Jahrhunderts sehr verbreiteten Anschauung, die er in seiner Weise
mäßigend zur öffentlichen Geltung brachte. Heinrich Ritter sagt von ihm
sehr richtig in seiner „Geschichte der Philosophie" : .,Je weniger nun
Gassendi darauf Anspruch machen kann, durch eigene Erfahrungen zu
glänzen, umso geeigneter ist die Sammlung seiner Meinungen, uns ein
Bild von der Stimmung unter den philosophierenden Gelehrten zu geben,
wie sie unter den Einflüssen der Reform Bacons und ehe der Ratio-
nalismus der cartesianischen Schule durchdrang, sich im allgemeinen
gestaltet hatte. "^)
Gassendi erhob sich an dem Schluß einer langen Entwicklung. Er
stand an dem Ausgang aus der Scholastik, welche die Philosophie zu
einer Dienerin der Theologie gemacht hatte, und gänzlich konnte er
sich von den Fesseln der Lehren, die so lang geherrscht hatten, nicht
lösen. Zudem war er Geistlicher und hatte eine theologische Erziehung
gehabt. So scharfen und feinen Geistes er auch war, konnte er das
doch nie verleugnen, und er zeigte sich oft schwankend und unbestimmt.
Vor allem betonte er, daß man die religiösen und kirchlichen Fragen
völlig von der Philosophie scheiden müsse. Was die katholische Kirche
als Glaubenssatz lehre, sei unbestreitbar und über jeden Zweifel erhaben.
Damit hatten sich schon frühere Philosophen geholfen, und auch Bacon
hatte erklärt, daß die Forschung durch die Religion beschränkt bleiben
müsse.^) Ob diese Aussprüche durch die Vorsicht diktiert waren, ob sie
die innerste Überzeugung enthielten, bleibe dahingestellt. Wir können
1) „Exercitationes paradoxicae adversus Aristotelaeos" (Grenoble 1624).
■■') Syntagma philosophiae Epicuri cum refutationibus dogmatiim quae
contra fidem christianam. (Lyon 1658, 3 Bde. Fol.) — Syntagma philosophicum.
(Lyon 1658, 2 Bde.) Daneben hatte er viele Schriften mathematischen und astro-
nomischen Lihalts verfaßt.
3) H. Ritter, Geschichte der Philosophie, 10. Band, S. 566.
*) Siehe Teil I dieses Werks, Abschnitt II, S. 41. — Bacon, Interpre-
tation of nature p. 72: „Knowledge is to be limited by religion."
513
uns vorstellen, daß Gassendi, der von Jugend auf unter dem Einfluß
der Theologie stand, es für möglich hielt, den Kirchenglauben und die
Philosophie miteinander zu vereinen. Hat man doch auch bis zur heutigen
Zeit ähnliche Versuche einer Versöhnung der beiden Gegensätze gewagt.
Überall aber, wo die Rücksicht auf die Lehre der katholischen
Kirche nicht ins Spiel kam, sprach Gassendi frei und kühn. Er erklärte
sich für Epikur. dessen Atomenlehre und Ethik die Grundlagen seiner
Philosophie wurden. Dabei fand er sich in vielfacher Übereinstimmung
mit Hobbes, mit welchem er wahrscheinlich persönlich verkehrte. Seine
Erkenntoißlehre und seine Lehre von der Seele erinnern beide an die
Behauptungen des englischen Philosophen. Auch Gassendi findet, daß
jede Erkenntnis durch die Sinne vermittelt wird. Die Seele vergleicht er
mit einer leeren Tafel, auf der die Sinne niederschreiben, was sie be-
merken. Der menschliche Verstand besitzt somit nichts, was ihm nicht
durch die Sinne gegeben worden wäre. Dabei greift Grassendi auf die
Atomenlehre des Epikur und des Lucrez zui'ück. Auch Bacon und Hobbes
hatten auf die kleinsten Formen in der Körperwelt ihre besondere Auf-
merksamkeit gerichtet. Gassendi nennt die Körper, welche keine Kraft der
Natur mehr teilen kann, Atome. In ihnen sieht er das eigentlich Wirk-
liche, das wahrhaft Bestehende. Die Atome haben Ausdehnung und Form,
sonst aber keine sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften. Sie sind in fort-
währender Bewegung und bilden in immer neuem Wechsel die verschie-
densten Erscheinungen. Je nachdem sie sich zusammensetzen, bilden sie
Körper, die wir wahrnehmen können, und welche die mannigfaltigsten Eigen-
schaften besitzen. Die Wärme, das Licht, die Farbe, der Ton sind nur
durch die Zusammensetzung und Bewegung der Atome zu erklären. Die
moderne Chemie sucht, wenn auch auf anderem Weg, nach einem ähn-
lichen Ergebnis. Es ist ihr gelungen, die verschiedensten Körper als das
Resultat der Verbindung weniger Grundelemente zu erkennen, und sie
verzweifelt nicht, auch diese wenigen Elemente noch weiter aufzulösen
und ein einziges als Grundstoff aller übrigen zu finden. Das wären
dann die Atome Epikurs und Gassendis. Freilich können diese ihre Atomen-
lehre nicht beweisen, und Gassendi erklärt sie für eine „wahrscheinliche
Hypothese". Aber er tröstet sich, daß der Mensch niemals über Hypo-
thesen hinauskomme und Klarheit erst im künftigen Leben finden werde.
Denn Gassendi glaubt trotz seiner sensualistischen Lehre an die Un-
sterblichkeit der Seele. Da die Atome in steter Bewegung sind, muß
man wol fragen, woher der erste Anstoß zu dieser Beweg'ung rührt?
Da sie sich nicht von selbst in Bewegung setzen können, muß der An-
stoß von außen kommen, und Gassendi nimmt somit eine fremde äußere
Ursache aller Dinge an, mit anderen Worten Gott, der somit als der
Schöpfer der Welt erkannt wird. So wie Gassendi den Glauben an Gott
festhält, klammert er sich auch an den Glauben an die Existenz einer
unsterblichen Seele. Er unterscheidet im Menschen die vernünftige und
die tierische Seele. Letztere ist materiell, erstere unkörperlich. Auf diese
Ausführungen, die mit seiner Erkenntnislehre schlecht harmonieren,
brauchen wir nicht weiter einzugehen, zumal er selbst sagt, daß er über
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratur. -jq
514
die Frage der meüschlicben Seele nur lallend etwas Wahrscheinliches
sagen könne.
Wie Hobbes streng logisch seine Lehre ausbildete und den freien
Willen des Menschen leugnete, so hätte Gassend i, von denselben An-
schauungen ausgehend, zu ähnlichen Resultaten gelangen müssen. Die
Atomenlehre führt leicht zu einem gewissen Fatalismus. Wenn alles
Leben, alles Körperliche von der Bewegung der Atome herzuleiten ist,
die Atome aber sich nach bestimmten Gesetzen bewegen, kann von freiem
Willen der Menschen kaum noch die Rede sein. Aber Gassendi nimmt
die Lehre vom freien Willen doch in sein System auf, wenn seine Be-
weisführung auch sehr schwach ist. Der Verstand dringt, sagt er, in
seiner Erkenntnis sehr oft nur bis zur Wahrscheinlichkeit, nicht bis zur
Gewißheit vor. In solchen Fällen erhält er sich indifferent, und diese
Indifferenz erlaubt dem Menschen, zwischen zwei entgegensetzten Hand-
lungen nach freiem Willen zu wählen.
Bedeutender erscheint Gassendi in seiner Ethik, in welcher er
Epikurs Lehre von der Lust als dem höchsten Glück aufnahm und aus-
führte. Die Lust besteht aber nach Epikur keineswegs in der Befriedigung
der Sinnlichkeit, sondern in der Schmerzlosigkeit des Körpers und der
Ruhe des Geistes. Dieses Glück zu erreichen, muß der Mensch sich von
jeder Leidenschaft frei halten, von keiner Reue gequält sein. Daß diese
Lehre zum Egoismus führt, ist klar. Gassendi spricht dies auch deutlich
aus. Denn er stellt es als ein Naturgesetz auf, daß jeder sich mehr
liebe als die anderen, und daß das gesellige und staatliche Leben nur
auf einem Vertrag zwischen den Menschen beruhe, den ein jeder um
seines Vorteils willen schließe, weil er der Hilfe der anderen Menschen
bedürfe. In jener Zeit, da der Staat nach Alleinherrschaft strebte und
alles auf sich bezog, war ein solcher Protest besonders bedeutsam. Über
100 Jahre später sollte Jean Jacques Rousseau in seinem „Contrat
social" die These aufs neue behandeln, sie aber zu einer furchtbaren
AVaffe der Revolution umgestalten.
Gassendi hat zahlreiche Schüler gefunden, denn seine Lehre ent-
sprach den Anschauungen eines großen Kreises, und sie erhielt sich,
wenn auch in bescheidenem Maß, während des ganzen Jahrhunderts
lebendig. Für uns ist es weniger wichtig, seine Lehren im Einzelnen
zu prüfen, und zu erkennen, wie weit er die Philosophie Epikurs um-
bildete und den Sensualismus Hobbes annahm, worin er sich widerspach
oder schwankend schien; für uns ist wesentlich die Thatsache von Be-
deutung, daß die sensuaiistische Lehre überhaupt schon in der ersten
Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts in Frankreich auftrat. Noch gelang
es ihr nicht, eine dominierende Stellung zu erringen, denn der Geist der
Zeit widerstrebte ihr. Aber eine beträchtliche Schule erhielt sich doch,
und so fand Voltaire später den Boden vorbereitet, als er die englische
Philosophie aufs Neue nach Frankreich verpflanzte und die Herrschaft
der „Aufklärung" begründete. In der Lehre Gassendis und seiner
Freunde ersehen wir deutlich die vorbereitende Arbeit, welche die spätere
Entwicklung erleichterte. Nicht wenige Anhänsfer Gassendis haben sich
515
auch in der Litteratai'gesclüchte einen Namen gemacht, und wir werden
von einzelnen früher oder später zu reden haben. So zählten Chapelle,
der lebenslustige Gefährte Boileaus und Racines, Furetiere, der durch
seinen „Roman bourgeois", sowie durch sein Wörterbuch und seinen
Streit mit der Akademie die Aufmerksamkeit auf sich zog, zu den
eifrigsten Schülern Gassendis. Cyrano Bergerac, der stürmische und
talentvolle Führer einer eigentümlichen Opposition, von der im näch-
sten Abschnitt genauer die Rede sein wird, drängte sich Gassendi
fast mit Gewalt als Schüler auf und nahm Teil an dem Unterricht,
den derselbe seinen jungen Freunden Chapelle und Moliere erteilte.
Neben den Genannten findet man noch den Dichter Jean Hesnault,
sowie Francois Bernier, der sich später durch seine großen Reisen in
Asien einen Namen erwarb. Vor allen aber ist Moliere hier zu nennen.
Den größten Dichter Frankreichs unter seine Schüler gezählt zu haben,
ist ein Ruhmesstrahl, der auf Gassendi verklärend fällt. Die humane
Weltanschauung des Lehrers, der den Sinnen ihr Recht beließ und
sich von jeder ängstlichen Einseitigkeit fernhielt, ging auf den ge-
nialen Schüler über. Gewiß hat Moliere das Beste aus sich selbst
geschöpft, aus dem reichen Schatz seines tiefen Gemüts und seines hohen
Geistes, aber ebenso sicher dürfen wir annehmen, daß die Bekanntschaft
mit den Lehren Epikurs und das Versenken in das poesie- und gedanken-
volle Gedicht des Lucrez von höchster Wirkung auf ihn gewesen sein muß.
Lucrez galt im Kreise Gassendis ganz besonders hoch, wie die Versuche
der Schüler, ihn ins Französische zu übertragen, beweisen. Jean Hesnault
arbeitete an einer Übersetzung, verbrannte aber später auf Andringen
seines Beichtvaters die sündige Arbeit. Auch Moliere hatte eine solche
begonnen, veröffentlichte sie aber nicht und fügte nur ein kleines Bruch-
stück davon in freiester Bearbeitung in seinen „Misanthrope" ein.\) Viel
später noch hielt Fenelon es für nötig, in seinem „Traite de l'existence
de Dieu" auf Epikurs Kosmogonie zurückzukommen, und ihre Wider-
legung und somit auch der Lehre Gassendis zu versuchen.
Der sensualistischen Schule, die ihren Hauptsitz in England hatte,
und in Frankreich von Gassendi vertreten wurde, stellte sich bald eine
andere, spiritualistische Schule entgegen. Ihr Begründer war Descartes,
wol der größte Philosoph Frankreichs, gewiß einer der größten Denker
der neueren Zeit. Nur selten zeigt sich das äußere Leben eines Mannes
in so völliger Harmonie mit seinem Charakter und inneren Wesen, wie
bei Descartes. Er selbst hat uns in seinen Werken höchst anziehende
Mitteilungen über sich und sein Leben gemacht. So wenig er auch dabei
von großen Ereignissen oder besonderen Thaten zu reden hatte, wußte er
doch seinen Schilderungen einen besonderen Reiz dadurch zu geben, daß
er uns in die innerste Werkstätte seines Geistes blicken ließ, und durch
seine Biographie einen Schlüssel zum Verständnis seiner Lehre gab.
1) „Le misanthrope", II, sc. 4. Eliantes Rede über die Verblendung der Lie-
senden. Das Manuskript ist später von der Witwe Molieres um 600 L. an den Buch-
händler Barbin verkauft worden. Dieser wagte nicht, es dann drucken zu lassen.
Vgl. J. Loiseleur, Les points obscurs dans la vie de Moliere, Paris 1877, S. 49.
33*
516
Rene Descartes stammte aus einem alten vornehmen Geschlecht.
Sein Vater war Parlamentsrat in Rennes, aber Rene erblickte das Licht
der Welt auf einem Gut zu La Haye in der Touraine am 31. März 1596.
Er war das dritte Kind, und seine Mutter erlag bald nach seiner Ge-
burt einem Brustleiden. Ihre zarte Xatur war auf ihn übergegangen,
und er mußte mit großer Vorsicht und Schonung behandelt werden.
Mit acht Jahren (1604) wurde er der königlichen Erziehungsanstalt zu
La Fleche in Anjou übergeben. Heinrich IV. hatte sie gegründet und
der Leitung der Jesuiten anvertraut. Hundert Söhne adeliger Familien
sollten darin Aufnahme finden und allseitig ausgebildet werden. Der
junge Descartes gehörte bald zu. den besten Schülern. Je schwächer
sein Körper erschien, desto mehr überraschte er durch die Kraft seines
Geistes. Dabei verriet er schon frühe die methodische Richtung seines
Verstands. Er lernte nicht allein mit großer Leichtigkeit, er prüfte
auch den Wert des Gelernten und kam dabei zu besonderen Ergebnissen.
Er hat sich darüber selbst ausgesprochen, und was er sagt, ist so schön,
daß seine eigenen Worte hier folgen mögen :
„Ich glaube darin viel Glück gehabt zu haben", sagte er in seinem
.Discours de la methode", „daß ich schon seit meiner Jugend mich auf
auf solchen Wegen angetroffen, die mich zu Betrachtungen und Grund-
sätzen führten, aus denen ich mir eine Methode gebildet, und durch
diese Methode meine ich das Mittel gewonnen zu haben, um meine Er-
kenntnis stufenweise zu vermehren, und sie allmählich zu dem höchsten
Ziel zu erheben, welches sie bei der Mittelmäßigkeit meines Geistes und
der kurzen Dauer meines Lebens erreichen kann . . ."'M
Was ihm die Schule bot, befriedigte ihn wenig. Xur in der Mathe-
matik fand er genügende Klarheit und Ordnung, und nur sie schien ihm
mit einer sicheren Methode zu arbeiten. Die anderen Wissenschaften
konnten nicht, wie die Mathematik, mit solcher Gewißheit die Wahrheit
ihrer Sätze behaupten, und darum gewann ihn die letztere. „Von Kind-
heit an bin ich für die Wissenschaften erzogen worden, und da man
mich glauben machte, daß durch sie eine klare und sichere Erkenntnis
alles dessen, was dem Leben frommt, zu erreichen sei, so hatte ich eine
außerordentlich große Begierde, sie zu lernen. Doch wie ich den ganzen
Studiengang beendet hatte, an dessen Ziel man gewöhnlich in die Reihe
der Gelehrten aufgenommen wird, änderte ich vollständig meine Ansicht.
Denn ich befand mich im Gedränge so vieler Zweifel und Irrtümer, daß-
ich von meiner Lernbegierde keinen andern Nutzen gehabt zu haben
schien, als daß ich mehr und mehr meine Unwissenheit entdeckt hatte
Und ich war doch in einer der berühmtesten Schulen Europas, wo es nach
meiner Meinung, wenn irgendwo auf der Erde, gelehrte Männer geben
mußte. Ich hatte dort alles gelernt, was die übrigen dort lernten, und
da mein Wissensdurst weiter ging als die Wissenschaften, die man uns
I
1) Kuno Fischer, Geschichte der neueren Philosophie, I, Band Descartes
und seine Schule, 1. Teil, 2. Auflage, Anhang S. 4, München 1868. Bassermann.
Die Citate aus den Descartes'schen Schriften sind alle der trefflichen Über-
setzung entnommen, welche Fischer in dem „Anhang" gegeben hat.
517
lehrte, so hatte ich alle Bücher, so viel ich deren habhaft werden konnte,
durchlaufen, die von den anerkannt merkwürdigsten und seltensten
Wissenschaften handelten. Dabei wußte ich, wie die anderen von mir
urteilten, und ich sah, daß man mich nicht für weniger hielt, als meine
Mitschüler, obwol unter diesen einige dazu bestimmt waren, an die
Stelle unserer Lehrer zu treten. Endlich schien mir unser Jahrhundert
ebenso reif und fruchtbar an guten Köpfen, als irgend ein früheres.
So nahm ich mir die Freiheit, alle anderen nach mir zu beurteilen und
zu meinen, daß es keine Wissenschaft in der Welt gebe, die so wäre,
als man mich ehedem hatte hoffen lassen."^)
Descartes prüft dann den Wert der einzelnen Wissenschaften, der
Theologie, Philosophie, Philologie, der Medicin und der Rechtswissen-
schaft, und kommt zu dem bitteren Schluß, daß sie sowol wie die anderen
Zweige des Wissens niemals zur Wahrheit führen, daß es aber gut ist,
sie sämtlich geprüft zu haben, um ihren richtigen Wert zu kennen
und sich vor Täuschung zu bewahren. „Und sehe, daß wir nichts wissen
können!" Diesen Schmerzensruf Fausts hören wir auch von Descartes.
Auch er hatte jene qualvolle Krisis durchzukämpfen, in der ihm alles,
was er bis dahin hoch geschätzt hatte, zusammenbrach; wo seine Ideale
sanken und ihm die ganze Welt als ein eitel leeres Trug- und Gaukel-
spiel erschien. Auch ihm wollte schier „das Herz verbrennen". Descartes
sagt nichts von seinen inneren Kämpfen, weil es dort, wo er von seiner
Methode spricht, wol am Platze war, zu zeigen, auf welchem Weg er
sie gefunden, nicht aber, unter welchen Mühen er diese Bahn ge-
gangen war. Er liebte es nicht, persönlich hervorzutreten, und nichts
lag ihm ferner als Eitelkeit. Er fährt darum einfach in seiner Darstellung
fort: „Deshalb gab ich das Studium der Wissenschaften vollständig auf,
sobald das Alter mir erlaubte, aus der untergeordneten Stellung des
Schülers herauszutreten. Ich wollte keine andere Wissenschaft mehr
suchen, als die ich in mir selbst oder in dem großen Buch der Welt
würde finden können, und so verwendete ich den Eest meiner Jugend
auf Eeisen, um Höfe und Herren kennen zu lernen, mit Menschen von
vei'schiedener Gemütsart und Lebensstellung zu verkehren, mannigfaltige
Erfahrungen einzusammeln, in den Lagen, in welche das Schicksal mich
brachte, mich selbst zu erproben, und was sich mir immer darbot, so
zu betrachten, daß ich einen Gewinn davon haben könnte. So befreite
ich mich allmählich von vielen Irrtümern, die unser natürliches Licht
verdunkeln und uns weniger fähig machen, auf die Vernunft zu hören.
Nachdem ich einige Jahre darauf verwendet hatte, auf solche Weise in
dem Buch der Welt zu studieren, und mit aller Mühe Erfahrungen zu
erwerben, entschloß ich mich eines Tags, ebenso in mir selbst zu
studieren, und alle Kräfte meines Geistes aufzubieten, um die Wege
zu finden, die ich nehmen mußte. Und dies gelang mir nun, wie ich
glaube, weit besser, als wenn ich mich nie von meinem Vaterland und
meinen Büchern entfernt hätte."
') Siehe ,.Discours" a.
518
Um sich einen solchen Lebensgang vorzeichnen zu Icönnen, muß
man freilich in einer völlig unabhängigen Stellung sein. Descartes be-
fand sich in dieser glücklichen Lage. Im Jahr 1613 ging er nach Paris,
um sich dort in der vornehmen Gesellschaft auszubilden. Allein die Kreise,
in die er trat, sagten ihm nicht zu. Die jungen Leute seines Standes
hatten andere Interessen, andern Sinn. So verschwand er plötzlich aus
ihrer lärmenden Schar und niemand wußte zu sagen, was aus ihm ge-
worden war. In der Vorstadt Saint-Germain hatte er ein Haus gemietet
und dort verbrachte er zwei Jahre in der Einsamkeit, hauptsächlich mit
mathematischen Studien beschäftigt. Als man ihn endlich wieder auf-
fand und in die Gesellschaft zurückführte, wahrte er doch seine ernste
Weise. Da er viel Musik hörte, kam er auf den Gedanken, die Gesetze
der Musik zu untersuchen. Aber lange hielt es ihn nicht mehr in Paris.
Er wollte die AVeit sehen und legte deshalb auf einige Zeit das Soldaten-
kleid an. Fischer sagt mit Recht, daß nur dem Soldaten damals die Welt
offen gestanden habe. So darf es uns auch nicht wundern, wenn wir
Descartes einmal im protestantischen, dann im katholischen Lager finden.
Daß er Soldat wurde, war bei ihm weder Sache des Glaubens, noch
Abenteuerlust, sondern Wissensdurst. Im Jahr 1617 trat er zunächst
als Freiwilliger in die Armee des Oraniers ein. Der Waffenstillstand, der
gerade herrschte, erlaubte ihm, sich mit den Ingenieurarbeiten, haupt-
sächlich der Befestigungskunst zu beschäftigen. Aber nach einiger Zeit
trieb es ihn weiter. Er ging 16 li» nach Deutschland und wohnte in
Frankfurt der Wahl und Krönung Kaiser Ferdinands II. bei. Dann trat
er wieder als Freiwilliger in das ba3'rische Heer ein. Auch hier kam
er anfangs nicht dazu, den Krieg in seiner Wirklichkeit zu sehen. Die
Bayern bedrohten zunächst Württemberg und bezogen, da diplomatische
Unterhandlungen begannen, im Winter 1619 — 1620 ihre Quartiere an
der Donau. Descartes verbrachte so einige stille Monate in Neuburg an
der Donau, und hier scheint er in seiner geistigen Arbeit sehr gefördert
worden zu sein. Denn fortwährend beschäftigte ihn die Frage nach der
Wahrheit und dem Wesen der Dinge. Den 10. November 1619 bezeich-
nete er in seinem Tagebuch als den glücklichen Tag, an dem er eine
wunderbare Entdeckung gemacht habe, und man wird wol nicht irren,
wenn man annimmt, daß er damals den Ausgangspunkt für sein philo-
sophisches System gefunden hat. Im Frühjahr 1620 rückte er mit den
Bayern in Böhmen ein und wohnte wahrscheinlich der Schlacht am
Weißen Berg bei, schloß sich im folgenden Jahr den Kaiserlichen an
und machte unter Boucquoi den Feldzug in Ungarn gegen Bethlen Ga^or
mit. Nach dem Tod des Feldherru, welcher in demselben Jahr bei Neu-
häusel fiel, gab Descartes das Soldatenleben auf und beschloß, auf einem
Umweg durch Norddeutschland und Holland nacli Paris zurückzukehren.
Er durchzog Brandenburg, Pommern, Mecklenburg, schiffte sich in Emden
ein und wäre unterwegs ein Opfer der Matrosen geworden, wenn er nicht
durch seine Kaltblütigkeit ihre Mordpläne vereitelt hätte. Im Februar
1623 kam er endlich wieder nach Paris zurück. Noch hatte er nichts
veröffentlicht und doch stand er als Mathematiker im höchsten Ansehen.
519
In Paris fand er viele Freunde, besonders unter den Gelehrten. Ein Jugend-
freund, der Klostergeistliche Mersenne, der sich in der Wissenschaft einen
geachteten Namen erworben hatte, stand ihm besonders nahe. Aber die
Verhältnisse scheinen ihm doch mißfallen zu haben. Er verkaufte seine
Güter in Poitou, um sich ganz unabhängig zu machen, und ging dann
über Florenz nach Eom. Im Jahr 162;") fluden wir ihn wieder in Frank-
reich. Während der Belagerung von La Rochelle schloß er sich dem Ge-
folge Ludwigs XIII. an, denn die großen Belagerungsarbeiten inter-
essierten ihn mächtig. Aber immer und überall blieb er, seinem Plan
getreu, nur Beobachter. Er selbst sagt von seinen Wanderjahren: „Wäh-
rend der ganzen Zeit that ich nichts, als bald da, bald dort in der
Welt umherzuschweifen, indem ich in den Komödien, die dort spielen,
lieber Zuschauer als Akteur sein wollte, und da ich bei jeder Sache ganz
besonders darauf achtete, was sie bedenklich machen und uns Anlaß zur
Täuschung geben könnte, so schaffte ich im Lauf der Zeit aus meinem
Geist alle Irrtümer mit der Wurzel fort, die sich ehedem hier ein-
geschlichen hatten. Nicht daß ich deshalb die Skeptiker nachgeahmt hätte,
die nur zweifeln, um zu zweifeln, und immer unentschieden sein wollen,
denn meine Absicht war im Gegentheile darauf gerichtet, mir Sicherheit
zu verschaffen, und den schwankenden Boden und Sand bei Seite zu
werfen, um Gestein oder Schiefer zu finden". ■*) Den Ernst seines Strebens
betont noch mehr, wenn er etwas weiter sagt: „So lebte ich nun nach
außen ganz wie die Leute, die nichts zu thun haben, als ein angenehmes
und harmloses Leben zu führen ; die sich bestreben, ihre Vergnügungen
von den Lastern zu trennen, und die, um ihre Muße zu genießen, ohne
sich zu langweilen, alle ehrbaren Zerstreuungen mitnehmen. Doch unter
dieser Außenseite ließ ich nicht ab, in meinem Plan vorwärts zu schreiten
und in der Erkenntnis der Wahrheit vielleicht mehr zu gewinnen, als
wenn ich nie etwas anders gethan hätte, als Bücher lesen und mit Ge-
lehrten umgehen."
Die Freunde hatten die große geistige Kraft Descartes' schon längst
erkannt. Gewiß hatte er in ernsten Gesprächen schon manchen seiner
kühnen Gedanken mitgeteilt und die Grundzüge des neuen Systems, das
ihn beschäftigte, angedeutet. Aber er hatte geradezu Scheu vor der Öffent-
lichkeit, und es bedurfte der eindringlichen Vorstellungen seiner Freunde,
um ihn zu dem Entschluß zu bringen, seine Ideen niederzuschreiben. In
Paris schien ihm dies unmöglich; er mußte einsam und ungestört sein,
wenn er sich in seine Gedankenwelt versenken und seine Ansichten in
vollendetem Ausdruck klar und bestimmt hinstellen wollte. So zog er
sich 1629 nach Holland zurück, wo er unerkannt leben und ohne Stö-
rung sich in seine Studien vertiefen, jederzeit aber, wenn er anregende
Gesellschaft wünschte, unter gebildete Menschen treten konnte. War doch
Holland durch die Bildung und den Kunstsinn seiner Bewohner, den
Schwung des Handels, den Reichtum der Städte ebenso bekannt, wie
durch den freiheitlichen, männlichen Sinn seiner Bürger. Descartes ver-
') Siehe „Discours", Kap. III, S. 27.
520
lebte nun eine Reihe von Jahren in diesem Land und schrieb hier die
wichtigsten Werke. Dabei wechselte er häufig seinen Wohnort. Er lebte
eine Zeit lang in Amsterdam, in Utrecht, in der Abtei Eginond. zu
Leyden und in dem nahegelegenen Schloß Endegeest, zu Franecker und
Leuwarden in Friesland, zu Harderwijk in Geldern und noch an manchem
andern Ort, der in der Geschichte seines Lebens weniger wichtig ist.
Was er im Geist bisher ausgearbeitet hatte, das wollte er nun in ein
System geordnet niederschreiben. Er stellte sich die Aufgabe, die Wahr-
heit zu erforschen und das Geheimnis alles Seins aufzuklären, soweit
«lies möglich ist. So viele hatten das schon vor ihm versucht und waren
gescheitert. Die Erfolglosigkeit der früheren Bestrebungen erkannte Des-
cartes zunächst in den mangelhaften Methoden der Forschung, die man
vor ihm angewendet hatte, und so war sein erstes Bestreben, eine bessere
Weise der Untersuchung zu finden. Das führte ihn bald auf eine ganz
neue Bahn. Im Jahr 1629 vollendete er in Franecker seine „Medita-
tiones de prima philosophia". In ihnen findet sich bereits seine Haupt-
lehre dargestellt. Er geht darin von dem Punkt aus. auf den sich die
Sensualisten gestellt hatten, daß er seine Wahrnehmungen durch die
Vermittlung der Sinne empfangen hat, und daß die Sinne sich täuschen
können, daß sie also keine absolute Gewißheit verschaffen. Dann aber
geht er gleich einen entschiedenen Schritt weiter. Er will einmal an
allem, was er früher glaubte, zweifeln, an den einfachsten Wahrheiten
der Mathematik, wie an der Existenz Gottes. Alle Meinungen, die er
bisher für wahr gehalten, will er einmal als Gebilde der Phantasie be-
trachten. „So will ich denn annehmen, daß nicht der allgütige Gott die
Quelle der Wahrheit sei, sondern irgend ein böser und zugleich sehr
mächtiger und listiger Dämon, der alle seine Kunst daran gesetzt habe,
mich in Irrtum zu stürzen. Ich will meinen, Himmel, Luft. Erde, Farben.
Formen, Töne und alles, was ich außer mir wahrnehme, seien Trug-
bilder der Träume, mit denen jener böse Geist meiner Leichtgläubigkeit
nachstellt. Ich will mich selbst so betrachten, als ob ich weder Augen,
noch Fleisch, noch Blut, noch irgend einen Sinn in Wahrheit, sondern
alle diese Dinge nur in der Einbildung hätte." ^) Doch wie Arcliiuiedes
nur einen festen Punkt verlangte, um die Erde aus ihren Angeln zu
lieben, so rettet Descartes seine Welt, indem er in dem Wirbel dieses
scheinbar allumfassenden Zweifels eine Überzeugung findet, die ihm sicher
und unerschütterlich ist. Der Mensch mag sich noch so sehr und noch
so oft täuschen, niemals wird er, solange er überhaupt denken kann,
denken, daß er selbst nicht sei. So gelangt Descartes zu dem Funda-
mentalsatz seiner Philosophie: „Der Satz: ich bin, ich existiere, ist in
dem Augenblick, wo ich ihn ausspreche oder denke, vollkommen wahr.'"-)
Davon ausgehend, fragt nun Descartes weiter, wer er ist, nachdem
er sich versichert hat. daß er ist. Auch hier will er alles entfernen,
was irgendwie bezweifelt werden kann, selbst die Merkmale der körper-
1) Meditationes, 1. Betrachtung, S. 78.
2) Ibid. 2. Betrachtung, S. 81.
521
lieben Xatur, selbst die Empfindungen, die Bewegungen. Denn aucb im
Traum glaubt man vieles zu sehen und zu empfinden, was doch der
Wirklichkeit nicht entspricht. So kann alles von uns als zweifelhaft ab-
getrennt werden. „Das Denken allein kann von meinem Wesen nicht
abgetrennt werden, ich bin, ich existiere: dieser Satz ist gewiß." . . .
„Jetzt lasse ich nichts gelten, als was notwendig wahr ist. Also ich
bin streng genommen ein denkendes Wesen, d. h. ein Wesen, welches
zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will, auch einbildet und
empfindet . . . Ich sehe Licht, ich höre Geräusch, ich fühle Wärme —
das alles ist falsch, denn ich schlafe. Aber daß ich mir einbilde zu
sehen, zu hören, warm zu werden, das kann nicht falsch sein."
Um zu beweisen, daß wir nicht die Körper, die wir sehen und
betasten, am deutlichsten erkennen, führt Descartes ein Beispiel an. Er
hat ein Stück Wachs vor sich, das kurz zuvor der Honigscheibe ent-
nommen worden ist. Es hat noch etwas von dem Honiggeschmack, von
dem Duft der Blumen; es ist kalt und hart. Doch es kommt dem Feuer
nahe, verändert seine Gestalt, verliert seine Härte, verändert die Farbe,
<Ien Duft und wird zuletzt flüssig. Es ist noch dasselbe Wachs und
doch etwas ganz anderes. Und so kann es unzählige Formveränderungen
erleiden. Wir können es uns also nicht vorstellen, wir können es
bloß denken, d. h. wir haben die geistige Einsicht, aus welchen Be-
standteilen es gebildet ist. Der Sprachgebrauch beirrt uns hier. Wir
pflegen zu sagen : wir sehen das Wachs, wenn es vorhanden ist, und
sagen nicht: wir urteilen aus der Farbe oder der Figur, daß es vor-
handen sei. Noch drastischer ist ein zweites Beispiel. Menschen gehen
auf der Straße vor meinem Fenster vorüber. Ich sage, der Gewohnheit
gemäß: ich sehe Menschen vorübergehen. Was aber sehe ich anderes,
als Hüte und Kleider, unter denen auch Puppen stecken könnten? Daß
CS Menschen sind, urteile ich. Und so erfasse ich. was ich mit den
Augen zu sehen wähne, lediglich durch die Urteilskraft meines Geistes.
Auch die Körper werden nicht eigentlich von den Sinnen, sondern bloß
vom Denken wahrgenommen. Ich nehme sie wahr, nicht weil ich sie
betaste oder sehe, sondern weil ich sie denke.
So ist Descartes, von dem Skepticismus ausgehend, zur Gewißheit
gelangt, und im geraden Gegensatz zu den Sensualisten ist die Existenz
des Geistes für ihn das allein Wahre und Sichere. Wenn er aber gewiß
ist, daß er selbst existiert, so fragt er nun weiter, was dazu erforderlich
ist, daß er einer Sache gewiß werde. Und er findet das Kriterium der
Gewißheit darin, daß er eine klare und deutliche Einsicht in diese Sache
habe. „Alles, was ich klar und deutlich einsehe, ist wahr.'' So kann er
an der Wahrheit des Satzes, daß zwei und drei zusammen fünf sind,
nicht zweifeln, so wenig wie an dem Satz, daß jedes Quadrat vier Seiten
hat. Damit ist wieder ein fester Boden gefunden, und Descartes geht
nun abermals weiter und untersucht die Frage, ob ein Gott ist, und wenn
er ist, ob er ein Lügengeist sein kann.
Um hierüber zur Klarheit zu kommen, prüft er zunächst die Natur
seiner Vorstellunsren. Er kommt dabei zu dem Satz, daß niemals ein
522
Etwas sich aus dem Xichts entwickeln kann, daß jedes Etwas die
Wirkung einer erzeugenden Ursache ist. Ein Stein, der nicht vorhanden
war, kann nur entstehen, wenn er von Etwas hervorgebracht wird, das
entweder ebensoviel oder mehr in sich enthält. Etwas, das nicht warm
war, kann nur von einem Wesen erwärmt werden, das Wärme hat. So
ist es auch mit den Ideen. Eine Idee kann als Ursache nur Etwas
haben, was zum mindesten ebenso viel Realität in sich hat, als diese
selbst. Die Idee der Körper ist in unserer denkenden Natur enthalten :
unser eigenes Wesen hat mehr Realität als die Vorstellung eines Korpers.
Diese Ideen können also von uns gebildet werden. Aber eine Idee giebt
es, die nicht von uns hat hervorgebracht werden können, die Gottesidee.
Wir sind endliche Wesen und unvollkommen, so können wir die Ursache
dieser Idee von einem vollkommenen Wesen nicht sein. Diese Idee kann
uns nur von einem Wesen eingegeben worden sein, das die Fülle der
Vollkommenheit in sich hat. Von allen Ideen, die wir besitzen, ist diese
aber die klarste, und sie hat mehr objektive Realität, als jede andere.
So giebt es folglich keine Idee, an der man weniger zweifeln könnte.
Descartes fragt weiter, wie er zu der Idee von Gott gekommen sei?
Aus den Sinnen hat er sie nicht geschöpft, noch ist sie ihm daraus
unwillkürlich gekommen. Auch hat er sie nicht selbst gebildet, nicht
erdichtet, denn er kann nichts von ihr abnehmen, ihr nichts zufügen.
Sie ist ihm vielmehr angeboren, wie die Idee der eigenen Persönlichkeit.
Daraus aber, daß wir die Idee eines vollkommenen Wesens in uns haben,
folgt mit Sicherheit, daß dieses vollkommene Wesen existieren muß. Der
vorzüglichste Beweis dafür liegt aber in dem Begriff von Gott selbst.
Denn zu dem Begriff des vollkommenen ewigen Gottes gehört die Existenz.
Fehlte diese, wäre die Vollkommenheit nicht erreicht.
Mit diesem Resultat hat Descartes viel gewonnen. Wenn Gott voll-
kommen ist, ist er auch wahrhaftig. Wenn er wahrhaftig ist, kann er
die Menschen nicht zum Irrtum erschaffen haben. Betrügen wollen ist
ja ein Zeichen der Bosheit. Wir Menschen wissen, daß wir zwar dem
Irrtum ausgesetzt sind, aber wir sind nun auch gewiß, daß wir nicht
irren können, wenn wir ein Objekt klar und deutlich erkannt haben.
Somit fließt aus der Gewißheit von der Existenz Gottes jede andere Ge-
wißheit.
Die weiteren Ausführungen Descartes' können wir noch kürzer
behandeln, da sie zwar in der Geschichte der Philosophie zum Teil sehr
wichtige Folgen hatten, aber auf die Geistesrichtuug des 17. Jahrhunderts
weniger Einfluß ausüben konnten. Nachdem Descartes die erwähnten
Sätze festgestellt hat, geht er weiter zur Erforschung der Dinge und
sucht die Naturphilosophie zu begründen.
Aus der Gottesidee ergiebt sich ihm die Lehre der beiden Sub-
stanzen, der denkenden Substanz, des Geistes, und der körperlichen
Substanz, der Materie. Substanz ist nach seinem Ausdruck, was zu seiner
Existenz keines anderen bedarf. Im höchsten Sinn ist daher nur Gott
Substanz. Aber im weiteren Sinn nennt er Substanzen alle Dinge, die
zu ihrer Existenz nur der Mitwirkung Gottes bedürfen. Jede Substanz
523
hat ein Attribut, das ihr Wesen ausmacht. Die Materie hat als Attribut
die Ausdehnung, denn alles, was sonst noch vom Korper ausgesagt
werden kann, setzt die Ausdehnung voraus. Das Attribut des Geistes
ist das Denken. Sein Wille ist frei, Descartes betont dies ausdrücklich.
„Ich kann mich nicht beklagen, daß der Wille oder die Willensfreiheit,
die ich von Gott erhalten habe, nicht weit und vollkommen genug sei,
denn in der That, ich mache die Erfahrung, daß dieses Vermögen frei
ist von allen Schranken."') Er steht damit wieder in offenem Gegensatz
zu den Sensualisten, die mehr und mehr zur Leugnung des freien
Willens gedrängt werden. Nach der Ansicht von Descartes haben Geist
und Körper nichts miteinander gemein. Sie sind wol aneinander ge-
bunden, aber ihre Vereinigung ist nur mechanisch; der Leib ist eine
Maschine, zu der die Seele noch hinzutritt. Der Körper ist seiner Natur
nach teilbar, der Geist ist es nicht. Die logische Folgerung aus diesen
Sätzen ist denn auch die Überzeugung, die Descartes an anderer Stelle
ausspricht, daß die Tiere, die keine Vernunft, d. h. keinen Geist haben,
nur Maschinen, also ohne wirkliche Empfindung sind.-)
Descartes muß diese Ideen schon reif in seinem Geist gehabt
haben, dem er schrieb seine „Meditationes" in raschem Zug nieder.
Noch im Jahr 1629 konnte er, wie gesagt, die Vollendung seiner Arbeit
melden. Aber er scheute vor der Veröffentlichung zurück. Zuvor wollte
er noch ein anderes Werk beendigen, das den praktischen Beweis liefern
sollte, was man überhaupt mit seiner Methode erreichen könnte. Er
plante ein großes naturwissenschaftliches Werk, das er „Le monde"
betitelte, und das eine Eeihe physikalischer Arbeiten über das Licht, die
Himmelskörper, die Erde, die Ebbe und Flut, die Winde u. s. w.
enthalten sollte. Drei Jahr lang arbeitete er an seinem Buch, von
1630 — 1633, bis er endlich seinem vertrauten Freund Mersenne die
Vollendung auch dieses Werks melden konnte. Schon hofften die Pariser
Freunde, daß sie die lang ersehnten Arbeiten, von welchen sie sich Großes
versprachen, im Druck erhalten würden. Da hielt Descartes aufs neue
ein, und schrieb von seiner Absicht, seine Papiere samt und sonders zu
verbrennen. Die Veranlassung zu dieser überraschenden Meinungsänderung
lag in der traurigen Kunde, welche ihm aus Rom zugegangen war. Im
Jahr 1632 war Galileis Dialog über die Weltsysteme des Ptolemäus und
Kopernikus erschienen, und darin die Wahrheit der kopernikanischen
Lehre nachgewiesen worden. Es ist bekannt, durch welche Mittel der
greise Gelehrte zum Widerruf gezwungen wurde. Die Nachricht davon
wirkte erschütternd auf Descartes. Wenn die Lehre des Kopernikus und
des Galilei falsch sei, schrieb er an Mersenne, so sei auch seine Philo-
sophie irrig, denn sie gründe sich auf jene. Nun war Descartes nichts
weniger als streitlustig. „Bene vixit qui bene latuit" galt ihm als eine
goldene Weisheitsregel, und am wenigsten wollte er Ärgernis und Anstoß
geben. So ließ er sein Manuskript liegen, und hat es später wahr-
1) Meditationes, 4, Betrachtung, S. 114 ff.
2) Discours de la metbode, K;ip. V.
524
scheinlich verloren. In seinem Nachlaß fand sich nur ein kleiner Abriß
des Werks „Le monde", der auch im Jahr 1664 gedruckt worden ist.
Dennoch konnte er nicht immer schweigen. Er hatte zu viel zu
sagen, und war von der Wahrheit dessen, was er gefunden hatte, doch
zu fest überzeugt, als daß er nicht schließlich dem Andringen seiner
Freunde nachgegeben hätte. Einem Philosophen muß die Diskussion seiner
Ideen doch am Herzen liegen. Aber Descartes verötfentlichte nicht zuerst
seine „Meditationes". sondern ein anderes AVerk, das er mittlerweile
geschrieben hatte. Im Jahr 1636 hatte er seine „Essais philosophiques"
beendet, und diese ließ er als sein erstes Werk 1637 erscheinen. Sie
bezeichnen einen wichtigen Moment in der Geschichte der Philosophie,
wie in der Entwicklung der französischen Sprache. Unter den „Essais"
befand sich auch der „Discours de la methode^S jene unvergleichliche
Schrift, welche eine Umwälzung in der Philosophie herbeiführte und die
klassische Prosa der Franzosen begründete. Der ., Discoars" war in fran-
zösischer Sprache geschrieben. \) Schon diese Neuerung war kühn für
ein philosophisches Werk, aber noch kühner war es, daß Descartes darin
die herkömmliche dunkle, von philosophischen Schulausdrücken strotzende
Beweisführung aufgab und sich an das große gebildete Publikum wen-
dete. Genau betrachtet, entwickelt er darin nicht seine Methode, son-
dern er spricht nur über sie. Die „Meditationes", die er 1641 zuerst in
lateinischer, dann in französischer Sprache folgen ließ, ergänzen und
erweitern die Beweisführung des „Discours". Beide Schriften sind schwer
voneinander zu trennen. Sie sind in ihrer Weise einzig in der philo-
sophischen Litteratur. „Man erwartet", sagt Kuno Fischer, „bei der
ersten Schrift eine Methodenlehre und findet diese in Form einer Lebens-
geschichte ; man erwartet bei der zweiten eine metaphysische Unter-
suchung und empfängt diese in der Form von Konfessionen."-) Im „Dis-
cours" erzählt Descartes, wie er zu seiner Methode kam. In dem ersten
Abschnitt spricht er von seinen Erfahrungen auf der Schule und seinem
weiteren Bildungsgang. Wir haben einige der wichtigsten Stellen daraus
schon mitgeteilt. In dem zweiten Abschnitt erzählt Descartes dann aus-
führlich, welche Regeln er für seine Methode, und wie er sie ge-
funden hat. Es waren hauptsächlich vier einfache Gesetze' deren Beob-
achtung er sich zur Pflicht machte. Er nahm sich vor, niemals eine
Sache als wahr anzunehmen, die er nicht deutlich als wahr erkannt
hätte; jede Schwierigkeit, die er untersuchen wollte, in so viel Theile
zu zerlegen als möglich; die Gedanken richtig zu ordnen, mit den ein-
fachsten Objekten zu beginnen und stufenweise zur Erkenntnis der
höchsten aufzusteigen ; endlich, so vollzählige Aufzählungen und so voll-
ständige Übersichten zu machen, daß er sicher wäre, nichts auszulassen.
Im dritten Abschnitt wendet er, gleichsam zur Probe, diese Methode
auf einige Regeln der Sittenlehre an, und beschäftigt sich im letzten
1) Allerdings hat er sein Buch fast gleichzeitig ins Lateinische übersetzt.
um es den Gebildeten anderer Länder zugänglich zu machen.
-■; K. Fischer, Geschichte der neueren Philosophie, Band I. Anhang, S. IX.
525
Absclmitt mit Gott und der menschlichen Seele. Darin giebt er dieselbe
Beweisführung, wie in seinen „Meditationes", die ja schon geschrieben,
wenn auch noch nicht veröffentlicht waren. Der Satz der letzteren : „Ich
bin, ich existiere" wird in dem „Discours" nur noch schärfer gefaßt
und lautet: ,.Je pense, donc je suis. Cogito, ergo sum".
Wenn Descartes seine naturwissenschaftlichen Untersuchungen nicht
veröffentlicht hatte, um nicht gegen die Kirchenlehre zu verstoßen, so
glaubte er sich für seine beiden philosophischen Schriften der Billigung
seitens der Kirche sicher. Schloß er doch seine „Meditationes" mit den
Worten: „Dazu müssen wir unserem Gedächtnis als oberste Regel ein-
prägen, daß die göttlichen Offenbarungen zu glauben sind als unter allen
Wahrheiten die sichersten. Und wenn auch das Licht der Vernunft uns
auf das Klarste und Einleuchtendste etwas anderes darzubieten den Schein
hätte, so ist doch das göttliche Ansehen glaubwürdiger als unser eigenes
Urteil. Aber in den Dingen, worüber die Religion nichts lehrt, darf der
Philosoph nichts für wahr gelten lassen, das er nicht als wahr ein-
gesehen hat, und wenn er den Sinnen mehr Glauben schenkt, so heißt
dies so viel, als den unbedachten Urteilen des kindischen Alters mehr
trauen als der reifen Vernunft." ') Descartes ging sogar noch weiter und
unterwarf sein Buch der kirchlichen Zensur, die es auch unbeanstandet
ließ. Erst 22 Jahre später erkannte man in Rom, welche Gefahr seine
Philosophie für den Glauben in sich barg, und setzte die „Meditationes"
auf den Index. Einwendungen blieben freilich auch gleich bei dem Er-
scheinen nicht aus, so z. B. von Hobbes, von Antoine Arnauld, dem
späteren Haupt der Jansenisten, und Gassendi, mit welchem Descartes
sogar in eine Fehde geriet, die teilweise in gereiztem Ton geführt wurde.
Im Jahr 1644 erschien bei Elzevir in Amsterdam das dritte Haupt-
werk, die „Principia philosophiae", welche eine Darstellung des ganzen
Systems geben und eine Erweiterung der schon früher entwickelten Ideen
enthalten.
Die „Principia" zerfallen in vier Bücher, von welchen die beiden
ersten die Lehre von der menschlichen Erkenntnis und den Körpern,
d. h. die Metaphysik und Naturphilosophie, enthalten. Das dritte und
vierte Buch handelt von der sichtbaren Welt und von der Erde. Er
schrieb dieses Werk, getragen und ermutigt von dem großen Erfolg seiner
früheren Schriften, in der Ruhe des schönen Schlosses von Endegeest, wo
ihm der Umgang mit der geistvollen Prinzessin Elisabeth von der Pfalz
besonders wertvoll war. Elisabeth war die älteste Tochter -des Winter-
königs von Böhmen, Friedrich von der Pfalz. Geboren 1»)18, stand sie
damals in der Blüte ihrer Jahre und war eine begeisterte Schülerin Des-
cartes'.^) Ihr sind auch die „Principia" gewidmet. Ebenso schrieb Des-
cartes für sie 1645 die „Briefe über das menschliche Glück" und 1649
1) „Beweisgründe für das Dasein Gottes und der Unterschied der Seele
vom Körper, nach geometrischer Methode geordnet" (§. 7G).
^) Sie starb 1680 als reichsfürstliche Äbtissin der Lutherischen Abtei
von Herforden in Westfalen.
526
seine Abhandlung „Über die Leidenschaften der Seele". Diese Zeit war
die glücklichste seines Lebens.'') Im Anfang seiner „Meditationes" sagt
er: ^Die Gegenwart ist mir günstig. Ich habe mein Gemüt befreit von
allen Sorgen, habe eine ungestörte Muße gewonnen, lebe einsam in der
Einsamkeit und werde mich nun ganz mit ernstem und freiem Geist
meiner Aufgabe widmen". Sein Euhm war durch die ganze Welt ver-
breitet, und besonders groß war er in Frankreich und Holland. Allein
was er ahnend vorhergesehen, sollte sich nun auch erfüllen. Mißgunst.
gekränkte Eigenliebe und Fanatismus reizten manche, aus ihrer beschau-
lichen Ruhe aufgestörte Philosophen der alten Schule zu einem erbit-
terten Krieg gegen ihn. Hämische Gegner fand er zumeist an den Uni-
versitäten zu Utrecht und Leyden. Es kam zu unerquicklichen Streitig-
keiten, Schmähschriften wurden gegen ihn verbreitet und Descartes sah
sich genötigt, zu antworten, niedere Intriguen zu durchkreuzen, elende
Verleumdungen zu widerlegen. Mehr als einmal war selbst seine persön-
liche Sicherheit bedroht, obwol der Prinz von Oranien ihm seinen Schutz
versprach und der französische Gesandte sich seiner annahm. Bitter be-
reute er, das Glück des unbekannten, aber friedlichen Lebens freiwillig
aufgegeben und vor die Öffentlichkeit getreten zu sein. In einem Brief
vom 1. November 1646 au seinen Freund Chanut, der als Gesandter
nach Stockholm gegangen war. schrieb er: ,.Wäre ich so klug gewesen,
als nach dem Glauben der Wilden die Affen sind, so würde kein Mensch
der Welt wissen, daß ich Bücher schreibe. Die Wilden nämlich, so sagt
man, bilden sich ein. daß die Affen sprechen könnten, wenn sie wollten,
sie thäten es aber absichtlich nicht, damit man sie nicht zu arbeiten
zwinge. Ich bin nicht so klug gewesen, das Schreiben zu lassen: darum
habe ich nicht mehr so viel Ruhe und Muße, als ich durch Schweigen
behalten hätte. Indessen der Fehler ist einmal gemacht, ich bin von
zahllosen Schulnachtretern gekannt, die meine Schriften schief ansehen
und von allen Seiten mir zu schaden suchen, . . " -) _Ein Pater hat mich
des Skepticismus beschuldigt, weil ich die Skeptiker widerlegt habe; ein
Prediger hat mich als Atheisten verschrieen, weil ich versucht habe, die
Existenz Gottes zu beweisen. Was würden sie erst sagen, wenn ich den
wahren Wert aller Dinge, die man begehrt oder verabscheut, unter-
suchen wollte, den Zustand der Seele nach dem Tod, bis zu welchem
Grad wir das Leben lieben dürfen und wie wir beschaffen sein müssen,
um den Tod nicht zu fürchten ! Und wenn meine Ansichten noch so sehr
dem religiösen Glauben gemäß und dem Staat nützlich wären, so würde
man mir nach beiden Seiten gerade die entgegengesetzten Meinungen
auf den Hals reden. Darum halte ich für das Beste, überhaupt keine
Bücher mehr zu schreiben und mit Seneca zu sagen: Der Tod ist eine
schwere Last, wenn man stirbt, allen bekannt, nur sich selbst nicht.
Ich will nur noch für meine Selbstbelehrung arbeiten und meine Ge-
danken im Privatgespräch mitteilen."
^) Tgl. Foucher de Careil, Descartes et la priucesse palatine. Paris 1862.
2) Descartes, Oeuvres, t. X, p. 413. Siehe auch K. Fischer, S. 240.
527
Pedanterie und Fanatismus haben uns, wie aus diesen Worten
hervorgellt, um manche Arbeit gebracht, die an Tiefe gewiß nicht den
früheren nachgestanden hätte. Allerdings verfaßte er noch einige be-
deutsame Schriften, aber nicht für die große Öffentlichkeit, und es fehlte
der Anstoß, der ihn dazu gebracht hätte, seine weiteren Ideen aufzu-
y.eichnen. Mit der Zeit wurde ihm der Aufenthalt in dem freien Holland
unerträglich. Schon im Jahr 1646 war er, einer Aufforderung der Königin-
Regentin folgend, nach Paris gegangen. Man hatte ihn eingeladen, seinen
Wohnsitz in Paris zu nehmen, und ihm ein Jahrgehalt versprochen.
Allein als er 1648 wieder nach Paris kam, wurde er zwar sehr ehren-
voll empfangen, doch fehlte es an Geld, ihn zu bezahlen, und die Fronde,
die bald darauf ausbrach, machte alle Aussichten auf ein friedliches und
angenehmes Leben in seinem Vaterland zu nichte. So kehrte er wieder
nach Holland zurück. Bald jedoch erhielt er eine neue Einladung. Die
Königin Christine von Schweden, die seit 1644 die Regierung persön-
lich führte, hatte sich in die Schriften des Philosophen vertieft und
nahm die „Principia" selbst auf ihre Reisen mit. Chanut wurde oft
berufen, sie zu erläutern. Eines Tags geriet sie auf den Gedanken,
sich direkt an Descartes zu wenden. Im Geist der Zeit und dem Ge-
schmack der vornehmen Welt entsprechend, ließ sie ihn um Beantwor-
tung der Fragen bitten, worin das Wesen der Liebe bestehe; ob die na-
türliche Erkenntnis uns schon lehre, Gott zu lieben, und endlich, was
schlimmer sei, das Unmaß der Liebe oder das Unmaß des Hasses? Des-
cartes antwortete darauf in einem ausführlichen Brief vom 1. Februar
1647 an Chanut,^) in welchem er zunächst das Wesen der Liebe be-
sprach und eine rein intellektuelle und eine leidenschaftliche, sinnliche
Liebe unterschied. Die erstere scheint ihm dann zu entstehen, wenn
unser Geist ein gegenwärtiges oder entferntes Objekt bemerkt, dessen
Besitz uns Freude macht und dessen Verlast uns Schmerz bereitet. Zu
diesen Gefühlen der Freude und des Schmerzes kommt noch der Wunsch
nach dem Besitz, und so verbindet sich mit der Liebe noch Freude,
Schmerz und Verlangen. In allen diesen Änßei'ungen des Willens
herrscht Klarheit, denn die Erkenntnis des gewünschten Objekts ist klar
und rein intellektuell. Allein die Seele ist mit dem Körper verbunden,
und so entsteht ein unklares, sensitives Verlangen, die sensuelle oder
sensitive Liebe, die aber häufig mit der intellektuellen verbunden ist.
Wahrhaft lieben kann man also nur wirklich, was man verstehen kann.
Gott ist aber zu hoch erhaben über der Menschennatur, als daß man
sich sein Wesen klar vorstellen könnte. Darum wundert sich Descartes
nicht, daß einige Philosophen behaupten, nur die christliche Religion
mit dem Mysterium der Menschwerdung Gottes könne uns Liebe zu Gott
einflößen. Descartes will glauben, daß man Gott auch ohne diese Lehre
lieben kann; er will jedoch nicht behaupten, daß eine solche Liebe ohne
die „Gnade" noch verdienstlich sei. Darüber mögen die Theologen ent-
scheiden. Ihm ist nur klar, daß die Liebe zu Gott die mächtigste und
') Oeuvres, publ. par V. Cousin, t. X, S. 3—22.
528
nützlichste aller Leidenschaften sein kann. Die ddtte Frage beantwortet
Descartes dahin, daß das Unmaß der Liebe jedenfalls gefährlicher sei
als das Unmaß des Hasses. Auf diese letztere Ausführung werden wir
später noch einmal zurückkommen, wenn wir von dem Einfluß Descartes'
auf den Geist seiner Zeitgenossen zu reden haben. Hier sei nur bemerkt,
daß Kuno Fischer den Brief ein kleines Meisterwerk nennt, ,,ein wirk-
liches Kabinetstück, bei dem jeder Kenner des Philosophen, der von dem
Verfasser und der Veranlassung der Schrift nichts wüßte und bloß den
Ganc der Untersuchung, die Art der Ideen, die Wahl der Ausdrücke
beachtete, sogleich sagen würde: ein echter Descartes. Es giebt keine
zweite Schrift so geringen Umfangs, woraus dieser Denker besser zu er-
kennen wäre, vorausgesetzt, daß man zwischen den Zeilen eines Philo-
sophen zu lesen versteht".') Offen gestanden, behagt es uns nicht, daß
man bei einem Philosophen zwischen den Zeilen lesen soll, statt ein
offenes Wort zu linden, und wir vermissen gerade in dieser kleinen Ab-
handlung den freien, hohen Geist, der seiner Zeit vorauseilte. Königin
Christine war jedoch mit der Antwort sehr zufrieden und stellte ihm
bald eine neue Frage. Sie wollte nun seine Ideen über „das höchste
Gut" wissen, und diesmal sandte Descartes seine Antwort direkt an die
Könic'"in (20. November 1647). Diese neue Schrift ist vielleicht weniger
philosophisch durchgearbeitet, aber sie atmet ganz den edlen Sinn, den
wir in anderen Schriften Descartes' so sehr bewundert haben. Er zeigt
sich darin als vorurteilsfreier Mann, als wahrer Weltweiser. Das höchste
Gut im absoluten Sinn sei allerdings Gott, schreibt er. Aber er wolle
r.ntersuchen, was dem einzelnen Menschen als höchstes Gut erscheinen
müsse. Es müsse das ein erreichbares Gut sein, das ganz in unserer
Alacht liege. Äußere und materielle Güter seien das nicht, ihr Besitz
hänge oft von anderen Umständen ab. Das höchste Gut könne nur in
der Erkenntnis und im Willen liegen, es könne nur geistig sein. Auch
die Königin werde ihre Krone gewiß weniger schätzen als ihre Tugend.
Die äußeren Güter könnten nicht geehrt und gepriesen werden, wenn sie
auch geschätzt werden müßten. Der Mensch sei am glücklichsten, wenn
er innerlich befriedigt sei. Das höchste Gut liege in dem richtigen Ge-
brauch des freien Willens.-)
Diese kleineren philosophischen Abhandlungen lenkten Descartes
von seinen Hauptstudien nicht ab. Er hatte die kühne Idee, durch das
Studium der vergleichenden Anatomie und durch eingehende physiolo-
o-ische Arbeiten eine genauere Kenntnis der menschlichen Seele und
fhrer Verbindung mit dem Körper zu gewinnen. Einige Schriften darüber,
die er noch in Holland ausarbeitete, erschienen jedoch erst nach seinem
Tod.^) Seine Thätigkeit war gerade in diesem letzten Jahr sehr groß.
Verfaßte er doch auch noch (1646) eine Schrift über die menschlichen
1) K. Fischer, Geschichte der neuereu Philosophie, Bd. I, S. 251.
2) Oeuvres, t. X, p. 59—64. — K. Fischer, Bd. I, S. 254.
3) „Traite de la formation du foetus", und „Traite de rhomme-*
529
Leidenschaften („Les passions de l'äme"), die aber erst 1650 in Amsterdam
bei Elzevir erschien.
Doch der Aufenthalt in Holland war ihm verleidet. Hatte er in
Frankreich nicht die erhoffte friedliche Stätte gefunden, so bot ihm nun
Christine von Schweden ein Asyl in ihrem Eeich an. Christine hatte
weit ausschauende Pläne. Vor allem sollte Descartes in ihrer nächsten
Nähe leben, aber in vollster Freiheit seinen philosophischen Arbeiten
sich widmen; er sollte eine Akademie begründen, den Vorsitz darin
führen und dadurch einen hervorragenden Einfluß auf das geistige
Leben Schwedens gewinnen. Sie versprach ihm Besitzungen in ihren
deutschen Provinzen, deren Klima mehr dem milden Himmel Hollands
entsprach. Dennoch entschloß sich Descartes nur sehr schwer zu der
Übersiedlung nach Stockholm. Seine Briefe zeigen, daß er, dessen Ge-
sundheit immer zart war, die rauhe Luft des Nordens fürchtete. Endlich
willigte er doch ein und verließ im September 1649 Holland, das ihm
so lang eine zweite Heimat gewesen war. Die Königin empfing ihn aufs
ehrenvollste. Jeden Tag mußte er bei ihr im Schloß erscheinen, um die
Lehren seiner Philosophie zu erklären und die weiteren Pläne mit ihr
zu besprechen. Aber bei alier Verehrung für ihn zeigte sich die Fürstin
doch rücksichtslos. Weil es ihr nichts ausmachte, in der Frühe auf-
zustehen, verlangte sie ein Gleiches von Descartes. In den strengen
Wintermonaten mußte er täglich morgens um 5 Uhr schon in der
Bibliothek auf die Königin warten, welche diese frühen Stunden für ihre
Privatstudien benutzte, bevor sie sich den Regierungsgeschäften widmete.
Für Descartes war diese Forderung gefährlich. Im Januar 1650 erkrankte
sein Freund Chanut an einer Lungenentzündung. Descartes pflegte ihn
treulich, ohne seine Konferenzen mit der Königin aufzugeben. Aber schon
im Februar erkrankte auch er, und nach wenigen Tagen raffte ihn der
Tod hinweg (11. Februar 1650). Er hatte das Alter von nicht ganz
54 Jahren erreicht. Im Jahr 1666 wurde die Leiche nach Paris ge-
bracht und im nächsten Jahr in der Kirche Saint-Genevieve (dem Pan-
theon) beigesetzt. So lange hatte der Widerstand der Geistlichkeit ge-
dauert, welche Descartes nicht in einer Kirche aufnehmen wollte, da
Rom seine Ansichten verurteilt hatte. Sie gab erst nach, als man zu
einer komischen Lüge Zuflucht nahm, und Descartes als den Mann hin-
stellte, welcher das Hauptverdienst an der Bekehrung Christinens zur
katholischen Religion gehabt habe!
Descartes war unvermählt geblieben. Aber er lebte seit dem Winter
1634/35 mit einem Mädchen aus Amsterdam. Über die näheren Ver-
hältnisse dieses Bunds weiß man nichts. Eine Tochter, Francine, welche
1635 geboren wurde, starb schon nach fünf Jahren, und scheint das
einzige Kind Descartes' gewesen zu sein.'')
1) Vergl. außer K. Fischers „Geschichte der neueren Philosophie" und
Cousins großer Ausgabe der Werke des Descartes noch Millet, „Histoire de
Descartes avant 1637", Paris 1867, und Millet, „Histoire de Descartes depuis
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratur. o^
530
Descartes hat eine neue Epoche in der Philosophie eröffnet. Wie
Bacon die modernen Naturwissenschaften, so hat er durch das Fallen-
lassen jeder Voraussetzung die moderne Philosophie begründet. Denn in
ihr gilt seitdem als erstes Princip, nichts mehr zuzulassen, was nicht
in loo-ischer Ausführung bewiesen werden könne. Descartes hat denn
auch die Anregung zu den verschiedensten philosophischen Systemen
gegeben. Einer seiner begeistertsten Anhänger war Xicolas Malebranche
(1638—1715), der sein System selbständig weiter ausbildete. Vor allen
aber, die weiter bauten auf der Grundlage, die Descartes gelegt hatte,
steht Baruch Spinoza (1632 — 1677), der von den Begriffen der Substanz
und der Attribute ausging, die Ideen Descartes' erweiterte und zu einer
wahrhaft großartigen Weltanschauung gelangte. Eine andere Lehre des
französischen Philosophen besagte, daß manches, was uns in der Welt
als unvollkommen erscheint, vielleicht als Teil des großen Ganzen be-
trachtet, vollkommen ist; und von diesem Gedanken ausgehend, gelangte
der große deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646 — 1716)
zu seiner ..Theodicee'". So sehen wir schon zur Genüge, welchen Einfluß
Descartes auf die verschiedensten Menschen" ausgeübt hat, und wie seine
Philosophie nicht allein in Frankreich und Holland, sondern auch in
Deutschland und den civilisierten Staaten Europas überhaupt einen
wesentlichen Anteil an der Entwicklung des geistigen Lebens gehabt hat.
Wir haben uns hier mit dem philosophischen System des Descartes nicht
eingehender zu befassen ; für uns ist es nur noch wichtig, seine Stellung
zur Litteratur und zu seinem Volk genauer zu erforschen.
Bei der Betrachtung des Mannes und seines Lebens gewinnen wir
alsbald die Überzeugung, daß wir es in ihm mit einer seltenen Er-
scheinung, einem Charakter von antik einfacher Größe zu thun haben.
Dabei erkennen wir in ihm manche treffliche Eigenschaft, welche zum
französischen Nationalcharakter gehört. Denn obwol Descartes einen
großen Teil seines Lebens im Ausland verbrachte, war und blieb er
doch ein echter Sohn seines Landes. Noch mehr, er war auch ein echtes
Kind seines Jahrhunderts, so sehr er ihm auch in vielen Punkten vor-
ausgeeilt war. Mit diesem teilte er das Streben nach Klarheit und Ord-
nung, nach schöner Form. Es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen,
daß in demselben Jahr 1636, in welchem Corneille durch seinen ,.Cid"
die poetische Sprache zur Höhe führte, Descartes seinen ,. Discours "
schrieb, in welchem zum erstenmal die französische Prosa ihre klassische
Form fand. Allerdings hatten schon früher Honore d'Urfe, Balzac und
andere den Wert einer abgerundeten Konstruktion erkannt, hatten nach
Gleichmaß und Harmonie gestrebt, und besonders Balzac hat den ßuhm
geerntet, der Vater der modernen Prosa zu sein. Über solche Ansprüche
endgiltig zu entscheiden, ist schwer. Denn die schöne Beweglichkeit und
1637", Paris 1870. Fr. Bouillier, Histoire de la philosophie cartesienne. 2. Bd.,
Paris 1854. Gerade, da diese Seiten in die Presse gehen, wird ein neues Buch
von A. Foucher de Careil: ,.Descartes, la princesse Elisabeth et la reine Chri-
von A. ioucner de Lareü: ,.L>escartes, la princesse i^i
stine, d'apres des lettres inedites" (Paris, G. BailliereJ
lugezeigt.
531
«die Form einer Sprache wird nicht mit einem Mal über Nacht ge-
funden; sie ist das Werk langer und mühsamer Arbeit. Balzac hat das
Verdienst, durch seine sorgsam gefeilten Schriften die Wertschätzung
einer schönen Prosa gelehrt und die Aufmerksamkeit auf die Form auch
in weiteren Kreisen erweckt zu haben. Wenn wir aber die Prosa dann
erst klassisch nennen wollen, wenn sie in einfacher Schönheit, _ohne
Überladung und falschen Pomp, in krystallheller Eeinheit erscheint und
die schwierigsten Fragen bei aller Gründlichkeit doch mit Anmut und
selbst mit einer gewissen naiven Grazie zu behandeln versteht, so werden
wir sagen, daß erst Descartes die klassische Prosa der Franzosen ge-
schaffen hat. Sie hat in dem ganzen Jahrhundert den Charakter bei-
behalten, den ihr Descartes gegeben, und durch welchen der Sinn der
Zeit so wunderbar zum Ausdruck gebracht wird: sie hat immer etwas
Getragenes, Abgewogenes. Wie die Tragödie bei der Schilderung der
wildesten Leidenschaft doch immer Maß zu halten weiß, so auch die
Prosa, selbst in Stellen der größten Erregung. Das 17. Jahrhundert
steht unter der Herrschaft des alten Rom, und seine Prosa liebt, nach
dem Vorbild der Lateiner, lange, freilich klare Konstruktionen.
Descartes war ein Meister der Form, wie nach ihm kein zweiter
Philosoph mehr. Er verstand es, philosophische Werke zu schreiben,
die so frei von philosophischen Schulausdrücken sind, daß sie von jedem
Gebildeten ohne weitere Vorstudien verstanden werden können. Somit
verdient Descartes gewiß einen hervorragenden Platz nicht nur in der
Geschichte der Philosophie, sondern auch in der Geschichte der fran-
zösischen Litteratur.
Merkwürdig bleibt es zu sehen, wie sehr Descartes in vielen Be-
ziehungen den Charakter seiner Zeit trug, und wie er gerade infolge
dieser Harmonie auf die Anschauungen seiner Landsleute bestimmend
einwirkte.
So hatten wir schon öfters die starke Strömung zu konstatieren,
welche zu der Aufrichtung einer autokratischen Monarchie in Frankreich
trieb. Von Heinrich IV. zu Richelieu und von Richelieu zu Ludwig XIV.
verlor sich allmählich die Selbständigkeit der einzelnen politischen Ge-
walten und verschiedenen Klassen. Der Sinn für staatliches Leben schwand
mehr und mehr. Auch Descartes bewies kein besonderes Interesse und
die Politik kümmerte ihn wenig. Als französischer Edelmann hätte er
Veranlassung genug gehabt, sich an den wichtigen Vorgängen im fran-
zösischen Staatsleben zu beteiligen. Aber wie die meisten seiner Standes-
genossen, vernachlässigte er diese Pflicht und zog es vor, ausschließlich
sich selbst und seinen Gedanken zu leben. Daß ein Mann wie Descartes,
der auf dem Gebiet der Philosophie so Großes geleistet hat, die Freiheit
haben mußte, nach seinem Gefallen zu leben, versteht sich von selbst,
und niemand wird ihm aus seiner politischen Indifferenz einen Vorwurf
machen wollen. Aber ein charakteristisches Zeichen bleibt solche Gleich-
giltigkeit dennoch. Ja, Descartes ging in dieser Richtung noch weiter.
Unähnlich darin seinen Landsleuten, scheint er sich in der Fremde
wohler befunden zu haben als in seinem Vaterland. Er war überhaupt
34*
532
streng konservativer Gesinnung, in religiöser wie in politischer Hinsicht,
und hat sich stets als rechtgläubiger Katholik gezeigt. Als er seine
Schrift „Le monde" nicht veröffentlichen wollte, weil ihn die Verurteilung
Galileis erschreckte, schrieb er seinem Freund Mersenne nach Paris :
„Um keinen Preis will ich eine Schrift herausgeben, in welcher der
Kirche auch nur das kleinste Wort mißfallen könnte". Er wollte den
religiösen Ansichten seiner Zeit in keiner Weise entgegentreten, und
ebensowenig dachte er an Keformen im Staatsleben. Wenn Corneille
einmal sagte: „Le pire des Etats, c'est l'Etat populaire", so sprach sich
Descartes für die absolute Monarchie aus. „Wenn Sparta einst ein so
blühender Staat war", heißt es im „Discours", ..beruhte das nicht auf
der Trefflichkeit jedes einzelnen seiner Gesetze im besonderen
sondern es kam daher, daß die Gesetze nur von einem Einzigen er-
sonnen und nur auf ein Ziel gerichtet waren. ■■^) Die Reform selbst des
kleinsten Übelstands begegnet im Staatsleben seiner Meinung nach den
größten Schwierigkeiten und bereitet oft ernste Gefahren. „Diese großen
Körper sind sehr schwer wieder aufzurichten"*, sagt er an derselben
Stelle, „wenn sie am Boden liegen, oder auch nur aufzuhalten, wenn
sie schwanken, und ihr Sturz ist allemal sehr schwer. Und was ihre
Mängel betrifft, wenn sie welche haben, so hat sie der Gebrauch ohne
Zweifel sehr gemildert, und sogar sehr viele davon, denen sich mit keiner
Klugheit so gut beikommen ließe, unmerklich abgestellt oder verbessert,
und endlich sind diese Mängel fast in allen Fällen erträglicher, als ihre
Veränderung sein würde. Es verhält sich damit ähnlich wie mit den
grüßen Wegen, die sich zwischen den Bergen hinwindeu und durch den
täglichen Gebrauch allmählich so eben und bequem werden, daß man
weit besser thut, ihnen zu folgen, als den geraden Weg zu nehmen, indem
man über Felsen klettert und in die Tiefe jäher Abgründe hinabsteigt.
Darum werde ich nie jene verworrenen und unruhigen Köpfe gutheißen
können, die, ohne von Geburt oder Schicksal zur Führung der öffent-
lichen Angelegenheiten berufen zu sein, doch fortwährend auf diesem
Gebiet nach Ideen reformieren wollen ; und wenn ich dächte, daß in
dieser Schrift etwas wäre, das mich in den Verdacht einer solchen
Thorheit bringen könnte, so würde es mir sehr leid sein, ihre Veröffent-
lichung zugelassen zu haben. "^)
Daß Descartes gegen den Skepticismus Front machte und die
sensualistische Philosophie bekämpfte, haben wir schon gesagt. Er ver-
trat in diesem Kampf offenbar die große Majorität der Gebildeten seiner
Zeit, wie er hinwiederum ihre Denkweise in der zweiten Hälfte des
Jahrhunderts außerordentlich beeinflußte. Man könnte sagen, daß Des-
cartes diese Epoche beherrscht, so sehr finden wir seine Ideen überall
eingedrungen, so sehr haben sie beigetragen, die früheren Anschauungen
umzuwandeln.
^) Discours de la methode.
2) Ibid., S. 15.
533
So haben wir gefunden, daß der vornehmen Gesellschaft in der
früheren Zeit Ruhm und Ehre als höchstes Ziel, als Ideal vorschwebten.
Descartes befreundete sich mit solchen Ideen nicht. Er erklärte offen,
daß er den Ruhm nicht übermäßig liebe, da er ihn für einen Feind der
Ruhe halte, die ihm über alles gehe. Dagegen nannte er in seiner Schrift
„über die Leidenschaften" die edle, große Gesinnung (.,1a generosite")
„den Schlüssel aller übrigen Tugenden und ein Hauptmittel gegen den
Taumel der Leidenschaften'".^) Und in dem Brief „über die Liebe", den
er an Chanut richtete, betonte er die Macht der Liebe, welche oft die
Menschen bessere und tugendhaft mache, selbst wenn sie maßlos und
frivol an sich sei. Die Liebe aber reiße die Menschen zu den größten
Ausschreitungen hin und könne den Nebenmenschen mehr schaden als
der Haß. Denn oft stifte der Liebende das größte Unglück entweder
selber oder lasse es wenigstens geschehen, nur um der Geliebten gefällig
zu sein. Und zum Beweis dieser Behauptung erinnert Descartes an eine
Strophe des Theophile de Viau, in der Paris glücklich gepriesen wird,
weil er Troja in Flammen gesetzt habe, um seine eigene Glut zu löschen.^)
Dieses Citat ist nicht gerade glücklich gewählt. Wenn aber Des-
cartes die Macht der Liebe betont und zugleich die edle Gesinnung, die
„generosite" und die „magnanimite", als die erste aller Tugenden preist,
so denken wir alsbald an die Richtung, welche in der Litteratur zur
Zeit Ludwigs XIV. mächtig wurde, an die Helden und Liebhaber der
Tragödie, oder die Romanfiguren, welche solchen Anforderungen vorzüg-
lich entsprachen. Xoch mehr. Descartes legt in seiner Philosophie das
Hauptgewicht auf den Geist und verachtet fast den Körper; nur was er
durch sein Denkvermögen findet, gilt ihm etwas, und er verwirft jede
Sinneserfahrung. Eine ähnliche Abwendung von der Natur und eine
mehr spiritualistische Richtung zeigen fast alle Äußerungen des Jahr-
hunderts. AVir haben schon früher gesehen, wie wenig man auf die Natur
und ihre Schönheit achtete. Daß der Mensch seine Stimmung in die
Natur, in eine Landschaft überträgt, ist allerdings erst eine Eigentüm-
lichkeit der neueren Zeit. Aber selten hat sich der Sinn eines Volkes so
1) Les passions, III, art. CLXI.
2) Lettre ä M. Chanut, Oeuvres, t. X, p. 3—22: „...Ceux qui s'adonnent
a, aimer, encore meme que leur amour seit dereglee et frivole, ne laissent pas
de se rendre souvent plus honnetes gens, et plus vertueux que s'ils occupoient
leur esprit ä d'autres pensees... L'amour uous empörte ä de plus grands exces
et nous rend capables de faire plus de mal au reste des hommes, . . . d'autant
qu'elle a naturellement plus de force et plus de vigueur que la haiae . . . Les
plus grands maux de Tamour ne sont pas ceux qu'elle commet en cette fafon
par l'entremise de la haine; les principaux et les plus dangereux sont ceux
qu'elle fait ou laisse faire, pour le seul plaisir de l'objet aime ou pour le sien
propre. Je me souviens d'une saillle de Theophile qui peut etre mise ici pour
exemple. II fait dire ä une personne eperdue d'amour:
Dieux! que le beau Paris est une belle proie!
Que cet amant fit bien,
Alors qu'il alluma l'embrasement de Troie
Pour amortir le sien.
534
sehr der Naturbeobachtung entfremdet, wie damals in Frankreich. Darum
findet sich auch in der Poesie so selten ein Wort warmen Xaturgefiihls.
Man bezog eben alles auf den Menschen. Nur ihn, nur die menschliche
Natur zu erkennen und zu schildern, erschien als eine würdige Aufgabe;
die Tiere waren ja nur Maschinen, wie Descartes lehrte, und selbst im
Kleinsten widerstrebte man dem Willen der Natur. Sowie die Allonge-
perücke zur Herrschaft kam, so wurden auch die Gärten und Parkanlagen
in steifer, architektonischer Weise angelegt.
Langsam nur fand Descartes auch in weiteren Kreisen Beachtung^
aber sein Ansehen stieg fortwährend. Wie eifrig man sich ein Menschen-
alter nach seinem Tod mit seiner Philosophie beschäftigte, sehen wir
aus vielen Äußerungen der damaligen Schriftsteller. Es kam ihr zu
statten, daß sie in so klarer und verständlicher Sprache redete. Der
Name Descartes findet sich häufig in den Briefen der Frau v. Sevigne,
welche ein so treues Bild der damaligen Gesellschaft geben. Offenbar
war die jüngere Generation kaitesianisch gesinnt. Auch als Descartes'
Name auf dem Index der verbotenen Bücher prangte, blieb Frau von
Grignan ihrem Philosophen treu und schrieb an Bussy Kabutin, sie hoffe
fest auf Descartes' endlichen Triumph, da die öffentliche Meinung oft
solche Umkehr aufweise.^) Frau von Sevigne meldet demselben Bussy,
ihre Tochter verachte die gewöhnlichen Arzneimittel und Behandlungs-
weisen; sie spotte darüber und berufe sich auf Descartes, der sie die
Anatomie lehre. „Enfin on ne mene pas une cartesienne comme une
autre personne", setzt sie hinzu.-) In vielen Briefen an ihre Tochter
bezeichnet sie den Philosophen geradezu als „votre pere"."') Frau v. Se-
vigne selbst war keine so eifrige Philosophin ; ihr heiteres, leichtes Na-
turell gestattete ihr nicht, sich in schwere Fragen einzulassen. Aber
Descartes kam ihr deshalb doch oft in den Sinn. Sie schreibt einmal
scherzend, wie sie den Badearzt von Vichy zum Studium des ., Vaters"
Descartes gebracht, und wie sie mit philosophischen Ausdrücken prunke,
die sie gelegentlich gehört habe.*) Ein andermal spricht sie ernster von
ihm und erzählt, wie ihre Freundin, die Marquise de Vins, die karte-
sianische Philosophie studiert.^) Wenn sie Frau v. Grignan ihre Sehn-
sucht schildert und ihr sagt, daß sie immer in Gedanken bei ihr sei,
so fügt sie hinzu, sie sei keine Kartesianerin und empfinde darum nur
zu deutlich, daß alles Einbildung und keine Wirklichkeit sei.'') Aber wir
sehen auch ferner, daß die Theologie sich der Lehre Descartes' bemäch-
tigte, um sie als Waffe zu gebrauchen. Frau v. Sevigne schreibt ihrer
Tochter von einem Buch, den „Conversations chretiennes", und sagt:
1) Brief vom 24. November 1678.
2) Brief vom 13. Juni 1679.
3) Z. B. Brief vom 1. Juni 1676, vom 21. Februar 1680 u. a. m.
*) Brief vom 1. Juni 1676: Je lui mets dans la tete d'apprendre la Phi-
losophie de votre pere Descartes: je ramasse des mots que je vous ai oui dire".
•^) Brief vom 26. Juni 1680.
ö) Brief vom 15. November 1688.
535
„Ich bin überzeugt, daß Du das Buch kennst, denn es enthält die ganze
Philosophie Deines , Vaters', dem Christentum angepaßt".^) Die karte-
sianische Philosophie hatte sogar unter den Kirchenfürsten ihre Anhänger,
so den Bischof Montigny von Saint-Pol de Leon, welchen die Marquise
als eifrigen Kartesianer für den Scheiterhaufen reif erklärt.-) In den
Gesellschaften wurde die neue Philosophie lebhaft diskutiert. Auf den
.,Rochers", der schönen Besitzung der Frau v. Sevigne, gab es lange
Debatten. Charles de Sevigne war Kartesianer, Graf Montmoron, ein Ver-
wandter der Sevigne, ein Gegner des Descartes und Meister im Dispu-
tieren. Da wechselte man eifrige Rede und Gegenrede; Frau v. Sevigne
selbst hörte zu und unterhielt sich vortrefflich.^) Ein andermal erzählt
sie von einer Gesellschaft, der sie in Paris beigewohnt und in der man
eifrig über Descartes gesprochen und besonders die Frage von Gott als
der Ursache aller Bewegung verhandelt habe, was darauf hinzudeuten
scheint, daß auch einige Anhänger Gassendis unter den Gästen waren. ^)
So ließe sich noch vieles anführen, um zu beweisen, wie weit die
Philosophie Descartes' in der Gesellschaft sich verbreitete und wie sehr
sie deren Gedanken beschäftigte. Einender hervorragendsten Damen
von Paris, in deren Salon sich ein großer Kreis von Aristokraten und
und Schöngeistern zusammenfand, die Marquise de Sable, galt besonders
als Kartesianerin, und später noch, in den „Charakteren" La Bruyeres,
wird die Lehre Descartes zum öfteren erwähnt, abwechselnd gepriesen
und bestritten. So polemisiert La Bruyere gegen ihn, wenn er sagt:
„Nicht jede Musik ist geeignet, Gott zu preisen und im Heiligtum ge-
hört zu werden. Nicht jede Philosophie spricht in würdiger Weise von
Gott, seiner Macht, seinen Werken und Mysterien ; je subtiler und idealer
diese Philosophie ist, desto eitler ist sie und desto weniger geeignet,
etwas zu erklären, das nur bis zu einem gewissen Grad verstanden
werden kann, zu dessen Verständnis der Mensch aber nur einen offenen
Sinn braucht. " ■')
An anderer Stelle aber, wo er von dem Schicksal der großen
Männer spricht, weist er mit Bitterkeit auf Descartes hin, von dem es
heiße: „Descartes ne Fram^ais, mort en Suede".'')
AVelches Beweises für die Verbreitung der kartesianischen Lehre
aber bedarf es noch, wenn wir finden, daß sie selbst in die Fabeln La-
fontaines drang? Der Fabulist konnte es nicht ruhig hinnehmen, daß
man seine Tiere, die er mit so viel Witz und Laune, so viel mensch-
lichen Eigenschaften und besonders Schwächen ausgestattet hatte, durch
die neue Lehre zu einfachen Maschinen herabdrücken wollte, zu Maschinen,
die wie Uhren sich bewegen, eine Stimme haben, die schreien, wenn sie
1) Brief vom 19. Juni 1680.
-) Brief vom 2. September 1671.
3) Brief vom 15. September 1680.
4) Brief vom 16. Februar 1689.
^) La Bruyere, Caracteres, ehap. „des esprits forts".
'') Ibid. chap. „Biens de la fortune".
53ß
geschlagen werden, aber nur mechanisch und nicht weil sie Schmerz em-
pfinden.^) Auch Moliere stand der kartesianischen Lehre fremd gegen-
über. Als echter dramatischer Dichter griff er in das volle Leben und
glaubte an die Kechte der Natur und der Sinnenwelt. Aber freilich, er
trat auch aus dem Rahmen seines Jahrhunderts heraus. Während die
anderen Dichter jener Zeit auf festem Boden standen, erschien er im
Zwiespalt mit sich und der Welt, und er allein von ihnen kannte den
tiefen Seelenschmerz, der aus solchen Kämpfen erwächst.
Im ganzen trägt die französische Litteratur des 17. Jahrhunderts
denselben Charakter ruhiger Größe, der auch Descartes auszeichnet. Der
Geist fand sein Genüge in der herrschenden Ideenwelt, und die wunder-
bare Form, in der sie sich kleidete, vollendete die Harmonie der Er-
scheinung. Li dieser Übereinstimmung der Lieen und der sprachlichen
Form liegt eben die Größe der französischen Litteratur im 17. Jahr-
hundert.
Die folgenden Generationen schlugen andere Wege ein. In die poli-
tischen und religiösen Kämpfe mischte sich streitlustig und kampfgeübt
eine neue Philosophie. Es vollzog sich der Abfall vom Kartesianismus,
der Bruch des 18. Jahrhunderts mit seinem Vorgänger. Voltaire brachte
die Lehre der englischen Sensualisten in Frankreich zur Herrschaft, und
die Aufklärungsphilosophie knüpfte somit wieder an den Versuch Gas-
sendis an.
Viele Einrichtungen des alten Königtums sanken vor den Angriffen
der neuen Zeit, mancherlei Traditionen der früheren Jahrhunderte ver-
blaßten, und das Staatsgebäude, wie es Ludwig XIV. errichtet hatte,
stand immer noch fest. Erst als in den Anschauungen der gebildeten
Klassen auch die Herrschaft der kartesianischen Lehre gebrochen war,
erschien der Weg gebahnt für die Eevolution, die nun rascheren Schritts
ihrem Ziel sich näherte.
1) Lafontaine, Fahles, X, 1 (Les deux rats, le renard et le cerf). Die Fabel
ist bezeichnenderweise Frau v. Sable gewidmet.
V. 24: Ne trouvez pas mauvais
Qu'en ces fables aussi j'entremele des traits
De certaine philosophie,
Subtile, engageante et hardie.
ippel
Oui
parier? Ils disent done
Que la bete est une maehine;
Qu'en eile tout se fait sans choix et par ressorts:
Nul sentiment, point d'äme; en eile tout est corps.
Teile est la montre qui chemine.
A pas toujours egaux, aveugle et sans desseiii.
XIll.
Gegenströmungen.
I)er Skeptieismus. Die Satire und die Burleske.
Wir haben in allen Erscheinungen der Litteratur, die uns bis jetzt
beschäftigen, die gleichen Anschauungen und denselben Geschmack vor-
herrschend gefunden. Diese Beobachtung konnte uns nicht Wunder
nehmen, da wir sahen, wie die gesamte Dichtung im Dienst eines
■einzigen engbegrenzten, wenn auch mächtigen Kreises der Gesellschaft
stand, und nur die dort giltigen Ideen zum Ausdruck brachte. Von
Malherbe an bis zur Mitte des Jahrhunderts stießen wir in der Litteratur
zwar auf mannigfaltige Charaktere, fanden sie aber alle unter dem Einfluß
desselben Geschmacks. Sie wiesen zwar vielfache Schattierungen auf,
aber doch nur dieselbe Farbe. Selbst Corneille, der machtvollste und
originellste Dichter der ganzen Zeit, bewegte sich in derselben Welt
der Gedanken und Empfindungen. Mochte zwischen ihm und Scudery
noch so grimmige Fehde entbrennen, beide schritten doch auf derselben
Bahn, vorwärts, denn von all den Dichtern, die wir betrachtet haben,
war keiner gewillt, keiner vielleicht auch stark genug, sich dem Strom
zu entziehen, der in gewaltiger Kraft dahin fuhr und jede litterarische
Thätigkeit in der einmal eingeschlagenen Eichtung mit sich fortriß.
Nur Mathurin Eegnier hatte sich zu Anfang des Jahrhunderts
gegen die Herrschaft des modernen Geschmacks aufgelehnt. Aber er galt
mehr als ein Nachzügler der früheren Zeit, und seine Opposition blieb
ohne nachhaltige Wirkung.
Und doch kann ein so stark ausgeprägter Geschmack nicht lang
ohne Widerspruch seine Herrschaft behaupten. In der That, die gewaltige
Bewegung, die wir bis jetzt ausschließlich verfolgt haben, veranlaßte
mehrfache Gegenströmungen, die allerdings nicht stark genug waren,
dem Geschmack eine völlig andere Richtung zu geben, die aber doch
nicht übersehen werden dürfen. In der verhältnismäßig schwachen litte-
rarischen Opposition, welche zur Zeit Ludwigs XIII. und während der
Regentschaft ihr Haupt erhob, finden sich bereits unverkennbare An-
zeichen der Richtung, welche im 18. Jahrhundert zur entschiedenen
Geltung kam.
Wie die philosophischen Studien ein neues Leben fanden, und
unter Gassendis Einfluß die skeptische Lebensanschauung zahlreiche
Anhänger fand, ist schon im vorhergehenden Abschnitt dargelegt worden.
538
Allein neben den Männern, die sich mit philosophischen Fragen
beschäftigten, ohne deshalb mit den kirchlichen Lehren zu brechen, gab
es große Kreise, welche sich kurzerhand in Gegensatz gegen die Tra-
ditionen der Kirche setzten, Freigeister, welche von Religion überhaupt
nichts mehr wissen wollten. Während die katholische Kirche nach dem
Abschluß der Religionskriege langsam, aber sicher an Boden gewann,
und andererseits der Aberglaube immer noch so mächtig war, daß er
viele arme Menschen unter der Beschuldigung der Hexerei dem qual-
vollen Flammentod überantwortete, wuchs die Zahl der Männer, welche
sich von den Lehren der Kirche unbefriedigt abwandten, aber auch in
der herkömmlichen Schulphilosophie keinen Trost fanden, und so zu
einer Negation gelangten, die je nach dem Charakter des einzelnen bald
mehr, bald weniger entschieden klang. Man bezeichnete diese Freidenker
mit den Xamen „Libertins". In der Sprache der damaligen Zeit bedeutete
dies Wort keineswegs, wie heute, Menschen von ausschweifender Lebensart.
Freilich traf es sich häufig genug, daß die meist jungen und heißblütigen
Leute, die man Libertins nannte, in ihrer Opposition gegen das Her-
kommen die Gebote der Sitte und bürgerlichen Moral als ebenso will-
kürlich und ungerechtfertigt verwarfen, wie die Traditionen der Kirche.
Die Libertins waren meist übermütige, sarkastische, in toller Lebens-
lust überschäumende Gesellen, die nichts als den Genuß des Lebens
suchten, und jede ernstere Frage mit Spott und Gelächter von sich
zu halten suchten. Bei ihrer Mehrzahl hatte man es nicht mit festen
Überzeugungen zu thun, nicht mit einem in angestrengtem geistigen
Ringen erworbenen philosophischen Besitztum. Auch träumten sie nicht
von der Zerstörung der bestehenden Verhältnisse und der Herstellung
besserer Zustände. Sie waren keine Schwärmer und Fanatiker, und keines-
wegs mit den „Nihilisten"' unserer Tage zu vergleichen. Wurden doch
viele vornehme Herren, welche in der Erleichterung des Lebensgenusses
den Hauptzweck aller Philosophie fanden, als „Libertins"' bezeichnet.')
Der unglücklichste dieser Leute war Theophile de Viau, den selbst di&
mächtige Hand seines Gönners Montmorency nicht retten konnte, und
den lange Kerkerhaft einem frühen Tod zuführte. Die meisten Libertins
waren vorsichtiger als Theophile; sie hielten ihre Zungen im Zaum,
sobald sie nicht in vertrautem Kreis waren, und erschienen einfach als
Epikuräer. So galten die Dichter Des Barreaux und Saint-Pavin als
Lebemänner und arge Freigeister; auch Chapelle, Gassendis Schüler,
Saint-Evremond u. a. wären hier zu nennen.'-') Darf man aber auch
nicht aus jeder freien Äußerung, die sich ein Dichter erlaubt oder die
er im Drama einer seiner Personen in den Mund legt, auf eine skep-
1) Auch Ninon de Lenclos galt als „Libertine". Tallemant wirft einigen
hohen Herren diese Bekehrung der Dame zu freigeistigen Anschauungen vor.
2) Jacques Vallee, sieur des Barreaux 1599—1673. Über ihn siehe Talle-
mant, Historiettes, und Goujet, Bibl. frany., t. XVIL — Saint-Pavin (1600 bis
1670) war Abbe von Livry, ein Freund der Frau von Sevigne, an die er viele
Gedichte richtete. Seine Gedichte, die übrigens nichts von Freigeisterei ver-
raten, sind neuerdings von P. Paris (Paris 1861) herausgegeben worden.
539
tische Geistesrichtung bei ihm schließen, so mag doch in solchen Worten
manchmal ein verborgener Protest gegen Aberglauben und blinde Unter-
werfung gelegen haben. Auch diese Regungen des Widerstands wurden
später seltener. Es ist immerhin auffallend, daß sich in den Tragödien
aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, zumal in den Dichtungen
Eacines, keinerlei skeptisch angehauchte Äußerung findet. Racine hätte
in seiner „Iphigenie" und an anderen Stellen Gelegenheit genug ge-
funden, Ausfälle gegen den Trug der Orakel und die Tyrannei der
Priester einzuflechten. Allein er suchte sie eben nicht. Die Zeit war eine
andere, und nur Moliere scheute sich nicht, religiöse Fragen zu berühren.
Unbestritten zu den Skeptikern gehörte jedoch Cyrano^ eine der
originellsten Figuren seiner Zeit.
Savinien de Cyrano Bergerac, der aus einem Gascognergeschlecht
stammte, wahrscheinlich aber in Paris zur Welt kam, ward im Jahr 1620
geboren, und starb bereits mit 35 Jahren, 1655. Der Vater, ein ein-
facher alter Edelmann, kümmerte sich nicht viel um die Erziehung
seines Sohns, sondern übergab ihn noch als Kind einem Landgeistlichen
zur weiteren Pflege und Ausbildung. Später schickte er ihn auf das
College Beauvais nach Paris, wo er unter der Leitung des Regens der
Anstalt, Grangier, bis zu seinem 19. Jahr blieb. Auf der Schule scheint
er ein lockeres Leben geführt zu haben ; auch sog er dort den Haß
gegen jegliche Pedanterie ein, dem er später so oft Ausdruck verlieh.
Wir wissen, daß er gleichzeitig mit Moliere Schüler Gassendis war,
dessen philosophische Anschauungen er später in seinen Schriften ver-
trat. Nachdem er die Schule verlassen, trat er in die königliche Garde
ein, und erwarb sich in kürzester Zeit den Ruf eines Brausekopfs und
tollen Duellisten. Er habe zwar niemals einen persönlichen Streit aus-
zufechten gehabt, heißt es, sondern nur als Sekundant in kürzester Zeit
über 100 Duelle mit ausgefochten. Aber andere Nachrichten nennen ihn
einen der ärgsten Raufbolde.') So lebte er in der Gesellschaft renom-
mierender, streitlustiger Junker in dem Wirbel tollen Soldatenlebens.
Trotzdem fand er zeitweilig Muße und Stimmung zu poetischen Arbeiten.
„Ich sah ihn eines Tags"', erzählt sein Biograph, „in der Wachstube
an einer Elegie arbeiten, wobei er sich so wenig stören ließ, als sei er
in dem stillsten Studierzimmer. •'-) Er machte die Feldzüge in Flandern
mit, wurde bei der Belagerung von Mouson durch einen Schuß ver-
wundet, und erhielt vor Arras einen Stich in den Hals (1640). Nach
seiner Heilung gab er die militärische Laufbahn auf, zumal er bei seinem
^) Cyrano sagt in seinem Brief Nr. 15 („Le duelliste") (I. Tl., S. 76 der
Amsterdamer Ausg. v. J. 1709): „Vraiment vous auriez grand tort de m'appeler
le Premier des hommes, car je vous proteste qu'il y a plus d'un mois ([ue je
suis le second de tout le monde-'. Vergl. damit Menagiana, t. III, p. 240:
„Cyrano etoit grand ferailleur, son nez qu'il avoit tout defigure, lui avoit fait
tuer plus de dix personnes, il ne pouvoit souffrir qu'on le regardät, et il faUoit
aussitöt mettre l'epee k la main". Vergl. Parfaict VII, 391.
2) Siehe die Biographie Cyranos von M. Bret, die der Ausgabe seiner
Werke vorgedruckt ist.
540
unabhängigen Geist und wenig schmiegsamen Charakter sich nur schwer
in die mannigfaltigen Verpflichtungen schickte, die ihm seine Stellung
auferlegte. Gönner hatte er ohnehin nicht erworben und seine Aussicht
auf Beförderung war deshalb sehr schwach. So widmete er sich seinen
Studien und litterarischen Arbeiten. Hauptsächlich beschäftigten ihn
Philosophie und Physik, wie seine Schriften deutlich beweisen. Diese
letzteren machten ihn bald bekannt und erwarben ihm Freunde. Der
Marschall Gassion bot ihm eine Stellung in seinem Haus an. Aber Cy-
rano konnte sich lange nicht entschließen, seine Unabhängigkeit wieder
aufzugeben, und erst in den letzten Jahren trat er in den Dienst des
Herzogs von Arpajon, bei dem er sich aber auch nicht besonders wohl
fühlte. Über das weitere Leben Cyranos sind uns sehr wenig Nach-
richten erhalten. Sein Biograph rühmt die üneigennützigkeit, auch Ent-
haltsamkeit und Mäßigkeit, die Cyrano bewiesen habe. Aber da dieser
offenbar bemüht ist, seines Freundes Schwächen zu verdecken, so muß
man seine Darstellung mit einiger Vorsicht aufnehmen. Cyrano starb
infolge eines unglücklichen Zufalls. Eines Abends beim Nachhause-
gehen erhielt er ein Scheit Holz an den Kopf geworfen, und wurde so
schwer verletzt, daß er nach langwierigen Leiden an den Folgen der
Wunde starb.
In seinen Schriften zeigte Cyrano ein doppeltes Gesicht. In seinen
„Briefen" und seiner Tragödie „La mort d'Agrippine" huldigte er dem
Geschmack der Zeit, und freute sich der „Pointen" sowie der bombasti-
schen Eede. In den „komischen Erzählungen", wo er seinem skeptischen
und unabhängigen Geist die Freiheit ließ, erhob er sich zu origineller
Satire. Nur in diesen erkennen wir seine Bedeutung, insofern wir in
ihnen einen entschiedenen Widerstand gegen die Eichtung seiner Zeit
ausgesprochen finden. Hätte er nur in der Art seiner ..Briefe" geschrieben,
so würde er einfach als Nachahmer Balzacs anzusehen sein, und er
könnte als Beispiel dienen, wie weit die Lust an den Pointen auch
talentvolle Menschen irre führte.
Seine „Briefe" sind nichts als rhetorische Übungen. „Gegen den
Winter", „gegen den Frühling", »gegen den Sommer", ..gegen den
Herbst", ,.über den Schatten, den die Bäume auf das Wasser werfen",
„gegen einen Feigling", „gegen einen Undankbaren", „gegen die Ärzte"
— so lauten die Titel einiger der 47 Briefe, die alle ähnlichen Inhalts
sind. Wenn Jemand die Pointe liebte, so war es Cyrano. In einem be-
sonderen Aufsatz singt er ihr Lob, und nennt sie ein liebliches Spiel
des Geistes. Um eines witzigen Worts halber dürfe man schon, was
schön wäre, häßlich hinstellen; was gut vorgebracht werde, sei auch
richtig, und wenn es nur glänze, so brauche man sich um nichts weiter
zu kümmern. Genug, die Pointe ist nach Cyranos Ansicht sich selbst
Zweck. ^) Dementsprechend wagt er in den „Briefen" die haarsträubendsten
^) Cyrano, „Entretiens pointus", preface: „La pointe n'est pas d'accord
avec la raison, c'est l'agreable jeu de l'esprit, et merveilleux en ce point, qu'il
reduit toutes choses sur le pied necessaire k ses agremens, sans avoir egard ä
541
Vergleicbungen. Er nennt die Lilie einen Sauermilchriesen,^) sagt von
einer Cypresse, sie sei so spitzig, daß man sich selbst im Geist nicht
darauf setzen könne,-) und wenn er einen Sturm auf das Meer beschreiben
will, findet er das schöne Bild: „Das Meer bricht sich über uns, und
wir brechen uns über ihm.^)
Daneben aber giebt er auch Beweise seines unabhängigen Sinns.
In dem Brief „gegen die Zauberer", der richtiger „gegen den Hexen-
glauben" hieße, erklärt er die Vernunft für seine Königin hnd einzige
Führerin. Die besten Geister hätten geirrt und auch die alten Philo-
sophen hätten oft ihre Lehren den politischen Verhältnissen gemäß ge-
modelt. Auch sie hält er darum nicht für untrüglich. Seine Ansicht von
den griechischen Weltweisen erlaubt uns aber vielleicht einen richtigen
Schluß auf seine eigene Denkart. Denn auch er tritt nicht oifen mit
seinen Ansichten hervor, und wie sein Lehrmeister Gassendi nimmt er
Rücksicht auf die Verhältnisse. Indessen scheut er nicht, dem finsteren
Aberglauben energisch entgegenzutreten. Nachdem er in einem ersten
Brief die Gründe angegeben, die man für den Glauben an Zauberer und
Hexen anführen könne, und schon durch seine Darstellung die Schwäche
dieser Gründe gezeigt hat, bekämpft er den gefährlichen Wahn in dem
folgenden Brief mit allen Waffen, die ihm zu Gebot stehen, in einer
einfachen, fast volkstümlichen Sprache. Mit derselben Entschiedenheit
erklärt er sich gegen die Frondeurs und für Mazarin, ohne sich um
die Öffentliche Stimme zu kümmern, oder auf die Wutausbrüche der
Pariser zu achten. Er war ein Aristokrat, der das Volk verachtete. „Es
ist das Kennzeichen einer gewöhnlichen Seele, wie der große Haufe zu
denken. Ich strebe mit aller Kraft, dem reißenden Strom zu wider-
stehen." Wenn in den Schmähschriften Mazarin wegen seiner italienischen
Herkunft angegriffen wurde, so antwortete Cyrano, daß der Ehrenmann
keine Nationalität habe, weder Franzose, noch Deutscher, noch Spanier,
sondern ein Weltbürger sei, der sein Vaterland überall finde. ^) Er be-
leur propre substance. S'il faut que pour la pointe l'on fasse d'une belle chose
une laide, cette etrange et prompte metamorphose se peut faire sans scrupule,
et toujours on a bien fait pourvu qu'on alt bien dit ; on ne pese pas les choses ;
pourvu q'elles brillent il n'importe. Oeuvres t. II, p. 332.
1) Brief Nr. 2: „La le lys, ce colosse entre les fleurs, ce geant de lait
caille etc." (I. Tl., S. 6.)
2) Brief Nr. 8 (description d'un cypres): „J'avois envie de vous envoyer
la description d'un cypres, mais je ne Tai qu'ebauchee, ä cause qu'il est si
pointu, que l'esprit meme ne sauroit s'y asseoir. Sa couleur et sa figure me
fönt Souvenir d'un lezard renverse qui pique le ciel en mordant la terre."
(I. Tl.. S. 31.)
3) Brief Nr. 9: „La mer vomit sur nous et nous jvomissons sur eile."
(I. Tl., S. 34.)
■*) Brief Nr. 37 (I. Tl., S. 164): „Contre les frondeurs" : ...Mais comme
11 n'y a rien aussi qui marque davantage une äme vulgaire, que de penser comme
le vulgaire, je fais tout mon possible pour resister ä la rapidite du torrent et ne
me pas laisser empörter ä la foule". . . „Les premiers coups qu'ont en vain tente
542
hauptete, daß Frankreich noch nie eine so glückliche Zeit gesehen habe,
wie unter der Herrschaft der Königin Anna, und daß die Frömmigkeit
so hoch stehe, wie die Künste und Kriegswissenschaften. Er, der von
der Regierung keine Pension bezog, brauchte nicht zu fürchten, solchen
Ausspruch zu thun. Ihm war eben das Demagogentum in der Seele
verhaßt; monarchisch gesinnt, erklärte er. schon die Bibel verbiete
einen Yolksstaat. und nach der Behauptung einiger Rabbiner seien die
Engel zur Hölle verdammt worden, weil sie die Gründung einer Republik
geplant hätten. Darum kämpfte er auch mit besonderer Heftigkeit gegen
Scarron, der, die Wohlthaten der Regentin vergessend, auf die Seite
der Frondeurs getreten war, und in seinen Spottliedern die gemeinsten
Angriffe gegen Mazarin veröffentlichte. Ihm gegenüber erwachte in
Cyrano der alte Duellist. Mit dem gelähmten kranken Mann konnte er
keinen ernsten Waffengang machen, aber gegen den bissigen Spötter
nahm auch er seinen ganzen Spott und seine ganze Grobheit zusammen,
und besonders in letzterer konnte er Erstaunliches leisten.^)
So zeigte sich Cvrano in vieler Hinsicht originell und trotz seiner
Vorliebe für die Pointen nicht in Übereinstimmung mit dem Geschmack
seiner Zeitgenossen. Aber ihm fehlte das Maß. die Ruhe des Urteils,
der sichere Geschmack. So nur erklärt es sich, wie derselbe Mann, der
sich kaum erst als selbständiger Denker offenbart hatte, auf einem an-
dern Gebiet ein Sklave der Tradition sein konnte. Er versuchte sich in
der Tragödie und der Posse. Im Jahr 1653 erschien von ihm das Trauer-
spiel ,.La mort d'Agrippine", das keinen Schritt von der gewöhnlichen
Bahn abwich. Cyrano kannte weder die Kunst der dramatischen Schür-
zung und Führung, noch hatte er die Gabe der Charakteristik. Sein
Stück, das die Witwe des Germanicus, Agrippina, im Bund mit Sejanus
gegen die Herrschaft des Tiberius zeigt, ist unwahr und unmöglich.
Agrippina wird uns in ihrer blinden Rachgier widerlich, und die niedrige
Seele eines Sejan zeigt mit einem Mal stoische Kraft und Weisheit.
Nirgends eine Spannung, eine Steigerung: jedermann verstellt sich und
sucht die anderen zu täuschen, aber die Handlung rückt nicht vor. So
wie die Situation im ersten Akt ist, ist sie noch im letzten, bis endlich
der Blutbefehl des Kaisers die Verschworenen zum Tod schickt. Die
Sprache strebt nach Kraft, wird aber oft im höchsten Grad schwülstig;
die Pointen häufen sich und der Dichter opfert ihnen jede andere Rück-
sicht. Ein Beispiel genüge. Livilla. Tiberius" Schwiegertochter, haßt den
Kaiser, und sie erklärt ihm, daß sie seinem Sohn nur die Hand ge-
reicht habe, um sich rächen zu können. Denn in ihren Kindern sei sie
nun Herrin des kaiserlichen Geschlechts und könne das Blut des Tiberius
les poetes du Pont-Xeuf contre la reputation de ce grand homme, ou ete d'al-
leguer qu'il etoit Italien. A cela je reponds qu'un honnete homme u'est ni Fran-
9oi3, ni Allemand, ni Espagnol; 11 est citoyen du monde et sa patrie est partout."
1) Brief Nr. 27 (I. Tl., S. 115): „Contre Eonscar" (Scarroni. In einem
andern Brief, Nr. 21 (I. Tl., S. 91), „Contre Soucidas", der auch gegen Searron
gerichtet war, sagte er: „Vous tomberez si bas qu'une puee en leehant la terre
ne vous distinguera pas du pave."
543
nach Belieben vergießen.^) Sejanus, der dem Tod mit Mut entgegen-
geht, spricht als Stoiker ein paar Verse, die bekannt geworden sind,
weil man in ihnen einen neuen Beweis für den skeptischen Geist Cy-
ranos finden wollte. Vielleicht mit Recht, obwol selbst der frommste
christliche Dichter einem heidnischen Römer solche Sprache in den Mund
legen konnte. Sejan sagt:
„War ich denn elend, als ich noch nicht lebte V
Nach meinem Tod wird meine Seele sein.
Was sie vor der Geburt gewesen ist.
So tief ich meinen Blick in nichts auch senke
Und in die lange Nacht, ich finde nichts
Als einen Zustand ohne Schmerz, der mich
Nicht sehrecken kann, noch meinen Geist verstören.
Bleibt man doch nichts, nach jenem großen Schritt,
Als eines flücht'gen Bildes flücht'ger Traum. 2)
Die Posse „Le pedant joue", die erst 1654 im Druck erschien,
soll von Cyrano schon während seiner Schulzeit verfaßt worden sein und
ist ein Racheakt, den Cyrano an seinem Lehrer Grangier verübte. Er
entlieh der italienischen Stegreifkomödie die Hauptfiguren seines Stücks,
den Pedanten, den Renommisten und den durchtriebenen Diener. Seine
Bosheit bestand jedoch darin, daß er den schmutzigen, sinnlichen, eitlen,
von grammatischen Regeln und rhetorischen Phrasen triefenden Dottore
der Italiener zum Rektor einer Schule umwandelte und ihm den Namen
seines früheren Lehrers mit einer unbedeutenden Änderung (Granger)
beilegte. Im übrigen begnügte er sich mit der herkömmlichen Weise der
Commedia dell' Arte und dachte nicht daran, wirkliche Scenen aus dem
Schulleben zu zeichnen. In seiner Anstalt sind gerade Ferien und das
Schulhaus ist Zeuge tollen Treibens. Granger selbst, der „regens scholae",
geht in seinen alten Tagen noch einmal auf Freiersfüßen und will seines
Sohnes Braut für sich gewinnen. Bei seiner Werbung hält er eine aka-
demisch kunstgerechte Rede voll überraschender Metaphern und fürchter-
licher Antithesen, und versucht sich, in der Weise des Dottore, in Aus-
ij La mort d'Agrippine, V, 3, 31:
Gar j'avois dans ma couche ä ton lils donne place,
Pour etre en mes enfants maitresse de ta race.
Et pouvoir ä mon gre repandre tout son sang,
Lorsqu'il seroit contraint de passer par mon flanc.
2j La mort d'Agrippine, V, 4, 68 ff.:
Etois-je malheureux, lorsque je n'etois pasV
Une heure apres ma mort notre äme evauouie,
Sera ce qu'elle etoit une heure avant sa vie.
J'ai beau plonger mon ame et mes regards funebres
Dans ce vaste neant et ces longues tenebres,
J'y rencontre partout un etat sans douleur
Qui n'eleve ä mon front ni trouble ni terreur,
Car puisque Ton ne reste apres ce grand passage
Que le souge leger d'une legere Image. . .
544
drücken von haarsträubender Galanterie.^) Granger will seinen Sohn nach
Venedig schicken, aber dieser weiß mit Hilfe seines Dieners Corbinelli
die Pläne des Alten zu vereiteln. Corbinelli meldet dem erschrockenen
Granger, sein Sohn habe, von Neugierde getrieben, eine türkische Galeere
bestiegen, die auf der Seine bei Paris vor Anker gegangen sei, und die
Ungläubigen drohten nun, ihn als Sklaven fortzuführen, wenn man ihnen
nicht ein Lösegeld von 100 Ecus zahle. „Was zum Kuckuck hatte er
auf der Galeere zu suchen ! " ruft Granger ein- über das andere Mal,
bequemt sich aber endlich schweren Herzens, die verlangte Summe zu
zahlen.-) Damit wird die Ausführung des Hauptanschlags möglich. Gene-
vote, die Braut des jungen Granger, willigt nun scheinbar in die Ehe
mit dem Vater ein. Zur Feier giebt man, der Schulsitte entsprechend,
eine dramatische Aufführung, und da kein klassisches Stück vorbereitet
ist und die Schüler abwesend sind, improvisiert man ein Lustspiel nach
dem Vorschlag Corbinellis. Darin hat ein junges Paar einen Ehekontrakt
zu unterzeichnen, und man kann sich denken, wem die Rolle der Ver-
lobten zufällt. Da der Gang des Festspiels es erheischt, so muß auch
Granger, der den Vater des Bräutigams vorstellt, unterzeichnen. Was
dieser aber für eitel Komödie hielt, war Ernst. Er hat den wirklichen
Ehekontrakt seines Sohns mit Genevote unterschrieben und ist somit
geprellt.
Cyrano mag viel aus italienischen Possen entlehnt haben, und
manchen guten Zug hat er in dem viel gelesenen Roman „ Francion "
von Sorel gefunden.^) Immerhin bleibt ihm noch genug originaler Humor,
wie z. B. in der Rolle des plumpen und doch pfiffigen Bauers Gareau,
der den Bauerndialekt auf die Bühne brachte und mit seinen sprich-
wörtlichen Redensarten und seinen drastischen Ausdrücken sehr ergötz-
lich ist. Moliere hat darum später manche Anleihe bei Cyrano gemacht.
So ist z. B. die komische Scene der „Fourberies de Scapin", in welcher
Scapin dem alten Geronte eine ähnliche Türkengeschichte aufbindet und
dieser 500 Ecus zahlt, um seinen Sohn aus der Sklaverei zu lösen, fast
wörtlich dem „Pedant joue" entnommen."^) Ebenso entspricht die Intrigue
in Molieres .,L'amour medecin" genau der Schlußscene in Cyranos Posse.
^) Le pedant joue, III, 2, Granger: „Auriez-vous donc agreable, Made-
moiselle, lorsque la nuit au visage de more aura de ses haillons noirs embeguine
le minois soutfreteux de notre zenit, que je transporte mon individu aux lares
domestiques de votre toity" — Oder IV, 4: „Mais si tu veiix que Tembryon de
mes esperances, devenant le plastron de mes liberalites, fasse metamorphoser
ta beuche en un microcosme de richesses." — Man vergleiche noch V, 10: „Je
conduis la ficelle de mes desirs au niveau de votre volontt§... Qui de vous le
Premier estropiera le silenceV"
~) Le pedant joue, II, 4.
^) So erinnert z. B. die zweite Scene des dritten Akts, in welchem Grapger
die Liebe Genevotes durch seine Rhetorik gewinnen will, deutlich an das vierte
Buch des „Francion" (S. 143 und 147 der Ausgabe von Emile Colombey, Paris
1858, Delahays). Über Sorel und Francion siehe weiter unten S. 557 ff.
*) Les fourberies de Scapin, II, sc. 11. Man vergleiche ferner die sechste
Scene in Molieres „Jalousie du Barbouille" mit den unanständigen Versen
Grangers (I, 1).
545
Daß der große Lustspieldichter die Arbeit seines Jugendbekannten
in solcher Weise benutzte, beweist, daß er dessen komische Kraft wür-
digte. Dennoch erhob sich Cyranos Posse nicht über ein gewisses Maß.
Ein Fortschritt in dem Verständnis des Lustspiels und seiner eigent-
lichen Aufgabe ist nicht darin zu ersehen.
Am originellsten erscheint Cyrano in seinen „Histoires comiques",
zwei satirisch-phantastischen Reisebeschreibungen, in welchen er seine
Ausflüge in den Mond und in die Sonne beschreibt.') Seine Absicht ist
dabei, die menschliche Gesellschaft in verzerrtem Abbild zu zeigen und
die herrschenden Anschauungen durch die Darstellung einer der unse-
rigen entgegengesetzten Welt zu kritisieren.
In der ersten Schrift behandelt er das Reich im Mond. Er be-
richtet zunächst, wie es ihm gelungen ist, bis zu dem Mond emporzu-
steigen. Eines Abends, so erzählt er, kehrte er in Gesellschaft mehrerer
Freunde von Clamart, wohin sie einen Ausflug gemacht hatten, nach
Paris zurück. Der Vollmond schien hell und das Gespräch fiel von un-
gefähr auf die Natur dieses Himmelskörpers. Ein jeder brachte seine
Ansicht vor, und Cyrano behauptete, der Mond sei eine Welt gleich der
Erde. Darob entstand große Heiterkeit unter den Freunden, Cyrano aber
hielt trotz allen Spotts an seiner Ansicht fest, und der Gedanke an eine
Entdeckungsreise in den Mond beschäftigte ihn von nun an ernstlich.
Bald hatte er ein Mittel gefunden, das ihn durch die Lüfte tragen konnte.
Als genialer Physiker behängte er nämlich seinen Körper mit einer großen
Anzahl Flaschen, die er zuvor mit Tau gefüllt hatte. So gerüstet, setzte
er sich den Strahlen der Sonne aus, und es währte nicht lange, so fühlte
er sich in die Lüfte emporgehoben. Senkrecht stieg er während einiger
Stunden empor, und als er wieder an den Heimweg dachte, hatte er nur
einige Flaschen zu zerschlagen, um alsbald langsam niederzusinken. Zu
seinem Erstaunen landete er jedoch nicht in der Gemarkung von Paris,
sondern sah sich in einer wildfremden, rauhen und unkultivierten Ge-
gend. Während seines Aufenthalts in den Lüften hatte sich die Erde
unter ihm gedreht, und so war er, wie er bald erfuhr, in Neu-Frank-
reich, in der Nähe von Quebeck, niedergegangen. Damit hatte er den
Beweis von der Umdrehung der Erde um ihre Achse erbracht; es han-
delte sich nur darum , daß die anderen Menschen seiner Erzählung
Glauben schenkten. Der glückliche Versuch ermutigt indessen den kühnen
Luftschiffer zu größerem Wagnis. Cyrano berichtet weiter, wie er sich
in Quebeck eine neue Flugmaschine erbaut, die ihn diesmal bis zum
Mond bringen soll. Ein erster Versuch mit ihr fällt kläglich aus; Cy-
rano stürzt aus beträchtlicher Höhe zur Erde herab. Zerschlagen an
allen Gliedern, schleppt er sich mühsam nach Haus, reibt seinen Körper
mit Ochsenmark ein, um sich wieder zu stärken, und denkt dann erst
an die Rettung seiner Maschine. Diese ist aber bereits von einigen Sol-
, 1) Histoire comique des ^tat et empire de la lune. — Histoire comique
des Etat et empire du Soleil. Neu herausgegeben sind die beiden Erzählungen
von dem „Bibliophile Jacob".
Lotheißen, Gesch. d. franz. Litteratur. 35
546
daten gefunden worden. Sachverständige haben sie für eine Kriegsmaschine
erklärt, die mit Eaketen gespickt durch die Luft fahren und einen wahren
Feuerregen auf die Feinde senden werde. Auf dem Marktplatz von Que-
beck soll ein Versuch gemacht werden. In dem Augenblick, da man die
ßaketenbatterien anzünden will, erscheint Cyrano und gebietet Einhalt.
Voll Eifer springt er auf die Maschine; aber in demselben Moment be-
ginnen die Raketen ihr Spiel, und inmitten eines sich stets erneuernden
Feuerwerks wird der unfreiwillige Reisende samt seiner Maschine in die
Luft gerissen. Immer höher und höher steigt er, selbst dann noch, als
die Raketen alle verpufft sind und die Maschine unter ihm zurückfällt.
Er erkennt die Wirkungen des Mondlichts auf das Mark, mit dem er
sich eingerieben hat. Bald fühlt er, daß er nicht mehr steigt, sondern
daß er, den Kopf nach unten gerichtet, fällt. Und doch hat er sich nicht
überschlagen oder seine Richtung geändert. Er ist nur in den Bereich
des Monds geraten und kommt ihm immer näher. Er wäre verloren und
sein Kopf würde elend auf dem harten Boden des Monds zerschellen,
wenn er nicht zufällig in das Laubwerk eines Baums stürzte und die
Gewalt des Falls dadurch abgeschwächt würde.
So ist nun Cyrano wirklich im Mond, dessen Beschaffenheit und
dessen Bewohner er genau kennen lernt. Die Natur des Monds gleicht
im großen der Natur der Erde. Man sieht auch dort Berge, Ströme
und Meere, Pflanzen und Tiere. Aber alle Verhältnisse sind dort ge-
waltiger. Die Vegetation ist reicher, die Bäume ragen gleich Riesen in
die Luft und scheinen eher den Boden zu tragen, als von ihm getragen
zu werden. Die Bewohner erreichen eine Länge von etwa 18 Fuß und
ein Alter von 3000 — 4000 Jahren. Sie gehen auf allen Vieren, und es
erscheint ihnen würdiger, den Blick auf den Boden zu richten, dem sie
ihr Glück und ihre Genüsse verdanken, als nach dem Beispiel der
Menschen zum Himmel aufblicken, dem sie nichts zu beneiden haben.
Diese Mondriesen lieben die Wahrheit und sind frei von Pedanterie, zwei
Charakterzüge, die Cyrano besonders schätzt, und bei seinen Mitmenschen
so selten findet. Ja, es giebt auf dem Mond sogar Philosophen, die sich
nur durch Vernunftgründe leiten lassen! Zudem sind die Mondleute trotz
ihrer Riesengröße weniger sinnlich als die Menschen und nähren sich
für gewönlich nur durch den Geruch. Freilich können sie auch derbere
Kost bieten. Cyrano ist Zeuge, wie man einmal Lerchen schießt, und
zwar mit so gut konstruierten Flinten, daß die Tierchen gleich gerupft
und gebraten herabfallen. Auch das Geld ist dem gesegneten Mond un-
bekannt. Man zahlt mit Gedichten, die aber erst Kurs haben, wenn sie
von einem besonderen Gerichtshof für gut erklärt worden sind.^) Die
starren Logiker erkennen auch keineswegs das Recht der Eltern über
ihre Kinder an. Im Gegenteil; sie behaupten, daß die Kinder ihren
Eltern keinerlei Dank für ihre Existenz schulden, und lehren weiter, daß
kräftige, in der Blüte ihres Lebens stehende Personen mehr Gehorsam
^) Die Idee ist wiederum ..Francion" entlehnt. Siehe daselbst Buch IX,
S. 465 (ed. Colombey).
547
verdienen, als ältere Leute, deren geistige Kräfte schon abnehmen. Zwei
Sprachen giebt es auf dem Mond. Die Adeligen reden in unartikulierten
Tönen, einer Art Musik. Sie sprechen Lieder ohne Worte, und können
also ihre Gedanken ebenso gut auf einer Laute, als mit ihrer Zunge
ausdrücken. Das ist ein großer Vorteil. Denn selbst eine theologische
Disputation oder eine Gerichtsverhandlung wird dadurch zum Ohren-
schmaus und gleicht einem Konzert. Das gemeine Volk hingegen macht
sich nur durch verschiedenartige Gliederbewegungen und Verrenkungen
verständlich, so daß bei einer lebhaften Unterhaltung der ganze Körper
dieser Leute oft ins Zittern gerät.
Der Aufenthalt unter diesen sonderbaren Lunariern scheint in-
dessen für Erdenbewohner nicht sehr angenehm zu sein. Cyrano wird
ergriffen, als Wundertier behandelt und für Geld gezeigt, bis er in den
Palast der Königin gelangt, der man schon ein ähnliches Tier geschenkt
hat. Die Gelehrten streiten eifrig miteinander, um die Species der neu-
gefundenen Bestie zu bestimmen. Sie kommen zunächst zur Überzeugung,
daß sie eine Art Vogel vor sich haben, da das Tier nur zwei Beine
hat. Aber da es ohne Federn ist und nicht einmal fliegen kann, gehört
es offenbar zu einer den Vögeln untergeordneten Klasse. So wird der
arme Gefangene von den Vertretern der Wissenschaft schließlich für
einen Papagei ohne Federn erklärt. Vergebens sucht er, da er die
Sprache des Landes bereits erlernt hat, sich als vernünftiges Wesen zu
legitimieren. Vergebens führt er die Aussprüche irdischer Philosophen
an, vergebens beruft er sich auf Aristoteles. Die Gelehrten des Monds
widerlegen alle aristotelischen Behauptungen mit zwei Worten, und die
hohe Regierung verbietet durch eine strenge Verordnung, bei dem fremden
Tier irgendwelche Vernunft vorauszusetzen.
Die Satire Cyranos ist verständlich. Wenn man von manchen
spöttischen Einfällen absieht, findet man in den Ausführungen haupt-
sächlich eine Verwahrung gegen die Descartes'sche Anschauung von der
Natur der Tiere. Cyrano spricht zwar an anderer Stelle von Descartes
mit der größten Verehrung, aber er war doch ein Schüler Gassendis
und denkt, wie dieser, von der Seele der Tiere. Auch nimmt er, gleich
diesem, die Ansicht vom leeren Raum an. Cyranos Schrift beweist aufs
neue, wie sehr Descartes mit seiner Lehre die Zeitgenossen beschäftigte.
Der große Philosoph hatte sich von der Natur mehr und mehr abge-
wandt und sah fast verächtlich auf sie herab. Sein Zeitalter stand dabei
ganz auf seiner Seite. Cyrano aber protestierte in der Schrift über den
Mond gegen diese Anschauungen, welche den Menschen allein der Be-
achtung wert fanden, und in ihm den Herrn der Schöpfung erblickten.
Darum zeigt er ihn so klein in der fremden Umgebung, wo man an
seiner Einsicht zweifelt, weil man ihn nicht kennt, ganz so wie die
Menschen in den Tieren nur Maschinen sehen, da sie sie nicht ver-
stehen. Cyrano behauptet, ein einfacher Kohlkopf sei glücklicher und
edler als der Mensch. Wir blicken hier etwas tiefer in Cyranos Philo-
sophie, und finden Ideen angedeutet, die er sonst verbirgt. Die Natur
ist nach ihm leidenschaftslos, ohne Haß und ohne Liebe, und hat den
548
Pflanzen manches Vermögen gegeben, das wir Menschen nur nicht er-
kennen. Aber wir begreifen ja auch nicht die Xatur der höheren Wesen
und glauben doch an sie. Unsere Sinne sind für jede tiefere Erkenntnis
zu schwach.
Zum Glück findet Cyrano einen Freund auf dem Mond. Der Dämon
des Sokrates, der später Cato und Brutus und jüngst noch Gassendi
beseelte, sich aber dann auf den Mond zurückgezogen hat, verhilft ihm
schließlich zur Freiheit und Anerkennung und bringt ihn sogar zur
Erde zurück. Er setzt ihn in der Nähe von Rom ab, wo ihn die Hunde
wie wütend anbellen, da er noch den Mondduft bewahrt. Erst nachdem
er sich tüchtig ausgelüftet hat, kann er wie andere Menschen seiner
Wege ziehen.
In der zweiten Schrift „Histoire comique de l'Etat et empire du
soleil" erzählt Cyrano, anknüpfend an seinen Bericht über die Reise in
den Mond, wie er nach Toulouse heimkehrt und dort in den Verdacht
der Hexerei gerät. Er wird eingekerkert, weiß sich aber, als moderner
Dädalus, eine neue, sinnreiche Maschine zu erbauen, die ihn gerades Wegs
zur Sonne bringt. Nach einer Reise von etwa vier Monaten landet er
auf einem der vielen Himmelskörperchen, die um die Sonne kreisen, und
die wir gewöhnlich als Nebelflecken bezeichnen. Er wird dort von einem
kleinen, nackten Menschen angeredet, und obwol er dessen Sprache nie
gehört hat, versteht er sie doch. Denn derselbe spricht die Sprache der
Wahrheit und Natur. Wie es in der Wissenschaft nur eine Wahrheit
giebt, so giebt es auch nur eine vollkommene Sprache, die alle Begriffe
und alle Gefühle klar und jedem verständlich ausspricht. Das ist die
Sprache der Natur oder der Instinkt. Wer diese Sprache versteht, kann
sich selbst mit den Tieren unterreden. Cyrano läßt sich erzählen, daß
die Menschen dieses Himmelskörpers aus dem Boden hervorwachsen, und
hat sogar das Glück, der Geburt eines solchen Erdgeborenen beiwohnen
zu können. Dann aber setzt er seine Reise fort. Die Maschine, in der
er fliegt, wird einzig durch seinen glühenden, festen Willen in Bewegung
gesetzt, und so gelangt er endlich nach 22 Monaten zu der „weiten
Ebene des Lichts". Jede Schwere schwindet hier; Cyrano fühlt sein
ganzes Wesen sich verändern und bemerkt, daß er durchsichtig wird.
Nach seinen Mitteilungen ist die Sonne ein lebendes Wesen. Was alles
auf den Planeten stirbt, giebt seinen Geist der Sonne ab, mit deren
Genius er sich verbindet. Nur die höchsten Geister bewahren ihre in-
dividuelle Kraft und ihr eigenes Leben. Auf dem ungeheueren Sonnenball
giebt es aber eine Menge von staatlichen Gebilden, Monarchieu und
Republiken: da ist der Staat der Vierfüßler, der Vögel, der Pflanzen,
der Steine. Auch die Philosophen, die vornehmsten Bewohner der Sonne,
haben ihr eigenes Reich, nicht minder die Gerechten, die Friedlichen,
die Liebenden. Nachdem Cyrano die Bekanntschaft einer Geisterschar
gemacht hat, deren Einbildungskraft so stark ist, daß sie jeden Gedanken
alsbald zur Wirklichkeit werden läßt, gerät er zu seinem Unglück in
das Land der Vögel. An ihrer Spitze steht zwar ein König, aber es ist
nicht, wie man erwartet, der Adler, dem diese Würde zugefallen ist.
549
Vielmehr wählen die Vögel alle sechs Monate einen neuen König aus der
Zahl der sanftmütigen Tiere. Denn er soll nicht hassen und keinen Haß
erregen. Er soll vor allem den Krieg, die Quelle aller Übel, vermeiden.
Jede Woche werden die Vögel zur Volksversammlung berufen, und sobald
nur drei Vögel Klage über den König führen, wird derselbe abgesetzt.
Zur Zeit ist gerade die Taube mit der königlichen Würde be-
kleidet. Aber trotz aller Friedensliebe bereiten die Vögel dem Ankömmling
einen sehr üblen Empfang. Denn die Menschen sind ihnen in den Tod
verhaßt. Cyrano wird verhaftet und vor Gericht gestellt. Wie demütigend
ist es doch für den stolzen Menschen, zu hören, daß die Tiere durch-
gehends voll Verachtung für ihn sind. Auch die Vögel spotten des arm-
seligen Geschöpfs, das nackt und elend zur Welt kommt, sich nicht
selbst zu helfen weiß und doch den Anspruch erhebt, über die Tierwelt
zu herrschen. Der Mensch ist ohne Verstand, sagen sie, denn er unter-
scheidet nicht einmal Zucker von Arsenik, Schierling von Petersilie, und
behauptet trotz alledem, daß er, nur auf die Sinne gestützt, die Wahrheit
finden könne.
Um sich zu retten, erklärt Cyrauo vor Gericht, er sei kein Mensch,
er sei ein Affe. Die Wahrheit dieser Behauptung zu untersuchen, wird
er einigen grundgelehrten Vögeln überantwortet, die ihn in ein Wäld-
chen führen und dort alle möglichen Sprünge machen, Purzelbäume
schlagen und Grimassen schneiden. Andern Tags erklären sie mit Be-
stimmtheit, daß der Angeklagte kein Affe sei, denn er habe ihre Be-
wegungen niemals nachzuahmen versucht. Es folgt dann eine lange,
gründliche Verhandlung, bei welcher der öffentliche Ankläger in einer
meisterhaften Rede den Beweis für das Menschentum des Fremden darauf
begründet, daß derselbe in frecher Weise lügt, wie ein Narr lacht, wie
ein Thor weint, seine Nase putzt und was derlei Gründe mehr sind.
Cyrano wird schließlich für schuldig erkannt, ein Mensch zu sein, und
zum Tod verurteilt. Rechtzeitig aber erzählt ein Papagei der Herrscherin,
wie er einst durch des Verurteilten Güte aus harter Gefangenschaft
befreit worden sei, und so wird Cyrano begnadigt. Er beeilt sich natür-
lich, das ungastliche Reich zu verlassen, kommt zunächst in einen Wald,
dessen Bäume miteinander Zwiesprache halten, und hört ausführlichen
Bericht über das Reich der Liebenden. Dies Reich ist häufigen Über-
schwemmungen ausgesetzt, da seine Bewohner Meere von Thränen ver-
gießen. Wer sich dort eines Vergehens schuldig macht, berichtet Cyrano
mit bissigem Spott gegen so viele zeitgenössische Dichter und Erzähler,
wird in das Reich der Wahrheit verbannt, und es wird ihm bei Todes-
strafe verboten, jemals wieder eine Hyperbel zu gebrauchen. Cyrano
nähert sich zuletzt dem Land der Weisen. Unterwegs sieht er einen
Philosophen am Weg liegen, der mit dem Tod ringt. Der Arme hat
sein Gehirn so mit Bildern vollgestopft, daß es endlich geplatzt ist.
Denn auch auf der Sonne ist der Tod zu finden, der ja nichts ist, als.
ein Durchgang zu höherer Vollkommenheit. Au der Grenze kommt ihnen
der göttliche Descartes entgegen. Aber Cyranos Schilderung bricht hier
ab, und überläßt es der Phantasie des Lesers, sich das Leben der
550
Philosophen auf der Sonne und die Heimkehr Cyranos nach der Erde
auszumalen.
Bei der Beurteilung Cyranos muß man in Anschlag bringen, daß
er einer der ersten Vorläufer der späteren Aufklärungsphilosophie war.
Gassendi war zwar der Lehrer und Cyrano nur der Jünger. Aber der
lebhafte, stürmische Geist des letzteren mußte ihn weiterführen, mußte
ihn in Konflikte mit seiner Zeit bringen, die er nicht völlig lösen konnte.
Als er in jungen Jahren starb, war er noch unfertig, mit sich selbst
im Unklaren. Das prägt sich in allen seinen Werken aus. Wäre ihm
ein längeres Leben vergönnt gewesen, so hätte er sich vielleicht auch,
gleich seinem Studiengenossen Moliere, nach sturmvollen, trüben Jahren
abgeklärt und die Harmonie in seinem Wesen und seinen Schriften ge-
funden. Aber ein feindliches Geschick raffte ihn dahin. Wie später
Vauvenargues, der ebenfalls früh ins Grab sank, hätte auch er rufen
können: „Wenn das Leben kein Ende nähme, wer verzweifelte an seinem
Glück. Der Tod macht das Unglück vollständig". Eine große Geistes-
bewegung, wie die des 18. Jahrhunderts es war, kündigt sich lange
vorher in einzelnen Erscheinungen an. Diese Vorläufer haben eine schwere
Aufgabe und schlimmen Stand. Im Zwiespalt mit ihrer Zeit, und doch
ihres Ziels unbewußt, treiben sie unsicher hin und her. Scharmützeln
hier und da, ohne recht zu wissen, um was es sich in dem bevor-
stehenden Kampf handeln wird. Sie entfalten dabei oft bedeutsame geistige
Kraft, und scheinen doch immer nur mittelmäßig. Ihre Streiche fallen
nicht selten falsch oder durchschneiden nur die Luft, und so erscheinen
diese Plänkler mehr als eine Seltsamkeit, denn als wirklich beachtens-
werte Streiter.
Cyrano Bergerac ist voll Geist, des Aufschwungs fähig; sein Witz
ist schneidig, seine Ideen frei. Aber ihm mangelt der Geschmack, die
Mäßigung an der rechten Stelle. In seinem Kampf macht er manchmal
den Eindruck, als gehöre er zu der Klasse der windigen „Capitane",
und doch hat er das Herz an der rechten Stelle, und es ist ihm Ernst
um seine Sache. Als Satiriker ist er am merkwürdigsten, und der Hohn,
mit dem er die Menschen behandelt, erhebt sich an manchen Stellen zu
wirklicher Kraft. Zu seinem Vogelreich mag er durch die ..Vögel" des
Aristophanes angeregt worden sein, wenn auch ein Abgrund zwischen
seiner Erzählung und der genialen Dichtung des Atheners liegt. Eher
noch kann man seine komischen Erzählungen mit Francis Bacons „Neuer
Atlantis" vergleichen. Auch in ihnen ist Cyrano nur als Vorläufer zu
betrachten. Er gab die Anregung für die späteren allegorisch-satirischen
Reisebeschreibungen, unter welchen Voltaires ..Micromegas" hervorragt,
und Swifts ..Gulliver" als unübertroffenes Werk allen voransteht. ■*)
Neben dem Wiederaufleben der skeptischen Philosophie, das wir
in den Werken Cyranos und in anderen Kreisen beobachten können,
1) Über Cyrano vergl. noch Victor Fournel, ,,La litterature independante
et les ecrivains oublies au XVII siecle." 2me ed. Paris 1862, Didier & Cie.
S. 50 ff.
551
zeigten sich auch auf ausschließlich litterarischem und gesellschaftlichem
Feld Anzeichen einer beginnenden Opposition, und zwar ging sie aus
der aristokratischen Welt hervor; ja wir finden, daß sie zum Teil von
Richelieu selbst veranlaßt wurde. Der Kardinal war für die Beobach-
tung der festen Regeln in der Dichtkunst, besonders im Drama, sehr
eingenommeo, und sah mit Unlust, daß noch mancher Dichter sich
sträubte, deren Herrschaft anzuerkennen. Aber gleichzeitig war er doch
ein Feind der Übertreibung und Ziererei, die sich allenthalben zu regen
begann, und er verfiel auf den Gedanken, diese verschiedenen, ihm
widerstrebenden Erscheinungen mit deren eigenen Waffen zu bekämpfen,
und sie durch den Spott zu besiegen.
Daß dieser Kampf nicht gewaltig werden konnte, ist klar. Ein
Mann von den beschränkten litterarischen Ansichten Richelieus war nicht
geeignet, eine Partei, zu der er doch selbst gehörte, durch satirische
Angriffe zu reformieren.
Sein getreuer Desmarets, der ihm sonst schon in seinem drama-
turgischen Dilettantismus beigestanden hatte, mußte auch diesmal helfen,
und er bekam den Auftrag, in einem satyrischen Lustspiel die ver-
schiedenen, dem Kardinal widerwärtigen Richtungen anzugreifen. So
entstanden im Jahr 1640 die „Visionnaires". Das fünfaktige Stück
sollte die Schwächen und Extravaganzen der Gesellschaft zeichnen. Die
Idee war an und für sich gewiß gut, allein weder Desmarets noch
Richelieu besaßen genug satirische Kraft. Der Satiriker muß entweder
von glühendem Haß gegen den zu bekämpfenden Feind beseelt sein, oder
er muß so freien Sinn haben, daß er sich über alle streitenden Parteien
hinaus setzt, überlegenen Geistes von hoher Warte herab sie beurteilt
und ihre Fehler wie spielend geißelt. Keine dieser Vorbedingungen fand
sich bei den zwei Männern. Welch dankbaren Stoff hätte ein echter Satiriker
in jener Zeit des Übergangs gefunden! Er hätte nur ins volle Leben zu
greifen brauchen, wo auf dem politischen Gebiet der Widerspruch zwischen
den Bestrebungen des Adels ebenso und seiner geringen Einsicht auffiel, wie
die Mischung von Roheit und Affektation, die sich in der vornehmen
Gesellschaft zeigte. Mit welchem Hohn hätte ein scharfblickender Kritiker
die hohle Lyrik der Zeit, die Übertreibung und Unwahrheit der Romane
und Dramen behandeln können! Desmarets wußte nur wenige dieser
Züge zu benutzen. Er führte in seinem Lustspiel eine Reihe von Zerr-
bildern vor, von welchen einige für seine Zeit schon veraltet waren.
So glaubte er nicht ohne Renommisten („Artabaze") auskommen zu
können; so führte er einen überspannten Dichter Amidor ein. der eher
eine Karrikatur von Ronsard und den Dichtern der Plejade ist, als daß
er die Schwächen der modernen Dichter zur Darstellung brächte.^)
1) Nur selten sind Amidors Worte auch auf die Zeitgenossen des Des-
marets anwendbar. So z. B. I, 3, 4, wo er sich anschickt, ein Bacchusfest zu
beschreiben.
par un vers heroique
Plein de mots ampoules, d'epithetes poussans.
552
Nicht übel ist dagegen die Figur des einen Liebhabers, Filidan, der
ein gar entzündliches Gemüt hat, für jede Dame^ die ihm begegnet, m
Liebe erglüht, nach allen Regeln des Eomans schwärmt und gleich
bereit ist, vor Liebe zu sterben. Der Dichter Amidor beschreibt ihm
eine himmlische Erscheinung, die er gehabt habe, eine Göttin „mit
Korallenaugen, einem Azurmund, braungoldenem Teint und Silberhaaren,
mit Zähnen schwarz wie Ebenholz und mit erloschenem Blick, von
kleinem Wuchs und mit großem Fuß" — und Filidan liebt sie alsbald
mit allem Feuer seiner Seele, ja am Schluß eines Monologs sinkt er
bereits halb tot vor Sehnsucht zusammen.^)
Neben diesen zwei komischen Personen begegnen wir einem
Vater, der seine drei Töchter verheiraten möchte. Jedes dieser Fräulein
hat eine besondere Manie; die eine hält sich für wunderbar schön, und
ist überzeugt, die gesamte Männerwelt sei unglücklich aus Liebe zu ihr;
die zweite verachtet alle Männer ihrer Zeit und liebt nur Alexander
den Großen; die dritte endlich schwärmt nur für das Theater. Lebens-
voll ist aber keines der drei Mädchen gezeichnet. Sestiane, die Freundin
des Theaters, läßt sich in eine längere Unterhaltung mit dem Dichter
ein, der ein Feind der dramatischen Regeln ist und auch Sestiane
von der Nutzlosigkeit derselben überzeugt.-) Zum Dank dafür giebt ihm
diese den Stoff zu einer Tragikomödie. Ein Kind wird ausgesetzt, von
einer Tigerin genährt, später gefunden und an einem Königshof erzogen.
Das Stück beginnt mit der Kindheit des Helden, schildert dann die
Thaten und die Liebe des zum Mann Herangereiften und schließt mit der
Darstellung der Schicksale seiner Kinder.
Diese verschiedenen Personen sind in eine sehr lose Komposition
verflochten. Auf der Jagd nach Schwiegersöhnen findet der Vater der
genannten drei Damen den Bramarbas, den Dichter Filidan und einen
vierten Menschen, der ganz in seiner Traumwelt lebt. Jedem dieser vier
Männer verspricht er eine seiner Töchter und entdeckt zu spät, daß er
mehr versprochen hat, als er halten kann. Aber die Verlegenheit ist
schnell beseitigt, denn die Töchter weigern sich überhaupt zu heiraten.
Wie wenig Desmarets daran dachte, der aristokratischen Richtung seiner
Zeit ernstlich entgegenzutreten, wie es ihm und seinem Herrn vielmehr
nur darum zu thun war, kleine Schwächen zu verspotten und eine
litterarische Rancune zu befriedigen, beweisen die Verse, mit welchen
er sein Vorwort schließt. Wie Horaz sein „Odi profanum vulgus" gesagt
hatte, so erklärt auch Desmarets, daß er nicht für das dumme Volk
schreibe, dem er gar nicht gefallen wolle, sondern daß er nur für die
Aber solche Ausfälle lassen sich auf die schlechten Dichter jeder Zeit an-
wenden und verlieren somit die persönliche Beziehung.
1) Les Visionnnaires, I, 4, 17 ff. und I, 5.
2) Ibid. II, 4, 50:
Pourquoi s'assujettir aux groteques chimeres
De ces emmailletes dans leurs regles austeres?
553
auserwählten und „edlen" Menschen dichte.^) In der That, Desmarets
hatte selbst zu viel in seinen dramatischen Werken gefehlt, und sollte
später in seinem Epos „Clovis" noch zu viel fehlen, als daß er berufen
gewesen wäre, ein litterarisches Richteramt auszuüben.^)
Fast um dieselbe Zeit wie die „Visionnaires" entstand Saint-
Evi'emonds Lustspiel „Les Academiciens", welches eine wirklich
litterarische Satire, einen Angriff gegen bekannte Schriftsteller enthielt*
Ja, es ließ diese letzteren, die es bei ihrem wahren Namen nannte,
persönlich auftreten.
Charles de Saint-Denis, seigneur de Saint-Evremond, stammte aus
einem altadeligen Geschlecht der Normandie, und war wahrscheinlich
1613, vielleicht auch erst ein oder zwei Jahre später geboren. Schon
mit 16 Jahren trat er in die Armee ein und nahm an den großen
Feldzügen in Deutschland teil, wohnte den Schlachten von Freiburg
und Nördlingen bei, und trug eine schwere Wunde am Bein davon,
die ihn monatelang an das Krankenlager fesselte. Obwol er sich durch
seinen Mut ausgezeichnet hatte, verlor er doch die Gunst seines
Generals, des Prinzen Conde, über welchen er sich spöttische Bemerkungen
erlaubte. Diese satirische Laune bildete einen Hauptzug seines Charakters
und sollte auf sein ganzes Leben bestimmend wirken. So oft es ihm
möglich war, kehrte er aus dem Lager nach Paris zurück, wo er sich
in der Gesellschaft beliebt gemacht hatte. Ein Freund leichten Lebens-
genusses, ein „Libertin" und Freund der Ninon, hielt er sich doch
immer innerhalb gewisser Grenzen. In einem Brief an den Grafen
d'Olonne über den Lebensgenuß sagt er: „Sie fragen mich, was ich auf
dem Land treibe? Ich unterhalte mich mit allen möglichen Leuten,
denke über alle möglichen Fragen nach, grüble über keine. Die Wahr-
heiten, welche ich suche, bedürfen keiner Vertiefung; überhaupt will
ich mich über keinen Punkt allzu lang und allzu ernsthaft mit mir selbst
befassen".^) ... Im Verlauf seines Briefs emptiehlt er dann das Maß-
halten, das schon Epikur gelehrt, die „angenehme Indolenz" jenes
1) Siehe d. „Argument" zu den Visionnaires:
„Ce n'est pour toi que j'ecris,
Indoete et stupide vulgaire.
J'ecris pour les nobles esprits,
Je serois marry de te plaire.
2) Richelieu liebte überhaupt diese Gattung der satirischen Allegorie.
Man vergleiche sein Manifest „Europe", eine Art politischer Komödie, in der
er durch Desmarets Spanien angreifen ließ. In diesem Stück treten auf: Franciou,
Ibere und Austrasie. Die beiden ersteren bewerben sich um die Gunst der Dame
Europe. Ibere macht sich jedoch durch sein herrisches, stolzes Wesen verhaßt,
während Francion durch seine Liebenswürdigkeit Europe für sich gewinnt. Die
beiden Ritter suchen auch die Freundschaft der Dame Austrasie zu gewinnen,
wobei ebenfalls Franciou glücklich ist. Austrasie schenkt ihm zum Beweis ihrer
Neigung drei Bandschleifen, welche die drei festen Städte Clermont, Stenai
und Jametz bedeuten u. s. w.
3) Sur les plaisirs. Lettre au comte d'Olouue, Bd. I, S. 144 der Amster-
damer Ausg. 1706.
554
Philosophen, welche nicht als schmerz- und freudloser Zustand, sondern
als die feine Empfindung einer reinen Freude aufzufassen sei, und die
auf der Reinheit des Gewissens und dem Frieden des Geistes beruhe.
Ohne großes Wissen, aber mit scharfem Geist und feinem Geschmack
begabt, zeichnete sich Saint-Evremond bald in den litterarischen und
schöngeistigen Kreisen aus. Aber die hohle Schönthuerei der Lyriker,
die pedantische und unpoetische Manier vieler „Größen" reizten ihn,
und bald nach Desmarets ..Visionnaires" cirkulierte in Abschriften sein
schon oben erwähntes Stück „Les Academiciens".^) Er verspottete darin
die einige Jahre zuvor gegründete Akademie. Godeau, CoUetet, Chapelain,
Boisrobert, Desmarets und andere Leuchten der Litteratur werden redend
eingeführt, und erweisen sich als kleinliche, zänkische Leute, die im
Bewußtsein ihrer Würde und vom Weihrauch, den sie sich gegenseitig
streuen, betäubt, jedes Verständniß für die wirklichen Verhältnisse des
Leben.s verloren haben. In lächerlich pedantischer Weise sitzen sie über
einzelne Wörter der französischen Sprache zu Gericht, und wollen sie
als veraltet oder mißtönend verbannen. Die Satire ist umso gerecht-
fertigter, als solche Vorschläge wirklich gemacht wurden, und die über-
triebenen Puristen Wörter wie car. neansmoins, or u. a. m. nicht mehr
dulden wollten. Doch die Wortklauberei und Pedanterie ist an sich selbst
so armselig, daß sie auch der Satire nur wenig Gelegenheit bietet, ihre
Kraft zu zeigen. Daß sie in jener Zeit oft unerträglich auf den freieren
Geistern lastete, zeigt das Beispiel Cyranos. Saint-Evremonds und bald
auch Molieres. Aber auch eine Satire hat keinen Anspruch auf gi'ößere
Beachtung, wenn sie dem Leser keinen weiteren Horizont bietet, als
Saint-Evremond in diesem Lustspiel gethan. Ein späteres SeitenstOck
zu den „Academiciens" war desselben Verfassers „Comedie des operas",
in welcher er die neu aus Italien herübergebrachte und alsbald sehr
beliebte Manier der ..gesungenen Dramen" verspottet. Doch ist er darin
ganz harmlos. Zu satirischer Kraft erhebt er sich in dem „Gespräch
des Marschalls d'Hoquincourt mit dem Pater Canaye'".^) Sainte-Beuve
setzt diese kleine Erzählung den „Lettres ä un provincial" Pascals
zur Seite. Doch um wirklich mit Pascal wetteifern zu können, fehlte
Saint-Evremond zunächst der Ernst des Satirikers. Er war ohne Be-
geisterung, selbst ohne Wärme. Ein Mann, der die Welt nur als ein
Schauspiel ansieht, und sich nie aus seiner „angenehmen Indolenz"
reißen läßt, kann nicht zum wirklichen Satiriker werden.
Saint-Evremond ist als ein Vorläufer Boileaus anzusehen. Wir
finden in ihm schon etwas von dem Charakter und der Weise der
modernen Kritik. Doch zeigte er sich als Kritiker erst in späteren
1) Es entstand um das Jahr 1643 und trug anfangs den Titel: „La
comedie des Academistes, pour la reformation de la langue fran^oise. Gedruckt
wurde es zuerst 1650 ohne Vorwissen des Verfassers und mit vielen Fehlern
und Entstellungen. 1680 gab Saint-Evremond eine neue, vielfach umgeänderte
Ausgabe heraus. S. Oeuvres, Bd. I, S. 3.
2) Oeuvres, Bd. II, S. 33. Ausführliches darüber siehe Abschnitt II dieses
Bands, S. 43.
555
Jahren, so daß wir seine Thätigkeit auf diesem Gebiet erst in einem
folgenden Band besprechen werden.
Sein Leben wurde plötzlich in eine andere Bahn gelenkt, und der
glänzende, geistvolle Mann in die Verbannung getrieben. Im Jahr 1659
gelang es Mazarin, in dem Pyrenäischen Frieden die langjährige Rivalität
zwischen Frankreich und Spanien zu beenden, und zugleich für sein
Land beträchtliche Erwerbungen zu sichern. Roussillon im Süden, Artois
und eine Reihe fester Punkte an der flandrischen Grenze und in Loth-
ringen rundeten das Gebiet des französischen Reiches ab. Man sollte
denken, daß der endliche Friedensschluß von allen Seiten mit Jubel
begrüßt worden wäre. Allein es gab eine Partei, die nur im Krieg
ihre Geschäfte machen konnte, oder die aus Abneigung gegen den
Minister dessen Politik verdammte. Saint-Evremond, der seit 1652
Marechal de camp war und sich bei einer Sendung in die Guyenne
50.000 Livres erworben hatte, gehörte zu der Partei der Gegner
und schrieb über das Friedenswerk aus Saint-Jean de Luz an seinen
Freund, den Marquis de Crequi, einen Brief voll spöttischer Ausfälle
gegen den Minister. Er stellte darin Mazarin als den Überlisteten hin,
die Franzosen seien um die Früchte ihrer Siege geprellt. Saint-Evremond
glaubte dem Kardinal einen furchtbaren Vorwurf zu machen, wenn er
in seinem Brief sagte, derselbe halte jeden Frieden für günstig,und es sei
ihm nur um die Ersparnis der Kriegskosten zu thun. Daß Frank-
reich unter dem Druck der Kriegslasten zusammenzubrechen drohte,
kümmerte den Pamphletisten nicht. Er gab zu verstehen, daß Mazarin
die Millionen nur ersparen wolle, um sie selbst zu behalten. Die
Maxime Seiner Eminenz sei, der Minister gehöre nicht dem Staat,
sondern der Staat dem Minister.^) In dieser beißenden, aber gerade hier
nicht gerechtfertigten Weise ging es fort, gewiß zur lebhaften Freude
seines Freunds und dessen ganzen Kreises.
Als jedoch 1661 Foucquet, der mächtige Finanzminister, stürzte,
und seine und seiner Freunde Papiere mit Beschlag belegt wurden,
kam der unglückliche Brief in die Hände des Königs, und Saint-
Evremond hielt es für geraten, nach England zu fliehen. Dort sah er
sich sehr freundlich aufgenommen, und blieb daselbst, mit Ausnahme
einiger Jahre, die er in Holland lebte, bis zu seinem Tod. Eine Nichte
Mazarins, die schöne Hortense Mancini, die mit dem Herzog von
Mazarin verheiratet war, aber nach mancherlei unliebsamen Vorfällen
sich auch nach London flüchtete, sah ihn als treuen Freund in dem
glänzenden Kreise, den sie um sich versammelte. Bei Hof gerne ge-
sehen, mit den besten englischen Schriftstellern und Dichtern befreundet,
führte Saint-Evremond ein behagliches Leben. Von den Ufern der Themse
aus verfolgte er die Entwicklung der vaterländischen Litteratur mit reger
Aufmerksamkeit und sein Urteil galt viel in Frankreich. Bezeichnend
ist es freilich, daß er sich in den langen Jahren seines Aufenthalts in
England weder um dessen Sprache, noch dessen Litteratur kümmerte.
') Der Brief ist datiert : November 1659. S. Oeuvres, II, S. 169.
556
Schon damals war die französische Sprache in England genug verbreitet,
so daß er überall verstanden wurde, und mehr verlangte er nicht.
Seine Kritiken flogen über den Kanal, und verfehlten selten ihren
Eindruck, da sie kurz, klar und scharf gedacht waren. Erst im Jahr
1688 wurde ihm die Erlaubnis zur Heimkehr gewährt. Diese lange
Dauer der Verbannung hat manche Historiker, unter ihnen schon Voltaire,
auf den Gedanken gebracht, daß noch ein geheimer Grund vorgelegen
habe, welcher Ludwig XIV. oder Colbert so unerbittlich gegen den
Verbannten gestimmt habe. Im Jahr 1688 aber fühlte sichSaint-Evremond
zu alt, um noch einmal zu übersiedeln. Paris war ihm fremd geworden, und
in London hatte er sich eingelebt. So lehnte er dankend ab. Er starb
in hohem Alter 1703 und fand seine letzte Ruhestätte in dem Pantheon
der Engländer, der Westminster-Abtei.^)
Ebenfalls in bewußtem Gegensatz gegen den Geist, der in der
Litteratur und in der Gesellschaft herrschte, erhob sich der komische
Roman. Dieser bekämpfte hauptsächlich die süßliche Manier der Schäfer-
romane und wollte den schwärmerisch ritterlichen Sinn, die Ideale der
damaligen vornehmen Gesellschaft, als unwahr nicht gelten lassen. Gegen-
über den Schäfern d'Urfes, ßacans und Theophiles, und nicht minder
den salbungsvollen Phrasen Balzacs gegenüber, schlug der komische
Eoman, dessen hauptsächlichste Vertreter Sorel. Scarron und später Pure-
tiere waren, die realistische Richtung ein. Er verfiel dabei in das an-
dere Extrem, und schilderte die Welt, wenn auch nicht immer gerade
von der Nachtseite, so doch jedes idealen Gedankens beraubt. Der Mensch
erscheint in ihm zumeist als ein sinnlich-lüsternes, abenteuerliches, ge-
meines Geschöpf. Der realistische Roman glaubt nicht an die Schönheit
der Seele, die Hoheit der Gesinnung. Er spottet derer, die von solchen
Dingen träumen. Die Verfasser dieser Romane sind mit den holländi-
schen Malern zu vergleichen, die ihre Kunst auch nicht in der Schön-
heit der Auffassung und Darstellung finden. Doch darf man in den
Romanen des 17. Jahrhunderts nicht den Realismus der heutigen Zeit
suchen. Jene versuchten es noch nicht, ein getreues Abbild des wahr-
haften Lebens zu geben. Sie waren noch zum größten Teil Abenteuer-
romane, und wenn man diese auch als .,romans de moeurs" bezeichnet,
so muß man darunter nicht das verstehen, was wir heute „Sittenroman"
nennen.-) Der damalige realistische Roman dringt nicht in das Innere
der Familie, giebt uns kein Bild des Lebens auf den Schlössern des
1) Vergl. Sainte-Beuve, Nouveaux lundis, t. XIII, t. 425 ff., und die
beiden von der Akademie gekrönten Abhandlungen über Saint-Evremond von
Gilbert und Gidel. Eine Auswahl der Werke erschien 1856 bei Techener in
Paris: Oeuvres melees de Saint-Evremond, revues, annotees et precedees d'une
histoire de la vie et des ouvrages de l'auteur par M. Charles Giraud. 3. Bd.
Siehe auch Fournel, La litterature independante, S. 330 ff.
2) Man sagte von einem Eoman, daß seine „moeurs" entweder heroisch
oder burlesk wären, und verstand also unter dem Wort „moeurs" kaum etwas
anderes als Abenteuer. Siehe Eug. Maron, Le roman de moeurs au XVII siecle,
in der „Revue Independante", Februarheft 1848.
557
Adels oder in dem Haus des Bürgers. Daß eine solche Darstellung, von
jedem romantischen Firnis abgesehen, anziehen könne, davon hatte man
noch keine Ahnung. Der komische Roman behandelt dieselbe Welt, wie
der vornehme Eoman ; er hat Liebesgeschichten, heitere und trübe Aben-
teuer in bunter Abwechslung wie jener. Beide unterscheiden sich nur durch
ihre Auffassung und durch die Farbe, die sie ihren Bildern geben.
Der erste, der mit Erfolg in der Gattung des komischen Romans
auftrat, war Charles Sorel de Souvigny. Fir war ums Jahr 1597 zu
Paris geboren und erreichte ein hohes Alter, denn er starb erst 1674.
Sorel gehörte zu einer bürgerlichen Familie und zeigte das Janusgesicht,
das seine Kollegen aus dem Bürgerstand so oft und mit so viel Glück
zu tragen verstanden. Er arbeitete ernsthaft und fleißig, war ein Ge-
lehrter, Historiograph von Frankreich und hat als solcher eine Reihe
von Büchern geschrieben, die heute niemand mehr liest. Neben dem Ge-
lehrten aber lebte in ihm noch ein satirischer, dem Scherz geneigter
Mann. Dessen Schriften hatten ein ganz anderes Gepräge und fanden
einen außerordentlichen Leserkreis. Hatte nicht ebenso Passerat, der ge-
lehrte Professor der Beredsamkeit zur Zeit der Ligue, Trink- und Liebes-
lieder, satirische und frivole Gedichte gefertigt? Im Kreise der Schrift-
steller seiner Zeit zeichnete sich Sorel durch seinen Unabhängigkeits-
sinn aus. Er verschrieb sich keinem hohen Herrn zu Dienst, zierte seine
Werke mit keinerlei Dedikation, scheute sich auch nicht, offen seine
Meinung über die Werke seiner Zeltgenossen zu sagen und die Geschmacks-
richtung der ganzen Epoche zu verspotten. Freilich wußte er seine Kritik
in eine Form zu kleiden, die der besten Aufnahme sicher war, In die
Form einer Erzählung; und diese schmückte er mit so viel satirischen,
oft obscönen Geschichten aus, daß er selbst in Kreisen, die sich um
seine lltterarlschen Ideen nicht kümmerten, zahlreiche Leser finden mußte.
Ist doch eine halbwegs gute Satire bei allen, die nicht von Ihr getroffen
werden, williger Aufnahme sicher.
Wie „Don Qulxote" sich gegen die Ritterromane erhoben hatte,
so suchte Sorel In seinem komischen Roman „ Francion " die Schäfer-
romane und die romantischen Ideen der vornehmen Welt zu verspotten.
Freilich fehlte Ihm das Genie des spanischen Dichters und sein „Fran-
cion" ragt nicht von weitem an die unsterbliche Erzählung des Cer-
vantes heran. Aber Immerhin erregt er unser Interesse als ein Beweis
der starken Gegenströmung, die sich fast gleichzeitig mit dem Erscheinen
der „Asträa" bildete. Der zweite Band des d'Urfe' sehen Romans erschien
im Jahr 1622 und in demselben Jahr wurde auch „ Francion " veröffent-
licht. Nach dem Vorbild der In Spanien damals beliebten Abenteuer-
romane erzählt Sorel In „Francion" die Geschichte eines jungen Adeligen.
Der ganze Roman dreht sich nur um den einen Mann ; Abenteuer reiht
sich an Abenteuer und der Gang der schon an sich bunten Geschichte
wird noch durch eine Reihe von Novelletten unterbrochen. Francion, so
heißt der Held der Geschichte, stammt aus einer alten bretonischen Fa-
milie, ist aber früh nach Paris gekommen, wo er sich in allen mög-
lichen Kreisen, In der feinsten Gesellschaft wie unter der Hefe des Volkes,
558
umhergetrieben hat. Die ersten Bücher zeigen Francion in der Provinz.
Er ist in ein galantes Abenteuer auf einem Schloß in Burgund ver-
wickelt, das mit einigen Unannehmlichkeiten für ihn endigt. Er muß
fliehen und begegnet einem Edelmann, der ihn mit in sein Haus nimmt.
Ihm erzählt nun Francion in den folgenden Büchern seine früheren Er-
lebnisse, seine Erfahrungen auf der Schule, sein kümmerliches Leben in
Paris, seine dichterischen Versuche, seine Verbindungen mit der Diebs-
welt und deren Freundinnen, und endlich seine Bekanntschaft mit einem
hohen Herrn, unter dem wahrscheinlich der Herzog von Orleans gemeint
ist. Im Verlauf der Geschichte kommt Francion nach Italien, wo er als
Schäfer und Wunderdoktor seine Talente beweist, und zum Schluß nach
Rom. Dort findet er nach vielen glücklich überstandenen Gefahren end-
lich eine junge Witwe, mit der er sich vermählt und die ihn zum Ent-
schluß bringt, nach Frankreich heimzukehren, um daselbst ruhig und
bürgerlich anständig zu leben.
Dies ist der Eahmen, in welchen Sorel das Bild der Gesellschaft,
wie sie ihm erschien, eingefügt hat. Für die Kenntnis der damaligen
Sitten ist der Eoman sehr wertvoll, trotzdem Sorel oft mit gar grellen
Farben aufträgt, immer auch auf der Oberfläche bleibt. Aber die ein-
zelnen Skizzen, die er entwirft, bieten ihm Gelegenheit, die verschieden-
artigsten Menschen zu schildern. Bald macht er uns mit dem unbestech-
lichen Richter bekannt, der alle Geschenke schroff abweist, aber sie durch
seine Frau entgegennehmen läßt; bald besuchen wir mit Francion die
Schule und begegnen auch hier wieder dem Pedanten — einem von
jenen, die Cyrano so liebt und die ihren Namen mit der Endsilbe „us"
verschönern, um sich den Anschein von Gelehrsamkeit zu sichern. Sie
arbeiten mit Vorliebe mit dem Stock und sind stark in etymologischen
Erklärungen, wie z. B. daß das Wort „luna" eine Zusammenziehung
aus „quasi luce lucens aliena" vorstellt. Natürlich vertiefen sich die
Schüler während des Unterrichts in die Lektüre anderer Bücher, ver-
schlingen alle möglichen Ritterromane und träumen von Helden, Zau-
berern und liebevollen Prinzessinnen. Der Hauptpedant, Hortensius, dem
Francion auch in Rom wieder begegnet, ist eine Karikatur Balzacs. Dem
ebenso eitlen wie beschränkten Menschen wird aufs übelste mitgespielt,
in der Schule sowol wie später in Rom, wo man mit ihm eine wahre
Posse ausführt. Eine polnische Gesandtschaft erscheint vor ihm und fleht
ihn an, er wolle die polnische Krone annehmen. Hortensius bläht sich
nun im Gefühl seiner Hoheit auf und dient der übermütigen Gesellschaft,
in die er geraten ist, einige Tage als Zielscheibe des Spotts. Wie Balzac,
werden auch Boisrobert und Poeten seines Schlags unter anderem Namen
gezeichnet, und mit besonderem Nachdruck erhebt sich Sorel gegen den
Schwulst in der Poesie. Einer der besten Abschnitte des Buchs ist die
Schilderung des Buchhändlerladens, in welchem sich die Dichter und
Schöngeister treffen, ihre Ansichten austauschen, ihre Pläne und Arbeiten
besprechen. Hier tritt die polemische Absicht Sorels deutlich zu Tage.
Aber auch an anderen Stellen spricht er sich offen aus. So läßt er im
zehnten Buch eine Dame, Joconde, folgendermaßen über die Schäfer-
559
romane urteilen: „Die Schäfer sind darin Philosophen und lieben wie
der ritterlichste Mann der Welt. Und warum? Warum macht er (der
Verfasser) diese Perronen nicht zu wohlerzogenen Kavalieren? Wenn er
sie dann Wunder der Klugheit verrichten und sie himmlisch schön reden
ließe, würde man sich nicht wie über ein Mirakel entsetzen. Die wahre
sowol wie die erdichtete Geschichte müssen beide die Dinge der Natur
gemäß darstellen, sonst werden sie zu Märchen, die wol Kinder unter-
halten können, nicht aber Menschen von reichem Geist. . . Ebenso gut
könnte man einen Roman schreiben, in dem verliebte Kavaliere vor-
kommen, die im Patois der Bauern reden."') Aber Sorel tadelt nicht
allein die falsche Manier des Romans, sondern auch den Ernst, mit dem
er behandelt wird. „Wir haben genug tragische Geschichten", beginnt
er seine Erzählung, „die uns immer nur traurig machen; man muß auch
einmal eine komische Geschichte haben, welche die verdrossensten Ge-
müter aufheitern kann", und später, zu Beginn des achten Buchs, sagt
er: „Mag den Heraklit vorstellen, wer da will; ich bin lieber Demokrit,
und die ernsthaften Angelegenheiten hienieden sollen mir nur noch als
Possen erscheinen". 2)
Mehr als einzelne Erklärungen, seien sie auch noch so nachdrück-
lich, spricht die ganze Haltung des Buchs für die oppositionelle Ge-
sinnung des Verfassers. Er will nichts von jenen subtilen Idealen wissen,
nichts von der kühlen Feinheit, der vorsichtigen, züchtigen Rede. Er ist
ein Anhänger des Rabelais und liebt, wie jener, das freche Wort und
die cynische Anekdote. Nur beeilt er sich, seine unzüchtigen Geschichten
mit einer moralischen Nutzanwendung zu schließen: er betont, daß er
solche Vorgänge nur schildere, um das Gefährliche des gemeinen Lebens
zu beweisen. Nicht anders klingt die Abschreckungstheorie mancher
heutigen Schriftsteller in Frankreich, die das Lasterleben in eingehender,
fast liebevoller Weise schildern, um moralisch zu wirken. Von seinem
Standpunkt aus mußte Sorel die stilistische Sorgfalt verwerfen, und so
ist seine Schreibweise denn auch nachlässig, seine Sprache oft matt, und
von Aufwallung oder Wärme zeigt sich nirgends eine Spur bei ihm.
Seine Personen sind entweder schlecht oder liederlich; das ganze Buch
ist nur lose gefügt und ohne Geschmack geschrieben.
1) Francion, Livre X, S. 387 (ed. Colombey): „11 y a bien de l'apparence:
Les bergers sont ici philosophes, et fönt l'amour de la meme sorte que le plus
galant homme du monde. A quel propos tout ceci? Que Tauteur ne donne-t-il
ä ces personnages la qualite de Chevaliers bien mourris ? Leur fit-il, en tel etat,
faire des miracles de prudence et de bien dire, l'on ne s'en etonneroit point
comme d'un predige. L'histoire veritable ou feinte doit representer les choses
au plus pres du naturel; antrement c'est uue fable qui ne sert qu'ä entretenir
les enfans au coin du feu, non pas les esprits mürs dont la vivacite penetre
partout. II fait bon voir ici Tordre du monde renverse. Je suis d'avis, pour moi,
que Ton compose un livre des amours des Chevaliers, ä qui l'on fasse parier le
patois de paysans, et ä qui l'on fasse faire des badineries de village. La chose
ne sera point plus etrange que celle-ci qui est sa contraire."
1) Francion, livre I, S. 19, und livre VIII, S. 301.
560
Trotz seiner Schwächen fand es indessen den größten Beifall. Sorel
hat nie seine Autorschaft zugestanden, aber bezweifelt kann sie nicht
werden. In den ersten zwanzig Jahren (von 1622 — 1644) soll „Fran-
cion" fünfundvierzigmal aufgelegt worden sein, und die neuen Ausgaben
brachten viele Änderungen und Zusätze. Im Lauf des Jahrhunderts hat
das Buch gar an die sechzig Auflagen erlebt; ein für jene Zeit uner-
hörter Absatz, und ein neuer Beweis dafür, daß auch in der Litteratur
nicht immer das Beste gleich den größten Erfolg hat. Wenn „Francion"
seine Beliebtheit vorzugsweise durch seine realistische Manier erlangt
hätte, so müßten wir in der weiteren Entwicklung der Litteratur eine
steigende Tendenz in dieser Richtung bemerken. Dies ist aber nicht der
Fall, denn Romane, wie Jean de Lannels ., Roman satirique" (1624),
Clervilles „Gascon extravagant"* oder Du Verdiers „Chevalier hypocon-
driaque" waren nur schwache Nachahmungen des Sorel'schen Werks,
und auch die späteren Romane dieser Art, wie Scarrons und Furetieres
Erzählungen, erwiesen sich ohne nachhaltige Wirkung. Darum erscheint
der Schluß wol gerechtfertigt, daß „Francion" seine Popularität zum
großen Teil den eingestreuten obscönen Geschichten verdankt.
Trotz seiner Verbreitung vermochte indessen aach „Francion" die
Popularität der Schäferromane nicht zu beeinträchtigen. Auch das neue,
kampflustige Werk, das Sorel 1627 in drei Bänden veröffentlichte: „Le
berger extravagant",^) brachte ihnen keinen Schaden. Sorel griff darin
den Schäferroman aufs neue an, wobei er sich unverkennbar an das
Vorbild des Don Quixote hielt. Wie dort der Hidalgo durch die Lektüre
der Ritterromane den Verstand verliert, so hier Lysis durch die vielen
Schäferromane und Schäfergedichte, an deren Wahrheit er glaubt. Lysis
kleidet sich als Schäfer, fällt eines Tags in den hohlen Stamm einer
Weide und glaubt, er sei in einen Baum verzaubert. Die Mittel, die
seine Freunde anwenden, ihn aus dem Stamm heraus zu locken, sind
allerdings sehr ergötzlich, allein das Ganze ist zu lang und wird monoton.
Zudem ist Sorel so gänzlich des poetischen Gefühls bar, daß er jede
Poesie als unwahrscheinlich und unnatürlich verurteilt, und von der
Iliade so wenig wissen will, wie von den girrenden Pastoralgedichten
seiner eigenen Zeit.
Weitaus der bedeutendste Roman der ganzen Gattung war Scarrons
„Roman comique", der allerdings bedeutend später, erst 1651 — 1657,
erschien. Der Name Scarron führt uns zu der burlesken Dichtung über,
die den schärfsten Gegensatz gegen die herrschende Geistesrichtung dar-
stellt, und deren Hauptvertreter eben Scarron war. Wir betrachten des-
halb Scarrons Leben und Thätigkeit im Zusammenhang, weil der Charakter
der einzelnen Werke dann umso besser hervortritt.
Paul Scarron war 1610 oder 1611 zu Paris geboren. Sein Vater
war Parlamentsrat, und besaß ein großes Vermögen.^) Die Kinder er-
1) „Le berger extravagant, oü, parmi des fantasies amoureuses, Ton voit
les impertinences des romans et de la poesie." Manche Ausgaben haben auch
geradezu den Titel „L'Antiroman".
2) Nach Parfaict VI, 341 hatte er mehr als 20.000 Livres Rente.
561
li leiten eine gnte Erziehung, allein sie verloren frühzeitig ihre Mutter.
Der Vater heiratete noch einmal, und mit der Stiefmutter zog Zwietracht
in das Haus. Paul Scarron führte ein lockeres Leben nach Art der
jungen, reichen Leute, und sah sich bald mit dem Vater aufgespanntem
Fuß. Selbst in ihren litterarischen Ansichten standen sie einander gegen-
über. Dieser pries Ronsard und die alte Dichterschule, der Sohn hielt
es mit Malherbe und der neuen Manier, und gefiel sich in freigeistigen
Ideen. So lang der Vater seine Stellung inne hatte, konnte Paul sein
sorgloses Leben fortsetzen, ging auch einmal nach Rom. und, nahm, um
nicht ganz ohne Stellung zu sein, die kleinen Weihen. Das erlaubte ihm,
geistliches Gewand anzulegen, verpflichtete ihn aber zu nichts. Im
Jahr 1639 aber überfiel ihn plötzlich eine schwere Krankheit, die ihn
lähmte und zum armseligen Krüppel machte. Er war erst 27 Jahre alt.
Seit jener Zeit war tes ihm unmöglich zu gehen; zu einem Z verzogen,
wie er über sich selbst spottend sagte, saß er unbehilflich in einem
Lehnstuhl, fortwährend von Schmerzen gepeinigt und von Schlaflosigkeit
geplagt. Nur Opium brachte ihm momentane Hilfe. Einige Jahre später
verlor sein Vater seine Stelle. Das Parlament war in ofienen Streit mit
Richelieu geraten und dieser verbannte die heftigsten Oppositionsredner
aus Paris, ja er entsetzte sie widerrechtlich ihres Amts (1641). Zu diesen
letzteren gehörte auch Scarron, der seinen Sturz nur kurze Zeit über-
lebte. Bei seinem Tod zeigte es sich, daß das Vermögen zerrüttet war.
Über die Erbschaft entspann sich zudem noch ein Prozeß zwischen den
Kindern der ersten und zweiten Ehe, der zu gunsten dei' letzteren ent-
schieden wurde. Der Kranke sah sich mit einem Mal verarmt und seine
Lage schien verzweifelt. Allein trotz der heftigsten Schmerzen verlor er
seinen Lebensmut und seinen Humor nicht, und diese Elasticität des
Geistes rettete ihn. Auf seinen Lehnsessel gebannt, wußte er doch einen
belebten Kreis um sich zu vereinigen. Seine elegant ausgestattete Woh-
nung bildete einen Hauptsammelplatz der frivolen und geistreichen jungen
Aristokraten. Man konnte sicher sein, bei ihm gute Gesellschaft und
heiteie Unterhaltung zu finden. Sein Witz war unerschöpflich, aber nicht
bitter. Von Schulden bedrängt, ließ er sich deshalb nicht aus seinem
Gleichmut bringen. Ging es doch in dieser Hinsicht vielen seiner vor-
nehmen Bekannten nicht besser. Außer dem Humor hatte sich Scarron
noch einen guten Magen und gesunden Appetit bewahrt, und gar oft
fanden sich seine Freunde zu einem fröhlichen Mahl bei ihm zusammen.
Jeder brachte dann seine Spende für die Tafel mit, die dadurch oft gar
sonderbar zusammengestellte Gerichte sah, um die sich aber immer lustige
Gesellen gruppierten. Eine Reihe von Episteln, gereimten Briefchen,
gingen von ihm an seine Gönner und Gönnerinnen. Sie sind zum Teil
erhalten und in seinen Werken mitgeteilt. Sie richtig zu beuiteilen, darf
man sie nicht als Gedichte ansehen; sie haben keinen An.spruch auf
litterarischen Wert, sondern können nur als Proben des Tons gelten,
der in jener Gesellschaft herrschte. Als Patient erlaubte sich Scarron
ganz besondere Freiheiten der Rede. Geschmackvoll waren seine Episteln
selten, geistvoll auch nicht oft; der Reiz, den sie für seine Freunde
Lotheiße II, Gesch. d. franz. Litteratur. ^g
562
hatten, lag hauptsächlich in den eigentümlichen, possierlichen Wendungen
und dem burlesken Ton, mit dem er ernste Fragen behandelte. Auch der
Heroismus, mit dem er seine Leiden ertrug, mag viel zu der freundlichen
Aufnahme, die seine Schreiben fanden, beigetragen haben. Selbst dem
König erlaubte sich Scarron in einem gereimten Gesuch zu sagen, er
sei ein armer Krüppel — aber er wählte dazu ein burleskes Wort —
und weine nber sein Leiden wie ein Kalb, cft auch wie zwei oder vier
Kälber. ') Ein Dankgedicht an einen Bekannten schloß er mit den Worten :
, Adieu, je m'en vais me coucher".-) An Pellisson, der im Dienste
Foucquets stand und für Scarron eine Pension vom Minister erlangt
hatte, schrieb er in ähnlichem Stil, halb ernst, halb ironisch gemeint,
und schloß auch hier nach vielen Worten des Lobs und der Erkennt-
lichkeit: „Mais il est tard, je m'en vais manger''.^) Ein andermal
schickte ihm seine Freundin, MUe. d'Escars, eine große Pastete; flugs
antwortete er mit launigen Versen. Als sie bei einer Spazierfahrt mit
dem Wagen umgeworfen wurde, beeilte er sich, ihr sein Beileid auszu-
drücken, aber nicht ohne derbe Scherzworte, und wieder mit dem trivialen
Schluß: „Es schlägt ein Uhr, ich geh' zu Bett".'*)
Seine stete Geldverlegenheit machte ihn erfindungsreich. Er wandte
.sich an die ßegentin und schilderte ihr in seiner Weise sein Unglück.
Wenn sie ihm etwas zuwende, werde sie gleich ein ganzes Hospital
unterstützen, und er bittet, sie möge ihn zu ihrem Hof-Kranken er-
nennen.■') Die Königin bewilligte ihm ein Geschenk von öOO Ecus und
gab ihm bald auch dieselbe Summe als jährliche Pension. Im Jahr 1646
erhielt er ferner eine kleine Pfründe in Le Mans. Dies genügte nicht.
1) Requete au Roi, v. 1 :
Grand monarque chez qui mesdames les vertus
Ont choisi leur demeare,
Je suis un cul de jatte ä qui membres tortus
Font grand mal k toute heure.
J'en pleure comme uq veau, bien souveiit corame deux.
Quelquefois comme quatre. .
^) Au reverend pere Clausel de la Mercy. Epitre.
3) A. M. Pellisson. Epitre IL
*) A l'infante d'Escars, epitre. — A. Mlle. d'Escars. Le voyage de la Reine
la Barre:
Mais une heure vient de sonner,
Je ferai bien de terminer
Cette bonne ou mauvaise lettre;
Et puis je ne sais plus qu'y mettre.
Pardonnez ä votre cocher
Adieu, je m'en vais me coucher.
■') A la Reine-mere:
Je n'aurai pas peu de fierte
D'etre de votre majeste
Le tres obeissant malade.
563
und so verfiel Scarron auf den Gedanken, auch durch seine Feder Geld
zu verdienen.
Im Jahr 1644 veröffentlichte er ein burleskes Epos in fünf Ge-
sängen, den „Typhon". Damit führte er die Burleske in die Litteratur
ein. Diese Gattung ist genau betrachtet nur die Negation jeder Poesie,
eine Verhöhnung der edleren Gefühle und des Sinns für Schönheit. Denn
die Burleske wählt sich zumeist einen heroischen, hochdramatischen Stoff,
eine epische Erzählung, und behandelt ihn in niedrig komischer Weise.
Die großen Figuren der Sage und Geschichte, des Epos und der Tra-
gödie bleiben, aber sie werden zur Gemeinheit herabgezerrt. Durch diesen
Gegensatz allein sucht die Burleske zu wirken. Sie setzt an die Stelle
des wahren und schönen Ausdrucks ein falsches und häßliches Wort,
und während sie das, was groß ist, mit kleinlichen Mitteln schildert,
bauscht sie das Armselige, Vergängliche durch hochtrabende, bombastische
Redensarten bis zur Lächerlichkeit auf. Die Burleske giebt sich als die
Gegnerin des gezierten, unwahren Stils, sie will die Affektion in der
Litteratur bekämpfen, aber sie ist selbst nur ein Beweis des verdorbenen
Geschmacks. Wie jene steht auch sie auf schwankem Boden, auch sie
erhält sich nur durch die Unnatur. So kann sie wol die Menge zum
Lachen bringen, aber Abhilfe kann sie nicht schaffen. Die Burleske
unterscheidet sich wesentlich von dem heroisch-komischen Gedicht. Das
letztere besingt kleine Vorgänge in heroischer Sprache und läßt Kaum
für geistreiches Spiel. Denn es sinkt nie zur Gemeinheit herab, wirkt
aber oft erheiternd durch den Gegensatz zwischen Form und Inhalt. Man
denke an den „Froschmäuslerkrieg'' und Boileaus „Lutrin". Die burlesken
Gedichte waren der Mehrzahl nach in achtsilbigen Versen verfaßt, weil
sich dieses Metrum zur leichten Plauderei am meisten eignet und der
Prosa nahe kommt. Bald sprach man kurzerhand von dem „burlesken
Vers", was zu manchem Irrtum Veranlassung gegeben hat. Denn die
Leichtigkeit, mit der man ihn handhaben konnte, bewog manche Dichter-
linge, auch ernstere Gegenstände in diesem Maß zu behandeln. Es ist
bekannt, daß ein Gedicht, „La passion de Notre Seigneur en vers bur-
lesques", welches 1649 erschien, zwar nicht bei den Zeitgenossen, wol
aber bei den späteren Kritikern, die nur den Titel sahen, als eine Blas-
phemie Entrüstung hervorrief, da es doch nur in achtzeiligen Versen
verfaßt war.
Eines schönen Sonntag nachmittags, nach einem guten Mittag-
mahl, erzählt Scarron im ersten Gesang seines Epos, schlägt Typhon
seinen Brüdern und Freunden, den Titanen, in Thessalien ein Kegelspiel
vor. Der Vorschlag wird angenommen. Riesige Felsblöcke stellen die
Kugeln vor. Doch das Verhängnis will, daß einer der Titanen aus Un-
geschicklichkeit Typhon eine Kugel ans Bein wirft, und dieser ergreift
im ersten Zorn Kugeln und Kegel und schleudert sie fort, so weit er
kann. Unglücklicherweise fliegen sie bis auf den Olymp in die Behausung
der unsterblichen Götter, werfen den Schenktisch um. zerschlagen Gläser
und Teller und richten noch sonstiges Unheil an. Entrüstet ob dieses Frevels,
entsendet Jupiter seinen Boten Merkur und fordert unter schrecklichen
36*
564
Drohungen Ersatz, hundert venetianische Gläser zum wenigsten. Abev
Tj^phon und seine gottlose Bande verspotten den Abgesandten der Olympier
und so beginnt der Krieg. Nachdem der zweite Gesang von dem Kriegsrat
der Götter erzählt hat, schildert der dritte den Überfall, den die Titanen
wagen, den Kampf und die Flucht der Götter. Armselig ziehen sie
durch die Lande, Merkur versetzt das Halsband der Venus und kauft
dafür Kleider bei einem Juden, und so sonderbar kostümieren sich die
Götter, daß man sie für wandernde Schauspieler hält. Zum Glück treffen
sie Herkules, der ihnen, einem Orakelspruch zufolge, allein zum Sieg
verhelfen kann. (Vierter Gesang.) Von frischem Mut belebt, kehren sie
zur Wahlstatt zurück, erneuern den Kampf und siegen endlich nach
großer Anstrengung.
Ein Jahr nach dem Erscheinen des „ Typhon " (1645) veröffent-
lichte Scarron eine Sammlung seiner Gedichte und einige nach spani-
schen Mustern gearbeitete Novellen. Einmal auf die große Litteratur des
Nachbarlandes aufmerksam gemacht, fand er in ihr noch weitere Hilfe.
Eine reiche Mine entdeckte er besonders in dem spanischen Theater,
aus dem er mehrere Lustspiele und Tragikomödien ins Französische
übertrug. Er nahm den Plan, die Haltung des spanischen Stücks, änderte
nicht einmal die Namen und den Schauplatz, wie es Corneille in seinem
„Menteur" und der ..Suite" gethan hatte, und versuchte auch nicht,
seiner Bearbeitung etwas französischen Geist einzuhauchen. Nur in der
Behandlung der Sprache erlaubte er sich, seine eigenen Wege zu gehen.
So sind denn seine dramatischen Werke ohne besondere Bedeutung für
die Geschichte des französischen Theaters geblieben.') Sie bieten die
Manier des spanischen Degen- und Mantelstücks mit den herkömmlichen
Personen, den ritterlichen Liebhabern, die alle einander ähnlich sehen,
den heißblütigen und etwas leichtsinnigen Damen, und sie erheitern durch
die bekannten Mittel, durch Intriguen. Verkleidungen und Verwicklungen
aller Art. Die traditionelle Romantik des spanischen Landes — Balkon-
scenen, Entführungen, Duelle — alles hat Scarron beibehalten. Nur die
Reihe der lustigen Personen hat er durch seinen „Jodelet" vermehrt.
Jodelet ist der spanische „Graciosa" in seiner gemeinsten Metamorphose.
Er ist der durchtriebene Diener, den das Lustspiel der früheren Zeit
nicht glaubte entbehren zu können. Aber Scarron überbot in seiner
Zeichnung noch den Cynismus der früheren Possen und ließ seiner
übermütigen und frechen Laune freien Lauf. Er schilderte Jodelet als
einen gefräßigen, plumpen und feigen Menschen, der durch keinen Zug,
sei es der Anhänglichkeit oder auch nur der Geistesgegenwart und
Schlauheit, die Sympathie der Zuschauer erwirbt. Jodelet bringt wol zum
Lachen, spielt aber eine durchaus verächtliche Rolle. Scarron hat in
ihm offenbar ein Gegenbild gegen den „Helden" des vornehmen Schau-
1) Die Titel seiner Stücke sind: „Le marquis ridicule", com.; „L'ecolier
de Salamanque-', tragicom.; „L'Heritier ridicule", com.; „Jodelet duelliste''
(früher betitelt: „Jodelet soufflete ou les ^ Dorothees), com.; „Jodelet ou le
maitre valet", com.; „Dom Japhet d'Armenie", com.; „La fausse apparence",
com.; „Le prince corsaire", tragicom.
565
Spiels und des Eomans aufstellen wollen. Dies tritt besonders in der
Posse „Jodelet ou le maitre valet" (1645) zutage. In einigen Stanzen,
welche die Art der tragischen Monologe persifflieren, rühmt Jodelet dort
sein Los. „Gesegnet sei der Himmel", ruft er aus. „der mich so arm-
selig schuf, daß ich den Knoblauch höher schätze, als die Ehre!" Seiner
Ansicht nach lebt sichs in der Gemeinheit am besten ! Und warum sollte
man sich ereifern, wenn einem fünf Finger auf die Wange fahren? Auch
der Barbier legt den Leuten ja die Hand ins Gesicht.^) -
Die Scarron'schen Lustspiele unterscheideii sich von anderen ähn-
lichen Stücken duich ihren leichten, rasch fließenden Dialog. Man findet
zwar nirgends eine feine psychologische Wendung oder eine auffallende
Charakterzeichnung. Scarron bleibt auf der Oberfläche. Aber er hat das
Talent, die Scenen in unterhaltender, witziger Manier zu entwickeln, und
insofern hat er beigetragen, Meliere die Bahn zu ebnen. Wenn man
seine Lustspiele jedoch mit jenen Corneilles vergleicht, sieht man augen-
blicklich, wie völlig Scarron noch zu der alten Schule gehörte. Das
Charakterlustspiel war ihm völlig fremd.
1648 ließ Scarron seinen „Virgile travesti" folgen, der noch mehr
Glück hatte als der „Typhon", und als das Vorbild und Hauptwerk der
ganzen Gattung anerkannt wurde. Scarron travestierte darin in seiner
platten Manier die Virgil'sche Äneide. Es giebt kaum ein schlimmeres
Zeichen für den verirrten Geschmack, der um die Mitte des Jahrhunderts
nach der Herrschaft strebte, als der Beifall, den dieses langatmige,
burleske Epos sich erwarb. Mit Recht fand Boileau in der niedrigen,
mit der Gemeinheit der Gedanken und des Ausdrucks sich brüstenden
Litteratur die äußerste Grenze des Ungeschmacks.-) Einige gelungene
Einfälle können über die W^itzlosigkeit der ganzen Gattung nicht täuschen,
die darum auch bei dem Beginn der neuen großen Epoche rasch und
spurlos verschwand.
Dauernde Bedeutung erwarb von allen Werken Scarrons nur sein
.Roman comique". Dieses Buch führt uns zu der erzählenden Litteratur
'zurück, in der wir bereits eine starke oppositionelle Strömung erkannt
hatten. Wie Sorel in seinem „Francion" die realistische Manier anzu-
wenden suchte, so wandte sich auch Scarron in seinem Roman der
Schilderung der derben Wirklichkeit zu. Die Idee dazu soll er auf einer
Reise gefunden haben. In Le Mans sei er, so wird erzählt, mii einer
wandernden Schauspielertruppe zusammengetroffen, und diese Begegnung
1) Jodelet ou le maitre valet, IV, 2 (Stances).
Str. 1. v. 9—11:
Que beni soyex-vous, seigneur,
Qui m'avez fait un miserable
Qui prefere l'ail ä l'honneur.
Str. 2, V. 10 und 11:
D'etre peu beaucoup je me prise,
II n'est lien tel qu'etre pied-plat.
2) Boileau, Art Poetique, I, 79—90.
566
habe ihm den Plan eingegeben, die Kreuz- und Querzüge einer solchen
Gesellschaft zu erzählen.
Der „Roman comique" erschien in zwei Teilen (1651). In Form
und Anlage schloß er sich den früheren Romanen an. Um eine einfache
Erzählung gruppieren sich eine Menge Episoden, selbständiger Novellen.
Aber so lebhaft wie Scarron hatte noch keiner seiner französischen
Vorgänger erzählt, und sein Roman bildet einen entschiedenen Fortschritt
in der Novellistik. Seine Schilderungen sind frisch und natürlich ;
überall fühlt man. wie er bemüht war, auf dem realen Boden zu bleiben.
Darum verlegte er auch den Schauplatz seiner Erzählung in die Stadt
und Umgegend von Le Maas, die er genau kannte. Der Roman beginnt
mit der Schilderung des malerischen Einzugs einiger Schauspieler
in der genannten Stadt. Auf einem von vier Ochsen und einem Pferd
gezogenen Karren werden die Habseligkeiten der Gesellschaft transportirt.
Auch eine Alte hat Platz auf dem Fuhrwerk gefunden, während zwei
Männer nebenher schreiten. Ihre Tracht ließe eher auf Zigeuner schließen.
Allerdings sind sie mehr auf einem fluchtartigen Zug als auf einer
friedlichen Kunstreise begriffen. Sie hatten ihre Bühne in Tours auf-
geschlagen, aber ihr Portier hatte dort das Unglück, einen Mann zu
erschlagen, und so brachen sie bei Nacht und Nebel auf, um sich zu
retten. Unterwegs trennten sie sich, mit dem Versprechen, in Alencon
wieder zusammenzutreffen. Die paar Künstler, die nach Le Mans kommen,
erregen die Neugierde des Publikums, und noch am Tag ihres Ein-
treffens spielen sie trotz ihrer geringen Zahl vor dem kunstsinnigen
Publikum des Städtchens auf einer improvisirten Bühne und mit sehr
primitiver Ausstattung Tristans berühmtes Trauerspiel „Mariamne".
Man weiß eben die Stücke den Bedürfnissen des Augenblicks gemäß
einzurichten. Bald finden sich noch andere Mitglieder der versprengten
Truppe in Le Mans ein. und eine Reihe bunter Bilder gleitet an dem
Leser vorüber. Die Hauptpersonen der Gesellschaft sind der jugendliche
Held ^Le Destin". der Sohn eines armen Edelmanns.
Er ist nach vielen Abenteuern endlich Schauspieler geworden,
um seiner Geliebten, Leonore, die durch den Tod ihrer Mutter in bittere
Verlegenheit geraten ist, zu helfen. Auch Leonore geht unter
dem Namen „L'Etoile" auf die Bühne und entzückt die Zuschauer
jedesmal durch ihre Kunst und ihre Schönheit. Zudem ist sie untadelhaft
in ihrem Benehmen. Dafür wird ihr von vielen Seiten nachgestellt.
Zuerst von dem bösartigen Polizeibeamten La Rappinere, der ein Aus-
bund von Gemeinheit ist, dann von einem ausschweifenden Junker, der
vor keiner Blutthat zurückscheut, Leonore rauben läßt und dem Lo Destin
nur durch ein Zusammentreffen glücklicher Umstände seine Beute recht-
zeitig wieder entreißen kann. Außer diesen gefährlichen Bewerbern
findet sie in dem kleinen Advokaten Ragotin noch einen komischen
Verehrer. Aus Leidenschaft für die Künstlerin läßt er sich in die
Gesellschaft aufnehmen ; seine Liebe kostet ihn viel Geld, da er die
Kameraden häufig freihalten muß, und er gerät in eine Menge komischer
und für ihn peinlicher Abenteuer. Neben Le Destin und L'Etoile erscheint
567
noch eine Reihe von „Künstlern". An ihrer Spitze der alte, durch-
triebene, gemeine La Rancime. das Bild eines durch viele Erfahrungen
um jede Illusion gebrachten Menschen, der nur an sich denkt, jeden
Umstand zu benutzen weiß und selbst einen gelegentlichen Diebstahl
für einen hübschen Scherz ansieht, der jeder Rolle gewachsen ist und
sich für den besten aller Schauspieler früherer und jetziger Zeit hält.
Die Schauspieler haben oft auch Schüler, die zugleich Dienerstelle ver-
sehen und allmählich in die Geheimnisse der Kunst eingeweiht werden.
Wir finden also hier ein ähnliches Verhältnis wie das zwischen den
..Füchsen" und „Burschen" der deutschen Universitäten in früheren
Zeiten. Scarron führt indessen nicht allein in das Zigeunerleben der
wandernden Schauspieler ein ; wie im Vorübergehen erlaubt er einen
interessanten Einblick in das Privatleben des Bürgertums. Wenn er in
La Rappiniere den Spottvogel der kleinen Stadt zeigt, der sich jeden Abend
in den Wirtshäusern umhertreibt und auf Kosten Anderer zu zechen ver-
steht, so erzählt er uns dann auch, wie Mademoiselle La Rappiniere, die
Frau des Genannten, abends allein zu Hause bei ihrer Kohlsuppe sitzen
muß. Durch eine Reihe solcher kleinen Züge weiß er seine Bilder zu
beleben und anziehend zu machen.
Der „Roman comique" steht in litterarischer Beziehung weit
über dem „Francion", und sein Einfluß auf die spätere Entwicklung
des Romans ist nicht zu unterschätzen. Doch war es Scarron nicht
vergönnt, ihn zu beenden, und der letzte Teil rührt von fremder Hand
her. Die Fronde hatte auch seine Stellang geändert. Befreundet mit
vielen Herren des aufständischen Adels und von dem Geist der Pariser
Bevölkerung mit fortgerissen, vergaß er den Dank, den er der Königin
schuldete, und wurde einer der heftigsten Frondears. Man schrieb, wie
schon gesagt, ihm die schärfsten Epigramme und die schmutzigsten
Lieder zu, die damals gegen Mazarin verbreitet wurden. Natürlich verlor
er seine Pension. Dazu kam die allgemeine Zerrüttung, welche auch die
Geschenke der Gönner seltener machte, und so verschlimmerte sich die
Lage des kranken Manns. Er faßte den abenteuerlichen Plan, auszu-
wandern. Die Aufmerksamkeit Frankreichs wendete sich damals ganz
besonders auf die Anlagen überseeischer Kolonien. Erst später, unter
Ludwig XIV. und Colberts Regierung wurde der Gedanke in großem
Maß verwirklicht. In der Zeit der Regentschaft hatte man aller-
dings schon eine Aktiengesellschaft gebildet, und einen Kolonisations-
versuch in Cayenne gemacht, allein das Unternehmen schleppte sich
nur mühsam hin. Scarron glaubte in dem heißen Klima von Südamerika
seine Gesundheit wieder zu erlangen und zugleich seine Vermögens-
verhältnisse zu verbessern. Er kaufte für 1000 Ecus Aktien, wie er
an seinen Freund Sarrasin schrieb, und war bereit, Paris, dem Theater,
den burlesken Versen und dem Roman Valet zu sagen. Doch gab er
bald seinen Plan auf, als er vernahm, wie wenig Erfolg die erste
Sendung von Auswanderern am Orinoko gehabt hatte. Statt dessen
entschloß er sich zu einem andern Schritt, der bei ihm nicht minder
überraschen mußte. Er verheiratete sich mit einem noch ganz jungen
568
Mädchen, Francoise d'Aubigne, einer Enkelin des Verfassers der
„Tragiques" (Juni 1652).') Die Schicksale dieser Frau sind wechselvoll
und abenteuerlich, wie die weniger Menschen. Im Kerker geboren, im
Elend aufgewachsen, einem Krüppel angetraut, endete sie als die Gattin
des mächtigsten Königs von Frankreich. Ihr Vater war Constant
d'Aubigne, Agrippa d'Aubignes Sohn. Er war von seinem Glauben ab-
gefallen und hatte die Hugenotten verraten. Sein Vater, der starre
Protestant, hatte ihn dafür verstoßen und verflucht. Constant war ein
Wüstling und Spieler, ohne Halt, und so verlor er auch bald die Gunst
des französischen Hofes, der sich ihm anfangs sehr gewogen gezeigt
hatte. Auf Befehl der französischen Regierung wurde er, angeblich
wegen geheimer Verbindungen mit England, verhaftet und in das
Gefängnis nach Niort gebracht. Seine Frau wollte sich nicht von ihm
trennen und gebar (1635) im Gefängnis eine Tochter, die man Fran9oise
nannte, und die später als Marquise de Maintenon so einflußreich
werden sollte. Sie war das dritte Kind und wurde von einer Schwester
Constants, Madame de Villette, nebst ihren beiden älteren Geschwistern
aus dem frostigen Gefängnis weggenommen, um eine sorgsame Erziehung
zu erhalten, und im Glauben der Familie, im Protestantismus, erzogen
zu werden. Aber Constant d'Aubigne erlangte nach einiger Zeit seine
Freiheit wieder und ging mit seiner Familie nach Martinique, um dort
sein Glück zu versuchen. Was ihm gute Geschäfte damals eintrugen,
vergeudete er im Spiel, und als er um das Jahr 1645 starb, hinterließ
er die Seinen in Armut. Die Witwe, eine ernste, strenge Frau, kehrte
mit den Kindern nach Frankreich zurück. Ihre Tante nahm Franyoise
wieder zu sich, allein ein Befehl der Eegierung entzog dieselbe ihrer
Obhut und übergab sie einer andern Verwandten, einer strengen
Katholikin. Francoise d'Aubigne sollte dem katholischen Glauben ge-
wonnen werden, und wurde, da sie sich nicht fügte, mit großer Strenge
behandelt. Zuletzt steckte man sie in ein Ursulinerinnenkloster zu
Paris. Auch hier widerstand sie, so lang man mit Zwang vorging, gab
aber endlich freundlichem Zureden Gehör. Als vierzehnjähriges Mädchen
war sie einmal durch ihre Verwandte in das Haus Scarrons geführt
worden, und hatte den Kreis der Besucher und Scarron selbst durch
ihre Schönheit und ihr schüchternes Wesen entzückt. Mit ihrer Mutter
kehrte sie nach einiger Zeit nach Niort zurück, und als diese bald
darauf starb, stand sie ganz allein. Scarron interessirte sich für sie.
er wechselte Briefe mit ihr und bot ihr zuletzt seine Hand an. Francoise
d'Aubigne nahm an, und wurde mit 17 Jahren die Frau eines gelähmten
kranken Mannes von 42 Jahren. Scarron wollte dem Mädchen auf
diese Weise eine Stellung, sich eine Pflegerin geben, und Francoise
faßte den Vorschlag in dieser Weise auf. Sie zeigte hier schon den
kühlen Verstand, der sie in ihrem späteren Leben so sicher und so
weit führte. Jedenfalls erfüllte sie die Pflichten, die sie übernommen
hatte, getreulich. Sie war seine sorgsame Wärterin in den Stunden des
') Vergl. Loret, Gazette du 15 juin 1652.
569
Schmerzes, diente ihm als Schreiberin in den freieren Augenblicken,
und verschönte zugleich den geselligen Kreis, der sich bei Scarron
zusammenfand. Es gelang ihr sogar, den Ton des Hauses zu verbessern,
und mehr Ordnung darin einzuführen. Kein Zweifel, daß die Gesell-
schaft, in welche sie sich versetzt sah, auch auf sie Einfluß hatte.
Was die damalige Zeit bewegte, wurde dort verhandelt, nicht in
schwerfälligen Debatten, sondern in geistvollem leichten Gespräch. Bald
war Madame Scarron nicht allein als eine der schönsten, sondern auch
als eine der bedeutendsten Frauen von Paris berühmt, und besonders
bewunderte man ihre Kunst, eine feine Unterhaltung zu führen.^) Die
Aufgabe, die sie übernommen, war schwer und wurde um so schwieriger,
je trüber sich die äußeren Verhältnisse ihres Gatten gestalteten. Scarron
brauchte Geld, und trug kein Bedenken, nach der Besiegung der Fronde
den Kardinal Mazarin in demütig grotesker Weise um Gnade zu bitten
und sich gegen seine bisherigen Genossen zu wenden.-) Allein Mazarin
blieb taub und der Kranke erlangte seine königliche Gnade nicht wieder.
Dafür bewilligte ihm Foucquet, der mächtige Finanzminister, ein jähr-
liches Gehalt von 1600 Livres aus seiner Kasse und half auch sonst
noch durch wiederholte reiche Geldgeschenke. Er wendete ihm auch
das Privilegium zu, eine Anzahl Leute an den Thoren der Stadt Paris
aufstellen zu dürfen, welche den ankommenden Frachtfuhrleuten den
nächsten Weg zu den Kaufherren, ihren Abnehmern, zu zeigen hatten.
Scarron soll aus diesem Geschäft jährlich einige tausend Livres ge-
wonnen haben, und so sah er seine letzten Jahre wenigstens frei von
pekuniären Sorgen. Er starb 1660 mutig und heiter wie immer.
Man hat Scarron wol mit Heinrich Heine verglichen. Aber die
Ähnlichkeit zwischen beiden Männern beruht fast nur auf Äußerlich-
1) Tallemant, Historiettes. (Articie Scarron.) — Le duc de Noailles.
„Histoire de Mme. de Maintenon", t. I, eh. V. Eine kleine Anekdote, deren
Wahrheit nicht verbürgt ist, zeigt den Stil des Hauses Scarron und die Gabe
der jungen Hausfrau vortreiflich. Eines Tags, beißt es, seien mehrere Gäste zu
Tisch bei Scarron gewesen. Mme. Scarron habe durch ihre Erzählungen den
ganzen Kreis belebt. Da habe ihr der Diener ins Ohr gesagt: „Madame, noch
eine Geschichte, der Braten fehlt uns heute."
-) Sonnet (Oeuvres de Scarron, Paris 1786. Bd. VII, S. 335):
Jule, autrefols l'objet de l'injuste satire,
Est aujourd'hui Tobjet de l'amour des Prancois,
Par le malheur du temps ou plutöt pour le mien,
J'ai doute d'un merite aussi pour que les sien.
Mais il ne m'a pas cru digne de sa colere.
Je confesse un peche que je pourrois eeler ;
Mais le laissant douteux, je croirois lui voler
La plus grande action qu'il ait Jamals pu faire.
Vergl. das Triolet contre les frondeurs (VII, S. 314).
Frondeurs, vous n'etes que des fous,
II faut desormais filer doux.
570
keiten, während ihre geistige Begabung grundverschieden war. Wie
Scarron viele Jahre hindurch von schwerer Krankheit gequält und des
Gebrauchs seiner Glieder beraubt war, so duldete auch Heine in den
letzten Jahren seines Lebens. Beide trugen ihre Leiden mit gleichem
Heroismus und beide bewahrten die Geistesfrische und die heitere Laune
des Philosophen bis zu ihrem Ende. Aber welche Gegensätze bieten sie,
wenn man genauer vergleicht. Heine hat nie die Großen angebettelt,
sich nie vor den Mächtigen der Erde gedemütigt, wie Scarron. Deshalb
wollen wir mit letzterem nicht allzu strenge ins Gericht gehen. Einem
Menschen wie Scarron, der nur ein halbes Leben führt, erscheint die
Welt in anderem Licht, als einem gesunden Menschen. Auf seinen
Krankenstuhl gebannt, hätte ein Mann mit edlerem Geist sich in sich
treibst vertieft und seinen Blick auf das Große gerichtet, wie es Pascal,
Searrons Zeitgenosse, gethan hat. Für den kleinen Geist mußte sich da-
gegen der Horizont stets verengern und das Kleinliche. Unbedeutende,
Häßliche an Wert gewinnen. Es freute den Armen, alles in der Welt
armselig zu finden und zu verspotten. Aber auch in seinem Spott ging
Scarron nicht sehr tief. Wenn er alles herabzerrte in das Reich des Ge-
wöhnlichen und Niedrigen, so hatte er doch nicht die Schärfe des Sati-
rikers, den schneidenden Hohn des Menschenfeinds. Wir finden nirgends
eine Stelle bei ihm, wo er sich revoltiert, wo er dem Schicksal trotzig
seine Stirne bietet, wie er auch keineswegs zu den „Libertins" zu rechnen
ist. Seine „Epitres chagrines", eine Art von Satiren, die sich bald gegen
einzelne ungenannte Mitglieder der Akademie richten, bald zudringliche
Leute geißeln oder auch einen geckenhaften, unwissenden Poetaster
zeichnen, sind, wenige glückliche Stellen abgerechnet, farblos und ohne
satirische Kraft. Es fehlte Scarron zum Satiriker die Beobachtungsgabe,
die ja doch nur im Strom des Lebens erlangt und geübt wird, die Be-
stimmtheit der Grundsätze, der Schwung des Geistes. Auch der Satiriker
muß dichterisch fühlen und warm empfinden, muß zürnen und sich be-
geistern können, wenn er überhaupt Eindruck machen will. Aber gerade
der Schwung, die poetische Wärme, das Gefühl für Schönheit fehlte
Scarron. Alle diese Eigenschaften besaß Heinrich Heine, und wenn er
manchmal an Scarron erinnert, so ist dies nur in nebensächlichen Wen-
dungen. Scarron hat u. a. eine Reihe von Sonetten verfaßt, welche in
pomphaftem Stil beginnen, um durch eine burleske Wendung am Schluß
zu überraschen. Er schildert z. B. einen Berg, der bis in die Wolken
lagt, zerklüftet und mit undurchdringlicher Waldung bedeckt ist, dessen
Gipfel sich in Feuer hüllt, um am Schluß zu sagen, daß ihm auf diesem
Berg nichts Böses begegnet sei.') Oder er schildert den riesigen Bau
1) Sonnet, Oeuvres, VII, S. 330:
Un mont tout herisse de rochers et de pins,
Colosse qua la terra oppose au choc des nues,
Sur ca süperbe mont, jusqu'aux cieux eleve,
Pour vous dira la chosa eu homrae veritabla,
II na m'est, sur mon dieu, Jamals rien arrive.
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der Pyramiden, die stolzen Kaiserpaläste zu Rom, die trotz ihrer Festig-
keit zu Grunde gehen, und schließt damit, daß er sich deshalb nicht
wundere, wenn sein Rock schon nach zweijährigem Dienst am Ellbogen
zerreiße.^)
Ähnliche Wendungen, in welchen der Dichter sich selbst ironisiert
und vorsätzlich die poetische Stimmung zerstört, finden sich in den Ge-
dichten Heines. Aber solche einzelne Züge, die beiden gemeinsam sind,
begründen noch keine Ähnlichkeit. Selbst in der Behandlung der Sprache,
in der sie auf den ersten Blick einige Übereinstimmung zeigen, unter-
scheiden sie sich. Bei Scarron fällt, wie bei Heine, zunächst die Leichtig-
keit des Ausdrucks, der Fluß der Rede auf. Beide sind einfach, ohne
Schwulst. Cyrano Bergerac rechnete es Scarron als Hauptfehler an, daß
er die Pointen verschmähe. Allein welch ein Unterschied bei genauerer
Betrachtung ! Welch ein Reichtum von Poesie und schönen Bildern, von
feinen Ausdrücken in den leichten Versen Heines, während Scarron nüch-
tern und schwunglos bleibt von Anfang bis zu Ende. Mögen Heines
geistlose Nachahmer in der deutschen Litteratur viel Unheil angestiftet
haben, Heine selbst war kein Feind der Poesie, wie Scarron, der aus
seiner Burleske jedes poetische Gefühl verbannte. Man kann die Kraft
und den Mut Scarrons bewundern, mit welchen er unter jahrelangen
Qualen den Humor bewahrte; aber man ist deshalb noch kein pedanti-
scher Rigorist, wenn man den Witz des Dichters Scarron arm und
schwach findet, und die Richtung, die er dem litterarischen Geschmack
gab. bedauert. Er war eben auch ein Produkt jener merkwürdigen Über-
gangsperiode, welche gar verschiedenartige Erscheinungen zu Tage brachte.
Sein Tod fällt mit dem Beginn der neuen Zeit, dem Sieg des reineren
Geschmacks zusammen. Auch wenn er länger gelebt hätte oder wenn
seine Witwe nicht Ludwigs XIV. Gemahlin geworden wäre und man so-
mit nicht schon aus Rücksicht von ihm geschwiegen hätte, sein Name
wäre doch bald in das Dämmerlicht des litterarischen Halbruhms zurück-
gesunken.
1) Sonnet, ibidem, beginnend mit dem Vers:
Süperbes monumens de Torgueil des humains.
Zweite Strophe:
Vieux palais ruines, chefs-d'oeuvre des Romains,
Et les derniers eflforts de leur architecture,
Collisee, oü souvent ces peuples inhumains
De s'entr'assassiner se donnoient tablature;
Si vos marbres si durs ont senti son pouvoir,
Dois-je trouver mauvais qu'un mechaut poiirpoint noir
Qui m'a dure deux ans, seit peree par le coude?
Dieses Sonett citiert Lessing in seiner Abhandlung über das Epigramm;
A. W. Schlegel hat es übersetzt., .Vergl. Michael Bernays' „Entstehungsgeschichte
der Schlegel'schen Shakespeare-Übersetzung", S. 40 -41. Nach einer brieflichen
Mitteilung von Bernays an den Verfasser vom 21. September 1884 sind beide
citierte Gedichte Nachbildungen zweier „sonetas burlescas" von Lope de Vega.
Sie finden sich in Cavetanas „Tesoro del Parnaso Espanol", Paris 1838, S. 288 ff.
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Scarron hatte die Burleske in die Mode gebracht; mit seinem Tod
verlor sie wieder ihr Ansehen, so viele sich auch bemühten, ihn nach-
zuahmen und zu überbieten. Diese Parasiten der Litteratur verdienen
nicht weiter erwähnt zu werden, und wenn hier noch einmal des wan-
dernden Virtuosen Dassoucy gedacht wird, so geschieht dies nicht wegen
seiner burlesken Gedichte, sondern weil der Mann durch sein Wesen
einen Beitrag zur Kenntnis der Zeit giebt und das burleske Sängertum
drastisch illustriert. Wir stoßen plötzlich auf ein kleines Genrebild, das
schon eines Blicks wert ist.
Wir sind Dassoucy schon einmal begegnet, als wir über die Künstler
sprachen, die von Schloß zu Schloß, von Stadt zu Stadt zogen, um ihre
Fertigkeit zu zeigen.^) Dassoucy aber erhob auch den Anspruch, als
Dichter bewundert zu werden. Nannte er sich doch selbst den „Kaiser
des burlesken Reichs, den ersten seines Namens".
Seine zahlreichen Dichtungen, sein „Ovide en belle humeur", sein
,.Jugement de Paris" und seine sonstigen Reimereien, die zwar eine Zeit
lang in gewissen Kreisen bekannt und beliebt waren, übergehen wir ein-
fach mit Stillschweigen. Nur die Memoiren, die er in seinem Alter ver-
öffentlicht hat, behalten auch für uns noch Reiz, wenn auch nur den
Reiz der Seltsamkeit.")
Charles Coypeau, der sich später Dassoucy nannte, war im Jahr
1605 zu Paris geboren und behielt sein Leben lang etwas von dem Cha-
rakter des Pariser Gamin. Sein Vater war Advokat und wünschte ihm
eine gute klassische Erziehung zu geben. Allein da zwischen den Eltern
Unfrieden herrschte, mißlang auch die Erziehung des Knaben. Schon in
seinem neunten Jahr entfloh er dem Vaterhaus und trieb sich unstet
umher, bis er nach Calais kam. Dort trat er mit unvergleichlicher Frech-
heit als Wunderthäter auf, der alle Sprachen des Orients rede. Wie ei'
behauptet, fand er viele Gläubige, weckte aber auch den Fanatismus der
Menge und mußte froh sein, als ihn die Behörde bei Nacht und Nebel
entwischen ließ. Ein Nonnenkloster unweit Paris, dessen Äbtissin sich
seiner annahm und ihn zu ihrem Pagen machte, bot ihm dann eine Zu-
flucht, bis er eines Tags erkannt und zu seinem Vater zurückgebracht
wurde. Solcher Anfang versprach viel. Zum Glück fand sich, daß dei-
Knabe Talent für die Musik und eine schöne Stimme hatte. So wurde
er zum Künstler ausgebildet und rühmte sich später, daß er in seinem
17. Jahr alle Musiker seiner Zeit auf der Theorbe übertroffen habe. In
der That wurde ihm früh die Ehre zu teil, vor Ludwig XIII. und dem
königlichen Hof zu spielen. Bald durchzog er auch, von Abenteuer- und
Reiselust getrieben, das Land. Auf einem dieser Virtuosenzüge traf er
in Lyon mit Moliere zusammen (1653) und wurde, als er bald darauf
in große Not geriet, von dem hilfsbereiten Dichter, der mit seiner Schau-
1) Siehe S. 273 dieses Werks.
-) „Les aventures de M. Dassoucy", neu herausgegeben von E. Colombey
Paris 1858, Delahays. Vergl. oben S. 428, wo von der Musik zu Corneilles „Au-
dromede" die Rede ist.
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Spieltruppe damals in dem Languedoc Vorstellungen gab, einige Monate
lang als Gast behandelt. Mehr als einmal sah er sich auf seinen spä-
teren Keisen ins Gefängnis geworfen, und in Rom war sogar sein Leben
bedroht. Da wurde er plötzlich im Kerker fromm und schrieb ein ganzes
Buch religiöser Betrachtungen. Seine letzten Jahre verbrachte er in Paris,
aber sein Ruhm war schon geschwunden, und er war verbittert, weil
er sich vernachlässigt glaubte. Auch seine „concerts chromatiques"
machten keinea» Effekt mehr. Er hatte einst zu Corneilles „Andromede'-
und wahrscheinlich auch zu manchem Couplet Molieres die Musik kom-
poniert. Corneille hat ihm auch ein paar anerkennende Strophen ge-
widmet. Aber Moliere wendete sich später von ihm ab und beauftragte
einen andern Komponisten, die Musik zu dem „Malade imaginaire" zu
schreiben. Dassoucy sah darin nur den Stolz des Glücklichen, ein Vor-
wurf, der Moliere am wenigsten treffen kann.^) Am tiefsten kränkte ihn
schließlich noch Boileaus wegwerfendes Urteil. In seiner „Art poetique"
ereifert er sich über den schlechten Geschmack, der sich an der Bur-
leske ergötze, und sagt dabei verächtlich, daß alle Poetaster bis zu
Dassoucy herab eine Zeit lang Leser gefunden hätten.-) „Das ist der
Lohn für gute burleske Verse!'' rief der Verkannte aus. „Doch es ist
nicht selten, daß eifersüchtige Gemüter gegen das Gute zu Felde ziehen
und alles tadeln, was ihre Fähigkeiten übersteigt."^) Er starb 1674.
Dassoucy ist insoferne zu beachten, als auch er sich wissentlich
in Opposition gegen die Ideen setzte, welche die vornehme Welt und
die Litteratur beherrschten. Er besang als sein Ideal die Hammelkeule.
„Chere epaule, epaule ma mie,
Epaule, je m'en vais mourir,
Si proraptement, pour me guerir
Dans la premiere hostellerie
Tu ne viens pour me secourir."
Er erscheint wie eine Art Sancho Pansa neben den Schwärmern
für ritterliche Ehre, welchen der Ruhm teurer ist als das Leben. Er
redet über den Zweikampf und die Ehre in etwas anderer Weise als
Corneille. „Wenn Herr Ehrenpunkt mich tyrannisieren will, so spotte
ich seiner, und ohne Rücksicht auf sein Beißen und Zerren thue ich nur
das, was zu meinem Vergnügen dient und meiner Gesundheit zuträglich
ist."*) Andererseits zeigt er, was den meisten Dichtern seiner Zeit ab-
^) In den „Rimes redoublees" sagt er von Moliere:
II est vrai qu'il ne maime guere
Que voulez-vousV C'est un malheur.
L'abondance fuit la misere,
Et le petit et pauvre here
Ne quadre point ä gros seigneur!
2) Boileau, Art Poetique, I, v. 89 und 90:
Le plus mau vais plaisant eut ses approbateurs,
Et jusqu'a Dassoucy, tout trouva des lecteurs.
3) Dassoucy, Aventures d'Italie, p. 241.
*) Dassoucy, Aventures, ed. Colombey, p. 41.
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geht, ein offenes Gefühl für die Xatur, und er preist in entzückten
Worten die Lust einer Fußwanderung durch eine schöne Landschaft und
die Freude, die man empfindet, wenn man am Abend von einer Anhöhe
herab in der Ferne die rauchenden Schornsteine des Dorfes sieht, das
man sich zum Nachtquartier bestimmt hat.^)
Wir haben im vorstehenden übersichtlich den Widerstand ge-
schildert, welcher sich gegen den herrschenden Geschmack und die in
der Litteratur zum Ausdruck gelangenden geistigen Richtungen erhob.
Aber dieser Widerstand war zu schwach, um mehr als einen kurzen
Stillstand in dem Gang der Entwicklung zu erzielen. Gleich wie im
Frühling der Strom anschwillt und von allen Höhen herab die Wasser
ihm zufließen, so wuchs auch die iitterarische Bewegung und drängte
immer entschiedener in einer bestimmten Richtung vorwärts. Ein ge-
waltiger Bau kann die machtvollen Fluten in ihrem Lauf hemmen, sie
zu einem andern Weg nötigen. Aber ein schwacher Damm, der sich
dem Wasser entgegenstellt, vermag es nur eine Zeit lang aufzuhalten. Der
Strom steigt; zürnend über den Widerstand, zerreißt er die hemmende
Schranke und braust umso gewaltiger in seinem Lauf dahin.
Nicht anders zeigt es sich in der Geschichte der Litteratur. die
uns beschäftigt. Der Versuch, den Geschmack von der einmal einge-
schlagenen Richtung abzulenken, war zu früh unternommen und erwies
sich zu schwach. Nach kurzem Kampf erlagen die Gegner, und umso
entschiedener richtete sich das Streben auf das eine Ziel, das man schon
lang ersehnt: auf Ordnung, Klarheit und Schönheit des Lebens.
Eine andere Zeit mag dieselbe Aufgabe auf anderem Weg zu lösen
suchen, und über die Begriffe von Ordnung und Schönheit anders, viel-
leicht richtiger, denken. Aber die Kraft des 17. Jahrhunderts lag in
der Einigkeit, mit der alle an der Lösung der Aufgabe arbeiteten, und
in der seltenen Übereinstimmung, mit welcher man auf allen Gebieten
demselben Ziele zustrebte. Staat und Kirche. Gesellschaft und Kunst —
alles wurde von dieser Strömuns: ergriffen und gehorchte dem unwider-
stehlichen Zug. Diese Harmonie des WoUens und Handelns, diese gleich-
mäßige und gleichartige Entwicklung mußte allerdings zu einer gewissen
Dürre und Einförmigkeit führen, aber sie bewirkte auch die Sicherheit
des Wesens, sie begründete den Erfolg. Das 17. Jahrhundert fand den
deutlichsten Ausdruck seines Wesens und seiner Anschauungen in der
Litteratur, und diese hat somit nicht unverdient die Bezeichnung der
klassischen erworben.
1) Ibid. p. 43.
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PQ Lotheissen, Ferdinand
241 Geschichte der französischer^^ ^ ' "^
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