Skip to main content

Full text of "Geschichte der französischen Litteratur im 17. Jahrhundert"

See other formats


.-•i^J 


v'^i^ 


TOBOWYO 


GESCHICHTE 


DER 


FRANZÖSISCHEN  LITTERATUR 


IM 


XVII.  JAHRHUNDERT 

VON 

FERDINAND    LOTHEISSEN. 
ERSTER  BAND. 

MIT  EINER  BIOGRAPHIE  DES  VERPASSERS. 


ZWEITE  AUFLAGE. 

c^ 

WIEJS. 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  CARL  GEROLD'S  SOHN. 
1897. 


La 

i297 


Xji. 


Inhalt  des  ersten  Bands. 


I.   Teil. 

Die  Zeit  des  Übergangs.  Seite 

Vorwort V 

Ferdinand  Lotheisen VII 

Einleitung 1 

I.  Die  französische  Litteratur  zur  Zeit  der  letzten  Valois    ....  14 
II.  Frankreich  unter  Heinrich  IV 24 

Politisches  und  sociales  Leben ''^'^ 

Geistiges  Leben 36 

III.  Malherbe 49 

IV.  Mathurin  Regnier  und  Theodor  Agrippa  d'Aubigne 63 

V.  D'Urfe  und  der  Schäferroman 87 

VI.  Das  Hotel  Rambouillet 98 

VII.  Die  Ausbildung  der  Prosa.  Balzac  und  Voiture 107 

VIII.  Die  Lyrik 133 

IX.  Richelieu  und  die  Akademie 157 

X.  Die  dramatische  Litteratur 174 

Begründung  einer  Kunstbühne.    Italienische  und  spanische  Ein- 
flüsse      174 

Anfänge  eines  volkstümlichen  Dramas.  Alexandre  Hardy.      .      .  193 
Vordringen  des  Marinismus   auf  dem  Theater.    Die  galante  Ko- 
mödie    201 

Das  regelmäßige  Schauspiel ,     „     .  214 

XI.  Schlußbetrachtung 230 

II.  Teil. 

Die  Litteratur  unter  dem  Einfluß  der  aristokratischen 
Gesellschaft. 

Einleitung 237 

I.  Leben  und  Bildung  der  vornehmen  Gesellschaft 252 

II.  Die  Ideale  der  Zeit 278 


Seite 

III.  Die  Pävalen  Corneilles 293 

IV.  Corneilles  Jugend  (1606—1636) 320 

V.  Der  Cid 361 

VI.  Der  Streit  über  den  Cid 376 

VII.  Die  Höhezeit  Corneilles  (1636-1652) 389 

VIII.  Spätere  Thätigkeit  Corneilles  und  letzte  Lebensjahre       ....  435 

IX.  Corneilles  Ideen  über  das  Drama.  —  Sein  Stil  nnd  poetischer  Cha- 
rakter         462 

X.  Botrou  und  Du  Ryer 478 

XI,  Die  Bühne  und  die  Aufführungen 491 

XII.  Die  philosophische  Arbeit.  Descartes ö09 

XIII.  Gegenströmungen.  Der  Skeptieismus.  Die  Satire  und  die  Burleske   .  537 


Vorwort. 


J_Jie  vorliegende  neue  Auflage  von  Ferdinand  Lotheißens 
Geschichte  der  französischen  Litteratur  im  siebzehnten  Jahr- 
hundert V7urde  nach  dem  Handexemplar  des  verstorbenen  Ver- 
fassers besorgt,  der  nachträgliche  Verbesserungen  und  Ergän- 
zungen darin  einzuzeichnen  pflegte.  Auf  Grund  derselben  wurde 
der  alte  Text  korrigiert;  an  einzelnen  Stellen  ergänzt,  und  auch 
das  Kegister  v\?urde  für  diese  Auflage  neu  gemacht  und  vielfach 
verbessert. 

Ferdinand  Lotheißen  hat  als  Schriftsteller  und  Mensch  ein 
so  gutes  Andenken  bei  Schülern  und  Freunden  hinterlassen, 
daß  man  wol  annehmen  durfte,  eine  Geschichte  seines  Lebens 
werde  ihnen  allen  willkommen  sein.  Auf  den  folgenden  Blättern 
ist  eine  solche  auf  Grundlage  seiner  Briefe  und  Tagebücher  ver- 
sucht worden:  nicht  um  seine  Bedeutung  als  Gelehrter  ins  volle 
Licht  zu  stellen,  das  ist  schon  von  Berufeneren  besorgt  worden, 
sondern  um  von  dem  Menschen  Lotheißen  zu  erzählen,  dessen 
Seelenadel  es  auch  bewirkte,  daß  seine  Litteraturgeschichte  nicht 
bloß  eine  lehrreiche,  sondern  auch  eine  fesselnde  und  bildende 
Lektüre  wurde,  die  sich  den  besten  Werken  deutscher  Geschichts- 
schreibung würdig  anreiht. 

Wien,   November  1896. 

Dr.  M.  Necker. 


FERDINAND  LOTHEISSEN. 


1. 

rerdinand  Lotheißen  wurde  am  20.  Mai  1833  in  Darmstadt 
als  der  zweite  Sohn  des  Eechtsanwalts  Johann  Friedrich  Lotheißen 
geboren.  Eechtsanwalt  Lotheißen  (1796—1859)  war  ein  überaus  thätiger 
Mann,  der  im  Großherzogtume  Hessen  ein  ehrenvolles  Andenken  hinter- 
ließ. Seit  dem  Jahre  1836  im  Staatsdienste,  rückte  Johann  Friedrich  bis 
zum  Hofgerichtspräsidenten  vor  und  machte  sich  besonders  verdient 
durch  die  Erledigung  des  weitläufigen  Verlassenschaftsprozesses  nach 
dem  Herzog  Georg  Karl  von  Hessen,  der  sich  seit  dem  Jahre  1827 
fortschleppte,  bis  er  1853  Lotheißen  übertragen  wurde  und  dieser 
ihn  in  den  wenigen  Jahren  bis  zu  seinem  Tode  vollständig  abwickelte. 
Neben  seiner  reichen  amtlichen  Thätigkeit  hatte  er  aber  immer  noch 
Zeit  und  Kraft  zur  Verwaltung  von  Ehrenämtern  gefunden ;  er  war  viele 
Jahre  lang  Mitglied  und  schließlich  (1856 — 1858)  Präsident  der  zweiten 
Kammer  der  Stände,  die  ihn  auch  zum  Director  der  Staatsschulden- 
tilgungskassa gewählt  hatte.  Seine  Gattin  Sophie  war  eine  Tochter  des 
Geheimrats  und  großherzoglicben  Baudirektors  Klaus  Kröncke,  der  eine 
Autorität  im  Wasserbaufache  war  und  sich  um  die  Rheinregulierung  so 
viel  Verdienste  erwarb,  daß  ihm  ein  ehrendes  Denkmal  an  Ort  und 
Stelle  gesetzt  wurde.  Von  seiner  Seite  aus  kam  der  künstlerische  Sinn 
in  die  Söhne  seiner  Tochter  Sophie  Lotheißen.  Es  war  für  dieselben 
der  Verkehr  mit  dem  großväterlich  Kröncke'schen  Hause  immer  eine 
freudige  Abwechslung  von  der  etwas  geschäftlichen  Nüchternheit  im 
eigenen  Vaterhause.  Doch  ließ  es  Johann  Friedrich  Lotheißen  an  Sorg- 
falt in  der  Erziehung  nicht  mangeln.  Die  Söhne  erhielten  frühzeitig 
.Unterricht  im  Englischen  und  Französischen  und  hatten  schon  jung 
Gelegenheit,  das  vortreffliche  Darmstädter  Theater  häufig  -  zu  besuchen. 
Ferdinand,  der  spätere  Biograph  Molieres,  wuchs  in  einer  theaterfreudigen 
Stadt  heran,  in  der  über  schauspielerische  Kunstfragen  von  der  jungen 
Welt  mit  großem  Eifer  geredet,  gestritten  und  geschrieben  wurde.  Im 
Darmstädter  Hoftheater  konnte  er  schon  als  Gymnasiast  die  Bekannt- 
schaft der  hervorragendsten  deutschen  Schauspieler  und  Schauspielerinnen 
machen,  die  dort  gastieiten.  Der  Kreis  seiner  Jugendfreunde  bestand 
aus  künstlerisch  angeregten  Naturen;  einer  darunter,  Reinhard  Hall- 
wachs,   widmete    sich    auch   berufsmäßig  der  Bühne,    wurde   ein  Schüler 


X 

Emil  Devrients  in  Karlsruhe,  starb  aber  früh,  bevor  er  noch  zur 
Blüte  gelangte.  Ein  anderer  Jugendfreund  Ferdinands  war  sein  viel 
älterer  Vetter  Otto  Müller,  der  Komanschriftsteller,  der  1845  mit  seinem 
„Bürger"  die  Eeihe  der  litterarhistorischen  Komane  eröffnete,  die  ihm  zu 
den  ersten  Erfolgen  verhalfen  und  auch  den  litterarischen  Ehrgeiz  Loth- 
eißens  erweckten.  Mit  Otto  Müller,  der  Ferdinand  um  mehrere  Jahre  über- 
lebte (t  1894),  blieb  er  sein  ganzes  Leben  lang  in  inniger  Freundschaft 
verbunden,    die    sich  in  kritischen  Zeiten  bewähren  sollte. 

Nach  Absolvierung  des  Gymnasiums  in  Darmstadt  bezog  Loth- 
eißen die  Universität  Göttingen  1851,  wo  schon  sein  um  zwei  Jahre 
älterer  Bruder  Hermann  die  Kechte  studierte.  Am  liebsten  hätte  der 
dichterisch  angeregte  Jüngling  alle  Wissenschaften  studiert,  sowol  die 
des  Geistes  als  die  der  Katur.  Seine  Neigungen  zogen  ihn  in  gleich 
starker  Weise  zu  beiden  hin.  Aber  sein  Vater  hatte  trotz  seiner  um- 
fänglichen Thätigkeit  als  Rechtsanwalt,  Staatsbeamter,  später  auch  als 
Spezialdirektor  der  Feuerversicherungsgesellschaft  „Deutscher  Phönix" 
für  das  Großherzogtum  Hessen  (1851  —  1858)  keineswegs  Reichtümer 
gesammelt;  die  Studien  der  drei  heranwachsenden  Söhne  kosteten 
auch  Geld.  Darum  mußte  sich  Ferdinand  früh  für  einen  Beruf  ent- 
scheiden :  er  wählte  den  Lehrstand  und  studierte  klassische  Philologie. 
In  Göttingen  blieb  er  vier  Semester  und  hörte  die  Vorlesungen  von 
Schneidewin  (Lateinische  Syntax;  Griechische  Elegiker;  Sophokles);  Her- 
mann (Cicero;  Demosthenes;  Juvenal;  römische  Litteraturgeschichte) ; 
Wieseler  (Griechische  und  römische  Symbolik  und  Mythologie):  Müller 
(Paläographie  und  Diplomatik;  Grammatik  der  althochdeutschen  Sprache; 
Nibelungenlied);  Waitz  (Geschichte  des  deutschen  Volkes)  und  Griese- 
bach  (Allgemeine  Naturgeschichte,  Physiologie  und  Anatomie  der  Pflanzen). 
1853 — 1854  verbrachte  Lotheißen  zwei  Semester  in  Berlin,  wo  er 
mit  besonderem  Fleiße  die  Vorlesungen  von  Böckh,  Haupt,  Lipsius, 
Waagen  hörte;  1855  in  Gießen,  der  hessischen  Landesuniversität,  die 
damals  nicht  sehr  in  Blüte  stand,  aber  mit  Rücksicht  auf  den  ange- 
strebten Dienst  im  Großherzogtum  nicht  umgangen  werden  konnte. 

Lotheißen  war  von  ursprünglich  sehr  zarter  Körperbeschaffenheit 
und  hatte  in  seinen  jungen  Jahren  sich  durch  viele  Krankheiten  durch- 
zuschlagen. Sie  setzten  seinem  großen  Lerneifer  manche  Schranke  und 
waren  auch  der  Grund  für  die  ruhigere  Gestaltung  seines  Studenten- 
lebens, als  es  bei  seinem  sonst  frischen  und  phantasiereichen  Wesen 
vielleicht  geworden  wäre.  Er  durfte  nicht  viel  trinken  und  sich  keine 
körperlichen  Anstrengungen    zumuten.     In  Gottingen   war  er  aber  doch 


XI 

noch  Mitglied  eines  Corps  (Saxonia).  Zu  den  dauernden  Freundschaften, 
die  er  dort  schloß,  gehört  die  mit  dem  nachmals  zu  so  hohem  Ansehen 
gelangten  Archäologen  Conze.  mit  dem  er  im  Kolleg  bei  Waagen,  und 
dann  nach  langer  Trennung  als  Docent  an  der  Wiener  Universität  (1871) 
wieder  zusammentreffen  sollte.  Das  Studentenleben  in  Gießen  stieß  Loth- 
eißen wegen  seiner  Leere  und  Rauheit  ab,  denn  inzwischen  war  er 
schon  in  Berlin  gewesen,  wo  er  unter  der  Fülle  der  Anregungen  der 
großen  Stadt  vollends  aus  dem  Sturm  und  Drang  hinausgewachsen  war. 

Mit  einer  wahren  Leidenschaft  bemühte  sich  Lotheißen ,  aus  dem 
Berliner  Aufenthalt  Nutzen  für  seine  allgemeine  Bildung  zu  ziehen.  Er  war 
nichts  weniger  als  einer  jener  Brodstudenten,  die  sich  damit  begnügen,  ihr 
Pensum  zu  erledigen,  um  nur  bald  die  Prüfungen  überstehen  und  in  ein 
Amt  oder  Ämtchen  unterkriechen  zu  können.  Theater,  Konzerte.  Museen, 
Kunstausstellungen,  Malerateliers,  Gesellschaften  suchte  er  mit  Begier 
auf,  ohne  darum  seine  Collegien  im  geringsten  zu  vernachlässigen.  Von 
allem  Gesehenen  machte  er  sich  ausführliche  Aufzeichnungen,  die  zum  Teil 
in  Tagebuchblättern  erhalten  sind,  und  die  in  ihrer  jugendlichen  Frische  die 
ganze,  idealistisch  hochstrebende  Persönlichkeit  des  einundzwanzigjährigen 
Jünglings  uns  vor  Augen  stellen.  Das  neue  Museum  besuchte  er  in  jeder 
freien  Stunde,  die  zwischen  den  Vorlesungen  lag,  oft  dreimal  des  Tags 
und  bemühte  sich ,  hinter  das  Geheimnis  der  Schönheit  antiker  Plastik 
zu  kommen.  „Eine  einzige  Stunde  ^  schrieb  er  am  27.  Juni  1854  in 
sein  Tagebuch  —  fördert  uns  weit  in  der  Ansicht  der  Kunst.  Ich  fühle 
mich  glücklich  in  diesen  Kunstbestrebungen,  umsomehr,  da  ich  mir 
keinen  Vorwurf  zu  machen  habe,  wenn  ich  sie  eifrig  treibe,  denn  meine 
Lehrer  selbst  haben  mir  dazu  geraten.  Wenn  ich  nur  meine  anderen 
Fachstudien  nicht  vernachlässige,  und  das  thue  ich  ja  nicht.  Ich  habe 
mit  Mühe  mein  Interesse  an  den  Naturwissenschaften  etwas  zurück- 
gedrängt (o  daß  man  überhaupt  ein  Interesse  an  etwas  Edlem  zurück- 
drängen muß!)  und  bin  froh,  hier  einen  reichlichen  Ersatz  zu  finden. 
0  warum  ist  die  Zeit  zu  gering,  der  Geist  zu  schwach,  alles,  alles 
Wissenswürdige  neben  einander  zu  treiben !  Der  arme  Mensch  muß  aber 
zufrieden  sein,  wenn  er  mit  Nichtachtung  alles  anderen  in  einem  Zweige 
des  unendlichen  Wissens  und  Schaffens  zur  Höhe  gelangt."  Die  Vor- 
lesungen des  Geographen  Ritter,  die  ihn  sehr  anzogen,  konnte  Loth- 
eißen zu  seinem  Leidwesen  nur  selten  besuchen. 

Von  den  Antiken  ging  er  dann  oft  in  die  Ateliers  der  damals  in 
Berlin  nicht  zahlreich  lebenden  neuen  Maler  und  Bildhauer:  Hosemann, 
Kasalowsky,  Schubert,  Teschner,  Franz,  Härtung,  Dietrich.     Er  ließ  sich 


XII 

von  den  Künstlern  in  die  Technik  ihrer  Kunst  einweihen ,  da  er  schon 
damals  wußte,  daß  ohne  diese  Kenntnisse  das  ästhetische  Betrachten 
ein  mangelhaftes  Wissen  ist.  Doch  alle  diese  Aufzeichnungen  abzu- 
drucken, würde  zu  weit  führen.  Nur  ein  Tagebuchblatt,  welches  für  die 
spätere  Eichtung  seines  politischen  Bekenntnisses  sehr  bezeichnend  ist, 
mag  hier  folgen.  Nach  einem  Besuche  der  königlichen  Kunstkammer 
schrieb  Lotheißen  am  22.  November  1854  in  sein  Tagebuch: 

„Unter  allen  historischen  Erinnerungen  zog  mich  wirklich  nur 
der  alte  Fritz  an  und  das  was  ihn  anging.  Hier  konnte  ich  mich  des 
Eindrucks  nicht  erwehren  und  wollte  auch  nicht,  den  sonst  solche 
Eeliquien  nicht  leicht  auf  mich  machen,  da  es  doch  meist  gar  kleinlich 
ist.  Doch  war  Friedrich  der  Einzige'-  ein  wahrhaft  großer  König,  und 
schon  ehe  ich  ihn  würdigen  konnte,  wie  jetzt,  schon  in  meiner  frühesten 
Jugend  war  er  mein  Liebling,  mein  Ideal.  Und  so  ließ  ich  mich  gern 
wieder  von  den  alten  Jugenderinnerungen  durchziehen,  als  ich  vor 
Eeliquien  des  Mannes  stand,  für  den  ich  einst  so  glühend  schwärmte. 
Freilich,  wenn  man  das  Hemd  zeigt,  worin  er  starb  und  Ähnliches,  so 
ist  das  mehr  widerlich  als    ärgerlich." 

Schon  aus  diesen  wenigen  Mitteilungen  wird  erhellen,  wie  hoffnungs- 
voll und  lebensfreudig  dieses  Dasein  einsetzte,  was  für  eine  breite 
Grundlage  allgemeiner  Bildung  sich  Ferdinand  Lotheißen  in  seinen 
Studienjahren  legte.  Er  begann  auch  schon  in  dieser  Zeit  litterarisch 
thätig  zu  sein  und  lieferte  mehrere  Beiträge  für  die  Wiener  Monatsschrift. 

Nichts  spricht  mehr  für  die  Bedeutung  und  anziehende  Kraft 
eines  jungen  Mannes,  als  die  Freundschaften,  die  er  in  den  Universitäts- 
jahren zu  knüpfen  imstande  war.  Lotheißen  war  von  einer  Schar  von 
Freunden  umgeben,  die  ihm  noch  viele  Jahre  treu  blieben.  Zu  den 
Berliner  Freunden  gehörte  unter  anderen  Eobert  Billroth,  der  früh  ver- 
storbene Bruder  des  berühmten  Chirurgen  Billroth,  zu  dem  Lotheißen 
später  in  Wien  in  freundschaftliche  Beziehungen  trat.  Von  Darmstadt 
her  war  ihm  der  später  durch  sein  Buch  über  Werther  und  seine  Zeit 
bekannt  gewordene  Gelehrte  Appell  innig  verbunden.  Die  anderen  Freunde 
Dalton,  Hornung,  Crößmann,  Schauenburg  traten  aus  ihren  Lebens- 
stellungen  später  nicht  in  die  weitere  Öffentlichkeit. 

Als  aber  Lotheißen  nach  der  Gießener  Promotion  am  14.  März 
1856  (ohne  mündliche  Disputation,  auf  Grundlage  einer  Arbeit  über 
die  Gestalt  des  Parasiten  in  der  alten  Komödie)  mit  den  Universitäts- 
studien fertig  war,  da  atmete  er  doch  erleichtert  auf.  Dies  läßt 
wenigstens  ein  Tagebuchblatt  schließen,  das  er  am  10.  Dezember  1857 


XIII 

in  Frankfurt  a.  M.  schrieb,  als  ihm  sein  jüngster  Bruder  Eduard  die 
angenehme  Nachricht  brachte,  daß  er  nun  die  Prüfungen  alle  glücklich 
überstanden  hätte.  „Ich  bin  unendlich  froh",  heißt  es  da,  „daß  wir  die 
Universität  nun  alle  (drei  Brüder  nämlich)  hinter  uns  haben.  Der  Zu- 
stand derselben  scheint  mir  eben  im  höchsten  Grade  zerrüttet  und  un- 
haltbar. Die  Universitäten  seien  mit  der  allgemeinen  Bildungsstufe  der 
Nation  im  Widerspruch;  sie  seien  in  eine  unhaltbare  Stellung  geraten 
—  das  ist  nicht  bloß  eine  allgemein  verbreitete  Phrase,  sie  ist  auch 
in  vieler  Beziehung  eine  Wahrheit.  Früher  waren  die  Universitäten  die 
einzigen  Hüter  und  Bewahrer  der  Bildung  und  ein  Stück  derbster 
Eoheit  mochte  man  dabei  eher  übersehen.  Heute,  wo  das  Leben  im 
stärkeren  Wogenschlag  die  Universitäten  mehr  und  mehr  bei  Seite 
schiebt,  müßten  sie  sich  umsomehr  bestreben,  eine  walire  Burg  der 
höheren  idealistischen  Bildungsrichtung  zu  sein.  Da  schmerzt  es  mich 
dann  und  mein  Sinn  wendet  sich  von  ihnen  ab,  wenn  ich  solche  Er- 
zählungen wie  heute  von  Eduard  höre,  wonach  Leute  aus  den  ersten 
Familien  in  Darmstadt  betrunken  am  Boden  liegend,  sich  balgen  und 
beißen.  Solche  Leute  sind  oft  sehr  liebenswürdig  und  fein  in  ihrem 
Äußern,  aber  doch  roh  in  ihrem  Innern,  und  wenn  sie  dann  berufen 
werden,  die  höheren  Staatsstellen  zu  übernehmen,  so  sind  sie  die  rechten 
Männer,  wie  mau  sie  wünscht:  gefügig  und  ohne  höheren  Blick,  denn 
„zum  Teufel  ist  der  Spiritus",  wenn  überhaupt  je  welcher  da  war.  Was 
hilft  es,  wenn  dann  in  späteren  Jahren  auch  guter  Wille  und  Ernst 
eintreten  möchte?" 

Und  gelegentlich  einer  Charakteristik  seines  Freundes  Appell,  der 
sich  als  Autodidakt  emporarbeitete  und  Lotheißens  aufrichtige  Achtung 
gewann,  obwol  Appell  noch  für  die  christliche  Romantik  schwärmte,  die 
nicht  nach  seinem  Geschmacke  war,  bemerkte  Lotheißen: 

„Ein  Autodidakt  kann  einseitig  sein  und  auch  sehr  lücken- 
haft, aber  meist  bewahrt  er  sich  besser  das  Leben  und  Feuer  der  Be- 
geisterung. Übrigens  ist  am  Ende  ein  jeder  mehr  oder  weniger  Auto- 
didakt. Ich  gestehe,  daß  mir  die  Vorlesungen  der  Universität  sehr 
wenig  genutzt  haben;  kaum  daß  sie  mir  Anregung  gaben."  (26.  No- 
vember 1857.) 

In  späteren  Jahren  dachte  Lotheißen  freudig  an  die  Universität 
zurück  und  fühlte  sich  jung  mit  der  Jugend,  die  er  gerne  um  sich  sah. 

Zunächst  ist  zu  erwähnen ,  daß  er  nach  der  Promotion  in  eine 
schwere  Krankheit  verfiel,  in  einen  Typhus,  der  ihn  für  längere  Zeit 
ans  Krankenzimmer  fesselte  und  im  Sommer  1856   einen  Aufenthalt  im 


XIV 

Bad  Ems  nötig  machte.  Im  Schuljahr  1856/57  machte  Lotheißen 
seinen  „Acceß"'  am  Darmstädtei-  Gymnasium,  wie  man  das  Probejahi 
dort  nennt.  Aber  es  wird  wol  seine  noch  lange  nicht  gefestete  Gesund- 
heit gewesen  sein,  die  ihn  veranlaßte,  eine  Stelle  als  Erzieher  im  Hause 
des  reichen  Großhändlers  und  Weingutbesitzers  von  Mumm  in  Frank- 
furt a.  M.  anzunehmen.  Der  junge  Gelehrte  mußte  sich  sehr  schonen; 
er  war  blutarm,  konnte  nicht  lange  sprechen.  Als  Erzieher  hatte  er 
doch  weniger  Anstrengung  als  am  Gymnasium,  und  mit  zwei  Knaben 
konnte  er  leichter  fertig  werden,  als  mit  einigen  Dutzend  einer  Schulklasse. 
Zum  Erzieher  war  Lotheißen  wie  geschaffen,  weil  er  Energie  und  Milde 
vereinigte.  Über  die  Aufgaben  und  Pflichten  des  Erziehers  enthalten  die 
Tagebücher  einige  Bemerkungen.  So  schrieb  er  am  18.  Xovember  1857 : 

„Meine  Natur  und  Überzeugung  führt  mich  in  der  Behandlung  zur 
Milde,  zumal  bei  einem  Charakter,  der  durch  Heftigkeit  früher  einge- 
schüchtert worden  ist.  Mit  dem  Schreckenssystem  ist  es  freilich  leichter  zu 
regieren,  aber  auch  ohne  Erfolge.  Zumal  beim  Heranwachsenden  muß  man 
mit  Gründen  kommen,  nicht  überall,  aber  doch  oft;  muß  man  mit  ruhiger 
Art  die  Vernunft  anwenden,  muß  man  etwas  Spielraum  für  eigene 
Selbständigkeit  gewähren.  Doch  habe  ich  dabei  die  festesten  Grenzen, 
die  ich  unter  keiner  Bedingung  überschreiten  lasse.  So  erwirbt  man 
sich  mit  der  Milde  auch  Liebe  und  zeigt  zugleich  Festigkeit  und  Achtung 
vor  den  Gesetzen.  Meine  Schüler  wissen,  wie  leid  es  mir  thut.  zu 
strafen ;  wenn  ich  es  dennoch  thue,  so  macht  es  ihnen  um  so  viel  mehr 
Eindruck.    Glücklicherweise  kommt  es  nur  selten  vor." 

Diese  hier  ausgesprochene  Überzeugung  hat  Lotheißen  immer  fest- 
gehalten ;   er  konnte  sich  als  Erzieher  nicht  besser  porträtieren. 

Der  Aufenthalt  im  Mumm'schen  Hause  gestaltete  sich  ihm  sehr 
angenehm.  Es  war  ein  großes  Haus,  worin  Künstler  und  Männer  von 
Rang  verkehrten.  Lotheißen  verstand  es,  sich  die  Achtung  des  Vaters 
seiner  Zöglinge  zu  erwerben  und  seine  Stellung  würdig  und  angenehm 
zu  gestalten.  Er  schildert  Herrn  v.  Mumm  als  einen  tatkräftigen  Geschäfts- 
mann ,  der  Sinn  für  künstlerische  Bestrebungen  hatte  und  naturwissen- 
schaftlich nicht  gewöhnlich  unterrichtet  war:  so  recht  eine  Gestalt  aus 
der  Zeit  des  aufstrebenden  Eealismus.  Aber  gerade  der  war  dem  jungen 
Gelehrten,  der  unbefriedigt  von  den  Universitäten  geschieden  war.  ein 
neues  und  fessselndes  Element,  das  ihm  sowol  im  Leben  als  auch  in  der 
Kunst  (bei  Courbet,  von  dem  drei  Bilder  in  Frankfurt  ausgestellt  waren) 
entgegentrat,  und  mit  dem  er  sich  vertraut  zu  machen  strebte.  In 
Frankfurt  nahm  Lotheißen  jene  Richtung  auf  den  Realismus,  die  ihn  zum 


XV 

Studium  der  modernen  Philologie  nach  dem  der  altklassischen  führte,  und 
die  ihn  zum  Verfechter  des  modernen  Sprachunterrichtes  in  den  Keal- 
schulen  als  ungefähres  Äquivalent  der  in  ihnen  nicht  gelehrten  klassischen 
Sprachen  machte. 

"Während  seines  Aufenthaltes  im  Mumm'schen  Hause  konnte  sich 
Lotheißen  keiner  einzelnen  wissenschaftlichen  Arbeit  ausschließlich  widmen. 
Einmal  litt  er  noch  an  den  Folgen  seiner  schweren  Erkrankung,  dann 
ließen  ihm  die  übernommenen  Pflichten  doch  nicht  soviel  Muße,  um 
etwas  Größeres  unternehmen  zu  können :  er  hatte  die  zwei  Knaben  in 
allen  Gegenständen  zu  unterrichten  und  das  ging  nicht  ohne  eigene  ge- 
wissenhafte Vorbereitung  ab.  Und  endlich  war  er  innerlich  auch  noch 
nicht  so  weit  fertig,  um  sich  für  einen  einzelnen  Zweig  der  V^issen- 
schaft  entscheiden  zu  können.  Er  hegte  auch  noch  immer  dichterische 
Pläne  und  bosselte  au  einem  Lustspiel  (das  sich  nicht  erhielt).  Aber 
darum  blieb  er  doch  nicht  müßig.  Er  las  viele  Historiker:  Rankes  Ge- 
schichte Europas  im  17.  Jahrhundert,  Gervinus  Geschichte  des  19.  Jahr- 
hunderts, Häussers  Zeitalter  der  Befreiungskriege,  und  machte  sich 
überall  kritische  Notizen.  Dazu  studierte  er  die  Vorläufer  Shakespeares. 
und  um  sich  im  Französischen  zu  üben,  worin  er  noch  nicht  sattelfest 
war,  las  er  unter  anderem  Dumas'  Monte  Christo,  bei  dem  er  es  freilich 
nicht  lange  aushielt.  Er  hatte  überhaupt  damals  noch  kein  rechtes  Ver- 
hältnis zur  französischen  Litteratur,  stand  den  Franzosen  noch  zu  sehr- 
in  der  Befangenheit  des  eifrig  national  gesinnten  deutschen  Parteimannes 
gegenüber.  Seine  Sympathien  waren  damals  und  in  den  folgenden  Jahren 
vornehmlich  den  Engländern  zugewandt,  mit  denen  er  sich  stammverwandt 
fühlte.  ,.Ich  bin  nordischer",  schrieb  er  nach  einem  Gespräch  mit  Appell 
ins  Tagebuch,  der  seine  Begeisterung  für  Calderon  und  Dante  geäußert 
hatte.  Zu  jener  Lektüre  trat  noch  das  eifrige  Studium  des  Spanischen. 
Außerdem  konnte  er  seine  alten  Neigungen  für  Naturwissenschaften  be- 
friedigen. Der  berühmte  Erfinder  der  Schießbaumwolle,  Dr.  Eudolf 
Böttger,  lebte  zu  der  Zeit  in  Frankfurt  a.  M.  und  hielt  in  seinem 
Laboratorium  Vorlesungen  mit  Experimenten,  die  viel  besucht  wurden 
und  auch  Lotheißen  anzogen.  Aber  alle  diese  Lektüre  und  Studien, 
zu  denen  noch  der  Besuch  der  Bilderausstellungen,  Theater  und  Kon- 
zerte kam,  füllten  den  stillen  Erzieher  im  Frankfurter  Kaufmannshause 
noch  lange  nicht  aus.  Er  besah  sich  auch  das  unmittelbare  Leben  und 
Treiben  der  Stadt  und  suchte  sich  einen  Begriff  von  ihr  selbst  zu  ver- 
schaffen. Zu  dem  Zweck  studierte  er  auch  die  Frankfurter  Stadtgeschichte 
und  entwarf  Skizzen   zu  einem  Essay  darüber.   Und  in  den  Bemerkungen, 


XVI 

die  er  über  den  Charakter  der  Frankfurter  niederschrieb,  tritt  zu  Tage, 
wie  sehr  ihm  ihr  weltliches  und  weltmännisches  Wesen  wol  im  Contrast 
zu  der  Hof-  und  Beamtenstadt  Darmstadt  und  zu  den  Schulmännern  der 
Universitätsstädte   gefiel.     So  schrieb  er  unter   anderem: 

„Als  ich  so  am  Fluß  (Main)  entlang  schritt,  rechts  die  moderne 
Riesenarbeit  (der  Verbindungsbahn),  links  die  lange,  stolze  Straße  mit 
so  manchen  altertümlichen  Spitzen,  Erkern  und  Türmen,  und  hoch 
darüber  der  Dom  —  da  begriff  ich,  dass  ich  anfing,  Frankfurt  gerne 
zu  haben.  Es  ist  eine  alte,  geschichtlich  interessante  Stadt,  denkwürdige 
Erinnerungen  findet  man  in  jeder  Straße,  bei  jedem  Schritt. . . .  Aber 
Frankfurt  ist  auch  eine  schöne  Stadt.  Welch  eine  Fülle  großer  Paläste, 
stolzer  Wohnungen,  reicher  Läden !  Man  gehe  um  die  St?dt  durch  die 
herrlichen  Anlagen,  wie  so  leicht  keine  Stadt  sie  aufzuweisen  hat,  und 
betrachte  den  Kranz  der  Villen.  Zwischen  all  dem  bewegt  sich  ein  volles, 
rasches  Leben.  Altes  und  Neues  stößt  zusammen  und  die  Gegenwart 
erfreut  sich  am  Nutzen  desselben....  Die  Stadt  ist  reich  und  darnach 
hat  sich  ihr  Charakter  gebildet.  Die  Bewohner  sind  lebhaft,  feurig,  leicht ; 
ein  sanguinisches  Temperament.  Die  Großartigkeit  ihres  Handels,  die 
Bedeutung  ihres  Eeichtums  erwecken  in  ihnen  große  Ideen  und  Pläne 
und  der  Mut  der  Ausführung  fehlt  ihnen  nicht.  Wieviel  große  Unter- 
nehmungen sind  eben  im  Gang.  Der  kühne  Verbindungsbau  der  Bahn- 
höfe durch  den  Main,  die  neue  Wasserleitung,  das  Zuchthaus.  Man  pro- 
jektiert einen  zoologischen  Garten  und  einen  Glaspalast  für  Ausstellungen 
und  Konzerte;  man  geht  an  eine  Erweiterung  und  Verschönerung  der 
Stadt,  und  unterdessen  baut  der  Einzelne  in  wirklich  überraschender 
Anzahl.  Man  sieht,  die  Hauptrichtung  geht  auf  das  materielle  Wohlsein, 
den  Glanz  und  den  Luxus  eines  wohlhäbigen  Lebens,  wie  dies  in  einer 
Hauptstadt  natürlich  ist.  Wer  aber  deshalb  den  Frankfurtern  Kunstsinn 
absprechen  wollte,  würde  sich  irren.  Allerdings  muß  die  Kunst  für  die 
meisten  in  modernem  Schmuck  erscheinen,  aber  wo  fände  man  das 
nicht?  Es  ist  die  Eichtung  der  Zeit.  Die  Leute  sind  nicht  arm  an 
Bildung.  Zwar  fehlt  ihnen  bis  hinauf  in  die  höchsten  Kreise  das  eigent- 
liche Wissen,  eine  gründliche  Schulbildung,  aber  mehr  als  genug  wird 
diese  durch  die  Welterfahrung,  durch  die  Reisen,  durch  die  modernen 
Sprachen  ersetzt.  Und  mit  großem  Eifer  giebt  sich  der  Frankfurter  der 
Pflege  der  Kunst  hin.  Kunstverein,  das  Stadel" sehe  Institut,  das  besetzte 
Theater,  die  vielen  gediegenen  Konzerte  legen  Zeugnis  davon  ab.  Tiefes 
Eindringen  braucht  man  nicht  gerade  zu  erwarten,  aber  es  macht  sich 
doch,  man  freut  sich  über  das    sichtliche  Gedeihen...." 


XVII 

Dieses  Hinausstreben  Lotheißens  über  den  traditionellen  schön- 
geistigen Menschen  in  Deutschland,  über  das  Ideal  der  klassischen 
Litteratur  tritt  auch  in  einer  interessanten  Aufzeichnung  über  die 
Courbefschen  Gemälde  hervor,  die  in  Frankfurt  ausgestellt  und  Gegen- 
stand lebhafter  Debatten  auch  im  Mumm'schen  Hause  waren.  ,. Professor 
Becker  (der  bekannte  Maler)  sprach  sich  (bei  Mumms)  heftig  gegen  den 
cynischen  Geist  aus,  der  aus  den  Bildern  rede.    Freilich  ist  Becker  ein 

Hauptvertreter  der  allzu  zierlichen  Düsseldorfer Seitdem  habe  ich 

die  drei  besprochenen  Bilder  (zwei  Jagdstücke  und  das  Mädchen,  Ge- 
treide durchsiebend)  noch  einmal  betrachtet  und  studiert.  In  dem  Jagd- 
stück ist  die  Durchsicht  durch  den  Wald  prachtvoll,  aber  allerdings 
manches  verzeichnet,  so  die  Beine  des  stehenden  Jägers,  so  das  Reh,  das 
Eehfell  zu  sein  scheint.  Die  Schneelandschaft  ist  allerdings  nu'-  deco- 
rativ  gemalt,  fast  geschmiert,  obgleich  alles,  selbst  die  schmutzigen 
Schatten,  überaus  wahr  ist.  Und  trotz  allem  diesem  Fehlerhaften  spricht 
sich  doch  ein  kräftiger  Sinn  in  diesen  Bildern  aus,  zeigt  sich  oft  wunder- 
bare Farbenharmonie,  und  überhaupt  eine  Behandlung  der  Farbe,  die 
nicht  gewöhnlich  ist.  Alle  anderen  Bilder  verschwinden  dagegen,  obwol 
sie  groß  und  ausgeführt  sind."  Freilich:  ein  absoluter  Parteigänger  des 
Realismus  ist  Lotheißen  nie  geworden;  die  an  der  Antike  geschulten 
Augen  behielten  ihren  Geschmack  für  das  ganze  Leben;  aber  er  wuchs 
doch  in  seine  Zeit  hinein  und  hielt  nicht  zu  den  Düsseldorfern 
Diese  Aufzeichnung  über  Courbet  schließt  mit  den  Worten:  „Aber  Gott 
bewahre  uns  doch  dafür,  dass  solcher  Realismus  in  der  Kunst  herr- 
schend werde.''  Und  eine  andere  Aufzeichnung  vom  8.  Dezember  1857 
lautet : 

„Die  Poesie  und  der  Realismus  des  Kaufmannstandes  dringt  schon 
mit  solcher  Macht  auf  die  jungen  Gemüter  ein,  dass  ich  es  für  eine 
meiner  Hauptaufgaben  halten  muß,  den  letzten  Funken  der  Poesie  nicht 
ganz  erlöschen  zu  lassen.  0  jetzt  erkenne  ich  den  Vortheil  einer  klas- 
sischen, einer  Gymnasialerziehung,  wo  der  Jugend  edle,  warme  Gefühle 
und  Ideale  geweckt  werden.  Wer  in  seiner  Jugend  aber  sich  schon  mit 
Kurszetteln  und  Wechseln  abgeben  muß ,  der  findet  selten  jenen  Auf- 
schwung. Ich  lese  in  der  Dinstagsstunde  jetzt  „Iphigenie"  vor.  Es 
könnte  vielleicht  etwas  früh  für  meine  Schüler  erscheinen,  allein  ich  er- 
kläre sie  sorgfältig  und  eingehend.  Zu  diesem  Vortrag  habe  ich  mich 
mit  großem  Fleiße  vorbereitet ,  und  wenn  mir  nur  ein  Teilchen  Frucht 
sich  zeigt,  so  will  ich  zufrieden  sein.  Ich  habe  in  meinem  sechzehnten 
Jahr  Iphigenien  sehr  verebrt  und  geliebt.      Freilich,   andere  Verhältnisse, 

b 


XVIII 

andere  Sitten.  Aber  was  ich  meine  Schüler  nicht  in  dieser  Art  kennen 
lehre,  bleibt  ihnen,  fürchte  ich,    für  immer  unbekannt." 

Xeben  diesen  Beschäftigungen  mit  Geschichte,  Kunst  und  Litteratur 
interessierten  Lotheißen,  den  Sohn  eines  Kammerpräsidenten,  der  von 
Jugend  auf  politische  Luft  geatmet ,  auch  die  politischen  Vorgänge  der 
Zeit.  Frankfurt  war  noch  der  Sitz  des  Bundestags,  Herr  von  Bismarck 
der  Vertreter  Preußens  daselbst,  und  die  politische  Luft  war  schon 
sehr  gespannt  durch  die  Rivalität  Preußens  und  Österreichs  in  Deutsch- 
land, durch  den  Kampf  für  oder  wider  die  Befreiung  Schleswig-Holsteins 
vom  dänischen  Joche,  durch  die  Handelskrise  in  Hamburg  im  Winter 
1857  auf  1858.  Ich  hebe  nur  zwei  Xotizen  aus  dem  Tagebuche  hervor, 
die  auf  Lotheißens   spätere  Politik  hindeuten. 

12.  November  1857.  ..Eine  letzte  Gelegenheit  ist  der  Bundes- 
versammlung gegeben ,  sich  in  den  Augen  des  Patrioten  zu  rehabilitieren. 
Das  Schicksal  der  Herzogtümer  ist  in  ihre  Hand  gelegt;  versäumt  sie 
auch  diesmal,  Kraft,  Energie  und  deutschen  Sinn  zu  zeigen,  so  werden 
nur  wenig  Jahre  vergehen,  und  eine  Revolution  wird  sie  unwider- 
bringlich zertrümmern.  Man  erwartet  sich  so  wenig  von  dem  Bundestag, 
daß  er  sich  durch  ein  richtiges  Vorgehen  eine  gewisse  Popularität  sehr 
leicht  erringen  könnte.    Doch  das  wäre  das  erstemal. 

3.  November.  Meine  Hauptlektüre  in  der  Geschichte  ist  jetzt  Ger- 
vinus  Geschichte  des  19.  Jahrhunderts.  Seine  Behandlungsart  ist  in- 
teressant und  geistreich ,  aber  ich  habe  schon  einen  oder  den  andern 
Grundsatz  gefunden,  der  mich  stutzig  machte  und  der  mir  nur  da  zu 
stehen  scheint,  um  die  heutigen  „Gothaer"  zu  verteidigen.  Gervinus 
nennt  Bd.  I,  S.  11,  eine  große  geschichtliche  Erfahrung,  daß  —  bei  aller 
Selbsttätigkeit  —  die  Bescheidung  in  Verhältnisse  und  Schicksal  das  beste 
sei,  daß  die  Bourbonen  z.  B.,  so  lange  sie  auf  ihr  Ziel  mit  Macht 
unter  Napoleon  lossteuerten ,  alles  sich  verdorben  hatten ,  daß  sie  aber 
alles  erreichten ,  als  sie  sich  mit  ergebender  Entsagung  fügten !  Das 
finde  ich  stark.  Nicht  daß,  sondern  wie  sie  handelten,  hat  ihre  an- 
fängliche Tätigkeit  zu  nichte  gemacht.  Die  Idee  liegt  nun  zu  nahe,  daß 
z.  B.  Schleswig  sich  ergebend  fügen  solle,  um  etwas  zu  erreichen.  Die 
Professoren  mit  ihrer  Theorie!     Übrigens  stelle  ich  Gervinus  recht  hoch." 

Das  Frankfurter  Tagebuch  bricht  mit  dem  Januar  1858  ab;  es 
langweilte  schließlich  seinen  Schreiber  und  er  hatte  das  Bedürfnis, 
größere  Arbeiten  zu  machen.  Es  waren  vornehmlich  englische  Geschichts- 
und Litteraturstudien,  die  er  betrieb.  Im  ganzon  sieht  man,  daß  sich  hier 
der  Beruf  mehr  eines  Schriftstellers  im  weiteren  Sinne .  als  der   eines  ge- 


XIX 

lehrtpn  Spezialisten  vorbereitet.  Lotheißen  hatte  den  Trieb,  mit  seiner  Zeit 
in  Fühlung  zu  bleiben,  seinen  Anteil  an  der  Bewegung  der  großen  Nation 
zu  nehmen.  Sein  Ideal  war  damals  und  auch  noch  viele  Jahre  später 
die  freie  Existenz  des  Schriftstellers,  nicht  der  Beruf  des  Lehrers.  Mit 
den  Feuilletons,  die  er  jetzt  und  in  den  nächsten  zwei  Jahren  in  ver- 
schiedenen Zeitungen  veröffentlichte,  hatte  er  sich  einen  guten  Namen 
gemacht.  In  einer  Notiz  vom  30.  Juli  1860  verzeichnet  Lotheißen, 
daß  ihn  Bruno  Bucher,  der  für  die  Wiener  Zeitung  wirkte  und  in  Süd- 
deutschland reiste,  zu  Beiträgen  auffordern  ließ.  In  dieser  Zeit  war  Loth- 
eißen Mitarbeiter  des  Frankfurter  Journals,  der  Blätter  für  litterarische 
Unterhaltung,  der  Grenzboten  und  später  ein  ständiger  Mitarbeiter  der 
Frankfurter  Zeitung.  Seine  Mitarbeiterschaft  an  der  Wiener  Monats- 
schrift führte  zu  freundschaftlichen  Beziehungen  mit  dem  Fürsten  Georg 
Czartoryski :  einem  für  Kunst  und  Litteratur  begeisterten  Manne,  der  den 
Ehrgeiz  hatte,  in  Wien  eine  kritische  Zeitschrift  zu  schaffen,  sich  auch 
viele  Jahre  mit  ihr  plagte  und  viel  Geld  für  sie  opferte.  Seine  Zeit- 
schrift „Rezensionen"  war  in  den  ersten  Sechziger  Jahren  ein  ange- 
sehenes Organ  in  der  Wiener  Tageslitteratur,  und  Lotheißen  hat 
auf  Anregung  des  Fürsten  den  weiten  Weg  von  Hessen  nach  Wien 
öfter  gemacht,  um  sich  hier  als  Redacteur  niederzulassen.  Doch  immer 
scheitelten  diese  Versuche  an  dem  Unvermögen  des  Blattes,  dem  Redakteur 
eine  finanziell  gesicherte  Existenz  zu  verschaffen.  Die  Beziehungen  zum 
fürstlichen  Freunde  hatten  indes  zur  Folge,  daß  Lotheißen  schon  früh- 
zeitig seine  Blicke  nach  Österreich  wendete,  wohin  er  schließlich  durch 
eine  merkwürdige  Verkettung  der  Umstände  gelangte  —  nicht  als  Re- 
dakteur,   sondern  als  Professor. 

Den  ersten  Besuch  in  Wien  machte  Lotheißen  im  Jahre  1858, 
nachdem  er  aus  dem  Mumm'schen  Hause  geschieden  war,  worin  er  doch 
nicht  allzulange  bleiben  mochte.  Die  Fahrt  blieb  ohne  Resultat.  Sich 
dem  unsicheren  Leben  von  der  Feder  anzuvertrauen,  lag  nicht  in  der  Art 
eines  Sohnes  des  hessischen  Hofgerichtspräsidenten.  Lotheißen  kehrte 
also  sofort  nach  Darmstadt  zurück,  bewarb  sich  im  Mai  1858  um  eine 
vacante  Lehrstelle  für  Geschichte  und  klassische  Philologie  am  Gymnasium 
zu  Büdingen  am  Fuße  des  Vogelberges  in  Hessen.  Bei  seinen  vor- 
trefflichen Qualificationen  erhielt  er  auch  alsbald  die  Anstellung,  zunächst 
für  fünf  Jahre,  wie  es  das  Gesetz  vorschrieb,  nach  deren  Ablauf  und 
erprobter  Fähigkeit  er  definitiv  angestellt  werden  sollte.  Mit  Beginn 
des  neuen  Schuljahres  trat  Lotheißen  sein  Amt  in  Büdingen  an,  das 
für  seinen  ganzen  Lebenslauf  von  entscheidender  Bedeutung  werden  sollte. 

b* 


^x 


II. 

Büdingen,  die  wälderreiche  Eesidenz  der  mediatisierten  Fürsten 
Ysenburg .  ■«ar  eine  kleine  Stadt,  mit  all  den  Eigentümlichkeiten  einer 
solchen  im  Guten  und  im  Üblen,  wie  es  die  Verhältnisse  in  der  Enge 
überall  mit  sich  bringen:  arm  an  Erwerbsquellen,  mit  scharf  geson- 
derten Parteiungen,  mit  seinem  Klatsch  und  Tratsch  neben  familiärer 
Gemütlichkeit.  Aber  es  hatte  auch  ein  damals  sehr  angesehenes  Gym- 
nasium, und  dieses  hatte  seit  1829  einen  Mann  von  ungewöhnlicher 
Begabung  zum  Directör,  den  berühmten  Übersetzer  der  Tragödien  des 
Sophokles  Georg  Thudichum.  Dieser  Mann  war  im  Grunde  seines 
Wesens  ein  Dichter,  und  zwar  ein  echter,  charaktervoller,  im  Goethe'schen 
Sinne  naiver  Lyriker,  der  mit  seiner  universellen  Bildung  und  der  That- 
kraft  seines  Naturells  einen  wahren  Zauber  auf  alle  ausübte,  die  in 
seinen  Kreis  traten.  Aus  sehr  schwierigen  Verhältnissen  hatte  sich 
Thudichum,  der  1818  als  Gymnasiallehrer  und  Pfarrer  und  zugleich  als 
Erzieher  eines  Ysenburgischeu  Prinzen  nach  Büdingen  gekommen  war, 
mit  unermüdlicher  Kraft  zu  einer  im  ganzen  hessischen  Lande  ange- 
sehenen Stellung  als  Pädagog,  Theologe  und  Politiker  emporgeschwungen. 
Ihm  hatte  das  Büdinger  Gymnasium  den  großen  Ruf  zu  verdanken,  den 
es  zu  der  Zeit  besaß,  als  Lotheißen  dahin  kam.  Thudichum  war  ein 
Genie  als  Erzieher;  die  großen  Menschen  hingen  ihm  nicht  weniger 
als  die  kleinen  an.  Sein  kinderreiches  Haus  —  drei  Söhne  und  drei 
Töchter,  diese  durch  Schönheit  und  Geist  in  gleicher  Weise  ausgezeichnet 
—  war  der  Mittelpunkt  der  Büdinger  Gesellschaft,  und  die  freundschaft- 
lichen Beziehungen  des  Vaters  zum  fürstlich  Ysenburgischeu  Hause 
wurden  von  den  Kindern  beiderseits  weiter  gepflegt.  An  dem  Direktor 
Thudichum  war  trotz  seines  Lebens  in  der  Kleinstadt,  trotz  seiner  stets 
recht  bescheidenen  Verhältnisse ,  die  ihn  zu  viel  Arbeit  ums  gemeine 
Brot  zwangen,  doch  nichts  kleines,  nichts  kleinliches.  Er  war  ungeachtet 
seiner  aufrichtigen,  christlichen  Gläubigkeit  ein  Schüler  Goethes,  mit 
dessen  Poesie  er  sich  so  erfüllt  hatte,  daß  auch  seine  Verse  das  Gepräge 
Goethe'scher  Euhe,  Klarheit  und  Natur  erhielten.  Voller  Vertrauen  und 
Hingabe  scharten  sich  nicht  bloß  die  zahlreichen  Schüler  des  Gym- 
nasiums, sondern  auch  die  Einwohner  von  Büdingen  um  diesen  Mann, 
den  seine  gelassene  Heiterkeit  und  warme  Verständigkeit  nie  verließ. 
Thudichum  war  ein  Meister  der  Rede  auf  der  Kanzel,  auf  dem  Katheder, 
auf  der  Tribüne.     Wäre  es  ihm  gelungen,   wie  er  anstrebte  und  woran 


XXI 

ihn  nur  die  launische  Glücksgöttin  des  Wahlloses  hinderte,  als  Abge- 
ordneter in  die  Paulskirche  oder  den  norddeutschen  Reichstag  oder  nach 
1870  in  den  Deutschen  Reichstag  zu  gelangen,  so  wäre  er  vielleicht 
mit  einer  einzigen  seiner  klassischen  Reden  über  die  hessische  Local- 
berühmtheit  weit  hinausgewachsen.  (Vgl.  Friedrich  Thudichum,  Allge- 
meine   deutsche    Biographie.) 

Auch  Lotheißen  empfand  die  anziehende  Macht  dieser  großen 
Persönlichkeit,  die  da  im  entlegenen  Büdingen  segensreich  wirkte.  War 
doch  dieser  universal  gebildete  Direktor  ein  Mann  so  recht  nach  seinem 
Sinn!  Und  als  vollends  die  jüngste,  schönste  und  vielumworbene 
Tochter  desselben,  Luise  Tudichum  dem  neuen  jungen  Gymnasiallehrer 
ihr  Herz  schenkte  und  sich  schon  wenige  Monate  nach  seiner  Über- 
siedlung nach  Büdingen  mit  ihm  verlobte  (10.  Februar  1859),  da 
war  er  in  die  glücklichste  Zeit  seines  Lebens  gekommen.  Am  24.  Mai 
1860  fand  die  Vermählung  statt,  der  eine  Hochzeitsreise  nach  London 
folgte :  eigentlich  eine  Studienreise,  denn  seinen  zweiwöchentlichen  Auf- 
enthalt in  der  großen  Stadt  benützte  er  nicht  bloß  dazu,  um  sich 
ihre  Sehenswürdigkeiten  anzusehen,  sondern  auch,  um  Studien  im 
Britischen    Museum  zu    machen. 

Gleich  nach  der  Rückkehr  (6.  Juli  1860)  begann  wieder  die  Arbeit, 
die  sich  im  Bestreben,  dem  neuen  Hausstand  eine  recht  solide  Grund- 
lage zu  schaffen,  recht  mühselig  gestaltete.  Neben  dem  Unterricht  am  Gym- 
nasium (Geschichte  durch  alle  Klassen ,  Griechisch ,  Lateinisch ,  später 
noch  Englisch)  gab  Lotheißen  auch  Privatun  terricht  und  versuchte  einen 
Curs  von  Vorlesungen  über  englische  Geschichte  einzurichten.  Im  Herbst 
1862  hatte  er  nicht  weniger  als  39  Unterrichtsstunden  in  der  Woche 
zu  geben.  Damit  mutete  sich  der  körperlich  zart  gebaute  Mann  wol  zu 
viel  zu,  und  mancher  Seufzer  über  die  Zurückdrängung  seiner  eigenen 
litterarischen  Production  entrang  sich  ihm.  So  schrieb  er  am  4.  Januar 
1862:  »Ich  fühle  mich  isoliert.  Die  reiche  Bibliothek  in  Darmstadt, 
das  bischen  lebendigere  Treiben  ließ  mich  das  sehr  empfinden".  Die 
Enge  der  Stadt  Büdingen  machte  sich  ihm  bald  fühlbar.  Dabei  hielt 
Fürst  Czartoryski  mit  Briefen  aus  der  Redaktion  der  Rezensionen  immer 
den  Gedanken  an  eine  litterarische  Stellung  im  großen  Wien  wach,  und 
die  Unzufriedenheit  des  ins  Joch  gespannten  Schriftstellers  wuchs  in 
der  Stille,  bis  sie  auf  einem  anderen  Felde  in  einer  That  zum  Ausbruch 
kam,    die  sein  Leben  radikal  veränderte. 

In  diesen  ersten  Jahren  des  ereignisreichen  siebenten  Jahrzehnts 
unseres  Jahrhunderts    nahm  die   deutsche  Einheitsbewegung    immer  ent- 


XXil 

schiedenere  Formen  an.  Friedrich  Wilhelm  IV.  starb,  sein  Bruder  Prinz 
Wilhelm  bestieg  den  preußischen  Thron,  Bismarck  trat  alsbald  in  den 
Vordergrund ,  der  Gegensatz  zwischen  Partikularismus  und  Einheits- 
forderung verschärfte  sich,  und  nirgends  dürften  die  Gemüter  mehr  er- 
regt gewesen  sein,  als  im  kleinen  Hessen,  weil  sich  hier  mit  der  natio- 
nalen auch  die  liberale  Gesinnung  gegen  das  partikularistsch-reaktionäre 
Ministerium  Dalwigk  vereinigte.  Daß  Lotheißen  national  und  freiheitlich 
gesinnt  war,  wissen  wir  schon  aus  seiner  Universitätszeit ;  auch  Direktor 
Thudichum  stand  auf  Seiten  der  Nationalliberalen,  damals  hessische 
Fortschrittspartei  genaunt.  Er  war  schon  1849  Mitglied  der  hessischen 
Ständekammer  und  gehörte  zu  jenen  Abgeordneten ,  mit  denen  Dalwigk 
im  Streite  lag,  weil  sie  dem  nicht  konstitutionellen  Ministerium,  das 
dem  Landtag  gegen  den  klaren  Wortlaut  der  Verfassung  keine  Eechnung 
ablegen  wollte,  das  Budget  verweigerten.  Thudichum  mußte  seine 
politische  Opposition  als  Staatsbeamter  büßen;  das  Ministerium  Dalwigk  ver- 
weigerte ihm  mehrere  Jahre  die  ihm  zukommende  Besoldungsaufbesserung. 
Als  nun  Lotheißen  in  seiner  Eigenschaft  als  Schwiegersohn  des  oppo- 
sitionellen Abgeordneten  und  Schuldirektors  sich  in  Büdingen  auch  öffentlich 
als  fortschrittlicher  Parteimann  bekundete ,  so  war  das  keine  Förderung 
für  ihn  in  den  Augen  des  hessischen  Ministeriums ,  und  bald  fand  sich 
eine  Gelegenheit,    wo   man  ihn  die  Ungnade  spüren  lassen   konnte. 

Im  August  1862  fand  die  Wahl  der  Wahlmänner  für  die  Landtags- 
wahl in  Büdingen  statt  und  Lotheißen  sorgte  mit  seinem  Freunde,  dem 
praktischen  Arzte  Dr.  Emanuel  Marcus  (einem  gesinnungstüchtigen  und 
charaktervollen  Parteimann,  der  seither  in  Frankfurt  a.  M.,  in  hohem 
Ansehen  bei  den  Kollegen  und  der  Bevölkerung  lebt),  dafür,  daß  liberale 
Männer  gewählt  wurden,  und  zwar  mit  enormer  Majorität  gewählt.  Damit 
begann  seine  öffentliche  politische  Stellungnahme  und  die  Unzufriedenheit 
der  Regierung  mit  ihm.  Denn  natürlich  kam  ihr  alsbald  die  Geschichte 
zu  Ohren.  ,,Auf  dem  Ministerium  fanden  sie  es  , unbegreiflich',  daß  ich 
so  auftreten  konnte,  da  ich  noch  keine  fünf  Jahre  angestellt  bin.  Sie 
begreifen  nicht,  daß  ein  Mann  nach  Überzeugung  und  Ehrgefühl  handeln 
kann,  auch  wenn  er  seine  Stellung  gefährdet",  lautet  eine  Tagebuchnotiz 
Lotheißens  vom  22.  September  1862.  Er  mußte  nun  in  vielen  kleinen 
Quälereien  die  üble  Laune  der  Regierung  in  Darmstadt  fühlen.  Anfangs 
September  1862  war  er  mit  Urlaub  „in  Familienangelegenheiten"  nach 
Wien  gereist.  Da  er  länger  als  acht  Tage,  nämlich  zehn  ausgeblieben  war 
und  der  Direktor  ihm  aus  eigener  Macht  auch  keinen  längeren  Urlaub  hätte 
bewilligen  dürfen,    so  kam  aus  Darmstadt  eine  Rüge  an    die  Direktion, 


XXIII 

obwol  ein  Präzedenzfall  im  Jahre  vorher  bei  einem  anderen  Mitglied 
des  Lehrkörpers  ohne  Tadel  abgelaufen  war.  Ende  des  Schuljahres  1862 
nahm  Direktor  Thudichum  Abschied  von  der  Anstalt,  trat  in  Ruhestand, 
übersiedelte  nach  Darmstadt.  Lotheißens  Situation  wurde  damit  in 
Büdingen  noch  ungemütlicher,  aber  er  ließ  sich's  nicht  sehr  anfechten. 
Im  Mai  1863  verzeichnet  er:  „In  einer  Geschichtsstunde  ermahn  ich 
kurz ,  eifrig  die  Geschichte  zu  lernen ,  weil  man  sonst  die  Gegenwart 
nicht  verstehen  könne,  und  achtzehnjährige  junge  Leute  müßten  doch 
schon  ein  Interesse  an  der  Entwicklung  und  der  Geschichte  ihres  Vater- 
landes haben.  Das  wird  gleich  denunzirt,  und  nach  zwei  Stunden 
heult  ein  Kollege  wieder  von  „Selbstbetrug"  u.  s.  w.  Ich  sehe,  daß 
man  immer  weiter  geht,  wenn  ich  mich  nicht  wahre,  und  so  habe  ich 
tüchtig  die  Zähne  gezeigt. "  Man  versuchte  es  auch  in  fieundlicher  Form, 
ihn  politisch  kalt  zu  stellen,  indem  man  ihm  eine  Gehaltszulage  in  Aus- 
sicht stellte.  „Ich  entgegnete,  ich  solle  doch  meine  Überzeugung  nicht 
verkaufen?"  Zum  Höfling  hatte  er  keine  Neigung,  wie  folgender  Ein- 
trag vom  26.  Juni  1862  bezeugt: 

„Morgen  soll  der  Großherzog  auf  eine  Stunde  zum  Besuch  hierher- 
kommen. Alles  ist  in  Aufregung  und  schmückt.  Es  ist  ganz  recht  und 
konstitutionell,  daß  der  Landesherr  gefeiert  wird,  und  muß  auch  so  von 
„Sr.  k.  Hoheit  getreuen  Opposition"  geschehen.  Und  doch  mutet  mich 
mancherlei  sonderbar  dabei  an.  Das  Gymnasium ,  Lehrer  und  Schüler 
will  ihn  am  Schulgebäude  erwarten ,  ein  Begrüßungsgedicht  ihm  über- 
reichen. Man  wollte  es  mir  zuschieben,  doch  dankte  ich.  Ich  kann  nun 
einmal  die  alten  abgelebten  Formen  nicht  leiden ...  So  sprachen  wir 
neulich  vom  Doktorat.  Wenn  ich  nicht  muß^  brauche  ich  meinen  Doktor 
nicht  und  hätte  nichts  dagegen,  wenn  alle  diese  Zöpfe  auch  fielen". 

Am  meisten  verargt  wurde  Lotheißen  der  Umgang  mit  Dr.  Marcus, 
der,  populär  und  einflußreich,  eine  überaus  lebhafte  Agitation  für  den 
Nationalverein  entwickelte  uud  den  Darmstädtern  unbequem  ward,  ohne 
daß  man  dem  unabhängigen  Arzt  etwas  anhaben  konnte.  Auf  die  Vor- 
stellungen des  neuen  Direktors  erwiderte  Lotheißen:  „Marcus  ist  ein 
Universitätsfreund  von  mir,  ferner  ist  er  ein  gebildeter  Mensch,  der 
sich  für  vieles  interessiert,  dessen  Umgang  angenehmer  und  fördernder 
ist,  als  der  anderer,  mögen  sie  wie  immer  heißen.  Ihm  steht  im  Weg, 
daß  er  Jude  ist.  Ich  bin  stolz  darauf,  daß  ich  diesen  Unterschied 
nicht  achte.  Zuletzt  hat  uns  noch  die  Politik  zusammengeführt;  er  ist 
infolge  seines  Auftretens  für  meinen  Schwiegervater  angefeindet  worden, 
und  es  war  meine  Pflicht,   bei  ihm  zu  stehen." 


XXIV 

Und  der  Schluß  dieser  ganzen  Reihe  von  kleinlichen  Vorwürfen, 
die  man  dem  oppositionellen  Gymnasiallehrer  zu  machen  hatte,  war, 
daß  man  seine  provisorische  Anstellung  am  Ende  des  ersten  ab- 
laufenden Quinquenniums  trotz  seiner  anerkannten  Tüchtigkeit  als 
Lehrer,  nicht  in  eine  definitive  verwandelte.  „Wir  beauftragen  Sie" 
—  hieß  es  in  dem  Erlaß  der  großherzoglich  hessischen  Ober-Studien- 
direktion an  den  Büdinger  Gymnasialdirektor  Haupt  vom  8.  August 
1863  —  „dem  Gymnasiallehrer  Dr.  Lotheißen  zu  eröffnen  und  ihn  auf- 
zufordern, bei  Vermeidung  sofortiger  Entlassung,  unverzüglich  einen 
Eevers  dahin  auszustellen,  daß  er  sich  die  Widerruflichkeit  seiner  An- 
stellung nach  Maßgabe  des  §39  des  Landtagsabschieds. .  .  auf  weitere 
fünf  Jahre,  vom  Tag  des  Ablaufs  seiner  ersten  fünf  Dienstjahre  an  ge- 
rechnet, gefallen  lasse." 

Also  eine  Maßregelung  in  unverhüllter  Form,  und  als  ihr  Grund 
wurde  nachträglich  in  einem  amtlichen  Schreiben  bezeichnet:  „Das  Ver- 
halten des  Dr.  Lotheißen  bei  der  Landtagswahl  im  vorigen  Herbst, 
wonach  derselbe  in  einer  öffentlichen  Versammlung  das  Programm  des 
Nationalvereines  vorgelesen  und  empfohlen  und  dadurch  zu  dem  Be- 
schlüsse mitgewirkt  habe,  daß  keiner  zum  Wahlmann  gewählt  werden 
solle,  der  nicht  dem  Programm  des  Nationalvereins  zustimme." 

Uns  mutet  dieses  Schreiben  ganz  besonders  merkwürdig  an.  In 
Hessen  gab  es  doch  damals  schon  eine  Verfassung  und  das  Recht  eines 
jeden  Bürgers  auf  freie  politische  Meinungsäußerung  war  gewährleistet. 
Hier  wurde  aber  auch  nicht  im  geringsten  Hehl  daraus  gemacht,  daß 
man  einen  Gymnasiallehrer,  dessen  Thätigkeit  allgemeine  Anerkennung 
fand,  bloß  wegen  seiner  unbequemen  politischen  Gesinnung  strafe  und 
überdies  bloß  auf  Mittheilungen  anderer  hin,  ohne  ihn  selbst  zu  be- 
fragen oder  zu  verhören!  Dabei  unterlief  der  Motivirung  noch  ein  Fehler, 
denn  Lotheißen  hatte  bei  der  W^ählerversammlung  vom  12.  August  1862 
gar   nicht  das  Programm    des  Nationalvereines  vorgelesen. 

Lotheißen  war  sofort  nach  Empfang  dieses  Bescheides  entschlossen, 
auf  sein  Amt  zu  verzichten.  Er  stand  zunächst  allerdings  mit  der  Frau 
und  zwei  Kindern  brodlos  da  und  mußte  unter  anderem  auch  jene 
Pläne  von  einem  Hauskauf  fallen  lassen,  die  er  gerade  jetzt  gehegt 
hatte.  Allein  er  erklärte  dem  Gymnasialdirector  in  der  letzten  münd- 
lichen Auseinandersetzung,  die  sie  hatten:  ,,Mein  Betragen  werde  ich 
nicht  ändern ;  man  möge  mir  das  Amt  ganz  nehmen ,  so  fühle  ich 
doch  die  Kraft  in  mir,  in  der  Welt  fortzukommen.  Ich  möchte  nicht 
von  mir  so  denken,    wie  ich  von denke,    der  anfangs  sich  liberal 


XXV 

gestellt,  dann  bei  der  Entscheidung  feig  sich  umgekehrt  hatte.  Ich 
müßte  mich  sonst  verachten."  Und  dieser  ebenso  mutige  als  charakter- 
volle Schritt  verfehlte  nicht,  Aufsehen  in  ganz  Hessen  zu  machen  und 
brachte  dem  Opfer  seiner  politischen  Überzeugung  Zustimmung  von 
allen  Seiten. 

Gerade  zu  dieser  Zeit  kam  aus  Genf,  wo  Lotheißens  Schwager 
Karl  Thudichum  das  Erziehungsinstitut  La  Chätelaine  leitete,  die  Nach- 
richt, daß  sich  dessen  Eigentümer  Roediger,  der  Schwiegervater  Karls, 
zurückzuziehen  gedenke.  Lotheißen  wurde  eingeladen,  als  Theilhaber  dem 
Institut  beizutreten.  Er  ging  auf  den  Vorschlag  ein  und  im  October 
1863   war    er    schon  mit  Frau   und  Kindern    in  Chätelaine  einquartiert. 


IlL 

Es  war  eine  der  besten  Eigenschaften  Ferdinand  Lotheißens, 
sich  an  jedem  Wohnorte,  in  den  ihn  das  Schicksal  versetzte,  mit  dem 
genius  loci  aufs-  innigste  vertraut  zu  machen.  Wir  sahen  ihn  schon  als 
zwanzigjährigen  Studenten  in  Berlin  bestrebt,  nicht  bloß  aus  den  Vor- 
lesungen an  der  Universität,  sondern  auch  aus  den  Kunstinstituten  in 
der  Stadt  Nutzen  für  seine  Bildung  zu  ziehen  und  nicht  im  engen 
Kreis  der  Kollegen  zu  verharren.  Als  er  in  Frankfurt  a.  M.  lebte,  stu- 
dierte er  Natur  und  Geschichte  der  alten  freien  Reichsstadt  und  strebte 
nach  einer  Gesammtanschauung  ihrer  Individualität,  schrieb  die  Theater- 
briefe an  die  Wiener  Monatsschrift,  die  Abhandlung  über  Frankfurt 
u.  dergl.  In  Büdingen,  wo  doch  eine  so  große  Last  von  Schulpflichten 
auf  seinen  Schultern  ruhte,  hatte  er  doch  noch  immer  Zeit  gefunden, 
an  der  politischen  Bewegung  theilzunehmen.  Es  war  eben  nicht  seine 
Art,  sich  auf  die  vier  Wände  der  Bücherstube  zu  beschränken  und  in 
der  papiernen  Welt  völlig  aufzugehen.  Seinem  geistvollen  Wesen  war 
die  Mitarbeit  an  dem  Treiben  der  Zeit  ein  Bedürfnis;  und  edelster  Ehr- 
geiz trieb  den  begabten  Mann,  der  sich  schon  in  diesen  Jahren  einen 
guten  litterarischen  Namen  als  kritischer  Essayist  geschaffen  hatte, 
dahin,  ein  Leben  im  höheren  Stile  als  dem  des  einfachen  Berufsmenschen 
zu  führen.  Die  Leiden,  die  er  infolge  dieses  höheren  Strebens  auf  sich 
nahm,   ertrug  er  mit  frischem  Mute. 

So  mußte  denn  auch  die  Übersiedlung  nach  Genf  tief  einschnei- 
dend   auf    die    weitere    Entwicklung    seines    so    empfänglichen    Geistes 


XXVI 

wirken.  Ei-  fühlte  sich  ja  wie  in  eine  neue  Welt  versetzt,  die  ihn 
zunächst  durch  ihre  Neuheit  aufs  lebhafteste  anzog.  Natur  und  Land- 
schaft waren  im  malerischen  Genf  am  See  und  mit  dem  Montblanc  im 
Hintergrunde  anders,  als  in  Büdingen.  Die  Menschen  waren  anders, 
auch  die  tägliche  Umgangssprache  war  anders.  Weit  in  die  Ferne  ge- 
rückt waren  die  leidenschaftlichen  Kämpfe  des  deutschen  Vaterlands  um 
seine  Einheit;  nur  sehr  wenige  deutsche  Zeitungen  waren  in  Genf  sicht- 
bar. Hier  lebte  man  wie  in  einer  Idylle;  hier  herrschte  die  selbstbe- 
wußte Euhe  eines  kleinen,  aber  zufriedenen  Staatswesens.  Auch  der 
Beruf  Lotheißens  war  jetzt  zum  Teil  ein  neuer  geworden.  Bisher 
war  er  nur  Lehrer  gewesen,  jetzt  war  er,  als  Mitdirector  von  La  Chäte- 
laine,  auch  ein  Stück  Geschäftsmann  geworden  und  mußte  sich  um  die 
administrativen  und  ökonomischen  Sorgen  des  sechzig  Zöglinge  beher- 
bergenden Instituts  nicht  minder  als  um  die  pädagogischen  Pflichten 
kümmern. 

In  alle  diese  neuen  Verhältnisse  verstand  es  Lotheißen,  sich 
mit  seinem  elastischen  Naturell  rasch  einzuleben.  Kam  er  nicht  ohne 
Bangen  nach  Genf,  weil  er  sich  dabei  auch  eine  große  finanzielle 
Sorge  aufgebürdet  hatte,  so  griff  er  doch  mit  Mut  und  Lust  seinen 
neuen  Beruf  an.  Für  das  Schulmeistern  war  er  nie  recht  begeistert, 
aber  die  Jugend  liebte  er  stets  und  war  ein  guter  Erzieher.  Allmählich 
fand  er  auch  einen  angenehmen  Kreis  von  Menschen  zum  geselligen 
Verkehr;  seine  junge,  schöne,  heitere  und  thatkräftige  Frau  Luise  war 
selbst  ein  anziehender  Mittelpunkt  in  jeder  Gesellschaft,  in  die  sie  trat. 
Zu  den  Freunden,  die  sich  Lotheißen  hier  erwarb,  zählte,  um  nur 
einen  bekannten  Namen  zu  nennen,  der  Naturforscher  Karl  Vogt,  der 
an  der  Genfer  Hochschule  wirkte,  aber  gleichzeitig  auch  der  evangelische 
Pfarrer  und  der  jüdische  Rabbiner.  Groß  freilich  konnte  der  Kreis,  in  dem 
sich  Lotheißen  in  Genf  bewegte,  nie  werden,  denn  die  einheimischen  Pa- 
trizierfamilien gewähren  keinem  Zugewanderten  Eintritt  in  ihre  Kreise. 
„Der  Genfer  verschließt  sich  jedem,  dessen  Familie  nicht  schon  hundert 
Jahre  das  Gebiet  des  Cantons  bewohnt",  klagt  Lotheißen  in  einem 
seiner  Briefe.  Seine  Aufnahme  als  membre  honoraire  in  die  Societe  na- 
tionale de  Geueve  (21.  Januar  1869)  änderte  nichts  an  dieser  Isolierung, 
in  der  er  sich  bei  verzagter  Stimmung  recht  einsam,  wie  Robinson  auf 
wüster  Insel  fühlen  konnte.  Dies  wurde  auch  mit  eines  der  Motive,  die 
ihn  schließlich  antrieben,  von  Genf  fortzukommen. 

Von  den  bedeutendsten  Folgen  ward  aber  sein  Studium   der  fran- 
zösischen Sprache    und  Litteratur,    wozu    ihn    zunächst    das  praktische 


XXVII 

Bedürfnis  veranlaßte.  Es  ist  doch  ein  Unterschied,  ob  man  eine  Sprache 
nur  für  den  gelehrten  Gebrauch,  oder  ob  man  sie  im  täglichen  Uqi- 
gang  beherrschen  lernt.  Das  fühlte  Lotheißen  sofort,  er  warf  sich 
darum  mit  aller  Kraft  auf  das  Studium  des  Französischen  und  ließ  die 
bis  dahin  mit  so  großem  Eifer  betriebenen  Studien  englischer  Litteratur 
und  Geschichte  zum  Bedauern  seiner  Freunde  unbenutzt  liegen.  Der 
genius  loci  nahm  ihn  ganz  gefangen.  Er  hörte  ja  den  ganzen  Tag 
französisch  sprechen ;  mit  den  Schülern  der  Chätelaine  unternahm  er  Öfters 
Ausflüge  in  die  Nähe  (nach  Chamounix  z.  B.)  und  auch  weiter  ins 
Frankreich  hinein  und  lernte  so  französisches  Volk  und  französische 
Sitten  und  Zustände  aus  eigener  Anschauung  kennen.  Im  Frühjahre  1865 
machte  er  eine  Fahrt  der  Ehöne  entlang  bis  nach  Marseille,  ein  Jahr 
später  durchwanderte  er  die  Provence.  Zu  der  genauen  Kenntnis  Süd- 
frankreichs, auf  der  sein  schönes  Buch:  „Die  Königin  von  Navarra" 
beruht,  legte  Lotheißen  hier  den  Grund.  Seine  Eeiseeindrücke  ver- 
wertete er  in  Feuilletons,  die  er  für  die  Frankfurter  Zeitung  schrieb 
(April  1866).  Die  einzelnen  Aufsätze  über  die  Provence  goß  er  dann 
ganz  um  zu  einem  kleinen  selbständigen  Werk  (nach  Art  etwa  des 
Gregorovius  über  Corsica),  worin  sich  die  Schilderung  von  Natur  und 
Geschichte  des  Landes  zu  einem  schönen  Ganzen  vereinigte.  Aber  er 
fand  keinen  Verleger  dafür,  und  es  blieb  ungedruckt  liegen.  Das 
sauber  geschriebene  Manuscript  ist  noch  erhalten. 

Überhaupt  entwickelte  Lotheißen  gerade  in  der  Genfer  Zeit 
einen  großen  Fleiß  als  Feuilletonist.  Er  war  nach  zweijähriger  Probe 
zu  der  Ansicht  gelangt,  daß  es  ihm  nicht  gegeben  sei,  ganz  in  der 
Thätigkeit  von  Institutsvorstehern  aufzugehen,  daß  ihm  noch  Zeit  übrig 
bleiben  müsse  zu  litterarischer  Beschäftigung.  Darum  verzichtete  er  nun 
auf  die  Stellung  eines  Mitdirectors,  wurde  bloß  Lehrer  der  Anstalt  und 
wußte  sich  die  Ergänzung  seiner  Einnahmen  mit  der  Feder  zu  verschaffen. 
So  entstanden  die  zahlreichen  Feuilletons  in  der  Frankfurter  Zeitung  und 
auch  in  anderen  angesehenen  Blättern,  die  seinen  Namen  in  der  Tages- 
litteratur  der  Jahre  1865 — 1869  aufs  vorteilhafteste  bekannt  machten.  Um 
nur  einen  Begriff  von  der  umfangreichen  Arbeit  zn  geben,  die  Lotheißen 
damals  (1866 — 67)  leistete,  seien  nur  die  Stoffe  erwähnt,  die  er  behandelte: 
„Preßfreuden  in  früherer  Zeit",  die  Presse  unter  dem  Drucke  Napoleons  I. ; 
„EinMuster-Unterthan" ;  über  das  Journal  de  Barbier  1718 — 1763  (anläß- 
lich der  neuen  Ausgabe  von  1866).  Samuel  Smiles  „Selbsthilfe".  Der 
Suezkanal.  Alfred  de  Vignys  Tagebücher  (3  große  Aufsätze).  Jules  Favre. 
P.  Hevses   „glücklicher  Bettler".    Henri  Taines   „Graindorge".   Gachards 


XXYIII 

„König  Philipp  und  Don  Carlos''.  Das  Ghetto  in  Rom.  Der  Friedens- 
congreß  in  Genf  (September  1867).  Keratrys  „La  Contreguerilla  fran- 
^aise  au   Mexique".   „Bilder  aus  dem  italienischen  Theater"   (6  Aufsätze), 

Eduard  Laboulaye Dies  nur  ein  kleiner  Tbeil  der  behandelten  Stoffe, 

ungerechnet  die  munteren  Plaudereien,  welche  die  Frankfurter  Zeitung  mit 
besonderem  Vergnügen  druckte.  Die  Feuilletons  über  Gestalten  aus  der 
französischen  Litteratur  waren  aber  die  bedeutendsten,  und  zumal  da- 
mals, vor  dreißig  Jahren,  wo  das  deutsche  Correspondentenwesen  in 
Paris  noch  nicht  so  entwickelt  war,  wie  heute,  von  großem  Werte. 
Denn  Lotheißen  schöpfte  aus  dem  Vollen.  Er  hatte  sich  in  der  reichen 
Bibliothek  der  societe  de  lecture  in  Genf,  wo  die  französische  Litteratur 
der  letzten  siebzig  Jahre  fast  vollständig  vertreten  war,  gründlich  um- 
gesehen; mit  einer  anmutigen  leichtflüssigen  Form  verband  er  die  Ein- 
sicht des  Kulturhistorikers.  Es  war  ihm  redlich  darum  zu  thun,  ver- 
mittelnd zwischen  Deutschland  und  Frankreich  zu  wirken,  auf  die  hoch 
gespannte  politische  Stimmung,  welche  dem  großen  Kriege  von  1870 
lange  vorherging,  mildernd  einzuwirken.  Diese  Tendenz  verfolgte  er  in 
dem  bedeutendsten  Essay  dieser  Reise,  im  Feuilleton  über  Jules  Favre. 
Er  schickte  es  mit  einem  Briefe  dem  auf  der  Höhe  seines  Ruhmes 
stehenden  Führer  der  rupublikanischen  Opposition  gegen  Napoleon  IIL 
zu,  der  seine  Friedensliebe  und  Achtung  der  deutschen  Nation  und  ihrer 
Einheitbestrebungen  in  der  Adreßdebatte  des  Jahres  1866  öffentlich  aus- 
gesprochen hatte:  „La  France  tiendra  la  main  ä  TAllemagne",  hatte 
Favre  gesagt ;  „  eile  lui  dira  que  desinteresse  desormais  de  toute  espece  de 
projets  de  conquete,  eile  se  sent  assez  forte  pour  faire  avec  eile  une 
loyale  alliance. ...  Nous  voulons  etre  pacifiques,  sachons  tout  d'abord 
d'etre  libres."  Diese  Worte  hatten  im  gut  deutsch  gesinnten  Loth- 
eißen, der  nun  auch  für  die  Franzosen  sich  erwärmt  hatte,  gezündet, 
und  er  schrieb  Favre : 

„Oui,  Monsieur,  avec  une  France  liberale  et  pacifique,  ne  luttant 
avec  une  AUemagne  unie,  libre  et  pacifique  aussi,  que  par  le  terrain  de 
progres  et  de  l'humanite — voilä  la  politique  que  tous  les  hommes  eclaires 
devraient  souhaiter  et  preparer,  autant  qu"il  est  en  leur  pouvoir.  Voilä 
aussi  la  raison  pour  laquelle  j'ai  ecrit  mon  article:  j'ai  voulu  montrer  ä 
mes  lecteurs  l'image  d'un  patriote  fran^ais  et  d'un  grand  orateur  qui 
ne  connalt  pas  de  haine  contre  une  nation  voisine,  qui  au  contraire 
parle  eloquemment  pour  l'alliance  des  deux  peuples."' 

Auf  dieses  Feuilleton  und  diesen  Brief  antwortete  Jules  Favre 
umgehend  am  17.  März  1867  Folgendes: 


XXIX 

„Merci,  Monsieur,  pour  toute  bienveillante  Sympathie.  Je  crois  n'en 
etre  pas  tout-ä-fait  indigne  si  j'interroge  mon  desir  ardent  de  main- 
tenir  la  paix  entre  les  nations  qui  forment  la  grande  famille  Europeenne 
en  developpant  en  elles  le  sentiment  de  la  liberte  qui  seul  peut  les 
garantir  de  lüttes  sanglantes  et  d'effroyables  dechirements. 

Malheureusement  rAlleraagne  s'ecaite  de  cette  voie  de  salut — eile 
semble  se  placer  sous  le  regime  du  sabre  et  de  s'armer  contre  nous. 
De  son  cöte  notre  gouvernement  humilie  par  les  derniers  evenements 
cherche  une  aventure.  Tout  ceci  m'inquiete  fort  et  dans  la  tres-humble 
partie  qu'il  m'est  donne  de  prendre  ä  cette  redoutable  question,  il  ne 
dependra  pas  de  moi  que  les  deux  peuples  n'echappent  aux  mauvaises 
tendances  de  leurs  chefs. 

Je  ne  conserverai  pas  moins  avec  une  grande  Sympathie  pour  la 
noble  Allemagne  un  souvenir  tres-vif  de  votre  bienveillauce  et  vous  prie 
d'accepter  en  echange  l'expression  de  mes  sentiments  devoues. 

ce  17  mars  1867.  Jules  Favre. 

Der  Brief  bietet  ein  gutes  Stimmungsbild  aus  der  schwülen  Ge- 
witterluft der  Zeit  vor  dem  Kriege.  Zwei  Idealisten  feindlicher  Nationen 
versuchen,  sich  über  die  Köpfe  der  Anderen  hinweg  die  Hände  zu 
reichen  —  aber  es  kann  nicht  zu  mehr  als  dem  Austausch  persönlicher 
Artigkeiten  kommen. 

Die  angestrengte  Thätigkeit  als  Lehrer  und  Schriftsteller  konnte 
nicht  ohne  Eückwirkung  auf  Lotheißens  zarte  körperliche  Beschaffenheit 
bleiben,  zumal  da  noch  manche  Enttäuschungen  (im  Kriege  1866,  wo 
er  sich  als  politischer  Journalist  versuchte)  dazu  kamen,  und  die 
Versuche,  aus  dem  schönen,  aber  doch  entlegenen  Genf  fortzukommen, 
fehlschlugen.  Um  sich  zu  erholen  verbrachte  Lotheißen  mit  seiner  Fa- 
milie den  Winter  1867 — 1868  in  Florenz,  wo  er  in  der  erhöhten 
Stimmung  des  sorgenlosen  Sichgehenlassens  in  einer  Welt  von  Schön- 
heit und  Poesie   auch  einen  ßoman  für  die  Frankfurter  Zeitung  schrieb. 

Aber  schließlich  gewährte  ihm  diese  Thätigkeit  als  Feuilletonist 
weder  geistige  noch  materielle  Befriedigung.  Der  Eigenthümer  der  Frank- 
furter Zeitung,  Herr  Leopold  Sonnemann,  hatte  wohl  den  Plan,  seinen 
besten  Feuilletonisten  nach  Frankfurt  zu  berufen  und  ihm  die  Redaktion 
des  Feuilletons  zu  übertragen,  aber  er  kam  nicht  zur  Ausführung.  In 
wie  gutem  Angedenken  Lotheißen  bei  dem  Blatte  verblieb,  zeigte  sich 
noch  zwanzig  Jahre  später,  als  es  in  liebenswürdiger  Weise  den  in- 
zwischen zu  hohem  Ansehen  gelangten  Schriftsteller  neuerdings  zur 
Mitarbeiterschaft    einlud.     Es    geschah    ein    halbes    Jahr    vor      seinem 


XXX 

Tode.  Lotheißen  hatte  das  Feuilletonschreiben  schon  seit  Jahren  auf- 
gegeben. 

Der  Florentiner  Aufenthalt  brachte  ihm  indes  jene  Erfrischung 
der  seelischen  und  leiblichen  Kräfte,  die  er  gesucht  hatte.  Die  Gesell- 
schaft, in  der  er  sich  dort  bewegte,  war  auch  sehr  anregend.  Lebhaften 
Verkehr  pflegte  er  im  Hause  des  Ministers  Peruzzi,  dessen  geistvolle 
und  energische  Frau  die  ihr  seelisch  verwandte  Gattin  Lotheißens  mit 
Wärme  an  sich  heranzog.  Er  befreundete  sich  auch  mit  Ludmilla  Assing, 
die  seit  Jahren  in  Florenz  lebte.  Und  vollends  fand  sein  für  die  Werke 
bildender  Kunst  so  empfängliches  Gemüt  daselbst  Genuß  in  Fülle. 

Nach  Genf  zurückgekehrt  faßte  er  den  Entschluß,  statt  der 
Feuilletons  ein  größeres  zusammenhängendes  Ganzes  zu  schaffen,  eine 
Darstellung  der  französischen  Litteratur  im  neunzehnten  Jahrhundert, 
die  er  für  eine  litterarische  Xothwendigkeit  hielt.  Denn  das  deutsche 
Publikum  kannte  wohl  die  Xamen  der  berühmtesten  französischen  Dichter, 
verband  jedoch  nicht  viel  Wissen  mit  diesen  Namen.  Aber  einmal  in  die 
historische  Forschung  hineingeraten,  mußte  er  zur  rechten  Erklärung 
der  fi-anzösischen  Romantik  bis  in  die  Revolutionszeit  zurückschreiten, 
und  der  Plan  erweiterte  sich  ihm  zu  einem  Werke  von  drei  Bänden. 
Es  ist  der  Entwurf  eines  Briefes  vom  8.  Mai  1870  erhalten,  den  Loth- 
eißen  an  seinen  alten  Freund  Otto  Müller  in  Begleitung  des  Manu- 
scriptes  seiner  „Geschichte  der  französischen  Litteratur  und  Gesellschaft 
während  der  Revolutionszeit"  abschickte;  und  da  sprach  er  sich  folgender- 
maßen aus: 

„Die  französische  Litteratur  ist  in  Deutschland  kaum  bekannt. 
Man  kennt  zwar  einzelne  große  Namen  sehr  gut,  allein  die  Entwicklung, 
das  innere  eigentümliche  Streben  der  französchen  Litteratur  ist  dem 
großen  deutschen  Publikum  unbekannt.  Wie  sehr  es  sich  aber  dafür  inter- 
essieren kann,  wenn  man  es  ihm  in  richtiger  Form  erzählt,  beweist 
uns  Hettners  Litteraturgeschichte  des  18.  Jahrhunderts.  Meine  Idee 
war  daher,  die  Geschichte  der  französischen  Litteratur  unseres  Jahr- 
hunderts, d.  h.  hauptsächlich  die  romantische  Schule  in  einer  gefälligen 
und  deshalb  doch  nicht  minder  gründlichen  Darstellung  zu  schildern. 
Die  französischen  Romantiker  sind  die  einzigen,  welche  vorwärts  strebten, 
während  unsere  deutsche  romantische  Schule  in  vieler  Hinsicht  eine 
traurige  Reaction  aufwies.  Die  besten  interessantesten  Namen  dieser  in 
sich  höchst  bedeutenden  Zeit  sind  in  Deutschland  kaum  gekannt,  und  ich 
bin  überzeugt,  daß  eine  richtige  Schilderung  ein  großes  Publikum  finden 
wird,  welchem  es  den  Blick  in  eine  neue  Welt  eröffnet. 


XXXI 

„Während  ich  aber  den  Anfängen  der  romantischen  Schule  nach- 
forschte, sah  ich  mich  immer  mehr  auf  die  Zeit  der  Eevolution  hinge- 
führt, und  ich  erkannte  zuletzt,  daß  ich  den  Rahmen  meines  Werkes 
erweitern,  daß  ich  die  französische  Litteratur  seit  1789  behandeln  müsse. 
Zudem  wurde  mir  klar,  wie  die  anscheinend  in  litterarischer  Hinsicht  so 
arme  Zeit  ein  großes  kulturhistorisches  Interesse  gewinnen  müsse,  wenn 
man  nur  etwas  tiefer  eindringe  und  den  Einfluß ,  den  Eevolution  und 
Litteratur  gegenseitig  auf  einander  ausgeübt  haben,  hervorzuheben  strebe. 
Die  öde  Zeit  belebt  sich  dann  mit  einem  Male,  eine  Menge  Charakter- 
bilder tauchen  auf,  wir  finden  die  litterarische  Bewegung  des  folgenden 
Jahrhunderts  im  Keime  sich  jetzt  schon,  im  Chaos,  vorbereiten;  wir 
finden  mit  einem  Male  die  Presse  und  das  Theater  in  einer  bis  dahin 
unerhörten  und  seitdem  auch  nicht  wieder  erlebten  Aufregung,  ja  wir 
finden  selbst  durch  all  den  Tumult  und  Lärmen  hindurch  die  Accente 
wahrer  inniger  Poesie!  Diese  Elemente  zu  einem  litterarhistorischen 
Kulturbild  zu  vereinigen ,  galt  wol  der  Mühe  wert ;  zu  zeigen ,  wie  in 
dieser  hochfliegenden  begeisterten,  leichtsinnigen  Welt  gleichzeitig  die 
Gemeinheit  und  der  Egoismus  sich  breitmachen  konnten;  wie  die 
furchtbarsten  Widersprüche  sich  vertrugen  und  man  tagsüber  kalt- 
blütig Ströme  von  Blut  vergießen  sah,  um  sich  abends  im  Theater 
an  einer  rührenden  Idylle  melancholisch  zu  stimmen  —  das  reizte 
mich,  und  ich  sah  zugleich,  daß  eine  Litteraturgeschichte  der  Ee- 
volution jeder  französischen  Litteraturgeschichte  unseres  Jahrhunderts  vor- 
angehen  muß. 

„Daß  ich  in  meiner  Darstellung  gründlich  bin,  und  daß  ich  stets 
auf  die  Quellen  zurückgegangen  bin,  zeigt  meine  Arbeit;  zum  Glück 
stehen  mir  hier  (Genf)  Hilfsmittel  zu  Gebot,  wie  man  sie  selten  sonst- 
wo finden  kann  —  Paris  ausgenommen.  Ich  habe  mich  dabei  bestrebt, 
trotz  aller  Gründlichkeit  und  Genauigkeit  für  einen  großen  Kreis  von 
Lesern  zu  schreiben.... 

„Der  zweite  Band  meines  Werkes  wird  die  Geschichte  ,des  Direk- 
toriums und  der  Kaiserzeit  umfassen,  ebenfalls  ein  sehr  umfassendes 
Gebiet,  auf  dem  Namen  wie  Stael,  J.  de  Maistre,  Chateaubriand  oben- 
anstehen, dem  ich  aber  wiederum  sein  Hauptinteresse  dadurch  zu  geben 
suche,  daß  ich  dieselben  im  Zusammenhang  mit  ihrer  Zeit  und  in  ihrem 
Werden,  nicht  als  abgetrennte  zufällig  damals  existierende  Individuen 
behandle.  Denn  die  Litteratur  eines  Volkes  entwickelt  sich  nicht  nach 
den  Launen  des  Zufalls,  sie  folgt  einem  Gesetz  innerer  Entwicklung  — 
und  das  zu  finden  ist  eine  Hauptaufgabe  des  Litterarhistorikers. 


XXXII 

„Um  mich  über  meine  Stellung  zu  ähnlichen  Werken  auszusprechen. 
Ich  kenne  nur  zwei,  die  hier  in  Betracht  kommen  können.  Hettner 
und  Julian  Schmidt.  Hettner  ist  ein  sehr  verdienstvolles  Buch,  aber  an 
Rivalität  ist  nicht  zu  denken,  mein  Werk  ist  eher  eine  Fortsetzung 
desselben. , . .  Julian  Schmidt  hat  eine  französische  Litteraturgeschichte 
seit  1789  geschrieben,  aber  nach  Fächern;  man  verliert  dadurch  jegliches 
Bild  der  Zeit.  Zudem  ist  die  französische  Litteratur  nicht  seine  Stärke ; 
er  scheint  das  Buch  als  Nebenarbeit  verfaßt  zu  haben,  und  ich  glaube, 
es  ist  sehr  wenig  bekannt  geworden." 

So  weit  wäre  alles  recht  gut  und  schön  gewesen,  wenn  nicht  der 
deutschfranzösische  Krieg  dazwischen  getreten  wäre.  In  dieser  Zeit  war 
in  Deutschland  kein  Verleger  für  eine  französische  Litteraturgeschichte 
zu  finden,  und  Lotheißens  Buch  mußte  auf  die  Veröffentlichung  warten  bis 
er  nach  Wien  übersiedelte  und  dort  die  Bekanntschaft  des  angesehenen 
Verlegers  Moritz  Gerold  machte,  der  es  anfangs  1872  publizierte.  Aber 
gut  war  es  doch,  das  Lotheißen  dieses  Werk  vollendet  hatte,  denn  es 
diente  ihm  als  Habilitationsschrift  an  der  Wiener  Universität  und  ward 
der  Grundstein  seiner  angesehenen  Stellung  im  litterarischen  und  päda- 
gogischen Leben  Wiens. 

IV. 

In  der  Mitte  der  Sechziger  Jahre  machte  sich  in  Oester  reich  das 
Reformbedürfnis  der  Realschulen  lebhaft  fühlbar.  Sie  waren  ursprünglich 
zu  dem  Zwecke  geschaffen  worden,  um  allen  jenen  jungen  Bürgersöhnen, 
die  keinen  gelehrten  Beruf  ergreifen  wollten,  Gelegenheit  zu  geben,  sich 
in  einer  kürzeren  Zeit  als  das  Gymnasium  forderte  (in  6  statt  8  Jahren) 
eine  Summe  von  praktisch  wertvollen  Kenntnissen,  inbesondere  in  den 
Realien,  Mathematik  und  Naturwissenschaften  zu  erwerben;  zugleich 
aber  sollten  die  Realschulen  auch  als  Vorbereitungsanstalten  für  die 
polytechnischen  Hochschulen  dienen.  Sie  vereinigten  also  damals  die 
Ziele  der  heutigen  Gewerbeschulen  und  der  allgemeinen  Bildnngsan- 
stalten.  Das  war  jedenfalls  zuviel,  der  Lehrzweck  konnte  nicht  erreicht 
werden,  Schüler  und  Lehrer  seufzten  unter  der  Last  der  Aufgaben,  und 
infolge  dessen  begann  die  Arbeit  an  der  Reform  dieser  Anstalten.  Zu- 
erst im  Kreise  der  Realschullehrer  selbst,  bald  aber  auch  unter  Mit- 
wirkung und  Führung  des  Unterrichtsministeriums;  inbesondere  des 
Ministers  Hasner,  der  sich  für  die  Reform  des  ganzen  österreichischen 
Schulwesens    so    große  Verdienste    erworben  hat.     Am  8.  August  1868 


XXXIII 

legte  Hasner  sämtlichen  Landtagen  einen  Gesetzentwurf  über  die  Neu- 
ordnung der  Kealschule  vor,  der  ihre  Aufgabe  sofort  im  ersten  Para- 
graph klar  feststellte,  indem  er  erklärte:  „Der  Zweck  der  Realschule 
ist  in  erster  Linie  eine  allgemeine  Bildung  mit  besonderer  Berücksich- 
tigung der  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Disziplinen  zu  gewähren." 
Also  allgemeine  Bildung  ohne  Nebenrücksichten  auf  Gewerbe  u.  dergl. 
war  nun  der  Zweck  der  Realschulen.  Die  Zahl  der  Schuljahre  wurde 
bald  darauf  von  sechs  auf  sieben  erhöht,  als  Abschluß  der  Studien 
analog  dem  Lehrplan  der  Gymnasien  die  Maturitätsprüfung  eingeführt, 
und  die  Realschullehrer,  die  bis  dahin  in  einem  niedereren  Range  standen, 
als  die  Gymnasiallehrer,  wurden  diesen  gleichgestellt.  Notwendigerweise 
mußte  nun  auch  in  das  System  der  allgemeinen  Bildung  der  Sprach- 
unterricht als  formales  Unterrichtsmittel  eingeführt  werden,  und  man 
entschied  sich  für  die  modernen  Sprachen,  für  das  französische  in  allen  7, 
und  das  englische  in  den  3  oberen  Klassen.  Damit  war  die  Notwen- 
digkeit der  Anwerbung  geeigneter  Lehrkräfte  gegeben.  Da  die  einheimi- 
schen für  den  Bedarf  nicht  ausreichten,  wurden  geeignete  Persönlich- 
keiten aus  dem  Ausland  berufen,  und  in  weiterer  Folge  dieser  Real- 
schulreform wurden  an  den  Universitäten  Wien  und  Prag  Seminare  für 
romanische  und  englische  Philologie  zur  Heranbildung  von  Lehrern  in 
den  modernen  Sprachen  eingerichtet.  Bei  dieser  Reformthätigkeit  wurde 
Lotheißen  nach  Österreich  berufen. 

Durch  Vermittlung  Rudolf  Iherings,  der  mit  dem  Justizminister 
Glaser  befreundet  war,  war  er  schon  im  August  1869  dem  österreichi- 
schen Unterrichtsministerium  als  bewährte  Lehrkraft  empfohlen  worden. 
Es  kam  dann  noch  die  wirksame  Fürsprache  seines  angesehenen  Freundes, 
des  Fürsten  Georg  Czartoryski  hinzu,  und  nach  einigen  Verhandlungen 
konnte  am  20.  Juni  1870  Dr.  Adolf  Beer,  damals  Ministerialrat  im 
Unterrichtsministerium,  der  sich  insbesondere  um  die  Reform  der  Mittel- 
schulen große  Verdienste  erwarb,  und  der  auch  Lotheißen  viel  Wohlwollen 
bekundete,  demselben  mitteilen,  dass  seine  Ernennung  zum  Realschul- 
lehrer gesichert  sei.  Auch  als  geeigneter  Leiter  des  genannten  Seminars 
für  französische  Sprache  und  Litteratur  war  schon  zu  dieser  Zeit  Loth- 
eißen in  Aussicht  genommen  worden.  Eine  Habilitation  an  der  Wiener 
Universität  musste  aber,  wie  ihm  angedeutet  wurde,  vorhergehen.  An- 
fangs Juli  erfolgte  denn  auch  seine  offizielle  Ernennung  zum  Professor 
der  französischen  Sprache  an  der  k.  k.  Oberrealschule  auf  der  Land- 
straße in  Wien.  Am  11.  Juli  legte  er  in  Wien  den  Diensteid  ab,  und 
nun  ward  er  ein  Österreicher,  nachdem  er  seit   so  vielen  Jahren  freund- 


XXXIV 

schaftliche  Beziehungen    zu  Österreichern    gepflegt    und    in   Wien    seine 
litterarischen  Erstlinge  veröffentlicht  hatte. 

Wie  es  bei  allen  neuen  Unternehmungen  zu  gehen  pflegt,  so  hegte 
man  vielfach  auch  von  den  Erfolgen  des  modernen  Sprachunterrichts  in 
den  Kealschulen  übergroße  Erwartungen.  Er  erfüllt  ja  auch  in  der 
That  seinen  pädagogischen  Zweck,  wenn  er  auch  nicht,  wie  die  in- 
zwischen gemachten  Erfahrungen  lehren,  all  das  leisten  kann,  was  man  sich 
anfiinglich  von  ihm  versprach.  Für  die  Ausführung  der  leitenden  Ideen 
der  damaligen  Unterrichtsreform  war  indes  Ferdinand  Lotheißen  so  ge- 
eignet, wie  kaum  ein  anderer;  denn  er  teilte  damals  selbst  die  Über- 
zeugungen von  dem  großen  pädagogischen  Wert  des  modernen  Sprach- 
unterrichts. Auch  er  war  als  Lernender  und  Lehrer  von  der  klassischen 
Philologie  ausgegangen  und  im  Laufe  seiner  Studien  und  pädagogischen 
Praxis  zu  Ansichten  gelangt,  die  mit  denen  der  Wiener  Reformer  über- 
einstimmten. Das  wird  aus  dem  folgenden  ersichtlich  werden. 

Im  Januar  1867  hatte  er  in  der  „Frankfurter  Zeitung"  ein 
Feuilleton  über  die  Insel  Kandia  veröffentlicht,  die  damals  im  Aufstand 
gegen  den  Sultan  war  und  den  Anschluß  an  Griechenland  anstrebte. 
Hier  sprach  er  die  Meinung  aus,  dass  die  alten  Griechen  wol  nicht 
viel  anders,  als  die  Neuhellenen  gewesen  sein  dürften,  mag  nun  Fall- 
merayer  mit  seiner  Theorie  von  dem  vorwiegend  slavischen  Blut  der 
Neugriechen  Eecht  haben  oder  nicht.  Und  er  schloß  diese  Auseinander- 
setzung mit  einem  ironischen  Seitenblick  auf  die  Philologen :  „die  in 
ihrem  Zorne  schrecklich  sein  können,  und  die  in  ihren  Fehden  durch- 
aus nicht  mit  attischer  Feinheit  kämpfen."  Es  war  nämlich  gerade  zu 
der  Zeit  viel  Zank  in  der  philologischen  Welt,  und  Lotheißens  tadelnde 
Bemerkung  hatte  ihre  gute  Berechtigung.  Aber  er  mußte  wol  vermuten, 
daß  sein  Schwiegervater  Georg  Thudichum,  der  doch  auch  ein  Philo- 
loge war,  und  den  er  so  hoch  verehrte,  den  kleinen  Ausfall  nioht  an- 
genehm empfinden  könnte.  Denn  er  ergriff  in  einem  Briefe  aus  Genf, 
13.  Januar  1867  die  Gelegenheit,  sich  über  seine  „ketzerischen  Ideen" 
des  Näheren  und  mit  aller  Offenheit  auszusprechen.  Diese  Äußerung  ist 
für  seine  Gesinnung  so  bezeichnend,  daß  sie  hier  citiert  werden  muß. 
Er  schrieb: 

,. .  .  .  Ich  war  nie  ein  wirklicher  Philologe ,  konnte  mich  nie  für 
Cicero  begeistern  und  habe  manchmal  ganz  absonderliche  Gedanken  über 
das  heutige  Gymnasialstudium.  Ich  bewundere,  wie  nur  Einer,  die 
Größen  der  klassischen  Litteratur  und  möchte  um  keinen  Preis  Homer, 
Sophokles  oder  Horaz  aus  der  Schule  verbannt  haben  —  aber  ich  meine 


XXXV 

manchmal,  wenn  man  das  Studium  der  alten  Sprachen  beschränkte  uml 
dafür  die  modernen  wissenschaftlich  betriebe,  wenn  man  die  deutsche 
und  französische  Grammatik,  die  deutschen,  englischen  und  französischen 
Schriftsteller  vornähme  und  erklärte  —  es  käme  mehr  dabei  heraus. 
Ein  Massillon,  ein  Chatam,  ein  Mirabeau ,  Berryer,  Favre  wiegen  einen 
Isokrates,  einen  Cicero  auf,  haben  größeren  Einfluß  auf  die  Jugend, 
denn  sie  stehen  uns  näher.  Die  Griechen  hatten  nur  ihren  Homer  und 
ihre  griechischen  Dichter,  an  denen  sie  sich  bildeten."  Und  um  seine 
Meinung  durch  ein  Beispiel  zu  erhärten,  legte  er  diesem  Briefe  die 
Abschrift  eines  Passus  aus  der  Predigt  Massillons  an  den  jungen  König 
Ludwig  XIV.  bei,  desselben  Eedners,  über  den  er  auch  in  seiner 
Litteraturgeschichte    zehn  Jahre  später  so  warm  schrieb. 

Bei  diesen  Überzeugungen,  die  Lotheißen  lange  hegte,  bevor  er 
nach  Wien  kam,  läßt  es  sich  leicht  vorstellen,  mit  welchem  Feuereifer 
er  in  den  neuen  Pflichtenkreis  trat,  der  seiner  Gesinnung  so  sehr  ent- 
sprach, und  wie  gern  er  die  Organisierung  des  französischen  Sprach- 
unterrichts in  den  Realschulen  betrieb.  Es  blieb  auch  daher  nicht  bloß 
bei  seinem  Lehramt  an  der  genannten  Realschule,  die  als  die  Muster- 
realschule des  Reiches  galt.  Schon  ein  halbes  Jahr  nach  seiner  Über- 
siedlung nach  Wien,  am  20.  Februar  1871  wurde  er  zum  Prüfungs- 
commissär  für  Reallehramtscanditaten  seines  Faches  ernannt,  und  noch 
im  selben  Jahre  habilitierte  er  sich  an  der  Wiener  philosophischen  Fa- 
cultät  für  neuere  französische  Litteratur  auf  Grundlage  seiner  Schrift  „Litte- 
ratur  und  Gesellschaft  in  Frankreich  zur  Zeit  der  Revolution  1789 — 1794." 
Sie  erschien  im  Druck  anfangs  1872  im  Verlage  von  Carl  Gerolds  Sohn 
in  Wien.  Am  5.  November  1871  wurde  ihm  die  venia  legendi  ertheilt. 
Im  selben  Semester  konnte  er  schon  das  französische  Seminar  mit  einem 
Proseminar  eröffnen,  und  am  22.  Mai  1872  erfolgte  seine  Ernennung 
zum  definitiven  Vorstand  des  Seminars  zugleich  mit  Professor  Dr.  Adolf 
Mussafia. 

Man  sieht:  die  ersten  Jahre  des  Wiener  Aufenthalts  gestalteten 
sich  für  Lotheißen  aufs  verheißungsvollste.  Und  nach  der  Kenntnis  seines 
ganzen  elastischen  und  arbeitsfrohen  Wesen,  die  wir  schon  haben,  wird  es 
nicht  verwundern  zu  hören,  daß  er  sich  mit  der  Erfüllung  der  Amts- 
geschäfte allein  nicht  genug  sein  ließ.  Er  trat  auch  sofort  mit  littera- 
rischer Production  hervor  und  knüpfte  in  der  Wiener  Gesellschaft  Ver- 
bindungen an,  die  sich  bei  seinen  eigenen  und  den  Vorzügen  seiner 
geistreichen  Frau  bald  sehr  lebhaft  und  zum  Teil  auch  intim  gestalteten. 
Er  hatte  in  Wien  am  Fürsten  Czartoryski,  an  Professor  Conze,    an  Ihe- 


XXXVI 

ring,  an  Heinrich  Laube  and  an  dem  ihm  verschwägerten  hochange- 
sehenen Dichter  Moritz  Hartmann  alte  gute  Freunde,  zu  denen  bald 
viele  neue  hinzutraten.  Der  letztgenannte  vermittelte  Beziehungen  zur 
„Neuen  Freien  Presse",  so  daß  Lotheißen  in  den  ersten  Jahren  seines 
Wiener  Lebens  viele  Feuilletons  über  französische  und  deutsche  Litteratur 
in  dem  großen  Blatte  veröffentlichte;  einzelne  Kapitel  seines  Buches 
über  die  französische  Eevolutionslitteratur  wurden  1871  daselbst  zuerst 
gedruckt.  Dann  schrieb  er  Feuilletons  für  den  „Wanderer",  den  Fürst 
Czartoryski  angekauft  hatte,  aber  nur  mehr  kurze  Zeit  halten  konnte. 
Und  als  unter  Friedrich  Uhls  kundiger  Leitung  die  „Wiener  Abend- 
post" mit  einer  litterarischen  Beilage  ins  Leben  trat,  da  übernahm 
Lotheißen  das  ständige  Referat  über  französische  Litteratur  und  besorgte 
auch  manche  redaktionelle  Geschäfte,  wie  die  Einladung  hervorragender 
Schriftsteller  zur  Mitarbeiterschaft  an  der  „Abendpost".  Außer  den  kri- 
tischen Aufsätzen  über  die  neuen  Erscheinungen  der  französischen  Litte- 
ratur veröffentlichte  er  in  diesem  Blatte  auch  mehrere  größere  und 
wertvolle  Studien  über  deutsche  Dichter,  und  zwar  gelegentlich  der 
Gesamtausgaben  der  Werke  Bauernfelds,  Alfred  Meißners,  Moritz 
Hartmanns,  Otto  Müllers  (1873 — 74).  Und  es  ist  sehr  zu  bedauern,  daß 
er  keine  Sammlung  dieser  kritischen  Arbeiten  veranstaltete,  denn  in 
ihrer  knappen  Form  sind  sie  stets  gehaltreich  und  geben  scharf  um- 
rissene  Charakterbilder  einzelner  Gestalten  oder  ganzer  Perioden.  Als 
Kritiker  war  Lotheißen  immer  milde  im  Ausdruck,  doch  unzweideutig 
klar  im  Urteil.  Vor  allem  aber  war  er  streng  sachlich;  selbst  wo  er 
persönliche  Angriffe  zurückzuweisen  hatte,  ließ  er  sich  nicht  zu  anderen 
als  ganz  objectiven  Erwiderungen  hinreißen.  Und  dennoch  hatte  er  un- 
gesucht, trotz  seiner  so  milden  Natur,  Gegner  unter  jenen  Pedanten, 
die  sich  daran  stießen,  daß  der  gelehrte  Privatdocent  gleichzeitig  ein 
beliebter  und  anmutiger  Mitarbeiter  von  Zeitschriften  war.  Später,  als 
Lotheißen  seine  Bücher  publizierte,  gefielen  sich  dieselben  Gegner  darin, 
ihm  L-rtümer  in  ganz  nebensächlichen  Einzelheiten  vorzuwerfen,  über 
den  edlen  und  bedeutenden  Geist  des  Ganzen  aber  mit  Schweigen  hin- 
wegzugehen. Als  wäre  Schönheit  der  Darstellung  eine  so  äußerliche  und 
wertlose  Eigenschaft  bei  einem  Litteraturhistoriker,  und  nicht  vielmehr 
eine  schwer  erreichbare  und  wertvolle  Kunst!  Nichts  spricht  mehr  für 
den  Wert,  den  man  in  litterarischen  Kreisen  den  Aufsätzen  Lotheißens 
beimaß,  als  daß  er  Einladungen  zur  Mitarbeiterschaft  von  allen  Seiten 
erhielt  und  seine  Thätigkeit  auf  eine  größere  Zahl  von  Zeitschriften 
verbreiten  mußte. 


XXXVII 

Abel'  schließlich  gewährte  ihm  diese  Production  selbst  keine  Be- 
friedigung! Er  machte  sich  über  ihre  Dauerhaftigkeit  keine  Illusionen. 
„Dem  Journalisten  wie  dem  Schauspieler  flicht  die  JSTachwelt  Kränze", 
schrieb  er  in  dieser  Zeit  einmal,  und  darum  entschloß  er  sich  bald, 
schon  im  Sommer  1875,  die  Resultate  seiner  umfangreichen  Studien  der 
französischen  Litteratur  in  einem  größeren  Werke  zusammenzufassen. 
Einige  Zeit  schwankte  er  zwischen  zwei  Plänen:  einer  Geschichte  der 
Litteratur  im  siebzehnten  Jahrhundert  und  einer  Biographie  Molieres ; 
beide  Stoffe  hatte  er  schon  für  seine  Vorlesungen  an  der  Universität  be- 
arbeitet. Schließlich  entschied  er  sich  dafür,  vorerst  die  Litteratur- 
geschichte  in  Angriff  zu  nehmen  und  am  Ende  des  Jahres  1875  war 
er    mit    seinem  Programm  im  Reinen. 

Doch  ging  die  Arbeit  nicht  ohne  Schwierigkeiten  von  statten.  Lotii- 
eißens  Entschluß,  an  Stelle  der  bisher  so  gern  geschriebenen  Essays  ein 
großes  Werk  zu  schaffen,  war  nicht  bloß  eine  Folge  litterarischen  Ehr- 
geizes, sondern  auch  des  Bedürfnisses  nach  Erhebung  durch  eine  größere 
Leistung.  Er  hatte  jenen  Entschluß  im  traurigsten  Jahre  seines  Lebens 
gefaßt,  wie  er  in  einer  Aufzeichnung  vom  Sylvester  1875  dieses  Jahr 
bezeichnete.  Zu  Anfang  1875  war  ihm  sein  erster  Sohn  Friedrich  im 
Alter  von  zwölf  Jahren  gestorben.  Lotheißen  liebte  seine  Familie  mit 
leidenschaftlicher  Zärtlichkeit;  nur  ihretwegen  hatte  er  so  viel  Fleiß  auch 
außer  dem  Amte  entwickelt.  Den  Tod  seines  Sohnes  konnte  er  lange 
Zeit  nicht  verschmerzen;  in  trüben  Stunden  trat  ihm  immer  wieder  das 
Bild  des  geliebten  Kindes  vor  Augen.  Da  sollte  ihn  eine  große  Aufgabe 
mit  allen  ihren  Ansprüchen  auf  Vertiefung  in  die  Vergangenheit  über 
sich  selbst  hinausheben. 

Aber  es  blieben  ihm  auch  weiterhin  keine  Sorgen  erspart.  Es 
lagert  von  nun  an  etwas  wie  der  Schatten  einer  Tragödie  auf  diesem 
Gelehrtenleben.  Je  mehr  Ansprüche  der  rastlose  Mann  an  sich  selbst 
stellte,  je  mehr  Widerstand  er  seinen  körperlichen  Gebresten  leistete  — 
er  litt  viel  an  Migräne  und  seine  Brust  war  seit  jeher  zart  und  em- 
pfindlich —  umso  härter  verfuhr  das  Schicksal  'mit  ihm,  umsomehr 
Prüfungen   brachte  es  ihm. 

Wenn  Lotheißen  in  seiner  Litteraturgeschichte  dem  skeptischen 
Pessimismus  Larochefoucaulds  zustimmt,  oder  wenn  er  in  der  Biographie 
Molieres  den  „Misanthrope"  mit  Nachdruck  feiert  und  überhaupt  den 
tragischen  Ausgang  dieses  glanzreichen  Dichterlebens  ergreifend  darstellt, 
so  hört  man  aus  der  Erzählung  vernehmlich  das  eigene  Gemüt  Loth- 
eißens   mittönen.     Moliere   war    nicht    am    wenigsten    auch   darum   sein 


XXXVIII 

Lieblingsdichter,  weil  er  vom  Leben  so  enttäusclit  ward  und  dennoch 
in  den  Formen  der  guten  Gesellschaft,  als  ein  ganzer  Mann  den  Kummer 
seiner  Seele  zu  bemeistern  wußte.  Das  war  nach  Lotheißens  Geschmack. 
Auch  er  litt,  duldete  und  schwieg  —  wofern  ihn  nicht  seine  Bücher 
verrieten.  Und  dieses  bekämpfte  Leid,  das  sich  nicht  äußerte,  gab  im 
Vereine  mit  der  Milde  und  Güte ,  die  seinem  Wesen  von  jeher  eigen 
waren,  der  Persönlichkeit  Lotheißens  in  seinen  letzten  Lebensjahren,  auf 
der  Höhe  seiner  litterarischen  Production,    ein  eigenes  Gepräge. 

Keines  der  Bücher,  die  nun  in  ziemlich  rascher  Folge  entstanden, 
konnte  Lotheißen  in  gänzlich  sorgenfreier  Stimmung  schreiben.  Gleich 
bei  der  Entstehung  seiner  Litteraturgeschichte  begann  die  Zeit  seiner 
Sorgen.  Seine  geliebte  Frau  fing  an  zu  kränkeln  und  ihr  Leiden  zog 
sich  viele  Jahre  hin,,  bis  sie  in  der  Krankheit  unterging.  Das  war 
das  schlimmste  Leid,  das  den  Gelehrten  treffen  konnte.  Dazu  kam 
noch,  daß  der  Gegensatz,  in  dem  er  sich,  wie  wir  oben  gesehen  haben, 
zur  Philologie  befand,  nicht  ohne  Wirkung  auf  seine  akademische  Stellung 
blieb.  Seine  Thätigkeit  als  Vorstand  des  französischen  Seminars  fand 
zwar  die  volle  Anerkennung  des  Ministeriums,  mit  Kücksicht  auf  seine 
Kollegien  an  der  Lniversität  wurde  ihm  der  Unterricht  an  der  Real- 
schule allmählich  erleichteit.  Die  Zahl  der  Schüler,  die  zu  Lotheißen  in 
ein  warmes  persönliches  Verhältnis  traten,  vermehrte  sich  von  Jahr  zu 
Jahr.  Aber  es  dauerte  dennoch  Jahre,  bis  er  am  5.  September  1881 
zum  Extraordinarius  seines  Faches  befördert  wurde.  Die  lange  Dauer 
dieses  Vorrückens  hat  er  schmerzlich  empfunden.  Aber  schließlich  hin- 
derte ihn  all  dieser  Kampf  mit  einem  unfreundlichen  Schicksal  nicht, 
an  seinen  Büchern  mit  Hingabe  und  Begeisterung  zu  arbeiten  und  sich 
immer  höhere  wisenschaftliche  Ziele  zu  stecken. 

Bei  der  Erinnerung  an  diese  schwere  Zeit  muß  der  Biograph  Loth- 
eißens einer  edlen  und  innigen  Freundschaft  gedenken,  die  ihn  mit 
einem  leider  nur  zu  früh  verstorbenen  Manne  von  ausgezeichneter  Herzens- 
und Geistesbildung  verband,  der  auch  in  der  Wiener  Gesellschaft  das 
beste  Angedenken  hinterließ.  Es  war  dies  der  Advokat  Dr.  Ludwig 
Weißel,  der  durch  seinen  sprühenden  Witz,  seine  anmutigen  Verse, 
seine  proven^alische  Erzählung  „der  Mönch  von  Montaudon",  seine 
Reiseberichte  aus  dem  Süden  sich  auch  in  der  litterarischen  Welt  einen 
guten  Namen  sicherte.  Leider  machte  sich  in  Dr.  Weißel  ein  tückisches 
Leiden  merkbar,  das  ihn  zwang,  die  Winterszeit  fern  von  Wien,  im  milderen 
Klima  Roms  oder  Genfs  zu  verbringen,  und  das  auch  seinem  Leben 
schon    im  Alter    von  44  Jahren    ein  Ende    setzte    (16.  Januar    1886). 


XXXIX 

Lotheißen  war  es  noch  vergönnt,  die  Übersetzung  Anakreons,  die  Weißel 
hinterlassen  hatte,  herauszugeben  und  mit  einem  herzlichen  biographischen 
Vorwort  zu  versehen   (Leipzig  1886). 

Indes  hatte  er  mit  seiner  Geschichte  der  französischen  Litteratur 
im  XVn.  Jahrhundert  sofort  nach  der  Ausgabe  des  ersten  Halbbandes  im 
Frühsommer  1877  großen  Erfolg.  Einer  der  bedeutendsten  Kenner  und 
Kritiker  Frankreichs  und  seiner  Litteratur,  Karl  Hilleb r and,  zu  dem 
Lotheißen  in  gar  keinen  persönlichen  Beziehungen  stand,  veröffentlichte 
am  21.  August  1877  im  Feuilleton  der  „Xeuen  Freien  Presse"  eine 
überaus  lobende  Besprechung  des  Buches,  das  er  nach  Form  und  Inhalt 
als  eine  Musterleistung  pries.  Wenige  Wochen  vorher  war  im  Juli-Heft 
der  „Westminster  Review"  eine  ebenso  anerkennende  Besprechung  er- 
schienen, von  einer  gleichfalls  persönlich  fremden  Seite,  und  die  darum 
unseren  Historiker  nicht  minder  erfreute.  Da  sie  weniger  bekannt 
wurde,  so  dürfen  wir  sie  aus  ihrer  Verborgenheit  holen  und  hier  ab- 
drucken.    Sie  lautet: 

„We  welcome  from  Vienna  the  frist  part  of  a  history  of  the 
,french  Literature  in  the  Seventeenth  Century'  by  Herr  Lotheißen,  who  is 
already  favourably  known  by  his  sketch  of  social  France  during  the 
revolutionary  period.  The  portion  of  the  work  which  we  have  received, 
contains  an  admirable  introductory  sketch,  criticisms  of  Malherbe, 
Eegnier,  d'Aubigne,  d'ürfe,  Guez  de  Balzac  and  Voiture,  and  a  vivid 
description  of  the  famous  circle  of  the  Hotel  Eambouillet.  All  the  chapters 
are  good,  and  the  last  named  is  perhaps  the  best.  The  sketch  of 
d'Aubigne,  his  remarkahle  writings  and  his  still  more  remarkable  career 
is  of  very  great  interest.  .  ,  L.  is  more  just  to  Malherbe  than  most 
critics  have  been.  On  the  other  band  he  speaks  with  au  unusual  com- 
mendation  of  d'Urfe,  whose  .Astree',  duU  and  artificial  as  it  may  now 
seem,  was  certainly  an  epoch-making  book.  Herr  Lotheißen  adds  to  the 
careful  labour  of  the  best  German  critics  a  vigorous  and  lively  style. 
We  have  found  this  history  a  most  engrossing  work,  and  shall  look 
for  the  remaining  parts  with  eager  interest"  .  .  . 

Indes  würde  es  den  Rahmen  dieser  biographischen  Einleitung  weit 
überschreiten,  wenn  wir  das  Schicksal  dieser  Litteraturgeschichte  und 
der  anderen  Bücher,  welche  Lotheißen  schrieb,  in  aller  Ausführlich- 
keit verfolgen  wollten.  Eine  Kritik  und  Charakteristik  Lotheißens  als 
Litteraturhistoriker  ist  in  dem  Essay,  den  Anton  Bettelheim  als  Ein- 
leitung in  die  aus  dem  Nachlasse  desselben  erschienenen  Aufsätze  „Zur 
Culturgeschichte  Frankreichs    im  XVII.   und  XVIII.  Jahrhundert   (Wien, 


XL 

Carl  Gerolds  Sohn  1889)  schrieb,  in  so  trefflicher  Weise  geleistet,  daß 
hier  am  besten  nur  darauf  verwiesen  werden  kann.  Wir  dürfen  uns 
daher  auch  über  die  fernere  litterarische  Thätigkeit  Lotheißens  kürzer 
fassen. 

Im  Herbst  1878  und  1879  hielt  sich  Lotheißen  zum  Zweck  seiner 
Studien  in  Paris  auf,  wo  er  in  der  Bibliotheque  nationale  und  im  Archiv 
des  Theatre   francais  Forschungen   machte. 

Nach  Vollendung  des  zweiten  Bandes  der  Litteraturgeschichte,  der 
1879  erschien,  unternahm  er  die  Monographie:  „Moliere.  Sein  Leben 
und  seine  Werke":  eine  Arbeit,  die  er  so  recht  con  amore  vollendete, 
und  die  in  geschmackvoller  Ausstattung  1880  im  Verlage  der  litte- 
rarischen Anstalt  Eütten  und  Löning  in  Frankfurt  a.  M.  erschien.  Sie 
ist  ein  kunstvoller  Essay  in  erweiterter  Form  und  hat  ohne  Zweifel  auch 
zu  der  erneuerten  Wertschätzung  Molieres,  die  seitdem  in  Deutschland 
merklich  zutage  trat,  beigetragen.  In  dem  Verzeichnis  wertvoller  Werke, 
das  Anton  E.  Schönbach  seinem  ausgezeichneten  Buche :  „Über  Lesen 
und  Bildung"  augefügt  hat,  ist  Lotheißens  „Moliere"  in  der  Reihe  der 
Biographien   angeführt. 

Dann  aber  ging  er  an  den  Abschluß  seiner  Litteraturgeschichte, 
deren  dritter  und  vierter  Band  1883  und  1884  erschienen.  Mit  der  Be- 
deutung des  Stoffes  stieg  auch  die  Kraft  und  Schönheit  der  Darstellung, 
und  meines  Erachtens  ist  Lotheißen  nirgends  größer  als  in  den  letzten 
Kapiteln  des  Werkes,  die  Eacine,  den  Charakter  der  französischen 
Tragödie  und  schließlich  die  Memoirenlitteratur  mit  dem  ihm  so  sym- 
pathischen strengen  Moralisten  Saint-Simon    behandeln. 

Ein  Jahr  darauf  erschien  im  Verlage  von  B.  Ellischer  in  Leipzig 
eine  Sammlung  kleiner  Essays :  „Bilder  und  Historien  zur  Sittengeschichte 
Frankreichs",  und  unmittelbar  nach  Abschluß  seiner  Litteraturgeschichte 
des  siebzehnten  Jahrhunderts  machte  er  sich  an  die  Geschichte  der 
Königin  Margarethe  von  Navarra,  die  sich  zu  einem  umfassenden  Kultur- 
bild der  französischen  Reformationskämpfe  im  sechzehnten  Jahrhundert 
gestaltete.  Das  Buch  erschien  im  Verein  für  deutsche  Litteratur  in 
Berlin  1885.  Und  nun  nahm  Lotheißen  die  Geschichte  der  französischen 
Kultur  im  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhundert  in  Angriff',  deren 
Material  in  den  Kollegienheften  seiner  Vorlesungen  schon  größtentheils 
bearbeitet  dalag.  Aber  er  kam  nicht  weiter  als  über  die  ersten  ein- 
leitenden Kapitel  hinaus,  die  später  in  seine  Sammlung  nachgelassener 
Essays  aufgenommen  wurden.  Tief  zu  bedauern  ist,  daß  er  nicht  mehr 
dazu  kam,  die  Biographie  Voltaires  zu  schreiben,  mit  dem  er  sich  schon 


XLI 

seit  Beginn  seiner  französischen  Studien  in  Genf  gern  beschäftigte,  und 
über  den  er  in  seinen  Vorlesungen  mit  tiefer  Sympathie  für  seine 
humanistischen  Bestrebungen  zu  sprechen  pflegte. 

Im  Winter  1886 — 1887  stellten  sich  die  ersten  Anzeichen  der 
schweren  Krankheit  ein ,  die  diesem  arbeitsreichen  Leben  ein  Ende 
machen  sollte.  Sie  wurde  bald  als  das  erkannt,  was  sie  in  Wahrheit 
war ,  als  die  Bright'sche  Krankheit.  Im  Sommersemester  1887  mußte 
Lotheißen,  schon  sehr  geschwächt,  seine  Vorlesungen  unterbrechen,  und 
die  Leiden  dauerten  das  ganze  Jahr  hindurch,  bis  ihn  am  19.  Dezember 
1887  der  Tod  von  ihnen  erlöste.  M.  N. 


I.    Th.eil. 


Die  Zeit  des  Übergangs. 

1600—1636. 

Einleitung. 

l'as  17.  Jahrhundert  war  für  Franki'eich  eine  Zeit  des  Ruhms 
und  der  Größe.  Von  König  Heinrich  IV.  und  nach  dessen  Tod  von 
Richelieu  in  seiner  Einheit  befestigt,  nahm  das  Land  unter  Ludwig  XIV. 
einen  besonderen  Aufschwung  und  erreichte  in  seiner  Machtstellung  gegen 
außen  eine  zuvor  nie  geahnte  Höhe.  Je  rascher  die  spanische  Welt- 
herrschaft verfiel  desto  unwiderstehlicher  erhob  sich  Frankreich  als  neue 
Vormacht  Europas,  und  in  den  letzten  Decennien  des  17.  Jahrhunderts 
stand  es  unbestritten  als  der  erste  und  entscheidende  Großstaat  des 
Kontinents  da.  Es  war  für  Frankreich  eine  Zeit  blendender  kriege- 
rischer Erfolge,  deren  Ruhm  durch  die  schweren  Unglücksfälle  der  fol- 
genden Zeit  zwar  verdunkelt  werden  konnte,  deren  Gewinn  aber  nicht 
verloren  ging.  Es  war  eine  Zeit  uneingeschränkter  königlicher  Macht- 
vollkommenheit und  jenes  höfischen  Glanzes,  der  bald  das  Ideal  der 
meisten  europäischen  Hofhaltungen  werden  sollte.  Gleichzeitig  trieb  auch 
der  französische  Volksgeist  eine  Fülle  der  edelsten  Blüten,  und  so  fehlte 
nichts,  um  ein  neues  augusteisches  Zeitalter  heraufzuführen.  Denn  das 
schönste  Denkmal  seiner  Größe  errichtete  sich  Frankreich  in  seiner 
Litteratur,  welche  damals  zur  klassischen  Höhe  emporstieg,  die  Werke 
ihrer  Dichter  weit  über  die  Grenzen  des  Landes  hinaustrug,  und  die 
französische  Sprache,  in  Schärfe,  Klarheit  und  Schönheit  der  Form  voll- 
endet, zur  allgemein  herrschenden  Sprache  der  Gebildeten  in  Europa  erhob. 

Es  ist  ein  schönes  Vorrecht  klassischer  Dichtkunst,  daß  sie  einen 
Strahl  ihres  Glanzes  auf  ihre  ganze  Zeit  fallen  läßt,  dieselbe  in  ihrer 
Bedeutung  erhöht  und  gleichsam  adelt.  So  erging  es  auch  dem  Frank- 
reich des  17.  Jahrhunderts,  dessen  Größe  doch  in  vieler  Hinsicht  nur 
äußerlich,  nur  scheinbar  war.  Wenn  man  sich  von  dem  glänzenden  Bild, 
das  besonders  die  Epoche  Ludwigs  XIV.  bietet,  nicht  blenden  läßt,  son- 
dern genauer  zusieht,  so  entdeckt  man  bald,  daß  die  bestechende  Schön- 
heit so  mancher  Erscheinung  nur  eine  Lüge,  nur  eine  Maske  ist,  welche 
recht  häßliche  Gestalten  verbergen  soll. 

Das  17.  Jahrhundert  bekundet  einen  deutlich  wahrnehmbaren  Still- 
stand   in    der   natürlichen    Entwicklung    des    französischen    Volks-    und 

Lotlieißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  1 


Staatslebens;  es  ist  nur  eine  große  Episode,  eine  gewaltsame  Reaktion 
gegen  die  Ideen  und  den  Gang  des  vorhergegangenen  Jahrhunderts. 

Kaum  mag  in  der  langen  Reihe  der  Jahrhunderte,  die  wir  seit 
dem  Sturz  der  alten  Welt  zählen,  eines  größer  und  bedeutsamer  ge- 
wesen sein  als  das  sechzehnte.  Mit  ihm  begann  eine  neue  Phase  in  der 
Entwicklung  der  Menschheit ;  es  ist  die  neue  Zeit,  welche  sich  mit  ihm 
erhebt,  mit  den  neuen  Fragen  und  Bestrebungen,  welche  seitdem  die 
Menschheit  bewegen.  Wir  kämpfen  heute  noch  denselben  Kampf,  den 
das  16.  Jahrhundert  begonnen,  und  die  höchsten  Probleme  menschlichen 
Wissens,  an  welchen  unsere  Zeit  sich  abmüht,  haben  auch  jene  große 
Epoche  schon  beschäftigt.  Der  Geschichtschreiber  soll  freilich  noch 
kommen,  der  selbst  so  reichen  Geist  und  so  umfassende  Kenntnisse  hätte, 
daß  er  in  einem  Gesammtbild  die  Arbeit  des  1(3.  Jahrhunderts  in  seiner 
unendlichen  Mannigfaltigkeit  auf  allen  Gebieten  des  menschlichen  Lebens, 
in  Religion  und  Philosophie,  in  Kunst  und  Wissenschaft,  auf  dem  staat- 
lichen wie  socialen  Feld  zusammenfassen  könnte.  Unter  den  Ländern, 
welche  die  regste  Thätigkeit  bekundeten,  stand  Frankreich  in  erster 
Reihe.  Mochte  Italien  es  durch  seine  Kunst,  seine  höfische  Kultur,  seine 
reichere  Poesie  übertretfen,  moclite  Spanien  in  der  Dichtung  wie  in  der 
Politik  und  im  Krieg  sich  überlegen  zeigen,  mochte  Deutschland  in  den 
religiösen  Kämpfen  vielfach  die  Leitung  übernehmen,  so  entwickelte  sich 
doch  in  Frankreich  auf  allen  Gebieten  zugleich  ein  so  reiches  Leben, 
wie  vielleicht  in  keinem  andern  Land  zu  jener  Zeit.  Frankreich,  von 
der  Natur  begünstigt,  war  trotz  aller  schweren  Erfahrungen  ein  wohl- 
habendes Land.  Der  Adel,  der  noch  nicht  zum  Hofadel  herabgedrückt 
war,  erwies  Kraft  und  Talent;  noch  heute  zeugen  viele  Schlösser  im 
schönsten  Renaissancebau  von  der  edlen,  stilgerechten  Kunst  jener  Zeit; 
es  sind  Bauten,  mit  welchen  die  nüchternen  Werke  der  Epoche  Lud- 
wigs XIV.  nicht  verglichen  werden  können.  Der  Handel  war  wie  die 
Industrie  in  raschem  Aufschwung.  Mit  ihnen  erwuchs  ein  kräftiges, 
seines  Werts  sich  bewußtes  Bürgertum,  das  seinen  Anteil  an  der 
Verwaltung  und  Führung  des  Vaterlands  beanspruchte.  Das  Wieder- 
aufleben des  klassischen  Altertums  trug  die  schönsten  Früchte  und 
reifte  in  ungeahnter  Entwicklung  die  geistigen  Kräfte  des  Volkes.  Die 
französischen  Universitäten  erfreuten  sich  europäischen  Rufs;  Rechts- 
lehrer wie  Cujacius,  Philologen  wie  Muretus,  Lambinus,  Henricus  Ste- 
phanus,  übten  unberechenbaren  Einfluß  aus.  und  ähnlich  wie  in  Frank- 
reich gestaltete  sich  das  geistige  Leben  auch  in  den  anderen  Staaten 
Westeuropas. 

Wie  arm  erscheint  dieser  Regsamkeit  gegenüber  das  17.  Jahr- 
hundert, dessen  hauptsächlichstes  Bemühen  nur  auf  Zurückdrängen  und 
Eindämmen  jener  gewaltigen  geistigen  Strömung  gerichtet  war.  England 
allein  machte  hierin  eine  Ausnahme.  Umso  entschiedener  trat  die  Re- 
aktion in  Frankreich  und  Deutschland  auf,  nachdem  in  diesen  beiden 
Ländern  auch  der  Kampf  am  lebhaftesten  geführt  worden  war. 

Dieser  Kampf,  der,  genau  betrachtet,  das  letzte  Ringen  zwischen 
Mittelalter  und  Neuzeit  darstellt,    spitzte    sich    zu    zwei    großen  Gegen- 


Sätzen  zu.  Es  kämpfte  die  Reformation  gegen  den  Papismus,  der  ent- 
weder feudale  oder  republikanisclie  Föderalismus  gegen  das  Princip  der 
absoluten  Monarchie  und  des  Centralismus.  Um  die  Mitte  des  16.  Jahr- 
hundeits  war  die  Hälfte  des  Deutschen  Reichs  für  Rom  verloren,  und 
in  Frankreich  schien  ein  ähnlicher  Sieg  der  reformatorischen  Bewegung 
bevorstehend.  Der  Triumph  der  Reformation  in  Frankreich  aber  hätte 
den  Sturz  der  päpstlichen  Herrschaft  in  den  anderen  Ländern  Europas 
fast  unvermeidlich  nach  sich  gezogen.  So  wurde  denn  Frankreich  das 
Schlachtfeld,  auf  welchem  zunächst  die  Entscheidung  gesucht  wurde. 
War  erst  Roms  Ansehen  in  Prankreich  wieder  gefestigt,  so  mochte  man 
•dann  mit  mehr  Hoffnung  auf  Erfolg  auch  den  Kampf  in  Deutschland 
wieder  aufnehmen.  Alle  Kräfte  wurden  angespannt,  alle  Leidenschaften 
entztigelt,  alle  Mittel,  selbst  die  verwerflichsten,  angewandt,  um  zu  dem 
erwünschten  Ziel  zu  gelangen.  Eine  Reihe  furchtbarer  innerer  Religions- 
kriege verwüstete  während  mehr  als  30  Jahren  das  blühende  französische 
Land.  Als  dann  endlich  der  Friede  auf  die  Dauer  hergestellt,  das  Über- 
gewicht der  katholischen  Religion  in  Frankreich  gesichert  und  die  könig- 
liche Autorität  aufs  neue  befestigt  war,  verstrichen  nur  wonige  Jahre 
und  derselbe  verheerende  Kampf  kam  in  Deutschland  zum  Ausbruch. 

Der  blutige  Krieg  wurde  in  beiden  Ländern  noch  durch  die  Ver- 
mischung der  religiösen  mit  politischen  Fragen  verbittert  und  erschwert. 
Ganz  besonders  trat  dies  in  Frankreich  zu  Tage.  Dadurch,  daß  in 
Deutschland  die  Protestanten  ihre  Sache  den  Landesfürsten  anvertrauten, 
und  diese  ihrerseits  zum  Teil  durch  die  Hoffnung  auf  größere  Unab- 
hängigkeit vom  Kaiser  und  durch  die  Aussicht  auf  reichen  Gewinn 
durch  die  Konfiskation  der  geistlichen  Güter  getrieben  wurden,  gestaltete 
sich  der  Krieg  in  politischer  Hinsicht  hier  mehr  zu  einem  Kampf  zwischen 
Kaisergewalt  und  fürstlicher  Autorität.  Anders  aber  in  Frankreich.  Die 
Hugenotten  wurden  dort  bald  zu  einer  republikanischen  Organisation 
gedrängt,  und  neben  der  religiösen  Streitfrage  handelte  es  sich  in  Frank- 
reich auch  darum,  ob  die  Monarchie  der  Republik  weichen  solle;  ein 
Kampf,  der  die  Leidenschaften  ganz  anders  erregen  mußte,  als  ein 
Krieg  von  Fürsten  gegen   Fürsten. 

Demokratische  und  republikanische  Ideen  waren  ohnehin  schon 
lange  in  Prankreich  heimisch.  Das  Elend  der  englisch -französischen 
Kriege  hatte  mit  der  Finanznot  auch  den  Versuch  der  Steuerpflichtigen 
gebracht,  durch  Abgeordnete  aus  ihren  Reihen  eine  strenge  Aufsicht 
über  die  Verwaltung  zu  führen,  und  dem  Bürger-  und  Bauernstand  ent- 
schiedenen Einfluß  auf  die  Regierung  des  Landes  zu  sichern.  Allein 
diese  Versuche  waren  alle  fehlgeschlagen,  hauptsächlich  weil  der  eigent- 
liche Bürgerstand,  der  zunächst  zum  Träger  der  demokratischen  Ideen 
berufen  gewesen  wäre,  in  sich  selbst  noch  zu  schwach  und  zu  sehr  zer- 
splittert war.  Die  Ideen  jedoch,  die  damals  laut  geworden  waren,  hatten 
sich  nicht  verloren.  Das  zeigte  sich  deutlich,  als  im  Jahr  1484  unter 
der  Regentschaft  Annas  von  Bretagne  die  Reichsstände  nach  langer 
Zwischenzeit  einmal  wieder  berufen  wurden.  Selbst  die  Bauern  betei- 
ligten sich  damals  an  der  Wahl  der  Vertreter,  und  in  der  Versammlung 


der  Reichsstände  stimmte  man  nach  Köpfen  ab,  was  dem  dritten  Stand 
ein  bedeutendes  Übergewicht  gab.  Bei  den  Beratungen  enthüllte  sich 
sofort  ein  besonderer  Geist.  Man  hörte  Sätze  aussprechen,  wie  den,  daß 
die  königliche  Macht  nicht  erblich,  sondern  nur  ein  Amt  sei.  welches 
das  souveräne  Volk  verleihe.  Die  demokratische  Bewegung  schien  mit 
neuer  Kraft  aufzuleben.  Ihr  zu  steuern,  wurde  ein  altes  Mittel  angewandt, 
das  bis  in  die  neuesten  Zeiten  oft  erprobt  worden  ist,  aber  meist  nur 
auf  kurze  Zeit  geholfen  hat.  Die  Yalois  führten  das  Volk  zum  Krieg 
über  die  Alpen  nach  Italien,  berauschten  es  mit  kriegerischem  Ruhm 
und  ließen  Ländererwerb,  sowie  reiche  Beute  verführerisch  vor  seinen 
Augen  glänzen.  Die  pracht-  und  kunstliebende  Zeit  der  Renaissance  fand 
einen  Hauptförderer  in  Franz  I. ,  dem  wetterwendischen,  liebenswürdigen, 
leichtsinnigen  Fürsten.  Doch  aller  Glanz  des  Hofes  und  die  verführeri- 
schen Künste  eines  neuen  reizvollen  Lebens,  wie  es  Italien  lehrte,  ver- 
mochten nicht,  die  immer  mächtiger  wogende  Bewegung  der  Geister  zu 
hemmen.  Bald  verband  sich  mit  den  demokratischen  Ideen  auch  das  Ver- 
langen nach  kirchlicher  Reform,  das  Bedürfnis  einer  sittlichen  und  reli- 
giösen Läuterung. 

Die  Reformatoren  betonten  das  Recht  der  Gemeinde  und  fanden 
mit  dieser  Forderung  festen  Halt  bei  dem  Bürgerstand,  der  sich  in  den 
Städten   schon  zu  einer  gewissen  Unabhängigkeit  emporgearbeitet  hatte. 

Dazu  kam  die  wachsende  Kenntnis  des  klassischen  Altertums, 
das  mit  der  Erinnerung  an  die  einst  so  blühenden  Gemeinwesen  in 
Griechenland  und  Italien  die  Verbreitung  republikanischer  Ideen  wesent- 
lich förderte.  So  wurde  die  Litteratur  im  16.  Jahrhundert  vielfach  revo- 
lutionär. La  Boetie  gab  in  seiner  Schrift:  „Von  der  freiwilligen  Knecht- 
schaft" seiner  Verwunderung  darüber  Ausdruck,  daß  so  viele  Menschen 
sich  blindlings  und  ohne  Widerstand  dem  Willen  eines  einzigen  unter- 
werfen. Seine  Schrift  machte  großen  Eindruck,  und  als  unter  den  letzten 
Valois  Hugenotten  sowohl  wie  Liguisten  abwechselnd  die  Waffen  gegen 
den  König  ergriffen,  ging  man  bald  noch  weiter.  Ein  Jahr  nach  der 
Bartholomäusnacht  einigten  sich  die  ihrer  Führer  beraubten  Hugenotten 
von  Languedoc  und  der  Guyenne  zu  einer  republikanischen  Föderation. 
Flugschriften  predigten  allerorten  republikanische  Grundsätze.  In  seinem 
Buch:  „Franco-Gallia"  erklärte  Francois  Hotman,  die  Königswürde  sei 
in  den  früheren  Zeiten  in  Frankreich  durch  Wahl  vergeben  worden,  die 
allgemeine  Versammlung  der  Nation  stehe  über  dem  König,  denn  sie 
allein  sei  befugt,  Gesetze  zu  geben,  Steuern  auszuschreiben,  über  Krieg 
und  Frieden  zu  entscheiden.  In  anderen  Schriften  wurden  die  Valois 
laut  des  Treubruchs  geziehen,  da  sie  das  System  der  türkischen  Despotie 
in  Frankreich  heimisch  machen  wollten,  und  man  klagte  laut  über  ihren 
sittenlosen  Lebenswandel  und  ihre  Verschwendung,  während  das  Land 
von  Schulden  und  Steuern  erdrückt  wäre.  Xicht  die  Hugenotten  allein 
sprachen  so.  Auch  die  einsichtigen  Katholiken  mißbilligten  offen  die 
ganze  Regierungsweise.  Das  zeigte  sich  deutlich  auf  den  Versammlungen 
der  Reichsstände,  welche  die  Könige  notgedrungen  von  Zeit  zu  Zeit 
beriefen.    Der  dritte  Stand,    das  Bürgertum,    enthüllte    dabei    merkwür- 


lüge  Bestrebungen.  In  den  Forderungen,  die  er  bei  der  Versammlung 
der  Reichsstände  zu  Orleans  im  Jahr  1561  aufstellte,  verlangte  er, 
daß  die  Geistlichen,  selbst  die  höchsten  Würdenträger,  vom  Klerus  und 
vom  Volk  gemeinsam  gewählt  werden,  daß  die  Einkünfte  der  Kirche 
zum  großen  Teil  dazu  verwendet  werden  sollten.  Schulen  und  Kranken- 
häuser zu  errichten.  Er  verlangte  ferner  Wahl  der  Richter,  Verminde- 
rung der  Feiertage.  Aufhebung  der  Zollschranken  zwischen  den  einzelnen 
Provinzen  des  Landes,  Befreiung  des  inneren  Handelsverkehrs  von  jeder 
Hemmung,  Einführung  eines  Systems,  das  dem  Freihandel  nahe  kommt, 
für  den  Verkehr  mit  dem  Ausland,  gleiches  Maß  und  Gewicht  für  ganz 
Frankreich ,  Minderung  der  Feudalgerechtsame  u.  s.  w.  Der  König  hatte 
die  Reichsstände  nur  berufen,  um  sich  Geld  bewilligen  zu  lassen,  und 
war  nicht  gesonnen,  solchen  Forderungen  Gehör  zu  geben.  Er  entließ 
die  Versammlung  in  Ungnade.  Aber  noch  in  demselben  Jahr  traten  die 
Abgeordneten  der'  13  großen  Gouvernements  in  Pontoise  zusammen, 
und  auch  dort  betonte  der  dritte  Stand  seine  W^ünsche  nach  durchgrei- 
fenden Reformen.  Kein  Geistlicher  solle  künftighin  mehr  Sitz  im  welt- 
lichen Rat  des  Königs  haben,  solange  nicht  der  Klerus  auch  der  welt- 
lichen Gerichtsbarkeit  unterstehe  und  solange  er  einem  Fremden  Gehor- 
sam schwöre.  Der  dritte  Stand  verlangte  ferner  volle  Gewissensfreiheit, 
Änderung  des  Finanzsystems,  Bewilligung  der  Steuern  durch  die  Reichs- 
stände, welche  zu  diesem  Behuf  periodisch  zusammentreten  müßten, 
Verkauf  eines  großen  Teils  der  Kirchengüter  und  Besoldung  der  Geist- 
lichkeit durch  den  Staat. 

Auf  der  Versammlung  der  Reichsstände  zu  Blois  (1576)  wider- 
standen die  Abgeordneten  des  dritten  Standes  unter  der  klugen  und 
kraftvollen  Führung  des  gelehrten  Jean  Bodin  allen  Lockungen  und 
Drohungen  des  Königs.  Bodin,  der  Vorläufer  Montesquieus,  ist  als  Ver- 
fasser eines  Werks  über  den  Staat  und  dessen  Natur  rühmlich  bekannt, 
und  zu  bemerken  ist,  daß  er  und  seine  Partei  Katholiken  waren,  daß 
die  Hugenotten  nicht  einmal  eine  Einladung  zu  dieser  Versammlung  er- 
halten hatten.  Bei  der  Lage  der  Dinge,  der  gänzlichen  Ohnmacht  Hein- 
richs III. ,  schien  somit  der  schließliche  Sieg  jener  politisch  so  hoch 
bedeutsamen  Ideen  wahrscheinlich  genug.  Allein  diese  ganze  Bewegung, 
dieses  kühne  Hervortreten  des  gebildeten,  freisinnigen  Mittelstands  findet 
sich  nur  in  der  ersten  Zeit  der  Bürgerkriege.  Das  steigende  Elend,  die 
wachsende  Verwilderung  verdrängten  bald  alle  Fragen  dieser  Art.  Das 
Bürgertum ,  das  sich  bis  dahin  materiell  stets  mehr  gekräftigt  hatte, 
und  geistig  so  hoch  stand,  daß  es  die  ganze  reformatorische  Bewegung 
<les  16.  Jahrhunderts  hatte  hervorrufen  können,  sah  sich  am  Schluß 
■der  Bürgerkriege  noch  einmal  niedergeworfen  und  seiner  Hofi"Qungen 
beraubt. 

Das  17.  Jahrhundert  ist  im  wesentlichen  nur  eine  Reaktion  gegen 
die  Bestrebungen  der  früheren  Zeit.  Dieser  Umstand  darf  bei  seiner 
Beurteilung  nicht  übersehen  werden ;  ein  volles  Verständnis  der  Epoche 
Ludwigs  XIV.  ist  ohne  Kenntnis  dieses  Verhältnissos  kaum  möglich. 
Nur    so    begreifen    wir    auch,    warum    das    17.  Jahrhundert    in    seinen 


Bestrebungen  scheitern  mußte.  Es  wollte  die  absolute  Monarchie  für 
alle  Zeiten  errichten,  und  führte  zum  Sturz  des  Königtums;  es  ge- 
dachte die  Glaubenseinheit  durchzusetzen,  und  leitete  zum  religiösen  In- 
differentismus oder  zum  Unglauben;  es  wollte  Frankreich  zur  alleinigen 
Macht  und  Größe  in  Europa  erheben ,  und  stürzte  es  in  unsägliches 
Unglück.  Nur  in  der  Litteratur  führte  das  17.  Jahrhundert  für  Fi'ank- 
reich  eine  Blütezeit  klassischer  Vollendung  herauf.  Aber  selbst  dieser 
schönste  Kuhm  Frankreichs  wurde  nur  mit  schweren  Opfern  erkauft,  wie 
wir  bei  späterer  Gelegenheit  nachzuweisen  haben;  denn  die  Reaktion  hat 
auch  auf  dem  Gebiet  der  schönen  Künste  ertötend  eingegriffen.  Bedenkt 
man,  daß  auf  Zeiten  großer  nationaler  Erregung,  tiefgehender  politi- 
scher oder  socialer  Arbeit  eines  Volkes  häufig  eine  Periode  besonders 
fruchtbaren  geistigen  Schaffens  folgt,  so  wundert  man  sich  nicht,  in 
Frankreich  nach  den  Stürmen  der  Bürgerkriege  ein  solches  Aufblühen 
der  Litteratur  zu  tinden.  Mußte  sie  doch  für  viele  verlorene  Güter  Er- 
satz bieten!  Wohl  aber  muß  es  auffallen,  dass  die  klassische  Zeit  der 
französischen  Litteratur  ein  so  jähes  Ende  fand,  nachdem  sie  sich  kaum 
in  ihrer  Größe  gezeigt  hatte.  Die  klassische  Litteratur  war  unvermerkt 
auf  falsche  Bahnen  geraten,  und  es  ist  keine  tollkühne  Behauptung, 
wenn  man  auch  hierin  den  Einfluß  jenes  hemmenden  Systems  sieht, 
ohne  welchen  die  französische  Litteratur  Frankreichs  im  17.  Jahrhundert 
sich  zu  einer  noch  viel  höheren  Bedeutung  aufgeschwungen  hätte.  Diese 
Reaktion  aber  ging  nicht  von  einem  Mann  allein  aus;  so  groß  der  Einfluß 
des  Hofes  auch  war,  er  genügte  nicht,  eine  ganze  Litteratur  in  ihrem  Cha- 
rakter umzuwandeln.  Es  war  vielmehr  die  ganze  Nation,  welche  diese  geistige 
Richtung  eingeschlagen  hatte,  eine  deutliche  Folge  der  Niederschmetterung 
des  freigesinnten  Bürgertums  während  der  langen  Religionskriege. 

Das  Bürgertum  brauchte  fast  ein  volles  Jahrhundert,  um  wieder 
zu  dem  Punkt  zu  gelangen ,  auf  dem  es  zur  Zeit  der  ersten  Religions- 
kriege gestanden  hatte.  Das  18.  Jahrhundert  nahm  dann  die  Arbeit  des 
16.  wieder  auf;  umso  energischer  und  stürmischei-,  je  länger  die  Ent- 
wicklung gehemmt  worden  war,  und  umso  durchgreifender  und  leiden- 
schaftlicher, je  mehr  die  oberen  Stände  in  der  Reaktionszeit  an  Kraft 
eingebüßt  hatten,  ohne  doch  ihre  Ansprüche  zu  verringern.  So  wird  es 
klar,  daß  die  französische  Revolution  nur  gewaltsam  realisiert,  was  die 
Bürger  des  16.  Jahrhunderts  langsam  auf  friedlichem  Weg  hatten  er- 
reichen wollen.  Die  „Franco-Gallia"  des  Franyois  Hotman  wurde  zum 
„Contrat  social",  die  Versammlung  der  ehrenfesten  Abgesandten  des 
dritten  Standes  zum  Konvent. 

Gedanken  und  Anschauungen,  die  oft  völlig  unterdrückt  erscheinen, 
erhalten  sich  wie  in  geheimer  Strömung  unter  der  Oberfläche,  bis  günsti- 
gere Zeiten  kommen,  in  welchen  sie  mit  einem  Mal  zur  Verwunderung 
vieler  mit  neuer  Macht  hervorbrechen  und  den  Sieg  erlangen.^) 

1)  Man  vergleiche  neben  den  größeren  Werken  über  die  französische 
Geschichte  besonders  F.  T.  Perrens,  La  democratie  en  France  au  moyen  äge. 
Ouvrage  couronne  par  l'Institut.  2.  Ausgabe.  2  Bände.  Paris,  Didier  &  Co.,  1875. 


ün berechenbar  waren  die  Polgen  dieser  Kriege  für  Frankreich  wie 
für  Deutschland.  Wie  der  Ausgang  des  Kampfes  in  jedem  Land  ver- 
schieden war,  so  gestalteten  sich  auch  dessen  Ergebnisse,  politische  und 
ethische,  in  jedem  Land  in  anderer,  fast  entgegengesetzter  Weise. 

Der  dreißigjährige  Krieg  hat  für  Deutschland  auf  den  ersten  Blick 
ungleich  schlimmere  Folgen,  als  die  Religionskriege  für  Frankreich.  Nach 
dem  westfälischen  Frieden  ist  das  Deutsche  Reich  dem  Zerfall  nahe, 
die  kaiserliche  Autorität  nur  noch  ein  Schatten,  und  die  Auflösung  des 
einst  so  mächtigen  Staatswesens  nur  noch  eine  Frage  der  Zeit.  Auf 
Jahre  hinaus  liegt  alles  zu  Boden ;  eine  tödliche  Erschöpfung  folgt  dem 
langen  Kampf,  überall  oft'enbart  sich  traurige  Ohnmacht.  Die  Ver- 
wüstungen sind  so  furchtbar  und  so  ausgedehnt,  der  Verlust  an  Menschen- 
leben so  ungeheuer,  daß  Deutschland  ein  Jahrhundert  lang  in  schwerem 
Siechtum  krankt,  währenddessen  sogar  das  nationale  Bewußtsein  zu 
ersterben  droht  und  nichts  gedeiht,  als  der  Hochmut  und  die  Eng- 
herzigkeit der  kleinen,  nun  beinahe  unabhängigen  Landesfürsten.  Diese 
brüsten  sich  in  künstlich  geschaffeneu  Residenzen  und  werfen  bewun- 
dernde Blicke  nach  Versailles,  denn  ihre  einzige  Sorge  ist,  den  Luxus 
und  die  Etikette  des  französischen  Königshofs  in  lächerlich  kleinlicher 
Weise  nachzuäffen. 

Die  Idee  des  Vaterlands  schrumpft  zusammen;  die  Sprache  selbst, 
die  reiche,  geschmeidige,  poesievolle  Muttersprache  des  Volkes  ist  bedroht, 
so  sehr  wird  sie  mit  fremden  Brocken,  lateinischen  und  französischen 
Wendungen  verunstaltet.  Bei  der  Ohnmacht  des  Volkes  wächst  der  klein- 
liche Geist  des  Junkertums  und  die  Beamtenherrlichkeit.  Der  beschränkte 
Unterthanen verstand  wird  nie  mehr  betont  als  in  dieser  armseligen  Zeit. 
Alles  wird  klein  in  kleinlichen  Verhältnissen.  Wie  schwer  wird  es  da 
selbst  dem  kräftigsten  Geist,  sich  aus  solchen  Banden  loszureißen, 
solche  Hemmungen  zu  überwinden. 

Gerade  aber  weil  das  Band ,  welches  die  einzelnen  Staaten  des 
Deutschen  Reichs  zusammenhielt,  schon  vor  dem  großen  Krieg  nur 
noch  lose  gewesen  war,  behielt  der  Kampf  in  Deutschland  trotz  der 
Religionsfrage  mehr  den  Charakter  eines  Kriegs  gegen  äußere  Feinde. 
Selbst  im  Beginn;  der  Feldzug  des  Markgrafen  von  Baden  gegen  den 
bayrischen  Tilly  erweckte  nicht  den  Abscheu,  den  ein  Bürgerkrieg  her- 
vorrufen muß.  Die  Scharen  des  Koadjutors  von  Halberstadt  und  des 
Grafen  von  Mansfeld  lebten  vom  Raub  und  verheerten  auf  ihren  Kreuz- 
und  Querzügen  katholische  und  protestantische  Länder  mit  größter  Un- 
parteilichkeit. Einzig  der  böhmische  Krieg  ist  ein  Bürgerkrieg  und  hat 
in  seinem  Gefolge  Hinrichtungen  und  Konfiskationen.  Später  tummeln 
sich  dänische,  schwedische,  spanische,  italienische  und  französische  Kriegs- 
völker auf  deutschem  Boden.  Zudem  war  das  Reich  derart  geschieden, 
daß  der  Norden  im  allgemeinen  protestantisch,  der  Süden  katholisch 
war.  So  schrecklich  die  verwilderte  Soldateska  in  dem  unglücklichen 
Lande  auch  hausen  mochte,  so  war  es  doch  kein  Kampf  zwischen  Nach- 
barn, Brüdern,  Stadt-  und  Landesgenossen.  Das  schützte  den  Volks- 
charakter.    Und  aus  dem  verderblichen  Krieg    rettete    sich    Deutschland 


ein  kostbares  Gut,  das  auch  über  die  folgende  schwere  Zeit  glücklich 
hinausbalf  und  die  bessere  Zukunft  verbürgte.  Die  Gedanken-  und  Ge- 
wissensfreiheit war  das  Palladium,  das  sich  die  protestantischen  Länder 
gesichert  hatten.  Wol  mochte  sie  im  einzelnen,  im  Streit  der  Meinungen 
oft  verletzt  werden,  im  ganzen  blieb  das  Kecht  der  freien  Forschung 
bewahrt.  Der  Sinn  für  wissenschaftliches  Streben  verschwand  nie  ganz 
von  den  deutschen  Universitäten.  Hatte  sich  der  dreißigjährige  Krieg 
auch  manchen  dieser  Anstalten  verderblich  erwiesen,  so  wurden  dafür 
andere  Hochschulen,  meistens  in  protestantischen  Ländern,  errichtet.  Diese 
wurden  zu  neuen  Mittelpunkten ,  von  welchen  sich  das  Licht  in  immer 
weitere  Kreise  verbreitete .  und  welche  somit  die  geistige  und  politische 
Wiedergeburt  Deutschlands  vorbereiteten. 

Ganz  anders  in  Frankreich.  Dort  hatte  der  Religionskrieg  alle 
Schrecken  des  Bürgerkriegs  angenommen.  Fast  in  jeder  Stadt  standen 
sich  zwei  haßerfüllte  Parteien  gegenüber.  Man  führte  keinen  ehrlichen 
Krieg  miteinander,  sondern  sann  nur  darauf,  wie  man  den  Gegner 
vernichten  könnte,  sei  es  auch  durch  Mord  und  Verrat.  Die  Greuel- 
thaten  der  ersten  französischen  Revolution  erscheinen  klein,  wenn  mau 
sie  mit  den  entsetzlichen  Vorgängen  der  Religionskriege  vergleicht. 
Beiden  Parteien,  Katholiken  und  Hugenotten,  gebührt  der  Vorwurf  un- 
menschlicher Thaten,  wenn  auch  die  Liguisten.  unter  der  Führung  der 
Guisen,  sich  besonders  darin  hervorgethan  haben.  Wie  man  später  in 
der  Revolutionszeit  die  Königsgräber  zu  Saint-Denis  schändete,  so  ver- 
wüstete ein  fanatischer  Pöbel  zwei  Jahrhunderte  zuvor  die  Ruhestätte 
Wilhelms  des  Eroberers  zu  Caen,  des  Herzogs  Rollo  und  des  Königs 
Richard  Löwenherz  zu  Rouen ,  Ludwigs  XL  zu  Clary,  die  Gräber  der 
Bourbon-Vendume  und  der  Valois-Angouleme.  In  Toulouse  wütete  ein 
fünftägiger  Straßenkampf  zwischen  den  Bürgern  der  Stadt.  Auf  der  einen 
Seite  standen  die  Protestanten  und  die  mit  ihnen  verbündeten  Studenten, 
auf  der  andern  die  Katholiken  und  einige  Abteilungen  königlicher 
Truppen.  Letztere  siegten,  und  Hunderte  von  Hugenotten,  die  infolge 
einer  Kapitulation  die  Waffen  niedergelegt  hatten,  wurden  gegen  das 
gegebene  Wort  zum  Tod  geführt.  Der  Kern  der  Toulouser  Bürgerschaft 
war  vernichtet.  Ähnlich  ging  es  an  vielen  Orten.  Der  Herzog  von  Guise 
ließ  kalten  Bluts  die  protestantischen  Bewohner  von  Vassy  in  zwei- 
tägigem Gemetzel  umbringen  und  die  Leichen  ins  Wasser  werfen.  Die 
Mordsucht  drang  bis  in  die  höchsten  Kreise.  Die  Könige  aus  dem  Hause 
Valois  gaben  darin  ein  trauriges  Beispiel.  Der  Herzog  von  Anjou  er- 
zählte selbst,  wie  er  von  seinem  Bruder,  König  Karl  IX.,  erdolcht  zu 
werden  fürchtete,  und  als  er  später  den  Thron  bestieg,  sah  er  seinen 
Bruder  Alen^on  gegen  sich  verschworen.  Brüder  kämpften  gegen  Brüder, 
und  immer  wilder  loderten  die  Leidenschaften  empor.  Kaum  ist  es  nötig, 
hier  an  die  Bartholomäusnacht  zu  erinnern ,  in  welcher  nach  mäßiger 
Schätzung  über  2000  Opfer  zu  Paris  fielen,  während  in  den  darauffol- 
genden Tagen  an  20.000  Menschen  in  den  Provinzen  gemordet  wurden.') 


')  Martin,  Histoire  de  France,  IX,  p.  327 


Wie  die  Septembriseurs  im  Jahr  1798  zu  Paris  die  Kerker  erbrachen 
und  die  Gefangenen  niedermetzelten,  so  stürmten  1572  zu  Lyon  einige 
hundert  Banditen  unter  Führung  städtischer  Beamten  das  Gefängnis 
und  erschlugen  die  dort  eingeschlossenen  Hugenotten.  Papst  Pius  V.  gab 
dem  Grafen  Santa  Fiore,  den  er  mit  6000  Mann  zu  Hilfe  nach  Frank- 
reich schickte,  den  Befehl,  keinem  Hugenotten  das  Leben  zu  schenken.^) 
Ähnliche  Ermahnungen,  die  Ketzer  auszurotten,  schrieb  Pius  an  Katha- 
rina von  Medici  (1569),  wie  er  das  Jahr  zuvor  dem  Herzog  von  Alba 
anempfohlen  hatte,  mit  seinen  löblichen  Handlungen  in  Belgien  fortzu- 
fahren und  sich  damit  den  Himmel  zu  verdienen.  So  ist  es  denn  kein 
Wunder,  daß  der  Meuchelmord  ein  gewöhnliches  Mittel  wurde,  sich  seines 
Gegners  zu  entledigen.  König  Karl  setzte  auf  Colignys  Haupt  einen 
hohen  Preis,  und  der  Diener  des  Admirals  wurde  im  Jahr  1569  gehängt, 
weil  man  ihn  im  Verdacht  hatte,  daß  er  seinen  Herrn  habe  vergiften 
wollen.  Karl  IX.  belohnte  Maurevert,  den  Meuchelmörder  des  tapferen 
Hugenottenführers  de  Moy.  mit  einem  hohen  Orden.  Das  ist  derselbe 
Maurevert,  der  am  22.  August  1572  auf  Coligny  schießt  und  damit  die 
Bluthochzeit  einleitet.  Conde,  das  Haupt  der  Hugenotten,  gerät  in  Ge- 
fangenschaft und  fällt  gleich  darauf  waffenlos  unter  der  Kugel  eines  im 
Dienst  Anjous  stehenden  Schweizer  Hauptmanns.  So  oft  in  jener  Zeit 
der  Tod  einen  Menschen  von  Bedeutung  wegrafft,  erhebt  sich  ein  grauser 
Verdacht;  so  bei  dem  Hinscheiden  der  Königin  Jeanne  d' Albret  von  Na- 
varra,  so  bei  dem  Tod  d'Andelots,  Colignys  Bruder,  des  Kardinals  Chä- 
tillon,  des  Marschalls  Vieilleville,  selbst  noch  bei  Gabrielle  d'Estrees.-) 
Nichts  Ähnliches  zeigt  sich  in  Deutschland  während  des  dreißigjährigen 
Kriegs.  Nur  Wallenstein  fällt  durch  Mord,  vielleicht  auch  Gustav  Adolf 
und,  durch  französisches  Gift,  Bernhard  von  Weimar.  Doch  sind  diese 
letzten  Fälle  nicht  bewiesen,  und  hervorheben  muß  man.  daß  die  Mörder 
niemals  von  der  Gegenpartei  gedungen  waren,  daß  der  Meuchelmord  nicht 
als  gute  W^affe  gegen  die  Feinde  angesehen  wurde.  Im  französischen 
Bürgerkrieg  dagegen  fielen  fast  alle  Führer  durch  Mord:  Conde,  Coligny, 
der  Herzog  von  Guise,  Heinrich  III.  und  schließlich  auch  noch  Heinrich  IV. 
Das  mußte  auch  auf  die  folgenden  Geschlechter  verderblich  nachwirken. 

Doppelt  folgenschwer  wurde  nun  für  Frankreich  bei  der  furchtbaren 
Niederlage  des  Bürgertums  auch  die  Schwächung  des  Adels.  Nicht  nur 
waren  die  demokratischen  Bestrebungen  des  dritten  Standes  vereitelt, 
auch  die  feudalen  Sondergelüste  wurden  niedergeschlagen  und  das  König- 
tum, das  seinen  Sieg  mit  Klugheit  und  Energie  zu  benutzen  verstand, 
«rhob  sich  mit  einem  Mal  bis  zur  unumschränkten  Machtvollkommenheit. 
Welch  ein  Gegensatz  zwischen  den  letzten  Valois,  die,  ein  Spielball  der 
Parteien,  kaum  noch  den  Schein  der  königlichen  Macht  besaßen,  und 
den  auf  sie  folgenden  Bourbonen,  deren  geringste  Laune  als  Befehl  galt! 

Diese  Entwicklung  zeigt  deutlich,  welche  Hauptrolle  selbstsüchtige 
Politik  auch  hier  in  den  Religionskriegen  gespielt  hat.    Für  einen    großen 


')  Martin  IX,  250  if.  Catena,  Vie  de  Pie  V,  p.  85. 
2j  Martin,  IX,  297  u.  298;  X,  p.  502. 


10 


Teil  des  Volkes  war  die  Glaubensfi-age  allerdings  eine  Gewissenssache ; 
für  die  Führer  war  sie  oft  nur  ein  Vorwand,  um  persönliche  Absichten 
zu  verhüllen.  Die  Valois  und  ihre  Mutter,  Katharina  von  Medici,  waren 
durchaus  nicht  frommgläubig,  wenn  schon  sie  viel  auf  Amulette,  Zauber- 
künste und  astrologische  Wissenschaft  hielten.  Die  Guise  strebten  offen 
nach  der  Krone,  und  was  Heinrich  von  Navarra  über  den  Wert  der 
Religion  dachte,  zeigt  sein  mehrmaliger  Glaubenswechsel. 

Gestützt  auf  den  ohnehin  nach  regelmäßiger  und  gleichartiger  Ge- 
staltung der  Verhältnisse  strebenden  Charakter  des  französischen  Volkes, 
mußte  diese  Entfaltung  der  königlichen  Macht  ein  Resultat  geben,  welches 
den  in  Deutschland  allmählich  sich  entwickelnden  Zuständen  völlig  ent- 
gegengesetzt war. 

Das  französische  Königtum  duldete  neben  sich  keinerlei  selb- 
ständige Macht,  keine  auf  sich  beruhende  Größe.  Der  Adel,  der  früher 
eine  besondere  Macht  im  Staat  besessen  hatte,  wurde  von  Heinrich  IV. 
in  vorsichtiger,  von  Richelieu  in  entschiedener  W^eise  seiner  politischen 
Bedeutung  beraubt  und  von  Ludwig  XIV.  endlich  zum  unterwürfigen, 
nichtssagenden  Hofadel  herabgedrückt,  der  nur  dazu  diente,  den  Glanz 
des  Königs  zu  erhöhen.  Ihm  den  Verlust  seiner  Unabhängigkeit  weniger 
fühlbar  zu  machen,  ließ  man  dem  Adel  eine  Menge  gesellschaftliciker 
und  materieller  Vorrechte.  Was  aber  eine  Wohlthat  sein  sollte,  wurde 
erst  recht  die  Ursache  seines  Verderbens.  Eine  Klasse,  die  so  große 
Privilegien  durch  keinerlei  Verdienste,  durch  keinerlei  Arbeit  für  das 
Gemeinwohl  vergessen  machte,  mußte  in  den  Augen  des  Volkes  immer 
tiefer  sinken,  jedes  Ansehen,  jeden  Halt  verlieren.  Darin  eben  zeigte 
sich  die  verderbliche  Nachwirkung  der  Bürgerkriege.  Ein  Adel,  wie  der 
englische,  war  in  Frankreich  bald  nicht  mehr  möglich.  Ein  Abgrund 
trennte  die  begünstigten  Klassen  und  das  eigentliche  Volk.  Ein  so  ge- 
mäßigter Schriftsteller,  wie  Montesquieu,  konnte  doch  schon  1721  sagen: 
„Ein  großer  Herr  ist  ein  Mann,  der  den  König  sieht,  mit  den  Ministern 
spricht,  der  Ahnen,  Schulden  und  Pensionen  hat". 

Schärfer  noch  hatte  schon  früher  Lord  Bacon  die  Überlassung 
aller  Gewalt  an  einen  einzigen  getadelt.  -Ein  Mann,  der  die  einzige 
Ziffer  unter  Nullen  sein  will,  ist  der  Ruin  eines  Zeitalters."  In  diesen 
Worten  liegt  die  völlige  Verurteilung  Ludwigs  XIV.  und  seines  Systems. 

Wenn  andere  Fürsten  die  Macht  des  Adels  zu  brechen  suchten, 
stützten  sie  sich  in  ihrem  Vorgehen  auf  das  Bürgertum.  Nichts  Ähn- 
liches findet  man  im  17.  Jahrhundert.  Schwer  geschädigt,  gedemütigt, 
mit  seinen  politischen  Ansprüchen  höhnisch  zurückgewiesen,  so  trat  das 
Bürgertum  aus  den  Religionskriegen  hervor.  Eine  lange  und  langsame 
Arbeit  begann  für  dasselbe  aufs  neue.  Es  galt,  die  Kräfte  wieder  zu 
sammeln.  Allmählich  nur  stieg  die  Wohlfahrt  des  Volkes  wieder,  und 
diese  ermöglichte  die  weitere  Verbreitung  der  Bildung,  der  freieren  Ideen. 
Doch  erst  im  18.  Jahrhundert  traten  die  Folgen  dieser  Erstarkung  deut- 
lich zu  Tage.  Während  des  17.  Jahrhunderts  giebt  das  Bürgertum  wol 
eine  Reihe  von  Gelehrten  und  gebildeten  Männern;  es  erheben  sich  aus 
seinen   Reihen    die    größten  Dichter,    die  Frankreich   je   besessen ;    aber 


11 


diese  alle  arbeiten  nur  für  Hofkreise,  für  die  Welt  des  Adels  und  der 
hohen  Gesellschaft.  Nur  eine  so  bevorzugte  Stellung  konnte  damals  die 
nötige  Muße  und  jene  Freiheit  des  Geistes  gewähren,  die  für  die 
höheren  Genüsse  des  Lebens  allein  empfänglich  macht.  Aus  der  Eeihe 
des  Bürgertums  wählt  der  König  seine  Minister,  wie  überhaupt  alle 
Beamten,  welche  nicht  allein  repräsentieren,  sondern  auch  arbeiten  müssen. 
Mau  findet  Bürgerliche  überall,  wo  geistige  Anstrengung,  Studium  und 
Wissen  nötig  ist,  so  in  der  Justiz,  in  der  Verwaltung,  in  der  Technik. 
Allein  das  ist  Berechnung  des  Herrschers,  Gnade,  und  als  Stand  be- 
deutet das  Bürgertum  noch  nichts.  Es  hat  weniger  Einfluß  auf  die 
Geschicke  des  Landes  als  hundert  Jahre  zuvor;  es  hat  nur  Pflichten, 
keine  Rechte.     Vom  Landvolk  aber  ist  gar  keine  Rede. 

So  stand  die  königliche  Macht  allein  und  unumschränkt,  aber  im 
Grunde  auch  auf  nichts  gestützt.  Welche  Gefahren  das  mit  sich  brachte, 
ist  klar.  Unsäglich  war  das  Elend,  welches  infolge  der  schlechten 
Verwaltung,  der  beispiellosen  Bedrückung,  und  zuletzt  auch  der  unglück- 
lichen Kriege  überall  herrschte,  ganze  Dörfer  aussterben  und  weite  Landes- 
strecken veröden  ließ.  Aber  größer  noch  waren  die  sittlichen  Gefahren 
für  das  Volk,  Gefahren,  welche  aus  einem  System  erwuchsen,  das  sich 
die^  Unterdrückung  jedes  selbständigen  Willens,  jeder  geistigen  Freiheit 
zum  Ziel  gesetzt  hatte.  Denn  so  weit  mußte  es  kommen.  Mit  rauher 
Hand  wurden  die  letzten  Reste  provinzialer  Selbstverwaltung  hinweg- 
gefegt, und  wer  anders  dachte,  als  wie  es  von  oben  her  gestattet  war, 
fand  bald  keine  Stätte  mehr  in  Frankreich.  Descartes  verließ  seine 
Heimat,  die  Jansenisten  wurden  mit  Gewalt  zum  Schweigen  gebracht 
und  ihre  Lehre  unterdrückt,  die  Protestanten  durch  Dragoner  in  die 
Messe  getrieben  oder  beraubt  und  in  die  Fremde  gejagt.  Wer  vermag 
nachzuweisen,  welche'n  Schaden  der  Charakter  der  Nation  dadurch  erlitt, 
welches  Leben,  welche  geistige  Kraft  die  klassische  Litteratur  Frankreichs 
gewonnen  hätte,  wenn  die  freie  Entwicklung  der  Intelligenz  nicht  ge- 
hemmt worden  wäre. 

So  aber  vereinigte  der  König  nicht  allein  die  politische  Macht  in 
seiner  Hand;  er  strebte  selbst  die  Geister  zu  beherrschen.  Dazu  mußte 
ihm  auch  die  Litteratur  helfen,  die  er  in  den  Kreis  seines  Hofes  zog 
und  sich  völlig  dienstbar  machte.  Denn  außer  ihm  gab  es  kein  Heil. 
Während  unter  Heinrich  IV.  von  feinerem  geselligen  Leben  noch  kaum 
die  Rede  war.  und  unter  Ludwig  XIII.  der  Hof  nichts  weniger  als  maß- 
gebend in  Sachen  des  Geschmacks  und  der  Sitte  erschien,  hatte  sich 
Ludwig  XIV.  die  Gesellschaft  bereits  ganz  unterworfen.  Unter  ihm  gab 
der  Hof  den  Ton  an  und  der  König  stand  in  seinem  Mittelpunkte, 
einer  Gottheit  gleich,  der  man  nur  mit  Scheu  und  Ehrfurcht  nahen 
konnte.  Damals  war  es,  daß  die  französische  Gesellschaft  jene  Feinheit 
der  Form  annahm,  jene  Würde  und  jenen  Anstand,  der  sich  in  allen 
ihren  Äußerungen  findet  und  welchen  zuerst  die  Marquise  von  Rambouillet 
erstrebt  hatte.  Das  Leben  der  höheren  französischen  Gesellschaft  von 
der  Mtte  des  17.  Jahrhunderts  an  bis  zur  Revolution  erscheint  zwar 
einseitig,  doch  in  sich  harmonisch;    nichts  störte,  nichts  verunstaltete; 


12 


vornehm  und  fein,  geschmackvoll  in  seiner  Weise,  war  es  nicht  ohne 
Größe.  Was  hätte  stören  können,  wurde  fern  gehalten,  und  man  schuf 
sich  eine  Wahrheit,  da  man  die  echte  Wahrheit  und  ^Natur  nicht  er- 
tragen mochte.  Man  glaubte  zur  antiken  Einfachheit  und  Würde  zurück- 
zukehren, während  man  doch  völlig  modern  blieb. 

Selbst  die  Sprache  folgte  dem  Zug  der  Zeit.  Auch  hier  machte 
sich  die  Centralisation  und  ihre  nivellierende  Herrschaft  geltend.  Unter 
der  feilenden,  stets  sich  selbst  mäßigenden  und  regelnden  Arbeit  der 
um  die  Sonne  königlicher  Gunst  kreisenden  Schriftsteller  verarmte  sie 
zusehends.  Die  feine,  bewegliche,  reiche  Sprache  der  früheren  Zeit  wurde 
vornehm,  etikettemäßig,  symmetrisch,  aber  auch  elegant,  stilvoll,  vor- 
nehm und  dabei  groß,  klar  und  sicher,  ein  Abbild  der  Zeit,  in  der  sie 
entstand.  Im  ganzen  betrachtet,  war  die  Bildung  des  Jahrhunderts  mehr 
formal,  mehr  äußerlich;  es  war  eine  prächtige  Blüte,  aber  es  fehlte  oft 
der  Kern.  Unter  der  schönen  Form,  in  der  bezaubernden  klassischen 
Sprache  fehlte  es  häufig  an  belebenden  fruchtbaren  Ideen.  Das  wird  uns 
sofort  klar,  wenn  wir  die  Ideale  des  17.  Jahrhunderts  mit  dem  ver- 
gleichen, was  die  folgenden  Generationen  bewegte.  Diderot  spricht  ein- 
mal von  den  kleinmütigen  „Jahrhunderten  des  Geschmacks",  von  den 
Jahrhunderten,  die  nur  auf  Schönheit  sehen  und  welchen  „die  Kühnheit 
des  Geistes"   fehlt. \) 

Diese  Kühnheit  fand  sich  erst  später,  als  der  stolze  Bau  des  un- 
umschränkten Königtums  zerbröckelte  und  die  Arbeit  einer  früheren  Zeit 
wieder  aufgenommen  wurde. 

Die  Philosophie  der  Aufklärung,  welche  das  18.  Jahrhundert  kenn- 
zeichnet, erinnert  in  vielen  Punkten  an  die  Sophisten  Griechenlands. 
Wußten  sie  auch  Demokrits  großartige  Philosophie,  auf  der  sie  fußten, 
nicht  weiter  auszubilden,  so  bezeichneten  sie  dennoch  einen  Fortschritt. 
„Das  Material  der  empirischen  Wissenschaften",  sagt  Lange  in  seiner 
trefflichen  Geschichte  des  Materialismus,  „wurde  durch  die  Sophisten 
popularisiert.  .  .  Die  Poesie  sank  unter  ihrem  Einfluß  von  ihrer  idealen 
Höhe  herab  und  näherte  sich  in  Ton  und  Inhalt  dem  Charakter  des 
Modernen.  Verwicklung,  Spannung,  geistreicher  Witz  und  Rührung 
machten  sich  mehr  und  mehr  geltend."^) 

Die  Sophisten  beschleunigten  den  Auflösungsprozeß,  der  das  alte 
Athen  bedrohte.  Scharfe  Denker,  traten  sie  gegen  den  starren  Partiku- 
larismus der  kleinen  Staaten  auf,  und  indem  sie  sich  in  kosmopoliti- 
schem Sinn  mehr  an  die  ganze  Menschheit  wendeten,  gaben  sie  der 
griechischen  Demokratie  jene  Kraft,  welche  sie  zur  Herrschaft  führte. 
Ähnlich  erhob  sich  die  Philosophie  des  18.  Jahrhunderts  gegen  die  Tra- 
ditionen der  Epoche  Ludwigs  XIV.  Nur  zeigte  sich  die  revolutionäre 
Arbeit,    welche    die   staatlichen    und    socialen  Verhältnisse    Frankreichs 


1)  In  seinem  Artikel  „Encyclopedie"  in  der  Encyklopädie :  „II  u'appar- 
tient  qu'ä  ua  siecle  philosophe  de  tenter  une  Encyclopedie,  parce  qua  cet  ouvrage 
demande  partout  plus  de  hardies.se  dans  l'esprit  qu'on  n'en  a  communement 
dans  les  siecles  pusillanimes  du  goüt." 

2)  Lauge,  Geschichte  des  Materialismus,  Bd.  I,  S.  37. 


13 


bedrohte,  lange  Zeit  als  Freundin  der  klassischen  Litteratur  und  ihrer 
ererbten  Weise.  Mochte  dieselbe  mit  ihrem  aristokratischen  Charakter 
und  ihrer  in  die  neue  Zeit  nicht  mehr  recht  passenden  zurückhaltenden 
Manier  auch  erstarrt,  ja  lebensunfähig  erscheinen ;  ernstlich  angegriffen 
sah  sie  sich  doch  erst  lange  nach  der  Revolution.  Wie  sie  der  größte 
Ruhm  des  17.  Jahrhunderts  war,  so  blieb  auch  ihre  Herrschaft  lange 
noch  aufrecht,  als  schon  die  meisten  Schöpfungen  einer  früheren  Zeit 
gestürzt  waren.  Das  spricht  für  eine  große  innere  Kraft  und  nötigt  selbst 
dem  Gegner  Achtung  ab,  der  sich  mit  ihrem  Charakter  am  wenigsten 
zu  befreunden  vermag. 

Diese  Litteratur,  die  schönste  Frucht  eines  Jahrhunderts,  in  welchem 
sich  Frankreich  zu  einer  dominierenden  Stellung  auf  dem  Kontinent 
emporschwang,  soll  den  Gegenstand  der  nachfolgenden  Darstellung  bilden. 
Das  Kulturbild,  das  wir  zu  entwerfen  versuchen,  wird  seine  Bedeutung 
darin  haben,  daß  es  eine  Entwicklung  schildert,  welche  nicht  allein  für 
Frankreich  von  höchster  Wichtigkeit  war,  sondern  auch  für  das  Geistes- 
leben und  die  Geschmacksrichtung  von  ganz  Europa  auf  lange  Zeit  hin- 
aus bestimmend  wurde. 


I. 

Die  französische  Litteratur  zur  Zeit  der  letzten 
Valois. 

Mit  dem  17.  Jahrhundert  beginnt  eine  neue  wichtige  Epoche  für 
Frankreich.  Bereits  lassen  sich  auf  dem  staatlichen  wie  auf  dem  socialen 
Gebiet  die  Formen  des  modernen  Lebens  erkennen.  Auch  in  der  Litte- 
ratur setzt  man  gewöhnlich  den  Beginn  der  neuen  Zeit  in  den  Anfang 
dieses  Jahrhunderts,  indem  man  die  Reformarbeit  Malherbes  als  Aus- 
gangspunkt der  klassischen  Entwicklung  betrachtet.  Nicht  mit  Unrecht, 
wenn  man  nur  die  äußere  Form,  die  Sprache,  ins  Auge  faßt.  Die  geistige 
Richtung  aber  war  schon  lange  gegeben,  und  Malherbe  hat  wenig  oder 
gar  keinen  Einfluß  auf  sie  geübt.  Der  entscheidende  Wendepunkt  in 
der  Geschichte  der  französischen  Sprache  und  Litteratur  ist  schon 
50  Jahre  früher  zu  suchen,  als  Joachim  du  Bellay  die  Hoheit  der 
französischen  Sprache  verkündete  und  dem  Volk  deren  Ausbildung  als 
nationale  Pflicht  empfahl.  Will  man  aber  nicht  so  weit  zurückgreifen, 
so  bleibt,  um  den  Beginn  der  neuen  Litteraturepoche  zu  bezeichnen,  nur 
das  denkwürdige  Jahr,  in  welchem  Corneille  seine  Zeitgenossen  mit  dem 
,.Cid"  überraschte  und  ihnen  durch  die  Schönheit  seiner  markigen,  hin- 
reißenden Sprache  und  noch  mehr  durch  die  geistige  Hoheit  seines 
Dramas  bewies,  daß  das  lang  ersehnte  Ziel  endlich  erreicht  war.  Der 
lange  Zeitraum,  der  zwischen  du  Bellay  und  Corneille  liegt,  war  dagegen 
eine  Epoche  des  Tastens,  des  Versuchens,  mühevoller  Arbeit  und  lang- 
sam fortschreitender  Entwicklung,  bietet  aber  unseres  Erachtens  keine 
Geiste sthat,  welche  als  entscheidend  für  eine  neue  Richtung  gelten  könnte. 

Zum  Verständnis  der  Litteratur  im  17.  Jahrhundert  scheint  des- 
halb ein  kurzer  Überblick  über  die  verschiedenen  Hauptströmungen  im 
litterarischen  Geschmack  der  vorhergehenden  Zeit  fast  unentbehrlich. 

Stürmisch  und  reich  an  wechselvollen  Begebenheiten  ist  die  Ge- 
schichte dieses  merkwürdigen  Jahrhunderts,  und  denselben  Charakter 
trägt  auch  seine  Litteratur.  Sic  bietet  eine  solche  Mannigfaltigkeit  der 
Erzeugnisse,  solche  Gegensätze  in  den  einzelnen  Werken,  solchen  Reich- 
tum geistiger  Kraft,  daß  wir  moderne  Menschen,  die  wir  durch  unsere 
Erziehungsmethode  alle  mehr  oder  weniger  denselben  Schliff  erhalten 
haben,  einem  einzigen  Volk  diese  Vielseitigkeit  und  diese  in  ihrer  Laune 
oft  so  eigentümliche  Originalität  kaum  zutrauen  mögen. 

Wir  unterscheiden  in  der  damaligen  Litteratur  drei  Hauptrich- 
tungen, welche  nebeneinander  hergehen,  nicht  selten  aber  auch  sich 
miteinander  verbinden.    Zuvörderst    ist    der  nationale,   echt  französische 


15 


Geist  zu  nennen,  der,  einem  frisch  sprudelnden  Quell  vergleichbar,  munter 
und  frei  sich  giebt,  wie  er  ist,  und  unbekümmert  um  fremdes  Vorbild 
€chte  Poesie  in  volkstümlicher  Art  bietet.  Neben  ihm  machte  sich  der 
Einfluß  des  klassischen  Altertums  geltend,  dessen  Herrschaft  sich  umso 
entschiedener  gestaltete,  je  vertrauter  man  mit  ihm  wurde;  und  endlich 
fand  man  in  den  Ländern  mit  der  stammverwandten  Sprache,  in  Spa- 
nien und  Italien,  ein  gewinnendes  Vorbild.  Italien,  das  zu  dem  glän- 
zenden Ruhm  seiner  Vergangenheit  noch  besonders  den  Zauber  moderner 
Kunstvollendung,  fesselnder  Poesie  und  gewinnender  Geselligkeit  fügte, 
errang  in  allen  Fragen  des  Geschmacks  eine  kaum  bestrittene  Autorität. 

Das  16.  Jahrhundert  pflegte  mit  Vorliebe  alle  jene  Gattungen  der 
Litteratur,  welche  nach  dem  Ausspruch  vieler  französischer  Kritiker  wahr- 
haft dem  nationalen  Charakter  entsprechen,  so  besonders  die  Ballade, 
die  poetische  Epistel,  die  schalkhafte  Erzählung,  das  Rondeau,  das  Ma- 
drigal, das  Epigramm.  Epos  und  Tragödie  sind  trotz  großartiger  Erfolge 
auf  dem  Gebiet  der  letzteren  doch  nicht  aus  dem  französischen  Volks- 
geist hervorgegangen  und  sind  daher  niemals  eigentlich  volkstümlich 
geworden.  Umso  mehr  aber  das  Lustspiel,  das  wir  denn  auch  lange  vor 
der  klassischen  Zeit,  vor  der  Begründung  des  regelmäßigen  Theaters, 
in  hoher  Gunst  und  eifrig  bearbeitet  finden.  Wie  die  Meisterwerke  der 
späteren  Zeit,  so  zeigen  auch  schon  die  ungestalten  Spiele  des  15.  und 
16.  Jahrhunderts  den  unerschöpflichen  Reichtum  des  Volkes  an  erhei- 
ternden Einfällen,  charakteristischen  Scenen,  scharfen  Anspielungen  und 
derbem  Witz.^) 

Es  ist  dabei  merkwürdig  zu  beobachten,  wie  sehr  der  Volksgeist 
sich  durch  alle  Jahrhunderte  gleich  erhält  und  selbst  mächtige  fremde 
Einflüsse  nach  kurzen  inneren  Schwankungen  überwindet.  Ein  Volk  mag 
uns  zeitweilig  als  ein  anderes,  fremdes  entgegentreten,  weil  es  zufällig 
eine  bis  dahin  mehr  verborgene  Seite  seines  Charakters  eine  Zeit  lang 
entschiedener  betont;  im  Grunde  bleibt  es  immer  dasselbe.  Wir  hatten 
schon  Gelegenheit,  die  Franzosen  der  Reformationszeit  mit  den  Franzosen 
des  vorigen  Jahrhunderts  zu  vergleichen  und  manche  auffallende  Ähnlich- 
keit hervorzuheben.  Sie  scheinen  sich  dagegen  von  ihren  Landsleuten  im 
siebzehnten  Jahrhundert  umso  deutlicher  zu  unterscheiden.  Doch  ist 
dies  in  der  That  nur  scheinbar,  nur  äußerlich.  Die  Züge,  welche  die 
Zeitgenossen  Ludwigs  XIV.  charakterisieren,  flnden  sich  auch  in  den 
Franzosen  der  anderen  Epochen  wieder.  Immer  zeigen  sie  dieselbe  Vorliebe 
für  Klarheit  und  Witz,  dieselbe  Feinheit  und  denselben  Geschmack,  sowie 
das  gleiche  Gefallen  an  der  Welt  und  dem  heiteren  Lebensgenuß.  Das 
schließt  männlichen  Ernst,  Begeisterung  uud  Hingebung  für  eine  große 
Sache  bei  dem  Volk  nicht  aus,  wenn  es  auch  liebt,  lachend  und  heiter 
an  die  Erfüllung  seiner  Aufgabe  zu  gehen. 

An  der  Spitze  der  populären  Litteratur,  die  den  nationalen  Charakter 
am  deutlichsten  aufweist,    standen  Clement  Marot  und  Rabelais.     Beide 


1)  Es  ist  bezeichnend,  daß  der  Unterrichtsminister  Waddington  im 
Sommer  1876  in  einer  Rede,  die  er  im  Conservatorium  hielt,  die  komische  Oper 
für  die  nationalste  Bühne  Frankreichs  erklären  konnte. 


16 

beherrschten  die  erste  Hälfte  ihres  Jahrhunderts.  Beide  waren  echt 
volkstümlich ,  wenn  auch  der  erstere  im  Dienst  des  Hofes  stand  und 
der  andere  in  den  klassischen  Studien  heimisch  war.  Rabelais,  der  nichts 
mit  seinem  kecken  Spott  verschont  und  unter  der  Maske  des  Scherzes 
oft  tiefernste  Gedanken  verbirgt ,  ist  der  geniale  Vertreter  des  derben, 
übermütiger  Laune  sich  hingebenden  Volksgeistes.  Er  hat  darum  seine 
Bedeutung  für  alle  Zeiten  bewahrt.  Marots  Ruhm  mußte  etwas  verblassen, 
sobald  die  Verhältnisse,  in  welchen  er  lebte,  sich  änderton.  Aber  umso 
charakteristischer  ist  er  gerade  für  seine  Epoche. 

Wie  schon  sein  Vater,  so  stand  auch  er  dem  König  Franz  zu 
persönlichem  Dienst  nahe,  begleitete  ihn  ins  Feld,  wurde  an  seiner  Seite 
bei  Pavia  gefangen  und  teilte  eine  Zeit  lang  seine  Haft  in  Spanien. 
Die  Gedichte,  die  er  an  den  König  richtete,  sei  es,  weil  er  Geld  brauchte, 
sei  es,  weil  er  aus  leidenvoller  Haft  im  Gefängniß  befreit  sein  möchte, 
verraten  schon  durch  ihren  Ton,  daß  er  oft  mehr  seines  Fürsten 
Vertrauter  als  Diener  war.  Des  Königs  Schwester,  die  geistvolle  Margarete 
von  Navarra,  in  deren  Dienst  er  später  trat,  war  seine  besondere  Be- 
schützerin und  wurde  als  solche  häufig  von  ihm  gefeiert. 

In  dem  heiteren  Kreis,  der  diese  beiden  glänzendsten  Sprossen 
des  Hauses  Valois  umgab,  leuchtete  Marot  durch  sein  eigentümliches 
kräftiges  Naturell,  seine  gesunde  Laune,  seine  scharfe  Zunge,  seine 
naive,  frische  Auffassung  hervor.  Von  den  Dichtern  des  Altertums  kannte 
er  gerade  so  viel  als  nötig  war,  seinen  Geschmack  etwas  zu  läutern, 
ohne  daß  deren  Einfluß  mächtig  genug  gewesen  wäre,  ihm  seine  Origi- 
nalität zu  rauben.  Als  würdiger  Vorgänger  Molieres,  Lafontaines  und 
Voltaires  steht  er  an  dem  Eingang  der  neueren  französischen  Poesie. 
Leider  erlebte  er  noch  den  Beginn  der  religiösen  Streitigkeiten,  das  An- 
schwellen des  Hasses  und  der  Verfolgungssucht.  Königin  Margarete 
vermochte  ihn  nicht  zu  schützen,  und  er  endete  sein  Leben  in  der 
Fremde,  in  Turin  (1544),  weil  die  Sorbonne  ketzerische  Ansichten  bei 
ihm  entdeckt  haben  wollte.  Vergebens  wandte  sich  Marot  an  König 
Franz  um  Schutz  der  Wissenschaft  und  des  Gedankens.  „Science  n'a 
haineux  que  l'ignorant!"  rief  er.  Aber  Franz  war  kein  zuverlässiger 
Freund ;  zumal  in  der  Folge,  als  er  mit  zerrüttetem  Körper  immer  mehr 
den  inneren  Halt  verlor  und  selbst  von  Neuerungen  sich  ängstlich  ab- 
wandte, die  er  früher  begünstigt  hatte.  Auch  Rabelais  starb  zu  rechter 
Zeit  (1553).  Für  sein  lautes  Lachen,  seinen  Spott  gab  es  fürder  so  bald 
keinen  Platz  mehr  in  Frankreich. 

Die  Mitte  des  Jahrhunderts  bezeichnet  auch  in  anderer  Hinsicht 
einen  Wendepunkt.  Es  ist  eine  auffallende  Thatsache,  daß  mit  dem 
Steigen  der  religiösen  Leidenschaften  in  Frankreich  das  Anwachsen  des 
■italienischen  Einflusses  und  damit  auch  der  klassischen  Studien  zu- 
sammenfällt. 

Seit  Karls  VIH.  Italienerzügen  waren  italienische  Ideen  und  Lebens- 
formen immer  mächtiger  über  die  Alpen  gedrungen.  Doch  stieg  der  Ein- 
fluß Italiens  zur  Höhe  erst  mit  Katharina  von  Medici,  welche  sich  mit 
König  Heinrich  IL  vermählte.     Seitdem    herrschte   in    Frankreich    italie- 


17 

nische  Sitte,  italienischer  Geschmack,  ja  selbst  italienische  Sprache  und 
Litteratur  wurden  daselbst  heimisch. 

Man  verlangte  seitdem  am  französischen  Hof  ein  feineres  Wesen, 
die  Kunst  höfischer  Geselligkeit,  welche  die  Gemütsroheit  keineswegs 
ausschließt.  Es  schliffen  sich  die  äußeren  Formen  des  Umgangs  ab,  wäh- 
rend gleichzeitig  unter  dem  Einfluß  desselben  Italiens  das  Herz  ver- 
härtete. Das  zeigte  sich  deutlich  unter  den  letzten  Valois.  Die  erste 
Hälfte  des  Jahrhunderts  läßt  noch  mehr  die  strotzende  Lebenslust,  das 
üppige  Kraftgefühl  der  herrschenden  Klasse  erkennen.  Mit  der  vollen 
Freude  am  Leben  stürzt  sich  der  Adel,  nach  dem  Beispiel  seines  Königs 
Franz,  in  den  Taumel  des  Genusses.  Was  das  Leben  verschönen  kann, 
ist  ihm  willkommen  in  seiner  jugendlich  sinnlichen  Kraft;  nur  darf  es 
die  Gedanken  nicht  beschweren.  Franz  L  schwärmt  von  den  Rittern  der 
Heldensage,  er  möchte  jene  Heroenzeit  wieder  heraufbeschwören,  die  er 
aus  den  alten  Liedern  und  Romanen  kennt.  Er  sammelt  seine  Mannen 
um  sich,  aber  auch  die  Sänger,  die  auf  seinen  Ton  eingehen;  sie  alle 
bemühen  sich,  die  Welt  des  Rittertums  zu  kopieren,  haben  ihre  sinn- 
reichen Wahlsprüche  und  schmachten  pflichtgemäß  in  Liebe  zu  einer 
Dame.  Franz  I.,  Heinrich  IL,  Karl  IX.,  Heinrich  III.,  sie  alle  sind  er- 
fahren in  der  Kunst  des  Sonetts,  sie  verstehen  es,  ein  elegantes  Madrigal 
zu  schmieden,  ein  zierliches  Liebesliedchen  zu  reimen.  Wenn  auch  viel- 
leicht ein  höfisch  gewandter  Dichter  bescheiden  hilfreich  dabei  hinter 
ihnen  stand,  so  beweisen  diese  königlichen  Versuche  doch,  in  welcher 
Richtung  der  Geschmack  sich  bewegte.  Selbst  Heinrich  IV.,  der  das 
Leben  sonst  so  praktisch  auffaßte,  ein  echter  Kriegsmann  und  ein 
schlauer  Politiker,  ebenso  stürmisch  wie  wetterwendisch  in  seiner  sinn- 
lichen Liebe,  ahnte  die  Macht  einer  wohlgebauten  Strophe  und  sang  sein 
Lied  an  die   „schöne  Gabrielle".^) 

Die  Valois  gaben  sich  gern  als  Mäcene.  Man  rühmte  den  feinen 
Geist,  die  Bildung  und  Liebenswürdigkeit  der  Königin  von  Navarra, 
Margarete  von  Valois-Angouleme,  welche  an  ihrem  kleinen  Hof  ein  reiches 
geistiges  Leben  zu  erwecken  wußte.  Es  paßt  zu  den  vielen  Seltsamkeiten 
des  Jahrhunderts,  daß  man  für  die  Religion  das  Schwert  zog  und  doch 
so  gleichgiltig  gegen  sie  war,  daß  man  die  kirchlichen  Ämter  oft  ohne 
Rücksicht  auf  die  Tauglichkeit  der  Kandidaten  verlieh.  Octavien  de  Saint- 
Gelais  wurde  von  Karl  VIII.  zum  Lohn  für  eine  Ballade  zum  Bischof 
von  Angouleme  erhoben,  und  sein  Sohn,  Mellin  de  Saint-Gelais,  erhielt 
von  Franz  I.  für  seine  Poesien  die  Abtei  von  Notre-Dame  des  Reclus 
zugewiesen.  So  erhielt  Rabelais  die  Pfarre  von  Meudon,  Amyot  die  Abtei 
Bellozane.  Karl  IX.  ehrte  die  Verdienste  Ronsards,  indem  er  ihm  die 
Einkünfte  mehrerer  Stifter  zuwies;  Joachim  du  Bellay  war  im  Begriff, 
den  Bischofssitz  von  Bordeaux  zu  besteigen,    als  er  vor  der  Zeit  starb. 


^)  Lettre  de  Henri  k  Gabrielle,  21.  Mai  (ohne  Jahresangabe,  wahrschein- 
lich 1597):  „ces  vers  vous  represeuteront  mieul.\  ma  couditiou  et  plus  agreable- 
ment  que  ne  ferait  la  prose.  Je  les  ay  dictez,  non  arrangez."  Diese  Worte  be- 
ziehen sich  wahrscheinlich  auf  das  bekannte  Lied,  das  einige  dem  Dichter 
Du  Caurroy  zuschreiben. 

Lotheißen,  Gesch.  d.  frnnz.  Litteratur.  o 


18 

und  Philippe  Desportes  galt  als  der  reichste  Abt  seiner  Zeit.  Wie  der 
Bischof  in  dem  18.  Jahrhundert  oft  nichts  weiter  war  als  ein  eleganter 
Hofmann/)  so  auch  in  jener  Zeit.  Der  Hof  wimmelte  von  einer  Menge 
galanter  Abbes,  die  nichts  weniger  als  kirchlichen  Sinn  hatten,  welche 
Liebes-  und  Trinklieder  dichteten,  in  schmeichelnden  oder  beißenden  Epi- 
grammen Meister  waren  und  gelegentlich  eine  derbe  Blasphemie  nicht 
scheuten.  Schwung  der  Gedanken  und  Tiefe  der  Empfindung  findet  man 
nicht  auf  solchem  Weg,  wohl  aber  förderten  diese  Hofdichter  die  Aus- 
bildung der  Sprache  und  die  Eleganz  des  Ausdrucks.  Sie  suchten  es  den 
italienischen  Vorbildern  gleichzuthun,  bewunderten  aber  begreiflicherweise 
jene  Dichter  am  meisten,  die,  gleich  ihnen  in  der  Hofluft  heimisch,  in 
der  Verherrlichung  eines  fürstlichen  Kreises  durch  zierlich  aufgeputzte 
Verse  ihren  Ruhm  suchten.  Die  italienische  Litteratur  war  auf  Abwege 
geraten  und  die  französischen  Dichter,  welche  ihr  nachfolgten,  konnten 
umso  weniger  richtig  gehen. 

Zu  diesem  Einfluß  der  manierierten  Dichtung  Italiens  gesellte  sich 
noch  ein  anderer,  der  nicht  minder  mächtig  war.  Die  Kenntnis  des 
Altertums,  der  griechischen  und  römischen  Litteratur,  hatte  sich  in  weitere 
Kreise  verbreitet.  Übersetzungen  hatten  die  Werke  der  Alten  auch 
weniger  gelehrten  Leuten  zugänglich  gemacht.  Man  sah  sich  plötzlich 
vor  einer  Welt,  deren  Schönheit  und  Größe,  deren  harmonische  Ausbil- 
dung überwältigend  wirkte,  und  deren  künstlerischer  und  poetischer  Wert 
die  Früchte,  welche  die  nationale  Poesie  in  Frankreich  bis  dahin  ge- 
zeitigt hatte,  weit  übertraf.  Es  ist  natürlich,  daß  man  sich  jener  fremden 
Litteratur  zuwandte  und  von  ihr  zu  lernen  trachtete. 

Der  Einfluß  der  altklassischen  Litteratur  ist  kaum  abzumessen.  Er 
formte  die  Sinnesart  der  Menschen  und  ihr  ästhetisches  Gefühl  um, 
wobei  anfangs  eine  gewisse  Verwirrung  nicht  immer  vermieden  werden 
konnte;  er  machte  sich  nicht  minder  in  der  Ausbildung  der  Sprache,  in 
der  Weiterentwicklung  der  Litteratur  fühlbar. 

Die  Versuche,  die  Werke  der  Alten  zu  übersetzen,  machten  die 
Unbeholfenheit  der  Muttersprache  klar;  aber  sie  ermunterten  auch,  der- 
selben größere  Geschmeidigkeit  zu  geben,  um  sie  den  feinen  Wendungen 
der  ausgebildeten  Sprachen  von  Hellas  und  Rom  anzupassen. 

Diese  Arbeit  konnte  nur  die  ersprießlichsten  Folgen  haben.  Die 
französische  Sprache  lernte  sich  bewegen,  sie  wurde  allmählich  fähig, 
nicht  allein  den  geeigneten  Ausdruck  für  poetische  Anschauungen  zu 
finden;  sie  erwies  sich  auch,  was  ein  weiterer  Fortschritt  ist,  als  ge- 
nügend starkes  und  brauchbares  Instrument  für  die  Prosa.  Nun  wurde 
es  möglich,  sie  an  Stelle  des  Lateinischen  öffentlich  zu  gebrauchen. 
Franz  I.  führte  durch  eine  Verordnung  im  Jahr  1ÖH9  die  französische 
Sprache  als  Gerichtssprache  ein,  und  bestimmte  sie  ebenfalls  zum  Ge- 
brauch bei  allen  Vorträgen  an  dem  von  ihm  gegründeten  College  de 
France.  Das  Gefühl,  daß  die  Sprache  reif  sei  und  eine  glänzende  Epoche 
in  der  Litteratur  sich  eröffne^  war  allgemein. 


^)  Vergl.  Taine,  La  France  contemporaine,  l'vol.:  rancien  regime,  p.  11)8  ff. 


19 


Wenige  Jahre  später  tj'at  Calvin  mit  seiner  „Institution  chrestienne" 
auf  und  schuf  die  französische  Prosa,  wie  Luther  durch  seine  Bibel- 
übersetzung die  deutsche  geschaffen  hatte. 

In  jene  Zeit  fällt  auch  das  denkwürdige  Manifest,  in  welchem  sich 
eine  neue  Schule  kundthat.  Ronsard  und  seine  Anhänger,  die  Plejade, 
versuchten  es,  die  Traditionen  der  antiken  Poesie  mit  der  modernen 
italienischen  Weise  zu  versöhnen ;  sie  sahen  das  große  Ziel  einer  klassi- 
schen Litteratur  vor  sich  und  setzten  alle  Kräfte  ein,  es  zu  erreichen. 
Ihr  Streben  entsprach  dem  Wunsch  und  dem  Gefühl  der  Gebildeten, 
und  darin  liegt  mit  ein  Grund  der  allgemeinen  Anerkennung,  welche  sie 
so  schnell  errangen. 

Das  Manifest  der  neuen  Schule  war  von  Joachim  du  Bellay,  dem 
talentvollsten  Freund  Ronsards,  verfaßt  und  erschien  im  Jahr  1549 
oder  1550;  es  war  dies  seine  berühmte  Schrift  von  dem  Adel  der  fran- 
zösischen Sprache  („Tlllustration  de  la  langue  fran9aise")-  Darin  spricht 
du  Bellay  es  aus,  daß  der  Franzose  auf  das  Studium  und  die  freie  Nach- 
ahmung der  Alten,  der  Spanier  und  Italiener  angewiesen  sei,  wie  ja 
auch  die  alten  Römer  ihre  ungefüge  Sprache  nach  dem  Vorbild  der 
Griechen  ausgebildet  und  umgeformt  hätten,  ohne  dabei  ihre  originelle 
Kraft  einzubüßen.  Der  Dichter  werde  nicht  geboren,  sondern  erlange 
seine  Kunst  durch  fleißige  Arbeit.  Diese  Worte  sind  bedenklich  und 
verraten  den  Mangel  an  Schöpfungskraft,  an  dem  die  ganze  Plejade 
litt.  Für  du  Bellay  sind  poetisches  Genie  und  Gelehrsamkeit  verschiedene 
Äußerungen  einer  und  derselben  Kraft.  Wer  litterarischen  Ruhm  er- 
werben will,  muß  in  seinem  Zimmer  eingeschlossen  bleiben  und  studieren. 
Verächtlich  wendet  sich  du  Bellay  von  den  älteren  französischen  Dichtern, 
von  Marot  u.  a.  ab,  denn  diese  können  nicht  mit  ihrem  Wissen  prunken. 
Die  alte  nationale  Poesie,  die  Rondeaux,  Balladen  und  Chansons,  gelten 
bei  ihm  nicht.  Er  weist  auf  Griechen  und  Römer  hin,  und  verlangt 
von  den  französischen  Dichtern  Elegien,  Eklogen,  Oden,  Satiren,  drama- 
tische und  epische  Werke,  wohlgefügt  und  und  von  antikem  Sinn  be- 
lebt. Er  ruft  zum  Kreuzzug  gegen  Griechenland  auf,  nicht  um  dessen 
Herrschaft  zu  stürzen,  sondern  in  dem  Sinn,  daß  seine  Landsleute  sich 
die  Schätze  der  griechischen  Sprache  und  Litteratur  aneignen,  daß  sie 
als  reiche  Beute  einen  Schatz  passend  gewählter  Ausdrücke  und  Wen- 
dungen gewinnen  und  die  heimische  Sprache  damit  bereichern.  Durch 
die  Verschmelzung  der  antiken  mit  der  modernen  Kultur  werde  dann 
auf  französischem  Boden  ein  neues_,Mustervolk  erstehen,  die  Gallogriechen. 

Was  Joachim  du  Bellay  in  seiner  Schrift  lehrte,  das  suchten  Ron- 
sard und  seine  Freunde  praktisch  durchzuführen,  und  der  glänzendste 
Erfolg  lohnte  ihr  Streben.  Bei  Hof  angesehen,  von  den  Freunden  der 
Poesie  hochgeehrt,  von  Tasso  bei  seinem  Besuch  in  Paris  (1571)  um 
sein  Urteil  gebeten,  galt  Ronsard  ein  halbes  Jahrhundert  lang  als  das 
größte  Genie  Frankreichs,  als  ein  Dichterkönig,  der  die  Litteratur  seines 
Landes  zur  klassischen  Höhe  geführt  habe.  Diese  Begeisterung  ist  leicht 
zu  erklären.  Das  antike  Gewand  seiner  Dichtungen  täuschte.  Die  Plejade 
bot  in  reichster  Mannigfaltigkeit  Oden  in  Pindars  Manier,  Elegien,  wie 


20 

sie  Tibiill  gesungen,  anakreontisch  gestimmte  Lieder.  So  glaubte  man 
in  ihren  Reihen  einen  Piudar.  TibuU,  Anakreon  zu  sehen.  Eonsard  be- 
gann sogar  ein  Epos:  „Die  Franciade",  in  welcher  er  die  Erlebnisse 
eines  mythischen  Königs  Francus  besang.  Francus,  ein  Sohn  Hektors, 
führt  nach  dem  Fall  von  Troja  sein  Volk  nach  Gallien  und  gründet 
dort  ein  neues  Reich.  Offenbar  wollte  Ronsard  durch  diese  Erfindung 
die  Verwandtschaft  des  französischen  Geistes  mit  dem  Geist  des  alten 
Griechenland  hervorheben.  Sein  Heldengedicht  ist  eine  getreue  Nach- 
ahmung der  Aneide  und  erregte  gerade  deshalb  Bewunderung. 

Noch  begreiflicher  wird  die  Begeisterung,  welche  Ronsard  bei  seinen 
Zeitgenossen  erweckte,  wenn  man  seine  Dichtungen  unbefangen  prüft, 
und  sieht,  wie  er  die  Sprache  durch  den  Adel  des  Ausdrucks,  durch 
eine  gewisse  Pracht  der  Diktion  gehoben  hat.  Sie  verdankt  ihm  eine 
Menge  neuer,  sehr  glücklich  gebildeter  Ausdrücke,  die  volles  Bürger- 
recht erlangt  haben. ^)  Ronsard  spricht  allerdings  eine  gelehrte  Sprache, 
und  viele  Fremdwörter,  die  er  einzuführen  suchte,  haben  sich  als  wider- 
spenstig erwiesen  und  sind  dem  französischen  Volk  nie  mundgerecht  ge- 
worden. Der  Vorwurf,  seine  Muttersprache  mit  fremdem  Ballast  beschwert, 
sie  durch  zu  viel  fremde  Elemente  entstellt  zu  haben,  ist  zwar  nicht 
unbegründet,  trifft  ihn  jedoch  weniger  als  manche  seiner  Nachahmer, 
welche  die  Irrtümer  des  Meisters  übertrieben.  Boileaus  Wort,  Eonsard 
habe  griechisch  und  lateinisch  in  französischer  Sprache  geredet,  ist  des- 
halb nicht  ganz  gerecht.^) 

Ronsards  Einfluß  erwies  sich  ferner  in  der  Reform  der  Metrik. 
Er  gab  der  französischen  Lyrik  eine  Anzahl  neuer,  zum  Teil  wohlgefäl- 
liger Rhythmen  und  führte  den  Wechsel  der  männlichen  und  weiblichen 
Reime  ein,  eine  Regel,  die  seitdem  für  den  Alexandriner  zum  festen 
Gesetz  ward.  Eonsard  griff  überhaupt  diesen  Vers  wieder  auf,  bildete 
ihn  aber  um  vieles  freier  und  leichter,  als  er  später  in  der  klassischen 
Zeit  erscheint.  Er  hat  ferner  durch  seine  Bearbeitung  des  aristophanei- 
schen  „Plutus"  den  Anstoß  gegeben,  das  regelmäßige  Theater  in  Frank- 
reich zu  begründen.  Sein  Freund  und  Gesinnungsgenosse  Etienne  Jodelle 
gilt  als  der  älteste  Dichter  des  Dramas  in  seinem  Vaterland. 

So  war  eine  Grundlage  geboten,  auf  der  man  nur  rüstig  hätte 
fortbauen  können,  um  zu  Bedeutendem  zu  gelangen.  Selbst  den  Versuch 
einer  Akademie  hatte  man  gewagt.  Wie  Eichelieu  später,  so  gab  schon 
1570  Karl  IX.  die  Erlaubnis  zur  Stiftung  einer  Gesellschaft,  die  für 
die  Ausbildung  und  Eeinheit  der  Sprache  sorgen  sollte.  Die  Verhältnisse 
waren  offenbar  danach  angethan,  eine  Entfaltung  der  schönen  Litteratur, 


1)  Viele  Wörter,  die  man  als  Schöpfungen  Corneilles  bezeichuet,  reichen 
auf  die  Dichter  des  16.  Jahrhunderts  zurück.  So  z.  B.  invaincu,  das  sich  bei 
Garnier  und  [d'Aubigne  findet,  punisseur,  impenetrable ,  inexorable  u.  a.  m. 
Vergl.  Corneille  in  der  Ausgabe  von  Marty-Laveaux,  Band  XI  (lexique),  pre- 
face,  S.  12  ff.,  sowie  unter  den  einzelnen  hier  angegebenen  Wörtern. 

^)  Boileau,  Art  Poetique,  eh.  I.  v.  126:  „Mais  sa  muse,  eu  fran^ais  par- 
lant  grec  et  latiu..."  Siehe  ferner:  Henri  Etienne,  „de  la  precellence  de  la 
langue  franoaise"  und  „du  nouveau  langage  fran^ais  italianise". 


21 

wie  sie  sich  100  Jahre  später  zeigte,  schon  damals  zu  ermöglichen.  Der 
lange  Stillstand,  der  in  der  Entwicklung  plntzlich  eintrat,  war  nicht 
natürlich.  Die  Geschichte  belehrt  uns,  daß  ein  jedes  Volk  seine  Sprache 
in  mühsam  langer  Arbeit  ausbilden  muß.  Ist  dieselbe  aber  einmal  bis 
zu  einem  gewissen  Grad  durchgearbeitet,  beginnt  das  Volk  in  ihr  ein 
kostbares  Besitztum  zu  erblicken,  dann  erreicht  sie  auch  in  raschem  An- 
lauf die  Höhe  klassischer  Vollendung.  Ein  solcher  Zeitpunkt  aber  war 
für  Frankreich  im  16.  Jahrhundert  gekommen.  Ronsard  hatte  eine  große 
Aufgabe,  und  wenn  ihm  auch  die  letzte  Weihe  des  Genies  fehlte,  so  hat 
es  doch  nur  die  Ungunst  der  Zeiten  verhindert,  daß  er  nicht  selbst  noch 
die  von  ihm  ersehnte  große  Zeit  erlebte.  Erst  Corneille  löste  die  Auf- 
gabe, die  60  Jahre  zuvor  schon  gestellt  war. 

Denn  die  Not  der  Zeiten  wurde  während  der  Keligionskriege 
immer  größer  und  die  geistige  Spannkraft  des  Volkes  erlahmte  immer 
mehr.  Die  Valois  begünstigten  nur  eine  Poesie,  welche  den  leichten 
Lebensgenuß  verherrlichte,  den  Großen  schmeichelte  und,  jedem  ernsten 
Gedanken  abhold,  den  wichtigen  Fragen  des  Tags  gegenüber  sich  gleich- 
giltig  verhielt.  Liest  man  Dichter  wie  Desportes,  so  ahnt  man  nicht, 
welche  Not  das  Land  bedrückte,  welcher  Haß  in  den  Gemütern  glühte. 
Der  strenge  Historiker  de  Thou  klagt  darüber  schon  bei  Gelegenheit 
einer  Charakteristik  Heinrichs  11.  und  seiner  Zeit.  Wenn  man  von  diesem 
verdorbenen  Zeitalter  spreche,  so  dürfe  man,  meint  er,  die  französischen 
Dichter  nicht  übersehen,  die  ihr  Talent  mißbrauchten,  die  jungen  Leute 
von  ernsten  Studien  abzögen  und  den  Geist  der  Jugend,  das  Gemüt  der 
Frauen  durch  ihre  unsittlichen  Lieder  vergifteten. 

Gegenüber  dieser  Schule  der  leichtfertigen  eleganten  Hofpoesie 
atmeten  die  Werke  der  hugenottisch  gesinnten  Dichter  den  vollen  Ernst 
des  Gemüts,  das  sich  in  dem  Alleinbesitz  der  Wahrheit  wähnt  und  mit 
dieser  Überzeugung  öfter  dem  Eifer  und  die  Kampflust  des  Fanatikers  ver- 
bindet. Ein  Beispiel  der  letzteren  Art  bietet  der  leidenschaftliche  Agrippa 
d'Aubigne,  in  dessen  Gedichten  ein  düsteres  Feuer  glüht,  und  die  Schrecken 
der  Zeit  in  entsetzlichem  Bild  sich  enthüllen.  D'Aubigne  bildet  den  Über- 
gang zu  der  Litteratur  des  17.  Jahrhunderts,  und  wir  werden  ihn  neben 
Mathurin  Regnier,  dem  sorglosen  Satiriker,  noch  eingehender  betrachten.^) 
Ausschließlich  seiner  Zeit  angehörig  und  ganz  von  biblischem  Eifer  erfüllt, 
erscheint  dagegen  Guillaume  de  Salluste,  Seigneur  du  Bartas,  dessen  Ruhm 
bald  weithin  erklang  und  dessen  Hauptwerk:  „Die  Schöpfung  der  Welt" 
oder  „Die  Woche"  in  alle  europäischen  Sprachen  übersetzt  wurde.  Weit- 
schweifig und  überladen,  aber  voll  tiefen  Ernstes  und  religiöser  Empfin- 
dung, bietet  dieses  episch-didaktische  Gedicht  eine  Mischung  von  allen 
möglichen  Ingredienzien  und  wird  durch  seine  Weitschweifigkeit  schwer- 
fällig und  ermüdend.  Die  wirklich  poetisch  gefühlten  Schilderungen,  die 
sich  darin  finden,    können  diesen  allgemeinen  Eindruck  nicht  aufheben. 

Doch  das  französische  Volk  müßte  seinen  Charakter  eingebüßt 
haben,  wenn  es,  hineingezerrt  in  das  selbstsüchtige  Treiben  der  Parteien 


1)  Siehe  Abschnitt  IV  dieses  Bands. 


22 

und  in  dem  Kampf  ehrlicher  Überzeugungen  mit  allen  Kräften  beteiligt^ 
in  dem  Wirbel  jener  Zeit  seine  angeborene  Heiterkeit  verloren  hätte. 
Durch  alles  Elend  hindurch  hatte  es  sich  seinen  Mutterwitz  und  seinen 
leichten  Sinn  als  kostbares  Gut  zu  bewahren  gewußt. 

So  finden  wir  neben  und  über  den  Parteien  stehend  eine  Anzahl 
von  Männern,  welche  sich  von  blinder  Leidenschaftlichkeit  frei  erhalten, 
die  mit  scharfem  Blick  die  Fehler  ihrer  Landsleute  erkennen  und  ein- 
sehen, daß  innerhalb  und  außerhalb  der  trojanischen  Mauern  gesündigt 
wird.  Die  Trauer  über  das  Unglück  des  Vaterlands  erfüllt  sie  jedoch 
nicht  mit  lähmender  Melancholie.  In  dem  Moment  der  letzten  entschei- 
denden Krise  treten  sie  in  den  Kampf  ein,  um  den  Frieden  herzustellen. 
Ihre  Waffe  ist  schneidig,  denn  sie  handhaben  die  Satire  in  vernichtender 
Weise.  Sie  wissen,  daß  das  ermüdete  Volk  den  Frieden  ersehnt,  daß  auf 
den  Ausbruch  der  Leidenschaften  die  Ernüchterung  gefolgt  ist,  und  so 
treten  sie  nun  im  geeigneten  Augenblick  lachenden  Mundes  zu  den  Strei- 
tenden heran  und  entlarven  die  Ehrgeizigen,  die  in  der  Zerrüttung  des 
Vaterlands  ihr  Glück  suchen. 

Heinrich  IV.  hat  bei  seiner  Aufgabe,  Frankreich  zu  beruhigen, 
keine  besseren  Bundesgenossen  gehabt  als  Jean  Passerat,  Nicolas  ßapin, 
Pithou  und  deren  Freunde,  welche  in  der  geistsprühenden  „Satire  Me- 
nippee"  die  letzten  Fanatiker  des  Widerstands  überwanden.  Passerat  ist 
zugleich  ein  echter  Vertreter  des  gesunden  französischen  Bürgertums, 
mit  seinem  derben  Humor,  seinem  praktischen  Sinn,  seiner  unerschöpf- 
lichen Laune,  seiner  unermüdlichen  Arbeitskraft.  Einer  der  gelehrtesten 
Männer  seiner  Zeit,  blieb  Passerat  einfach,  kräftig,  natürlich,  und  hat 
die  französische  Lyrik  mit  einigen  der  frischesten  Lieder  bereichert. 

Neben  den  Patrioten  der  .Satire  Menippee"  stehen  noch  zwei 
Männer,  welche  (\ev  Schmuck  ihres  Jahrhunderts  sind,  La  Boetie  und 
Montaigne.  Beide  gehörten  zu  jener  geringen  Anzahl  von  Menschen,  die 
freien  Geistes  über  ihre  Zeit  hinausblicken  und  inmitten  des  Gezänks 
der  Gegenwart,  unbeirrt  von  den  kleinlichen  Interessen  des  Tags,  ihre 
eigenen  Bahnen  wandeln.  La  Boetie,  den  ein  früher  Tod  hinwegraffte, 
war  erfüllt  von  antikem,  stoischem  Geist,  als  er  sein  feuriges  Buch  : 
„Von  der  freiwilligen  Knechtschaft"  schrieb.  Montaigne  dagegen  gesteht 
wie  der  athenische  Philosoph,  daß  er  nichts  weiß  und  nichts  wissen 
kann.  Wie  klein  erscheinen  ihm  daher  jene  Kriege  um  den  Glauben,  wie 
arm  erscheint  ihm  des  Menschen  ganzes  Thun.  Doch  er  wendet  sich 
deshalb  nicht  verächtlich  von  demselben  ab.  er  verfolgt  ihn  auch  nicht 
mit  satirischer  Laune.  Mild  lächelnd  blickt  er  auf  ihn  herab  und  beob- 
achtet ihn  in  seinen  Tugenden  wie  in  seinen  Schwächen  mit  philoso- 
phischer Kühe,  ohne  Begeisterung,  aber  auch  ohne  Haß.  So  wird  er  in 
seinen  „Essais"  der  Vorbote  einer  in  späteren  Zeiten  auftretenden  Welt- 
anschauung, die  nichts  mehr  von  Fanatismus  wissen  will,  einer  Welt- 
anschauung, die  freilich  weniger  für  das  thätige  Leben  geeignet  ist,  ja 
die  zum  energischen  Handeln  fast  unfähig  macht.  Montaigne  hat  in  der 
Litteratur  seiner  Zeit  seinen  besonderen  Platz,  entfernt  von  den  anderen. 
Aber  das  Bild  des  stürmischen  16.  Jahrhunderts  wäre  nicht  vollkommen. 


23 


wenn  nicht  das  ruhige  Antlitz  des  Philosophen  über  die  Kämpfe  des- 
selben hinausblickte,  gleichwie  der  stille  Mond  über  die  stürmisch  wo- 
genden Wasser  der  aufgeregten  See. 

Das  16.  Jahrhundert  hatte  wie  im  Staat  und  in  der  Kirche,  so 
auch  in  der  Litteratur  energisch  nach  einem  bewußten  Ziel  gestrebt.  Es 
hatte  in  angestrengter  Arbeit  sein  System  verfolgt,  bis  der  allgemeine 
Niedergang  alle  Kräfte  lähmte  und  besonders  jede  gemeinsame  geistige 
Arbeit  erschwerte. 

Darum  sehen  wir  die  Litteratur  des  17.  Jahrhunderts  in  völliger 
Systemlosigkeit  beginnen.  Sie  erinnert  in  dieser  Hinsicht  an  die  Litte- 
ratur des  heutigen  Frankreich.  Nach  den  Kämpfen  des  Klassicismus  mit 
der  romantischen  Schule  und  dem  endlichen  Sieg  der  letzteren  trat  zu- 
erst eine  Stagnation  ein,  auf  welche  bald  völlige  Anarchie  folgte.  Jeder 
Dichter  und  Schriftsteller  bildet  sich  heute  sein  eigenes  System,  und 
das  Publikum  nimmt  alles  an,  was  ihm  geboten  wird.  Von  bestimmter 
entschiedener  Strömung  des  Geschmacks  wird  noch  lange  keine  Eede  sein. 

Eine  ähnliche  Erscheinung  sieht  man  zur  Zeit  Heinrichs  IV.  Nach 
der  Erschlaffung  der  letzten  Jahre  galt  es,  sich  zu  sammeln,  eine  neue 
staatliche  und  sittliche  Ordnung  zn  begründen,  die  Gesellschaft  neu  zu 
bilden,  bevor  an  eine  kräftige  Entwicklung  der  Litteratur,  überhaupt  an 
geistigen  Fortschritt  gedacht  werden  konnte. 

Bei  der  Darstellung  der  Litteraturgeschichte  Frankreichs  im 
17.  Jahrhundert  haben  wir  uns  deshalb  zunächst  mit  dieser  ersten 
Periode,  der  Zeit  der  Vorbereitung  und  des  Übergangs,  zu  beschäftigen. 
Sie  umfaßt  die  Regierung  Heinrichs  IV.  und  seiues  Nachfolgers  bis  in 
die  dreißiger  Jahre,  zu  welcher  Zeit  ein  plötzlicher  Aufschwung  statt- 
fand, der  endlich  zu  dem  seit  einem  Jahrhundert  erstrebten  Ziel  hinan- 
führte. 


II. 
Frankreich  unter  Heinrich  IV. 

Politisches  und  sociales  Leben. 

Heinrich  IV.  steht  an  der  Scheide  zweier  Jahrhunderte.  So  darf 
es  uns  nicht  wundernehmen,  wenn  seine  Kegierung  vielfach  schwan- 
kenden Charakter  trägt.  Sie  kann  sich  dem  gewaltigen  Eintiuß  des  ver- 
gangenen Jahrhunderts  nicht  entziehen  und  schlägt  doch  gleichzeitig 
Bahnen  ein,  welche  zu  völlig  neuer  Entwicklung  führen  müssen.  Das 
Jahrhundert  des  großen  geistigen  und  religir>sen  Kampfes,  das  Jahr- 
hundert der  Reformation,  der  Kunstblüte,  der  großen  Thaten  wie  der 
entsetzlichen  Verbrechen,  der  gewaltigen  finsteren  Charaktere  wie  der 
schwachen,  verkommenen  Wüstlinge  war  zu  Ende  gegangen.  Ein  neues 
Jahrhundert,  schwächer  in  seinem  Wollen,  geregelter  in  seinem  Leben, 
kleiner  in  seinen  Charakteren,  harmonischer  in  seinem  Wesen,  erötfnete  sich. 

Die  Regierungszeit  Heinrichs  IV.,  welche  die  letzten  Jahre  des 
scheidenden  und  die  ersten  des  anbrechenden  Jahrhunderts  umfaßte,  war 
recht  eigentlich  eine  Übergangszeit  und  trug  ein  doppeltes  Gesicht  gleich 
dem  Januskopf,  der  gleichzeitig  in  die  Vergangenheit  und  in  die  Zu- 
kunft blickt.  Heinrich  selbst  war  in  seinem  Wesen  der  echte  Sohn  des 
16.  Jahrhunderts.  Thätig  und  abgehärtet,  lebensfroh  und  kriegslustig, 
dabei  sinnlich,  verschlagen  und  wenn  es  galt  auch  falsch,  so  hatte  er 
den  weiten  Weg  zum  Thron  glücklich  zurückgelegt.  Einmal  aber  im 
Besitz  der  Krone,  streifte  er  den  Charakter  des  mittelalterlichen  Kriegs- 
herrn, der  ihm  augehaftet  hatte,  ab,  verschmähte  die  bis  dahin  übliche 
Regierungsweisheit,  und  erschien  in  seinen  Grundsätzen,  seinen  Bestre- 
bungen, seiner  fast  unbeschränkten  Machtfülle  als  der  erste  moderne 
König.  Mit  der  Thronbesteigung  der  Bourbonen  begann  eine  neue  Zeit, 
nicht  allein  für  Franki-eich,  sondern  auch  für  Europa.  Neue  Anschauungen 
und  neue  politische  Lehren  kamen  nun  zur  Geltung.  Das  Volk  hatte  zu 
sehr  gelitten,  als  daß  es  nicht  vor  allem  friedliche  Ordnung  und  Sicher- 
heit verlangen  sollte.  Diese  aber  konnte  es  nach  der  Lage  der  Dinge 
damals  nur  von  einem  kraftvollen  König  erwarten,  der  Machtfülle  genug 
besaß,  um  die  ehrgeizigen  und  selbstsüchtigen  Bestrebungen  einzelner 
niederhalten  zu  können.  So  gewann  die  Idee  von  der  Notwendigkeit 
einer  unumschränkten  monarchischen  Gewalt  rasch  an  Boden,  und  Hand 
in  Hand  mit  der  Erstarkung  des  Königtums  ging  die  energisch  durch- 
geführte Centralisation.  Soll  der  König  wirklich  überall  seinen  Willen 
gleichmäßig  durchsetzen  können,    so  muß   die  Regierung  derart  organi- 


25 


siert  seiD ,  daß  alle  Fäden  der  Verwaltung  in  einem  Centralpunkt  zu- 
sammenlaufen, und  daß  jedes  Rädchen  der  großen  Maschine  je  nach  dem 
Willen  des  Meisters    in  Bewegung  gesetzt   oder   gehemmt  werden  kann. 

Damit  ist  aber  eine  tiefgreifende  Änderung  in  der  Entwicklung 
des  Nationalgeistes  verbunden.  Die  Individualität  eines  einzelnen  wird 
maßgebend.  Es  erhebt  sich  ein  König,  der  die  Nation  in  sich  verkör- 
pert glaubt;  eine  Hauptstadt,  in  welcher  sich  bald  alles,  was  Talent 
und  Streben  hat,  zusammenfindet,  und  deren  Laune  den  Geschmack  des 
ganzen  Landes  beherrscht;  eine  Klasse,  welche  das  Land  im  Namen 
und  Auftrag  des  Königs  verwaltet  und  trotz  ihrer  bescheidenen  Stellung 
doch  langsam  und  unmerklich  zur  herrschenden  Kaste  wird:  so  stellt 
sich  das  Ergebnis  der  großen  politischen  Änderung  dar.  Die  Mannig- 
faltigkeit der  Erscheinungen  schwindet,  der  oft  reizvolle  Gegensatz  der 
Charaktere  macht  einer  größeren  Einförmigkeit  Platz,  aber  gerade  diese 
stärkere  Ähnlichkeit  der  Erscheinungen  und  Charaktere  hat  den  Vorteil, 
daß  bei  dem  gleichmäßigen  Streben  aller  nach  demselben  Ziel  ein  größerer 
Fortschritt  bewerkstelligt,  eine  wohlthuende  Harmonie  ermöglicht  wird. 
Nur  vor  einer  großen  Gefahr  gilt  es  sich  zu  hüten;  die  Harmonie  gleich- 
artiger Bildung  darf  nicht  zum  starren  Formalismus  und  zur  toten 
Äußerlichkeit  herabsinken.  Doch  diese  Gefahr  lag  beim  Beginn  des 
17.  Jahrhunderts  noch  fern,  und  die  größere  Centralisation  führte  zu- 
nächst zu  einer  entschiedeneren  nationalen  Prägung  des  Volkscharakters. 
Je  enger  die  einzelnen  Provinzen  miteinander  verknüpft  wurden  und 
je  mehr  sie  sich  dadurch  kennen  lernten,  umso  leichter  verschmolz  die 
Bevölkerung  zu  einer  einzigen  bedeutungsvollen  Nation. 

Ist  aber  einmal  eine  Idee  zur  Macht  gelangt,  so  vermögen  selbst 
große  Gegenströmungen  nicht,  sie  zu  erschüttern.  Im  Gegenteil,  an  dem 
Widerstand,  den  sie  findet,  erstarkt  sie  oft  zu  besonderer  Kraft.  So  ge- 
schah es  auch  mit  der  Lehre  von  der  königlichen  Machtvollkommenheit. 
Als  nach  der  Ermordung  Heinrichs  IV.  Maria  von  Medici  die  Regent- 
schaft übernahm  und  in  ihrer  Schwäche  den  Gewinn  der  früheren  Regie- 
rung zu  gefährden  schien,  als  die  feudalen  Herren  wieder  das  Haupt 
erhoben  und  noch  einmal  hoffen  mochten,  sich  nach  dem  Vorbild  der 
Fürsten  des  Deutschen  Reichs  allmählich  in  kleine,  unabhängige  Herrscher 
umzuwandeln,  zeigte  es  sich  bald,  daß  ein  mächtigerer  Wille  in  Frank- 
reich sich  geltend  machte.  Nicht  Marias,  nicht  Ludwigs  XIII.  Macht 
zwang  die  aufständischen  Großen  zum  Gehorsam  zurück,  sondern  der 
Widerwille  des  Volkes,  das  sich  in  keinen  Bürgerkrieg  mehr  fortreißen 
ließ  und  die  Macht  des  Königtums  nicht  geschwächt  wissen  wollte.  Je 
größer  sich  die  Unbotmäßigkeit  des  hohen  Adels  zeigte,  umso  fester 
wurde  im  Volk  die  Ansicht  von  der  Notwendigkeit  königlicher  Macht- 
fülle. Königtum  und  Staatsidee  verwuchsen  bald  zu  einem  einzigen  Be- 
griff, so  sehr,  daß  selbst  der  dritte  Stand  seine  früheren  republikani- 
schen Ansichten  vergaß  und  in  der  Festigung  der  königlichen  Autorität 
sein  Heil  suchte.  Als  der  Marschall  d'Ancre  auf  Befehl  des  jugendlichen 
Königs  Ludwig  im  Jahr  1617  im  Hof  des  Louvre  von  einigen  Leib- 
gardisten angehalten    und    meuchlings  erschossen  worden  war,    erklärte 


26 

das  Pariser  Parlament  den  ganzen  Vorgang  für  gerechtfertigt.  Der  König^ 
stehe  über  dem  Gesetz.  Da  er  befugt  sei,  die  Gesetze  zu  erlassen  und 
die  Formen  der  Justiz  zu  bestimmen,  so  könne  er  dieselben  auch  ändern 
oder  sich  völlig  von  der  Beobachtung  derselben  dispensieren.  Noch  mehr: 
bei  der  feierlichen  Schlußsitzung  der  Reichsstände  im  Jahr  1614  erklärte 
Miron.  der  energische,  die  Freiheiten  des  Volkes  sonst  eifrig  verteidigende 
Redner  des  dritten  Standes,  die  Könige  seien  an  keine  anderen  Gesetze^ 
gebunden  als  au  die  ihres  eigenen  Willens.  Diese  sonderbare  und  ge- 
fährliche Lehre  wurde  vom  Bürgertum  verteidigt,  da  es  im  Kampf  des 
Königs  gegen  den  Feudaladel  und  mehr  noch  gegen  den  Ultramonta- 
nismus entschieden  zu  dem  ersteren  hielt.  Aus  den  Religionskriegen 
hatte  es  eine  gründliche  Abneigung  gegen  die  Herrschaft  Roms  mit- 
gebracht und  trachtete  vor  allem  danach,  den  Staat  vor  dieser  Gefahr 
zu  bewahren.  Dies  aber  schien  zunächst  nur  durch  die  Stärkung  der 
königlichen  Gewalt  möglich. 

Die  monarchische  Bewegung  jener  Zeit  ist  doppelt  auffallend,  weil 
sie  nicht  in  Frankreich  allein  sich  äußerte.  Auch  in  anderen  Ländern 
stieg  die  Macht  der  Fürsten,  und  freigesinnte  Männer  scharten  sich  um 
dieselbe  zu  ihrer  Verteidigung.  So  bekämpfte  Hugo  Grotius  in  zwei 
Schriften  die  Ansprüche  der  Kirche  auf  die  Oberhoheit  über  den  Staat. 
Er  sprach  sich  geradezu  für  das  umgekehrte  Verhältnis  aus.  und  be- 
hauptete das  Recht  des  Staats,  in  äußeren  Angelegenheiten  der  Kirche- 
das  letzte  Wort  zu  sprechen.  Dabei  lehrte  er  den  absoluten  Gehorsam, 
zu  welchem  die  ünterthanen  ihrem  Fürsten  gegenüber  verpflichtet  wären. 
Grotius  glaubte  ganz  consequent  zu  sein.  Die  altgriechische  und  römische 
Tradition,  die  um  jene  Zeit  so  hoch  in  Ehren  stand,  lehrte  ihn  die 
volle  Hingabe  des  einzelnen  an  sein  Land,  die  Hoheit  des  Staats  über 
jedes  andere  Interesse.  Der  Staat  aber  schien  Grotius  in  dem  Monarchen 
verkörpert.  Wo  daher  ein  König  unbeschränkte  Macht  besitze,  sei  jeder 
Widerstand  gegen  seinen  Willen  ein  Verbrechen;  nur  da,  wo  die  Macht 
des  Landesfürsten  durch  Gesetze  beschränkt  sei,  könne  sich  der  Unter- 
than  innerhalb  der  gegebenen  Schranken  dem  Gebot  des  Herrn  zu  wider- 
stehen erlauben.  Das  Recht  der  Selbstwehr,  die  Revolution,  war  damit 
für  jedes  Volk  beseitigt.  Grotius  schien  zu  vergessen,  daß  die  Völker, 
welchen  er  ein  gewisses  Recht  gesetzlichen  Widerstands  gestattete,  diese 
sie  schützenden  Gesetze  in  früherer  Zeit  hatten  ertrotzen  müssen.  Bei 
einem  Holländer,  dessen  Volk  sich  kaum  erst  durch  blutigen  Kampf 
von  dem  Joch  seiner  spanischen  Bedrücker  freigemacht  hatte,  war  diese 
Lehre  gewiß  doppelt  auffallend,  umsomehr,  als  Grotius  sich  in  sonstigen 
Fragen  als  freigesinnter  Mann  bewährte  und  für  seine  Überzeugung 
selbst  im  Kerker  duldete.')  Es  zeigt  dies  nur,  wie  sehr  das  Rechts- 
bewußtsein in  Europa  geschwächt  war,  zum  großen  Teil  infolge  der 
Niederlagen,    die    das    Bürgertum    in    Frankreich    betroffen    hatte.    Der 


^1  „De  imperio  summarum  potestatum  circa  sacra",  1616  von  Grotius 
geschrieben,  aber  erst  nach  seinem  Tod  164:7  zu  Paris  veröffentlicht.  AhnUch 
spricht  er  sich  aus  in  seiner  Oratio  iu  senatu  Amstelodamu  IX.  Calendas  Majas 
1616  habita.    S.  Grotii  Opera  theol.  III,  p.  177  ff. 


27 


dreißigjährige  Krieg,  der  bald  darauf  in  Deutschland  ausbrach,  sollte 
diese  gefährlichen  Doktrinen  vom  Eecht  des  Bestehenden  und  dem  un- 
beschränkten Herrschertum  vollends  für  lange  Zeit  befestigen.  Für  Frank- 
reich insbesondere  ist  es  bezeichnend,  daß  die  Reichsstände  zum  letzten- 
mal im  Jahr  1614  berufen  wurden.  Seitdem  verlangte  der  König  nicht 
mehr  nach  dem  Rat  der  Abgeordneten  des  Volkes,  der  lästigen  Vertreter 
des  dritten  Standes. 

In  der  ersten  Zeit  wurde  diese  königliche  MachtvoUkommenlieit  in 
ganz  Frankreich  als  eine  Wohlthat  für  das  Land  empfunden.  Hein- 
richs IV.  Autorität  machte  sich  in  höchst  günstiger  Weise  auf  allen 
Gebieten  des  öffentlichen  Lebens  geltend. 

Furchtbar  war  die  Verwüstung  des  Landes.  Alle  Verhältnisse  waren 
zerrüttet  und  das  Volk  hatte  materiell  und  moralisch  eine  erschreckende 
Einbuße  erlitten.  In  seiner  Leichenrede  auf  Heinrich  entwarf  Bischof 
Fenoillet  ein  ergreifendes  Bild  von  der  Lage,  in  der  sich  Frankreich 
befand,  kurz  bevor  die  Ligue  unterlag  und  der  König  allgemein  aner- 
kannt wurde.  Er  nennt  Frankreich  eine  blutige  Schaubühne,  auf  der 
die  gerechte  Strafe  Gottes  zum  Vollzug  gekommen  sei.  Damals  habe  die 
Zwietracht  in  den  Familien,  der  Aufstand  in  den  Provinzen  geherrscht; 
Raubgesindel  habe  jede  Sicherheit  auf  dem  Land  untergraben,  Sitten- 
verderbnis und  Gottlosigkeit  seien  überall  heimisch  gewesen.  Parteiungen 
hätten  das  Volk  zerrissen,  die  Geistlichkeit  sei  ausschweifend,  der  Adel 
herrschsüchtig,  die  Justiz  käuflich,  die  Unordnung  im  ganzen  Land 
heimisch  gewesen.') 

Diese  traurige  Schilderung  entsprach  nur  zu  sehr  der  Wahrheit. 
Der  Landbau.  früher  in  so  blühendem  Zustand,  genügte  kaum  noch  zur 
notdürftigen  Ernährung  des  Volkes.  Die  fortwährenden  Raub-  und  Plün- 
derungszüge der  sich  bekämpfenden  Armeen  hatten  die  schönsten  und 
fruchtbarsten  Gegenden  in  Wüsteneien  verwandelt.  Heinrich  IV.  selbst 
gibt  die  traurigste  Bestätigung  für  diese  Zustände  des  Elends.  In  der 
Einleitung  zu  seiner  Erklärung  vom  16.  März  1595  sagt  er,  daß  die 
Landleute  wegen  der  fortwährenden  Heimsuchungen  ihre  gewohnte  Be- 
schäftigung aufgegeben ,  ja  ihre  Wohnungen  verlassen  hätten .  so  daß 
der  größte  Teil  der  Meierhöfe  und  fast  alle  Dörfer  unbewohnt  und  leer 
ständen.^)    Die   Menschen    waren    zum   Teil    verdorben,    im    Elend    ver- 


1)  Fenoillet,  oraison  funebre  de  Henri  IV:  „La  France  etait  im  theatre 
couvert  de  sang  sur  lequel  la  justice  de  Dieu  prenait  une  vengeance  terrible 
de  nos  fautes.  Car  ne  voyant  rien  que  la  divisioii  dans  les  familles,  la  sedition 
dans  les  provinces,  le  brigandage  aux  champs,  l'impurete  aux  m'eurs,  l'atheisme 
en  la  vie,  l'heresie  en  plusieurs  endroits,  la  charite  morte,  la  devotion  eteinte, 
la  licence  en  l'ordre  ecclesiastique ,  les  brigues  parmi  le  peuple,  la  tyrannie 
parmi  la  noblesse,  la  corruption  dans  la  justice,  et  toutes  les  parties  de  ce 
grand  royaume  altere'es  par  la  debauche,  il  foudroyait  tout  cela  des  coups  de 
sa  tempete.  Tel  etait  l'etat  de  la  France  au  temps  que  notre  grand  monarque 
lui  fut  envoye  pour  la  sauver." 

^)  Declaratiou  du  16  mars  1595,  preambule:  „...les  vexations  auxquelies 
ont  ete  en  butte  les  laboureurs,  leur  ont  fait  quitter  et  abandonner  non  seule- 
ment  leur  labour  et  vaccation  ordinaire,  mais  aussi  leurs  maisons;  se  trouvant 
maintenant  les  fermes  censes  et  quasi  tous  les  villages  inhabitez  et  deserts." 


28 


kommen;  ein  anderer  Teil  hatte  sich  in  die  Städte  gezogen  und  dort 
zum  Wachstum  der  Armut  und  der  Krankheiten  beigetragen.  In  der 
Zeit  von  fünf  Wochen  starben  im  Jahr  1596  zu  Paris  im  Hotel  Dieu 
über  400  Personen  meist  vor  Erschöpfung  und  Hunger.^) 

Wie  der  Landbau,  lag  auch  die  Industrie  danieder.  In  der  ersten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  hatte  sie  einen  erfreulichen  Aufschwung 
genommen  und  neue  Quellen  des  Reichtums  eröffnet.  Tuchwebereien, 
Glas-  und  Lederfabriken  blühten  besonders.  Aber  die  Kriege  hatten  alles 
wieder  zerstört.  Provins  z.  B.,  ein  Städtchen  unweit  Paris,  hatte  früher 
1800  Webstühle  gehabt,  nach  dem  Krieg  gingen  keine  vier  mehr.  Von 
allen  Tuchfabriken  bereitete  nur  noch  eine  einzige,  zu  Eouen,  Tuch  von 
feinerer  Art.  Drei  Vierteile  aller  zur  Kleidung  nötigen  Gegenstände,  vom 
Hut  angefangen  bis  herab  zu  den  Schuhen,  mußten  aus  dem  Ausland 
bezogen  werden,  und  während  man  in  Paris  in  früheren  Jahren  bis  zu 
600  000  Stück  Tuch  alljährlich  gefärbt  hatte,  fand  man  jetzt  in  der- 
selben Zeit  kaum  ein  Sechstel  dieser  Bestellungen.^) 

Der  ganze  Staatsorganismus  war  in  Auflösung  begriffen.  Die  öffent- 
liche Schuld,  die  im  Jahr  1560  etwa  4o  Millionen  Livres  betragen  hatte, 
wurde  im  Jahr  1602  auf  die  für  jene  Zeiten  unerhörte  Summe  von  bei- 
läufig 300  Millionen  berechnet.  Nimmt  man  die  Livre  zu  2  •  7  Franken 
heutigen  Gelds,  so  stellt  sich  die  Schuldenmasse  auf  über  800  Millionen 
Pranken,  und  wenn  man  den  damaligen  Geldwert  in  Anschlag  bringt, 
auf  etwa  2 — 3  Milliarden.  Von  einer  jährlichen  Einnahme  von  25  Mil- 
lionen Livres  hatte  der  Staatsschatz  mehr  als  drei  Fünftel  an  Zinsen 
abzugeben.  Dabei  erlag  das  Volk  unter  der  Last  der  Abgaben,  so  daß 
es  ihm  selbst  bei  angestrengter  Arbeit  nicht  möglich  war.  ein  halbwegs 
erträgliches  Leben  zu  führen.  Heinrich  unternahm  es,  diese  Übelstände 
zu  beseitigen  und  die  drohende  Gefahr  völligen  Ruins  von  Prankreich 
abzuwenden.  Wie  ihm  dies,  von  seinem  treuen  Freund  Sully  unterstützt, 
gelang,  erzählt  die  Geschichte.  Durch  strenge  Maßregeln  wurde  Ordnung 
in  die  Finanzen  gebracht,  so  daß  die  Einkünfte  fast  auf  das  Doppelte 
stiegen,  obwohl  man  die  drückendsten  Steuern  ermäßigt  hatte.  Eine  Reihe 
von  Verordnungen  schützte  den  Landmann  und  ermutigte  ihn,  seine 
Arbeit  wieder  aufzunehmen.  Künftig  sollte  kein  Bauer  mehr  wegen 
Schulden  oder  rückständiger  Steuern  verhaftet,  seine  Tiere,  sein  Haus- 
und  Ackergerät  nicht  gepfändet  werden  dürfen.  Der  Handel  mit  Getreide 
und  Wein  wurde  freigegeben,  die  Ausfuhr  dadurch  belebt,  und  indem 
infolge  derselben  die  Preise  stiegen,  wuchs  der  Wohlstand  der  ländlichen 
Bevölkerung.  Frankreich  ist  ein  von  der  Natur  so  gesegnetes  Land, 
seine  Bevölkerung  ist  so  fleißig  und  anstellig,  daß  es  sich  auch  nach  den 
härtesten  Schlägen  rasch  erholt,  sobald  ihm  nur  einige  Jahre  friedlicher 
Arbeit  gegönnt  sind.  Das  zeigte  sich  auch  unter  Heinrich.  Die  Industrie 
neu  zu  beleben,  neue  Fabrikszweige  zu  begründen,  war  des  Königs  Haupt- 

1)  Lestoile,  Registres-journaux  de  Henri  IV,  p.  269  ff. 

2)  Siehe  Poirson,  Eist,  de  Henri  IV,  II.  Band,  p.  41,  wo  die  materielle 
Lage  Frankreichs  zur  damaligen  Zeit  sehr  eingehend  geschildert  wird.  \'ergl. 
auch  Martin,  Hist.  de  France,  XI,  p.  461. 


29 

sorge.  Er  berief  italienische  uud  holländisciie  Arbeiter,  ließ  Maulbeer- 
pflanzungen anlegen,  und  bald  war  die  Seidenindustrie  begründet,  die 
Weberei  wieder  in  Aufschwung.  Neue  Straßen,  Brücken.  Kanäle  erleich- 
terten den  Verkehr;  auf  den  Wasserstraßen  wurden  alle  Hemmungen 
beseitigt,  jede  drückende  Abgabe  aufgehoben.  Damals  auch  begannen 
die  ersten  Versuche,  in  den  Städten  eine  bessere  Gesundheitspolizei  ein- 
zuführen, durch  Beleuchtung  der  Straßen  denselben  größere  Sicherheit 
zur  Nachtzeit  zu  geben.  Auch  dachte  Heinrich  zuerst  an  eine  Kolonial- 
politik und  unternahm  es,  Kanada  zu  einer  französischen  Provinz  um- 
zuwandeln. Er  begünstigte  ferner  die  Bildung  einer  ostindischen  Handels- 
gesellschaft;  welche  den  Verkehr  mit  dem  fernen  Orient  beleben  wollte. 
Nicht  geringer  war  des  Königs  Sorgfalt  für  das  Heer,  das  er  mit  großen 
Kosten  in  eine  nationale  Armee  verwandelte,  sowie  er  auch  die  Festungen 
umbaute,  die  Galeerenflotte  vermehrte.  Für  alle  diese  großen  Unter- 
nehmungen fand  Sully  immer  Geld  in  der  Staatskasse,  und  konnte  trotz 
der  großen  Ausgaben  noch  viele  Millionen  im  Schatzamt  sammeln,  um 
der  Not  künftiger  Zeiten  vorzubeugen. 

Der  Erfolg  dieser  unablässigen  vielseitigen  Thätigkeit  entsprach 
denn  auch  den  Erwartungen.  Die  äußeren  Folgen  der  langen  Kriege 
waren  bald  verwischt,  Wohlstand  und  Ordnung  wieder  im  Lande  hei- 
misch. Der  Landmann  zumal  befand  sich  bald  in  besserer  Lage,  wenn 
auch  des  Königs  Wort  von  dem  Huhn,  das  jeder  Bauer  Sonntags  im 
Topf  haben  müsse,  noch  nicht  zur  Wahrheit  wurde.  Der  Zustand  der 
französischen  Landbevölkerung  war  wahrscheinlich  zur  Zeit  Heinrichs  IV. 
besser  und  menschenwürdiger  als  im  18.  Jahrhundert,  wo  sie  die  Folgen 
der  glorreichen  Regierung  des  vierzehnten  Ludwig  zu  ertragen  hatte, 
und  infolge  der  Nachlässigkeit  und  Verschwendung  der  folgenden  Re- 
genten immer  tiefer  ins  Elend  versank.') 

Wären  nur  auch  die  moralischen  Verwüstungen,  welche  der  dreißig- 
jährige Bürgerkrieg  im  Gefolge  gehabt  hatte,  so  leicht  und  so  erfolgreich 
zu  bekämpfen  gewesen  I 

Allein  es  war  ein  Geschlecht  erwachsen,  das  den  Segen  eines 
dauernden  Friedens  nicht  kannte,  das  alltäglich  Zeuge  gewesen  war  von 
Blutthat  und  Vergewaltigung,  das  im  Wirbel  der  Leidenschaften  das 
Gefühl  für  Recht  und  Unrecht,  Gutes  und  Böses  fast  verloren  hatte.  Hier 
konnte  nur  langsame  Besserung  erwartet  werden;  eine  neue  Generation 
konnte  unter  besseren  Umständen  vielleicht  wieder  kräftiger  werden, 
richtiger  und  strenger  denken,  edler  und  menschlicher  fühlen  lernen. 


1)  Man  vergleiche  die  Ausführungen  über  die  Lage  der  französischen 
Bauern  in  den  früheren  Jahrhunderten  in  Tocquevilles  Mei^^terwerk :  L'Ancien 
Eegime  et  la  Revolution.  Paris,  Levy,  1860.  4me  edit.,  chap.  XIL  —  C.  Dareste 
de  la  Charanne,  Histoire  des  classes  agricoles  en  France,  p.  472  fF.,  494  und  be- 
souders  p.  499.  Massillon  schrieb  als  Bischof  von  Clermont  im  Jahr  1740  au 
den  Kardinal  Fleury:  „Les  peuples  de  nos  campagues  vivent  dans  une  misere 
aifreuse,  sans  lit,  sans  meubles;  la  plupart  uieme,  la  moitie  de  Tanuee,  man- 
quent  du  pain  d'orge  ou  d'avoine  qui  fait  leur  unique  nourriture,  et  qu'ils  sont 
obliges  de  s'arracher  de  la  bouche  et  de  celle  de  leurs  enfants  pour  payers  leurs 
impositions." 


30 

König  Heinrich  selbst  gab  in  moralischer  Hinsicht  kein  gutes  Bei- 
spiel. Mit  Recht  gilt  er  noch  heute  als  der  beste  aller  französischen 
Herrscher,  und  Frankreich  ist  ihm  großen  Dank  schuldig.  Aber  er  gab 
doch  auch  zu  einer  Zeit,  wo  ein  Bild  sittlich  reinen  Lebens  auf  dem 
Thron  dringend  nötig  war,  das  Beispiel  großer  Sittenlosigkeit,  ja  er 
scheute  sich  in  seiner  sinnlichen  Leidenschaft  nicht,  dem  moralischen 
Gefühl  seines  Volkes  offen  Hohn  zu  sprechen.  Solche  Verirrungen  mögen 
bei  dem  am  Hof  Karls  IX.  und  Heinrichs  IH.  erwachsenen,  im  Feld- 
lager heimischen  Mann  wohl  erklärlich,  ja  selbst  entschuldbar  sein ;  man 
muß  nichtsdestoweniger  sagen,  daß  Heinrich  durch  sein  Beispiel  einen 
verderblichen  Einfluß  auf  den  französischen  Adel  und  somit  auf  sein  ganzes 
Volk  ausgeübt  hat.  Sein  feuriger  Sinn,  seine  Liebschaften,  seine  Flatter- 
haftigkeit sind  bekannt.  Am  längsten  fesselte  ihn  noch  die  schöne  Gabrielle 
d'Estrees,  deren  Tod  im  Jahr  1599  ihn  zwar  tief  erschütterte,  aber 
doch  nicht  hinderte,  kurze  Zeit  nachher  für  Henriette  d"Entragues  in 
Liebe  zu  erglühen.  Henriette,  die  später  zur  Marquise  de  Verneuil  er- 
hoben wurde,  schloß  mit  Heinrich  den  seltsamsten  Vertrag,  den  je  ein 
König  abgeschlossen  haben  mag.  Heinrich  hatte  gerade  damals  die  Schei- 
dung Ton  seiner  Gemahlin  Margarete  von  Valois  in  Rom  durchgesetzt. 
Daraufhin  verkaufte  sich  das  Fräulein  von  Entragues  an  den  König  für 
die  Summe  von  100  000  Thalern  und  ließ  sich  noch  außerdem  das 
schriftliche  Versprechen  geben,  daß  Heinrich  die  Ehe  mit  ihr  eingehen 
werde,  für  den  Fall,  daß  sie  ihm  binnen  einer  bestimmten  Frist  einen 
Sohn  schenke.  Trotz  dieses  Versprechens  und  während  Henriette  ein 
Kind  unter  dem  Herzen  trug,  verhandelte  der  König  in  Florenz  über 
seine  Vermählung  mit  Maria  von  Medici.  Zum  Glück  für  ihn  erfüllte 
seine  Geliebte  die  ihr  auferlegte  Bedingung  nicht,  und  Maria  zog  un- 
gehindert als  Königin  im  Louvre  ein.  Aber  Heinrich  löste  deshalb  sein 
Verhältnis  zur  Marquise  nicht.  Die  Favorite  hatte  ihre  Wohnung  im 
königlichen  Palast,  der  König  lebte  offen  wie  in  Bigamie  und  führte 
sozusagen  doppelte  Hofhaltung.')  Dabei  begnügte  er  sich  nicht  mit  seinen 
beiden  Frauen,  sondern  suchte  noch  andere  Abenteuer  nebenher,  sowie 
die  Königin  und  die  Marquise  sich  ebenfalls  mit  anderen  Liebhabern 
über  Heinrichs  Treulosigkeit  zu  trösten  wußten.  Es  kam  zu  den  derbsten 
Scenen  zwischen  König  und  Königin ;  die  Marquise  vergaß  sich  eines 
Tags  so  weit,  daß  sie  die  Hand  zum  Schlag  gegen  Heinrich  erhob. 
Kurz,   es  war  ein  öffentlicher  Skandal.    Ebenso  auffallend   benahm    sich 


1)  Siehe  das  neueste  Werk  über  Heinrich:  Berthold  Zeller,  „Henri  IV  et 
Marie  de  Medicis,  d'apres  des  documents  nouveaux  tires  des  archives  de  Florence 
et  de  Paris",  Paris  1877,  Didier  &  Cie.  Darin  wird  nach  dem  Bericht  eines 
Florentiner  Gesandten  von  der  peinlichen  Scene  erzählt,  in  welcher  der  König 
das  Fräulein  von  Entragues  seiner  jungen  Gemahlin  vorstellte.  (S.  99.)  „Le  roi 
dit  ä  la  reine:  Cette  femme  a  ete  ma  maitresse  et  veut  etre  aujourd'hui  votre 
humble  servante.  Tandis  qu'il  pronon9ait  ces  paroles,  Mademoiselle  d'Entragues 
prit  la  rohe  de  la  reine  et  flechit  le  genou  pour  la  baiser.  Le  roi,  trouvant 
qu'elle  ne  s'etait  pas  assez  inclinee,  lui  prit  la  main  et  la  tira  rudement  presque 

jusqu'ä  terre Le  roi  fit  diner  la  marquise    ä  la  table  de  la  reine  eu  eom- 

pagnie  des  princesses  qui  avaient  assiste  ä  l'entrevue." 


31 


Heinrich  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens,  als  er  sich  um  die  Gunst 
der  Prinzessin  Charlotte  von  Conde  bewarb  und  seinen  Hofpoeten  Mal- 
herbe zärtliche  Lieder  für  sie  dichten  ließ.  Als  Conde  seine  Gemahlin 
heimlich  nach  Belgien  brachte,  geriet  der  56  jährige  Monarch  außer  sich 
und  beschleunigte  den  Ausbruch  des  Kriegs  am  Rhein  vielleicht  nur 
deshalb,  weil  er  hoffte,  dabei  auf  irgend  eine  Weise  des  flüchtigen  Paars 
habhaft  zu  werden. 

Der  erste  Bourbon  war  in  diesem  Punkt  das  Vorbild  fast  aller 
seiner  Nachfolger,  zum  großen  Schaden  des  Landes.  Überlegt  man  ferner, 
daß  Heinrich  dreimal,  nicht  aus  Überzeugung,  sondern  aus  zumeist  persön- 
lichen oder  politischen  Gründen,  die  Religion  wechselte  und  damit  ein 
Beispiel  von  Gesinnungslosigkeit  gab,  so  mag  man  ermessen,  welchen 
Einfluß  er  auf  die  sittliche  Hebung  des  französischen  Volkes  ausüben 
konnte. 

So  sehen  wir  denn  auch  den  Adel  des  Landes  tief  in  Roheit  und 
Ausschweifung  versunken,  ein  trauriges  Vermächtnis  der  vergangenen 
Zeiten.  Während  aber  Heinrichs  Tugenden  bei  weitem  seine  Schwächen 
aufwogen,  konnte  der  hohe  Adel  sich  nicht  auf  seine  Verdienste  berufen, 
um  sein  wüstes  Leben  vergessen  zu  machen.  Da  er  besiegt  aus  dem 
großen  Kampf  hervorgegangen  war,  hatte  er  jeden  Halt  verloren  und 
erschlaffte  immer  mehr.  Er  hatte  die  politische  Stelle,  die  er  früher  inne 
gehabt,  eingebüßt,  und  in  dem  wilden  Treiben  der  letzten  Zeit  auch  die 
Kraft  schwinden  sehen,  sich  eine  neue  einflußreiche  Stellung  in  dem 
modernen  Staat  zu  erringen.  Sein  einziges  Ziel  war  nur  noch  ein  reicher 
Besitz,  Habsucht  die  Triebfeder  seiner  Handlungen.  Wenn  er  sich  zum 
Widerstand  gegen  die  Regierung  fortreißen  ließ,  ja  zur  Empörung  schritt, 
so  brachte  ihn  eine  Summe  Gelds  aus  dem  Staatsschatz  immer  bald  zur 
Unterwerfung.  Die  Geschichte  jener  Jahre  kennt  nur  wenige  ehrenvolle 
Ausnahmen. 

Die  politische  Unfähigkeit  des  Adels  zeigte  sich  noch  einmal  recht 
schlagend  bei  der  Versammlung  der  Reichsstände  im  Jahr  1614.  Dort 
standen  sich  Klerus  und  dritter  Stand  gegenüber,  und  der  Adel  hätte 
leicht  eine  dominierende  Stellung  einnehmen,  mit  einem  Mal  das  alte 
politische  Ansehen  wieder  erlangen  können.  Statt  dessen  ließ  er  sich  von 
der  Geistlichkeit  ins  Schlepptau  nehmen  und  dankte  als  politischer  Paktor 
immer  mehr  ab.  Der  spätere  Krieg  der  Fronde  ändert  nichts  an  diesem 
Urteil.  Damals,  wie  schon  früher,  leitete  den  hohen  Adel  kein  Princip, 
sondern  nackter  Egoismus. 

Der  lange  Krieg  mit  seinem  Blutvergießen  hatte  die  Gemüter  ver- 
wildert, die  Menschen  an  rasche  Gewaltthat  gewöhnt.  Sein  Leben  aufs 
Spiel  setzen,  in  wildem  Streit  die  Waffen  kreuzen,  galt  der  ruhelosen 
vornehmen  Jugend  als  Unterhaltung.  Galante  Abenteuer  oder  Ehren- 
händel waren  ihre  einzige  Beschäftigung,  sobald  der  Krieg  sie  nicht  mehr 
rief.  Der  Begriff  der  Ehre  gestaltet  sich  in  solchen  Zeiten  gar  sonderbar. 
Der  Raufbold  war  der  Held  des  Tags,  der  Liebling  der  Damen.  Kein 
Tag  verging,  ohne  daß  nicht  ein  oder  mehrere  Duelle,  oft  mit  tödlichem 


32 


Ausgang,  stattgefunden  hätten.')  Die  meisten  vornehmen  Familien  waren 
in  Trauer  und  die  Duellsucht  wurde  zur  wahren  Krankheit.  Griffen  doch 
selbst  die  Sekundanten  zu  den  Waffen  und  fochten  miteinander,  um 
nicht  iinthätig  dem  Kampf  zusehen  zu  müssen.  Im  Jahr  1607  berech- 
nete man,  daß  seit  Heinrichs  Thronbesteigung  etwa  4000  Edelleute  im 
Duell  gefallen  waren;  die  Zweikämpfe,  die  nur  mit  Verwundungen  ge- 
endet hatten,  waren  nicht  zu  zählen.  Heinrich  hatte  schon  1602  das 
Duell  bei  Todesstrafe  verboten,  allein  die  schwere  Strafandrohung  hatte 
nichts  genützt,  da  man  sich  nicht  entschließen  mochte,  sie  auszuführen. 
Das  Übel  stieg  indessen  fortwährend,  und  ein  neues  königliches  Edikt 
vom  Jahr  1609  bestimmte,  daß  bei  Ehrenhändeln  die  Streitenden  sich  an 
den  König  oder  dessen  Stellvertreter  zu  wenden  hätten.  Dieser  würde 
alsdann  entscheiden,  ob  ein  Zweikampf  nötig  wäre  oder  nicht.  Der  Be- 
leidiger wurde  mit  schwerer  Geldbuße  bedroht;  wer  sich  aber  gegen  den 
Willen  des  Königs  schlage  und  seinen  Gegner  töte,  solle  das  Leben 
und  ein  ehrliches  Begräbnis  verwirkt  haben.  Diese  Strenge  half  wohl 
ein  wenig,  zumal  Heinrich  an  zwei  Duellanten  seiner  Leibgarde  ein 
strenges  Exempel  statuieren  ließ.  Aber  bald  erwachte  die  Duellwut  von 
neuem,  und  wir  werden  sehen,  daß  sowohl  Richelieu,  als  auch  Anna 
von  Österreich  und  Ludwig  XIV".  gegen  dieselbe  kämpfen  mußten. 

Vom  frevelhaft  herbeigeführten  Duell  bis  zum  überdachten  Mord- 
anfall ist  nur  ein  Schritt.  In  der  That  hörte  man  damals  fortwährend 
von  Hinterhalt  und  Meuchelmord  aller  Art.  Nach  der  Ermordung 
Heinrichs  IV.  wurde  darum  auch  der  Verdacht  laut  ausgesprochen,  daß 
Ravaillac  von  sehr  hoher  Seite  zu  seiner  grausen  That  angestiftet 
worden  sei. 

Ebenso  bezeichnend  für  die  Sitten  jener  Zeit  ist  es,  daß  sich  Edel- 
leute ohne  Scham  ihren  Gönnern  als  Werkzeuge  zu  einer  Mordthat  an- 
bieten konnten.  Der  hochmütige  Günstling  der  Regentin  Maria,  der 
Marquis  d'Ancre,  wagte  eines  Tags,  den  Prinzen  von  Conde,  seinen 
Gegner,  in  dessen  Palast  aufzusuchen.  Conde  hatte  gerade  eine  Anzahl 
ihm  ergebener  Edelleute  bei  sich  zur  Tafel,  und  konnte  dieselben  nur 
mit  Mühe  davon  zurückhalten,  die  gute  Gelegenheit  zu  benutzen  und  den 


1)  In  einem  satirischen  Werk  aus  der  Zeit  Ludwigs  XIII.,  dem  „Baron 
Faeneste"  von  d'Aubigne,  wird  über  das  Duell  viel  geredet.  Unter  anderm  wird 
dort  erklärt,  was  man  bei  Hof  unter  „Raffines"  versteht.  Das  sind  die  berühm- 
testen Duellisten,  Leute,  welche  sich  wegen  eines  Augenzwinkerns,  eines  zu  leicht 
erwiderten  Grußes  schlagen,  die  sich  tödlich  beleidigt  glauben,  wenn  man  ihren 
Mantel  streift  oder  neben  ihnen  ausspeit.  Ein  solcher  „ßaftine"  schlägt  sich, 
auch  wenn  er  erkannt  hat,  daß  man  ihn  nicht  hat  beleidigen  wollen.  Der  Baron 
Faeneste  erzählt  von  zwei  Edelleuten,  die  sich  begegnet  seien,  wobei  der  eine 
alsbald  den  andern  gefordert  habe.  Auf  dem  Kampfplatz  angekommen,  habe  der 
Beleidiger  gefragt:  „Sind  Sie  nicht  der  und  der  aus  der  AuvergneV"  „Bewahre," 
habe  der  andere  erwidert,  „ich  bin  aus  der  Dauphine  und  heiße  so  und  so." 
„Aber  sie  seien  doch  einmal  auf  dem  Platz  gewesen,  so  habe  Ihre  Ehre  es  er- 
fordert, zu  kämpfen!"  —  und  sie  hätten  sich  gegenseitig  getötet. 

D'Aubigne,  „Faeneste",  Teil  I,  Kap.  9,  S.  42,  ed.  Merimee. 

Über  d'Aubigne  und  den  „Baron  Faeneste"  siehe  Abschnitt  IV  dieses 
Bands. 


33 


Marquis  niederzumachen.  Bald  darauf  fiel  derselbe  unter  den  Kugeln  der 
von  Ludwig  XIII.  bestellten  Mörder. 

Nur  langsam  konnte  sicji  ein  solcher  Zustand  bessern.  Der  Fort- 
schritt der  friedlichen  Arbeit,  die  Verbreitung  der  Kultur,  das  Auf- 
blühen der  Wissenschaften  bannten  allmählich  den  bösen  Geist.  Die 
höheren  Kreise  fanden  mit  der  Zeit  Geschmack  an  einem  feineren,  ge- 
selligen, geistig  anregenden  Leben,  und  auch  die  schönen  Künste  übten 
ihren  sittigenden  Einfluß. 

Wol  wäre  es  zunächst  Sache  des  Hofes  gewesen,  diese  edlere 
Geselligkeit  zu  begründen.  Aber  dazu  war  weder  Heinrich  noch  die 
schwerfällige  Medicäerin  geschaffen.  Heinrich  liebte  den  einfachen,  derben 
Ton,  wie  ihn  das  Feldlager  lehrt,  und  wenn  er  auch  Wissenschaft  und 
Kunst  ehrte,  deren  Vertreter  schützte  und  belohnte,  so  mochte  er  selbst 
nicht  viel  davon  wissen.  Ein  frecher  Witz,  ein  derber  Spaß  fanden  alle- 
zeit gute  Aufnahme  bei  ihm.  Ein  beliebter  Possenreißer  jener  Zeit, 
Gros-Guillaume,  wurde  öfters  mit  seinen  Gefährten  in  den  königlichen 
Palast  berufen,  um  Heinrich  zu  erheitern.  Gros-Guillaume  mußte  ihm 
unter  anderm  eine  sehr  drollige  Scene  vorspielen,  in  welcher  die  Gas- 
cogner  verspottet  wurden.  Heinrich  lachte  sich  herzlich  über  die  Posse 
aus,  die  ihn  doch  verspottete,  und  machte  sich  eines  Tags  das  Vergnügen, 
bei  einer  solchen  Vorstellung  den  Marschall  Eoquelaure,  auch  einen  Gas- 
cogner,  auf  seinem  Schoß  zu  halten  und  sich  an  dessen  Ärger  über  die 
frechen  Ausfälle  der  Komödianten  zu  ergötzen.')  Zeigt  sich  Heinrich 
hier  auch  von  seiner  gemütlichen  Seite,  so  sieht  man  doch,  daß  er  für 
die  Beförderung  einer  feineren  Geselligkeit  nicht  geeignet  war,  selbst 
wenn  sein  Privatleben  eine  weniger  tiefe  Störung  erlitten  hätte.  Auch 
sein  Sohn,  Ludwig  XIII.,  war  nicht  dazu  geschaffen,  und  der  Hof  bildete 
keineswegs  den  Mittelpunkt  der  Gesellschaft,  wie  dies  allerdings  später 
der  Fall  war.  Zur  Zeit  Ludwigs  XIII.  fand  sich  vielmehr  die  höhere 
Geselligkeit  hauptsächlich  in  den  Salons  einer  feinen  Dame,  der  Marquise 
von  Eambouillet,  von  deren  Verdienst  später  die  Kede  sein  wird. 

Spanien  und  Italien  hatten  damals  fast  gleich  starken  Einfluß  auf 
die  Entwicklung  des  französischen  Volkes.  Das  italienische  Element  hatte 
schon  seit  Ludwig  XII.  und  Franz  I.  an  Boden  gewonnen,  und  mit 
Katharina  von  Medici  war  auch  die  italienische  Verderbtheit  über  die 
Alpen  gezogen.  Aber  auch  Spanien  war  immer  mehr  hervorgetreten. 
Man  blickte  in  Frankreich  auf  das  Nachbarland  als  auf  eine  weltgebie- 
tende Macht,  die  einen  mit  Vorliebe,  die  anderen  mit  Abscheu,  je  nach 
dem  politischen  und  religiösen  Standpunkt.  Aber  während  der  Politiker 
in  der  spanischen  Diplomatie  das  unübertroffene  Muster  von  Feinheit 
und  Kraft  erkannt,  der  Kriegsmann  die  spanischen  Armeen  wegen  ihrer 

1)  Tallemant  des  Reaux,  Historiettes,  3™e  ed.  par  M.  M.  Monmerque  & 
Paiilin,  Paris.  Paris,  Techener  1854.  Band  I,  S.  38:  „üne  autre  fois,  le  roy  le 
tenait  entre  ses  jambes  tandis  qu'ii  faisait  jouer  ä  Gros-Guillaume  la  farce  du 
Gentilhomme  gascon.  A  tout  beut  de  champ,  pour  divertir  son  maitre,  le  Ma- 
reschal  faisoit  semblant  de  se  vouloir  levei-  pour  aller  battre  Gros-Guillaume. 
et  Gros-Guillaume  disait:  „Cousis,  ne  bous  fachez." 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Lilteratur.  o 


34 


Disciplin  und  vollendeten  Kriegskunst  bewunderte,  während  selbst  die 
Hoftracht,  trotz  der  Feindschaft  der  beiden  Länder,  spanisch  wurde,  und 
eine  Menge  spanischer  Ausdrücke  sich  in  die  Sprache  der  Waffenkundigen 
einschlich,  drang  die  milde  Sprache  Italiens  und  seine  Dichtung  mit 
ihren  weichen  Rhythmen  unwiderstehlich  über  die  Alpen  vor.  Die  italie- 
nische Litteratur  befand  sich  damals  auf  einem  bedauerlichen  Irrweg, 
sie  war  süßlich  und  verziert.  Aber  gerade  diese  Eigenschaft  bahnte -ihr 
um  so  schneller  den  Weg  zu  den  Nachbarn,  die  aus  den  Greueln  des 
Kriegs  sich  retteten,  und  aufatmend  nach  wahrem  Frieden  und  nach 
Milde  und  Gesittung  sich  sehnten.  Zudem  finden  halbgebildete  Nationen 
immer  am  meisten  Gefallen  an  der  Unnatur  solcher  gekünstelten  Dich- 
tungen. 

Maria  von  Medici  brachte  italienische  Sprache,  italienische  Sitte 
und  Mode  völlig  zur  Herrschaft  am  Pariser  Hof;  die  beste  italienische 
Schauspielertruppe  ließ  sich  für  mehrere  Jahre  in  Paris  nieder,  sowie 
sich  auch  im  Gefolge  Marias  der  Dichter  Kinuccini  befand,  der  sich 
durch  seine  prachtvollen,  im  Geschmack  der  Zeit  antikisierenden  Opern 
„Daphne",   ,.Eurydice",   „Arethusa"  u.  a.  m.  einen  Namen  gemacht  hatte. 

Es  gehört  mit  zu  den  charakteristischen  Zeichen  der  französischen 
Entwicklung  im  17.  Jahrhundert,  daß  gerade  in  den  Zeiten  nach  den 
Keligionskriegen  der  geistliche  Stand  umso  rascher  an  Macht  und  Bedeu- 
tung gewann,  je  schneller  der  Adel  sank.  Kichelieu  und  Mazariu  waren 
die  leitenden  Staatsmänner  während  eines  Zeitraums  von  über  40  Jahren. 
Im  16.  Jahrhundert  vielfach  verwildert  und  seinem  geistlichen  Beruf 
häufig  ganz  entfremdet,  zeigt  sich  der  Klerus  schon  unter  Heinrich  IV. 
von  ernsterem  Geist  beseelt  und  in  würdigerer  Haltung.  Der  König  ließ 
bei  der  Besetzung  erledigter  Bischofsitze  größere  Vorsicht  walten,  und 
bahnte  so  eine  heilsame  Reform  von  oben  an.  Auch  lud  er  den  berühmten 
Bischof  von  Genf,  Franz  von  Sales,  zur  Predigt  nach  Paris  ein,  und 
stellte  ihn  somit  seinem  Klerus  gewissermaßen  als  Vorbild  auf.  Die 
Kanzelberedsamkeit  gewann  an  Inhalt  und  Form.  Schon  nannte  man 
als  tüchtige  Redner  de  Besse  und  den  1608  zum  Hofprediger  er- 
nannten Valladier.  Der  Bischof  von  Montpellier,  Fenoillet,  stütze  sich 
in  seinen  Predigten  zuerst  wieder  auf  das  Evangelium,  und  lehrte  jene 
Art  geistlicher  Beredsamkeit,  welche  20  Jahre  später  von  Jean  de 
Lingendes  und  dem  geistvollen  Jesuiten  Timoleon  Cheminais  ausgebildet, 
in  der  letzten  Hälfte  des  Jahrhunderts  von  den  Meistern  des  Worts, 
von  Flechier,  Bourdaloue,  Bossuet  und  Fenelon,  zur  Vollendung  geführt 
werden  sollte. 

Der  dritte  Stand  endlich  trat  unter  der  Regierung  Heinrichs  und 
Ludwigs  XIII.,  wie  schon  gesagt,  kaum  hervor.  Aus  seinen  Reihen 
ergänzte  sich  zwar  der  größte  Teil  der  Verwaltungsbeamten,  selbst  der 
Richterstand;  denn  der  sogenannte  Gerichtsadel  entstammte  doch  haupt- 
sächlich dem  Bürgertum,  sowie  auch  die  Gelehrten,  die  große  Mehrzahl 
der  Dichter  und  Schriftsteller  bürgerlicher  Abkunft  waren.  Aber  der 
dritte  Stand  als  solcher  bedurfte  nach  den  schweren  Schlägen  des  kaum 
beendigten  Jahrhunderts    noch    einer   langen  inneren  Arbeit,    bevor    er 


35 


wieder  zur  Geltung  kam.  Politisch  hatte  er  für  lange  Zeit  abgedankt. 
Selbst  auf  der  Versammlung  der  Reichsstände  im  Jahr  1614  war  der 
dritte  Stand  fast  nur  durch  Eechtsgelehrte  und  Advokaten  vertreten, 
während  sich  das  eigentliche  Bürgertum,  das  früher  kräftigen  Anteil  am 
politischen  Leben  genommen  hatte,  nun  ganz  verdrängt  sah. 

Will  man  das  Privatleben  des  Pariser  Bürgertums  in  treuem  Abbild 
kennen  lernen  und  den  Geist  erforschen,  der  es  im  ersten  Drittel  des 
17.  Jahrhunderts  beseelte,  so  nehme  man  die  „Plaudereien  der  Wöch- 
nerin" zur  Hand.  Es  ist  dies  eine  Sammlung  von  Satiren,  die  das  wohl- 
habende Bürgertum  jener  Zeit  in  seinem  Thun  und  Denken  zeichnet. 

Nach  einer  von  alters  her  üblichen  Sitte  empfing  damals  jede 
Wöchnerin,  festlich  aufgeputzt  in  ihrem  Bett,  die  Damen  ihrer  Bekannt- 
schaft. Die  ganze  Wohnung  wurde  dazu  aufs  reichste  geschmückt,  und 
eine  Tafel  mit  Speisen  und  Getränken  stand  für  die  Gäste  bereit.  Diese 
Besuche  dauerten  in  wohlhabenden  Häusern  mehrere  Tage  und  veran- 
laßten  oft  bedeutenden  Aufwand,  reizten  aber  auch  von  jeher  die  Spott- 
lust der  Satiriker. 

Der  unbekannte  Verfasser  der  „Plaudereien"  erzählt  in  der  Ein- 
leitung, wie  er  nach  schwerer  Krankheit  wegen  völliger  Herstellung  seiner 
Gesundheit  zwei  Ärzte  um  Eat  befragt  habe.  Der  eine  derselben  habe 
ihm  die  Landluft  empfohlen,  der  andere  aber  heiteres  Lachen  als  das  beste 
Heilmittel  erklärt.  Er  solle  deshalb  recht  oft  das  Theater  besuchen  oder 
sich  eine  Komödie  im  wirklichen  Leben  vorspielen  lassen.  Vielleicht  sei 
eine  Dame  seiner  Verwandtschaft  gerade  in  die  Wochen  gekommen  und 
empfange  den  Besuch  ihrer  Bekannten.  An  diese  Dame  möge  er  sich 
wenden  und  sie  bitten,  ihn  ungesehen  das  Geplauder  der  Besucherinnen 
zuhören  zu  lassen.  Dieser  letztere  Rat  habe  ihm  am  besten  gefallen; 
er  habe  seine  Bitte  geeigneten  Orts  vorgetragen  und  sie  gewährt  ge- 
sehen. Darauf  teilt  er  nun  die  Unterhaltungen  mit,  die  er  an  acht 
verschiedenen  Tagen  in  seinem  Versteck  gehört  und  aufgezeichnet  hat. 
Zu  diesen  Plaudereien  finden  sich  Frauen  jeglicher  Lebensstellung  ein, 
vornehme  und  geringe,  reiche  und  arme,  alte  und  junge,  fromme  und 
lebenslustige;  Frauen  von  Kaufleuten,  Advokaten,  Notaren,  Räten, 
Eechnungsbeamten  und  Buchhändlern;  gut  katholische  Frauen  und  Huge- 
nottinnen, selbst  die  Marquise  von  Verneuil  wird  einen  Moment  unter 
den  Besucherinnen  gesehen.  Damit  ist  nun  Gelegenheit  geboten,  die  ver- 
schiedensten Verhältnisse  zu  berühren.  Das  Zünglein  der  Damen  arbeitet 
Ott  in  unbarmherziger  Weise,  und  besonders  sind  es  die  Gerichtsbeamten, 
die  Advokaten,  die  wucherischen  Finanzleute,  welche  übel  dabei  weg- 
kommen. Auch  die  Frauenwelt  wird  nicht  geschont,  und  manches  Ge- 
ständnis gewagt,  da  man  sich  unbelauscht  glaubt.  Zwischen  den  bos- 
haften Klatschereien  und  dem  nichtssagenden  Neuigkeitskram  werden  ab- 
wechselnd auch  einmal  Vorfälle  der  Politik  und  Fragen  der  Religion 
behandelt,  wenn  auch  nur  vorübergehend,  und  immer,  dem  Charakter 
der  Sprechenden  gemäß,  mehr  in  persönlicher  als  in  allgemeiner  Weise. 
Nur  einmal  erhebt  sich  eine  Alte  aus  dem  Bürgerstand  zu  einem  schwang- 
vollen Angriff  gegen  die  Reformierten,    welche    den  Bürgerkrieg    wieder 


36 


zu  entzimden  sich  nicht  scheuten,  obwohl  sie  volle  Freiheit  des  Glaubens 
erhalten  hätten.  Nur  von  Kunst  und  Poesie  ist  niemals  die  Rede,  und 
doch  feierte  man  damals  Malherbe  als  großen  Dichter,  doch  begeisterte 
man  sich  für  d'ürfes  Roman  „Asträa",  doch  waren  Sprache  und  Litte- 
ratur  in  rascher  Entwicklung  begriffen.  Aber  alle  diese  Genüsse  waren 
noch  Vorrecht  der  hohen  aristokratischen  Klassen.  Der  Kreis,  der  sich 
um  die  Wöchnerin  bildet  und  lebhaft,  frisch  darauf  losplaudert,  aber 
nur  einen  engen  Gesichtskreis  hat,  bildet  den  geraden  Gegensatz  zu  den 
vornehmen,  nach  geistiger  und  litterarischer  Bedeutung  strebenden,  oft 
aber  auch  pedantisch-langweiligen  Gesellschaften,  die  um  jene  Zeit  in 
Mode  kamen:  ein  Gegensatz,  den  der  Verfasser  der  „Plaudereien"  viel- 
leicht absichtlich  gesucht  hat.*) 


Das  geistige  Leben. 

Daß  sich  ein  Volk  nach  einer  Periode  der  Trübsal  und  schwerer 
Heimsuchungen  zu  besonderer  Thätigkeit  aufschwingt,  sobald  es  wieder  in 
Ruhe  aufatmen  kann,  ist  eine  häufig  beobachtete  Thatsache.  Auch  in 
Frankreich  heilte  nach  dem  wiedergewonnenen  Frieden  der  materielle 
Aufschwung  die  schlimmsten  Wunden,  die  der  Krieg  dem  Volkswohl- 
stand geschlagen  hatte,  in  kurzer  Zeit.  Aber  auch  auf  dem  geistigen 
Gebiet  entwickelte  sich  ebenfalls  eine  nicht  unbedeutende  Bewegung. 

Das  geistige  Leben  war  auch  während  der  Bürgerkriege  nicht 
völlig  im  Land  erloschen;  es  hatte  sich  nur  auf  engere  Kreise  zurück- 
gezogen. Während  draußen  der  Kampf  wütete,  fand  die  Wissenschaft 
immer  noch  ihre  Stätte  in  dem  friedlich  stillen  Gemach  einiger  Gelehrter. 
Doch  war  sehr  viel  verloren  gegangen,  und  was  Heinrich  IV.  für  die 
Stärkung  des  geistigen  Lebens  that,  zeigte  sich  mehr  in  der  Wiederauf- 
richtung dessen,   was  früher  bestanden  hatte,  als  in  neuen  Schöpfungen. 

Er  selbst  hatte  kein  großes  persönliches  Interesse  an  den  Werken 
des  Geistes,  soweit  Wissenschaft  und  Poesie  sie  zeitigten;  sein  Geschick 
hatte  ihn  von  Jugend  an  Bahnen  geführt,  die  weit  davon  ablagen.  Allein 
er  war  zu  einsichtig,  um  nicht  den  Wert  der  geistigen  Arbeit  zu  schätzen 
und  ihren  Einfluß  auf  die  Größe  und  Macht  einer  Xation  zu  verkennen. 
So  that  er  sein  Möglichstes  zur  Hebung  und  Belebung  der  wissenschaft- 
lichen Arbeit,    ermunterte  und  belohnte  auch,    wenn  schon  im  minderen 


^)  »Les  caquets  de  raccouchee".  Die  ersten  vier  „Plaudereien"  erschienen 
1622,  jede  für  sich  als  kleine  Broschüre  gedruckt,  in  8°  von  24  oder  32  Seiten. 
Die  Satire  dieser  ersten  Stücke  ist  jedenfalls  am  schärfsten.  Die  folgenden 
„Tage"  rühren  wahrscheinlich  von  anderer  Hand  her.  Im  Jahr  1(323  wurden 
acht  Stücke  zu  einem  „Recueil  general  des  caquets  de  raccouchee"  vereinigt. 
(200  Seiten.)  Die  Satire  fand  großen  Absatz  und  wurde  in  den  folgenden  Jahren 
noch  mehrmals  aufgelegt.  Ein  neuerer  Abdruck  erschien  1845  zu  Metz,  und  ein 
zweiter,  bearbeitet  von  Ed.  Fournier,  mit  einer  Einleitung  von  Le  Roux  de  Lincy, 
in  der  Bibliotheque  Eizevirienne  (Paris,  Jannet,  1855). 


Maß,  die  neu  erwachende  Litteratur.  Die  Stimmung  des  Volkes  kam  ihm 
bei  diesem  Streben  zu  Hilfe;  es  regte  sich  überall  der  Eifer,  Neues  zu 
schaffen,  Fehlerhaftes  zu  bessern,  kurz:  nachzuholen,  was  während  so 
vieler  Jahre  versäumt  worden  war. 

In  diesem  Sinn  hatte  Heinrich  schon  1595  eine  Reform  der  Unter- 
richtsanstalten angeordnet.  Dachte  man  auch  nicht  an  eine  von  Grund 
aus  zu  ändernde  Ordnung  des  Unterrichtswesens,  so  war  doch  viel  zu 
thun,  wollte  man  nur  eine  Reihe  von  Mißbräuchen,  die  sich  allmählich 
eingeschlichen  hatten,  beseitigen.  Zunächst  galt  es,  eine  Neuorganisation 
der  Pariser  Universität  durchzuführen,  da  diese  den  Mittelpunkt  alles 
öffentlichen  Unterrichts  in  Prankreich  bildete,  und  während  der  Unruhen 
der  Ligue  außerordentlich  gelitten  hatte.  Eine  königliche  Kommission, 
in  welcher  unter  anderen  Achille  de  Harlay  und  der  berühmte  Geschicht- 
schreiber de  Thou  saßen,  arbeitete  in  mehrjährigen  sorgfältigen  Beratungen 
die  neuen  Ordnungen  aus,  die  dann  im  Jahr  1600  mit  Bewilligung  des 
Parlaments  veröffentlicht  wurden.  Das  Wesen  der  Universität,  wie  es 
sich  im  Lauf  des  Mittelalters  ausgebildet  hatte,  war  in  denselben  bewahrt, 
und  der  Geist  der  neuen  Zeit  offenbarte  sich  nur  in  einzelnen  Bestim- 
mungen. So  zeigt  sich  deutlich  das  Streben,  die  Universität  unabhängig 
von  Rom  hinzustellen.  Die  Ordensgeistlichkeit,  welche  das  gehorsamste 
Werkzeug  des  Papstes  war,  sollte  fürderhin  nur  eine  beschränkte  Anzahl 
von  Lizentiaten-Diplomen  erwerben  können.  Denn  diese  berechtigten  zur 
Erteilung  des  höheren  Unterrichts  und  eröffneten  den  Weg  zu  den  hohen 
Kirchen  würden.  Durch  jene  Maßregel  wollte  man  den  weltlichen  Klerus 
gegen  das  Vordringen  der  Mönche  schützen.  Zudem  sollte  jeder,  der 
einen  akademischen  Grad  erlangen  wollte,  zuvor  geloben,  die  Gesetze  des 
Landes  zu  befolgen,  dem  König  und  der  Obrigkeit  zu  gehorchen.  Die 
Freiheit  der  gallikanischen  Kirche  wurde  somit  aufs  neue  befestigt. 

Das  College  de  France  war  während  des  Kriegs  vollständig  auf- 
gelöst worden  und  seine  Professoren  hatten  sich  zerstreut.  Heinrich 
berief  sie  wieder  zu  ihrer  früheren  Thätigkeit,  sicherte  ihre  Stellung 
und  ließ  zur  Erleichterung  der  Studien  die  reichhaltige  königliche  Bücher- 
sammlung, die  bis  dahin  in  Fontainebleau  stand,  nach  Paris  bringen, 
wo  sie  zur  öffentlichen  Benutzung  freigegeben  wurde.  (1595.) 

An  diese  heilsamen  Maßregeln  schloß  sich  die  Reform  der  Mittel- 
schulen, in  welchen  wieder  auf  das  Studium  der  klassischen  Schriftsteller 
zurückgegriffen  wurde.  Die  früher  gebrauchten,  in  barbarischem  Latein 
geschriebenen  Lehrbücher  wurden  verdrängt,  und  diese  Rückkehr  zu  den 
wahren  Quellen  der  Bildung  und  des  Geschmacks  mußte  die  wichtigsten 
Folgen  für  die  Ausbildung  der  Muttersprache  haben. 

So  drängte  am  Schluß  des  16.  Jahrhunderts  alles  zu  einem  ein- 
zigen großen  Ziele  hin. 

Noch  war  freilich  viel  zu  thun.  Der  Fortschritt,  zumal  in  den 
exakten  Wissenschaften,  war  langsam.  Bacon  von  Verulam  war  mit 
seiner  großen  That,  welche  eine  gänzliche  Umwälzung  in  der  Behandlung 
der  Naturwissenschaften  heiboiführte.  noch  nicht  hervorgetreten.     Noch 


38 

hatte  er  die  neue  Ära  des  Wissens  und  Denkens  nicht  begründet,  noch 
hatte  er  nicht  die  sorgfältige  Beobachtung,  das  Experiment,  an  die  Stelle 
phantasiereicher  Spekulation  gesetzt.  Immerhin  aber  hatte  sich  Franyois 
Viet  durch  Anwendung  der  Buchstabenrechnung  in  der  Algebra  und 
Geometrie  ein  großes  Verdienst  erworben.')  Neben  ihm  mögen  noch 
Eiolan  Vater  und  Sohn  genannt  werden.  Von  ihnen  machte  sich  der 
letztere,  der  seit  1604  Professor  der  Anatomie  und  Botanik  am  College 
de  France  war,  durch  vielfache  Secierungen  des  menschlichen  Körpers 
in  der  Geschichte  der  Anatomie  einen  Xamen.  In  der  Botanik  arbeitete 
besonders  Kicher  du  Belleval,  welcher  auch  im  Auftrag  des  Königs  nach 
italienischen  Vorbildern  den  ersten  botanischen  Garten  Frankreichs,  den 
zu  Montpellier,  anlegte.  Auch  Olivier  de  Serres  verdient  hier  erwähnt 
zu  werden,  denn  sein  Werk:  „Theatre  d'agriculture''  war  lange  hoch- 
geschätzt   und  trug  seiner  Zeit  viel  zur  Hebung  der  Landwirtschaft  bei. 

Ungleich  bedeutender  waren  die  Erfolge,  welche  während  der  Regie- 
rungszeit Heinrichs  auf  dem  Gebiet  der  Sprachwissenschaft  erzielt  wurden. 
Zwar  war  die  Zeit  der  großen  philologischen  Gelehrsamkeit  mit  dem 
16.  Jahrhundert  zu  Ende  gegangen,  allein  die  Tradition  lebte  doch  noch 
lebendig  fort.  Josef  Scaliger  (1540 — 1609)  gehörte  sogar  noch  zur  großen 
Schule;  aber  auch  Männer  wie  Casaubonus  (1559 — 1615)  und  Salmasius 
(1588 — 1658)  hielten  die  ihnen  überlieferte  Wissenschaft  aufrecht.  Der 
eigentliche  Fortschritt  zeigte  sich  dagegen  hauptsächlich  in  der  Behand- 
lung der  französischen  Sprache.  Die  Übersetzungen  klassischer  Autorea 
beweisen  dies  deutlich.  Du  Vair,  Mitglied  des  Pariser  Parlaments,  ein 
feingebildeter  Mann,  übertrug  mit  Glück  einige  der  berühmtesten  Reden 
des  Demosthenes  und  des  Cicero,  um  seinen  Landsleuten,  und  mehr  noch 
seinen  Berufsgenossen,  ein  Muster  gerichtlicher  Beredsamkeit  zu  geben. 
Er  selbst  hatte  sich  bei  der  Versammlung  der  liguistischen  Reichsstände 
in  Paris  als  Redner  voll  Kraft  und  Schwung  erwiesen,  und  seine  theore- 
tischen Ausführungen,  die  er  in  einem  Werk  über  die  Beredsamkeit  nieder- 
legte, waren  verständig  und  klar.  Auch  Malherbe  gab  zVei  wichtige 
Übersetzungen,  auf  welche  wir  später  noch  zurückkommen  werden. 

Alle  diese  Übersetzungen  waren  eine  Frucht  der  großen  und  nach- 
haltigen Bewegung,  welche  die  weitere  Ausbildung  und  Vervollkommnung 
der  französischen  Sprache  zum  Ziele  hatte.  Seit  du  Bellays  Schrift:  „Von 
dem  Adel  der  französischen  Sprache''  hatte  sich  das  Interesse  an  der 
Muttersprache  in  immer  weiteren  Kreisen  verbreitet,  hatte  sich  gesteigert 
und  endlich  auch  die  Beachtung  und  Hilfe  der  Sprachgelehrten  gefunden. 
Wie  Henricus  Stephauus  mit  seinem  griechischen  Wörterbuch  den  klassi- 
schen Studien  eine  neue  Grundlage  gegeben  hatte,  so  arbeitete  der  ge- 
lehrte Nicot  sein  französisches  Wörterbuch  aus,  welches  das  erste  seiner 
Art  war,  wenn  man  von  einem  früheren  sehr  schwachen  Versuch  voa 
Ranconnet  absieht.  Die  Stiftung  der  Florentiner  Akademie  della  Crusca, 
welche  ein  Wörterbuch  der  italienischen  Sprache  ausarbeitete,  mag  Nicot 

^)  Sein  „Canon  raathematicus"  erschien  zu  Paris  1579;  Viet  selbst  starb 
im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts. 


39 


die  erste  Anregung  zu  seiner  Arbeit  gegeben  haben,  obwohl  das  Be- 
streben, die  Muttersprache  durch  bestimmte  Eegeln  zu  festigen,  bei  jedem 
Volk  sich  von  selbst  einstellen  wird,  sobald  es  eine  gewisse  Stufe  der 
Bildung  erreicht  hat.  Nicots  Leben  fällt  allerdings  noch  vollständig  in 
das  1(3.  Jahrhundert ;  allein  sein  großes  Werk  wurde  erst  sechs  Jahre 
nach  seinem  Tod  veröffentlicht,  und  der  große  Einfluß,  den  es  auf  die 
Gestaltung  der  Sprache  ausübte,  begann  demnach  erst  in  jener  Zeit,  die 
wir  hier  zu  schildern  versuchen.^) 

Bei  einer  Übersicht  der  geistigen  Arbeit  in  Frankreich  unter 
Heinrich  IV.  darf  der  Geschichtschreiber  de  Thou,  einer  der  hervor- 
ragendsten Männer  seiner  Zeit,  nicht  übergangen  werden.  Freilich  ist  er 
in  einer  Darstellung  der  französischen  Litteratur  nicht  weiter  zu  nennen, 
da  er  die  „Geschichte  seiner  Zeit'',  deren  erste  18  Bücher  im  Jahr  1604 
erschienen,  in  lateinischer  Sprache  verfaßt  hat. 

Um  aber  die  Stimmung  eines  Volkes  und  seine  geistige  Entwicklung 
richtig  zu  würdigen,  wende  man  sich  an  die  Philosophie  der  Zeit.  So 
seltsam  es  klingen  mag,  es  ist  doch  wahr,  daß  der  einsame  Denker, 
auch  wenn  er  von  seinen  Zeitgenossen  unbeachtet  und  verlassen  scheint, 
die  geistige  Richtung  einer  ganzen  Epoche  in  seinen  philosophischen 
Sätzen  oft  am  klarsten  spiegelt.  Er  hat  in  der  Stille  seiner  Arbeit  die 
verschiedenen  Strömungen,  von  welchen  sich  das  Volk  halb  bewußt,  halb 
unbewußt  der  Zukunft  entgegentragen  läßt,  am  schärfsten  erkannt,  und 
seine  Philosophie  ist  nur  ihr  Ausdruck  in  idealer  Form. 

Wie  das  französische  Volk  in  den  ersten  Jahren  des  Jahrhunderts 
dachte  und  fühlte,  sagt  uns  am  besten  Pierre  Charron  in  seiner  Schrift: 
„Von  der  Weisheit". 

Charron  war  kein  Philosoph  im  strengen  Sinn  des  Worts,  kein 
Denker,  welcher  der  Menschheit  neue  Wege  für  die  geistige  Arbeit 
eröffnet,  eine  höhere  Gedankenwelt  erschlossen  hätte.  Er  war  auch  kein 
Mann,  der  seine  Zeitgenossen  durch  Kraft  und  Ausbildung  des  Geistes 
um  ein  Bedeutendes  überragt  hätte.  Er  war  einfach  ein  klarer,  kühler 
Kopf,  der  aussprach,  was  die  Gebildeten  seiner  Zeit  beschäftigte,  was 
ihnen  je  nach  ihrem  Standpunkt  dunkler  oder  klarer  vorschwebte.  Fußt 
schon  der  größte  Philosoph  auf  dem  Boden  der  mitlebenden  Menschen,  in 
der  Gesellschaft,  die  ihn  umgiebt  und  mit  tausend  Ranken  umschlungen 
hält,  wieviel  mehr  noch  der  einfache  Moralphilosoph,  der  die  Welt 
unwillkürlich  so  anschaut,  wie  die  gerade  herrschende  Stimmung  es  ihn 
lehrt,  und  wie  sie  sich  im  Spiel  der  wechselnden  Zeitbegebenheiten 
gestaltet. 

Auch  Charron  gehört,  wie  die  meisten  der  schon  genannten  Männer, 
mit  seinem  Leben  und  seinen  Grundsätzen  noch  ganz  in  das  16.  Jahr- 
hundert, allein  sein  Hauptwerk  erschien  erst  im  Beginn  des  neuen  Jahr- 
hunderts, und  ist  bei  einer  Betrachtung  der  geistigen  Bewegung  in 
Frankreich  unter  Heinrich  IV.  nicht  zu  übersehen. 


1)  Nicot  starb  im  Jahr  1600.  Sein  „Tresor  de  la  laiigue  franr-aise  aucienno 
et  moderne"  erschien  zu  Paris  1606. 


40 


Geboren  zu  Paris  im  Jahr  1541  als  der  Sohn  eines  Buchhändlers, 
der  sich  einer  Schar  von  25  Kindern  rühmen  konnte,  erhielt  Pierre 
Charron  eine  klassische  Erziehung,  wie  man  sie  damals  geben  konnte, 
studierte  später  zu  Orleans  und  zu  Bourges  die  Rechtswissenschaft, 
und  wurde  unter  die  Zahl  der  Advokaten  beim  Pariser  Parlament  auf- 
genommen. Die  Thätigkeit,  die  sich  ihm  dort  eröffnete,  muß  ihm  jedoch 
wenig  behagt  haben.  Er  ging  zur  Theologie  über  und  wurde  bald  als 
einer  der  bedeutendsten  Kanzelredner  gerühmt.  Eine  Zeit  lang  Prediger 
der  Königin  Margarete  von  Navarra,  finden  wir  ihn  im  Jahr  1571  bei 
dem  Bischof  von  Bazas,  und  der  Ruf,  dessen  er  sich  als  Redner  erfreute, 
führte  ihn  häufig  auf  Reisen.  Im  Jahr  1588  kam  er  nach  Paris,  um 
sich  in  den  Karthäuserorden  aufnehmen  zu  lassen.  Er  wurde  jedoch  mit 
seinem  Ansuchen  abgewiesen,  da  er  in  seinen  Jahren  die  strenge  Lebens- 
weise der  Mönche  nicht  mehr  werde  ertragen  können.  Was  Charron  zu 
diesem  Schritt  bewogen  hat,  ist  nicht  bekannt;  aber  der  Schluß  liegt 
nahe,  daß  der  mildgesinnte  Mann,  der  schon  vor  den  Prozessen  geflüchtet 
war,  der  sich  schon  früher  gegen  das  Vorgehen  der  Ligue  tadelnd  aus- 
gesprochen hatte, ^)  bei  der  steigenden  Flut  des  Hasses  und  dem  An- 
wachsen der  finstersten  Leidenschaften  ein  Grauen  empfand,  und  in  der 
Stille  des  Klosterlebens  den  gewünschten  Frieden  zu  finden  hoffte. 

Mehr  Ruhe,  als  er  dort  erlangt  hätte,  gewährte  ihm  ein  Jahr 
später  die  Bekanntschaft  mit  Michel  Montaigne,  die  er  in  Bordeaux 
machte,  und  die  bald  zur  engen  Freundschaft  wurde.  Montalgnes  Skepti- 
cisraus  wirkte  beruhigend  und  klärend  auf  ihn  ein.  Er  hatte  nicht  mehr 
unstet  zu  suchen,  ängstlich  nach  der  Wahrheit  zu  forschen.  Montaigne 
lehrte  ihn,  daß  nichts  gewiß  und  absolut  wahr  sei,  daß  der  Weise  ruhigen 
Auges  auf  das  Treiben  der  Menschenwelt  zu  blicken  habe,  und  seine 
Überzeugung  von  der  Nichtigkeit  aller  menschlichen  Ideen  und  Gefühle, 
aller  menschlichen  Bestrebungen  als  das  wahre  Geheimnis  der  Weisheit 
vor  der  unverständigen  Menge  verschließen  müsse. ^) 

Anschauungen  dieser  Art  mußten  in  der  Unglückszeit,  in  welcher 
die  Menschen  sich  wegen  ihres  Glaubens  umbrachten,  doppelt  willkommen 
und  überzeugend  sein.  Aber  sie  waren  nur  für  wenige  bestimmt;  es 
war  wie  eine  moderne  Geheimlehre,  die  da  geboten  wurde.  Zudem  hatte 
man  ein  Mittel,  sich  mit  der  herrschenden  Kirchenlehre  abzufinden. 
Schon  lange  behauptete  man,  daß  eine  Ansicht  vom  Standpunkt  der 
Vernunft  aus  richtig  und  wahr  sein  könne,  ohne  deshalb  auch  kirchlich 
und  dogmatisch  richtig  zu  sein,  und  umgekehrt.  Mit  dieser  subtilen 
Unterscheidung    zweier    sich    widersprechender  Wahrheiten    suchte   sich 

')  Charron,  „Discours  chrestien  adress^  ä  un  docteur  de  Sorbonne  contre 
la  ligue".  Darin  heißt  es,  daß  die  Liguisten,  welche  sich  gegen  den  König  er- 
hoben hätten,  verdammt  seien,  denn  sie  hätten  ihren  Teil  an  der  Schuld  der 
Mordthaten  und  Greuel  aller  Art.  Die  Schrift  erschien  1589,  kurz  vor  der  Er- 
mordung Heinrichs  III. 

-)  Montaigne,  Essais,  livre  II,  chap.  12:  „Apologie  de  Ra^vmond  de  Se- 
hende", und  an  anderen  Stellen.  Vergl.  auch  Prevost-Paradol,  Etudes  sur  les 
moralistes  franyais.  2.  ed.  Paris  1865,  S.  32  ff. 


41 


die  Philosophie  gegen  die  strenge  Censur  der  Kirche  zu  schützen.  Eine 
ähnliche  Ansicht  mag  Charron  geleitet  haben,  als  er  1594  ein  in  streng- 
gläubigem Sinn  verfaßtes  Buch:  „Die  drei  Wahrheiten •'  gegen  Gottes- 
leugner, Juden  und  Ketzer  veröffentlichte.  Die  höhere  Weisheit  paßte  ja 
«einer  Meinung  nach  nicht  für  das  Volk.  Zum  Generalvikar  des  Bischofs 
von  Cahore  ernannt,  wohnte  er  im  Jahr  1600  der  Versammlung  des 
Klerus  zu  Paris  bei,  die  ihn  zu  ihrem  Sekretär  wählte.  Jedoch  verbrachte 
er  die  meiste  Zeit  in  Condom  Inder  Stille,  wo  er  auch  sein  Buch:  „Von 
der  Weisheit"  schrieb.  Gedruckt  wurde  es  zu  Bordeaux  im  Jahr  1601, 
erregte  aber  in  einigen  frommen  Kreisen  durch  seine  Sprache  solchen 
Anstoß,  daß  sich  Charron  entschloß,  eine  zweite  Ausgabe  in  Paris  zu 
veranstalten,  und  darin,  wie  er  selbst  sagt,  manche  Stelle  zu  mildern, 
um  den  Übelwollenden  den  Mund  zu  schließen  und  die  Einfachen  zu- 
frieden zu  stellen.')  So  kam  er  nach  der  Hauptstadt  zurück,  dort  aber 
ereilte  ihn  der  Tod,  bevor  der  Druck  seines  Werks  zu  Ende  gediehen 
war.  Er  starb  infolge  eines  Schlagflusses  im  Jahr  1608. 

Wenn  Charron  sich  entschließen  konnte,  seine  innerste  Überzeugung 
öffentlich  darzulegen,  wenn  er  den  Zeitpunkt  für  passend  hielt,  mit  seinen 
Anschauungen  hervorzutreten,  so  mußte  er  sich  vorher  versichert  haben, 
daß  sie  die  öffentliche  Meinung  nicht  ungünstig  aufnehmen  würde.  Er 
mußte  wissen,  daß  die  Gebildeten  sich  einer  freieren  Weltanschauung 
zuneigten.  Die  Religionskriege  hatten  das  Gegenteil  von  dem  erreicht, 
was  sie  erstrebten.  Das  unsägliche  Elend,  das  sie  über  den  einzelnen, 
wie  über  die  Gesamtheit  der  Nation  brachten ,  hatte  viele  in  ihrem 
Glauben  irre  gemacht,  und  sie  gegen  die  Religion  entweder  indifferent 
oder  feindlich  gestimmt.  Die  Klage  über  den  zunehmenden  Unglauben 
findet  sich  nicht  selten  in  den  Schriften  aus  jener  Zeit.^)  Die  Kluft 
zwischen  dem  fanatisierten  großen  Haufen  und  den  gebildeten  Klassen 
wurde  immer  weiter.  Letztere  wurden  zum  Teil  füi-  den  gemäßigten 
Skepticismus  Montaignes  gewonnen;  zum  Teil  verloren  sie  jeden  mora- 
lischen Halt,  als  sie  an  der  Wahrheit  der  bis  dahin  von  ihnen  fest- 
gehaltenen religiösen  Überlieferung  zu  zweifeln  anfingen,  und  die  Zahl 
dieser  letzteren  wurde  täglich  größer.  Charron  mochte  die  Gefahr  ein- 
sehen, die  in  dieser  Richtung  lag,  und  so  wagte  er  endlich  hervorzu- 
treten, um,  entschiedener  noch  als  Montaigne,  den  schwankenden  Ge- 
mütern mit  Hilfe  der  Philosophie  eine  Stütze  zu  bieten. 

Charron  hatte  den  „Essais"  seines  Freunds  vieles  e^utlehnt,  ja 
ganze  Abschnitte  aus  ihnen  in  ihrem  Gedankengang  benutzt.  Dennoch 
trägt  sein  Werk  einen  andern  Charakter  als  die  „Essais'".  Montaigne 
ist  in  seiner  ganzen  Behandlungsweise  feiner,  weltmännischer.  Seine 
geistvollen  Plaudereien  scheinen  völlig  anspruchslos ;  sie  führen  den  Leser 
freundlich  mit  sich  fort,  unterhalten  ihn  über  alle  möglichen  Fragen 
der  Psychologie  und  des  menschlichen  Lebens,  und  unvermerkt,  ohne  je 


^)  „Pour  fermer  la  bouche  aux  malicieux  et  contenter  les  simples." 
-)  Man    sehe    z.  B.  Villeroy,  „Memoires  d'Etat".   Darin  seinen  „Discours 
ä  Mr.  de  Bellievre  sur  les  evenemeuts  compris  entre  1567  et  1588". 


42 


aufdringlich  zu  werden,  bringen  sie  ihn  zur  Überzeugung,  daß  nichts 
Irdisches  für  den  Menschen  Gewißheit  hat,  daß  alles  nur  relativ  wahr 
ist.  Montaignes  Wahlspruch  ist  die  bezeichnende  Frage:  „Was  weiß  ich?" 
die  er  mit  lächelndem  Mund  zu  stellen  scheint.  Charron  geht  derber  auf 
sein  Ziel  los;  der  Skepticismus  ist  ihm  schon  festes  Dogma,  und  er 
nimmt  den  Wahlspruch:   „Ich  weiß  nicht". 

Montaigne  hatte  sich  mit  erstaunlicher  Lebenskunst  inmitten  der 
bürgerlichen  und  religiösen  Wirren  frei  von  aller  Parteinahme  erhalten ; 
er  hatte  es  über  sich  gebracht,  dem  ganzen  schrecklichen  Treiben  kritisch 
beobachtend  zuzusehen.  Seine  Ruhe  ließ  er  sich  nicht  rauben.  Charron 
dagegen  scheint  das  Bewußtsein,  daß  er  einer  bürgerlichen  und  nationalen 
Gemeinschaft  angehöre,  nicht  verloren  zu  haben,  und  je  tiefer  er  das 
Grauen  über  die  fortgesetzten  Greuel  empfand ,  umso  größer  wurde  die 
Entfernung,  welche  ihn  von  der  reinen,  aber  kalten  Höhe  Montaignes 
trennte.  Es  geht  ein  Zug  tiefer  Menschenverachtung  durch  das  Buch 
Charrons.  Er,  der  Priester,  der  dem  Volk,  zumal  den  Armen  und  Ein- 
fältigen, in  Liebe  nahe  stehen  sollte,  weicht  entsetzt  vor  dem  wilden 
Sinn  zurück,  den  er  dort  findet.  „Das  Volk  ist  ein  wildes  Tier,  sein 
Denken  nichts  als  Eitelkeit,  sein  Sagen  ist  falsch  und  irrig.  Was  es 
verwirft,  ist  gut;  was  es  billigt,  ist  schlecht;  was  es  lobt,  ist  schändlich, 
und  was  es  thut  und  unternimmt,  ist  nichts  als  Thorheit."^) 

Charron  denkt  überhaupt  gering  vom  Menschen  und  weist  ihm  eine 
andere  Stelle  an,  als  diejenige,  welche  der  Mensch  gewöhnlich  in  stolzem 
Selbstgefühl  für  sich  in  Anspruch  nimmt.  In  der  richtigen  Erkenntnis 
aber  der  eigenen  Natur  sieht  Charron  die  beste  und  höchste  Aufgabe 
des  Menschen.-)  Diese  Erkenntnis  zu  erleichtern,  hat  er  sein  Buch:  „Von 
der  Weisheit''  geschrieben.  Er  teilt  seinen  Stoff  in  drei  Bücher,  von 
welchen  sich  das  erste  mit  der  menschlichen  Natur  im  allgemeinen,  der 
Gesellschaft  und  den  einzelnen  Ständen  beschäftigt,  während  das  zweite 
allgemeine  Lebensregeln  und  Weisheitslehren  giebt,  das  dritte  endlich 
die  einzelnen  Eigenschaften  des  Geistes,  seine  Schwächen  und  Leiden- 
schaften, sowie  seine  Tugenden  und  Kräfte  bespricht.  Trotz  aller 
scheinbar  systematischen  Form  ist  diese  Einteilung  doch  ziemlich 
systemlos. 

Das  erste  Buch  hat  für  uns  wegen  seines  allgemeinen  Charakters 
und  der  Fragen,  die  in  den  einzelnen  Abschnitten  berührt  werden,  das 
meiste  Interesse,  und  lehrt  uns  am  besten  Charrons  Ansichten  kennen. 
Er  beginnt  mit  einer  allgemeinen  Betrachtung  des  Menschen  und  be- 
merkt sehr  bald,  daß  derselbe  aus  Körper  und  Geist  gebildet  sei,  also 
aus  zwei  in  ihrem  Wesen  sich  widersprechenden  Teilen.  Er  nennt  den 
Menschen    deshalb   drastisch    „ein  gar  sonderbares    und   ungeheuerliches 


^)  Charron,  „De  la  sagesse",  livre  I,  chap.  48:  „ . . .  Le  vulgaire  est  une 
beste  sauvage,  tout  ce  qu'il  pense  n'est  qiie  vanite,  tout  ce  (ju'il  dict  est  faux 
et  errone,  ce  qu'il  reprouve  est  bon,  ce  qu'il  approuve  est  mauvais,  ce  qu'il  loue 
est  infame  et  ce  qu'jl  faict  et  entreprend  n'est  que  folie..." 

-)  Charron,  De  la  sagesse,  livre  I,  chap.  1 :  „La  vraye  science  et  la  vraye 
estude  de  Thomme,  c'est  I'horame." 


43 


Flickwerk".')  Der  Zweifel  an  der  Hoheit  des  Menschen  kommt  hierbei 
alsbald  zu  Tage,  denn  Charron  sagt,  daß  einige  dem  Körper,  andere 
dem  Geist  die  Schuld  des  Elends  zuschreiben,  in  das  der  Mensch  ver- 
sunken sei.  Dieses  Elend,  das  mehr  moralischer  als  physischer  Natur 
ist,  offenbart  sich  nur  zu  sehr.  In  beredten,  ergreifenden  Worten,  wie 
Charron  sie  selten  findet,  zeichnet  er  den  Jammer  der  Menschen.  „Die 
Menschheit!  in  ihr  ist  alles  Elend,  außer  ihr  giebt  es  keines.  Elend  zu 
sein,  ist  das  Kennzeichen  des  Menschen;  der  Mensch  allein,  und  jeder 
Mensch  ist  jederzeit  elend".-)  Wie  später  Pascal,  dem  er  an  Geistes- 
kraft freilich  lange  nicht  nahe  kommt,  will  schon  Charron  die  Nichtig- 
keit des  Menschen  beweisen ;  er  will  ihn  als  gänzlich  verloren  und  in 
den  Staub  gedrückt  zeigen,  damit  er  allein  auf  Gott  sein  Vertrauen  und 
seine  Hoffnung  setze.  Doch  führt  Charron  diese  Idee,  die  das  Fundament 
von  Pascals  unvollendetem  Werk  bildet,  nicht  weiter  aus.  Im  weiteren 
Verlauf  seiner  Untersuchung  vergleicht  er  dann  den  Menschen  mit  dem 
Tier,  und  findet,  daß  dieses,  welches  auch  einen  gewissen  Grad  von 
Verstand  besitzt,  mit  dem  Menschen  nahe  verwandt  ist.  Der  Mensch 
steht  weder  über  noch  unter  dem  Tier,^)  aber  das  letztere  lebt  glück- 
licher, da  es  nur  in  der  Gegenwart  lebt.  Es  ist  freier  als  der  Mensch, 
es  lebt  ruhiger,  zufriedener,  weil  es  der  Natur  gemäß  lebt.  Niemals  fügt 
es  sich  freiwillig  in  Knechtschaft,  wie  der  Mensch  das  so  oft  thut.  Auch 
ist  es  lange  nicht  so  grausam,  und  wenn  es  dem  Menschen  an  Geistes- 
kraft nachsteht,  desto  besser  für  es !  Denn  gerade  der  Geist,  auf  den  der 
Mensch  so  stolz  ist,  bringt  ihm  eine  Million  Übel,  und  zwar  in 
umso  höherem  Grad,  je  mehr  er  sich  regt  und  sich  bemüht.  Wer  genau 
zusieht,  wird  finden,  daß  sich  in  jeden  Aufschwung,  in  jede  Begeisterung 
der  freien  Seele  ein  Körnchen  Wahnsinn  mischt,  denn  das  sind  zwei 
sehr  verwandte  Erscheinungen.*)  Man  meint  bereits  die  Stimme  Jean 
Jacques'  zu  hören,  der  den  Urzustand  der  Menschen  preist. 

DieFrage  nach  der  Natur  des  menschlichen  Geistes  beantwortet  Charron 
zunächst  in  vorsichtiger  Weise.  Er  führt  die  Ansichten  der  verschiedenen 
Philosophen  auf,  des  Aristoteles,  der  Stoiker,  der  Kirchenväter,  dann 
auch  die  Lehre  der  christlichen  Kirche,  nach  welcher  Gott  die  Seeleu 
im  voraus  geschaffen  habe,  und  sie  je  nach  Bedürfnis  verwende,  um  sie 
den  neugeborenen  Kindern  einzuhauchen.  Eine  andere  Ansicht  sei  zurück- 
haltender, fügt  er  dann  hinzu,  denn  sie  lehre  nichts  Bestimmtes,  und 
begnüge  sich  damit,  zu  sagen,  daß  der  Mensch  hier  vor  einem  Geheimnis 


1)  Ibid.  livre  I,  cliap.  2 :  „voilä  une  estrange  et  monstrueuse  cousture  que 
rhomme." 

2)  Livre  I,  chap.  6:  „C'est  la  misere  mesme  toute  vifve,  c'est  en  un  mot 
exprimer  rhumanite:  car  en  luy  est  toute  misere  et  hors  de  hiy  il  n'y  en  a 
point  au  monde.  C'est  le  propre  de  Thomme  d'estre  miserable;  le  seul  homme 
et  tout  homme  est  tousjours  miserable,  comme  on  verra." 

3)  Livre  I,  chap.  8:  „Ainsy  y  a-il  uu  grand  voisinage  entre  Thomme  et 
les  autres  aniraaux...  II  y  a  plus  grande  distance  d'homme  ä  homme  que 
d'homme  ä  beste."  Vergl.  auch  bes.  livre  I,  chap.  16. 

*)  Livre  I,  chap.  8.  Zur  ganzen  Stelle  vergl.  Montaigne,  Essais  livre  II, 
chap.  12. 


44 

stehe. ^)  Etwas  später  läßt  sich  Charron  freilich  hinreißen  und  spricht 
seine  Meinung  offener  aus.  Die  Unsterblichkeit  der  Seele  bilde  den  Inhalt 
einer  Lehre,  die  ganz  allgemein  und  gläubig  aufgenommen  werde,  aber 
nur  in  den  öffentlichen  Glaubensäußerungen  und  nicht  in  der  festen 
Überzeugung  des  Herzens  wurzle;  sie  sei  eine  Lehre,  die  sehr  nützlich 
zu  glauben,  aber  durch  menschliche  Schlüsse  am  wenigsten  zu  be- 
weisen sei.-) 

Wie  soll  der  menschliche  Geist  die  Wahrheit  finden  ?  Vergebliche 
Frage.  Wir  Menschen  können  Wahrheit  und  L-rtum  nicht  von  einander 
unterscheiden.  Der  größte  Beweis  für  die  Wahrheit  ist  die  allgemeine 
Übereinstimmung.  Allein  es  giebt  viel  mehr  Thoren  als  Verständige  in 
der  Welt;  was  hilft  da  die  Übereinstimmung  der  Menge?  Nur  wenige 
vermögen  sich  über  die  allgemeine  Meinung  zu  erheben,  ihren  Geist  zu 
beherrschen.  Die  Mehrzahl  der  Menschen  bedarf  der  engen  Schranken; 
man  muß  sie  durch  Religion,  Gesetze,  Herkommen,  Wissenschaften,  Vor- 
schriften, Drohungen  und  Versprechungen  fesseln.  Die  Völker,  die  sich 
nur  mittelmäßiger  Geistesgaben  rühmen  können,  leben  ruhiger  als  die 
Völker,  deren  Geist  lebendig  ist.  Florenz  sah  in  zehn  Jahren  mehr  Un- 
ruhen und  Aufstände,  als  die  Schweiz  und  Graubündten  in  fünfhundert 
Jahren.   „Den  Geist  verfeinern,  heißt  nicht,  ihn  weise  machen."  ^) 

Wie  soll  der  Mensch  die  Wahrheit  erkennen?  Sind  es  doch  nicht 
die  Dinge  selbst,  die  auf  ihn  wirken,  sondern  die  Meinungen,  die  er 
von  den  Dingen  gefaßt  hat.  „Wir  glauben,  schwören,  handeln,  leben 
und  sterben  auf  Treu  und  Glauben. "  *) 

So  kommt  Charron  im  zweiten  Buch  seines  Werks  auf  die 
„praktischen  Regeln  der  Weisheit"  zu  sprechen.  Bei  der  Unmöglichkeit, 
die  Wahrheit  zu  erkennen,  muß  es  wenigstens  einige  Mittel  geben,  dem 
Menschen  den  nötigen  Halt  zu  verschaffen,  ihm  die  nötige  Freiheit  des 
Geistes  und  des  Willens  zu  bieten,  auf  daß  er  sein  Leben  vollenden 
kann,  ohne  zu  sehr  der  Spielball  fremder  Einflüsse  zu  sein,  und  damit 
er  soviel  als  möglich  sich  über  die  gewöhnlichen  Lebensschicksale  zu 
erheben  vermag. 

Wenn  die  Wahrheit  unerforschlich  ist,  so  haben  alle  menschlichen 
Ansichten  und  Lehren  gleich  wenig  Bedeutung.  Und  die  erste  praktische 
Lehre,  die  uns  jene  Erkenntnis  giebt,  heißt  uns  mit  dem  Urteil  zurück- 
zuhalten,   uns  zu  keiner  Meinung   zu  bekennen,    uns   für  keine    zu   ent- 


^)  Livre  I,  chap.  15. 

2)  Ibid. 

^)  Livre  I,  chap.  16:  „I'affinement  des  esprits  n'est  pas  Tassagissement." 
Schon  Montaigne  hatte  (essais  II,  chap.  12)  gesagt:  „La  peste  de  Thomme,  c'est 
l'opinion  de  sravoir"  und  etwas  weiter:  „Voulez-vous  un  hemme  sain?  Le  voulez- 
vous  reigle  et  en  ferrae  et  seure  posture?  Affublez-le  de  teuebres,  d'oisivete  et 
de  pesanteur.  II  nous  faut  abestir  pour  nous  assagir."  Unnötig  zu  be- 
merken, dass  Montaigne  trotz  dieser  Worte  kein  Apostel  der  Verduminung  war. 

*)  Livre  I,  chap.  18:  „Les  hommes  sont  tourmentes  par  les  opinions 
qu'ils  ont  des  choses,  non  par  les  choses  mesmes.  ..  prescjue  toutes  les  opinions 
que  nous  avons,  nous  ne  les  avons  que  par  aucthorite;  nous  crovons,  jugeons, 
agissons,  vivons  et  mourons  ä  credit." 


45 

scheiden,  uns  für  nichts  zu  binden.')  Um  aber  jede  Mißhelligkeit  mit 
der  Kirche  zu  vermeiden,  fügt  Charron  diesem  Satz  alsbald  die  Be- 
merkung bei,  daß  das  Gesagte  sich  nicht  auf  die  Wahrheiten  der 
Religion  beziehe,  die  ja  den  Menschen  von  der  göttlichen  Weisheit  offen- 
bart worden  seien,  und  die  man  in  aller  Demut  hinnehmen  müsse.  Charron 
will  ohnehin  dem  Volk  die  Religion  nicht  rauben,  er  will  nur  den  Ge- 
bildeten eine  Philosophie  geben,  die  sie  auf  einen  höheren  Standpunkt 
leiten  soll. 

Die  Freiheit  des  Geistes  im  Urteil  kann  aber  nur  dadurch  erlangt 
werden,  daß  der  Geist  sich  über  die  engen  Schranken  seiner  Heimat, 
seiner  Sitte,  seines  Berufs  erhebt  und  die  Gesamtheit  der  Erscheinungen 
zu  erfassen  versucht.  Die  wahre  Menschenwürde  liegt  darin,  daß  man 
einfach  und  den  Geboten  der  Natur  gemäß  lebt. 

Das  dritte  Buch  endlich  enthält  Winke  für  das  Benehmen,  das 
der  Mensch  in  einzelnen  Fällen  einhalten  soll.  Es  bespricht  die  einzelnen 
menschlichen  Tugenden,  die  Klugheit  der  Herrscher,  die  Verschwörungen 
und  Aufstände ;  es  handelt  von  der  Gerechtigkeit,  der  Treue,  den  Wohl- 
thaten  und  der  Dankbarkeit,  von  den  Pflichten  der  Eltern  und  der  Kinder 
u.  s.  w.  Kurz,  Charron  giebt  hier  eine  Art  Moralphilosophie;  aber 
gerade  deshalb  enthält  dieses  Buch  für  uns,  die  wir  die  Strömungen  des 
öffentlichen  Geistes  aus  seinem  Werk  zu  erkennen  suchen,  wenig  von 
Bedeutung. 

Wichtig  ist  für  uns  daraus  nur  die  Bemerkung,  daß  Charron  die 
Toleranz  als  erstes  Gebot  der  Weisheit  aufstellt.  Mit  dieser  Ansicht  be- 
fand er  sich  jedenfalls  in  Übereinstimmung  mit  dem  König  und  dem 
größten  Teil  der  Bevölkerung.  Die  Toleranz  noch  eindringlicher  zu 
predigen,  sucht  er  die  Entstehung  der  Religionen  zu  schildern.  Gesetz- 
geber, Feldherren  oder  Parteiführer  wissen  auf  geschickte  Weise  ein 
Wunder  vorzubereiten,  oder  veranlassen  eine  Offenbarung,  eine  himmlische 
Erscheinung.  Anfangs  finden  sie  damit  nur  bei  den  einfachen  Menschen 
Gehör,  und  der  kleinste  Zufall  könnte  das  ganze  Gebäude  zerstören; 
allein  aus  solchen  Anfängen  sind  oft  die  folgenschwersten  Entwicklungen 
hervorgegangen.  Denn  wenn  einmal  der  erste  Schritt  gemacht  ist,  wächst 
die  Sache  von  selbst  und  dehnt  sich  aus;  die  Menge  der  Gläubigen 
nimmt  zu,  und  der  beste  Beweis  für  die  Wahrheit  einer  Lehre  liegt  ja 
in  der  Menge  der  Jahre  und  der  Gläubigen.-)  Vom  Christentum  ist 
hier  nicht  die  Rede;  ja  Charron  macht  Miene,  es  nicht  unter  den  hier 
gezeichneten  Religionen  zu  verstehen,  und  doch  fällt  es  schwer,  diese 
Stelle  nicht  auf  das  Christentum  anzuwenden.  Spricht  er  sich  doch  an 
einer  andern  Stelle  noch  entschiedener  über  die  Religionen  und  deren 
Ursprung  aus.  So  viel  es  ihrer  auch  geben  mag,  sagt  er,  sie  gleichen 
sich  alle  in  gewissen  Punkten.  Sie  haben  dieselben  Anfänge  und  Grund- 
lagen,   dieselbe  Art  der  Entwicklung.    Sie  stammen   alle   aus   demselben 


1)  Livre  II,    cbap.  2:    „Sans    s'obliger   ou  s'engager    a   opinion    auscuiie, 
Sans  resouldre  ou  determiner,  ni  se  coiffer  ou  espouser  auscime  chose." 

2)  Livre  II,  chap.  5. 


46 

Klima,  aus  derselben  Luft;  alle  kennen  sie  Wunder,  Orakel,  heilige  Ge- 
heimnisse, Propheten  und  gewisse  Glaubenssätze,  ohne  die  es  kein  Heil 
giebt.  Sie  lehren  alle,  daß  man  Gott  durch  Gebete,  Geschenke,  Gelübde, 
Versprechungen,  Feste  und  Weihrauch  besänftigt  und  gewinnt,  und  daß 
man  am  besten  seine  Gnade  erwirbt,  wenn  man  sich  selbst  quält,  be- 
steuert, mit  schwerer  und  schmerzvoller  Arbeit  belastet;  denn  man 
meint,  Gott  finde  an  der  Qual  seiner  Geschöpfe  Gefallen.  „Alle  Religionen 
haben  ferner  das  gemeinsam,  daß  sie  für  den  gesunden  Menschenver- 
stand etwas  Fremdartiges  und  Schreckliches  haben,  denn  sie  sind  aus 
Elementen  gebildet,  welche  einem  kräftigen  Menschen  entweder  niedrig, 
ungehörig  und  lächerlich  vorkommen,  oder  ihm  so  hoch,  geheimnisvoll 
und  wunderbar  erscheinen,  daß  er  sie  nicht  versteht  und  darob  ergrimmt." 

Die  Philosophie  Charrons  ist  weder  durch  Tiefe,  noch  durch  Schwung 
ausgezeichnet,  ist  auch  nicht  einmal  originell.  Aber  sie  wirkte  durch  ihre 
Offenheit  und  ihre  mutige  Sprache.  Charron  hat  gewiß  einen  schweren 
Kampf  in  seinem  Gemüt  durchgekämpft,  bevor  er  zu  der  Überzeugung 
gelangte,  die  er  in  seinem  Buch  entwickelt.  Im  Grunde  genommen,  ist 
es  doch  nur  die  Frage  nach  dem  Wert  der  Religion,  nach  der  Wahrheit 
des  überlieferten  Kirchenglaubens,  um  welche  es  sich  bei  ihm  handelt. 
Er  ist  Deist  und  von  der  christlichen  Kirche  innerlich  völlig  gelöst. 
Daß  er  sich  vorzugsweise  mit  Fragen  der  Religion  beschäftigte,  daß  er 
in  ernstem  Streben  nach  Wahrheit  und  Freiheit  rang,  zeigt,  daß  er  ein 
echter  Sohn  seines  Jahrhunderts  war.  Nicht  allein,  daß  er  sich  für  die 
weiteste  Duldung  aller  Meinungen  aussprach,  er  bekämpfte  auch  die 
Tortur,  und  wurde  so  der  Vorläufer  der  großen  Männer  einer  späteren 
Zeit,  eines  Montesquieu  und  eines  Beccaria,  der  Vorläufer  des  Jahrhunderts 
der  Aufkärung.^)  Seine  Moral  ist  rein.  Der  Mensch  soll  sich  in  seinen 
Handlungen  weder  durch  Furcht  vor  Strafe,  noch  durch  Hoffnung  auf 
Belohnung,  sondern  nur  durch  die  Vernunft  leiten  lassen. 

Doch  der  Einfluß  der  langen  Kämpfe,  der  sich  auf  allen  Gebieten 
des  öffentlichen  wie  geistigen  Lebens  der  Nation  offenbarte,  war  auch 
bei  Charron  in  mancher  Hinsicht  deutlich  bemerkbar.  Die  Abspannung 
des  Volkes,  die  Sehnsucht  nach  Ruhe,  die  sich  in  der  Abwendung  von 
jeder  politischen  Bestrebung,  in  der  fast  gleichgiltigen  Hingabe  der 
politischen  Rechte  an  den  Herrscher  verrät,  zeigt  sich  bei  Charron  wie 
bei  Montaigne.  Die  Zeit  der  Leidenschaft  ist  vorüber,  die  kühle  Über- 
legung und  egoistische  Sorge  für  die  nächste  persönliche  Bequemlichkeit 
gewinnen  die  Oberhand.  So  lehrt  denn  auch  Charron  als  hohe  Weisheit 
die  Unterdrückung  jeder  ehrgeizigen  Regung  des  Herzens.  Der  wahrhaft 
Weise  soll  nur  sich  selbst  leben;  kann  er  sich  einem  Amt,  einer  Arbeit 
nicht  entziehen,  so  soll  er  sie  nur  in  die  Hand,  nicht  aber  zu  Herzen 
nehmen ;  soll  für  die  Sache  zwar  sorgen,  sich  aber  nicht  für  sie  er- 
hitzen, nur  an  wenig  teilnehmen  und  sich  immer  auf  sich  beschränken."') 


1)  Livre  I,  chap.  4. 

2)  Livre  II,  chap.  2:  „Ne  se  donner  qu'a  soy,  prendre  les  affaires  en 
inains  et  non  ä  coeur,  s'en  charger  et  non  se  les  incorporer,  soigner  et  non 
passLoner,    ne  s'attacher  et  mordre  qu'ä  bien   peu  et   se  tenir  tousjours  a  soy." 


47 


Das  ist  eine  praktische  Weisheitsregel,  welche  schon  die  alten  Philo- 
sophen kannten  und  übten.  Aber  sie  ist  doch  eine  Regel,  die  nur  in 
Zeiten  der  Müdigkeit  viele  Anhänger  finden  kann,  denn  in  ihrer  kalten 
Selbstsucht  ist  sie  ein  Feind  des  Fortschritts,  ein  Feind  der  Meftschheit. 
Von  ihr  geleitet,  gelangte  Charron  zu  dem  schon  erwähnten  Schluß, 
daß  die  von  der  Natur  mit  schwerfälligem  Geist  begabten  Völker  glück- 
licher seien,  als  die  regsamen  Nationen.  Er  vergaß  dabei,  daß  Arbeiten 
und  Ringen  das  wahre  Leben  ausmachen,  daß  vegetieren  nicht  leben 
heißt.  Allein  am  Eingang  des  Jahrhunderts,  das  die  Staatsgewalt  aus- 
schließlich in  die  Hand  eines  einzelnen  Menschen  fallen  ließ,  das  die 
Centralisation  im  Staat  mit  allen  Mitteln  begünstigte  und  Einförmigkeit 
oft  mit  Einheit  verwechselte,  am  Eingang  eines  solchen  Jahrhunderts 
erscheint  uns  die  Philosophie  des  merkwürdigen  Priesters  besonders  be- 
achtenswert. 

Heinrich  IV.  erwies  sich  in  Sachen  der  Censur  allezeit  freisinnig 
und  ließ  sogar  heftige  Schmähschriften,  die  gegen  ihn  selbst  gerichtet 
waren,  ungestört  verbreiten.  Auch  die  Gegner  Charrons,  welche  nach 
dessen  Tod  die  Vernichtung  des  Buchs  verlangten  und  die  Sache  bis 
vor  den  Staatsrat  brachten,  fanden  bei  dem  König  keine  Förderung. 
Immerhin  mag  der  politische  Charakter  des  Buchs  nicht  ohne  Einfluß 
auf  die  Entscheidung  des  Staatsrats  gewesen  sein,  und  Präsident  Jeannin, 
ein  Mann  von  Bildung  und  freiem  Sinn,  betonte  in  seinem  Bericht  über 
Charrons  Schrift,  daß  dieselbe  nicht  für  das  niedere  Volk  und  die  Un- 
gebildeten geschrieben  sei,  sondern  daß  nur  ein  kräftiger  und  gebildeter 
Geist  darüber  urteilen  könne,  und  daß,  mit  einem  Wort,  das  Buch  einen 
wahrhaft  staatspolitischen  Wert  habe. 

Einige  Jahre  vor  der  ersten  Ausgabe  des  Buchs:  „Von  der  Weis- 
heit" hatte  du  Vair,  den  wir  als  hervorragenden  Redner  und  Übersetzer 
schon  kennen  gelernt  haben,  zwei  philosophische  Schriften  veröffentlicht, 
welche  neben  Charrons  Buch  genannt  werden  müssen.  Du  Vair,  den 
König  Heinrich  später  zum  Präsidenten  des  Provencer  Parlaments  er- 
nannte, war  ein  Mann  des  thätigen  Lebens.  Ihm  galt,  es  darum  vor  allem 
um  Ausgleichung  der  Gegensätze  und  Stärkung  des  Volksgeistes.  Seine 
beiden  Schriften:  „Die  Moralphilosophie  der  Stoiker"  und  „Die  heilige 
Philosophie"  atmen  daher  versöhnlichen  und  zugleich  ernsten  und  edlen 
Geist.  Aber  auch  er  kennt  zweierlei  Wahrheit,  das  ist  bezeichnend.  In 
seiner  ersten  Schrift  bietet  er  jenen,  die  der  christlichen  Kirche  ent- 
fremdet sind,  die  reine  menschliche  Moral,  abgelöst  von  jedem  Dogma. 
Das  wahre  Gut,  das  die  Menschen  erstreben  sollen,  sind  nicht  Reich- 
tümer und  Ehren,  nicht  einmal  Gesundheit.  Das  wahre  Glück  des  Menschen 
besteht  auch  nicht  im  Genuß.  Ein  naturgemäßes  Leben  ist  das  einzige 
richtige  Leben,  aber  es  ist  nur  naturgemäß,  wenn  es  sich  nach  den 
Geboten  der  Vernunft  richtet.  Ein  solches  Leben  leitet  den  Menschen 
weiter  und  höher,  zur  Tugend,  in  welcher  er  das  höchste  Glück  und 
die  wahre  Befriedigung  finden  wird. 

In  seiner  zweiten  Schrift  wird  du  Vair  wärmer.  Hier  wendet  er 
sich   an    einen  christlichen  Leserkreis.    Er   erkennt    im  Christentum   das 


48 


edelste,  was  der  Menschheit  gegeben  sei  und  der  man  das  religiöse  Ge- 
fühl nicht  rauben  möge.  Das  Christentum,  das  er  im  Auge  hat,  ist  frei- 
lich ein  anderes,  als  das.  was  zu  seiner  Zeit  geübt  wurde.  Du  Vair  fußt 
rein  auf  dem  Evangelium,  und  er  glaubt  an  die  allmähliche  Vervollkomm- 
nung des  Menschen.  Der  Spruch  der  Bibel:  ,.Du  sollst  Gott  lieben  von 
ganzem  Herzem  und  deinen  Nächsten  wie  dich  selbst",  gilt  ihm  als  das 
höchste  Gebot.  Ihm  ist  der  Bestand  und  die  Ordnung  der  Welt  ein  voll- 
kommener Beweis  für  die  Existenz,  die  Größe  und  Güte  Gottes.  Aber 
nicht  im  Augenblick  der  Not  allein  soll  sich  der  Mensch  im  Gebet  an 
Gott  wenden,  sondern  sein  ganzes  Sein  soll  er  von  echter  Frömmigkeit 
durchdringen  lassen.  In  seinen  einzelnen  Ausführungen  ist  du  Vair  oft 
sehr  fein,  und  die  Schilderung  der  Leidenschaften  und  Schwächen  der 
Menschen  gelingt  ihm  vortreiflich.  Auch  ihm  hat  Charron  viel  für  sein 
Buch  entnommen.  Beide  haben  in  ihren  kleinen  Charakterbildern  Stellen, 
welche  La  Bruyere  nicht  zu  verleugnen  hätte. 

Während  Charron  aber  mehr  den  Charakter  und  die  Anschauungs- 
weise einer  abschließenden  Epoche  vertritt,  zeigt  du  Vair  die  Kichtung 
an,  welche  das  beginnende  Jahrhundert  bald  entschieden  einschlagen 
wird.  Weder  ungläubig,  noch  rationalistisch,  sondern  der  herrschenden 
Kirchenlehre  sich  anbequemend,  dabei  aber  in  religiösen  Fragen  ruhig 
und  gemäßigt,  so  erscheinen  die  Franzosen  des  17.  Jahrhunderts.  Ihr 
Interesse  lag  in  anderer  Richtung,  und  politische  wie  religiöse  Kämpfe 
sollten   in    der   nächsten  Zeit   nur    sehr    vereinzelt   auseefochten  werden. 


III. 
Malherbe. 

Ronsard,  das  Haupt  der  Plejade.  war  im  Jahr  1585  im  Voll- 
geiuiß  seines  Dichterrulims  gestorben.  Kaum  aber  hatte  er  die  Augen 
geschlossen,  als  auch  schon  der  Glanz  seines  Namens  zu  erbleichen  be- 
gann. In  dem  Drängen  und  Treiben  nach  vorwärts,  nach  einem  hohen 
Ziele,  das  man  mehr  ahnte  als  klar  erkannte,  machten  sich  die  ver- 
schiedensten Richtungen  in  der  Litteratur  geltend,  und  ein  wirres  Durch- 
einander von  Principien,  Traditionen  und  Manieren  trat  an  die  Stelle 
allgemein  anerkannter  Grundsätze.  Während  die  Reste  der  Plejade,  die 
Anhänger  und  Jünger  Ronsards.  fortfuhren,  in  der  Weise  ihres  Meisters 
zu  dichten  und  allen  Fortschritt  in  der  Litteratur  ihres  Landes  von  der 
Nachbildung  der  griechischen  und  römischen  Muster  zu  erwarten,  wendeten 
sich  andere  der  Muse  des  Nachbarlandes  zu,  und  ahmten  die  geschmack- 
lose Ziererei  und  seichte  Tändelei  nach,  welche  damals  die  italienische 
Litteratur  verunzierte.  Wieder  andere  dichteten  im  strengen  Geist  der 
Reformierten  und  hatten  herbe  Worte  für  das  weltliche  Treiben  ihrer 
Gegner  wie  ihrer  Freunde.  Diesen  Rigoristen  gegenüber  brüstete  sich 
die  leichtfertige  Lebensphilosophie  der  höfischen  Dichter,  die  es  sich  zur 
Ehre  rechneten,  den  Großen  des  Landes  Kupplerdienste  zu  erweisen. 

Aber  inmitten  des  Auf-  und  Abwogens  der  verschiedenen  Ansichten 
und  trotz  des  beständigen  Geschmackswechsels  erhielt  sich  ein  Streben 
aufrecht,  das  allen  gemeinsam  war. 

Das  Bedürfnis,  die  Sprache  zu  vervollkommnen,  sie  geschmeidiger 
zu  machen  und  zu  klären,  ihre  Gesetze  und  Formen  fester  zu  bestimmen 
und  ihnen  dauernden  Halt  zu  verleihen .  wurde  von  jedem  empfunden, 
der  zu  schreiben  unternahm.  Die  Sprache  hatte  sich  seit  einem  Jahr- 
hundert außerordentlich  entwickelt.  Umso  deutlicher  empfanxl  man,  daß 
ihr  noch  etwas  fehlte,  daß  es  noch  einer  letzten  Feile  bedurfte,  bevor 
sie  als  wahrhaftes  Kunstwerk  angesehen  werden  konnte. 

Ihr  diese  letzte  Vollendung  zu  geben ,  war  eine  schwere  Aufgabe, 
die  auf  zweierlei  Weise  gelöst  werden  konnte.  Wie  in  Italien  Dante  seine 
vaterländisclie  Sprache  mit  einem  Schlag  durch  sein  unsterbliches  Gedicht 
zur  klassischen  Höhe  erhob,  so  hätte  auch  in  Frankreich  ein  mächtiger 
Geist  erstehen  können,  um  durch  eine  Meisterschöpfung  der  Sprache 
seinen  Stempel  für  alle  Zeiten  aufzudrücken.  Oder  es  mußte  ein  logisch 
denkender,  genau  abwägender,    systematischer  Kopf  sich  berufen  fühlen. 

Lotheißen.  Gesell,  d.  franz.  LitteiMtur.  4 


50 

durch  grammatische  Schärfe  den  Gesetzen  der  Sprache  größere  Bestimmtheit 
zu  geben.  Die  erste  Weise  wäre  gewiß  die  schönste  gewesen,  allein  die 
traurigen  Jahrzehnte  der  geistigen  und  nationalen  Ermüdung  schlössen 
fast  jede  Möglichkeit  eines  baldigen  großen  poetischen  Aufschwungs  aus. 
So  blieb  nur  die  zweite,  bequemere  und  einfachere  Weise  übrig,  und  sie 
bot  sich  um  so  eher  dar  ,  als  sie  dem  Geist  der  Nation  überhaupt  zu- 
sagte. In  einer  Zeit,  in  welcher  der  Kuf  nach  Ordnung  alle  anderen 
Wünsche  übertönte,  mußte  auch  die  Handhabung  einer  gewissen  Polizei- 
gewalt auf  dem  Gebiet  der  Sprache  willkommen  sein. 

„Endlich  erschien  Malherbe!" 

So  begrüßt  Boileau  in  seinem  Lehrgedicht  von  der  Dichtkunst, 
nach  einer  allerdings  vielfach  irrigen  Charakteristik  der  früheren  Litteratur- 
perioden,  tief  aufatmend  den  Mann,  den  er  als  Begründer  der  französischen 
Poesie  betrachtete;  ^)  denn  für  das  17.  und  18.  Jahrhundert  gab  es  kein 
Heil  jenseits  der  großen  Khift ,  welche  sie  von  den  früheren  Jahrhun- 
derten trennte. 

Franyois  de  Malherbe  war  im  Jahr  1555  zu  Caen  in  der  Nor- 
mandie  geboren.  Die  Familie  rühmte  sich,  mit  dem  alten  Geschlecht  der 
Malherbe  Saint-Aignan  verwandt  zu  sein.  Ein  La  Haye  Malherbe  hatte 
den  Herzog  Wilhelm  von  der  Normandie  auf  seinem  Eroberungszug  nach 
England  begleitet.  Doch  scheint  der  Zusammenhang  der  Familie  des 
Dichters  mit  diesem  vornehmen  Geschlecht  zweifelhaft  gewesen  zu  sein, 
so  stolz  Malherbe  auch  darauf  war.  Denn  als  im  Jahr  1666  König 
Ludwig  XIV.  eine  Commission  einsetzte,  um  die  Adelsansprüche  der 
verschiedenen  Familien  seines  Landes  zu  prüfen ,  wurde  die  Familie 
Malherbe  al8  zur  Klasse  des  jungen  Adels  gehörig  aufgeführt. 

Der  Vater  des  Dichters  war  Gerichtsrat  in  Caen^)  und  besaß 
nur  ein  kleines  Vermögen.  Umso  zahlreicher  war  seine  Familie.  Fran^ois 
war  der  älteste  von  neun  Geschwistern.  Er  erhielt  eine  gute  Erziehung 
und  ging  später  unter  Leitung  eines  reformierten  Lehrers  zu  seiner 
weiteren  Ausbildung  nach  Paris,  Heidelberg  und  Basel.  Als  er  jedoch 
nach  vollendeten  Studien  im  21.  Jahr  in  die  Heimat  zurückkehrte,  ließ 
es  ihn  nicht  lange  daselbst.  Eine  tiefe  Verstimmung  scheint  ihn  aus  dem 
väterlichen  Haus  getrieben  zu  haben,  ^)  und  wir  sehen  ihn  bald  im  Gefolge 


1)  Boileau,  Art.  poetique  I,  v.  131. 

2)  Er  war  „Conseiller  du  roy  au  siege  presidial  de  Caen",  einem  Gerichts- 
hof erster  Instanz. 

2)  Kacan  in  seiner  Biographie  Malberbes,  und  ihm  folgend  auch  Talle- 
mant  des  Reaux  (I,  270)  sagen  allerdings  von  dem  Vater:  „Le  bouhomme  se 
fit  de  la  religion  avant  que  de  mourir;  son  fils  qui  n'avait  alors  que  dix-sept 
ans  en  receut  un  si  grand  deplaisir  qu'il  se  resolut  de  quitter  son  pays."  Sauval, 
(Antiq.  de  Paris,  1,  324)  bestätigt  die  Angabe  von  dem  Religionswechsel  des 
Vaters,  aber  wohl  auch  nur  auf  Racan  gestützt.  Der  neueste  Biograph  Mal- 
herbes, Ludovic  Laianne  (ed.  des  Gr.  Ecrivains  de  la  France),  bezweifelt  die 
Wahrscheinlichkeit  dieser  Überlieferung.  Abgesehen  von  den  Irrtümern  in  der 
Angabe  der  Daten  (der  Vater  starb  später,  und  der  Sohn  war  älter  zur  Zeit,  als  er 
die  Familie  verließ),  deutet  Laianne  auf  den  reformierten  Erzieher  hin.  um  eine 
spätere  Glaubeusänderung  des  Vaters    unwahrscheinlich    zu  macheu.    Er  glaubt 


51 


Heinrichs  von  Augouleme,  eines  natürlichen  Sohns  König  Heinrichs  II. 
Angouleme  war  Gouverneur  der  Provence,  und  dorthin  folgte  ihm  Mal- 
herbe, wahrscheinlich  als  Sekretär.  Wenn  er  übrigens  gehofft  hatte, 
durch  die  Gunst  dieses  vielvermögenden  Mannes  sein  Glück  zu  machen, 
f<o  täuschte  er  sich.  Eine  Eeihe  von  Jahren  stand  er  in  Angoulemes 
Dienst,  ohne  sich  eine  dauernde  Lebensstellung  sichern  zu  können.  Auch 
eine  Heirat  brachte  ihn  nicht  weiter.  Er  vermählte  sich  1581  mit 
]VIadeleine  de  Corriolis,  einer  Witwe,  die  schon  zwei  Männer  begraben 
hatte.  Die  Ehe  scheint  nicht  übermäßig  glücklich  gewesen  zu  sein.  Von 
drei  Kindern  starben  zwei  in  früher  Jugend ;  und  ein  Sohn,  der  bis  zum 
Mannesalter  gereift  war,  fand  noch  bei  Lebzeiten  der  Eltern  seinen 
Tod  in  einem  Zweikampf.  Malherbe  selbst  lebte  seit  seiner  Übersiedelung 
nach  Paris,  also  in  den  letzten  zwanzig  Jahren  seines  Lebens,  fern  von 
seiner  Frau,  die  er  in  der  Provence  zurückließ. 

Malherbes  poetische  Begabung  zeigte  sich  nicht  frühe.  Man  will 
von  jugendlichen  Versuchen  wissen,  die  sehr  unglücklich  ausgefallen 
wären.  Seine  ersten  uns  bekannten  Arbeiten  weisen  zwar  auch  noch 
lange  nicht  die  Reife  der  späteren  Gedichte  auf,  allein  sie  beweisen  doch 
durch  manchen  glücklichen  Vers ,  daß  der  Dichter  frühe  ein  feines  Ohr 
für  den  W^ohllaut  der  Sprache  und  Sinn  für  edlen  kräftigen  Ausdruck 
besessen  hat.^) 

Heinrich  von  Angouleme  fiel  im  Jahr  1586  durch  Mord  in  der 
Stadt  Aix,  und  für  Malherbe  begann  damit  eine  Periode  unruhiger  Wan- 
derung. Seiner  Stellung  verlustig  und,  wie  es  scheint,  von  der  Familie 
seiner  Frau  wenig  gestützt,  kehrte  er  in  seine  Heimat  zurück,  ob  sich 
ihm  dort  vielleicht  eine  neue  Aussicht  eröffne.  Allein  auch  dort  suchte 
er  vergebens.  Er  geriet  in  drückende  Verhältnisse,  mußte  Geld  auf- 
nehmen, um  leben  zu  können,  und  wendete  sich  in  seiner  Verlegenheit 
•endlich  an  König  Heinrich  III.,  dem  er  ein  längeres  Gedicht:  „Sanct 
Peters  Thränen",    widmete.     Darin  begrüßt    er   Heinrich  als  den  gehei- 

vielmehr  in  dem  Widerwillen  Malherbes,  die  Stelle  seines  Vaters  zu  übernehmen, 
den  Grund  der  Entzweiung  zu  sehen.  Ein  Brief  Malherbes  vom  14.  October  1626 
an  Mr.  de  Mertin  scheint  allerdings  auf  seine  frühere  Abneigung  gegen  die 
ßichterlaufbahn  hinzudeuten.  -  Immerhin  ist  die  Annahme  nicht  ausgeschlossen, 
daß  der  Vater  schon  lange  hugenottenfreundliche  Gesinnungen  gehegt,  seinem 
Sohn  einen  ealvinistisehen  Erzieher  mitgegeben  und  sich  doch  erst  später  zum 
förmlichen  Übertritt  entschlossen  habe. 

1)  Tallemant  des  Reaux  (edit.  Mommerque  &  Paris,  I,  272):  „Ses  Pre- 
miers vers  estaient  pitoyables,  j'en  ai  veü  quelques-uns  et  entre  autres  une 
-elegie  qui  debute  ainsy: 

Doncques  tu  ne  vis  plus,  Genevievfe  et  la  mort 
En  l'avril  de  tes  sens,  te  monstre  son  effort"  etc. 
Malherbe  selbst  sagt  freilich  anders  von  sich.    „Ode  an  Ludwig  XIII. ", 
V.  141  (aus  dem  Jahr  1627): 

„Les  puissantes  faveurs  dont  Parnasse  ra'honore 
Non  loin  de  raon  berceau  commencerent  leur  cours. 
Je  les  possedai  jeune,  et  les  possede  encore 
A.  la  fin  de  mes  jours." 


52 

ligten  Herrscher,  der  das  goldene  Zeitalter  heraufführe.  Der  König  liebte 
die  Dichtkunst,  wie  sein  Bruder  Karl,  zumal  wenn  sie  in  höfischer  Form 
auftrat  und  zum  Zeitvertreib  einer  müßigen  Stunde,  zur  Verherrlichung- 
einer  sinnlichen  Laune  dienen  konnte.  Er  befahl,  Malherbe  ein  Geschenk 
von  500  Thalern  zu  überreichen.  Den  Dank  zahlte  dieser  viele  Jahre 
später.  Als  Heinrich  schon  lange  tot  war.  scheute  sich  Malherbe  nichts 
sein  Andenken  in  einer  schneidenden  Strophe  zu  verunglimpfen.  .Wenn 
ein  Lotterkönig,  eine  wahre  Schande  der  Fürsten,  seinen  Schmeichlern 
die  Sorge  für  sein  Land  überläßt  und  unwürdig  sich  in  den  Wollüsten 
verliert,  dann  entziehen  wir  ihm  unsere  Achtung  und  freuen  uns  seines- 
Tods".')  Der  widerliche  Eindruck  dieses  Angriffs  wird  noch  erhöht, 
wenn  man  sieht,  daß  Malherbe  ihn  in  das  „Gebet  für  Heinrich  IV." 
verflocht,  jenes  Gedicht,  mit  welchem  er  sich  des  neuen  Königs  Gunst- 
zu  erwerben  wußte. 

Ein  einmaliges  Geldgeschenk  genügte  nicht,  um  Malherbes  Lage 
zu  bessern.  Es  mögen  wenig  erfreuliche  Jahre  für  den  Dichter  gewesen 
sein,  als  er  auf  der  Jagd  nach  einer  bequemen  und  vorteilhaften  Stellung 
sich  abwechselnd  in  der  Normandie  und  in  der  Provence  umhertrieb. 
Erst  das  Jahr  1600  brachte,  wenn  nicht  den  Umschwung  in  seinen 
Verhältnissen,  doch  die  Veranlassung  zu  seinem  späteren  Glückswechsel. 

Maria  von  Medici  feierte  in  jenem  Jahr  ihre  Vermählung  mit 
König  Heinrich.  Auf  ihrem  Zug  nach  Frankreich  berührte  sie  die  Pro- 
vence und  fand  besonders  in  Aix  einen  feierlichen  Empfang.  Malherbe 
dichtete  ihr  zu  Ehren  eine  begeisterte  Ode,  in  welcher  er  die  göttliche 
Schönheit  der  jungen  Königin  pries,  die  eine  Zeit  des  Friedens  und 
Wohlstands  mit  sich  bringe.  Der  entzückte  Dichter  weissagte  ihr  die 
Geburt  eines  Sohns,  der  als  großer  Kriegsheld  die  Türken  besiegen,  am 
Fuß  des  Libanon  Triumphe  erfechten  und  den  Müttern  in  Memphis  ob 
ihrer  erschlagenen  Söhne  Thränen  entreißen  werde.  Gewiß  eine  erfreu- 
liche Aassicht  für  das  friedebedürftige  Volk  Frankreichs,  dem  er  wenige 
Strophen  zuvor  eine  Zeit  der  Ruhe  versprochen  hatte.  Malherbe  schließt 
sogar  mit  der  Hoffnung,  es  werde  König  Heinrichs  Feldherren  gelingen, 
die  Grenzen  des  Reichs  zu  erweitern  und  die  Feinde  Frankreichs  so  zu 
vernichten,  daß  man  die  Spuren  ihrer  Städte  auf  den  Feldern  werde- 
suchen  müssen.-;) 

Maria  ließ  sich  den  Dichter  vorstellen,  und  behielt  seine  Verse, 
wie  es  scheint,  wohl  im  Gedächtnis.  In  der  That  waren  sie  geeignet,  all- 
gemeine Aufmerksamkeit  zu  erregen.  Das  schmeichlerische  Lob,  mit  dem 
er  Maria  begrüßte,  war  in  eine  Sprache  gekleidet,  wie  man  sie  in  Frank- 


1)  Friere  pour  le  roi  Henri  le  Grand,  allant  en  Limousin  (1605)  ?tr.  IG: 

„Quand  un  roi  faineant,  la  vergogne  des  princes, 
Laissant  ä  ses  flatteurs  le  sein  de  ses  provinces, 
Entre  las  voluptes  indignement  s'endort, 
Quoique  Ton  dissimule,  on  n'en  fait  point  d'estime ; 
Et  si  la  verite  se  peut  dire  sans  crime, 
C'est  aveeque  plaisir  qu'on  survit  ä  sa  mort." 
-)  Ode  ä  la  reine  Marie  de  Medicis  sur  sa  bienvenue  en  France.   IGOO. 


53 


reich  noch  nicht  gehört  hatte.  Die  Stiophen  enthüllten  eine  Kraft,  einen 
Wohlklang  und  eine  Bestimmtheit  des  Ausdrucks,  die  umsomehr  bewun- 
dert wurden,  je  weniger  man  daran  gewöhnt  war.  Ein  großer  Fortschritt 
in  der  Behandlung  der  Sprache  war  unverkennbar.  Malherbe  hatte  seinen 
Weg  gefunden.  Ein  Jahr  zuvor  schon  hatte  or  an  seinen  Freund  Fran- 
^ois  du  Perier,  den  Onkel  des  Dichters  Charles  du  Perier,  ein  Gedicht 
gerichtet,  um  ihn  über  den  frühzeitigen  Tod  seiner  Tochter  zu  trösten, 
und  hatte  darin  dieselbe  Herrschaft  über  die  Sprache  an  den  Tag  gelegt;^) 
diese  Meisterschaft  in  der  Form  wuchs  bei  ihm  fortwcährend,  und  gerade 
in   seinen  letzten  Arbeiten  zeigt  er  die  größte  Reife. 

Eine  Eeise  führte  Malherbe  im  Jahr  1605  nach  Paris.  Er  hatte 
dort  Privatgeschäfte,  aber  nebenbei  leitete  ihn  wohl  auch  die  Hoffnung, 
am  Quell  der  Gnaden  etwas  für  sich  zu  erlangen.  Er  wußte,  daß  man 
bei  dem  König  seiner  dichterischen  Thätigkeit  in  ehrenvollster  Weise 
Erwähnung  gethan  hatte;  seine  wenigen  Gedichte,  die  in  den  damals 
üblichen  Poesiesammlungen  erschienen  waren,  hatten  Aufsehen  gemacht. 
Als  er  deshalb  nach  Paris  kam  und  man  dem  König  seine  Ankunft 
hinterbrachte,  ließ  ihn  dieser  rufen  und  beehrte  ihn  sogleich  mit  einem 
Auftrag.  Er  war  im  Begriff,  zu  den  großen  Gerichtstagen  in  der 
Provinz  Limousin  abzureisen  und  wünschte  sie  durch  ein  Gedicht 
verherrlicht  zu  sehen.  Malherbe  entledigte  sich  seines  Auftrags  zur 
großen  Zufriedenheit  des  Königs.  Er  wußte  über  die  hohe  Mission  des- 
selben so  viel  Schmeichelhaftes,  daneben  auch  so  viel  Wahres  zu  sagen, 
und  kleidete  alles  in  so  schöne  Sprache,  daß  Heinrich  bei  seiner  Rück- 
kehr ihn  sogleich  dem  Herzog  von  Bellegarde,  seinem  Oberst-Stallmeister, 
zum  Schutz  und  zur  weiteren  Fürsorge  empfahl.  Dieser  nahm  Malherbe 
unter  die  Zahl  der  königlichen  Stallmeister  auf,  was  ihm  jährlich  etwa 
1000  Livres  einbrachte.  Nun  war  ihm  die  gewünschte  Laufbahn  ge- 
öffnet. Er  verstand  es,  sich  dem  König  noch  weiter  angenehm  zu 
machen,  wofür  er  zum  königlichen  Kammerherrn  ernannt  wurde.  Während 
der  nächsten  Jahre  war  er  der  Leibpoet  des  alternden,  in  seineu  Lieb- 
schaften aber  noch  sehr  feurigen  Königs;  er  diente  als  Dolmetsch  in 
den  Herzensangelegenheiten  seines  Herrn,  und  mußte  je  nach  Bedarf, 
im  Namen  und  teilweise  nach  mündlichen  Angaben  Heinrichs,  abwech- 
selnd klagende  Liebeslieder  und  Abschiedsverse,  oder  Oden  und  Sonette 
an  die  jeweiligen  Heldinnen  des  Königs  richten.  Bestellte  Waren,  sollte 
man  denken,  können  einem  Dichter  niemals  so  gut  gelingen,  wie  Werke, 
welche  er  seiner  freien  Inspiration  verdankt.  Allein  Malher"be  war  kein 
Dichter,  bei  dem  Begeisterung  und  Phantasie  eine  große  Rolle  spielten. 
Die  Weihe  des  dichterischen  Genius  fehlte  ihm,  und  so  kam  es,  daß 
diese  auf  Bestellung  gelieferten  Gedichte  zu  seinen  besten  Arbeiten  ge- 
hören.    Er   war   eben   ein  geborener  Hoflieferant.     Dabei    hatte   er   das 


1)  Consolation  ä  Mr.  Du  Perier,  staaces,  1599.  Das  Gedicht  beginnt  mit 
den  Worten:  ..Ta  douleur,  Du  Perier,  sera  donc  eternelle"  und  enthält  die  be- 
Jiiuiaten  .schönen  Verse: 

„Et  rose  eile  a  vecu  cc>  (jue  vivont  les  roses 
L'eijpaee  d'un  matiu." 


54 

Talent,  nie  mit  seinem  Besitz  zufrieden  zu  sein,  sondern  immer  mehr 
zu  verlangen.  Solange  Heinrich  lebte,  sah  er  seine  Wünsche  freilich 
wenig  befriedigt,  denn  der  König  war  trotz  seiner  Galanterie  ein  guter 
Haushalter.  Als  derselbe  aber  unter  Ravaillacs  Dolch  geendet  hatte, 
begann  für  Malherbe  eine  einträglichere  Zeit.  Heinrich,  „der  Große,  der 
Aleide,  der  Halbgott",  solange  er  lebte,  war  bald  von  ihm  vergessen.') 
Umso  lauter  verkündete  er  dafür  den  Ruhm  der  Regentin,  die  seiner 
ersten  Huldigung  noch  gedachte.  Geldgeschenke  und  eine  bedeutende 
Erhöhung  seines  Gehalts  belohnten  ihn.  Fortwährend  bei  Hof  und  in 
Mariens  Nähe,  war  er  ihr  ergebenster  Diener,  solange  sie  die  Macht 
in  Händen  hatte.  Kaum  war  sie  bei  Seite  geschoben,  als  auch  er 
sie  verließ  und  kein  Wort  mehr  für  sie  fand.  Die  Großen,  denen  er 
schmeichelte,  solange  sie  Macht  hatten,  wurden  von  ihm  geschmäht, 
sobald  sie  gefallen  waren.  Das  war  so  sein  Dank.-)  Später  galten 
seine  Huldigungen  König  Ludwig  XHI.  und  Richelieu,  welch  letzterer 
ihn  noch  im  Jahr  1626  zum  Tresorier  de  France,  eine  Art  Rentmeister, 
ernannte.^)  Malherbe  war  allmählich  zu  einem  schönen  Vermögen  gelangt; 
eine  königliche  Schenkung  hatte  ihn  zum  Besitzer  von  beträchtlichem^ 
Terrain  bei  Toulon  gemacht,  das  er  trefflich  zu  verwerten  wußte. 

In  seinen  letzten  Jahren  gehörte  Malherbe  zu  den  Besuchern  des 
Hotel  Rambouillet.  Ohne  Zweifel  stand  er  daselbst  wegen  seiner  dichte- 
rischen Gabe  in  hohem  Ansehen.  Die  Gesellschaft,  die  sich  bei  der  Mar- 
quise  zusammenfand,  erstrebte  die  Verfeinerung  der  Sitten,  und  trachtete 
danach,  auch  aus  der  Sprache  die  Derbheit  des  Ausdrucks,  eine  Erb- 
schaft der  wilden  Vergangenheit,  zu  bannen.  Wie  hätte  sie  Malherbe, 
den  strengen  Gesetzgeber  auf  dem  Gebiet  der  Sprache  und  Dichtung, 
nicht    als    willkommenen    Bundesgenossen    begrüßen    sollen?     In    einem 


^)  In  einem  Brief  an  Peiresc,  Juni  1(310,  über  Heinrichs  Tod  schreibt 
Malherbe  sehr  kühl:  „Contentez-vous  que  pour  un  si  grand  changement  il  n'y 
en  eut  jamais  si  peu:  nous  avons  eu  un  grand  roi,  nous  avons  une  grande  reine. 
On  se  console  partout  et  jusques  au  Louvre;  ce  sont  des  merveilles  de  la  bene- 
diction  de  Dieu  sur  ce  royaume."  In  einem  späteren  Brief  vom  9.  August  an 
Peiresc  heißt  es  in  Bezug  auf  eine  Trauerrede  auf  Heinrichs  Tod:  „J'en  dirai 
ma  ratelee  apres  les  autres,  mais  ce  sera  assez  tot  si  assez  bien." 

-)  Vergl.  seine  „Prophetie  du  dieu  de  Seine"  auf  den  Tod  des  Marschalls 
d'Ancre:  „Va-t'en  ä  la  malheure,  excrement  de  la  terre"  u.  s.  w.  Seine  Über- 
setzung des  Livius  hatte  er  dem  Connetable  de  Luynes  gewidmet,  und  ihm  in 
der  Widmung  für  die  freundliche  Aufnahme  gedankt,  die  er  jedesmal  bei  ihm 
gefunden  habe.  Dafür  schrieb  er  nach  Luynes  Tod  folgendes  Epigramm :  „Pour 
servir  d'epitaphe  au  Connetable  de  Luynes"  (1621): 

„Cet  Absinthe  au  nez  de  barbet 
En  ce  tombeau  fait  sa  demeure. 
Chacun  en  rit,  et  moi  j'en  pleure: 
Je  le  voulois  voir  au  gibet." 

^)  In  jedem  Pinanzbezirk  (generalite)  des  Landes  gab  es  eine  „chambre 
des  tresoriers  de  France"  hauptsächlich  für  die  Verwaltung  der  Domänen.  Neben 
ihnen  standen  die  „Eeceveurs  generaux"  für  die  Steuern  u.  s.  w.  Vergl.  Cheruel, 
„Dictionaire  historique  des  institutions,  mreurs  et  coutumes  de  la  France";  Paris, 
Haehette,  1874  (Artikel:  „Generalite"  und  „Tresorier  de  France"). 


55 


längeren  Gedicht  (1611))  huldigt  Malherbe  der  edlen  Marquise  in  der 
Weise  der  damaligen  Zeit.  Er,  der  bereits  64  Jahre  zählte,  sprach  zu 
der  noch  jungen  Frau  im  Ton  eines  stürmischen  Liebhabers  und  beklagte 
sich  über  die  Kälte  ihres  Wesens. 

In  hohem  Alter  hatte  Malherbe  noch  den  Schmerz,  seinen  einzigen 
Sohn  Marc  Antoine  zu  verlieren.  Derselbe  war  Mitglied  des  Parlaments 
von  AiX;  von  etwas  wilden  Sitten,  wie  es  scheint.  Nachdem  er  in  früheren 
Jahren  einen  Gegner  im  Duell  erstochen  hatte ,  fiel  er  selbst  in 
einem  Zweikampf,  bei  dem  es  sehr  unregelmäßig  herging,  und  der  fast 
einem  Mordanfall  gleichsah.  Malherbe  bot  allen  Einfluß  auf,  die  Bestrafung 
der  Gegner  zu  erlangen,  was  trotz  der  strengen  Gesetze  gegen  das  Duell 
nicht  leicht  war.  In  diesem  Sinn  wandte  er  sich  an  den  König,  reiste 
selbst  in  das  Lager  vor  La  Rochelle,  wo  er  Richelieu  traf,  brachte  aber 
von  dieser  Reise  den  Keim  der  Krankheit  mit,  die  ihn  am  16.  Oktober 
1628  in  Paris,  im  Alter  von  73  Jahren,  hinwegraffte. 

Der  Charakter  Malherbes  geht  aus  der  kurzen  Lebensskizze  zur 
Genüge  hervor.  Trocken  und  nüchtern  von  Xatur,  zeigte  er  sich  in 
seinem  Betragen  egoistisch,  hart  und  zurückstoßend.  Die  Bewunderung 
seiner  Zeitgenossen  und  das  Bewußtsein  seines  Worts  hatten  ihn  mit 
einem  Selbstgefühl  begabt,  das  ihn  nie  verließ,  obschon  er  sich  in  Mo- 
menten übler  Laune  selbst  herabsetzen  und  z.  B.  einen  guten  Dichter 
für  ebenso  unnütz  im  Staat  wie  einen  geschickten  Kegelspieler  erklären 
konnte.  Früh  alleinstehend,  in  seiner  Jugend  umhergetrieben,  dem  Glück 
nachjagend  in  verdorbener  Zeit,  später  an  einem  nichts  weniger  als  sitten- 
strengen Hof  lebend,  wäre  es  fast  ein  Wunder  gewesen,  wenn  Malherbe 
nicht  auch  in  seinem  Lebenswandel  den  leichten  Anschauungen  seiner 
Umgebung  gehuldigt  hätte.  Nur  in  seinem  Privatleben  blieb  er  einfach, 
trotz  der  Pracht  des  Hoflebens,  die  ihn  umgab ;  ja  seine  Einfachheil 
artete,  scheint  es,  vielfach  zum  Geiz  aus. 

Außer  einer  nicht  sehr  großen  Zahl  von  Gedichten  besitzt  man 
von  ihm  nur  noch  einige  Übersetzungen,  die  des  33.  Buchs  des  Livius, 
der  Briefe  des  Seneca  und  der  Schrift:  „Über  die  Wohlthaten"  von  dem- 
selben Verfasser.  Daneben  ist  noch  eine  große  Sammlung  von  Briefen 
erhalten,  die  er  an  seine  Bekannten,  besonders  an  seinen  jungen  Freund 
Peiresc')  in  Aix  richtete,  und  endlich  ein  ausführlicher  sprachlicher  und 
ästhetischer  Kommentar  zu  den  Gedichten  seines  Rivalen  Desportes.  Die 
Übersetzungen  geben  zwar  mehr  eine  Umschreibung  als  eine  Übersetzung 
des  knappen  lateinischen  Ausdrucks,  aber  ihre  Sprache  ist  bereits  die 
der  neuen  Zeit.  Die  Briefe  enthalten  vielfach  wichtige  Mitteilungen, 
und  sind  ein  Beweis  für  den  praktischen  Sinn,  aber  auch  für  den  engen 
geistigen  Horizont  Malherbes.  Interessante  Skizzen  aus  der   Gesellschaft. 


1)  Nicolas-Claude  Fabri  de  Peiresc,  geb.  1580,  seit  1G07  Rat  im  Parla- 
ment von  Aix,  machte  große  Reisen  in  Europa  und  hinterließ  bei  seinem  Tod 
1637  die  ungeheure  Zahl  von  125  Foliobänden  Manuscript.  Die  Briefe  Mal- 
herbes, die  jetzt  auf  der  Nationalbibliothek  zu  Paris  aufbewahrt  werden,  stammen 
daraus.  Der  Rest  der  Manuskripte  ist  allmählich  von  den  Verwandten  Peiresc.'; 
verzettelt  worden. 


lebhafte  Schilderungen,  Stellen  von  originellem  Charakter  finden  sich  nicht 
darin;  Malherbe  gehörte  nicht  zu  der  Zahl  der  geistreichen  Correspon- 
denten,  welche  die  Lebhaftigkeit  ihres  Fühlens  und  Denkens  in  ihren 
Briefen  widerspiegeln  und  durch  ein  einziges  Schreiben  oft  einen  tiefen 
Blick  in  die  Gesellschaft  ihrer  Zeit  erlauben. 

So  ist  es  ausschließlich  der  kleine  Band  Gedichte,  der  seinen  Ruhm 
begründete. 

Malherbe  genau  zu  würdigen,  muß  man  in  ihm  den  Dichter  und 
den  Sprachgelehrten  scheiden.  Wenn  aber  nur  der  ein  wahrer  Dichter 
ist,  der  in  der  Tiefe  seines  Gemüts  Worte  ergreifender  Wahrheit  und 
Innigkeit  findet,  oder  der  im  kühnen  Flug  seiner  Gedanken  die  Menschen 
mit  sich  fortreißt  und  zu  edleren  Anschauungen  erhebt;  wenn  nur  der 
ein  wahrer  Dichter  ist,  der  als  Prophet  und  Lehrer  seines  Volkes  dasteht, 
gewiß,  dann  hat  Malherbe  kaum  Anspruch  darauf,  als  Dichter  gepriesen 
zu  werden.  Er  wählte  sich  eine  der  schwierigsten  Formen  der  lyrischen 
Poesie,  die  Ode,  für  seine  hauptsächlichen  dichterischen  Arbeiten.  Aber 
wenn  es  ihm  auch  öfters  gelang,  einzelnen  Teilen  Kraft  und  Leben  ein- 
zuhauchen, wenn  manche  seiner  Oden  voll  Schwung  sind,  so  scheiterte 
er  doch,  wie  seine  Vorgänger,  bei  dem  unglücklichen  Versuch,  die  Welt 
der  alten  Mythologie  mit  ihren  tönenden  Namen  und  ihren  Bildern,  die 
das  Gemüt  des  modernen  Lesers  nur  fremdartig  berühren,  im  Reich  der 
Poesie  lebendig  zu  erhalten.  Die  Oden  bekommen  dadurch  etwas  Er- 
künsteltes, und  Malherbe  war  ohnehin  schon  von  Natur  frostigen  Gemüts. 
Was  er  Liebe  nennt,  ist  meist  steife  Gahanterie,  und  nur  selten  erklingt 
bei  ihm  unter  den  Phrasen  gekünstelter  Leidenschaft  ein  naturwahrer 
Laut.  Dafür  benutzt  er  die  Dichtkunst  als  eine  bequeme  Leiter  zu  Ehren 
und  Reichtum.  Er  weiß  zu  schmeicheln  wie  nur  je  ein  Höfling.  Heinrich  IV. 
und  Maria  von  Medici  sollen  Göttern  gleich  in  Tempeln  verehrt  werden, 
und  auch  Richelieu  wird  von  ihm  fast  zum  Rang  einer  Gottheit  erhoben.') 
Und  doch,  hätte  er  sich  nur  darauf  beschränkt,  durch  Schmeicheleien  sein 
Glück  zu  suchen!  Allein  er  vergißt  sich  in  anderen  Gedichten  so  weit, 
daß  er  Krieg  und  Verwüstung,  furchtbare  Rache  predigt,  und  sich  ge- 
berdet, als  lechze  er  nach  Blut.  Ist  das  bei  ihm  nicht  hohles  Vers- 
geklingel, nicht  Freude  am  hochtrabenden  heroischen  Wort ;  ist  es  wirklich 
der  Ausdruck  seines  inneren  wahren  Gedankens,  dann  enthüllt  er  uns 
eine  Herzensroheit,    wie  sie  sich  selten  zu  äußern  wagt,    und   nur  nach 

^)  „A  la  reine,  mere  du  roi,  sur  les  heureux  succes  de  sa  regence"'  (1610), 
V.  55  ff. : 

Que  peut  la  fortune  publique 
Te  vouer  d'assez  magnifique, 
Si,  mise  au  rang  des  immortels, 
Dont  ta  vertu  siüt  les  exemples, 
Tu  n'as  qu'avec  eux,  dans  nos  temples, 
Des  Images  et  des  autelsV" 
Vergl.  damit  das  Sonett:  „Pour  Mr.  le  Cardinal  de  Richelieu"  (10-26),  in 
dem  es  ähnlich  heißt: 

„Que  si,  comme  nos  dieux.  il  n'a  place  en  nos  temples, 
Tout  ce  qu'on  lui  peut  faire,  est  moins  qu'il  ne  luit  faut." 


57 


der  Verwilderung  der  langen  Kriege  in  so  naiver  Weise  sich  zeigen 
konnte.  Er  hofft,  Turin  dem  Erdboden  gleich  gemacht  zu  sehen,  er  er- 
mahnt, die  Provinzen  Spaniens  unbarmherzig  zu  verwüsten,  das  Eskurial 
zu  zerstören.  Er  ruft  zum  Kreuzzug  auf,  und  sein  Fanatismus  steigert 
sich  zum  höchsten  Grad,  als  er  hört,  daß  die  Protestanten  gegen 
Ludwig  XIII.  zu  den  Waffen  greifen.^)  Der  Patriot  mochte  den  neu  aus- 
brechenden Bürgerkrieg  beklagen,  der  Staatsmann  mochte  die  rücksichts- 
lose Niederwerfung  des  Aufstands  als  ein  Gebot  der  Staatsklugheit  be- 
trachten, der  Dichter  hatte  nicht  die  Aufgabe,  den  Haß  zu  schüren.  In 
einer  seiner  berühmten  Oden,  die  sich  oft  zu  hinreißender  Kraft  erhebt, 
ruft  er  dem  König  zu,  er  möge  sich  einem  Löwen  gleich  auf  die  Empörer 
stürzen,  die  stolzen  Häupter  dieser  Höllenbrut  niederschlagen,  und  zum 
Heil  Frankreichs  mit  Feuer  und  Schwert  vorgehen.  „Zieh  hin,  vernichte 
sie,  vertilge  ihre  Brut,  und  laß  deinem  edlen  Zorn  freien  Lauf  bis  zum 
Ende.  Höre  nicht  auf  die  Stimme  des  Mitleids  und  der  Milde,  die  für 
für  sie  redet."  So  spricht  Malherbe,  der  Greis,  den  die  Erfahrung  des 
Lebens  keine  Milde  gelehrt  hatte,  der  Dichter,  welcher  doch  der  Apostel 
der  Menschlichkeit  sein  sollte.  Selbst  Richelieu  dachte  anders,  denn  er 
bezwang  wohl  die  Hugenotten,  entriß  ihnen  die  Sonderstellung,  die  sie 
bis  dahin  besessen  hatten,  behandelte  sie  aber  im  übrigen  mit  großer 
Milde. 

In  Malherbes  Worten,  wie  in  seinen  Gedanken  spricht  sich  ein 
Heroismus  aus,  der  an  sich  oft  falsch  und  einseitig,  doch  der  Beweis 
einer  gewissen  Kraft  ist,  die  man  bei  den  anderen  Lyrikern  seiner  Zeit 
vermißt.  Nur  ist  sein  Schwung  nicht  von  langer  Dauer,  und  er  fällt 
schnell  ins  unbedeutende  und  prosaische  zurück. 

Ähnlich  wie  Horaz  im  Bewußtsein  seiner  Leistungen  sein  stolzes 
„Exegi  monumentum"  sprach,  so  auch  Malherbe.  Der  lateinische  Dichter 
aber,  dessen  unvergleichliche  Geisteswerke  von  der  ganzen  Welt  gekannt 
sind,  beschränkt  sich  darauf,  ein  einziges  Mal  ein  Selbstgefühl  laut 
werden  zu  lassen,  denn  Takt  und  Geschmack  waren  ihm  zu  eigen. 
Malherbe  dagegen,  der  zwar  für  die  Sprache  seines  Volkes  viel  gethan 
hat,  aber  doch  mit  Horaz  nicht  verglichen  werden  kann,  und  selbst  in 
seinem  Vaterland  nur  noch  von  wenigen  gekannt  wird,    wiederholt   sein 


')  „Ode  au  roi  Louis  XIII  allant  chatier  les  Eochellois"  (1627): 

1)  Donc  un  nouveau  labeur  ä  tes  armes  s'apprete;     ' 
Prends  ta  foudre,  Louis,  et  va,  comme  un  lion, 
Donner  le  dernier  coup  ä  la  derniere  tete 

De  la  rebellion. 

2)  Fais  choir  en  sacrifice  au  demou  de  la  France 
Les  fronts  trop  eleves  de  ces  ämes  d'enfer, 

Et  n'epargne  contre  eux,  pour  uotre  delivrance 
Ni  le  feu  ni  le  fer. 

8)   Marche,  va  les  detruire;  eteins-eu  la  semence, 
Et  suis  jusqu'ä  leur  tin  ton  courage  genereux, 
Sans  Jamals  ecouter  ni  pitie  ni  clemence 
Qui  te  parle  pour  eux 


58 

Selbstlob.  so  oft  er  kann,  und  sucht  das  Thema  nicht  einmal  zu  variieren. 
Er  meint,  nur  wenige  Dichter,  zu  deren  Zahl  er  sich  jedoch  rechnet^ 
hätten  die  Kraft,  ein  Lob  für  alle  Ewigkeit  zu  verkünden.  Ein  andermal 
findet  er,  König  Ludwig  müsse  es  als  das  größte  Glück  ansehen,  in 
ihm  den  Herold  seiner  Thaten  gefunden  zu  haben,  .,denn  was  Malherbe- 
singt,  ist  unvergänglich".  Wer  denkt  bei  diesen  Worten  nicht  an 
Alexanders  Stoßseufzer,  daß  Achill  seinen  Sänger  gefunden  habe,  aber 
er  nicht.  ^)  Derlei  Stellen  könnte  man  noch  viele  anführen.  Malherbe 
setzt  jedem  seiner  mächtigen  Gönner  den  Wert  seiner  Lobeserhebungen 
auseinander ;  man  ist  versucht  zu  glauben,  er  thue  es,  um  sich  deutliche 
Beweise  der  Gnade  zu  sichern. 

Doch  erklärt  sich  sein  Selbstgefühl  zum  Teil  auch  aus  der  fast 
uneingeschränkten  Bewunderung,  welche  seine  Zeitgenossen  ihm  ent- 
gegenbrachten. Wir  begreifen  dieses  Gefühl  vollkommen.  In  jener  Zeit, 
welche  den  Sinn  für  wahre  Poesie  fast  ganz  verloren  hatte,  mußte  ein 
Dichter  von  dem  Charakter  und  der  Art  Malherbes  besondere  Geltung 
erlangen.  Die  Schönheit  der  Form  blendete.  Solche  Strophen  hatte  man 
in  französischer  Sprache  noch  nicht  gelesen,  einen  solchen  Reichtum  an 
wohlklingenden  Versen  noch  nirgends  bei  den  vaterländischen  Dichtern 
gefunden.  Waren  Malherbes  Worte  doch  oft  fein  geschliffenen  Krystallen 
vergleichbar,  so  klar  und  sicher  erschienen  sie.  Durch  solche  Gedichte 
verkündete  er  seine  Meisterschaft  über  die  Sprache  und  begründete 
seinen  Einfluß  auf  sie.  Häufig  versammelte  er  in  seinem  Haus  seine  er- 
gebensten Anhänger,  Racan.  Maynard  und  andere,  in  deren  Kreis  er 
wie  ein  Prophet  und  Gesetzgeber  auftrat,  seine  Lehren  verkündigte  und 
seine  Urteile  sprach.  In  diesen  Zusammenkünften  wurde  gewissermaßen 
ein  neues  Gesetzbuch  für  die  französische  Sprache,  besonders  die  Sprache 
der  Dichtung,  ausgearbeitet.  Malherbe  war  ein  unerbittlicher  Richter, 
der  die  geringsten  Schwächen  im  Ausdruck  bei  den  anderen  rügte. 
Sein  Kommentar  zu  Desportes  ist  dafür  der  beste  Beweis.^)  Dieser 
lehrt  uns,  wie  streng  Malherbe  es  mit  der  Aufgabe  des  Dichters  nahm. 
Freilich  blieb  er  dabei  ganz  äußerlich  und  kleinlich;  seine  Bemerkungen 


1)  „A  la  reine",  1610: 

Et  trois  DU  quatre  seulement, 
Au  nombre  desquels  on  me  ränge, 
Peuvent  donner  une  louange 
Qui  demeure  eterneUement. 

Vergl.  damit  , Sonnet  au  roi  Louis  XIII" : 

Mais  qu'en  de  si  beaux  faits  voiis  m'ayez  pour  temoin, 
Connaissez-le,  mon  roi,  c'est  le  comble  du  soin 
Que  de  vous  obliger  out  eu  les  Destinees. 

Tous  vous  savent  louer,  mais  non  egalement, 
Les  ouvrages  eommuns  vivent  quelques  annees, 
Ce  que  Malherbe  ecrit,  dure  eterneUement 

-)  Das  Exemplar  der  Ausgabe  des  Desportes,  das  mit  den  fortlaufenden 
kritischen  Randglossen  Malherbes  versehen  ist,  befindet  sich  auf  der  National- 
bibliothek zu  Paris;  zwei  Abschriften  davon  besitzt  die  Bibliothek  des  Arsenals. 


59 


beziehen  sich  nur  auf  eine  ängstlich  abgemessene  Richtigkeit  des  Aus- 
drucks, auf  Konstruktion  und  Versbau,  nirgends  stellt  er  Anforderungen 
an  den  Charakter,  den  Geist  der  Dichtung.  Wieviel  höher  erscheint  in 
diesem  Punkt  später  Boileau,  den  man  so  gern  mit  ihm  vergleicht. 
Malherbes  Kritik  wird  oft  zum  kleinlichen  Kritteln,  zur  schnöden  Wort- 
klauberei. 

Eine  ähnliche  Strenge  wandte  Malherbe  auch  gegen  sich  an.  Seine 
Dichtungen  hat  er  außerordentlich  gefeilt,  und  immer  und  immer  wieder 
an  ihnen  gebessert.  Sagt  doch  auch  Tallemant  des  Reaux,  daß  nur 
Ausdauer  und  Kunst  Malherbe  zum  Dichter  gemacht  haben.  Spötter 
wußten  über  seine  Langsamkeit  manches  Geschichtchen  zu  erzählen. 
Als  der  Präsident  du  Verdun  seine  Frau  verloren  hatte,  bat  er  Malherbe 
um  eine  Ode  zu  Ehren  der  Dahingeschiedenen.  Da  heißt  es  nun,  dieser 
habe  drei  volle  Jahre  gebraucht,  um  die  gewünschte  Arbeit  zu  vollenden, 
und  als  er  endlich  mit  dem  Trauergedicht  dem  trostlosen  Witwer  habe 
aufwarten  wollen,  habe  er  ihn  an  der  Seite  einer  zweiten  Frau  bereits 
getröstet  gefunden.  Leider  ist  die  hübsche  Erzählung  erfunden. 

Man  hat  Malherbe  von  jeher  in  Frankreich  einen  Ehrenplatz  zu- 
erkannt, und  nur  bescheiden  und  vorsichtig  hat  die  Kritik  hier  und  da 
zu  tadeln  versucht.  Können  wir  auch  nicht  ganz  mit  dieser  Ansicht 
übereinstimmen,  so  erklärt  sie  sich  doch  leicht.  Der  Franzose  hat  ein 
starkes  Formgefühl,  und  Malherbe,  bei  dem  es  besonders  ausgeprägt 
war,  mußte  ihm  deshalb  gefallen.  Zudem  ist  es  wie  eine  patriotische 
Pflicht,  den  Mann,  der  sich  so  große  Verdienste  um  die  Sprache  er- 
worben hat,  nicht  zu  streng  zu  behandeln,  und  seinen  Mangel  an 
poetischer  Kraft  nur  leicht  zu  berühren.  Daß  Malhevbe  vom  Dichter  vor 
allem  verständigen  Gang  auf  ebener  Straße  verlangte,  jeder  poetischen 
Übertreibung  spottete,  jede  Äußerung  der  Phantasie  verbannte,  sofern 
sie  über  eine  gewisse  Grenze  der  üblichen,  von  den  Alten  geheiligten 
Bilder  und  Ausdrucksweise  hinausging,  selbst  das  war  ein  Zug,  der  ihm 
nur  Anhänger  gewinnen  konnte.  Denn  auch  damit  entsprach  Malherbe 
einer  Richtung  des  französischen  Nationalgeistes,  nur  daß  sie  bei  ihm 
allzu  einseitig  ausgebildet  erschien. 

So  sprach  denn  Boileau  nur  das  allgemeine  Urteil  aus,  als  er 
ihm  ein  ehrenvolles  Denkmal  in  seiner  „Dichtkunst"  setzte  und  damit 
zugleich  seinen  Geboten  neues  Ansehen  verlieh.^)  Durch  Boileau  wurden 
Malherbes  Reformen   endgiltig    zum    Gesetz    erhoben    und    behielten   ihre 


1)  Boileau,  Art.  Poetique,  I,  v.  131  flf : 

Enfin  Malherbe  vint;  et  le  prämier  en  France, 
Fit  sentir  dans  le  vers  une  juste  cadence: 
D'un  mot  mis  en  sa  place  enseigna  le  pouvoir. 
Et  reduisit  la  muse  aux  regles  du  devoir. 
Par  ce  sage  eerivain  la  langue  reparee 
N'offrit  plus  rien  de  rüde  ä  roreille  epuree. 
Les  stances  avec  gräee  apprirent  k  tomber, 
Et  le  vers  sur  le  vers  n'osa  plus  enjamber. 
Tout  reconnut  ses  lois,  et  ce  guide  fidele 
Aux  auteurs  de  ce  temps  sert  encor  de  modele. 


60 


Kraft,  solange  die  Zeit  der  klassischen  Traditionen  währte.  Erst  Andre 
Chenier  und  die  romantische  Schule  wagten  es,  von  diesen  strengen 
Regeln  wieder  abzugehen  und  ihrem  Vers  größere  Freiheit  zu  geben. 
Malherbe  verlangte  peinliche  Genauigkeit  in  Bezug  auf  den  Reim ;  er 
ächtete  die  poetischen  Lizenzen  und  kühnen  Inversionen.  Gute  Verse 
müßten  der  Prosa  nahe  kommen.  Der  Hiatus,  der  bis  dahin  keinen 
Anstoß  erregte,  wurde  als  hart  und  unharmonisch  verbannt.  Jeder  Vers, 
besonders  der  Alexandriner,  sollte  ein  gewisses,  für  sich  abgeschlossenes 
kleines  Ganze  bilden.  Dadurch  erreichte  der  letztere  allerdings  die  ihm 
eigentümliche  Kürze  und  Schärfe  des  Ausdrucks,  wurde  aber  auch  in 
hohem  Grad  monoton,  umsomehr,  als  ihn  das  Gesetz  der  Cäsur  nach 
der  sechsten  Silbe  schon  in  zwei  starre  Hälften  trennte.^) 

Diese  Reformen  in  Sprache  und  Metrik  haben  allerdings  den  fran- 
zösischen Vers  elegant  und  klar  gestaltet,  aber  sie  haben  ihm  auch  ein 
schönes  Stück  Leben  und  Kraft,  Mannigfaltigkeit  und  Harmonie  geraubt. 
Die  Mühe ,  mit  welcher  Malherbe  nach  klarer  Konstruktion  und  ge- 
schmackvollem Ausdruck  rang,  wurde  reich  belohnt,  denn  er  schuf  den 
poetischen  Stil  in  Frankreich;  aber  auf  der  andern  Seite  beförderte  er 
die  rasche  Verarmung  der  Sprache.  So  steht  sich  Tadel  und  Lob  gegen- 
über. Aber  das  letztere  überwiegt,  wenn  man  bedenkt,  daß  Malherbe 
den  Weg  gebahnt  hat,  auf  welchem  die  französische  Sprache  zu  jener 
Anmut  und  Klarheit  des  Ausdrucks  gelangte,  die  sie  so  sehr  aus- 
zeichnet. 

Bei  all  dem  ist  eines  nicht  zu  übersehen.  Wenn  auch  Malherbe 
die  erwähnten  Reformen  anregte  und  mit  Hartnäckigkeit  auf  ihrer  Durch- 
führung bestand,  so  war  er  doch  nur  ein  einzelner  Mann,  und  seine 
Macht  lag  allein  in  der  Übereinstimmung  seiner  Bestrebungen  mit  dem 
Geschmack  und  der  Geistesrichtung  seines  Volkes.  Es  ist  schon  früher 
gezeigt  worden,  wie  sehr  man  von  allen  Seiten  auf  die  Durchbildung 
und  Klärung  der  Sprache  drängte.  Sowenig  man  der  Akademie  die 
Schuld  der  einseitigen  Richtung  zuschreiben  darf,  welche  die  französische 
Litteratur  später  einschlug ,  sowenig  darf  man  in  Malherbe  einen  Herrn 
erblicken,  der  nach  Gutdünken  über  die  Sprache  hätte  schalten  können. 
Im  französischen  Geist  liegt  die  Liebe  zur  Klarheit,    zur  Symmetrie  tief 


1)  Tallemant  de  Reaux.  Historiettes,  I,  297,  giebt  u.  a.  Malherbes  For- 
derungen in  Bezug  auf  den  Reim  an.  Ihm  zufolge  muß  der  Reim  ebenso  richtig 
für  das  Auge  wie  für  das  Ohr  seiu.  Die  Endungen  ant  und  ent,  ance  und  ence 
dürfen  also  nicht  miteinander  reimen.  Ebenso  einfache  Wörter  mit  ihren  Zu- 
sammensetzungen, wie  temps  und  printonps,  jour  und  sejour.  Wöi'ter,  welche 
eine  gewisse  Beziehung  zu  einander  ausdrücken,  wie  pere  und  mcre,  toi  und  tnoi, 
oder  die  einen  Gegensatz  ausdrücken,  wie  campagne  und  muntagne,  offense 
und  defense,  sind  zum  Reim  ungeeignet.  Je  schwerer  der  Reim,  desto  verdienst- 
licher das  Gedicht  —  lautete  Malherbes  Lehre.  Bezeichnend  ist  noch  eine  an- 
dere Anekdote,  die  Tallemant  mitteilt  (S.  276).  Des  Yveteaux  machte  Malherbe 
darauf  aufmerksam,  daß  er  einen  häßlichen  Klang  in  einem  seiner  Verse  habe; 
es  heiße  dort:  ,,ma  la  pla!"  („Victoire  de  la  Constaiice",  1597,  beginnend  mit 
dem  Vers:  „Enfin  cette  beaute  m'a  la  pjlace  rendu.")  Malherbe  antwortete  mit 
dem  Vorwurf,  des  Yveteaux  habe  sogar  einmal  ^jo  ra  bla  la  //«  gesungen  — 
in  einem  Vers:  Comparabh  u  la  //nmme. 


61 


begründet  und  bedingt  gleichzeitig  eine  gewisse  Nüchternheit  des  Wesens. 
Daß  Malherbe  diesen  Charakterzug  so  scharf  in  sich  ausgeprägt  trug 
und  ihn  in  schwerer  Zeit  zu  glücklichem  Ausdruck  in  der  Sprache 
brachte,  das  hob  ihn  so  hoch  empor  und  half  ihm  zum  Sieg. 

Allerdings  hatte  Malherbe  auch  bedeutende  Gegner,  darunter  die 
Dichter  Desportes,  Bertaut,  die  der  früheren  Richtung  angehörten,  und 
besonders  den  Satiriker  Mathurin  Regnier,  der  ihm  an  Frische  des 
Geistes,  an  Kraft  der  poetischen  Empfindung  weit  überlegen  war,  und 
dessen  Charakter  ihn  unfähig  machte,  sich  den  Fesseln  Malherbes  anzu- 
bequemen. Die  Schwäche  des  vielgepriesenen  Dichters  entging  seinen 
Widersachern  nicht,  und  manch  beißendes  Epigramm  wurde  gleich  einem 
scharfen  Pfeil  von  sicherer  Hand  nach  ihm  entsendet.^)  Aber  alle  An- 
griffe vermochten  nicht  sein  Ansehen  zu  erschüttern,  und  kümmerten 
ihn  nicht  weiter.  Von  den  Jüngern,  die  ihn  zunächst  umgaben,  ist 
keiner  zu  hoher  Bedeutung  gelangt.  Diese  Erscheinung  ist  bemerkens- 
wert. Ein  echter  Dichtergeist  hätte  sich  einem  Mann  wie  Malherbe 
nicht  gebeugt.  Die  Namen  seiner  Trabanten  und  Schüler  Expilly,  Vau- 
quelin  des  Yveteaux,  Colomby,  Tourand,  du  Montier  sind  nicht  weiter 
zu  erwähnen;  die  einzigen  Eacan  und  Maynard  werden  später  noch  ge- 
nannt werden.  Aber  selbst  Malherbe  meinte ,  sie  beide  zusammen- 
genommen hätten  erst  einen  guten  Dichter  gegeben. 

Man  kann  von  Malherbe  nicht  scheiden,  ohne  Boileaus  zu  ge- 
denken, der  sein  Nachfolger  war  und  sein  Werk  erst  wahrhaft  vollendet 
hat.  Beide  haben  einen  unverkennbaren  Familienzug.  Sie  beide  sind 
keine  großen  Dichter  gewesen,  aber  sie  beide  haben  auf  die  Dichtkunst 
ihres  Landes  den  größten  Einfluß  ausgeübt;  sie  haben  gegen  Schwulst 
und  Übertreibung  für  Einfachheit  und  guten  Geschmack  gekämpft.  Beide 
sahen  auf  die  Reinheit  der  Sprache,  die  strenge  Beobachtung  der  metri- 
schen Gesetze.  Nur  daß  Boileau  höher  stand  als  sein  Vorgänger.  Dieser 


1)  Vergl.  Mathurin  Regnier,  Sat.  IX,  v.  55  —  82. 

Cependant  leur  syavoir  ne  s'estend  seulement 
Qu'ä  regratter  un  mot  douteux  au  jugement, 
Prendre  garde  qu'un  qui  ne  heurte  une  diphtongue 
Espier  si  des  vers  la  rime  est  breve  ou  longue 

Nul  esguillon  divin  n'esleve  leur  courage; 
Ils  rampent  bassement,  faibles  d'invention, 
Et  n'osent,  peu  hardis,  tenter  les  fictions, 
Froids  ä  rimaginer:  car  s'ils  fönt  quelquc  chose, 
C'est  proser  de  la  rime  et  rimer  de  la  prose, 
Que  l'art  .Urne  et  relime,  et  polit  de  fa9on 
Qu'elle  rend  ä  roreille  un  agreable  son. 

Aussi  je  les  compare  ä  ces  femmes  jolies 
Qui  par  les  affiquets  se  rendent  embellies. 

Balzac  nannte  den  sonst  von  ihm  vielfach  gefeierten  Dichter  den  „Silben- 
tjrannen",  und  um  Malherbes  peiuliehe  Sorgfalt  für  die  Reinheit  der  Sprache 
zu  kennzeichnen,  erzählte  man  sich,  er  habe  eine  Stunde  vor  seinem  Tod  seine 
Wärterin  wegen  eines  falschen  Ausdrucks  getadelt. 


62 


sah  in  der  korrekten  Sprache,  in  dem  richtig  gebauten  Vers  das  Ziel 
seiner  Thätigkeit;  für  Boileau  waren  dies  nur  unerläßliche  Vorbedin- 
gungen für  den  Dichter,  der  zur  reinen,  sonnigen  Höhe  der  Kunst  auf- 
steigen will.  Boileau  hatte  das  Glück,  in  der  schönen  Zeit  des  klassi- 
schen Aufschwungs  zu  leben,  und  zählte  mit  zu  den  gefeiertsten  Führern 
der  neuen  Schule.  Auch  als  Mensch  stand  er  reiner  und  unabhängiger 
da,  als  Malherbe;  wie  denn  überhaupt  das  Bürgertum,  zu  dessen  besten 
Repräsentanten  Boileau  zu  seiner  Zeit  gehörte,  im  Lauf  des  Jahrhunderts 
entschiedene  Fortschritte  in  seiner  Kräftigung  gemacht  hatte.  ■^) 


*)  Bibliographie.  Die  Gedichte  Malherbes  sind  erst  nach  seinem  Tod  ge- 
sammelt worden.  Bis  dahin  waren  sie  nur  vereinzelt  in  den  Poesiesammlungen, 
die  damals  beliebt  waren,  gedruckt  erschienen,  so  in  den  „Diverses  poesies  nou- 
velles"  (Rouen  1597),  «L'Aeademie  des  poetes  franfais"  (Paris  1599),  „Le  Par- 
nasse  des  plus  excellents  poetes  fran(,-ais  de  ee  temps"  (Paris  1599),  „Le  temple 
d'Apollon"  (Rouen  1611)  u.  s.  w.  Die  erste  Ausgabe  seiner  Werke  ist  aus  dem 
Jahr  1630  und  enthält  sechs  Bücher  Gedichte,  die  Übersetzung  der  „Wohl- 
thaten"  des  Seneca,  des  33.  Buchs  des  Livius  und  97  Briefe.  1637  erschien  die 
Übersetzung  der  Briefe  des  Seneca.  Im  Jahr  16t'>6  besorgte  Menage  eine  neue 
Ausgabe  der  Gedichte  mit  einem  Kommentar;  die  späteren  Ausgaben  fußten 
alle  auf  derselben,  bis  1757  Lefebre  de  Saint-Marc  die  erste  kritische  Ausgabe 
versuchte.  1822  wurden  die  Briefe  an  Peiresc  veröffentlicht,  1842  erschienen  die 
„Poesies  de  Malherbe,  avec  un  commentaire  inedit  par  Andre  Chenier",  heraus- 
gegeben von  Latour.  Cheniers  Bemerkungen,  obwohl  etwas  jugendlich  enthu- 
siastisch, sind  dennoch  von  hohem  Interesse.  Die  definitive,  wahrhaft  kritische 
Ausgabe  ist  endlich  diejenige,  welche  in  der  großartigen  Sammlung  der  „Grands 
Ecrivains  de  la  France"  bei  Hachette  1860—1862  erschienen  ist  unter  dem 
Titel:  „Oeuvres  de  Malherbe,  recueillies  et  annotees  par  M.  L.  Laianne".  5  Bde. 
mit  ausführlicher  Einleitimg  und  einem  „Lexique  de  la  langue  de  M.",  bear- 
beitet von  Regnier.  Eine  kleinere,  sehr  brauchbare  Ausgabe  hat  noch  L.  Becq 
de  Fouquieres  (Paris  1874)  besorgt. 

Zu  vergleichen  ist  sonst  noch,  außer  den  größereu  Litteraturgeschichten, 
hauptsächhch  Sainte-Beuve,  Nouveaux  lundis,  t.  XIII,  Artikel  „Malherbe". 


IV. 

Mathurin  Regnier  und  Theodor  Agrippa  d'Aubigne. 

Die  Persönlichkeit  Malherbes  bietet  nichts  Anziehendes ;  sie  fesselt 
4urch  keinen  sympathischen  Zug,  keinen  wärmeren  Hauch  des  Lebens 
und  Empfindens.  Gern  schweift  der  Blick  über  ihn  hinaus,  um  auf 
anderen  Bildern  zu  haften.  Aus  der  verschwommenen  Menge  blasser 
Gestalten,  welche  die  Geschichte  jener  Tage  an  uns  vorübergleiten  läßt, 
heben  sich  zwei  Charakterköpfe  ab,  die  in  ganz  anderer  Weise  zu  uns 
reden.  Den  Männern,  die  uns  da  entgegentreten,  strömt  wärmeres  Blut 
in  den  Adern.  Sie  scheinen  noch  heute  unter  uns  zu  weilen,  so  kräftig 
pulsiert  das  Leben  in  ihren  Werken.  Der  Gegensatz  ist  groß  zwischen 
dem  abgemessenen,  würdevoll  auf  dem  Kothurn  einher  schreitenden,  pe- 
dantischen Malherbe  und  seinen  zwei  Zeitgenossen,  dem  leichtsinnigen, 
gutmütigen,  dichterisch  reich  begabten  Mathurin  Regnier  und  dem 
leidenschaftlich  feurigen  d'Aubigne. 

Malherbe  sieht  vorwärts  auf  das  Jahrhundert,  das  begonnen  hat, 
und  soviel  Glanz  und  Ruhm  zu  bringen  verspricht.  Man  fühlt  bei  ihm, 
daß  die  Zeit  der  strengen  stilgemäßen  Porm  gekommen  ist.  Eine  mäch- 
tige AUongeperrücke  auf  seinem  Haupt  zu  sehen,  würde  uns  nicht  ver- 
wundern. Regnier  aber  und  d'Aubigne  haben  viel  von  dem  Charakter 
des  16.  Jahrhunderts  bewahrt,  wenn  auch  ihre  Werke  zum  großen  Teil, 
ja  die  Gedichte  Regniers  gänzlich,  der  neuen  Epoche  angehören. 

Gleichwie  später  Lafontaine  sich  von  den  Dichtern  seiner  Zeit 
durch  sein  naives,  ursprüngliches  Wesen,  durch  seine  anmutige  Natür- 
lichkeit unterscheidet,  so  auch  Regnier.  Beide  erscheinen  wie  fremd  und 
verirrt  in  der  Gesellschaft,  die  sie  umgiebt.  Sie  gehören  beide  zu  der- 
selben Familie;  sie  sind  die  Repräsentanten  des  echten  gallischen  Volks- 
geistes, der  sich  wohl  eine  Zeit  lang  verdunkeln  läßt,  aber,  bald  wieder 
mit  erneuter  Kraft  sich  geltend   macht. 

D'Aubigne  versetzt  uns  in  die  Religionskriege  zurück;  er  führt 
die  Feder  wie  den  Degen  mit  der  gleichen  Leidenschaftlichkeit.  Einen 
Parteigänger  wie  ihn  konnte  das  17.  Jahrhundert  gar  nicht  mehr  ver- 
stehen, und  erst  die  Kämpfe  der  Revolution  vermochten  solchen  Haß 
und  solche  Heftigkeit  wieder  zu  zeitigen. 

Regnier  und  d'Aubigne  sind  grundverschieden,  und  doch  gehören 
sie  in  mehr  als  einer  Beziehung  zusammen.  Der  eine  ist  katholisch,  so- 
weit er  sich  überhaupt  um  Religionsfragen  kümmert.  Neuerungen  sind 
ihm  ein  Greuel  und  theologische  Streitigkeiten  verhaßt.     Und    wenn  die 


64 


Hugenotten  Wunder  tbäten,  Tote  auferweckten  und  die  Zukunft  voraus- 
sagten, er  könnte  nicht  an  sie  glauben. M  Mit  ihrer  strengen  Lehre, 
ihrer  finsteren  Lebensweise  würden  sie  ihm  jede  Freude  an  der  Welt  ver- 
bittern. D'Aubigne.  im  Gegenteil,  kennt  nichts  Höheres  als  die  refor- 
mierte Kirche.  Der  Kampf  ist  sein  Element,  und  wer  nicht  für  ihn  ist, 
der  ist  wider  ihn. 

Und  doch  haben  diese  beiden  Männer  vieles  gemeinsam.  Beide 
lassen  ihrer  Natur  uneingeschränkte  Freiheit;  sie  geben  sich,  wie  sie 
sind,  und  sie  sind  frisch  und  kräftig.  Sie  reden  wie  sie  denken,  und 
ihre  Gedanken  sind  klar  und  entschieden.  In  ihrer  Sprache  haben  sie 
noch  viel  von  dem  Charakter  der  früheren  Zeit;  sie  bilden  gewisser- 
maßen die  Opposition  gegen  Malherbe  und  seine  formalistische  Richtung. 
Darum  kann  man  sie  mit  Recht  als  diejenigen  bezeichnen,  welche  den 
Übergang  von  der  einen  Epoche  zur  andern  vermitteln.  Sie  sehen 
freudig  auf  die  Vergangenheit  zurück,  ihr  Auge  leuchtet  auf,  wenn  sie 
der  guten  alten  Zeit  gedenken,  und  mürrisch  geben  sie  den  Forderungen 
der  neuen  Generation  Gehör,  der  sie  beide  als  Satiriker,  wenn  auch  in 
verschiedener  Weise,  entgegentreten.  D'Aubigne  kämpft  mit  dem  Auf- 
gebot aller  geistigen  Kräfte  auf  dem  politisch-religiösen  Feld;  Regnier 
beschränkt  sich,  harmlosen  Gemüts,  auf  die  sociale  und  litterarische 
Satire.  Aber  beide  widersetzen  sich  dem  Zug  der  Zeit,  der  vor  allem 
auf  Regel  und  Form  Gewicht  legt.  Darum  unterliegen  beide  mit  ihren 
Bestrebungen,  während  Malherbe  in  die  Höhe  getragen  wird.  Doch  wenn 
der  Kampf  ausgefochten  und  die  neue  Richtung  zum  Sieg  gelangt  ist, 
kehrt  man  mit  billigerem  Urteil  zu  den  beiden  Dichtern  zurück.  Regnier 
wurde  schon  in  der  klassischen  Zeit  wegen  seiner  Kraft  und  scharfen 
Beobachtung  gelobt.  Aber  auch  für  d'Aubigne  ist  seit  kurzem  eine  Zeit 
höherer  Anerkennung  gekommen. 

Mathurin  Regnier  erblickte  das  Licht  der  Welt  am  2L  Dezember 
1578  zu  Chartres,  wo  sein  Vater  ein  Ballhaus  hielt,  mit  welchem  eine 
Wirtschaft  verbunden  war.  Seine  Mutter  war  die  Schwester  des  Dichters 
Desportes,  dessen  Ruhm  damals  auf  der  Höhe  stand  und  in  ganz  Frank- 
reich verkündigt  wurde.  Die  Aufmerksamkeit  der  Eltern  wurde  durch 
die  Sorge  für  das  vielbesuchte  Haus  völlig  in  Anspruch  genommen,  und 
der  Knabe,  der  sich  selbst  überlassen  blieb,  wuchs  in  ziemlicher  Wild- 
heit auf.  Die  lockere  Gesellschaft,  welche  sich  in  seinem  väterlichen 
Haus  zusammenfand,  führte  ihn  frühzeitig  auf  Abwege.  Die  Eltern 
setzten  ihre  Hoffnung  wohl  auf  Desportes.  der  bei  seinem  Einfluß  bei 
Hof  und  als  Abt  von  Tiron  für  die  Zukunft  des  Neffen  sorgen  könne. 
Muthui'in  wurde  deshalb  schon  in  jungen  Jahren  tonsuriert.  Allein  seine 
Neigungen  nahmen  eine  andere  Richtung;  er  fühlte  sich  sowenig  für 
den  geistlichen  Stand  geschaffen,  wie  sein  Oheim,  der  trotz  seiner  zahl- 
reichen Abteien  ein  sehr  weltliches  Leben  führte.  Gleich  diesem  war 
ihm  die  Liebe  zur  Poesie  in  die  Seele  gepflanzt  und  schon  als  Knabe 
verriet   er    sein    dichterisches   Talent.     Es    wäre    kaum    zu   verwundern, 


ij  Reguier,  sat.  IX,  246-249. 


65 

wenn  er,  von  seines  Oheims  Kuhm  geblendet,  versucht  hätte,  in  seinen 
jugendlichen  Dichtungen  dieselben  Wege  zu  gehen,  und  wenn  er  in  der 
Manier  des  Desportes  liebesfeurige  Sonette  gekünstelt  oder  schmachtende 
Chansons  gefertigt  hätte.  Allein  Regnier  zeigte  von  Anfang  an  einen 
unabhängigen  Geist,  der  seiner  Natur  folgte  und  besondere  Bahnen  ein- 
schlug. Die  satirische  Ader  war  zu  stark  in  ihm ;  seinem  scharfen  Auge 
entgingen  die  Schwächen  der  ehrenfesten  Bürger  von  Chartres  sowenig 
wie  die  Charakterfehler  der  lebenslustigen  Stammgäste  in  seines  Vaters 
Wirtschaft.')  Bald  liefen  in  dem  Städtchen  satirische  Gedichte  um,  die 
großen  Ärger  verursachten,  und  als  deren  Verfasser  man  ohne  Mühe 
den  jungen  Regnier  entdeckte.  Der  Vater  sah  sich  in  seinem  Erwerb 
gefährdet  und  drohte  Mathurin  mit  Schlägen,  wenn  er  es  wagen  sollte, 
in  dieser  Weise  fortzufahren.  „Verse  gäben  kein  Brot",  meinte  der 
praktische  Wirt,  und  wenn  es  dem  Onkel  auch  einmal  zufällig  gelungen 
wäre,  mit  dieser  unnützen  Kunst  sein  Glück  zu  machen,  so  werde 
Mathurin  umso  sicherer  in  seiner  Hoffnung  getäuscht  werden.  Regnier 
schildert  diese  väterlichen  Ermahnungen  später  in  einer  seiner  Satiren 
auf  ergötzliche  Weise.-) 

Aber  der  innere  Trieb  erwies  sich  mächtiger  als  alle  Vorstellungen, 
und  der  Satiriker  konnte  sich  nicht  entschließen  zu  schweigen.  So  fand 
man  für  gut,  ihn  aus  Chartres  zu  entfernen.  Mathurin  wurde  nach  Paris 
geschickt,  vielleicht  um  seine  Kenntnisse,  die  jedenfalls  sehr  lückenhaft 
waren,  zu  vervollkommnen,  zugleich  in  der  Hoffnung,  daß  der  gutmütige, 
jederzeit  gefällige  Desportes  ihn  unter  seine  besondere  Obhut  nehmen 
werde.  Darin  täuschten  sich  die  Eltern  freilich.  Desportes  war  am 
wenigsten  der  Mann  dazu,  den  tollen  Jüngling  zu  führen  und  dessen 
überschäumende  Kraft  in  verständiger  Weise  zu  regeln.  Er  empfing  ihn 
in  seinem  Haus,  freute  sich  seines  kecken  Sinns,  ließ  ihn  aber  im 
übrigen  völlig  frei  und  unbeachtet.  Es  währte  nicht  lange,  so  hatte 
Regnier  seine  gleichgesinnten  Gefährten  gefunden.  Hatte  er  in  Chartres 
schon  toll  genug  gelebt,  so  fand  er  in  Paris  noch  ein  besseres  Feld  für 
seine  wilde  Laune.  Nach  Genuß  gierig,  und  in  dem  Wirbel  der  Zer- 
streuungen rastlos  umgetrieben,  lebte  Regnier  eine  Zeit  lang  als  echter 
Taugenichts  und  hauste  auf  seine  Gesundheit  unbedachtsam  los.  Nur 
selten  fand  er  Stimmung  und  Muße  zu  einem  Gedicht.  Aber  das  wenige, 
was  er  gab.  genügte,  ihn  bekannt  zu  machen,  imd  er  war  bald  ein 
Haupt  des  litterarischen  Zigeunertums,    das  sich   damals    in  Paris    breit 


1)  Sat.  XII,  73  tf. 

2)  Sat.  IV,  61—68: 

II  est  vrai  que  le  ciel  qui  me  regarda  naistre 
S'est  de  mon  jugement  toujours  rendu  le  maistre; 
Et  bien  que,  jeune  enfant,  mon  pere  me  tansast. 
Et  de  verges  souvent  mes  chansons  menassast, 
Me  disant  de  despit  et  bouffi  de  colere: 
„Badin,  quitte  ces  vers;  et  que  penses-tu  faire? 
La  Muse  est  inutele;  et  si  ton  oncle  a  sceu 
S'avaucer  par  cet  art,  tu  t'y  verras  deceu." 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratnr. 


66 

machte.  Zu  allen  Zeiten  hat  diese  lüderliche  und  geistvolle  Vagabunden- 
welt in  der  französischen  Hauptstadt  existiert;  von  den  Tagen  des 
genialen  und  doch  so  verkommenen  Yillon  bis  herab  zu  Regnier,  und 
von  Regnier  bis  zu  unseren  Tagen,  bis  zu  Murger  und  so  vielen  anderen 
vergessenen  Talenten.  Eine  in  der  litterarischen  Coulissengeschichte 
während  mehrerer  Jahrhunderte  vielgenannte  Kneipe:  „la  pomme  de  pin", 
bildete  lange  Zeit  das  Hauptquartier  dieser  sorglosen  Gesellschaft.')  Aber 
Regnier  hatte  Verstand  genug,  die  Hohlheit  dieses  Lebens,  die  Flach- 
heit der  meisten  seiner  Genossen  zu  erkennen.  Er  schildert  sie  später 
mit  der  ihm  eigenen  Kraft  und  Kürze  als  Leute,  welche  den  Lorbeer  ent- 
würdigen, die  das  Kopfweh  nicht  los  werden  und  auf  der  Post  dem 
Hospital  zueilen.-)  Sieht  man  auf  der  Straße  einen  schmutzigen  Menschen 
mit  zerrissenen  Kleidern,  so  braucht  man  nicht  nach  seinem  Stand  zu 
fragen.  Ist  es  kein  Dichter,  so  will  er  doch  für  einen  solchen  gelten.^) 
Dies  einzige  Wort  wirft  einen  grellen  Schein  auf  die  bürgerliche  Stellung 
jener  Leute.  Malherbe,  Bertaut,  Desportes  und  einige  andere,  die  sich 
zu  angesehener  Stellung  aufschwangen,  bildeten  eine  Ausnahme.  Die 
Mehrzahl  derer,  die  sich  mit  Poesie  abgaben,  waren  arme  Menschen, 
Hungerleider,  die  ihr  Leben  auf  kümmerliche  Weise  fristeten,  und  froh 
waren,  ihr  Elend  in  einigen  Stunden  der  Trunkenheit  zu  vergessen.*) 
Auch  Regnier  scheint  oft  mit  Mangel  gekämpft  zu  haben,  und  konnte 
sich  trotz  des  reichen  Onkels,  dessen  jährliche  Einnahme  sich  auf 
30.000  Livres  belief,  niemals  bis  zum  Besitz  eines  warmen  Mantels  auf- 
schwingen.'')  Er  würde  die  Armut  leichter  erduldet  haben,  hätte  ihm  die 
innere  Genugthuung  nicht  gefehlt.  Aber  verachtet  zu  werden,  wie  die 
anderen,    das    konnte  er  nicht  ertragen ;    und  um  sich  durch  einen  ent- 

^)  Regnier,  sat.  X,  v.  157  S.  schildert  einen  Pendanten,  dessen  Nase  ver- 
rät,  wie  oft  er  die  „Pomme  de  pin"  besucht. 

Oll  maints  rubis  balez  (=  balais),  tous  rougissans  de  vin 
Monstraient  un  hac  itur  ä  la  Pomme  de  pin. 
Vergl.  damit  Villen,  Petit  Testament  str.  20   und  das  Grand  Testament 
Str.  91  : 

Aller  Sans  chausses  et  chapin 
Tous  les  matins  quand  11  se  lieve 
An  treu  de  la  Pomme  de  pin. 
Ebenso    erwähnt    Rabelais    die  Schenke:    ,.Puis  cauponizons   es   tabernes 
meritoires  de  la  Pomme  de  pin,  du  Castel"  etc.  Ferner  Boileau,  Sat.  III,  v.  74, 
wo  der  damaUge  Besitzer  Crenet  angeführt  wird. 

2)  Regnier,  Sat.  IV,  139  ff.: 

Font  un  bouchon  ä  vin  du  laurier  de  Parnasse 
A  qui  le  mal  de  teste  est  commun  et  fatal 
Et  vont  bizarrement  en  poste  en  l'hospital. 

3)  Sat.  II,  43—48. 

*)  Vergl.  die  Schilderung  der  armen  Litteraten  bei  Balzac,  Entretiens  VIII, 
Ire  histoire :  „Mais  il  m'a  asseure  aussi  que  dans  cette  mesme  Cour  plusieurs 
poetes  estoient  morts  de  faim ;  sans  compter  les  Orateurs  et  les  Historiens,  dont 
le  destin  ne  fut  pas  meilleur." 

5)  Sat.  II,  40. 


67 


scliiedenen  Schritt  zu  retten,  sich  aus  der  Gesellschaft,  in  die  er  geraten 
war,  herauszureißen,  entschloß  er  sich,  seine  Unabhängigkeit  zu  opfern. 
Wahrscheinlich  durch  die  Vermittlung  seines  Onkels  trat  er  1593  in  die 
Dienste  des  Kardinals  Joyeuse,  der  als  Gesandter  Frankreichs  an  den 
päpstlichen  Hof  geschickt  wurde.  So  kam  er,  20  Jahre  alt,  nach  Rom, 
und  durfte  hoffen,  allmählich  zu  einer  gesicherten  Lebensstellung  zu  ge- 
langen.^) In  Rom  verlebte  er  eine  Reihe  von  Jahren,  und  der  Aufent- 
halt in  der  alten  Cäsarenstadt  brachte  ihm  die  alte  Welt  nahe.  Seitdem 
blieben  die  lateinischen  Satiriker  seine  Hauptmuster,  höchstens  daß  er 
manchmal  auch  einen  modernen  italienischen  Dichter  als  Vorbild  be- 
nutzte.-) Seine  weiteren  Hoffnungen  jedoch  blieben  unerfüllt.  In  seiner 
zweiten  Satire  beklagt  er  sich  bitter,  daß  er  sich  vergebens  bemüht  habe, 
und  daß  seine  treuen  Dienste  schlecht  belohnt  würden.  Ein  Zug  tiefer 
Unzufriedenheit  geht  durch  die  ganze  Satire.  Er  betrauert  seine  ver- 
lorenen Lebensjahre  und  sieht  mit  trübem  Auge  in  die  Zukunft.  Im 
Jahr  1601  finden  wir  ihn  wieder  in  Paris.  Aber  nicht  auf  lange  Zeit. 
Noch  einmal  ließ  er  sich  bewegen,  mit  nach  Rom  zu  gehen.  Diesmal 
folgte  er  dem  jüngeren  Bruder  Sullys,  Philipp  de  Bethune,  der  im  Auf- 
trag König  Heinrichs  nach  Rom  ging  und  bis  zum  Jahr  1605  daselbst 
verweilte.  Im  Dienst  Bethunes  scheint  sich  Regnier  besser  befunden  zu 
haben,  wie  aus  dem  warmen  Ton  eines  Gedichts  hervorgeht,  das  er 
ihm  widmete,  und  in  welchem  er  sich  gegen  den  Ehrgeiz,  als  den  wahren 
Feind  des  Lebens,  erhebt;  denn  er  raubt  den  Schlaf,  die  Ruhe,  stört 
die  Mahlzeit  und  heißt  einem  Schatten  nachjagen.  Doch  scheint  Regnier 
die  ewige  Roma  früher  als  Bethune  verlassen  zu  haben.  Seine  dritte 
Satire  zeigt  ihn  in  Verlegenheit  über  seine  Zukunft.  Da  ihm  auch  die 
zweite  Reise  nach  Rom  keine  Stellung  gebracht  hat,  wendete  er  sich  um 
Rat  an  den  Marquis  de  Coeuvres,  den  Bruder  der  schönen  Gabrielle 
d'Estrees.  Er  ist  schon  30  Jahre  alt.  Soll  er  noch  einmal  zu  studieren 
anfangen,  Homer  und  Aristoteles  lesen,  oder  soll  er  sein  Glück  bei  Hof 
versuchen,  zu  dem  ihm,  scheint  es,  der  Weg  geöffnet  war?  Allein  er 
paßt  nicht  an  den  Hof,  das  Leben  daselbst  widert  ihn  an.  Er  entwirft 
dabei  eine  abschreckende  Schilderung  der  Welt,  in  welcher  er  sich  be- 
wegen müßte;  er  müßte  schmeicheln,  sich  in  den  Willen  anderer  fügen, 
sich  selbst  beherrschen,  und  das  ist  ihm  nicht  gegeben.  Er  ist  trüb- 
sinnig, und  mau  erwartet  am  Hof  von  ihm  Erheiterung  ;  seine  Manieren 
sind  ländlich  und  passen  nicht  zu  den  Sitten  der  eleganten  Gesellschaft. 
Allein  die  Sorge,  er  möge  dereinst  in  der  Fremde,  in  einem  Gasthof 
armselig  und  verlassen  sterben,  ein  Bild  des  Mißgeschicks,  schreckt  ihn 
von  dem  Gedanken  ab,    so  fortzuleben,    wie  bisher.^)    So  finden  wir   ihn 

1)  Regnier,  Sat.  II,  59  ff. 

^)  So  den  Satiriker  Maure  (16.  Jahrb.),  den  er  in  seiner  sechsten,  in  Rom 
■verfaßten  Satire  an  euiigen  Stellen  nachahmte. 

3)  Regnier,  Sat.  III,  13—14: 

Puis,  sans  avoir  du  bien,  trouble  de  resverie 
Mourir  dessus  uii  eoffre  en  une  hostellerie. 


68 

denn  doch  bald  in  Berührung  mit  dem  Hof,  und  seine  Not  hat  eia 
Ende.  Schon  1604  erhielt  er  eine  Pfründe  in  Chartres;  nach  seines  Onkels 
Desportes  Tod  (1606^  verlieh  ihm  der  König  aus  den  Einkünften  der 
Abtei  de  Vaux  de  Cernay  eine  Eente  von  2000  Livres,  welche  jener 
bis  dahin  bezogen  hatte.  Zum  Dank  widmete  der  Dichter  die  erste  Aus- 
gabe seiner  gesammelten  Satiren  dem  König,  mußte  ihm  auch,  wie  Mal- 
herbe, durch  bewegliche  Verse  behilflich  sein,  die  Gunst  der  verschiedenen 
Schönen  zu  erlangen.  Aber  Regniers  Talent  war  nicht  für  solche  Aufgaben 
geeignet,  und  seine  Liebeselegien,  die  er  in  Heinrichs  Auftrag  schrieb, 
sind  nicht  viel  mehr  als  frostige  Schularbeiten.  Mit  den  beiden  Pfründen, 
deren  er  sich  erfreute,  hätte  Regnier  ein  ruhiges,  zufriedenes  Leben 
führen  können.  Allein  Ruhe,  so  sehr  er  auch  manchmal  nach  ihr  seufzte, 
war  nicht  seine  Sache.  Der  Kreis,  in  welchem  er  sich  nun  bewegte, 
war  allerdings  zum  Teil  besser  als  die  Gesellschaft,  in  der  er  sich 
früher  herumgetrieben  hatte,  allein  seine  Lebensweise  war  kaum  ver- 
nünftiger. Der  Geist  ist  willig,  klagt  er  einmal,  aber  das  Fleisch  ist 
schwach.  So  ist  er  vor  der  Zeit  grau  geworden.^)  Er  fühlt,  wie  ihn  die 
Leidenschaft  in  den  Abgrund  reißt,  und  ist  doch  zu  schwach,  zu  wider- 
stehen. Der  Genuß,  der  Taumel  ist  sein  Element,  und  vergebens  ringt 
er  in  freieren  Stunden  nach  Stetigkeit  und  Ruhe.  Solche  Naturen  scheinen 
auf  den  ersten  Blick  oft  heiter  und  sorglos,  während  sie  sich  im  Herzen 
tief  unglücklich  fühlen,  und  das  Bewußtsein  eines  vergeudeten  Lebens 
im  Rausch  eines  tollen  Treibens  zu  bannen  suchen.  Man  kann  sich  des 
Eindrucks  nicht  erwehren,  als  ob  Regnier  solche  Stunden  auch  gekannt 
habe.  Das  wilde  Leben,  in  dem  er  seine  Kraft  und  seine  Gesundheit 
verlor,  gab  ihm  freilich  die  reiche  Menschenkenntnis,  die  ihn  auszeichnete, 
und  ließ  ihn  die  farbenreichen  Bilder  finden,  deren  Kraft  und  Wahrheit 
uns  noch  heute  überraschen.  Die  Zeit  hat  ihnen  kaum  etwas  von  ihrem 
Glanz  geraubt.  Aber  wie  er  es  einst  ahnend  gesagt  hatte,  endete  er 
unter  Fremden,  an  den  Folgen  einer  eklen  Krankheit,  der  er  zu  trotzen 
wagte,  in  einem  Gasthof  zu  Ronen,  den  22.  October  1H13,  noch  nicht 
ganz  40  Jahre  alt. 

Regniers  Gedichte  sind  wenig  zahlreich.  Die  zweite  und  letzte  Aus- 
gabe, die  zu  seinen  Lebzeiten  erschien  (im  Jahr  161o),  enthielt  im 
ganzen  16  Satiren,  einige  poetische  Episteln  und  Elegien,  nebst  kleineren 
Gedichten  und  Epigrammen.  Aber  nur  die  Satiren  kommen  in  Betracht. 

Ein  Mann,  wie  Regnier,  plagt  sich  n  icht  viel  mit  Schreiben.  Sein 
Bestes  giebt  er  in  der  lebhaften  Unterhaltung.  Mathurin  sagt  selbst, 
er  wolle  nicht  gleich  anderen  seinen  Schlaf  opfern,  um  ein  Sonett  zu 
schmieden.-)  Umsomehr  war  er  seiner  Einfälle  und  witzigen  Antworten 
halber  bekannt.  Wenn  er  überhaupt  etwas  niederschrieb,  so  geschah  es 
fast  gegen  seinen  Willen;  der  dichterische  Geist  war  doch  stärker  in  ihm 
als  die  Trägheit.  Aber  er  rühmte  sich,  daß  er  so  wenig  als  möglich    zu 


1)  Regnier,  Sat.  V,  76—82  und  104—108.  Vergl.  auch  Sat.  VII,  20—31. 
^)  Regnier,  Sat.  III,  156. 


m 

Papier  brächte,')  denn  er  war  ein  praktischer  Philosoph  und  kannte  die 
Eitelkeit  des  Ruhms. 

Die  Satire  ist  von  jeher,  wenn  auch  unter  verschiedener  Form,  in 
Frankreich  heimisch  gewesen,  und  hat  immer  als  gute  Waffe  gedient. 
Der  Franzose  hat  einen  scharfen  Blick  für  die  Eigentümlichkeiten  der 
Menschen ;  aber  wenn  er  über  sie  lacht,  bleibt  er  mehr  beim  Scherz, 
bei  der  leichten  Ironie,  als  daß  er  sich  zum  feindlichen,  vernichtenden 
Hohn  steigert.  Eine  Satire  voll  der  bittersten  Menschenverachtung,  wie 
■die  Satire  Swifts,  findet  sich  in  Frankreich  nicht.  Doch  sind  die  alten 
Fablieaux,  die  poetischen  Erzählungen,  an  welchen  sich  das  Mittelalter 
«rgötzte,  reich  an  satirischen  Zügen;  die  Verfasser  der  „Satire  Menippee" 
hatten  nicht  lange  vor  Begniers  Auftreten  ihre  Kraft  bewiesen,  und 
•du  Bellay  hatte  sogar  versucht,  die  Satire  in  der  Weise  der  Alten  zu 
bearbeiten,  wenn  er  auch  damit  keinen  Anklang  gefunden  hatte.  Erst 
ßegnier  wurde  der  eigentliche  Begründer  der  regelmäßigen,  antiken 
Mustern  nachgebildeten  Satire  in  Frankreich.  Er  war  der  erste,  der,  mit 
satirischer  Kraft  begabt,  die  Pfade  der  römischen  Dichter  einschlug,  und 
sich  an  Horaz  und  Juvenal  bildete.^) 

Wie  diese  bei  dem  erstorbenen  öffentlichen  Leben  der  Politik  abhold 
waren  und  nur  die  sociale  und  litterarische  Satire  pflegten,  so  auch 
Regnier.  Selbst  den  seiner  Zeit  so  naheliegenden  religiösen  Fragen  geht 
•er  aus  dem  Weg.  Er  ist  nicht  strenggläubig ;  man  ist  viel  eher  manch- 
mal versucht,  ihn  trotz  seines  geistlichen  Charakters  für  einen  Ungläu- 
bigen zu  halten.  Er  will  sich  mit  neugierigen  Fragen  nicht  den  Kopf 
zerbrechen;  er  sagt  sogar,  er  wolle  zwar  ein  guter  Christ  bleiben,  dabei 
aber  sein  Leben  genießen  und  im  übrigen  nichts  für  wahr  halten,  was 
«r  nicht  schmecken  könne,  und,  da  er  nichts  verstehe,  über  alles  lachen.^) 


1)  Sat.  XV,  1—14: 

Oui,  j'escry  rarement,  et  me  plais  ä  le  faire: 
Non  pas  que  la  paresse  en  moy  seit  ordinaire, 
Mais  si  tost  que  je  prends  la  plume  ä  ce  dessein, 
Je  croy  prendre  en  galere  une  rame  ä  la  main. 

Je  vous  jure,  encor  est-ce  ä  mon  corps  defendant. 

2)  Sat.  II,  14—17: 

II  faut  suivre  uq  sentier  qui  seit  moins  rebattu. 
Et.  conduit  d'Apollon,  recognoistre  la  trace 
Du  libre  Juvenal;  trop  discret  est  Horace 
Pour  une  hemme  picque... 
Trotz  dieser  Kritik  folgt  er  doch  Horaz  häufiger  als  Juvenal.  Vergl.  mit 
dieser  Stelle  Sat.  II,  v.  227 : 

Voilä  ce  qui  m'a  fait  et  poete  et  satirique, 
Eeglant  la  medisance  ä  la  fafon  antique. 

3)  Sat.  IX,  161  ff.: 

Or,  ignorant  de  tout,  de  tout  je  me  veux  rire; 
Faire  de  mon  humeur  moy-mesme  une  satyre; 
N'estimer  rien  de  vray,  qu'au  goust  il  ne  soit  tel, 
Vivre,  et  comme  chretien  adorer  l'Eternel. 


70 


So  wird  er  zum  Epikuräer  wie  Horaz.  Als  solcher  läßt  er  sich  in  keine 
verfänglichen  Unternehmungen  ein,  braucht  als  guter  Staatsbürger  die 
Polizei  nicht  zu  fürchten,  vor  einer  Hausdurchsuchung  nicht  zu  zittern, 
und  sagt  sich,  daß  der  Mensch  sein  Segel  nach  dem  Wind  richten  muß.') 
Hier  spricht  der  Geist  des  17.  Jahrhunderts  aus  ihm,  wie  wir  dies 
ähnlich  schon  bei  Charron  bemerkt  haben;  das  Volk  ist  bereits  seines 
politischen  Einflusses  völlig  beraubt;  es  entwöhnt  sich  der  Teilnahme 
an  den  öffentlichen  Angelegenheiten,  und  die  Folgen  können  nicht  aus- 
bleiben. 

Der  lebhafte  Geist  Eegniers  zeigte  sich  am  deutlichsten  in  dea 
vielen  kleinen  Charakterbildern,  die  in  seinen  Satiren  zerstreut  sind. 
Hier  entwickelt  er  eine  besondere  Kunst.  Der  Kreis  seiner  Darstellungen 
ist  allerdings  beschränkt,  aber  was  er  gesehen  hat,  schildert  er  mit 
drastischer  Komik,  freilich  oft  auch  mit  verletzender  Derbheit.  Die  Luft, 
die  er  atmet,  und  in  die  er  uns  einführen  will,  ist  verdorben.  Er  bringt 
wol  manchmal  den  Dunst  der  Kneipe,  das  Miasma  der  Gosse  mit  sich. 
Übersehen  wir  indessen  nicht,  daß  vieles,  was  uns  heute  auffällt  und 
widersteht,  für  seine  Zeitgenossen  nichts  Anstößiges  hatte,  und  der  allge- 
meine Ton  nicht  besser  war,  als  Regniers  Satiren  ihn  aufweisen.  Ab- 
gesehen von  diesem  Flecken,  bieten  sie  des  Merkwürdigen  und  Gelungenen 
viel.  Wenn  Regnier  das  Leben  am  Hof  schildern  will,  gedenkt  er  zuerst 
der  geschmeidigen  Herren,  die  nur  ein  einziges  Talent  aufzuweisen 
haben.  Sie  sind  nur  Meister  in  der  Kunst,  zuzustimmen,  und  lassen  auf 
jede  Bemerkung,  die  man  ihnen  macht,  ein  überzeugtes  ., Natürlich",  ein 
beifälliges  „Gewiß"  vernehmen.  In  jenen  Kreisen  lernt  man  lügen,  seine 
Freunde  verraten,  seine  Feinde  küssen.  Dort  muß  man  den  Großea 
huldigen,  mit  dem  Hut  in  der  Hand  in  dem  Vorzimmer  stehen,  und 
wagt  nicht  einmal  zu  speien  und  zu  husten.^)  Es  ist  ein  kleines  Genre- 
bild voll  köstlichen  Humors,  wenn  er  von  einem  vornehmen  Modehelden 
erzählt,  der  ihn  eines  Tags  in  der  Kirche  anhält,  bei  der  Hand  faßt 
und  tänzelnd  ein  lobendes  Wort  wiederholt,  das  er  kaum  erst  anderswo 
aufgeschnappt  hat.^)  Ein  solcher  Geck  putzt  sich  nach  der  letzten  Modo, 
jagt  und  turnt,  singt  die  neuesten  Lieder,  ersinnt  Ballette,  schreibt  Liebes- 
briefchen, weiß  über  Mode  und  Anstand  zu  schwatzen,  colportiert  Anek- 
doten und  Witzworte,  und  mißt  jedermann.  Verständige  wie  Thoren,  mit 
demselben  Maß. 

Lenkt  der  Dichter  seinen  Blick  von  diesen  Leutchen  ab,  so  findet 
er  nicht  weniger  Grund  zur  Heiterkeit,  wenn  er  sieht,  wie  die  Advokaten, 
in  würdevollem  Gewand,  ins  Blaue  hinein  ihr  Geschwätz  verkaufen,  wie 
die  Ärzte  Puls,  Brust  und  Bauch  befühlen,  Rezepte  verschreiben,  und 
während  sie  die  offene  Hand  ausstrecken,  um  das  Geld  dafür  zu  nehmen,, 
großartig  ablehnend  sagen:   „Mein  Gott,  das  ist  ja  nicht  nötig."' "*) 


1)  Bat.  V,  56  ff. 

2)  Sat.  IV,  27  ff. 

3)  Sat.  VIII,  v.  25 
*)  Sat.  IV,  57  ff. 


71 


Wieder  in  andere  Kreise  führt  uns  die  zehnte  Satire.  Regnier 
schildert  uns  dort,  nach  dem  Vorbild  des  Horaz,  aber  in  plumperer  Form, 
eine  Mahlzeit,  zu  der  er  eingeladen  worden  ist  und  der  er  nicht  ent- 
gehen konnte.  Er  findet  dort  sonderbare  Gäste,  unter  anderen  einen 
linkischen  Pedanten,  nebst  einem  Parasiten,  der  nach  Regniers  drastischem 
Ausdruck  „mit  den  Zähnen  diskuriert."  Bald  geraten  sich  die  Gäste  in 
die  Haare  und  der  Lärm  erlaubt  dem  Dichter  zu  entschlüpfen.  Aber  auf 
seinem  Rückzug  kommt  er  übel  an,  er  verirrt  sich  in  einen  verrufenen 
Ort  und  vergißt  so  sehr  die  Würde  der  Dichtung,  daß  er  das  Leben  da- 
selbst in  einer  Weise  schildert,  die  jedes  halbwegs  empfindliche  Gefühl 
empört. 

Meisterhaft  ist  dagegen  wieder  das  Bild  der  alten  Heuchlerin 
Macette,  die  nach  einem  lüderlichen  Leben  mit  der  Fr(Mmigkeit  gute 
Geschäfte  zu  machen  hofft.  Sie  thut  nun  öffentlich  gar  fromm  und  reu- 
mütig, und  weint  das  reine  Weihwasser.  In  der  Stille  aber  widmet  sie 
sich  einem  andern  Geschäft.  Im  Auftrag  eines  reichen  Lüstlings  kommt 
sie  zu  der  Geliebten  des  Dichters.  Mit  langsamem  und  abgemessenem 
Schritt  tritt  sie  in  das  Zimmer  des  Mädchens  und  grüßt  mit  frommem 
Ave  Maria.  Sie  schlägt  die  Augen  nieder,  und  scheint  scheu  und  un- 
schuldig, ein  wahres  Kräutchen  Rühr  mich  nicht  an.  Mit  unverfänglicher 
Erzählung  beginnend,  kommt  sie  nach  und  nach  auf  den  wahren  Zweck 
ihres  Besuchs.  Das  Mädchen  ist  so  schön,  warum  sollte  es  nicht  auch 
schöne  Kleider  haben?  Wozu  nützt  der  gute  Ruf,  wenn  er  kein  Geld 
einbringt?  Was  man  von  Frauenehre  faselt,  das  sind  längst  abgetbane 
Phrasen,  die  hübsch  klingen,  aber  genau  besehen,  doch  nur  mißbräuchlich 
angewandt  werden.  Jeder  Mensch  ist  seines  Glücks  Schmied;  nur  muß 
man  hübsch  vorsichtig  sein,  keinen  öffentlichen  Anstoß  geben.  Die  Sünde, 
die  man  verbirgt,  ist  schon  halb  verziehen.  Wer  nein  sagen  kann,  hat 
nicht  gefehlt.  Zudem  giebt  es  ja  auch  Beichte  und  Absolution.^)  In  diesem 
Ton  fährt  die  Alte  fort  zu  belehren,  bis  sie  in  ihrer  Rede  gestört  wird, 
mit  liebevoll  frommem  Ton  sich  verabschiedet  und  bald  wieder  zu  kommen 
verheißt.  Regnier  fand  für  diesen  Charakter  allerdings  ein  Vorbild  in 
Jean  de  Meungs  „Roman  de  la  Rose",  ja  das  Thema  ist  schon  bei  Ovid 
und  Properz  abgehandelt.^)     Aber   Regnier  hat  es  in  seiner  Weise  auf- 


1)  Sat,  XIII,  V.  30: 

Son  cell  tout  penitent  ne  pleure  qu'eau  beniste. 
V.  144: 

Le  peche  que  Ton  caehe  est  demy-pardonne. 
V.  147: 

Pourveu  (ju'on  ne  le  syache,  11  n'importe  comment. 

Qui  peu  dire  que  non,  ne  peche  nuUement. 

Puls  la  beute  du  ciel  nos  ofFenses  surpasse. 

Pourveu  qu'on  se  confesse,  on  a  tousjours  sa  grace. 
Man    vergl.  damit   das  Wort  Tartüffes   bei  Meliere,  „Tartutfe",  acte  IV 
v.  120: 

Et  ce  n'est  pas  pecher  quo  pecher  eu  silence. 

2)  Ovid,  Amores,  I,  8.  Propert  IV,  5. 


72 

gefaßt  und  originell  durchgeführt.  Macette  ist  die  Vorläuferin  des  Tartüffe, 
wie  Regnier  durch  die  Fülle  seiner  charakteristischen  Figuren,  die  Schärfe 
seiner  Zeichnung,  seine  wahrhaft  dramatische  Kraft  der  Lehrmeister 
Moliores  geworden  ist. 

Trotz  seines  satirischen  Geistes  hat  sich  Regnier  niemals  zu  per- 
sönlichen Ausfällen  hinreißen  lassen,  höchstens  daß  er  gegen  die  allzu 
strenge  Kritik  Malherbes  protestierte.  Auch  dabei  nannte  er  keinen 
Namen,  wenn  auch  seine  Anspielungen  sehr  deutlich  waren.  „Meine 
Muse  ist  zu  keusch",  sagt  er,  „und  mein  Sinn  steht  zu  hoch."')  Daß  er 
seine  Muse  zu  keusch  findet,  könnte  nach  dem  oben  Gesagten  über- 
raschen. Allein  die  unverhüllte  derbe  Rede  fiel,  wie  ebenfalls  schon  be- 
merkt, damals  nicht  auf,  und  die  Satire  zumal  schien  ohne  dieselbe 
kaum  möglich.  Regnier  redet  von  der  Zurückhaltung  seiner  Muse,  weil 
er  die  Waffen  seines  Geistes,  seinen  scharfen  Witz  und  seine  satirische 
Kraft  nicht  im  Dienst  gekränkter  Eitelkeit  und  privaten  Widerwillens 
mißbrauchte.  Er  war  ein  Lebemann,  gutmütig  und  ohne  Falsch,  so  daß 
man  ihn  den  „guten  Regnier"  nannte.-)  Der  ist  nicht  boshaft,  und 
noch  weniger  wird  er  in  seinem  Urteil  allzu  schneidig  sein,  der,  wie 
Mathurin  glaubt,  daß  der  Wert  der  Dinge  von  der  Laune  der  Menschen 
und  ihrem  jeweiligen  Urteil  abhängt.  Ja,  er  fragt  sich  wohl  einmal,  ob 
er  nicht  selber  irre?  Denn  diejenigen,  die  auf  dem  Schiff  mit  dem 
Strom  dahin  gleiten,  sehen  auch,  wie  das  Ufer  an  ihnen  vorüberfliegt, 
und  sie  sind  es  doch  selbst,  die  dahin  getragen  werden. 

Was  Regnier  fehlte,  war  die  Harmonie,  im  Leben  wie  in  den 
Werken.  Keines  seiner  Gedichte  kann  sich  einer  ungetrübten  Wirkung 
rühmen.  Das  liegt  nicht  etwa  in  der  altertümlichen,  uns  fremd  an- 
mutenden Sprache.  Denn  allerdings  wählte  er  mit  Vorliebe  alte  Aus- 
drücke, volkstümliche,  derbe  Redensarten.  Er  machte  damit  der  neuen 
Richtung  unter  Malherbes  Führung  bewußte  Opposition.  Jener  glaubte, 
ein  Vers  sei  schlecht,  wenn  er  ein  Wort  des  gewöhnlichen  Lebens  ent- 
halte, und  er  wiederum  fand,  daß  ein  gewisses  Sichgehenlassen  oft  das 
Kennzeichen  der  Kunst  sei.^)  Dabei  blieb  seine  Sprache  kräftig,  reich 
und  trotz  einiger  Härten  und  Kanten  bewahrte  sie  große  Beweglichkeit. 
Wäre  Regniers  Geschmack  reiner,  wir  könnten  uns  seines  Strebens,  den 
Reichtum  der  älteren  Sprache  zu  bewahren,  nur  freuen.  Allein  in  diesem 
Punkt  liegt  seine  Schwäche.  Er  verletzt  zu  oft,  und  während  er  ein 
Meister  der  Detailmalerei  ist,  den  holländischen  Malern  vergleichbar, 
welche  das  derbe  Volksleben  auf  der  Leinwand  darstellen,  fehlt  ihm 
gleich  jenen   gar  oft   der  Schwung,    der    über  die  Alltäglichkeit  hinaus- 


1)  Sat.  III,  157: 

Ma  muse  est  trop  chaste  et  j'ai  trop  de  courage. 

-)  Sat.  III,  95: 

Et  le  surnom  de  bon  me  va-t-on  reprochant, 
D'autant  qua  je  n'ay  Tesprit  d'estre  meschant. 

3)  Sat.  IX,  94: 

Les  nonchalances  sont  ses  plus  grands  artifices. 


73 

hebt  und  dessen  auch  der  Satiriker  nicht  entbehren  kann.  Und  doch 
war  er  ein  echtes  Dichtergemüt,  das  warm  zu  empfinden  vermochte. 
„Der  gute  Wein  ist  ja  auch  nicht  ohne  Hefe"',  sagt  er  zu  seiner  Ent- 
schuldigung'), und  er  rechnet  auf  die  Nachwelt  als  eine  milde  Richterin. 
Und  diese  hat  sich  ihm  günstig  erwiesen.  Schon  die  klassische  Zeit, 
die  sonst  so  streng  über  die  Dichter  der  früheren  Perioden  urteilte,  hat 
Eegniers  Talent  anerkannt.  Selbst  Boileau,  der  in  seiner  „Dichtkunst" 
ein  hartes  Wort  für  ihn  hatte,  hob  an  anderer  Stelle  ausdrücklich  seine 
Bedeutung  hervor.-) 


Fremdartiger  noch  als  der  gute  ßegnier  blickt  d'Aubigne  aus  der 
ihn  umgebenden  Gesellschaft  zu  uns  herüber.  Neben  den  kleinen  Menschen, 
die  unter  der  Regentschaft  und  in  der  ersten  Zeit  Ludwigs  XIII.  auf- 
treten, nimmt  sich  der  Greis,  der  ihnen  grollend  gegenübersteht,  fast 
wie  ein  Riese-  aus.  In  ihm  glüht  noch  das  unheimliche  Feuer  des  reli- 
giösen Fanatismus,  das  überall  sonst  erloschen  war.  Einer  jener  starr- 
köpfigen Hugenotten,  welche  dieselbe  Rolle  hätten  spielen  mögen,  welche 
in  England  etwas  später  den  puritanischen  Ruudköpfen  unter  Cromwell 
zufiel,  dazu  im  Grunde  seines  Herzens  republikanisch  gesinnt,  sah  d'Au- 
bigne seine  Erwartungen  von  dem  Tag  an  getäuscht,  an  welchem  Heinrich 
von  Navarra  allgemein  als  König  von  Frankreich  anerkannt  wurde. 
Dieses  Ziel  zu  erreichen,  hatte  Heinrich  seinen  früheren  Gegnern  viele 
Zugeständnisse  gemacht  und  sogar  seine  Religion  gewechselt.  D'Aubigne 
wollte  von  solcher  Politik  nichts  hören;  mit  dem  Schwert  in  der  Hand 
sollte  seiner  Meinung  nach  der  König  den  Frieden  diktieren,  auf  seine 
hugenottischen  Anhänger  gestützt,  die  Politik,  die  er  bis  dahin  verfolgt 
hatte,  auch  ferner  innehalten.  Er  war  vor  allem  Parteimann  und  von 
der  gewaltigen  Leidenschaft  eines  solchen  beseelt;  er  war  Kriegsmann 
mit  Leib  und  Seele,  und  sein  abenteuerliches  Hin-  und  Herziehen,  seine 
Kriegsfahrten  und  Einzelkämpfe  erinnern  mehr  an  den  fahrenden  Ritter 
oder  den  Landsknecht  des  Mittelalters,  als  an  den  Soldaten  moderner 
Zeit.  Er  war  ein  Mann  des  Kampfes  und  der  That..  Auch  seine  littera- 
rischen Arbeiten,  seine  Gedichte  wie  seine  Prosawerke  sind  Schwerthiebe, 
die  er  in  der  Hitze  des  Streits  gegen  seine  Gegner  führt.  Darin  stimmte 
er  allerdings  mit  dem  Edelmann  des  ganzen  17.  Jahrhunderts  überein, 
daß  er  bei  aller  Wertschätzung  litterarischen  Ruhms  es  doch  nicht  seiner 
Würde  für  angemessen  hielt,  als  Schriftsteller  von  Fach  oder'  als  Dichter 
zu  gelten. 

Seine  Lebensgeschichte  klingt  wie  ein  Roman,  so  wechselnd  und 
merkwürdig  waren  seine  Erlebnisse. 


1)  Sat.  XII,  33: 

.Ivant  qu'aller  si  viste,  au  moins  je  le  supplie 
S^avoir  que  le  bon  vin  ne  peut  estre  sans  lie. 

-)  Boileau,  Pteflezions  sur  Longin,  n^  5 :  „Le  celebre  Regaier,  c'est-ä-dire 
le  poete  francais  qui,  du  consentement  de  tout  le  monde,  a  le  mieux  connu, 
avant  Meliere,  les  moeurs  et  le  caraetere  des  hommes." 


74 

Theodor  Agrippa  d'Aubigne  war  im  Jahr  1551,  den  6.  Februar, 
zu  St.  Maury  bei  Pons  an  der  Seugne,  einem  Nebenfluß  der  Charente, 
in  der  alten  Provinz  Saintonge  geboren.^)  Sein  Vater  Jean  d'Aubigne, 
Herr  von  Brie,  gehörte  zu  den  eifrigsten  Anhängern  der  Reformation. 
Seine  Mutter  starb,  als  sie  ihn  zur  Welt  brachte,  und  da  Jean  d'Au- 
bigne bald  darauf  zum  zweitenmal  heiratete,  wurde  das  Kind  freuiden 
Händen  zur  Pflege  übergeben,  weil,  wie  d'Aubigne  später  erzählte,  die 
Stiefmutter  „die  Ausgabe  und  die  allzu  ausgesuchte  Kost,  welche  der 
Vater  für  ihn  verlangte,  mit  Ungeduld  ertrug".^)  Mit  vier  Jahren  er- 
hielt der  Knabe  einen  Hofmeister  und  begann  zu  studieren.  Mit  sechs 
Jahren  verstand  er  griechisch,  lateinisch  und  sogar  hebräisch.  Mit  acht 
Jahren  las  er  Piatos  „Kriton",  aber  er  seufzte  noch  in  seinen  Memoiren 
über  die  Strenge  seiner  Lehrer.  Im  neunten  Jahr  brachte  ihn  der  Vater 
zur  Fortsetzung  seiner  Studien  nach  Paris.  Ihr  Weg  führte  sie  durch 
Amboise.  An  diese  Stadt  knüpften  sich  für  die  Hugenotten  düstere 
Erinnerungen.  Sie  hatten  unter  der  Regierung  Franz  II.  sehen  müssen, 
■wie  ihre  erbitterten  Gegner,  die  Guisen,  zu  immer  höherer  Macht  auf- 
stiegen und  sich  des  schwachen  Königs  völlig  bemächtigten.  Sie  sahen 
sich  in  ihrem  Glauben  gefährdet,  mit  dem  Verlust  ihrer  Habe,  ja  mit 
dem  Feuertod  bedroht,  und  die  Entschlossensten  unter  ihnen  hatten  sich 
zu  einem  verzweifelten  Staatsstreich  verschworen.  Franz  II.  sollte  in 
Blois.  wo  er  sich  aufhielt,  mit  seinem  ganzen  Hof  aufgehoben,  die 
Guisen  verhaftet  und  wegen  Hochverrats  vor  Gericht  gestellt  werden. 
Als  geheimes  Oberhaupt  des  Bunds  wurde  der  Prinz  von  Conde  genannt. 
Allein  die  Guisen  waren  gewarnt  worden ;  sie  hatten  den  König  von 
Blois  nach  dem  festen  Amboise  gebracht,  hatten  Truppen  herbeigezogen, 
und  der  Anschlag  der  Verschworenen  war  gescheitert.  Ein  furchtbares 
Blutgericht  hatte  den  Rachedurst  der  Guisen  noch  nicht  gestillt,  und 
man  fürchtete  neue  Opfer.  Das  war  im  Jahr  1560.  Die  Wogen  der 
Erbitterung  gingen  immer  höher;  ein  dumpfes  Grollen,  das  durch  das 
Land  ging,  verkündete  den  baldigen  Ausbruch  des  Sturms. 

In  jenen  schwülen  Tagen  kamen  die  beiden  d'Aubigne  mit  ihrem 
Gefolge  durch  Amboise.  Sie  waren  zu  Pferd  und  hatten  ihren  Weg  durch 
eine  große  Volksmasse  zu  nehmen,  die  sich  auf  den  Straßen  und  Plätzen 
umhertrieb.  Plötzlich  sahen  sich  die  Reisenden  vor  einem  schrecklichen 
Schauspiel.  Sie  erblickten  die  Köpfe  vieler  Freunde  und  Glaubensgenossen, 
die  auf  hohen  Stangen  am  Schloß  aufgespießt  waren,  und  der  Vater 
fühlte  sich  so  empört,  daß  er  in  laute  Verwünschungen  über  die  Henker 
ausbrach,  welche  Frankreich  enthauptet  hätten.  Das  Volk  geriet  in  Auf- 
regung über  diese  Worte,  und  nur  mit  Mühe  rettete  sich  die  kleine 
Schar  vor  den  Mißhandlungen  der  erbitterten  Menge.  Vor  der  Stadt  aber 
legte   der   alte  d'Aubigne    seinem  Knaben  die  Hand  auf  das  Haupt  und 


^)  D'Aubigne  nennt  das  Jahr  1550  als  sein  Geburtsjahr,  weil  nach  dem 
alten  Kalender  das  neue  Jahr  erst  mit  dem  Frühjahr  begann. 

2)  D'Aubignö,  „Sa  vie  ä  ses  enfants",  Oeuvres  completes,  publiees  par 
M.  M.  ßeaume  et  Caussade.  Bd.  I,  S.  5. 


i[> 


empfahl  ihm  die  Rache  für  die  Gemordeten  als  seine  heilige  Pflicht, 
der  er  sich  bei  Strafe  des  väterlichen  Fluchs  nicht  entziehen  dürfe.  Un- 
willkürlich gedenkt  man  bei  diesem  Vorgang  des  karthagischen  Feld- 
herrn Hamilkar,  der  seinen  neunjährigen  Sohn  schwören  ließ,  die  Römer 
mit  ewigem  Haß  zu  verfolgen. 

In  Paris  wurde  der  junge  d'Aubigne  dem  gelehrten  Beroalde  zur 
weiteren  Erziehung  anvertraut.  Doch  schon  im  Jahr  1562  brach  der 
lang  genährte,  mühsam  verdeckte  Haß  in  offene  Flammen  aus,  und  die 
beiden  Parteien  maßen  sich  im  ersten  Religionskrieg.  Beroalde.  ein 
eifriger  Hugenotte,  floh  mit  seiner  Familie  und  seinem  Schutzbefohlenen 
aus  Paris,  wo  er  sich  nicht  mehr  sicher  fühlte,  wurde  aber  unterwegs 
von  einem  Trupp  Soldaten  angehalten,  und  mit  seiner  ganzen  Begleitung 
als  Ketzer  zum  Feuertod  verurteilt.  Selbst  der  Knabe  war  in  dem  harten 
Urteil  mit  einbegriffen.  Vergebens  stellte  man  ihm  vor,  daß  er  sich 
nur  durch  eine  angenblickliche  Bekehrung  retten  könne;  er  antwortete, 
daß  ihn  der  Abscheu  vor  der  Messe  die  Schrecken  des  Feuers  vergessen 
lasse.  Den  anwesenden  Officieren  gefiel  d'Aubignes  keckes  Wesen;  sie 
ließen  von  ihren  Spielleuten  eine  „Gaillarde"  aufspielen,  und  der  Kuabe 
tanzte ,  bis  der  eintretende  Inquisitor  ihn  mit  Scheltworten  unterbrach 
und  in  den  Kerker  zurückschickte.  Welch  ein  merkwürdiges  Bild  der 
Zeit  enthüllt  uns  diese  eine  Scene!  Die  Stimmung  wechselt  jeden  Augen- 
blick und  ebenso  die  Schicksale.  Es  war  das  erste  Todesurteil,  das  über 
d'Aubigne  gefällt  wurde;  es  sollte  nicht  sein  letztes  sein.  Im  Kerker 
fand  er  Beroalde  und  dessen  Gefährten,  die  alle  mutigen  Sinns  dem  Tod 
entgegensahen.  Aber  um  Mitternacht  erschien  ein  Retter.  Der  Officier, 
dessen  Sorge  die  Gefangenen  anvertraut  worden  waren  und  der  im 
geheimen  zur  protestantischen  Partei  gehörte,  ließ  sie  entschlüpfen  und 
rettete  sich  mit  ihnen  nach  Orleans,  wo  Jean  d'Aubigne  ein  hohes 
Kommando  hatte. 

Die  weiteren  Ereignisse  entsprachen  solchem  Anfang.  D'Aubignes 
Leben  ist  gleich  dem  des  Simplicissimus  eine  Kette  der  überraschendsten 
Wechselfälle.  Orleans  wurde  von  den  Königlichen  belagert.  Unter  der 
Menge,  die  sich  in  die  Stadt  zusammengedrängt  hatte,  brach  eine  Epidemie 
aus,  welche  viele  Tausende  hinwegraffte.  Auch  der  junge  d'Aubigne 
wurde  von  dem  Übel  ergriffen,  kam  aber  mit  dem  Leben  davon.  In  der 
vom  Feind  bedrängten,  von  der  Krankheit  heimgesuchten  und  erschreckten 
Stadt  lösten  sich  die  Bande  der  Zucht,  und  der  Knabe,  der  in  die  Ge- 
sellschaft des  sittenlosen  Soldatenvolks  geriet,  wurde  in  alle  Laster  ein- 
geweiht. Zudem  verlor  er  bald  seinen  Vater.  Derselbe  war  während  der 
Belagerung  verwundet  worden,  hatte  sich  aber  nicht  geschont,  und, 
obwohl  erst  halb  geheilt,  Friedensunterhandlungen  mit  Königin  Katharina 
von  Medici  eingeleitet  und  zum  guten  Ende  geführt  Die  Wunde  hatte 
sich  verschlimmert ,  und  Jean  d'Aubigne  war  kurze  Zeit  nach  dem  Ab- 
schluß des  Friedens  gestorben.  Auf  seinem  Totenbett  empfahl  er  seinem 
Sohn  noch  dringend,  der  Opfer  von  Amboise  nicht  zu  vergessen,  seinem 
Glauben  treu  zu  bleiben ,  die  Wissenschaften  zu  pflegen  und  jederzeit 
ein  guter  Freund  zu  sein.  Außer  diesen  Ratschlägen  hinterließ  er  freilich 


76 


wenig.  Sein  Vermögen  war  zerrüttet,  und  die  Schuldenlast  erdrückend. 
Theodor  Agrippa  erhielt  einen  Vormund  und  wurde  nach  Genf  geschickt, 
wo  er  in  ruhigerer  Umgebung  die  Schule  unter  Theodor  von  Bezas 
Leitung  besuchte,  sich  zwei  Jahre  lang  daselbst  aufhielt,  manchen  aus- 
gelassenen Streich  sich  erlaubte,  endlich  aber,  der  strengen  Behandlung 
müde,  ohne  Vorwissen  seines  Vormunds  davonlief  und  sich  nach  Lyon 
wandte.  Dort  widmete  er  sich  der  Mathematik.  Aber  auch  sie  genügte 
ihm  nicht.  Wie  Faust  hatte  er  alles  gekostet,  hatte  er  alles  erforschen 
wollen  und  nichts  als  Enttäuschung  gefunden.  So  ergab  er  sich  der 
Magie  und  hoffte  mit  ihrer  Hilfe  zum  Ziele  zu  gelangen.  Dabei  ging  es 
ihm  oft  herzlich  schlecht,  er  hatte  nicht  immer  zu  essen,  und  war  froh, 
als  man  ihm  endlich  wieder  aus  der  Heimat  einiges  Geld  schickte. 

Darüber  brach  der  zweite  Krieg  aus.  D'Aubigne  bestürmte  seinen 
Vormund,  er  möge  ihn  in  das  Heer  der  Reformierten  eintreten  lassen. 
Dieser  hielt  ihn  statt  dessen  in  strenger  Haft  bei  sich,  und  um  ihm 
jeden  Fluchtversuch  unmöglich  zu  machen,  ließ  er  ihm  jeden  Abend  die 
Kleider  wegnehmen.  Der  Friede  von  Lonjumeau  machte  dem  Kampf  aller- 
dings bald  ein  Ende,  allein  die  Ruhe  dauerte  nur  bis  zum  nächsten 
Jahr,  in  welchem  sich  die  Parteien  zum  drittenmal  den  Krieg  er- 
klärten. D'Aubigne  hatte  diesmal  seine  Maßregeln  getroffen.  Ein  Schuß 
vor  seinen  Fenstern  zeigte  ihm  an,  dass  seine  Gefährten  in  der  darauf- 
folgenden Nacht  die  Stadt  verlassen  würden,  um  sich  zum  Sammel- 
platz der  Truppen  zu  begeben.  Rasch  entschlossen  ließ  er  sich  an  den 
Leintüchern  seines  Betts  auf  die  Straße  herab,  und  folgte,  barfuß,  ohne 
Gewand,  nur  mit  einem  Hemd  bekleidet,  den  vorausgeeilten  Freunden, 
die  über  den  Aufzug  ihres  Genossen  nicht  wenig  erstaunt  waren.  Ein 
mitleidiger  Hauptmann  nahm  ihn  zu  sich  aufs  Pferd  und  gab  ihm  einen 
Mantel.  In  diesem  Aufzug  focht  er  einige  Stunden  später  gegen  eine 
Schar  Liguisten  und  eroberte  sich  seine  Waffen.  Die  Gefallenen  der 
Kleidungsstücke  zu  berauben,  verschmähte  er.  und  wurde  erst  am  Abend 
von  einigen  Hauptleuten  mit  dem  Nötigsten  ausgestattet.  Als  man  später 
im  Hauptquartier  den  Versuch  machte,  ihn  zurückzuschicken,  bahnte  er 
sich  mit  dem  Degen  in  der  Faust  den  Weg  zu  seiner  Compagnie. 

Seitdem  war  er  einer  der  verwegensten  Kämpfer  in  den  Reihen 
der  Hugenotten  und  machte  alle  ihre  Kreuzzüge  mit.  Nicht  lange,  so 
hatte  er  eine  Compagnie  zu  führen,  und  so  oft  eine  tollkühne  That  zu 
vollbringen  war,  fand  sich  d'Aubigne  an  der  Spitze  einiger  gleich- 
gesinnten  Feuerköpfe  dazu  bereit.  Vielmals  und  schwer  verwundet,  ent- 
ging er  dennoch  dem  Tod.  Unsere  Phantasie  ist  glücklicherweise  zu 
schwach,  sich  die  Greuel  vorzustellen,  welche  jene  Kämpfe  mit  sich 
brachten.  Die  Schrecken  eines  gewöhnlichen  Kriegs  verschwinden  neben 
den  finsteren  Thaten,  zu  welchen  der  Fanatismus  in  einem  Bürgerkrieg 
hinreißt.  D"Aubigne  hat  sie  später  in  seinen  „Tragiques"  in  ergreifender 
Weise  geschildert.  Auch  in  seinem  „Leben"  sagt  er  genug  davon.  Von 
heftigem  Fieber  ergriffen ,  glaubte  er  eines  Tags  sein  Ende  gekommen, 
und  bekannte  seinen  Kameraden  die  Fehler  seines  Lebens.  Er  beklagte 
besonders  die  Schwäche ,    mit  welcher  er  seinen  Soldaten  oft  freie  Hand 


77 

gelassen  habe.  Seine  Erzählungen  waren  derart,  daß  seinen  Gefährten, 
die  doch  wahrlich  kein  weiches  Herz  im  Busen  trugen,  vor  Grauen  sich 
die  Haare  sträubten.')  D'Aubigne  erholte  sich  indessen  von  seiner 
Krankheit  und  beteuert ,  er  sei  von  jener  Zeit  an  ernster  und  sitten- 
strenger geworden. 

Ein  zwanzigjähriger  Jüngling  hatte  solche  Erfahrungen  gemacht! 
Bald  sollte  er  auch  andere,  schönere  Erlebnisse  finden.  In  einer  kurzen 
Zeit  des  Friedens,  welche  dem  erschöpften  Lande  gegönnt  wurde,  lernte 
d'Aubignc  Diana  Salviati,  die  älteste  Tochter  des  Herrn  von  Talcy, 
kennen  und  lieben.  Die  neue  Empfindung  machte  ihn  zum  Dichter.  Er 
verfaßte  eine  Reihe  von  Sonetten ,  Stanzen  und  Oden ,  in  welchen  er 
seinen  stürmischen  Gefühlen  Luft  machte,  und  nannte  die  ganze  Samm- 
lung den  „Frühling  d'Aubignes".  Aber  er  scheute  vor  der  Öffentlichkeit 
zurück,  selbst  später,  und  so  kam  es,  daß  diese  Gedichte  mit  vielen 
anderen  Schriften  lange  unbeachtet  blieben.  Man  muß  d'Aubigne  aufs 
Wort  glauben ,  wenn  er  sagte,  seine  Verse  seien  zwar  manchmal  hart, 
aber  sie  seien  von  jener  poetischen  Begeisterung  beseelt,  welche  den 
Kennern  immer  gefallen  werde.  Neuerdings  ist  aber  der  „Frühling"  mit 
noch  anderen  Gedichten  aus  den  hinterlassenen  Papieren  d'Aubignes 
herausgegeben  worden,^)  und  wir  können  sagen,  daß  sie  in  dem  her- 
kömmlichen galanten  und  gekünstelten  Stil  verfaßt  sind,  welchen  die 
höfische  Litteratur  des  16.  Jahrhunderts  liebte.  Dabei  weisen  sie  jedoch 
in  der  That  mehr  Feuer  auf,  als  die  Liebesgedichte  jener  Zeit  gewöhn- 
lich enthalten.  Es  finden  sich  zumal  Bilder  und  Wendungen,  die  aus 
der  hergebrachten  Schulpoesie  heraustreten;  frische  Ausdrücke  aus  dem 
warmen  Leben,  Bilder  voll  Wahrheit,  die  vorzugsweise  dem  Kriegs- 
getümmel oder  der  ländlichen  Natur  entnommen  sind;  kurz,  man  sieht, 
daß  der  Dichter  ein  offenes  Auge  für  die  reale  Welt  bewahrt  hat. 

Dichterische  Thätigkeit  und  Liebeständelei  waren  ihm  indessen  nur 
ein  Zeitvertreib  für  müßige  Tage.  Zur  Hochzeit  Heinrichs  von  Navarra 
mit  Margarete  von  Valois  strömten  die  Hugenotten  von  allen  Seiten  nach 
Paris.  Unter  ihnen  befand  sich  auch  d'Aubigne.  Drei  Tage  vor  der 
Bartholomäusnacht  war  er  als  Sekundant  eines  Freundes  in  ein  Duell 
verwickelt;  die  Kämpfenden  wurden  von  der  Scharwache  überrascht, 
d'Aubigne  leistete  Widerstand,  verwundete  einen  Soldaten  und  mußte 
fliehen.  Er  verließ  heimlich  Paris  und  entging  so  dem  Tod,  der  auch 
ihm  bestimmt  war.  Einige  Monate  hielt  er  sich  nun  in  Talcy  verborgen, 
wo  ihm  Diana  endlich  verlobt  wurde,  freilich  nur  auf  kurze  Zeit,  denn 
da  er  sich  weigerte,  seine  Religion  zu  wechseln,  brach  der  Vater  das 
Verhältnis  wieder  ab. 

Indessen  war  Heinrich  von  Navarra  auf  den  jungen  Mann  auf- 
merksam gemacht  worden.  Er  berief  ihn  zu  sich  nach  Vincennes,  wo  er 


1)  Sa  vie  ä  ses  enfants,  S.  17. 

-)  Oeuvres  complete  de  Th.  A.  d'Aubigne,    publique    par  M.  M.  Eugene 
Eeaume  et  de  Caussade,  Bd.  3. 


78 


in  einer  Art  freier  Gefangenschaft  gehalten  wurde  und  mit  dem  Herzog 
von  Guise  ein  wildes  Leben  führte.  Heinrich  fand  Gefallen  an  d"Auhigne 
und  nahm  ihn  alsbald  in  seine  Dienste.  So  kam  er  an  den  Hof,  wurde 
in  den  Wirbel  der  Zerstreuungen  mit  fortgerissen  und  war  bald  seiner 
scharfen  Zunge  wegen  gefürchtet.  Auch  zum  Dichter  wurde  er  wiederum 
und  schrieb  ein  Trauerspiel,  „Circe",  das  er  für  eine  festliche  Aufführung 
bei  Hof  bestimmte,  das  aber  wegen  der  nötigen  Vorrichtungen  für  die 
scenische  Ausstattung  zu  kostbar  erschien,  und  erst  später  auf  Befehl 
König  Heinrichs  III.  aufgeführt  wurde.  Das  Werk  ist  verloren  und  hat 
sich  auch  nicht  unter  den  Papieren  des  Nachlasses  gefunden. 

In  seiner  Autobiographie  deutet  d'Aubigne  an,  welches  Leben  er 
mit  den  anderen  jungen  Herreu  am  Hof  damals  führte.  Liebeshändel, 
Duelle  und  sonstige  Abenteuer  brachten  Abwechslung  und  Unterhaltung. 
Die  Straßen  von  Paris  waren  damals  allnächtlich  der  Schauplatz  tumul- 
tuarischer  Scenen  und  blutiger  Kämpfe.  Die  übermütigen  Junker  schlugen 
sich  mit  den  städtischen  Wächtern,  mit  Strolchen  und  Dieben  herum. 
D'Aubigne  erzählt,  wie  sie  einmal  mit  den  Waffen  in  der  Hand  das  Haus 
der  städtischen  Polizei  stürmten  und  sie  in  die  Flucht  trieben.  Ein 
andermal  griff  er  mit  drei  Kameraden  dreißig  Hellebardiere  an  und  jagte 
sie  vor  sich  her,  oder  er  kam  einem  Freund  zu  Hilfe,  der  in  einem 
Wirtshaus  von  den  Leuten  des  Herzogs  von  Montmorencj  belagert  wurde. 
Auch  das  Gift  spielte  seine  Rolle,  und  d'Aubigne  veifiel.  wie  er  glaubt, 
infolge  eines  Gifttranks,  den  ihm  ein  falscher  Freund  beibrachte,  in  ein 
langes  Leiden,  aus  dem  ihn  nur  seine  gute  Natur  rettete.^) 

Es  war  System  in  diesem  Treiben.  Das  entnervende  Leben  sollte, 
nach  dem  Plan  der  Feinde.  Heinrich  von  Xavarra  die  Kraft  zu  jeder 
ehrgeizigen  Unternehmung,  zu  jedem  kräftigen  Entschluß  rauben.  Allein 
es  kam  der  Tag,  an  welchem  dier  kluge  Fürst  seine  Lage  erkannte  und 
zu  handeln  beschloß.  Mit  nur  wenigen  Getreuen,  darunter  d'Aubigne, 
verließ  er  heimlich  Vincennes  und  eilte  in  sein  Heimatland,  um  sich  dort 
an  die  Spitze  der  Hugenotten  zu  stellen,  und  den  schweren  Kampf  zu 
beginnen,  der  ihn  nach  den  mannigfaltigsten  Wechselfällen  endlich  auf 
den  Thron  von  Frankreich  führen  sollte.  D'Aubigne  stand  ihm  in  diesen 
schweren  Zeiten  als  treuer  Freund  zur  Seite  und  stieg  sciiließlich  bis  zur 
Würde  eines  Marechal  de  camp  empor.  Selten  mag  sich  das  Verhältnis  des 
Herrn  zu  seinem  Diener  so  gestalten,  wie  wir-  es  bei  Heinrich  IV.  und 
d'Aubigne  finden.  Der  letztere  war  kein  bequemer  Freund,  und  Heinrich 
verlangte  für  seine  verschiedenen  Leidenschaften  oft  nachsichtige  und 
hilfreiche  Vertraute.  Statt  ihm  gefällig  zu  sein,  trat  ihm  d'Aubigne  häufig 
mit  der  rauhen  Offenheit  eines  Puritaners  entgegen  und  trotzte  seinem 
Zorn.  „Ein  Hugenottenfürst'',  sagte  er  ihm  einmal,  „hat  ebensoviel 
Aufseher  für  seine  Handlungen  als  er  Diener  hat."  Darüber  kam  es  oft 
zu  heftigen  Scenen;  man  schmollte,  trennte  sich,  ja  d'Aubigne  meint, 
Heinrich  habe  ihm  manchmal  Schlimmeres  gewünscht.  Doch  nie  Feind- 
schaft dauerte  nie  lange;  der  König  kannte  des  Mannes  Treue,  und  wenn 


^)  Sa  vie  ä  ses  enfants,  S.  23. 


«r  leidenschaftlich  sich  dem  Augenblick  hingab,  so  war  er  doch  auch 
hohen  Sinns  und  wußte  Offenheit  und  Festigkeit  zu  schätzen.  So  gab 
er  in  der  entscheidenden  Stunde  immer  gutem  Rat  Gehör.  „Aubigne, 
jetzt  brauche  ich  Deine  grobe  Treue  I"  rief  er  dann  wol  aus,  und  d' Aubigne 
ließ  es  weder  an  Grobheit  noch  an  treuem  Rat  fehlen.  ')  In  seiner  Auto- 
biographie klagt  er  mehr  als  einmal  über  den  kleinlichen  Charakter  des 
Königs,  über  dessen  Mißgunst  und  Geiz.  Und  doch  war  er  selbst  ein 
Beispiel  davon,  daß  Heinrich  seine  Anhänger  reich  zu  belohnen  wußte, 
wenn  er  auch  das  Geld  nicht  vergeudete.-)  In  der  „Geschichte  seiner 
Zeit"  ist  d' Aubigne  umso  rückhaltloser  im  Lob  seines  Königs,  und 
der  Widerspruch  zwischen  den  beiden  Darstellungen  mag  sich  daraus 
erklären,  daß  die  Autobiographie  in  Einzelheiten  des  Privatlebens  ein- 
geht, und  dem  Erzähler  bei  der  Erinnerung  an  manchen  bitteren  Moment 
die  Schwächen  Heinrichs  lebhafter  vor  die  Augen  traten,  als  bei  der 
Darstellung  seiner  Politik  und  seiner  Kriegführung. 

Wir  müßten  die  Geschichte  jener  denkwürdigen  Jahre  ausführlich 
erzählen,  wollten  wir  ein  annähernd  getreues  Bild  von  d'Aubignes  Thätigkeit 
geben.  Nahm  er  doch  Teil  an  allen  Feldzügen,  an  den  verschiedenen 
größeren  und  kleineren  Unternehmungen.  Nicht  selten  gebrauchte  ihn 
Heinrich  als  Vertrauensmann  und  beauftragte  ihn  mit  wichtigen  geheimen 
Unterhandlungen.  Doch  ist  es  ihm  nie  gelungen,  einen  dauernden  Einfluß 
auf  den  König  auszuüben  oder  an  die  Spitze  eines  Zweigs  der  Verwal- 
tung zu  treten.  Dazu  war  er  zu  heftig,  zu  wenig  diplomatisch.  Stets  in 
Streitigkeiten  verwickelt,  fand  er  in  den  kurzen  Pausen  zwischen  den 
Feldzügen  noch  Zeit,  seine  Privathändel  auszufechten.  Auch  seine  dich- 
terische Kraft  erwachte  in  ihm  aufs  neue.  Er  wurde  im  Gefecht  von 
Casteljaloux  in  der  Guyenne  (1577)  ernstlich  verwundet,  und  auf  sein 
Öchmerzenslager  gebannt,  dichtete  er  die  ersten  Gesänge  seiner  „Tragiques", 
die  jedenfalls  das  beste  sind  von  allem,  was  er  je  geboten  hat.  Da  ihm 
das  Schreiben  schwer  fiel,  diktierte  er  sie,  feilte  auch  später  noch  an 
ihnen  und  dichtete  die  folgenden  Gesänge  während  seiner  Kriegsfahrten, 
zu  Pferd  und  in  den  Laufgräben.  Die  Vollendung  der  „Tragique"  fällt 
aber  jedenfalls  in  viel  spätere  Zeit. 

Nach  dem  Religionswechsel  Heinrichs  änderte  sich  d'Aubignes 
Stellung  zu  ihm.  Er  sah  sich  ihm  bald  entfremdet,  denn  über  dem 
König  stand  ihm  die  Sache  seiner  Religion.  Muß  man  sich  auch  hüten, 
d'Aubigne  moderne  demokratische  Ansichten  unterzuschieben,  so  ist  es 
doch  klar,  daß  er  kein  Anhänger  der  absoluten  Monarchie  war,  wie  sie 
sich  unter  Heinrich  IV.  entwickelte.  Bei  den  großen  Versammlungen  der 
Hugenotten  führte  er  eine  schneidige  Sprache  und  warnte  vor  allzu 
großer  Nachgiebigkeit  und  vertrauensseliger  Schwäche.  Man  nannte  ihn 

1)  Sa  vie  ä  ses  enfants,  S.  62. 

-)  In  der  Vorrede  zu  seiner  „Histoire  universelle"  spricht  d'Aubigne  von 
dem  Vermögen,  das  er  im  Jahr  1614  besaß.  Er  berechnet  dabei  seine  Lände- 
reien und  sein  bewegUches  Besitztum  auf  175  000  Livres.  Er  bezog  ferner  eine 
Pension  von  7-  bis  800U  Livres.  Dazu  kam  noch  sein  Gehalt  als  „Marechal  de 
camp",  und  die  Einkünfte,  die  er  als  Gouverneur  zweier  festen  Plätze  hatte. 


80 


einen  Störenfried,  obwol  er  eigentlich  nur  consequent  geblieben  war, 
und  die  republikanische  selbständige  Organisation  seiner  Partei  auch  nach 
dem  Sieg  Heinrichs  aufrecht  erhalten  wissen  wollte.  Als  es  verlautete, 
daß  er  an  einer  Geschichte  seiner  Zeit  arbeite,  ließ  ihm  der  König  den 
Wunsch  ausdrücken,  er  möge  im  Interesse  des  Friedens  seine  Arbeit 
aufgeben.  So  mehrten  sich  die  Mißhelligkeiten ;  die  Gemächer  ia  der 
Bastille  standen  schon  einmal  zu  d'Aubignes  Empfang  bereit,  aber  die 
alten  Freunde  fanden  sich  doch  immer  wieder.')  Kurz  vor  Heinrichs  Er- 
mordung war  die  Eede  davon,  d'Aubigne  als  Gesandten  nach  Deutsch- 
land zu  schicken. 

Unter  der  Eegentschaft  Marias  wurde  seine  Opposition  stärker. 
Er  galt  bald  als  ein  Haupt  der  Unzufriedenen,  der  im  Vertrauen  auf 
zwei  feste  Plätze,  die  ihm  überlassen  worden  waren,  der  königlichen 
Regierung  Trotz  zu  bieten  wage.  Er  gab  indessen  diese  beiden  Sicher- 
heitsplätze gegen  eine  Geldentschädigung  auf,  und  zog  sich  in  die  Stille 
zurück,  um  seinen  Studien  zu  leben.  Es  lag  ihm  am  Herzen,  sein  Ge- 
schichtswerk zu  vollenden,  worauf  er  großen  Wert  legte.  Es  erschien  in 
drei  Foliobänden  in  den  Jahren  1616,  1618  und  1620,  erregte  aber 
in  hohen  Kreisen  großen  Unwillen  durch  seine  herbe  Sprache  und  be- 
sonders durch  die  Schilderung  des  sittenlosen  Hofes  unter  den  letzten 
Valois.  Ein  Urteil  des  Parlaments  verdammte  das  Werk,  und  es  wurde 
öffentlich  von  dem  Henker  verbrannt. 

D'Aubigne  selbst  konnte  nicht  mehr  in  Frankreich  bleiben;  er 
raffte  von  seinem  Vermögen  zusammen,  soviel  er  konnte,  und  eilte, 
von  etwa  20  Vertrauten  und  Dienern  begleitet,  auf  entlegenen  Wegen 
und  unter  Anwendung  großer  Vorsichtsmaßregeln  der  Schweizer  Grenze 
zu.  Am  1.  September  1620  langte  er  in  Genf  an,  wo  er  feierlich  em- 
pfangen wurde  und  für  die  letzten  zehn  Jahre  seines  Lebens  eine  Zu- 
flucht fand.  Euhe  war  ihm  freilich  auch  dort  nicht  beschieden.  Die  Stadt 
war  von  ihren  Feinden  bedrängt  und  wendete  sich  in  ihrer  ISTot  an  ihn 
um  Rat  und  Beistand.  So  erweiterte  er  ihre  Befestigungen,  wobei  es 
ihm  geschah,  daß  er  in  seinem  Eifer  die  Steine  einer  früher  zerstörten 
Kirche  zum  Bau  einer  neuen  Bastion  verwendete  und  zum  Dank  dafür 
von  den  strenggläubigen  Calvinisten  als  Gottesfrevler  zum  Tod  verurteilt 
wurde.     Es  war  das  vierte  Mal.    daß  ihn  ein  solcher  Spruch  traf,    und 

1)  Sa  vie  ä  ses  enfants,  \>.  76:  „Apres  uue  grande  ambrassade  Aubigue 
congedie  retourna  au  Roy  et  lui  dit:  Sire,  en  regardant  votre  visage,  il  me 
donne  les  anciennes  hardiesses  suivant  lesquelles  j'ose  demander  a  mon  Maistre 
ce  que  l'ami  demande  ä  l'ami;  defaites  trois  boutoiis  de  votre  estomac  et  me 
dites  pourquoy  vous  m'avez  peu  hayrV  Le  roy  ayaiit  pasly  corame  il  faisait  ä 
tout  ce  qu'il  prononfait  d"affection,'  dit:  Vous  avez  trop  aime  La  Tremouille. 
Responce:  Sire,  c-este  amitie  s'est  faiete  a  votre  Service.  Demande:  Ouy,  mais 
quand  je  Tay  hay,  vous  n'avez  pas  laisse  de  l'aimer.  Responce:  Sire,  j'ai  este 
nourri  aux  pieds  de  vostre  Majeste  attacquee  de  tant  d'ennemis  et  d'accidents 
•  [u'elle  a  eu  besoing  de  serviteurs  amateurs  des  affligez  et  qui  n'abandonnassent 
pas  vostre  service,  mais  redoublassent  leur  atfection  au  prix  que  vous  estiex 
aecablee  par  une  puissance  superieure;  supportez  de  nous  cest  apprentissage  de 
vertu.  II  n'y  eut  d'autre  re.sponce  que  l'ambrassade  d'adieu."  Ist  dies  Gespräch 
nicht  ebenso  ehrenvoll  für  Heinrich  wie  für  dAubigne? 


81 


wie  früher,  wußte  er  auch  diesmal  den  bösen  Schlag  abzuwehren.  Auch 
die  Herausgabe  einer  satirischen  Schrift,  der  „Abenteuer  des  Barons 
Faeneste",  brachte  ihm  Unannehmlichkeiten  und  Vorwürfe  von  Seiten 
seiner  neuen  Mitbürger,  und  führte  ihn  zu  dem  Entschluß,  andere  zur 
Herausgabe  bereite  Arbeiten  zurückzuhalten.  Im  übrigen  stand  er  mit 
den  Protestanten  in  Frankreich.  Deutschland  und  der  Schweiz  in  reger 
Verbindung,  wie  sein  ausgedehnter  Briefwechsel  beweist. 

In  seiner  Familie  erfuhr  d'Aubigne  manches  Leid.  In  früheren 
Jahren  hatte  er  sich  mit  Susanne  de  Lezay  vermählt,  aus  welcher  Ehe 
ihm  ein  Sohn  und  mehrere  Töchter  erwuchsen.  Constans,  der  Sohn,  ge- 
riet auf  Abwege,  führte  ein  ausschweifendes  Leben,  und  trat  endlich 
zum  Katholicismus  über,  wofür  ihn  sein  Vater  verstieß.  Im  Jahr  1623 
verheiratete  der  greise  d'Aubigne  sich  noch  einmal,  und  zwar  mit  Frau 
Eenee  Burlamachi  aus  Genf.  Auch  hatte  er  einen  natürlichen  Sohn, 
Nathan,  der  ihm  an  Strenge  des  Glaubens  und  an  Festigkeit  des  Cha- 
rakters ähnlich  war,  und  den  er  in  seinem  Testament  legitimierte.  Er 
starb  zu  Genf  am  29.  April  1630. 

D'Aubignes  Nachlaß  war  sehr  reich.  Mit  demselben  Eifer,  mit 
welchem  er  das  Schwert  geschwungen,  hatte  er  auch  die  Feder  geführt. 
Allein  er  wollte  nicht  als  Autor  vom  Fach  gelten,  so  sehr  ihm  littera- 
rischer Ruhm  auch  am  Herzen  lag;  er  glaubte  vor  allem  seinen  Cha- 
rakter als  Soldat  und  Staatsmann  wahren  zu  müssen.  Auch  machte  ihn 
die  unfreundliche  Aufnahme,  welche  seine  letzten  Schriften  gefunden 
hatten,  vorsichtig,  und  er  hielt  Weiteres  zurück.  In  den  Werken,  die  er 
schon  veröffentlicht  hatte,  erwähnt  er  gelegentlich  mehrerer  Manuskripte 
als  druckreif.  Er  spricht  von  Romanen,  von  Epigrammen  und  polemi- 
schen Schriften,  von  ergötzlichen  Privatbriefen,  von  anderen  Briefen 
über  Fragen  der  Theologie,  der  Politik  und  des  Kriegs,  von  einem  Buch 
voll  urderber  Komik,')  sowie  er  auch  seiner  lyrischen  Gedichte  öfters  ge- 
denkt. Alles  dies  war  noch  ungedruckt,  und  er  vermachte  diese  und  viele 
andere  Papiere  dem  Pastor  Theodor  Tronchin,  seinem  Freund,  mit  der  Bitte, 
sie  mit  Nathan  d'Aubigne  zusammen  zu  prüfen  und  nach  Gutdünken  über 
sie  zu  verfügen.  „Ure,  seca'",  d.  h.  ., Verbrenne,  streiche  bei  der  Heraus- 
igabe,  soviel  es  Dir  nötig  erscheint",  lautete  des  Sterbenden  Wunsch. 

Kaum  war  jedoch  das  Hinscheiden  d'Aubignes  bekannt  geworden, 
und  bevor  noch  Tronchin  die  Manuskripte  durchsehen  konnte,  erschien 
von  Staats  wegen  eine  Kommission  im  Haus  der  Witwe,  welche  vorläufig 
alle  Papiere  mit  Beschlag  belegte  und  sie  einer  strengen  Durchsicht 
unterwarf.  Was  Bezug  auf  Politik  hatte ,  was  den  Herren  bedenklich 
erschien  oder  was  einzelnen  Männern  hätte  schaden  können,  wurde  weg- 
genommen.-) 


1)  D'Aubigne  nennt  das  Buch  TkyeXola,  und  scheint  darin  seiner  kausti- 
schen Laune  die  Zügel  gelassen  und  —  unbeschadet  seines  Hugenottenernstes 
—  in  der  Wiedergabe  derbkomischer  und  etwas  anstößiger  Geschichtchen  sich 
ergötzt  zu  haben. 

2)  Lettre  de  Eenee  d'Aubigne  ä  son  gendre,  Mr.  Villette  (mitgeteilt  von 
Laianne,  dem  Herausgeber  der  Memoiren,  und  nach  ihm  von  den  neuesten 
Herausgebern,  Bd.  I,  S.  16). 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  I.itteratur.  g 


82 

Dasselbe  Spiel  wiederholte  sich  drei  Monate  später.  Was  dabei 
verloren  ging,  ist  nicht  mehr  zu  bestimmen.  Aber  auch  Tronchin  fand 
nicht  für  gut,  noch  etwas  herauszugeben.  Eine  große  Zahl  Manuskripte 
hat  sich  jedoch  im  Besitz  der  noch  heute  bestehenden  Genfer  Familie 
Tronchin  erhalten,  und  so  ist  es  in  unseren  Tagen  zwei  tüchtigen  Ge- 
lehrten möglich  geworden,  dieselben  zu  prüfen  und  mit  ihrer  Veröffent- 
lichung zu  beginnen.^) 

Trotz  dieser  dankenswerten  Arbeit  bleiben  die  Werke,  die  d'Aubigne 
selbst  veröffentlicht  hat,  weitaus  die  bedeutendsten  Zeugnisse  seiner  gei- 
stigen Kraft.  Was  bis  jetzt  aus  seinem  Nachlaß  erschienen  ist,  wird 
kaum  zur  Erhöhung  seines  Euhms  dienen,  so  interessant  auch  manches 
für  die  Kenntnis  der  Sprache  und  des  Geistes  der  damaligen  Zeit 
sein  mag. 

Sieht  man  von  den  lyrischen  und  epischen  Versuchen  ab,  so  findet 
man  d'Aubigne  hauptsächlich  auf  zwei  Gebieten  thätig.  Er  war  Ge- 
schichtschreiber und  Satiriker. 

Als  Geschichtschreiber  gab  er  die  Geschichte  seiner  Zeit  und  die 
Beschreibung  seines  eigenen  Lebens.  Die  einfache  Darstellung  geschicht- 
licher Begebenheiten  gelingt  ihm  w-eniger.  Das  erstgenannte  Werk,  die 
allgemeine  Geschichte  seiner  Zeit  (1550 — 1601),  ist  zwar  durch  vielerlei 
Mitteilungen  von  historischem  Wert;  doch  ist  sie  in  der  Darstellung 
ziemlich  trocken  und  hart  im  Stil,  obwol  derselbe  schon  von  modernem 
Gefüge  ist.  Am  besten  gelungen  sind  ihm  eine  Reihe  historischer  Por- 
träts und  einige  lebhaft  geschilderte  Scenen.  Daß  der  Geist  der  Dar- 
stellung parteiisch  ist,  versteht  sich  bei  einem  Parteimann  wie  d'Au- 
bigne von  selbst;  seine  Arbeit  ist  mehr  eine  Apologie  der  Hugenotten, 
als  eine  Geschichte  seiner  Zeit. 

Ähnlich  ist  es  mit  der  Geschichte  seines  Lebens,  die  er  für  seine 
Kinder  niederschrieb.  Sie  ist  ein  wichtiges  Dokument  für  die  Kenntnis 
der  Zeit,  besonders  des  Adels  und  seiner  Sitten.  Nirgends  tritt  das 
sonderbare  Gemisch  von  moralischer  Versunkenheit  und  romantischem 
Edelmut,  von  Opferfreudigkeit  und  Habgier,  von  sorglosem  Übermut  und 
raffinierter  Schlauheit,  das  den  französischen  Adel  damals  charakterisierte, 
so  deutlich  zu  Tage  als  in  diesem  Buch.  Als  historische  Composition 
betrachtet,  ist  es  allerdings  vielfach  verworren,  in  seinen  Angaben  un- 
zuverlässig und  durch  den  Mangel  jeglicher  Gliederung  ermüdend. 

D'Aubigne  ist  hauptsächlich  Satiriker,  aber  Satiriker  von  großem 
Gepräge.  Als  solcher  zeigt  er  sich  vornehmlich  in  den  „Tragiques*",  in 
den  „Abenteuern  des  Barons  Faeneste"  und  in  der  „Beichte  des  Herrn 
von  Sancy". 


1)  Oeuvres  completes  de  Th.  Agr.  d'Aubigne  publiees  pour  la  premiere 
fois  d'apres  les  manuscrits  originaux  par  Eng.  ßeaume  et  F.  de  Caussade,  Paris 
1874,  A.  Lemerre.  Bis  jetzt  ist  nur  der  1.  und  3.  Band  erschienen,  welche  fol- 
gende Werke  enthalten:  „Sa  vie  ä  ses  enfants",  „Le  livre  des  missives"',  „Les 
lettres",  „Le  printemps",  „Poesies  diverses",  „La  creation",  ein  episches  Ge- 
dicht in  15  Gesängen.  In  Aussicht  gestellt  ist  u.  a.  ein  allegorischer  Roman. 


83 

Allen  voran  stehen  die  „Tragiques".  Sie  sind  mehr  als  Satire.  In 
ihnen  wird  d'Aubigne  zum  Sänger  des  Vaterlands,  dessen  Unglück  ihn 
mit  leidenschaftlicher  Trauer  erfüllt.  Er  begnügt  sich  nicht,  wie  Regnier, 
mit  der  socialen  und  litterarischen  Satire,  obwohl  er  in  seinem  „Faeneste" 
auch  auf  diesem  Gebiet  Bedeutendes  leistet.  Die  „Tragiques''  bilden 
einen  Cyklus  von  sieben  Gesängen,  deren  jeder  1200  bis  1700  Verse 
enthält  und  den  trostlosen  Zustand  des  Landes  enthüllt.  Nicht  mehr  will 
der  Dichter  wie  früher  das  Feuer  einer  gewöhnlichen  Liebschaft  besingen, 
er  will  von  einem  andern  Feuer  Kunde  geben,  von  dem  Brand,  der 
Frankreich  zu  verzehren  droht.')  Der  erste  Gesang,  betitelt  „Miseres", 
beklagt  zunächst  den  Euin  seines  teuren  Vaterlands,  und  bezichtigt 
laut  die  Könige,  welche  die  Schuld  daran  trügen.  Er  schildert  den 
moralischen  Verfall  des  Adels,  das  Elend  des  Volkes,  die  Greuel  des 
Bürgerkriegs,  und  kein  Geschichtswerk  vermag  ein  so  ergreifendes  Bild 
von  der  entsetzlichen  Lage  Frankreichs  zu  geben,  wie  d'Aubigne  in 
diesem  ersten  Gesang.^)  Wie  anders  war  es  in  früheren  Zeiten,  wenn 
die  Könige  ihre  getreuen  Städte  besuchten !  Sie  wurden  mit  Jubel  empfangen 
und  brachten  Freiheit  und  Wohlstand  mit.  Die  Könige  aus  dem  Haus 
Valois  dagegen  bringen  Zerstörung  und  Tod  in  jede  Stadt,  die  ihr  Fuß 
betritt.^)  Der  zweite  Gesang,  „les  Princes".  enthält  die  furchtbarste  An- 
klage gegen  die  Valois,  und  drückt  Karl  IX.  und  Heinrich  III.  ein 
Schandmal  für  alle  Zeiten  auf;  die  tiefe  TJnsittlichkeit  der  hohen  Kreise, 
die  widernatürlichen  Lüste,  denen  sie  fröhnen,  sind  in  Bildern  von 
furchtbarer  Schärfe  gezeichnet.  Diese  beiden  ersten  Gesänge  der  „Tragiques" 
gehören  zu  dem  besten,  was  je  satirische  Kraft,  patriotische  Verzweiflung 
und  ein  leidenschaftliches  Dichtergemüt  einem  Mann  eingegeben  haben. 
Sie  entstanden,  wie  schon  früher  bemerkt,  im  Jahr  1577,  während  die 
folgenden  Gesänge  erst  später,  in  friedlicheren  Zeiten,  verfaßt  wurden, 
Daß  d'Aubigne  lange  an  ihnen  arbeitete  und  viel  an  ihnen  änderte,  be- 
weisen die  Anspielungen  auf  spätere  Vorfälle,  die  sich  darin  finden,  auf 
die  Ermordung  König  Heinrichs  III.,  die  Belagerung  von  Paris,  den  Tod  der 
Königin  Elisabeth  von  England  (1603)  u.  a.  m.  Die  letzten  Gesänge  be- 
handeln die  Verderbtheit  des  Eichterstands,  die  Leiden,  Kämpfe  und 
Triumphe  der  Hugenotten,  die  Strafe,  welche  Gott  über  die  verbrecherische 


1)  Les  Tragiques,  chant.  I  („les  miseres"),    v.  55  ff. 

2)  Vergl.  z.  B.  I,  197  ff.,  I,  267  ff.  und  die  dramatische  Stelle  fl,  371), 
welche  beginnt:  ^J'ai  vu  le  reistre  noir"  (le  reistre,  der  Reiter,  die  über  alles 
gefürchteten  deutschen  Soldtruppen). 

3)  I,  562  und  580: 

Jadis  nos  reis  anciens,  vrais  peres  et  vrais  rois, 
Nourrissons  de  la  France,  en  faisant  quelquesfois 
Le  tour  de  leur  pais  ea  diverses  contrees, 
Faisoient  par  les  citez  de  süperbes  entrees. 

Nos  tyrans  aujourd'hui  entrent  d'une  autre  sorte 
La  viUe  qui  les  voit  a  visage  de  morte: 
Quand  son  princc  la  fouUe,  il  la  void  de  tels  yeux 
Que  Neron  voioit  Romra'  en  Tesclat  de  ses  feux. 


84 

Eotte  der  Feinde  verhängt,  und  schließt  im  siebenten  Gesang  mit  dem 
Gemälde  des  jüngsten  Gerichts.  Sind  diese  letzten  Gesänge  auch  vielfach 
schwächer,  so  erkennen  wir  doch  in  dem  Ganzen  ein  Werk  hoher  poli- 
tischer und  historischer  Bedeutung. 

Es  zieht  sich  ein  großer  Gedanke  durch  die  .,Tragiques''.  So 
leidenschaftlich  sich  d'Aubigne  sonst  geberden  mag,  hier  predigt  er 
Toleranz,  und  vergleicht  die  zwei  sich  zerfleischenden  Parteien  mit 
zwei  Brüdern,  die  ihre  leibliche  Mutter  verderben.  Venn  schon  Juvenal 
sagt,  daß  der  Unwille  zum  Dichter  machen  kann,  so  gilt  dies  gewiß 
auch  von  d'Aubigne.  So  oft  sein  Gemüt  erregt  ist,  so  oft  seine  flam- 
mende Leidenschaft  zu  Tage  tritt,  so  oft  findet  er  eine  hinreißende 
Gewalt  der  Sprache,  eine  Sprache,  die  Corneille  sicherlich  studiert  hat, 
und  die  ihn  jene  heroische  Schönheit  des  Ausdrucks  finden  lehrte,  in  der 
er  Meister  ist.  D'Aubignes  Kraft  wächst  mit  der  Größe  seiner  Aufgabe 
und  der  finsteren  Gewalt  seines  Gegenstands.  So  erinnert  er  vielfach  an 
den  furchtbaren  Satiriker  der  römischen  Kaiserzeit.  Nur  ist  Juvenal,  als 
der  späte  Nachfolger  einer  langen  Reihe  klassischer  Dichter,  künstlerisch 
gefeilt,  während  d'Aubignes  Stil  ungleich  und  sein  Geschmack  oft  zweifel- 
haft ist.  Dafür  ist  sein  Horizont  weiter  und  seine  Empfindung  wärmer.') 

Die  „Beichte  des  Herrn  von  Sancy"  ist  mehr  Pamphlet  als  Satire. 
De  Sancy  war  einer  der  vielen  Edelleute,  welche,  ihres  Königs  Beispiel 
folgend,  zur  katholischen  Kirche  zurücktraten.  Diesen  Abtrünnigen  aber 
widmete  d'Aubigne  einen  besonderen  Haß,  und  von  diesem  Gefühl  be- 
seelt, zeichnete  er  in  der  genannten  Schrift  vom  Hof  Heinrichs  HL  und 
der  ganzen  damals  tonangebenden  Gesellschaft  ein  Bild,  welches  schon 
zur  Karikatur  wird. 

Höchst  originell  sind  auch  die  „Abenteuer  des  Barons  von  Paeneste". 
D'Aubigne  schrieb  das  Buch  in  Genf,  als  er  schon  ein  Sechziger  war, 
und  fand  offenbar  Freude  daran,  sich  in  die  alten  Zeiten  zurückzuver- 
setzen, in  welchen  er  noch  seine  volle  Frische  und  Kraft  besaß.  Sein 
wildes  Leben  am  Hof  Heinrichs  HL  an  der  Seite  des  Bearners  und  des 
Herzogs  von  Guise  stieg  in  seiner  Erinnerung  vor  ihm  auf.  Er  hatte 
sich  damals  trotz  allen  Leichtsinns  scharf  umgesehen,  hatte  die  Arm- 
seligkeit jener  Welt  erkannt,  und  sich  endlich  mit  gesteigerter  Ver- 
achtung von  ihr  abgewandt.  Das  hinderte  ihn  nicht,  über  manche  seiner 
damaligen  Erlebnisse  noch  in  späten  Jahren  zu  schmunzeln.  In  dem 
„Baron  Paeneste"  gab  er  ein  satirisches  Bild  des  französischen  Hofes 
unter  Ludwig  XHL,  in  welches  er  jedoch  viele  lustige  Züge  und  Ge- 
schichtchen aus  der  früheren  Zeit  einflocht.  So  mischen  sich  satirische 
Ausfälle,  grobe  Schwanke  und  treffende  Charakterschilderungen  in  diesem 

1)  Die  „Tragiques"  erschienen  im  Druck  zum  erstenmal  im  Jahr  1616. 
D'Aubigne  hatte  lange  gezögert,  sie  zu  veröffentlichen,  obwohl  sie  zum  Teil 
schon  in  Abschriften  cirkulierten.  Er  entschloß  sich  endlich  zur  Herausgabe, 
vielleicht  um  seine  Glaubensgenossen  zum  Widerstand  zu  ermutigen,  indem  er 
sie  an  die  Ausdauer  ihrer  Väter  erinnerte.  So  schwer  wurde  ihm  der  Entschluß, 
daß  er  diese  erste  Ausgabe  als  gegen  seinen  Willen  veranstaltet  erklärte.  Er 
läßt  in  der  Vorrede  seinen  Diener  sprechen,  der  sich  rühmt,  das  Manuskript 
entwendet  zu  haben. 


85 

Werk,  von  welchem  Merimee  mit  Recht  sagt,  daß  es  trotz  der  Bitter- 
keit, die  es  charakterisiert,  vor  allen  Werken  seiner  Zeit  die  Traditionen 
des  alten  gallischen  Humors  am  besten  bewahrt  habe.^) 

Diese  „Abenteuer"  sind  in  einer  Reihe  von  Gesprächen  mitgeteilt. 
Der  Baron  von  Faeneste  ist  einer  jener  windigen,  geldbedürftigen, 
schmarotzenden  Junker,  wie  sie  nach  den  Religionskriegen  so  häufig  zu 
sehen  waren.  Feig  und  doch  prahlerisch,  erinnern  sie  an  den  „Capitan" 
der  italienischen  Stegreif  komödie.  Ihr  Hauptgedanke  ist,  za  renommieren  ; 
sie  wollen  groß  thun,  vornehm  erscheinen,  für  tapfer  gelten.  Der  Schein 
ist  ihnen  alles,  daher  auch  der  Name  des  Barons.''*)  Von  dem  kurzen 
Feldzug  des  Herzogs  von  Epernon  gegen  die  Stadt  La  Rochelle  (1016) 
heimkehrend,  trifft  der  Baron  in  der  Nähe  von  Nyort  den  hugenottischen 
Edelmann  Enay.  Der  Name  dieses  letzteren  bezeichnet  gleichfalls  seinen 
Charakter,  der  nur  auf  das  Wesen  der  Sache  Gewicht  legt.^)  Die  beiden 
Herren  geraten  in  ein  Gespräch,  das  die  verschiedensten  Verhältnisse 
berührt  und  den  Sinn  eines  jeden  alsbald  erkennen  läßt.  Faeneste  teilt 
dem  andern  die  besten  Mittel  mit,  sich  geltend  zu  machen;  er  erzählt 
ihm,  wie  man  sich  kleiden  müsse,  wenn  man  als  zum  Hof  gehörig  be- 
trachtet werden  wolle;  wie  man  ferner  den  Mund  voll  nehmen,  über 
Duelle  und  Frauen  schwatzen,  den  Kopf  bewegen,  mit  den  Armen  fechten, 
tänzeln  und  Bart  und  Haare  öfters  vor  den  Leuten  kämmen  müsse, 
wenn  man  seine  Rolle  als  Höfling  und  Modeherr  durchführen  wolle.  Eine 
weitere  Kunst  sei  es,  eine  Einladung  zum  Mittagessen  zu  gewinnen,  oder 
im  Fall  dieser  Anschlag  mißlinge,  den  Hunger  zu  verbergen  und  in  den 
Zähnen  stochernd  spazieren  zu  gehen,  gleich  als  habe  man  vorzüglich 
gespeist.  Nur  den  Schein  wahren  I  Lieber  für  sein  letztes  Geld  einen 
Spitzenkragen  kaufen,  auch  wenn  das  Hemd  auf  dem  Leib  in  Stücke  zer- 
fällt, als  bürgerlich  zu  erscheinen.  Ein  Hemd  findet  man  immer  leicht, 
und  sollte  man  es  auch  im  Vorbeireiten  einer  Wäscherin  entwenden. 
Darum  tadelt  es  auch  Faeneste,  daß  Enay  sein  Haus  nicht  einen  Palast, 
seinen  Garten  nicht  einen  Park,  seine  Hunde  nicht  eine  Meute  nennen 
will.  Im  Verlauf  der  Unterhaltung  berichtet  der  Baron  von  seinen  Kriegs- 
zügen, auf  welchen  er  sich  durch  Heldenmut  auszeichnete,  gleich  Falstaff, 
obwol  er  immer  Unglück  hatte  und  zu  schleuniger,  oft  tragikomischer 
Flucht  genötigt  wurde.  Allmählich  werden  wir  immer  tiefer  in  die  Ge- 
heimnisse des  abenteuernden  Barons  eingeweiht.  Als  echter  Landstreicher 
steht  er  im  Bund  mit  seinen  Dienern.  Bald  überfallen  sie  einen  allein- 
stehenden Pachthof  als  Quartiermacher  für  Truppen,  die  folgen  sollen, 
aber  gar  nicht  existieren ;  bald  wissen  sie  sich  in  einem  Schloß  einen 
guten  Tag  zu  machen,  und  nehmen  beim  Abschied  mit,  was  ihnen  unter  die 
Hände  kommt.  In  Paris  werden  andere  Künste  angewandt.  Dann  sind 
Faenestes  Diener  mit  Spitzbuben  und  Gaunern  im  Bund,    oder  sie  treiben 


1)  „Les  aventures  du  Baron  de  Faeneste  par  Th.  A.  d'Aubigne".  Nou- 
velle  edition  revue  et  annotee  par  M.  Prosper  Merimee.  Paris  1855,  P.  Jannet 
(Bibliotheque  Elzevirienne). 

2)  Von  dem  giiechisehen  Zeitwort  cpaCvsad-ai,  scheinen. 

3)  Vom  griechischen  Zeitwort  slvcci.,  sein. 


86 

sich  vor  dem  Lou vre  herum,  spielen  mit  falschen  Würfeln,  und  von  allem, 
was  sie  gewinnen,  erhält  der  Baron  seinen  „Admiralsanteil".  Kann  er 
aber  sein  Gewerbe  nicht  auf  eigene  Faust  betreiben,  so  schließt  er  sich 
einem  großen  Herrn  als  dienstwilliger  Kitter  an,  erhält  von  diesem 
Wohnung  und  Nahrung,  und  hilft  ihm  zu  „scheinen",  indem  er  sein 
Gefolge  vergrößert. 

Es  ist  die  herrenlose,  die  böse  Zeit,  die  in  solchen  Menschen  noch 
nachträglich  einige  giftige  Blüten  treibt.  D'Aubigne  geißelt  hier  jene 
Klasse  unruhiger,  habsüchtiger  Menschen,  die  vorzugsweise  in  Zeiten 
nationaler  Zerrüttung  gedeihen,  und  noch  lange  nach  der  Wiederherstel- 
lung der  Ordnung  ihren  schlimmen  Einfluß  geltend  machen.  Obwol  die 
Satire  also  tiefen  Ernst  birgt,  ist  sie  doch  mit  einer  Fülle  drastischen 
Humors  ausgestattet.  D'Aubigne  zeigt  in  einer  Reihe  von  Charakter- 
bildern große  komische  Kraft  und  Beobachtungsgabe.  Die  Gespräche 
zwischen  Faeneste,  Enay  und  einigen  anderen  Personen  lassen  eine 
ganze  Welt  vor  den  Augen  des  Lesers  erstehen. 

Das  Buch,  dessen  einzelne  Teile  nach  langen  Zwischenräumen  er- 
schienen, ^)  ist  zum  großen  Teil  im  Gascogner  Dialekt  geschrieben,  denn 
Faeneste  stammt  aus  der  Gascogne  und  redet  seine  heimische  Sprache. 
Enay  dagegen  spricht  rein  und  gut.  Sein  Stil  zeigt  Reichtum  und 
Frische  des  Ausdrucks,  und  neben  der  Beweglichkeit  der  älteren  Sprache 
auch  schon  eine  gewisse  Regelmäßigkeit.  Daß  unter  Faeneste  der  Herzog 
von  Epernon,  unter  Enay  der  edle  Mornay-Duplessis  gemeint  sei,  ist 
vielfach  behauptet  worden,  aber  gewiß  mit  Unrecht.  Beide  Charaktere 
sind  keine  Porträts  bestimmter  Persönlichkeiten,  sondern  Typen  zweier 
Klassen  von  Menschen.  Man  könnte  versucht  sein,  zu  glauben,  daß 
d'Aubigne  in  dem  Baron  Faeneste  das  Gegenbild  des  edlen  Ritters  von 
La  Mancha  habe  geben  wollen,  wenn  er  nicht  geradezu  einen  Baron 
Calopse  als  Seitenstück  Don  Quixotes  eingeführt  hätte.-)  Dieser  will  im 
Land  umherziehen,  die  Ehre  der  Vornehmen  wieder  aufrichten,  und  den 
kleinen  Adel  zu  seiner  Pflicht  zurückführen,  hat  aber  auf  seinem  Kreuz- 
zug viel  Ungemach  zu  erdulden.  Die  Geschichte  des  Barons  Calopse  ist 
in  „Faeneste"  nur  eine  Episode.  D'Aubigne  verspricht  aber  an  ihrem 
Schlüsse  den  Reformator  als  Helden  eines  andern  Romans  bekannter 
zu  machen,  und  ist  tiberzeugt,  daß  dieses  neue  Werk  gefallen  werde, 
da  es  Geschichten  enthalte,  die  den  Schlaf  vertreiben.  Leider  ist  das 
Manuskript  dieser  offenbar  auch  satirischen  Erzählung  verloren  gegangen, 
wie  so  vieles  andere. 


1)  Das  1.  und  2.  Buch  erschien  1617,  das  3.  1619,  das  4.  1620. 

-)  Faeneste,  Buch  III,  Kap.  21.  Sollte  der  allegorische  Roman,  den  die 
neuesten  Herausgeber  in  den  Papieren  gefunden  haben  und  veröffentlichen  wollen, 
die  Geschichte  des  Barons  Calopse  enthalten '? 

Bibliographie.  Außer  den  in  den  Noten  schon  angeführten  Werken  sind 
hauptsächlich  noch  zu  nennen  die  Ausgabe  der  „Tragiques"  von  L.  Laianne 
(Bibl.  Elzevirienne):  Sayous,  Etudes  litteraires  sur  les  ecrivains  de  la  Reforma- 
mation,  Geneve  1842;  Saint-Beuve,  Causeries  du  lundi,  X.  Teil;  Paul  de  Saint- 
Yictor,  Hommes  et  Dieux,  Paris  1867. 


V. 

D'Urfe  und  der  Schäferroman. 

Mannigfaltig  und  in  schroffstem  Gegensatz  zu  einander  erscheinen 
uns  die  Richtungen  des  Geschmacks,  die  in  den  ersten  Jahrzehnten  des 
neuen  Jahrhunderts  gleichzeitig  zur  Geltung  kamen.  Malherbe  fußt  nicht 
auf  demselben  Boden  wie  Regnier,  und  wiederum  sind  die  Anschauungen 
dieser  beiden  Männer  anders  geartet  als  diejenigen  d'Aubignes.  Nur  in 
einem  Punkt  stimmen  sie  überein.  Wie  die  nationale  Monarchie  Hein- 
richs IV.  sich  von  der  spanischen  Bevormundung  befreit,  so  sind  auch 
jene  Dichter,  soweit  es  damals  überhaupt  möglich  war,  national  und 
fremdem  Einfluß  mehr  oder  weniger  unzugänglich.  Sie  zeigen  sich  be- 
sonders dem  italienischen  Geschmack  gegenüber  selbständig.  Dieser  ge- 
wann dafür  um  so  größere  Macht  an  anderer  Stelle.  Die  geselligen 
Formen  bildeten  sich  vorzugsweise  nach  italienischem  Vorbild  aus,  und 
infolge  dieser  Umwandlung  erlitt  auch  die  Unterhaltungslitteratur,  zu- 
nächst der  Roman,  eine  gründliche  Umgestaltung. 

Romane  sind  zwar  als  Gebilde  der  Phantasie  an  sich  von  keinem 
historischen  Wert;  allein  sie  bergen  in  sich  doch  manches  merkwürdige 
Geheimnis,  das  über  die  Geschichte  ihrer  Zeit  Aufschluß  geben  kann. 
Wenn  wir  es  verstehen,  den  Bann  zu  brechen,  der  auf  den  alten,  heute 
oft  kaum  genießbaren  Erzählungen  ruht,  dann  sehen  wir  ihnen  eigen- 
tümliche Schatten  entsteigen,  die  sich  zu  lebensvollen  Körpern  mit  Blut 
und  Farbe  verdichten.  Sie  zaubern  uns  in  Zeiten  zurück,  die  einst  waren 
und  uns  fremd  geworden  sind.  Was  uns  eben  noch  tot  und  starr  er- 
schien, belebt  sich;  wir  erkennen  nun,  was  die  Menschen  früherer  Jahr- 
hunderte bewegte,  ihre  Denkweise,  ihre  Sehnsucht,  ihre  Ideale.  Ist  doch 
der  Roman  immer  ein  getreues  Abbild  der  jeweilig  herrschenden  Stim- 
mung in  den  tonangebenden  Kreisen,  und  die  Helden  der  Dichtung,  an 
welchen  sich  eine  Zeit  erfreut,  erlauben  immer  einen  Rückschluß  auf 
diese  Zeit  selbst. 

Die  Freude  an  solchen  Schöpfungen  der  Phantasie,  an  Helden 
und  Heldinnen  im  Roman,  ist  der  armen  Menschheit  tief  eingeprägt.  Je 
drückender  der  Mensch  das  Elend  seines  eigenen  Lebens  empfindet,  um- 
somehr  freut  es  ihn,  sich  mit  Hilfe  der  Einbildungskraft  auf  Augen- 
blicke in  eine  schönere  Welt  zu  versetzen.  Dies  ist  mit  ein  Grund, 
warum  die  Romane  oft  so  großen  Erfolg  haben.  In  Epochen  gesunden, 
thatkräftigen  Volkslebens  wird  ein  Roman  nie   zu  einem  so  bedeutungs- 


vollen  Ereignis  werden,  wie  in  einer  Zeit  unzufriedenen  Sinns  und  ge- 
hemmten Strebens.  In  den  Helden  des  Romans  findet  das  Publikum 
leicht  eine  geheime  geistige  Verwandtschaft;  es  spiegelt  sich  in  ihnen, 
und  freut  sich,  wenn  diese  siegreich  durchführen,  was  es  selbst  im 
stillen  Kämmerlein  nur  geträumt,  vielleicht  nur  zagend  geahnt  hat. 

Jedes  Jahrhundert,  ja  jede  Generation  bildet  sich  ein  eigenes 
Heldenideal,  wie  uns  die  Romane  beweisen.  Bis  zur  Mitte  des  16.  Jahr- 
hunderts ergötzte  man  sich  mit  Vorliebe  an  den  romantisch-abenteuer- 
lichen Erzählungen  des  Mittelalters.  Der  Sagenkreis  Karls  des  Großen 
und  der  Tafelrunde,  die  Ritter-  und  Abenteuerromane  bildeten  noch  immer 
die  Lieblingslektüre  der  höheren  Gesellschaft.  Unter  den  letzteren  stand 
obenan  der  berühmte  Roman  von  „Amadis  von  Gallien",  dem  edlen 
„  Löwenritter "  oder  dem  ,,Beau  tenebreux",  wie  er  nach  seinem  Leben 
in  der  Einöde  auch  genannt  wurde.  Karl  VHI.  und  Franz  L  von 
Frankreich  fühlten  in  sich  etwas  von  dem  Wesen  der  kühnen  Paladine. 
Sie  sehnten  sich  nach  dem  Ruhm  eines  ritterlichen  Fürsten,  und  suchten 
nach  einem  Schauplatz  glänzender  Thaten.  Italien  schien  ihnen  den- 
selben zu  bieten,  und  ihre  Kriegszüge  über  die  Alpen  erhöhten  diesen 
romantischen  Zug  und  verbreiteten  ihn  in  immer  weitere  Kreise  des 
französischen  Adels.  Ein  Jahr  nach  der  Thronbesteigung  Franz  I.  (1515) 
veröffentlichte  Ariost  seinen  „Rasenden  Roland",  und  entzückte  mit  seiner 
heiteren  Ritter-  und  Fabelwelt  nicht  allein  Italien,  sondern  auch  Frank- 
reich. Denn  die  italienische  Sprache  war  auch  hier  heimisch  geworden, 
und  Ariost  war  so  recht  der  Sänger  der  kunstfröhlichen,  genußliebenden, 
glänzenden  Welt,  welche  damals  blühte. 

Um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  aber  begann  in  Spanien  wie  in 
Italien  eine  starke  Reaktion  gegen  diesen  romantischen  Geist.  Beide 
Länder  standen  in  enger  geistiger  Verbindung,  beide  erfreuten  sich  einer 
hohen  Kultur .  und  die  Unwahrscheinlichkeiten  und  Übertreibungen  der 
alten  Erzählungen  konnten  ihrem  verfeinerten  Geschmack  nicht  mehr 
behagen.  Die  elegante  Gesellschaft  verlangte  ausgesuchte  Kost,  ein 
gefälliges  Spiel  des  Geistes,  das  gerade  genug  Witz  und  poetischen  In- 
halt hatte,  um  zu  unterhalten,  ohne  durch  große  Anforderungen  zu  er- 
müden. So  trat  die  Pastoraldichtung  an  die  Stelle  des  Ritterromans. 
Schon  früher  hatte  Boccaccios  „Ameto"  die  Weise  der  antiken  Eklogen 
nachgeahmt,  und  eine  Reihe  Idyllen  halb  in  Prosa,  halb  in  Versen  ge- 
geben. Xach  ihm  hatte  der  Neapolitaner  Sannazavo  mit  seiner  „Arkadia" 
den  Geschmack  an  dem  idealisierten  Schäferleben  gefördert  (1502).  Doch 
auch  diese  Dichtung  war  nur  eine  Sammlung  Eklogen,  kein  zusammen- 
hängendes Ganzes.  Mit  der  Zeit  fand  diese  Schäferpoesie  großen  An- 
klang, und  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  bemächtigte  sich  ihrer  die 
Mode.  An  den  vielen  kleinen  Höfen  und  auf  den  Schlössern  der  Vor- 
nehmen spielte  man  idyllische  Scenen  mit  dem  möglichsten  Aufwand 
von  Witz  und  Eleganz.  Je  schwerer  der  politische  Druck  auf  den  Ländern 
lastete,  desto  mehr  begünstigte  man  solches  Leben,  das  trotz  allen 
Haschens  nach  Geist  gerade  den  echten  Geist  zu  ertöten  drohte.  Die 
Schäferwelt,  die  seitdem  in  den  Pastoralen  auftrat,  trug  zwar  den  Schäfer- 


89 


stab  und  sprach  von  Unschuld  und  Natur,  aber  man  wußte,  daß  sich 
unter  dieser  Maske  eine  ganz  andere,  frivole  Welt  verbarg.  In  seinem 
„Amintas"  schilderte  Tasso  den  Hof  von  Ferrara;  sein  „Tirsis",  seine 
„Silvia"  blieben  auch  im  Hirtengewand  geistreich  und  beredt,  Glieder 
jener  feinen  Gesellschaft,  welche  die  Estes  um  sich  versammelten.  Guarini 
überbot  die  Dichtung  Tassos  durch  sein  Pastoraldrama  vom  „treuen 
Schäfer",  worin  er  aus  den  arkadischen  Hirten  Schöngeister  und  elegante 
Reimschmiede  machte,  aber  dafür  den  ungeteilten  Beifall  und  die  höchste 
Bewunderung  seiner  Zeitgenossen  erntete.^) 

In  Spanien  aber  begründete  Georg  von  Montemayor  den  eigent- 
lichen Schäferronian.  In  der  Nähe  von  Coimbra  in  Portugal  geboren, 
lebte  er  als  Dichter  am  Hof  König  Philipps  IL,  wo  er  im  Jahr  1562 
starb.  Zwei  Jahre  zuvor  hatte  er  seinen  Koman  „Diana"  herausgegeben, 
der  eine  neue  Gattung  in  der  Erzählungslitteratur  begründen  sollte. 

Montemayor  verlegt  seine  Geschichte  an  den  Fuß  der  Berge  von 
Leon,  in  das  Thal,  welches  der  Eslafluß  durchströmt.  Soweit  hält  er 
sich  an  die.  reale  Welt,  erlaubt  sich  aber  dann,  in  der  sonderbarsten 
Weise  alte  und  neue  Zeit  zu  mischen.  Seine  Menschen  leben  in  der 
alten  Mythologie  und  sind  gute  Christen;  sie  rufen  Venus  und  Minerva 
an,  und  beten  zu  den  Heiligen.  Der  Inhalt  des  Romans  ist  kurz  folgender. 
Diana  ist  die  schönste  aller  Nymphen  ihres  Thals  und  durch  die  Liebe 
des  Schäfers  Sereno  beglückt.  Dieser  aber  sieht  sich  eines  Tags  ge- 
zwungen, seine  Heimat  zu  verlassen,  und  als  er  wiederkehrt,  findet 
er  seine  Geliebte  in  den  Armen  eines  andern,  den  sie,  von  ihrem  Vater 
gezwungen,  geheiratet  hat.  Sereno  irrt  nun  trauernd  umher,  findet  den 
früher  von  Diana  abgewiesenen  Sylvanus,  und  das  gleiche  Liebesleid 
macht  sie  zu  Freunden.  Eine  trostlose  Schäferin  gesellt  sich  zu  ihnen, 
und  die  drei  Unglücklichen  treffen  sich  alltäglich  in  einem  einsamen 
Thal,  um  sich  gegenseitig  ihren  Liebeskummer  vorzutragen.  Drei  Nymphen, 
die  dem  Dienst  der  Göttin  Diana  geweiht  sind,  treffen  sie  eines  Tags 
in  ihrer  Zurückgezogenheit  und  nehmen  sie  mit,  um  sie  zu  ihrem  Tempel 
zu  führen.  Unterwegs  finden  sie  einen  See,  darin  eine  Insel,  und  auf 
der  Insel  eine  feine  Schäferin  in  tiefem  Schlaf.  Es  ist  Beiisa,  eine  Ver- 
lassene, deren  strömende  Thränen  den  See  um  sie  her  gebildet  haben. 
Auch  sie  muß  sich  dem  Zug  anschließen.  Im  Tempel  der  Diana  au- 
gekommen, läßt  die  Oberpriesterin  Sereno,  Sylvanus  und  Sylvana  einen 
Zaubertrank  nehmen,  welcher  alle  drei  in  tiefen  Schlaf  versenkt.  Als  sie 
wieder  erwachen,    ist  Sereno  von  seiner  Neigung  zu  Diana  befreit,  Syl- 


1)  Im  dritten  Akt  des  „Pastor  Fido"  wird  z.  B.  von  einem  Wettstreit 
der  Nymphen  berichtet,  welche  von  ihnen  am  besten  küssen  könne.  Die  schöne 
Amarillis  soll  entscheiden  und  läßt  sich  von  jeder  Nymphe  küssen.  Unter  den- 
selben befindet  sich  auch  Mirtillo  im  Gewand  seiner  Schwester.  Amarillis  er- 
klärt den  Kuß  dieses  vermeintlichen  Mädchens  für  den  süßesten.  Mirtillo  ist 
aber  seitdem  liebeskrank.  Wie  weit  sich  dieser  italienische  Geschmack  ver- 
breitete, zeigt  die  „Arcadia"  des  Sidney  in  England,  die  „Daphne"  des  Opitz 
und  die  vielen  Akademien  und  Gesellschaften,  wie  die  der  „Pegnitzschäfer"  in 
Deutschland. 


90 

vanus  und  Sylvana  aber  in  leidenschaftlicher  Liebe  zu  einander  entflammt. 
Diese  Episode  erinnert  an  eine  Scene  in  Shakespeares  „Sommernachts- 
traum", in  welcher  ein  Zaubersaft  ebenfalls  alle  möglichen  Verwirrungen 
und  Liebeswunder  erzielt,  und  die  dem  Dichter  vielleicht  von  Monte- 
mayors  Eoman,  wenn  auch  nur  mittelbar  eingegeben  worden  ist.  Auch. 
Beiina  findet  ihren  Geliebten  wieder,  und  zwei  Heiraten  schließen  den 
ersten  Teil  (acht  Bücher).  Der  Tod  verhinderte  Montemayor  an  der 
Fortsetzung,  aber  andere  wagten  sich  an  die  schwere  Arbeit  und  brachten 
auch  Sereno  noch  zum  Ziele,  nachdem  sie  zuvor  Dianas  Gatten  hatten 
sterben  lassen.^)  Der  Gang  der  Erzählung  in  ..Diana"  ist  jedoch  nicht 
so  einfach,  als  er  hier  angegeben  ist.  Wie  in  den  Märchen  der  „Tausend 
und  eine  Nacht"  sich  Geschichte  in  Geschichte  schlingt,  so  auch  hier. 
Eine  jede  Person ,  die  auftritt ,  muß  ihre  Lebensgeschichte  mitteilen, 
und  so  reiht  sich  Novelle  an  Novelle .  bis  sich  schließlich  die  Helden 
aller  dieser  Erzählungen  zusammenfinden  und  die  Einheit  des  Komans 
gewahrt  wird.  „Diana"  wurde  überaus  populär  und  fand  in  Spanien, 
wie  in  anderen  Ländern  eine  Menge  von  Nachahmungen. 

So  war  der  Geschmack  an  den  ßitterromanen  schon  bedeutend  ge- 
schwächt, als  Cervantes  mit  seinem  unsterblichen  Don  Quixote  auftrat 
(1605 — 1615).  Der  Streich,  den  er  gegen  die  heldenhaften  Landstreicher 
führte,  war  vernichtend,  und  sie  verschwanden  seitdem  aus  der  Dichtung. 
Nur  die  Posse  bemächtigte  sich  ihrer  und  schuf  sie  in  feige  Maulhelden 
um,  wie  sie  die  damalige  Zeit  in  den  entlassenen,  ohne  Dienst  sich, 
umhertreibenden  Kriegsleuten  nur  zu  häufig  sah. 

Auch  in  Frankreich  konnte  diese  Wandlung  des  Geschmacks  nicht 
ausbleiben;  ja  die  inneren  Verhältnisse  beschleunigten  den  Prozess. 

Wenn  ein  Land  so  furchtbare  Zeiten  durchlebt  hat,  wie  Frankreich 
in  dem  Kampf  der  Ligue,  wenn  es  die  Verwüstungen  und  Greuel  des 
Bürgerkriegs  in  ihrer  entsetzlichen  Wirklichkeit  lange  Jahre  hindurch 
hat  kennen  lernen,  dann  kann  es  an  ßitterromanen  keinen  Gefallen 
mehr  finden.  Es  wendet  sich  von  den  Helden  ab,  die  gegen  Ungeheuer 
ausziehen  und  schöne  Prinzessinnen  befreien.  Es  hat  Gewaltigeres  erlebt, 
und  sehnt  sich  nach  anderen,  friedlicheren  Bildern.  Aus  der  Sphäre  des 
Kampfes  und  der  Unruhe  steigt  der  Eoman  in  die  Welt  der  Frömmigkeit 
und  der  Idylle. 

Pierre  Camus,  geboren  1582  zu  Paris,  Bischof  von  Bellay  im 
französischen  Jura,  schuf  damals  den  frommen  Roman.  Seine  Absicht 
war,  die  sittenlose  Welt  durch  seine  Geschichten  zu  bekehren.  Er  ver- 
öffentlichte gegen  200  Bände  Erzählungen,  in  welchen  die  Sonderbarkeit 
des  Inhalts  mit  der  Seltsamkeit  des  Stils  wetteifert.  In  seinen  Eomanen 
finden  sich  allerdings  auch  Liebesgeschichten  und  allerlei  Verwick- 
lungen, aber  er  verschmäht  es,  sie  auf  die  gewöhnliche  Weise,  sei  es 
durch  eine  glückliche  Vereinigung  der  Liebenden,  sei  es  durch  ein  tragi- 


1)  Eine  Fortsetzung  von  Alonso  Perez  erschien  in  acht  Büchern  1564, 
und  eine  andere  von  Gil.  Polo,  welche  Cervantes  besonders  rühmte,  im  Jahr 
1574.  A'ergl.  Dunlop,  History  of  fiction,  Bd.  3,  chap.  XI. 


91 

sches  Ende,  zu  lösen  ;  er  findet  häufig  einen  besseren  und  erhebenderen 
Ausweg  in  dem  Mittel  einer  frommen  Bekehrung.  Trotz  ihrer  Langweile 
und  des  mystischen  Charakters,  den  sie  manchmal  annehmen,  fanden 
diese  Erzählungen  des  frommen  Bischofs  viele  eifrige  Leser.  Sie  waren 
auf  ein  nicht  sehr  wählerisches  Publikum  berechnet,  erlaubten  sich  mit- 
unter derbe  Possenreißereien  und  gefielen  dadurch  nur  umsomehr.  Man 
nannte  Camus  gelegentlich  den  geistlichen  „Lucian",  weil  er  selbst  von 
der  Kanzel  herab  seine  derben  Witzworte  schleuderte.  Jedenfalls  war  er 
ein  Lucian  ohne  lucianischen  Geist  und  Geschmack.')  Mit  demselben 
Eifer,  mit  welchem  er  die  Sittenlosigkeit  seiner  christlichen  Mitbürger 
bekämpfte,  erhob  er  sich  auch  in  vielen  Schriften  und  Predigten  gegen 
die  Verderbtbeit  der  Mönche.  Am  Abend  seines  Lebens  zog  er  sich  in 
ein  Hospital  zu  Paris  zurück,  um  sich  dort  den  Kranken  zu  widmen, 
und  starb  daselbst  im  Jahr  1653. 

Es  ist  begreiflich,  daß  die  Romane  des  Camus,  der  das  fehlende 
Talent  durch  guten  Willen  ersetzen  zu  können  glaubte,  rasch  vergessen 
wurden.  Dagegen  erlangte  Honore  d'Urfe  mit  seiner  „Asträa"  einen 
Weltruhm,  da  er  den  Geschmack  der  Zeit  für  die  Idylle  erkannte,  und 
ihm  durch  sein  Werk  vollends  zum  Sieg  verhalf. 

Indem  er  vor  dem  Geist  seiner  Leser  eine  ideale  Schäferwelt  er- 
stehen ließ,  hob  er  sie  über  das  Elend  der  haßerfüllten  Wirklichkeit 
hinaus  und  rettete  sie  in  eine  Welt,  die  sie  für  glücklicher  und  edler 
hielten,  eine  Welt,  in  der  man  allein  wahrhaftes  Gefühl  und  echte  Liebe 
zu  finden  glaubte. 

Die  „Asträa"  ist  der  wichtigste  Zeuge  für  den  Sinnes-  und  Ge- 
schmackswechsel, der  sich  um  jene  Zeit  in  Frankreich  vollzog.  Ihr  Ver- 
fasser, Honore  d'Urfe,  stammte  aus  einer  alten  Familie,  welche  ihre 
Herkunft  von  einem  bayrischen  Edlen,  namens  Wulf,  ableitete.  Ein 
Nachkomme  dieses  Wulf  lebte  im  Anfang  des  12.  Jahrhunderts  am  Hof 
Ludwigs  des  Dicken  und  heiratete  die  Tochter  des  mächtigen  Grafen  von 
Porez.  Le  Forez  war  eine  unabhängige  Grafschaft,  westlich  von  der 
Rhone,  unweit  Lyon,  die  erst  im  Jahr  1523  in  den  Besitz  der  franzö- 
sischen Krone  gelangte.  (Heute  Departement  de  la  Loire.)  Wulf  soll  dort 
das  Schloß  d'Urfe  oder,  wie  es  früher  hieß,  d'Ulphe  gebaut  haben.  Die 
erste  aktenmäßige  Erwähnung  des  Namens  fällt  ins  Jahr  1173;  seit 
jener  Zeit  aber  wird  er  öfter  genannt.  Die  Familie  gehörte  zu  den  ein- 
flußreichsten Geschlechtern  des  Landes.  Zur  Zeit  Ludwigs  XL  änderte  sie 


1)  Tallemant  des  Eeaux  erzählt,  Camus  habe  nur  eine  Nacht  gebraucht, 
um  eine  kleine  Erzählung  niederzuschreiben.  Einer  seiner  Romane,  „Palombe 
QU  la  femme  honorable",  der  ausnahmsweise  nicht  mit  dem  Kloster  endigt,  ist 
im  Jahr  1853  neu  herausgegeben  worden  (mit  einer  Einleitung  von  M.  H.  Ri- 
gault).  Vergl.  Saint-Marc  Girardin,  Cours  de  litterature  dramatique,  tome  IV, 
p.  336.  Saint-Beuve.  Port-Royal,  I,  242.  Auch  die  „Menagiana"  enthalten  viele 
Anekdoten  über  ihn.  Was  auf  der  Kanzel  damals  erlaubt  war,  zeigt  der  Witz, 
den  er  in  einer  Predigt  vor  den  Reichsständen  machte.  Bald  würde  man  in 
Frankreich,  rief  er  aus,  auch  Pferde  ins  Parlament  bringen,  wie  einst  die  römi- 
schen Kaiser  sie  in  den  Senat  gebracht  hätten.  „Warum  auch  nicht?  Esel  sind 
ja  schon  genug  darin," 


92 


definitiv  ihren  Xatnen  in  Urfe  um.  Ein  Claude  d'ürfe,  der  als  Erzieher 
Franz'  I.  genannt  wird,  baute,  von  Italien  heimkehrend,  eines  seiner 
Schlösser,  La  Bätie,  in  italienischem  Geschmack  um,  und  siedelte  dahin 
über.  La  Bätie  galt  später  als  das  Stammschloß  der  Familie,  und  ist 
aach  heute  noch,  wenn  auch  in  sehr  vernachlässigtem  Zustand,  erhalten. 

Dort,  in  La  Bätie,  wurde  auch  Honore  d'ürfe  im  Jahr  1567 
geboren.  Er  war  der  Enkel  des  oben  erwähnten  Claude,  der  fünfte  Sohn 
von  Jacques  d'ürfe  aus  dessen  Ehe  mit  einer  Gräfin  Tenda.  In  den 
Eeligionskriegen  ein  eifriger  Anhänger  der  Ligue,  hielt  er  im  Kampf 
gegen  Heinrich  IV.  bis  zuletzt  aus.  Xach  dem  Frieden  zog  er  sich  an 
den  Hof  des  Herzogs  von  Savoyen  zurück,  mit  dem  er  durch  seine  Mutter 
verwandt  war.  Neben  den  politischen  Rücksichten  sah  er  sich  auch  durch 
mächtige  persönliche  Gründe  bewogen,  in  die  Fremde  zu  gehen.  In  früher 
Jugend  hatte  er  seine  Geliebte,  Diana  von  Chateaumorand.  verloren.  Von 
einer  Reise  nach  Malta  zurückkehrend,  fand  er  sie  als  Gattin  seines 
älteren  Bruders.  Der  Papst  bewilligte  aber  nach  einiger  Zeit  die  Scheidung 
des  Paars  und  gestattete,  daß  Honore  seine  Schwägerin  heiratete.  Doch 
fand  sich  dieser  für  seine  Treue  und  Ausdauer  schlecht  belohnt;  seine 
Ehe  war  unglücklich,  und  darin  lag  ein  Hauptgrund,  warum  er  seine 
Heimat  mied.  Er  suchte  nun  sein  Glück  in  der  Dichtung;  was  ihm  die 
"S^'irklichkeit  nicht  geboten  hatte,  sollte  ihm  die  Phantasie  gewähren.  So 
begann  er  seinen  Roman  während  seines  Aufenthalts  in  Savoyen.  Später 
kehrte  er  nach  Frankreich  zurück  und  lebte  meist  auf  seinen  Gütern, 
bis  er  im  Jahr  1625  zu  Villefranche  in  Piemont  starb,  ohne  Nach- 
kommenschaft zu  hinterlassen.  Die  Familie  starb  überhaupt  aus,  denn 
obwohl  ein  Bruder  Honores  sechs  Söhne  hatte,  vererbte  keiner  derselben 
seinen  Xamen. 

Seinen  Roman  „Asträa"  brachte  d'ürfe  nur  mit  langen  Unter- 
brechungen zu  Ende.  Er  widmete  den  ersten  Teil  dem  von  ihm  früher 
so  heftig  bekämpften  König  Heinrich  IV. ^)  Das  ist  bezeichnend.  Alle 
Parteien  beugten  sich  vor  dem  Königtum ,  denn  alle  waren  einig  im 
Bedürfnis  nach  Ruhe. 

D'ürfe  hat  seine  Erzählung  in  seine  Heimat  verlegt.  Die  Gegend 
um  La  Bätie  ist  das  gesegnete  Land  des  idyllischen  Friedens.  Dort,  in 
der  Landschaft  Forez,  besteht  in  mythischer  Zeit  —  halb  Völkerwan- 
derung, halb  Ritterepoche  —  ein  staatliches  Gemeinwesen,  an  dessen 
Spitze  Nymphen  und  Druiden  stehen.  Sie  alle  sind  edlen  Geschlechts. 
Tapferen  Rittern  liegt  die  Verteidigung  des  Landes  gegen  die  Feinde  ob, 
denn  Barbarenhorden  drohen  mit  Einbruch  und  Verwüstung.  An  der 
Spitze  des  Staats  steht  die  Königin  Amasis,  die  einen  wahren  Liebeshof 
um  sich  gebildet  hat.  Die  Ritter  wetteifern  miteinander,  wer  der  Geliebten 


M  Der  erste  Band  erschien  im  Jahr  1610,  der  zweite  1616,  der  dritte 
1620.  Der  vierte  Band  befand  sich  bei  d'Urfes  Tod  als  Manuskript  im  Besitz 
des  Herzogs  von  Savoyen  und  wurde  erst  im  Jahr  16-2 7  gedruckt.  Manche  be- 
zweifeln, daß  er  von  d'ürfe  ist.  Das  ganze  Werk  erschien  in  fünf  Bänden  zu 
Kouen  1647.  Spätere  Ausgaben  erlaubten  sich  beträchtliche  Kürzungen  der  darin 
enthaltenen  Reden  und  Unterhaltungen. 


93 

die  treuesten  Dienste  erweisen  kann,  sie  machen  Gedichte,  selbst  Madri- 
gale auf  die  Haarnadel  ihrer  Schönen, ')  und  wissen  aus  Liebesgram 
zu  sterben.  Sie  kennen  aber  auch  Kämpfe  und  Kampfspiele,  Eifersucht, 
die  Kunst  der  Intrigue  und  was  sonst  noch  die  verfeinerte  Civilisation 
mit  sich  bringt.  Eine  Reihe  schöner  Damen  glänzt  in  dieser  heiteren 
Welt,  aber  alle  überstrahlt  an  Schönheit  und  Geist  die  Tochter  der 
Königin,  die  Prinzessin  Galatea. 

So  anziehend  jedoch  die  Nymphen-  und  Ritterwelt  sein  mag,  sie 
bildet  doch  nicht  das  Hauptinteresse  des  Romans.  In  einem  entlegenen 
Thal  des  Landes^  an  den  Ufern  des  lieblichen  Lignon,  wohnt  fern  von 
allem  Weltgetümmel,  unbehelligt  und  nur  sich  selbst,  ein  edles  Völk- 
chen von  Schäfern.  Sie  sind  die  eigentlichen  Helden  des  Werks.  In 
ihnen  verkörpert  sich  gewissermaßen  das  Ideal  der  ruhebedürftigen  Zeit. 
Die  einzige  Pflicht  dieser  Leute  besteht  darin,  täglich,  mit  dem  Schäfer- 
stab bewaffnet,  ihre  Herden  auf  die  Weide  zu  treiben ;  ihre  einzige  Sorge 
ist,  in  dem  Schatten  eines  Baums  gelagert,  den  langen  Tag  mit  galanten 
Plaudereien  zu  verbringen.-)  Die  Schäfer  des  Lignon  kennen  als  höchste 
und  heiligste,  ja  als  einzige  Pflicht  den  Gehorsam  gegen  die  Gebote 
der  Liebe.  Natürlichkeit  und  naive  Unschuld  sollen  sich  in  diesen  Schäfern 
mit  Witz  und  feiner  Geistesbildung  verbinden.  Diese  Eigenschaften  hatten 
schon  die  italienischen  Pastoraldramen  ihren  Personen  zu  geben  getrachtet 
und  waren  gescheitert.  Auch  die  höfische  Welt,  in  welcher  Honore  d'Urfe 
lebte,  hatte  vergessen,  was  Natur  ist,  und  sie  nahm  gespreiztes  Wesen 
und  Künstelei  dafür.  Eine  Schäferin  muß  sich  erzürnt  stellen,  wenn  man 
ihr  von  Liebe  spricht.  Celadon,  der  Name  des  Helden  in  „Asträa",  ist 
sprichwörtlich  geworden  zur  Bezeichnung  eines  schmachtenden,  uner- 
schütterlich treuen,  im  Grunde  höchst  armseligen  Liebhabers.  Der  Begriff 
echter  Männlichkeit  war  verloren  gegangen. 

Asträa,  eine  schöne,  edle  Schäferin,  hält  den  Schäfer  Celadon.  ihren 
Geliebten,  für  treulos,  und  verbannt  ihn,  ohne  seine  Verteidigung  zu 
hören,  aus  ihren  Augen.  Dieser  hatte  nichts  Eiligeres  zu  thun,  als  in  die 
Fluten  des  Lignon  zu  springen.  Doch  die  Götter  wollen  nicht  sein  Ver- 
derben; die  Wellen  treiben  den  Körper  des  bewußtlosen  Jünglings  tiefer 
unten  an  das  Ufer,  wo  sich  Prinzessin  Galatea  ergeht.  Diese  läßt 
Celadon  in  ihr  Schloß  bringen  und  versucht  auf  alle  Weise  seine  Liebe 
zu  gewinnen.  Sie  denkt  damit  einen  Zeitvertreib  für  ein  paar  einsame 
Tage  zu  finden,  allein  der  Schäfer  bleibt  standhaft,  und  da  er  sich  immer 
mehr  bedrängt  fühlt,  benutzt  er  einen  günstigen  Augenblick  und  ent- 
flieht. Da  er  aber  nicht  mehr  vor  Asträas  Augen  treten  darf,  zieht  er 
sich  als  Einsiedler  in  eine  unbetretene  Gegend  in  der  Nähe  des  Lignon 
zurück.  Dort  verbringt  er  seine  Zeit  mit  allerlei  galanten  Jämmerlich- 
keiten. Er  härmt  sich  ab,  errichtet  einen  Asträatempel .  allerdings  zu 
Ehren  Asträas,  der  Göttin  der  Gerechtigkeit ;  aber  das  Bildnis  der  Gott- 

1)  Astree,  Bd.  I,  Kap.  3. 

-)  Vergl.  Virgils  Bucolica,  I,  1 :  „Tityre,  tu  patuli  recubans  sub  agmine 
fagi"  etc. 


94 

heit,  das  er  schnitzt,  trägt  die  Züge  seiner  Geliebten.  Er  schreibt  Verslein, 
die  er  auf  den  Altar  des  Tempels  legt,  und  dabei  wird  er  immer  blasser 
und  elender.  Eines  Tags  kommt  Asträa,  die  ihre  übereilten  Worte  seit 
lange  bereut,  und  in  tiefem  Kummer  über  den  vermeintlichen  Tod  des 
Geliebten  lebt,  mit  ihren  Freundinnen  zu  diesem  Tempel.  Sie  erkennt  die 
Arbeit  Celadons,  schließt  aber  nicht,  was  doch  das  einfachste  wäre,  auf 
dessen  Nähe,  sie  sieht  darin  keinen  Grund  zur  Vermutung,  daß  er  noch 
am  Leben  sei,  sondern  sie  ruft  schmerzlich  bewegt  aus,  daß  sie  nun 
erst  seines  Tods  sicher  sei,  da  sie  erkenne,  wie  sein  Geist  noch  die 
Ufer  des  Lignon  umschwebe.  Ein  weiser  Druide  weiß  endlich  Rat.  Er 
steckt  Celadon  in  Mädchenkleidung  und  bringt  ihn  zu  Asträa,  welche  zu 
der  vermeintlichen  Jungfrau  vom  ersten  Augenblick  an  eine  tiefe  Zu- 
neigung faßt  und  sie  in  ihr  Haus  aufnimmt.  Der  zartfühlende  Jüngling 
wohnt  nun  mit  Asträa  unter  einem  Dach,  in  dem  vertraulichsten  Um- 
gang, ohne  sich  je  zu  verraten.  Während  dieser  Vorgänge  hat  Polemas, 
ein  ehrgeiziger  Ritter,  dem  Galatea  früher  ihre  Neigung  zugewandt 
hatte,  ein  Heer  geworben  und  zieht  zum  Kampf  heran.  Galatea  wird 
in  der  Stadt  Marcilly  belagert.  Asträa  und  Celadon,  letzterer  immer  in 
Mädchenkleidern,  fallen  den  Feinden  in  die  Hände,  und  werden  beim 
Sturm  auf  die  Stadt  in  die  erste  Kampflinie  gestellt,  um  die  Belagerten 
zu  verwirren.  Allein  Asträa  wird  befreit  und  Celadon  erweist  sich  als 
Held.  Als  seine  Freunde  einen  Ausfall  machen,  wendet  er  sich  ebenfalls 
zum  Kampf  gegen  den  Feind.  Polemas  fällt  und  die  Gefahr  ist  abge- 
wendet. Noch  immer  ahnt  Asträa  nichts  von  dem  Geheimnis  des  helden- 
mütigen Mädchens,  und  als  endlich  Celadon  sich  zu  erkennen  giebt, 
schickt  ihn  die  ob  solchen  Betrugs  empörte  Schäferin  aufs  neue  zum 
Tod.  als  der  einzig  möglichen  Sühne  für  sein  Verbrechen.  Celadon  ge- 
horcht. In  der  Nähe  befindet  sich  der  „Quell  der  treuen  Liebe'',  dessen 
magische  Gewässer  von  Löwen  behütet  werden.  Dorthin  begiebt  sich 
€eladon,  um  sich  von  den  wilden  Tieren  zerreißen  zu  lassen.  Doch 
0  Wunder!  die  Löwen  verschonen  ihn,  und  bald  kommt  auch  Asträa, 
über  ihre  Strenge  bekümmert,  um  ihrem  Geliebten  in  den  Tod  zu  folgen. 
Sie  findet  ihn  noch  am  Leben,  und  ein  deutliches  Wunderzeichen  giebt 
ihnen  die  Gewißheit  der  unwandelbaren  Treue,  die  sie  stets  einander 
bewahrt  haben.  Denn  wer  in  den  „Quell  der  reinen  Liebe'"  blickt,  sieht 
neben  sich  in  dem  Wasser  das  Bild  des  geliebten  Wesens,  vorausgesetzt, 
daß  es  immer  die  reinste  Liebe  zu  ihm  bewahrt  hat.  Celadon  und 
Asträa  versuchen  die  Wunderkraft  der  Quelle,  jedes  für  sich,  und  kein 
Zweifel  ist  mehr  an  ihrer  Liebe  erlaubt.  Unter  Blitz  und  Donner  erscheint 
Cupido  und  gebietet  die  Vereinigung  des  langgeprüften  Paars  durch  das 
Band  der  Ehe. 

Die  adelige  Lesewelt  jener  Tage  war  von  diesem  rührenden  Bild 
der  Liebe  und  Treue  entzückt.  Freilich  erschienen  die  Schäfer  nur  des- 
halb der  Begeisterung  würdig,  weil  sie  von  gutem  Adel  sind  und  ihn 
freiwillig  abgelegt  haben,  um  sich  ungestört  dem  idyllischen  Leben 
weihen  zu  können.  Nur  ein  adeliger  Sinn  kann  ja  die  Romantik  über- 
schwänglicher  Liebe  begreifen,  kann  den  Kultus  der  Zartheit  und  süßen 


95 

Melancholie  vollkommen  verstehen.  Nur  wer  von  echtem  Adel  ist,  weiß 
wahrhaft  zu  lieben;  nur  wer  vollkommen  zu  lieben  weiß,  kann  auch 
jeder  andern  Aufgabe  des  Lebens  gerecht  werden.  Das  ist  die  Lehre, 
die  sich  aus  „Asträa"  ergeben  soU.^)  Das  Rittertum,  das  sich  überlebt 
hatte,  sollte  in  anderer  Weise  wieder  aufleben;  „Asträa"  wurde  das 
heilige  Buch  der  neuen,  galantea  Welt.  Das  Hotel  der  Marquise  de 
Eambouillet,  das  bald  den  Mittelpunkt  der  feinen  Pariser  Gesellschaft 
bildete,  erinnert  durch  den  dort  herrschenden  Ton  vielfach  an  d'ürfes 
Roman,  und  wir  werden  auf  diesen  Zusammenhang  noch  zurückkommen 
müssen. 

Betrachten  wir  „Asträa"  als  Roman  vom  heutigen  modernen  Stand- 
punkt aus,  so  kommt  uns  gar  vieles  darin  sonderbar  und  schwach  vor. 
In  zwölf  Teilen  zieht  er  sich  ermüdend  hinaus;  immer  neue  Personen 
treten  auf,  welche  die  schon  bekannten  in  den  Hintergrund  drängen; 
jede  neue  Person,  oder  besser  gesagt,  jedes  neue  Paar,  denn  die  Leute 
erscheinen  fast  immer  paarweise,  erzählt  eine  lange  Lebens-  und  Liebes- 
geschichte. Man  seufzt,  man  weint,  man  wetteifert  um  den  Preis  der 
Galanterie  und  der  süßen  Gespräche.  Man  wirft  Streitfragen  aus  dem 
Gesetzbuch  der  Liebe  auf,  und  läßt  sie  vor  Schiedsrichtern  kontradikto- 
risch behandeln.^)  Der  Roman  erinnert  häufig  an  die  „Diana"  von 
Montemayor.  Was  dort  am  Eslafluß  sich  abspielt,  ist  hier  an  den  Lignon 
verlegt.  In  „Asträa"  zeigt  sich  dieselbe  Manier,  derselbe  Überfluß  von 
Episoden,  dieselbe  Vermengung  der  m-ythologischen  und  christlichen 
Welt,  dieselbe  Künstelei,  ja  man  möchte  sagen  dieselben  Menschen,  die 
wir  in  „Diana"  gefunden  haben.  Einzelne  Teile  des  Romans,  eingestreute 
Novellen,  sind  sehr  hübsch  erzählt,  einige  Charaktere  trefflich  geschildert, 
so  unter  anderen  der  leichtfertige  Hylas,  der  das  Princip  der  Unbestän- 
digkeit in  der  Liebe  proklamiert,  und  das  Gegenbild  zum  treuen  Celadon 
bildet.  Vergebens  aber  wird  man  die  Schilderung  wirklicher  Leidenschaft, 
wahrhafter  Herzenskämpfe  in  „Asträa"  suchen;  ihre  Scenen  gleiten  gleich 
einem  Schattenspiel  an  unseren  Augen  vorüber. 


1)  Vergl.  auch  Buch  I,  Kapitel  2,  das  Gespräch  zwischen  Galatea  und 
Sylvia : 

„Sans  deute,  ce  berger  est  amoureux." 

„N'en  doutez  point,  r^pondit  Silvie,  il  est  trop  honnete-homme." 

„Et  pourquoi,  repHqua  Galatee,  pensez-vous  qu'il  faule  aimer  pour 
etre  tel?" 

„C'est  Madame,  comme  je  Tai  oui  dire,  parceque  l'amant  ne  desire  rien 
davantage  que  d'etre  aime;  pour  etre  aime,  il  faut  qu'il  se  rende  aimable,  et 
ce  qui  rend  aimable  est  cela  meme  qui  rend  honnete-homme." 

2)  So  wird  z.  B.  die  Frage  erhoben,  ob  der  trauernde  Tirols  seine  geliebte 
Kleone,  die  ihm  durch  den  Tod  geraubt  ist,  auch  noch  ferner  lieben  dürfe  oder 
ob  er  die  Zuneigung  der  lebenden  Laonice  erwidern  müsse.  Nach  langer  Debatte 
wird  folgender  Spruch  gefällt:  „Eine  Liebe,  die  enden  kann,  ist  keine  wahr- 
hafte Liebe.  Die  Liebe  derer,  die  nur  den  Körper  liebten,  kann  im  Grabe  enden ; 
die  aber,  welche  Geist  und  Körper  liebten,  können  dem  geschiedenen  Geist  ins 
Elysium  nachfolgen.  So  verordnen  wir  denn,  daß  Tircis  auch  ferner  Kleone  liebe, 
und  verbieten  Leonice,  seine  Ruhe  zu  stören". 


96 


Ein  solcher  Roman  darf  indessen  nicht  einfach  vom  Standpunkt 
der  Ästhetik  aus  betrachtet  werden.  Er  ist  von  kulturhistorischer  Be- 
deutung und  gewinnt  als  solcher  ein  ganz  anderes  Gewicht.  Wir  er- 
kennen in  „Asträa"  den  Geschmack,  die  Tendenz,  das  Ideal  einer  ganzen 
Epoche  deutlich  ausgedrückt.  Er  zeigt  uns  das  Streben  der  Zeit,  den 
Frauen  eine  höhere  Stellung  zu  bereiten,  ihrem  sittigendem  Einfluß 
größeren  Eaum  zu  lassen.  Die  Liebe  soll,  nach  den  sinnlichen  Ver- 
irrungen  der  letzten  Zeiten,  in  ein  ideales  Gebiet  erhoben  werden,  sie 
soll  den  Menschen  edler  stimmen,  reiner  und  selbstloser  machen,  und 
wird  gleichsam  der  Gegenstand  eines  neuen  mystischen  Kultus. 

Man  will  in  „Asträa"  eine  Art  Allegorie  sehen.  D'Urfe  habe,  so 
heißt  es,  in  dem  Eoman  sich  und  seine  Geliebte,  Diana  von  Chateau- 
morand,  als  Celadon  und  Asträa,  die  Königin  Margarete  von  Navarra, 
Heinrichs  IV.  erste  Gemahlin,  als  Galatea  geschildert.  Man  hat  eine 
lange  Liste  der  historischen  Personen  gegeben,  welche  alle  in  dem 
Roman  vorkommen  sollen.  Ob  diese  Auffassung  richtig,  ob  es  wahr- 
scheinlich ist.  daß  d'Urfe  die  Frau,  mit  der  er  in  so  unglücklicher  Ehe 
lebte,  im  Roman  verherrlicht  hat,  bleibe  dahingestellt.  Obschon  diese 
Idee  in  der  ersten  Zeit  vielfach  verbreitet  und  zum  Erfolg  des  Buchs 
gewiss  beigetragen  hat,  indem  sie  die  Neugier  reizte,  so  ist  sie  doch  für 
unsere  Beurteilung  ohne  Belang. 

„Asträa"  hat  einen  Triumphzug  durch  die  Länder  der  civilisierten 
Völker  Europas  gehalten.  D'Urfe  muß  also  eine  Saite  berührt  haben, 
die  in  aller  Herzen  nachklang,  und  er  erhielt  begeisterte  Zuschriften 
und  vielfache  Beweise  der  Bewunderung  aus  den  verschiedensten  Ländern. 
So  empfing  er  im  Jahr  1624  aus  Deutschland  einen  Brief  von  etwa 
50  Fürsten,  Prinzessinnen,  Baronen  und  Edelfrauen,  welche  ihm  mit- 
teilten, daß  sie  eine  ..Akademie  der  wahrhaft  Liebenden''  gegründet  und 
sich  die  Namen  der  einzelnen  Personen  des  Romans  beigelegt  hätten. 
Nur  hätte  keiner  von  ihnen  gewagt,  sich  Celadon  zu  nennen,  und  sie 
bäten  deshalb  d'Urfe,  unter  diesem  Namen  in  ihren  Bund  zu  treten.^) 
Eine  jede  Zeit  hat  eben  ihr  eigenes  Maß,  und  nach  stürmischen  Zeiten 
gefallen  sich  die  Menschen  häufig  in  idyllischem,  zartem  Wesen.  Nach  der 
Schreckenszeit  der  französischen  Revolution  wurde  Chateaubriands  süßliche 
Melancholie  beliebt,  und  wenn  man  Kleines  mit  Großem  vergleichen  darf, 
so  zeigte  sich  derselbe  Zug  nach  den  verhältnismäßig  doch  kurzen  Er- 
schütterungen des  achtundvierziger  Jahrs,  wo  „Amarant"  und  andere  ähn- 
lich schwächliche  Geistesprodukte  eine  Zeit  lang  bewundert  wurden. 

Die  „Asträa"  blickt  allerdings  nach  dem  alten  Ritterroman  zurück, 
allein  er  leitet  gleichzeitig  den  modernen  Roman  ein.  Denn  wenn  sie 
auch  nicht  auf  wirklichen  Verhältnissen  fußt,  so  bleibt  sie  doch  auf 
rein  menschlichem  Gebiet,    und    sucht  Menschen  ihrer  Zeit  zu  schildern. 

Und  ein  weiteres  großes  Verdienst  kann  niemand  dem  Roman  be- 
streiten.    Seine  Sprache  ist  klar,  rein,    und  überragte  die  aller  anderen 

^)  Siehe  Aug.  Bernard,  Les  d'Urfe,  Souvenirs  historiques  du  Forez,  1839, 
pag.  166. 


97 


gleichzeitigen  Prosaschriftsteller  bei  weitem.  D'Urfe  schrieb  vor  Balzac, 
der  den  Euhm  hat,  der  französischen  Prosa  die  klassische  Form  ge- 
g-eben  zu  haben,  und  er  kommt  ihm  an  Schönheit  des  Stils  oft  nahe, 
übertrifft  ihn  sogar  durch  seine  Einfachheit.  Er  hat  Stellen,  die  an 
Fenelon  erinnern,  und  welchen  nur  wenig  fehlt,  um  die  volle  Rundung 
und  plastische  Form  der  klassischen  und  doch  so  milden  Sprache  dieses 
Erzählers  zu  erreichen.^) 

Ein  halbes  Jahrhundert  lang  herrschte  die  „Asträa"  in  Frank- 
reich. Die  Pastoralgedichte  kamen  in  die  Mode,  unzählige  Dramen 
wurden  nach  den  Erzählungen  des  berühmten  Romans  aufgebaut,  und 
eine  Menge  von  Nachahmungen  wetteiferten  um  die  Gunst  des  Publikums, 
ohne  die  ,.Asträa"  verdrängen  zu  können.  Manche  derselben  zeichneten 
unter  der  Maske  antiker  Namen  zeitgenössische  Vorfälle,  bekannte  Per- 
sönlichkeiten, und  errangen  dadurch  größere  Aufmerksamkeit.  Dahin  ge- 
hört der  Roman  „Les  amours  du  grand  Alcandre"  von  Mademoiselle 
de  Guise  (späteren  Prinzessin  von  Conti),  welche  die  Liebesabenteuer 
Heinrichs  IV.  erzählte,  sowie  der  „Roman  satirique"  von  Jean  de  Lannel 
(1624),  der  ein  Gemälde  der  Zeit  Heinrichs  und  Ludwigs  XIIL  zu  geben 
versuchte. 

Erst  als  ein  neuer  Geist  die  Gesellschaft  belebte,  und  die  Epoche 
Ludwigs  XIV.  begann,  wurde  die  „Asträa"  ein  wenig  vergessen  und  die 
Romane  des  Fräuleins  von  Scudery  traten  an  ihre  Stelle.  Doch  nicht 
ganz.  Lafontaine  schwärmte  noch  von  ihr,  Frau  von  Sevigne  führte  sie 
öfters  an,  und  Jean  Jacques  Rousseau  gestand,  daß  er  den  Roman  oft 
mit  Vergnügen  zur  Hand  nehme. 


')  Man  nehme  z.  B.  gleich  den  Beginn  des  1.  Kapitels  des  1.  Buchs: 
„De  toutes  les  contrees  que  renferment  les  Gaules,  il  n'en  est  poiat  de  plus 
delicieuse  que  le  Forez.  L'air  qu'on  y  respire  est  tempere;  et  le  climat  est  si 
fertile  qu'il  produit  au  gre  de  ses  habitants  toute  sorte  de  fruits.  Au  milieu 
est  une  plaine  enchantee  qu'arrose  le  fleuve  de  Loire  et  que  differents  ruisseaux 
viennent  baigner.  Le  plus  agreable  de  tout  est  le  Lignon,  qui  va  serpentant 
depuis  les  hautes  montagnes  de  Cervieres  et  de  Chalmasel  jusqu'ä  Feurs,  oü  la 
Loire  le  re^oit  et  l'emporte  dans  l'Ocean."  —  Boileau,  in  einer  Einleitung  zu 
seinem  Dialog  „Les  heros  de  roman",  sagt  über  d'Urfe:  „II  soutint  tout  cela 
d'une  narration  egalement  vive  et  fleurie,  de  fictions  tres-ingenieuses  et  de  carac- 
teres  aussi  finement  imagines  qu'agreablement  varies  et  bien  siiivis.  II  composa 
ainsi  un  roman  qui  lui  acquit  beaucoup  de  reputation,  et  qui  tut  fort  estime, 
meme  des  gens  du  goüt  le  plus  exquis,  bien  que  la  morale  en  füt  fort  vicieuse 
ne  prechant  que  l'ainmour  et  la  noblesse,  et  allant  quelquefois  jusqu'ä  blesser 
un  peu  la  pudeur." 


Lotheißen,  Gesch.  d.  fra 


VI. 

Das  Hotel  Rambouillet. 

Von  den  Ufern  des  Lignon  führt  uns  der  Weg  zu  dem  schönen 
Palast  der  Marquise  de  Rambouillet  in  Paris.  Die  duftige  Sprache  der 
Schäfer  in  „Asträa",  die  ganze,  dem  Gemeinen  abgewendete  Richtung 
dieses  Romans  fand  in  dem  Kreis,  den  die  Marquise  um  sich  versammelte, 
den  lebhaftesten  Anklang.  Dichtung  und  Wirklichkeit  strebten  hier  nach 
dem  gleichen  Ziele  und  entsprangen  dem  gleichen  Boden.  Wie  die 
„Asträa",  so  strebte  auch  die  Gesellschaft  des  Hotel  Rambouillet  da- 
nach, die  Geselligkeit  zu  veredeln  und  dem  Leben  ein  idealeres  Gepräge 
zu  geben. 

Wohl  hatte  in  früheren  Zeiten  der  Hof  den  Ton  angegeben,  und 
sein  Geschmack,  seine  Laune  war  zum  Gesetz  für  weite  Kreise  geworden. 
Das  war  selbst  unter  Heinrich  IlL  noch  so  gewesen.  Nur  hatte  die 
religiöse  Spaltung  und  das  ausschweifende  Leben  des  Königs  und  seiner 
Günstlinge  bewirkt,  daß  der  eine  Teil,  die  Hugenotten,  und  die  sittlich 
strengeren  Familien  der  katholischen  Partei  sich  immer  entschiedener 
vom  Hof  abwendeten.  Auch  als  Heinrich  IV.  zur  Herrschaft  kam  und 
die  Sitten  des  Lagers  in  den  Louvre  verpflanzte,  war  von  feinem  ge- 
selligen Verkehr  nicht  die  Rede.  Sein  Sohn  Ludwig  XIII.  war  noch 
weniger  der  Mann  dazu,  in  Gesellschaft  zu  glänzen  oder  gar  den  Ton 
anzugeben.  Er  war  scheu,  leicht  verlegen  und  stotterte  ein  wenig. 
Zudem  war  er  wenig  gebildet,  und  kannte  nur  eine  einzige  Liebhaberei, 
die  Jagd.  Anna  von  Österreich,  seine  Gemahlin,  hatte  wenig  Geist  und 
zu  engen  Spielraum,  war  auch  zu  sehr  an  spanische  Etikette  gewöhnt, 
als  daß  sie  den  Ton  für  eine  freiere,  geistig  regsame  Geselligkeit  ge- 
funden hätte.  Und  doch  machte  sich  das  Bedürfnis  nach  einer  solchen 
in  den  Kreisen  der  Gebildeten  mit  wachsender  Macht  geltend. 

Die  Lehrmeisterin  war  auch  diesmal  Italien. 

Während  man  von  Spanien  vorzugsweise  die  Kleidung,  das  Kriegs- 
wesen und  alles,  was  Staatsleben  und  Politik  betraf,  daneben  auch  den 
Geist  romantischer  Galanterie  annahm,  lernte  man  von  Italien,  was  zur 
Schönheit  des  Lebens  beitrug,  die  Pflege  der  Kunst  und  der  Poesie,  die 
gefällige  Unterhaltung,  den  leichten  Verkehr  der  beiden  Geschlechter. 
Italien  mit  seinen  vielen  glänzenden  Höfen,  seinen  kunstliebenden  Fürsten, 
seinen  stolzen  Handelsstädten  und  Adelsrepubliken  war  die  hohe  Schule 
des  weltmännischen  feinen  Tons.  In  Rom,  in  Ferrara,  in  Florenz  und 
so  vielen  anderen  Stätten  fürstlicher  Hofhaltung  hatte  sich  eiue  Gesellig- 


99 

keit  ausgebildet,  die  an  Reiz  und  Anmut,  an  sicherem  Takt  und  frohem 
Lebensgenuß  ihresgleichen  nicht  hatte.  Die  Damen  waren  die  Herrsche- 
rinnen dieser  Welt,  und  ihr  Einfluß  machte  sich  sittigend,  verschönernd, 
freilich  auch  oft  schwächend,  auf  allen  Gebieten  geltend.  So  zeichnet 
uns,  im  Rahmen  der  Dichtung,  Goethe  den  Hof  von  Ferrara.  Die  hohe 
Zeit  der  klassischen  italienischen  Litteratur  war  vorüber  und  hatte  einer 
weicheren,  eleganten  Richtung  Platz  gemacht,  die  dem  Charakter  der 
Epoche  entsprach.  Die  harmonische  Sprache  des  Landes  gab  selbst  un- 
bedeutenden Schöpfungen  das  Gepräge  der  Schönheit  und  Poesie.  Neben 
der  Litteratur  blühten  in  gleicher  Weise  die  Künste  der  Malerei,  Archi- 
tektur und  Musik.  Damals  auch  boten  die  glänzenden  Hoffeste  den 
Anlaß  zur  Begründung  einer  neuen  Gattung  musikalischer  Spiele, 
der  Oper. 

Aber  freilich  war  die  gesellschaftliche  Feinheit  oft  nur  äußerlich, 
und  verbarg  nicht  selten  sogar  grobe  Verbrechen,  eine  furchtbare  Roh- 
heit des  Gemüts.  Willkür  und  Tyrannei  lasteten  auf  dem  italienischen 
Volk ;  Gift  und  Dolch,  Kerker  und  Schaffet  drohten  jedem,  der  sich  dem 
Willen  jener  glänzenden  Herrscher  nicht  fügte.  Bildung  ohne  Freiheit 
ist  aber  eine  kranke  Blüte,  die  rasch  dahin  welkt,  und  die  besten  Früchte 
müssen  verkümmern,  wenn  ihnen  die  Sonne  fehlt. 

So  geriet  das  gesellige  Leben  in  Italien  bald  in  einen  gesuchten 
Ton,  und  im  falschen  Streben  nach  dem  Außerordentlichen  ging  der 
echte  Geist,  der  Begriff  wahrer  Schönheit  und  Feinheit  verloren.  Am 
Hof  von  Ferrara,  wo  Leonore  von  Este  die  Königin  der  Gesellschaft  war, 
wurde  eines  Tags  ein  poetischer  Wettstreit  Tassos  mit  dem  herzoglichen 
Sekretär  Pigna  zum  wahren  Ereignis.  Beide  feierten  die  schöne  Lucrezia 
Bendidio,  eine  Zierde  des  Hofes,  in  ihren  Gedichten.  Die  Akademie  von 
Ferrara  wurde  in  einen  Liebeshof  verwandelt,  der  zu  entscheiden  hatte. 
Unter  dem  Vorsitz  Leonorens  debattierte  man  über  Fragen  der  Liebe  und 
Galanterie,  und  der  25jährige  Tasso  vertheidigte  drei  Tage  lang  15  Thesen, 
welche  dem  Gesetzbuch  der  Liebe  entnommen  waren.  Die  Schäferschau- 
spiele waren  an  der  Tagesordnung;  Guarinis  „Pastor  Fido"  entzückte 
die  feinen  Kreise,  die  sich  darin  gefielen,  in  phantastischem  Aufputz 
idyllische  Scenen  aufzuführen  und  sich  nach  Arkadien  versetzt  glaubten. 

Dieser  Geschmack  drang  auch  über  die  Alpen  nach  Frankreich. 
D'ürfe  hatte  nicht  umsonst  am  Hof  von  Savoyen  gelebt,  der  halb 
französisch,  halb  italienisch  war.  Sein  Roman  trug  den  Geist  der  neuen 
Schule  weit  hinaus.  Aber  die  Aufgabe,  die  italienische  Geselligkeit,  den 
feinen  Ton  der  Unterhaltung,  die  Freude  an  der  Bildung,  die  Achtung 
vor  der  Frau  in  der  französischen  Hauptstadt  einzubürgern,  übernahm 
die  Marquise  von  Rambouillet.  Ihr  Hotel  bildete  bald  den  Mittelpunkt  des 
socialen  und  geistigen  Lebens  in  Paris,  und  Paris  war  damals  schon  maß- 
gebend für  ganz  Frankreich. 

Jean  de  Vivonne,  Marquis  de  Pisani,  das  Haupt  einer  der  ersten 
Familien  Frankreichs,  hatte  in  dem  letzten  Drittel  des  16.  Jahrhunderts 
als  Gesandter  des  französischen  Königs  beim  päpstlichen  Stuhl  in  Rom 
gelebt    und    sich    daselbst    mit     Julia    Savelli     aus    einem    vornehmen 


lOü 

römischen  GesclilecM  vermählt.  Die  Frucht  dieser  Ehe  war  eine  Tochter, 
Catherine  de  Vivonne,  die,  im  Jahr  1588  geboren,  schon  im  Jahr  1600, 
also  kaum  zwölf  Jahre  alt,  mit  Charles  d'Angennes  Marquis  de  Ram- 
bouillet verheiratet  wurde.  Der  Marquis,  der  elf  Jahre  älter  war,  wurde 
später  Marechal  de  camp,  und  ging  eine  Zeit  lang  als  Gesandter  nach 
Spanien.  Seine  junge  Gemahlin  vereinigte  italienische  Liebenswürdigkeit 
und  französischen  Geist.  Das  Leben  am  Hof  Heinrich  IV.  konnte  ihr 
nicht  gefallen.  Sie  zog  sich  gern  davon  zurück  und  entschuldigte  sich 
mit  der  Sorge  für  ihre  Kinder,  von  welchen  das  älteste,  Julie  d'Angennes, 
1607  geboren  war  und  noch  öfter  genannt  werden  wird.  Später  war  die 
Marquise  leidend,  scheute  die  Sonne  und  die  Hitze,  und  ging  kaum  noch 
aus.  Dafür  empfing  sie  in  ihrem  Salon  alles,  was  Paris  damals  von  Be- 
deutung in  sich  schloß.  Vielleicht  war  die  Abneigung  gegen  den  Hof, 
den  sie  sonst  schwer  hätte  ganz  meiden  können,  mit  ein  Grund  ihrer 
Kränklichkeit.-^)  Xach  dem  Vorbild  Italiens  bannte  sie  jede  steife  Etikette, 
und  war  die  erste,  welche  den  Geburtsadel  und  den  Geistesadel,  die 
Aristokratie,  die  Dichter  und  Schriftsteller  bei  sich  vereinigte.  Adel  und 
Bürgertum  trafen  sich  bei  ihr  auf  neutralem  Gebiet;  jeder  Stand  konnte 
von  dem  andern  etwas  annehmen,  und  beide  gewannen  bei  diesem  Verkehr. 

Neben  den  Prinzen  des  königlichen  Hauses.  Conde  und  seinem 
Bruder  Conti,  sah  man  im  Hotel  Rambouillet  häufig  deren  Schwester, 
Mademoiselle  de  Bourbon.  die  später  als  Herzogin  von  Longueville  viel 
genannt  wurde  und  eine  treue  Freundin  der  Tochter  des  Hauses  war. 
Die  edelsten  Geschlechter  des  Landes  waren  hier  vertreten;  wir  erwähnen 
nur,  weil  sie  in  der  Litteraturgeschichte  genannt  werden,  die  Marquise 
de  Sable  und  die  Gräfin  de  La  Vergne  mit  ihren  beiden  Töchtern,  deren 
eine  als  Gräfin  Lafayette  wegen  ihrer  schönen  Erzählungen  einen  be- 
deutenden Platz  in  der  Geschichte  der  Novellistik  einnimmt.  Eine  Zeit 
lang  sah  man  auch  das  heitere  Fräulein  von  Rabutin-Chantal  die  Gesell- 
schaft verschönern;  doch  wurde  sie  durch  ihre  Heirat  mit  dem  Marquis 
von  Sevigne  dem  Kreis  bald  etwas  entfremdet,  vielleicht  zu  ihrem  Vor- 
teil. Es  kamen  ferner  der  Herzog  von  Montausier,  Kardinal  Retz;  hie 
und  da  auch  Richelieu,  als  einfacher  Bischof  von  Lucon,  und  viele 
andere.  Von  Vertretern  der  Litteratur  fanden  sich  Conrart,  Godeau,  Gom- 
bauld,  Scudery,  Chapelain,  Sarasin,  Saint-Pavin,  Racan,  sowie  diese  alle 
überragend  Malherbe  und  neben  ihm  Menage,  Balzac  und  Voiture.  Von 
ihnen  allen  wird  noch  später  die  Rede  sein. 

Auch  Pierre  Corneille  wurde  öfters  im  Salon  der  Marquise  gesehen, 
und  fand  in  seinem  Kampf  um  den  „Cid'"  treue  Anhänger  daselbst.  Wir 
wissen,  daß  er  einzelne  seiner  Stücke  im  engen  Kreis  vor  der  Marquise 
gelesen  und  die  Ansicht  der  Freunde  erbeten  hat.  In  späteren  Jahren 
konnte  man  auch  zeitweise  den  jungen  Abbe  Bossuet  durch  die  Menge 
der  Besucher  sich  drängen  sehen ;    kurz,    die  Marquise  vereinte  bei  sich 


1)  Tallemant  des  Reaux,  Historiettes,  II,  pag.  486:  „Dez  vingt  ans  eile 
ue  vouhit  plus  aller  aux  assemblees  du  Louvre.  Elle  disoit  qu'elle  n'y  trouvoit 
rien  de  plaisant  que  de  voir  comme  on  se  pressoit  pour  y  entrer." 


101 


einen  Kreis  von  Männern  und  Frauen ,  die  zu  den  Besten  des  Landes 
gehörten  und  eine  Zierde  jedes  Jahrhunderts  bilden  würden. 

Die  Blüte  dieses  geselligen  Lebens  fällt  in  die  Jahre  1620  bis 
«twa  1645;  vor  dieser  Zeit  war  die  Marquise  noch  selbst  zu  jung  oder 
zu  sehr  von  ihren  Kindern  in  Anspruch  genommen.  Nach  dem  Jahr  1645 
aber  legte  sich  Trauer  auf  die  Familie,  und  die  Unruhen  der  Fronde 
machten  zudem  jeden  lebhafteren  Verkehr  unmöglich. 

Kardinal  Richelieu  kaufte  das  alte  Hotel  des  Marquis  Eambouillet 
und  ließ  an  dessen  Stelle  das  Palais-Cardinal,  das  spätere  Palais-ßoyal, 
errichten.  Die  Marquise  aber  hatte  von  ihrem  Vater  das  Palais  Pisani 
in  der  ßue  Thomas-du-Louvre  geerbt,  das  sie  in  den  Jahren  1610  — 1617 
nach  ihren  eigenen  Plänen  umbauen  ließ,  und  das  seitdem  als  das  Hotel 
Rambouillet  bezeichnet  wurde. 

Dieses  Gebäude  erregte  sowol  durch  seine  Bauart,  als  auch  durch 
die  innere  Einrichtung  die  Bewunderung  der  Besucher.  Nach  der  alten 
Bauart  hatte  die  Stiege,  die  in  der  Mitte  des  Hauses  angebracht  war, 
jedesmal  die  Reihe  der  Zimmer  unterbrochen.  Die  Marquise  wich  von 
der  Überlieferung  ab,  verlegte  die  Treppe  und  erzielte  dadurch  eine 
Flucht  von  Zimmern,  ein  Gewinn,  der  die  Entwicklung  der  Geselligkeit 
bei  ihr  wesentlich  beförderte.  Die  Hauptseite  des  Palastes  war  der  Straße 
abgekehrt  und  hatte  den  Blick  auf  schattige  grüne  Gärten,  über  welche 
man  hinaus  den  Karusselplatz  und  die  Tuilerien  sah.  Als  später  der 
Louvre  ausgebaut  wurde,  verschwanden  diese  Gärten  und  die  anstoßenden 
Gebäude,  unter  ihnen  das  schöne  Hotel  Rambouillet. 

Man  erzählte  sich  Wunder  von  dem  Geschmack,  mit  welchem  die 
Marquise  ihr  Haus  ausgestattet  hatte.  Besonders  gerühmt  wurde  der  so- 
genannte blaue  Salon,  ein  Saal,  der  mit  blauem,  gold-  und  silber- 
gesticktem Sammt  ausgeschlagen  war,  blaue  Vorhänge  hatte,  und  dessen 
Möbel  ebenfalls  in  der  Farbe  ihres  Überzugs  dazu  stimmten.^)  Große 
Fenster  gingen  bis  zum  Fußboden  herab  und  brachten  Luft  und  Licht, 
sowie  sie  auch  durch  den  freien  Ausblick  auf  das  Grün  der  Gärten 
erheiterten.  Neben  dem  blauen  Salon  befand  sich  das  Schlafzimmer  der 
Marquise,  eine  Art  sehr  geräumigen  Alkovens.  Vergoldete  Säulen  trugen 
hier  die  Decke  und  schwere  Teppiche  schlössen  den  Raum  gegen  den 
■Salon  zu  ab.  Das  Fräulein  von  Scudery,  das  etwa  dreißig  Jahre  später 
in  einem  ihrer  Romane,  dem  „Cyrus" ,  die  vornehme  Pariser  Welt 
schilderte,  und  auch  die  Marquise  unter  dem  Namen  Cleomire  einführte, 
schilderte  deren  Wohnung  als  einen  wahren  Zauberpalast. ^) 

Jeden  Mittwoch  war  in  den  Mittagsstunden  großer  Empfang  in 
dem  blauen  Salon;  an  den  anderen  Tagen  kamen  nur  die  genaueren 
Freunde,  und  diese  wurden  in  dem  Schlafzimmer  empfangen.  Die  Sitte 
der  Zeit   brachte   es  mit  sich,    daß  die  Dame  des  Hauses  hier  ihre  Be- 


1)  Tallemant  des  Reaux,  Historiettes,  II,  pag.  487  (ed  Monmerque  & 
Paris):  „C'est  la  premiere  qui  s'est  avisee  de  faire  peindre  une  chambre  d'autre 
couleur  que  de  roiige  ou  de  taue."' 

2j  Mademoiselle  de  Scudery,  Le  Grand  Cyrus,  7.  Theil,  Buch  I. 


102 

suche  entgegennahm.  Das  große  Bett,  das,  nebenbei  bemerkt,  damals 
statt  des  Sofas  als  Ruhebett  diente,  stand  gewöhnlich,  auf  mehreren 
Stufen  erhöht,  frei  in  der  Mitte  des  Zimmers.  Die  Herrin  des  Hauses 
empfing  ihre  Gäste  entweder  auf  dem  Bett  oder  daneben  sitzend.^) 
Nur  sehr  vornehme  Damen  erlaubten  sich  auch  im  Bett  liegend,  freilich 
im  vollen  Putz,  die  Huldigungen  der  Besucher  entgegenzunehmen.  Die 
besuchenden  Damen  reihten  sich  mit  Stühlen  um  die  Hausfrau ;  die 
Herren  standen  hinter  ihnen ,  oder  breiteten ,  wenn  sie  recht  galant 
waren,  ihre  Mäntel  auf  dem  Boden  vor  den  Schönen  aus  und  ließen  sich 
zu  deren  Füßen  nieder.^) 

Diese  Zusammenkünfte  hatten  keinen  andern  Charakter,  als  den 
der  geselligen  Vereinigung.  Man  plauderte ,  lachte,  besprach  sich  über 
Politik,  Litteratur  und  Tagesneuigkeiten.  Was  man  verlangte,  war  einzig 
guter  Ton  und  anständiges  Benehmen.  Ein  jeder  gab,  was  er  konnte ; 
der  eine  kämpfte  mit  witzigem  Wort,  der  andere  trug  vor,  was  er  ge- 
dichtet hatte,  ein  dritter  las  die  Arbeit  eines  Fremden,  und  häufig  ent- 
spann sich  über  das  Gehörte  eine  lebhafte  Unterhaltung.  Aber  nicht 
immer  ging  es  bei  der  Marquise  ernsthaft  zu ;  war  sie  doch  selbst 
jung  und  heiter,  und  später  von  einem  Kreis  lebhafter  Töchter  umringt. 
Man  spielte  zur  Abwechslung  muntere  Gesellschaftsspiele,  belustigte  sich 
mit  Theateraufführungen,  man  tanzte  und  machte  fröhliche  Ausflüge  in 
die  Umgegend,  wobei  es  an  Feuerwerken,  Verkleidung  im  Geschmack  der 
,,Asträa",  an  Musik  und  tollen  Streichen  nicht  fehlte.^) 

Was  die  Marquise  bezweckte,  war  kein  einseitiges  schöngeistiges 
Wesen  in  ihrem  Kreis.  Das  Beispiel  Italiens,  aus  dem  sie  stammte,  hätte 
sie  allein  schon  von  solchen  Gedanken  abgebracht.  Aber  in  der  Gesell- 
schaft, die  sie  um  sich  vereinte,  sollte  Takt  und  Geschmack  heimisch 
sein,  sollte  dem  Geist  sein  Recht  werden.  Was  Malherbe  in  seinen  Dich- 


1)  Diese  Alkoven  hießen  ,les  ruelles"  oder  „les  reduits".  Daher  man 
später  auch  die  litterarischen  Gesellschaften  und  Koterien  mit  dem  Namen 
„ruelles"  bezeichnete. 

2)  Vergl.  Shakespeares  „Hamlet",  III,  1 : 

Königin:  Komm  hierher,  lieber  Hamlet,  setz  Dich  zu  mir. 
Hamlet:  Nein,  gute  Mutter,  hier  ist  ein  stärkerer  Magnet. 
Polonius:  Oho!  Hört  Ihr  das  wohlV 

Hamlet:  Fräulein,   soll   ich   in  Eurem  Schöße  liegen?    (setzt  sich  zu 
Opheliens  Füßen). 

Ophelia:  Nein,  mein  Prinz. 

Hamlet:  Ich  meine,  den  Kopf  auf  Euren  Schoß  gelehnt. 

Ophelia:  Ja,  mein  Prinz. 

3)  Tallemant  des  Eeaus  erzählt  mehrere  ihrer  lustigen  Geschichtchen. 
Graf  Guiche.  der  spätere  Herzog  von  Grammont,  war  zu  Besuch  auf  das  Gut 
Rambouillet  gekommen  und  hatte  sich  bei  der  Mahlzeit  besonders  an  Cham- 
pignons gelabt.  In  der  darauffolgenden  Nacht  bemächtigten  sich  einige  Spaß- 
vögel seiner  Kleider  und  ließen  sie  enger  nähen.  Als  der  Graf  andern  Tags 
sich  ankleidete,  erschrak  er  darüber,  daß  seine  Kleider  nicht  mehr  paßten  — 
man  brachte  ihn  auf  den  Gedanken,  daß  er  infolge  Genusses  giftiger  Schwämme 
schon  geschwollen  sei,  und  versetzte  ihn  in  die  lebhafteste  Unruhe,  bis  ihm 
einer  der  Gäste  ein  Rezept  aufschrieb,  das  ihn  sicher  heilen  müsse.  Dasselbe 
lautete:  „Recipe  de  bons  ciseaux  et  descous  ton  pourpoint." 


103 


tungen  verfolgte,  was  d'Urfe  mit  seinem  Roman  erstrebte,  was  allen 
Gebildeten  als  notwendig  erschien,  die  Pflege  der  ausgebildeten,  fest- 
geregelten, feinen  Sprache,  das  wurde  auch  das  Streben  des  Hotel  Ram- 
bouillet, wie  man  kurzerhand  die  Gesellschaft  bezeichnet,  welche  Frau 
von  Rambouillet  mit  ihrem  Geist  belebte. 

Die  edle  Frau  hatte  dabei  oft  eine  schwere  Aufgabe.  In  ihrem 
Kreis  trafen  sich  Männer  der  verschiedensten  Parteien.  Nach  Heinrichs  IV. 
Tod  regten  sich  die  alten  Leidenschaften  wieder,  und  als  Richelieu  später 
mit  Entschiedenheit  für  die  Aufrechthaltung  und  Stärkung  der  königlichen 
Macht  eintrat,  wuchsen  die  Feindschaften  und  politischen  Antipathien 
unter  dem  Adel  immer  höher.  Es  kam  zu  Verschwörungen  und  Auf- 
standsversuchen, und  Richelieu  ließ  mehr  als  einen  Herrn  des  höchsten 
Adels  seinen  Widerstand  auf  dem  Schaffot  büßen.  Unter  solchen  Ver- 
hältnissen war  es  doppelt  schwer,  einen  neutralen  Boden  zu  behaupten. 
Die  Marquise  hätte  einen  großen  politischen  Einfluß  ausüben  können, 
und  wurde  von  den  verschiedenen  Parteien  umworben;  Richelieu  ließ 
ihr  eines  Tags  zumuten,  sie  möge  seine  Gegner  in  ihrem  Haus  beob- 
achten, gewissermaßen  belauschen,  und  ihm  darüber  berichten.  Allein  sie 
lehnte  alle  Anerbietungen  ab  und  hielt  den  Frieden  in  ihrem  Haus 
aufrecht. 

Nun  läßt  sich  nicht  übersehen,  daß  ein  in  sich  berechtigtes  Streben, 
wie  das  des  Hotel  Rambouillet,  nach  Veredlung  des  Tons  und  größerer 
Reinheit  der  Sprache  leicht  auf  Abwege  führen  kann,  zumal  wenn  die 
Reformatoren  nicht  in  beständiger  Berührung  mit  dem  Leben  und  dem 
wahren  Volkstum  sich  erhalten.  Dann  entsteht  nur  zu  leicht  eine 
Künstelei,  welche  zu  Irrthümern  führen  muß,  die  oft  gefährlicher  sind, 
als  die  bekämpften  Übel.  In  dem  Bestreben,  das  Gewöhnliche  und  Ge- 
meine zu  vermeiden,  wird  man  leicht  unnatürlich;  in  der  Absicht,  den 
feinen  Ton  zu  bewahren,  wird  man  geziert,  und  büßt  darüber  das  Gefühl 
für  Wahrheit  und  echte  Schönheit  ein.  Im  Eifer  für  die  äußere  Form 
vernachlässigt  man  das  Wesentliche,  den  Gedanken.  Die  Marquise  selbst 
bewahrte  immer  ihre  einfache  natürliche  Weise ;  ihre  Tochter  Julie  schon 
nicht  mehr  in  demselben  Maß,  obwol  wir  wissen,  daß  die  Briefe  der 
beiden  Damen,  entgegen  der  Art  mancher  ihrer  Freunde,  sich  immer  in 
ungeschminkter,  ungekünstelter  Sprache  ausdrückten.^)  Dagegen  schreibt 
man  der  jüngsten  Tochter,  Angelique,  schon  einen  bedeutenden  Teil  der 
Schuld  zu,  daß  in  der  letzten  Zeit  ein  falscher  Ton  sich  im  Hotel  Rambouillet 
breit  machte.  Der  Kreis  war  gar  groß  und  ein  jeder  wünschte  sich  darin 
hervorzuthun,  auch  wenn  ihm  die  Kraft  dazu  fehlte.  Da  kam  denn  die 
äußere  Form  trefflich  zu  statten,  denn  diese  wird  gar  oft  zur  Maske, 
hinter  welcher  sich  die  geistige  Armut  versteckt,  und  je  leichter  dieses 
Mittel  erscheint,  umso  lauter  wird  die  Heiligkeit  der  Form  verkündigt. 
Die  Eitelkeit,  jene  lärmende  Schwester  der  Geistesarmut,  kommt  dann 
hinzu  und  verleitet  zu  Extremen.    Was  die  Laune  des  Augenblicks  ein- 


1)  Einige  früher  ungedruckte  Briefe  der  Marquise  und  ihrer  Tochter  sind 
von  V.  Cousin,  La  sooiete  franyaise,  t.  II,  Appendice,  S  349  tf.,  mitgeteilt. 


104 


gegeben  hat,  was  der  Zufall  gefügt  hat,  wird  Gesetz,  und  aus  der  freien 
Vereinigung  wird  bald  eine  Koterie. 

Auch  das  Hotel  Rambouillet  bildete  schließlich  eine  Art  schön- 
geistiger Koterie,  wenn  auch  der  besten  eine.  Die  Koterie  bedingt  aber 
Einseitigkeit  und  Verirrung. 

In  den  früher  so  heiteren  Kreis  schlich  sich  mit  der  Zeit  Affektation 
und  Prüderie  ein.  Die  Damen,  welche  sich  mit  der  freundlichen  Anrede 
.,ma  chere"  begrüßten,  hießen  deshalb  bald  ,.les  Precieuses",  und  diese 
Bezeichnung  galt  anfangs  für  einen  Ehrennamen.  Mit  der  Zeit  jedoch 
erhielt  das  Wort  eine  spöttische  Nebenbedeutung,  gerade  wie  das  Beiwort 
,,les  Illustres".  Es  war  zunächst  nur  eine  einfache,  längst  übliche  Spielerei, 
daß  man  sich  im  geselligen  Verkehr  häufig  antike  Namen  beilegte.  Die 
Dichter  konnten  ihren  Geliebten  unter  dieser  durchsichtigen  Pseudo- 
nymität  viel  offener  ihre  Huldigungen  darbringen.  Die  Marquise  selbst 
wurde  meistens  als  „Arthenice"  gefeiert  und  Malherbe  rühmte  sich, 
dieses  Anagramm  aus  ihrem  Namen  Catherine  gefunden  zu  haben.  Bald 
artete  aber  auch  dieser  Scherz  aus :  Affektation  und  Eitelkeit  mischten  sich 
ein,  und  besonders  die  lyrische  Poesie  litt  unter  den  vielen  „Daphnis", 
„Tii'sis",  „Philis'',  den  „Ciarissen",  den  „Dämon"  und  wie  sie  alle 
hießen.  Gefährlicher  noch  war  es,  als  auch  der  prüde  Ton  überhand 
nahm,  und  sich,  durch  solche  Ermunterung  gekräftigt,  schnell  in  weitere 
Kreise  verbreitete. 

Die  Marquise  hatte  sieben  Kinder,  darunter  zwei  Söhne.  Von 
diesen  letzteren  fiel  der  ältere  1645  in  der  Schlacht  bei  Nördlingen, 
der  zweite  starb  schon  als  Kind  an  der  Pest.  Von  den  fünf  Töchtern 
traten  drei  ins  Kloster,  wo  sie  bis  zur  Würde  von  Äbtissinnen  aufstiegen. 
Eine  derselben  erregte  durch  ihre  Lebensart  Anstoß,  trat  öffentlich  gegen 
ihre  Familie  auf  und  wurde  schließlich  in  einem  Kloster  interniert.  Die 
älteste  Tochter,  Julie  d'Angennes,  stand  der  Mutter  geistig  am  nächsten. 
Sie  erwies  sich  als  mutige  Pflegerin  ihres  Bruders,  als  er  an  der 
Pest  erkrankte,  und  pflegte  ebenso  später  ihre  Freundin,  die  Herzogin 
von  Longueville,  die,  von  den  anderen  verlassen,  an  den  Blattern  da- 
niederlag. Lange  Zeit  war  sie  die  Zierde  und  Hauptstütze  der  Gesellschaft 
des  Hotel  Eambouillet,  wie  die  vielen,  oft  herzlich  faden  poetischen  Huldi- 
gungen beweisen,  die  man  ihr  darbrachte.  Welcher  Geist  in  späteren 
Jahren  in  ihrem  Kreis  herrschte,  zeigt  recht  deutlich  die  Gabe,  welche 
der  Herzog  von  Montausier  zu  dem  Namensfest  der  von  ihm  verehrten 
Julie  fertigen  ließ.^)  Der  Herzog  bewarb  sich  seit  langer  Zeit  um  deren 
Hand.  Für  jenen  Tag  ließ  er  ein  kostbares  Album  fertigen,  in  welchem 
auf  den  einzelnen  Blättern  29  verschiedene  Blumen  von  Künstlerhand 
gemalt  waren.  Die  Freunde  des  Hauses  mußten  die  poetische  Spende 
dazu  liefern:  ein  jeder  gab  ein  Madrigal,  viele  auch  mehr.  So  entstand, 
was  unter  dem  Titel  „Juliens  Guirlaude"  in  der  Geschichte  der  Galan- 
terie eine   gewisse  Berühmtheit   erlangt  hat.     Neben   Montausier   finden 


1)  Zum  22.  Mai  1641;    vielleicht    war  die  „Guirlande  de  Julie"  auch  als 
Geschenk  zum  Neujahr  1642  bestimmt. 


105 


sich  unter  den  Dichtern  die  Namen  von  Arnauld  d'Andilly,  Chapelain, 
Colletet,  Corneille,  Desmarets,  Scudery,  Tallemant  des  Reaux  u.  a.  m. 
Trotz  dieser  großen  Zahl  von  Dichtern  und  trotz  der  Beihilfe  Corneilles 
ist  das  ganze  doch  nur  eine  Sammlung  fader  Complimente,  welche  von 
den  Blumen  der  Reihe  nach  der  vergötterten  Julie  gespendet  werden.^) 
Diese  konnte  sich  trotz  solcher  Liebesbeweise  nur  schwer  und  spät  zur 
Heirat  entschließen.  Ein  nettes  Geschichtchen  erzählt,  sie  habe  den  Herzog 
erst  nach  allen  Regeln  der  Liebesgesetze  und  der  Galanterie  14  Jahre 
hingehalten;  er  habe,  wie  es  die  Karte  des  „Reichs  der  Liebe"  vor- 
schrieb, und  wie  die  Precieusen  Molieres  es  von  ihren  Liebhabern  ver- 
langen, die  weite  Reise  machen  müssen  über  die  Ortschaften  „  Jolis  Vers" 
und  „Epitres  galantes''  nach  dem  Städtchen  „Complaisance",  von  da 
nach  „Petits  Soins"  und  „Assiduites",  um  nach  längerem  Aufenthalt  in 
der  Stadt  „Tendre"  am  Fluß  „Estime",  endlich  in  der  Hauptstadt  des 
Landes,  in  „Tentre",  am  Fluß  „Neigung"  an  das  Ziel  seiner  Wünsche 
zu  gelangen.  Schade  nur,  daß  diese  so  geistvolle  Karte  eine  spätere  Er- 
findung der  precieusen  Madeleine  de  Scudery  ist  und  zur  Zeit,  da  das 
Hotel  Rambouillet  blühte,  noch  nicht  bekannt  war.  Es  ist  auch  nicht  an- 
zunehmen, daß  die  Damen  dieses  Kreises  schon  ähnlich  übertriebene 
Ideen  gehegt  hätten.  Montausier  war  als  Marechal  de  camp  mehrmals 
auf  lange  Zeit  abwesend,  im  Elsaß  und  in  Deutschland.  Dazu  kam,  daß 
er  drei  Jahre  jünger  war  als  Julie  und  zur  protestantischen  Kirche  ge- 
hörte. Erst  als  er  zur  katholischen  Kirche  übergetreten  war,  sah  er 
seine  Wünsche  erhört.  Er  heiratete  1645  und  nahm  später  am  Hof 
Ludwigs  XIV.  eine  bedeutende  Stellung  ein.  Seines  derben  Freimuts  halber 
bekannt,  galt  er  lange,  obwohl  irrtümlich,  als  das  Vorbild  für  Molieres 
„Menschenfeind". 

Die  jüngste  Tochter  der  Marquise,  Angelique  d'Angennes,  wurde 
im  Jahr  1658  mit  dem  Grafen  Adhemar  Monteil  de  Grignan  vermählt, 
starb  aber  schon  im  Jahr  1664.  Grignan  heiratete  noch  zweimal,  und 
seine  dritte  Frau  war  die  Tochter  der  Marquise  von  Sevigne. 

Doch  das  fällt  in  eine  spätere  Zeit.  Das  Hotel  Rambouillet  erlebte 
noch  das  Aufblühen  der  klassischen  Litteratur,  den  Ruhm  Corneilles. 
Allein  seit  der  Ehe  der  ältesten  Tochter  löste  sich  der  Kreis  allmählich. 
Bald  kam  die  Nachricht  von  dem  Tod  des  jungen  Marquis  auf  dem 
Schlachtfeld.  Das  Haus  wurde  stiller.  Die  Marquise,  nun  schon  bei  Jahren 
und  von  zarter  Gesundheit,  zog  sich  mehr  und  mehr  zurück.  .Der  Aus- 
bruch der  Fronde  rief  viele  Freunde  des  Hauses  ins  Feld,  und  so  endigte 
jene  schöne  Geselligkeit  ganz.  Der  Marquis  starb  1652,  und  die  edle 
Frau,  seine  Gattin,  folgte  ihm  im  Jahr  1665,  im  77.  Lebensjahr. 

Das  Hotel  Rambouillet  hatte  die  Aufgabe  erfüllt,  die  ihm  in  dem 
Kampf  gegen  die  Verwilderung  der  Sitten  und  der  Sprache  gestellt  war. 
Daß  sich  schließlich  Manieriertheit  einschlich,  ist  ein  Vorwurf,   der  den 


')  Die  „Guirlande  de  Julie"  ist  nach  dem  noch  erhaltenen  Original  öfters 
abgedruckt  worden,  z.  B.  in  Livet,  Precieux  et  Precieuses,  'jme  ed.^  Paris  1870, 
Didier  &  Cie. 


106 


Kreis  der  Marquise  nicht  allein  trifft,    denn  diese  Richtung    lag  in  der 
ganzen  Zeit. 

In  der  Geschichte  der  Litteratur  und  der  Gesellschaft  würde  man 
oft  des  Hotel  Rambouillet  mit  größerer  Anerkennung  gedacht  haben,  wenn 
sich  nicht  neben  und  nach  ihm  kleinere  Koterien  und  schöngeistige  Kreise 
geformt  hätten,  welche  es  nachahmen  wollten,  und  sein  Streben  dabei  zur 
Karikatur  verzerrten.  Gegen  das  Treiben  dieser  späteren  „Precieusen" 
erhob  sich  mit  Recht  der  gesunde  Sinn  des  Volkes,  und  sie  verschwanden^ 
wie  wir  später  sehen  werden,  von  dem  Hohn  und  Spott  des  Publikums 
verfolgt,  unter  den  vernichtenden  Streichen  Molieres.') 


1)  Außer  den  bereits  angeführten  Werken,  die  von  dem  Hotel  Rambouillet 
sprechen,  vergleiche  man  noch  P.  L.  Roederer,  Memoire  pour  servir  ä  l'histoire 
de  la  societe  polie  en  France  (Paris  1835,  Firmin  Didot  freres);  Victor  Cousin, 
La  societe  fran^aise  au  XVIIme  siecle,  d'apres  le  „Cyrus"  de  Mademoiselle  de 
Scudery  (2  vols.,  Paris  1858,  Didier  &  Cie.)  und  desselben  Autors:  La  jeunesse 
de  Madame  de  Longueville  (ebendaselbst);  Walckenaer,  Memoires  touchant  la 
vie  et  des  ecrits  de  la  marquise  de  Sevigne  (Paris  1856,  Firmin  Didot  freres, 
Bd.  I,  Kap.  4  und  5). 

Wie  sehr  sich  der  Kreis  des  Hauses  Rambouillet  von  den  gezierten  Pre- 
cieusen  unterschied,  beweist  auch  ein  Brief  Balzacs  an  Chapelain  vom  letzten 
September  1638,  worin  es  heißt:  „II  y  a  longtemps  que  je  me  suis  declare 
contre  cette  pedanterie  de  l'autre  sexe  et  que  j'ay  dit  que  je  souffrirois  plus 
volontiers  une  femme  qui  a  de  la  barbe  qu'une  femme  qui  fait  la  s^avante... 
On  ne  parle  jamais  du  Cid  qu'elles  ne  parlent  de  l'unite  du  Subject  et  de  la 
regle  des  vingt-quatre  heures.  0  sage  Arthenice!  que  vostre  bon  sens  et  vostre 
modestie  valent  bien  mieux  que  tous  les  argumens  et  que  toutes  les  figures  qui 
se  debitent  chez  Madame  la  **".  Man  vergleiche  ferner  Flechier,  Oraison  funebre 
de  madame  de  Montausier,  worin  es  heißt:  „Souvenez-vous  de  ces  cabinets  que 
Ton  regarde  encore  avec  tant  de  veneration,  oii  l'esprit  se  puriflait,  oii  la  vertu 
etait  reveree  sous  le  nom  d'incomparable  Arthenice,  oii  se  rendaient  tant  de  per- 
sonnes  de  qualite  et  de  merite,  qui  composaient  une  cour  choisie,  nombreuse 
Sans  confusion,  modeste  saus  contrainte,  savante  sans  orgueil,  polie  sans  affec- 
tation". 


VII. 

Die  Ausbildung  der  Prosa. 


Balzac  und  Voiture. 

In  dem  Kreis  der  Marquise  von  Kambouillet  sahen  wir,  neben 
anderen  Schriftstellern  und  Dichtern,  zwei  Männer  verkehren,  die  in  der 
Geschichte  der  französischen  Prosa  eine  ähnliche  Stelle  einnehmen,  wie 
sie  Malherbe  in  der  Entwicklung  der  poetischen  Sprache  errungen  hat. 
Balzac  und  Voiture  waren  es,  welche  der  Prosa  korrekte  Schönheit, 
Wohlklang  und  Geschmeidigkeit  gaben,  und  damit  die  Arbeit  so  vieler 
früheren  Schriftsteller  glücklich  ergänzten. 

Das  Ideal,  das  jener  Zeit  vorschwebte,  lag  in  der  schönen  Ord- 
nung des  Lebens.  Das  17.  Jahrhundert  rang  mit  der  Form,  Was  es 
an  geistigem  Besitz  hatte,  genügte  ihm  vollkommen ;  es  kannte  keine  ihm 
selbst  unverständliche  Sehnsucht,  keinen  Traum  von  höherem  Menschen- 
glück in  kommenden  besseren  Zeiten,  darum  auch  keine  krampfhafte  An- 
strengung, diese  in  vorschauendem  Geist  erkannten  Güter  zu  erringen. 
Es  war  in  sich  zufrieden ;  besaß  es  auch  vielleicht  nicht  viel,  so  war 
es  doch  ruhig  und  in  Harmonie  mit  sich  selbst ;  ihm  galt  es  nur,  seinen 
Besitz  zu  festigen  und  ihm  jene  äußere  Form  und  jene  Ordnung  zu 
geben,  welche  seinen  Wert  erhöht  und  zugleich  sichert.  Ob  König 
Heinrich  die  Regierung  seines  Landes  mit  sicherer  Hand  reorganisiert, 
ob  die  vornehmen  Kreise  neben  dem  Luxus  des  Lebens  auch  die  Fein- 
heit des  geselligen  Umgangs  erstreben,  ob  man  sich  an  zarten  poetischen 
Gebilden  erfreut,  überall  zeigt  sich  als  Grundgedanke  die  Sorge  um  die 
feste  Form.  Das  Leben  soll  sich  für  die  bevorzugten  Klassen  glänzend, 
heiter  und  mühelos  gestalten,  und  in  dieser  höheren  epikuräischen  Weise 
aufgefaßt,  schließt  der  Lebensgenuß  geistiges  Interesse  nicht  aus.  Aber 
nur  in  besonders  glücklichen  Jahrhunderten  und  bei  hochbegabten  Völkern 
kann  sich  Formgefühl  und  geistige  Größe  in  glücklicher  Harmonie  ver- 
einigen, und  es  erhebt  sich  dann  eine  Kultur,  welche  für  Jahrtausende 
hinaus  ihre  Bedeutung  für  das  Menschengeschlecht  bewahrt. 

Zu  diesen  seltenen  bevorzugten  Zeiten  gehörte  das  17.  Jahrhundert 
nicht.  In  dem  Bemühen,  die  Schönheit  der  Form  zu  finden,  vernach- 
lässigte es  öfters  den  geistigen  Inhalt  seiner  Schöpfungen,  und  bedachte 
nicht,  daß  es  damit  auch   die  erstere  gefährdete. 

Das  haben  wir  schon  an  den  ßeformbestrebungen  Malherbes  ge- 
der  die  poetische  Sprache  regelte  und  klärte.     Auch  die  Sprache 


108 

betrachtete  man  mit  Recht  als  ein  Kunstwerk,  das  die  sorgfältigste  Be- 
handlung verlange.  Die  poetische  Sprache  aber  entwickelt  sich  immer 
rascher  und  findet  schneller  die  entsprechende  Form.  Schwieriger  und 
langsamer  ist  die  Ausbildung  der  Prosa.  Erst  nach  mühevoller  Arbeit 
gelangt  dieselbe  in  ihrer  Entwicklung  so  weit,  daß  sie  jeder  noch  so 
leichten  Schattierung  des  Gedankens  richtigen  Ausdruck  verleihen  kann. 
Erst  wenn  das  Volk  selbst  eine  gewisse  Reife  erlangt  hat,  wird  auch 
seine  Sprache  genugsam  erstarken,  um  in  der  Prosalitteratur  eine  Zeit 
klassischer  Schönheit  zu  ermöglichen. 

Um  diese  Entwicklung  der  Sprache  hatten,  wie  schon  gesagt, 
Balzac  sowohl  wie  Voiture  großes  Verdienst.  Wenn  man  jedoch  die 
beiden  Männer  nebeneinander  nennt,  so  geschieht  dies  nur,  weil  sie  ein 
gleiches  Ziel  verfolgten. 

Denn  darauf  beschränkt  sich  ihre  ganze  Ähnlichkeit.  Im  Charakter, 
in  der  Lebensweise,  in  ihren  Schicksalen  waren  sie  grundverschieden, 
und  die  Sprache,  die  sie  redeten,  weist  einen  ähnlichen  Gegensatz  auf. 
Balzac  ging  hauptsächlich  von  den  Lateinern  aus,  seine  Vorbilder  waren 
Cicero  und  Seneca;  pedantisch  ernsthaft,  wahrte  er  in  allen  Fällen  seine 
Grandezza,  und  in  der  Einsamkeit  eines  ländlichen  Asyls,  ohne  Fühlung 
mit  dem  Leben  der  Nation,  wurde  er  mehr  und  mehr  einseitig  und 
manieriert.  Voiture  dagegen  war  warmblütig  von  Natur,  dabei  ober- 
flächlich, ein  Mann  des  heiteren,  geselligen  Lebens,  von  mancherlei 
Stürmen  in  der  Welt  umhergetrieben.  Ausschließlich  von  dem  Streben 
geleitet,  zu  gefallen,  haschte  er  fortwährend  nach  Witz  und  begnügte 
sich  nur  zu  leicht  mit  dem  falschen  Schein  geistreichen  Wesens. 

Dennoch  gehören  beide  Männer  zu  einander,  denn  sie  ergänzen 
sich  gewissermaßen.  Balzac  gab  der  Sprache  die  Würde,  die  Rundung 
und  den  harmonischen  Fall  der  Sätze;  dafür  lehrte  sie  Voiture  die 
Anmut  in  heiterem  Scherz,  die  Leichtigkeit  im  gefälligen  Nichts  der 
Plauderei. 

Balzac  war  um  einige  Jahre  älter  als  Voiture,  und  erhob  sich 
früher  als  dieser  zu  litterarischem  Ruhm.  Ihm  haben  wir  also  zunächst 
unsere  Aufmerksamkeit  zuzuwenden. 

Jean  Louis  de  Guez,  Herr  von  Balzac,  stammte  aus  edlem  Ge- 
schlecht und  war  im  Jahr  1594  zu  Angouleme  geboren.  Sein  Vater 
hatte  einige  Zeit  im  Dienst  des  Herzogs  von  Epernon  gestanden,  dann 
aber  sich  in  das  Privatleben  zurückgezogen.^)  Er  selbst  war  in  seiner 
Jugend  nach  Leyden  geschickt  worden,  um  seine  Studien  zu  vollenden. 
Als  der  Herzog  von  Epernon  es  unternahm,  seine  frühere  Gönnerin, 
Maria  von  Medici  aus  Blois,  wohin  dieselbe  verbannt  war,  zu  befreien, 
bediente  er  sich  des  jungen  Balzac,  um  die  nötigen  Schriften  abzufassen. 
Bei  dieser  Gelegenheit  soll  auch  Richelieu,  welcher  der  Königin  damals 
noch  nahe  stand  und  zwischen  ihr  und  Ludwig  XIII.  vermittelte,  auf 
ihn  aufmerksam  geworden  sein.  Wenigstens  erzählt  dies  Balzac  in  einer 


1)  Der  Herzog  von  Epernon  war  lange  Zeit  der  Günstling  Heinrichs  III. 
und  gewann  später  einen  ähnlichen  Einfluß  auf  Maria  von  Medici. 


109 


späteren  Schrift;  er  fügt  hinzu,  Eichelieu  habe  ihm  damals  eine  große 
Zukunft  versprochen  und  zunächst  eine  Abtei  mit  10.000  Livres  jähr- 
licher Eente  in  Aussicht  gestellt,  dann  aber  nichts  von  seinen  Ver- 
sprechungen gehalten.^)  Balzac  vergißt,  daß  er  später  zum  Historio- 
graphen  des  Königs  mit  einem  Gehalt  von  2000  Livres  ernannt  wurde. 
Das  Amt  verpflichtete  zu  nichts,  und  wenn  Balzac  über  die  unregelmäßigen 
Zahlungen  zu  klagen  hatte,  konnte  er  sich  wenigstens  mit  dem  Ge- 
danken trösten,  daß  er  seinerseits  sich  auch  nicht  anstrengte,  seine 
Aufgabe  zu  erfüllen. 

Doch  wir  haben  vorgegriffen.  Im  Jahr  1621  ging  Balzac  als 
Agent  des  Bischofs  von  Toulouse,  de  Nogaret,  der  später  als  Kardinal 
de  La  Valette  bekannter  wurde,  nach  Rom,  verlor  aber  nach  einiger 
Zeit  die  Gunst  seines  Gönners  und  zog  sich  nun  nach  Balzac,  einem 
Gut  seiner  Eltern  an  der  Charente,  zurück.  Er  war  kränklich  und 
scheute  jede  Aufregung.  In  seinen  Briefen  aus  jener  Zeit  spricht  er 
von  Fieber,  Gicht  und  Steinbeschwerden,  und  erzählt,  daß  ein  heftiger 
Blutsturz  ihn  zweimal  an  den  Rand  des  Grabes  gebracht  habe.^)  Darum 
schien  er  nun  auf  jeden  weiteren  ehrgeizigen  Plan  zu  verzichten;  er 
richtete  sich  in  seinem  Tuskulum  in  der  Nähe  von  Angouleme  zu  fried- 
lichem Leben  ein  und  schien  sich  ganz  dem  Heil  seiner  Seele  widmen 
zu  wollen,  wie  er  einem  Freund  schrieb,  dem  er  von  der  Änderung 
seiner  Lebensweise  berichtete.^)  Allein  gar  so  leicht  fand  er  diesen 
Wechsel  doch  nicht.  In  einem  jammervollen  Brief  wendete  er  sich  um 
Hilfe  an  den  Bischof  von  Ayre.  Er  zürne  sich  selbst,  denn  bei  allen 
Bethätigungen  seiner  Frömmigkeit  fühle  er  sich  kalt,  die  Kirche  erscheine 
ihm  wie  ein  Gefängnis.  Er  sei  wol  traurig,  aber  nicht  bußfertig;  und 
wenn  er  manchmal  beschließe,  seine  Lebensweise  zu  ändern,  wenn  ihn 
auch  manchmal  ein  Schimmer  von  Devotion  erleuchte,  so  dauere  dieses 
Licht  nicht  lang.  Darum  möge  der  Prälat  sich  seiner  erbarmen  und 
an  seiner  Bekehrung  arbeiten.*)  Balzac  zeigte  sein  Leben  lang  treue 
Anhänglichkeit  an  die  Kirche  und  frommen  Sinn.  Wie  weit  wir  es  aber 
hier  mit  dem  Ausdruck  wirklicher  Seelenkämpfe  zu  thun  haben,  ist  nicht 
recht  klar.  Der  lange  Brief  ist  zu  rhetorisch;  er  spielt  mit  Antithesen 
und  gefällt  sich  in  Übertreibungen.  Die  majestätische  Form  und  der 
voll  ins  Ohr  fallende  Klang  der  Phrase    gingen  ihm   über  die  Wahrheit 


1)  Balzac,  Entretien  n^*  VIII,  2>ie  histoire.  Siehe  die  neueste  Ausgabe  seiner 
Werke :  Oeuvres  de  J.-L.  de  Guez  de  Balzac,  publiees  sur  les  ancierines  editions 
par  L.  Moreau  (Paris  1854,  J.  Lecoffre  &  Cie.),  2  Bde.  Die  Ausgabe  ist  nicht 
vollständig  und  enthält  nur  eine  etwas  einseitige  Auswahl  der  Briefe  und  Ab- 
handlungen, bringt  aber  alle  Hauptwerke. 

2)  Siehe  Balzacs  Brief  an  den  Bischof  von  Ayre  vom  4.  Juli  1622  und 
Entretien  n"  II. 

3)  Brief  an  Girard  vom  17.  Januar  1623  (Lettres,  livre  III,  n»  13):  „Pour 
moy,  je  suis  absolument  resolu  ä  changer  de  vie,  et  n'avoir  plus  de  soin  que 
de  faire  mon  salut  et  de  procurer  celuy  des  autres".  In  dem  vorhergehenden 
Brief  an  denselben  hatte  er  noch  gesagt :  „J'aime  encore  mieux  le  vice,  pourveu 
qu'il  soit  docile,  que  la  vertu  quand  eile  est  farouche". 

*)  Brief  an  den  Bischof  von  Ayre  vom  20.  September  1623. 


.110 

des  Ausdrucks.  Von  anderer  Seite  wissen  wir  zudem,  daß  man  im 
Haus  Balzac  vortrefflich  speiste  und  der  junge  Herr  sich  sogar  durch 
seine  Erfindungen  auf  dem  Gebiet  der  Kochkunst  auszeichnete.^) 

Zudem  suchte  Balzac  früh  seinen  Euhm  in  der  Stilistik.  Seine 
Briefe  waren  fast  immer  mit  Rücksicht  auf  die  Öffentlichkeit  geschrieben, 
und  schon  im  Jahr  1624  ließ  er  eine  Sammlung  derselben  drucken. 
Sie  erregten  in  dem  allerdings  noch  kleinen  Kreis  von  Kennern  und 
Litteraturfreunden  die  größte  Bewunderung.  Balzac  galt  mit  einem  Mal 
als  der  erste  Schriftsteller  seiner  Zeit,  als  der  unübertroffene  Meister 
der  französischen  Sprache.  In  der  That  weisen  die  Briefe  in  der  Form 
einen  bedeutenden  Fortschritt  auf.  Klar,  abgemessen,  in  runden,  schön 
gefeilten  Perioden  floß  ihre  Prosa  dahin.  Doch  umso  ärmlicher  war  ihr 
Inhalt.  Schwerfällige  Komplimente,  Freundschaftsbeteuerungen,  nichts- 
sagende politische  Bemerkungen  füllen  den  größten  Teil  seiner  Briefe. 
Diejenigen,  in  welchen  er  sich  etwas  natürlicher  zeigt  und  sich  selbst 
offener  giebt,  sind  selten.  Dahin  gehört  u.  a.  ein  Brief  an  La  Motte- 
Aigron,  einen  Advokaten  in  Angouleme.  Balzac  beschreibt  ihm  darin 
sein  Haus,  das  waldige  Thal  umher,  seine  Spaziergänge  am  Ufer  der 
Charente  und  die  Un Verdorbenheit  des  Volkes.^)  Daneben  finden  sich  dann 
wieder  Briefe,  in  welchen  er  die  Frage  behandelt,  ob  die  Engel  eine 
Seele  haben,  oder  in  welchen  er  von  der  Notwendigkeit  spricht,  demütig 
^u  sein,  keine  neuen  religiösen  Satzungen  zu  machen,  sondern  sich  mit 
der  Weisheit  der  Väter  zu  begnügen.^)  Ein  andermal  spricht  er  sich 
geringschätzig  über  die  Kunstwerke  in  Neapel  und  Venedig  aus.  Er 
interessiere  sich  nicht  für  derlei  Dinge,  denn  dem  Marmor  fehle  die  Gabe 
des  Worts,  und  die  Gemälde  seien  nie  so  schön  wie  die  Wahrheit.*)  So 
erscheinen  uns  die  Briefe,  gleich  allen  anderen  Briefen  Balzacs,  die  später 
veröffentlicht  wuiden,  nur  als  frostige,  rhetorische  Übungen  eines  phantasie- 
losen, kühlen  Mannes,  dessen  geistiger  Horizont  sich  nicht  weit  erstreckte. 

Einige  Jahre  nach  der  Sammlung  der  Briefe,  im  Jahr  1631,  ver- 
öffentlichte Balzac  sein  erstes  größeres  Werk:  „Le  Prince",  in  welchem 
er  das  Bild  Ludwigs  XIII.  und  zugleich  das  Ideal  eines  christlichen 
Fürsten  zu  zeichnen  sich  bemühte.  Das  Buch  macht  Ansprüche  auf  poli- 
tische Bedeutung.  Balzac  nimmt  darin  die  Miene  eines  scharfsichtigen 
Staatsmanns  an,  den  man  nicht  in  Unthätigkeit  lassen  soll.  Er  will  eine 
Darstellung   der  inneren  und   äußeren  Politik   Franki'eichs   geben,    allein 


1)  Siehe  einen  Brief  Yoitures  an  Costar  ohne  Datum :  „Monsieur  de  Balzac 
n'est  pas  moins  elegant  dans  ses  festins  que  dans  ses  livres.  II  est  magister 
dicendi  et  coenandi.  II  a  un  certain  art  de  faire  bonne  chere,  qui  n'est  gueres 
moins  ä  estimer  que  sa  Ehetorique,  et  entre  choses,  il  a  invente  une  sorte  de 
potage  que  j'estime  plus  que  le  Panegirique  de  Pline  et  que  la  plus  longue 
harangue  d'Isocrate."  (Lettres  de  Voiture,  publiees  par  Amedee  Eoux.  Paris  1856, 
Didot  freres,  S.  278.) 

2)  Vom  4.  September  1622. 

3)  Über  den  Geist  der  Engel  s.  seinen  Brief  an  Boisrobert,  3.  Buch,  nr.  IX 
der  Briefe.  —  Vergl.  ferner  den  Brief  an  Boisrobert,  Buch  III,  nr.  6. 

*)  Brief  an  den  Bischof  von  Äyre,  Buch  I,  nr.  11. 


111 

seine  Ausführungen  beweisen  nur,  wie  sehr  ihm  jedes  geschichtliche  Ver- 
ständnis und  jeder  staatsmännische  Blick  abgingen. 

Gewissermaßen  als  Einleitung  giebt  er  eine  Beschreibung  'seines 
sorglosen  Lebens,  das  zwischen  Studien,  Unterhaltung  und  Spaziergängen 
geteilt  ist.  Er  erzählt  dann,  wie  er  auf  einer  seiner  kleinen  Wanderungen 
an  dem  Ufer  der  Charente  eines  Tags  einen  holländischen  Edelmann 
getroffen  habe,  der  sich  aus  der  Sklaverei  in  Algier  gerettet  hätte.  Dieser 
habe  ihm  viel  von  seinen  Erlebnissen  erzählt,  u.  a.  auch  von  einem 
seiner  Leidensgefährten,  einem  Franzosen,  der  mit  einem  andern  Sklaven, 
einem  Spanier ,  über  die  Festigkeit  von  La  Kochelle  in  Zwist  geraten 
und  schließlich  von  demselben  erschlagen  worden  sei.  Balzac  findet  den 
glühenden  Patriotismus  des  Spaniers  bewunderungswürdig,  und  tadelt  die 
Undankbarkeit  des  französischen  Volkes,  das  seinen  König  Ludwig  den 
Gerechten  nicht  laut  genug  preise.  Ludwig  habe  Frankreich  den  Frieden 
wiedergegeben,  und  so  dürfe  man  sich  nicht  mehr  auf  stumme  Be- 
wunderung beschränken,  und  auch  er,  Balzac,  wolle  nun  das  Schweigen 
brechen. 

Dies  führt  ihn  zu  seinem  eigentlich  Thema,  der  inneren  Politik 
Ludwigs  XIIL,  die  er  im  ersten  Teil  seines  Buchs  behandelt.  Er  feiert 
zunächst  die  Einnahme  von  La  Eochelle,  dem  Asyl  aller  Übelgesinnten. 
Jetzt  erst  sei  Frankreich  völlig  geheilt  und  der  Friede  für  lange  Zeit 
gesichert.  Denn  gegen  des  Königs  Macht  könne  künftig  niemand  mehr 
streiten.  Diesen  Ausführungen  folgt  ein  begeisterter  Hymnus  auf  den 
Monarchen.  Doch  verwahrt  sich  Balzac  gegen  den  Vorwurf  der  Schmeichelei; 
er  suche  nicht  Unbedeutendes  über  Gebühr  aufzublähen,  sondern  lege 
nur  Zeugnis  von  der  Gegenwart  für  die  Zukunft  ab. 

Die  ganze  Schrift  ist  von  streng  monarchischem  Sinn  erfüllt;  sie 
verteidigt  das  System  der  uneingeschränkten  Monarchie.  Der  König  hat 
nur  Gott  über  sich,  und  nur  gegen  ihn  kann  er  sündigen.^)  Aber  Ludwig 
ist  wahrhaft  frOmm;  ja  er  würde  lieber  Juden  und  Hexenmeister,  die 
erklärten  Feinde  der  Wahrheit,  an  seinem  Hof  zulassen,  als  die  Heuchler, 
welche  das  Gewand  Christi  tragen,  um  ihn  besser  zu  verraten.  Der  König, 
der  in  seiner  Stellung  so  viel  Gelegenheit  zu  fehlen  findet,  ist  trotzdem 
rein  und  keusch;  nicht  aus  Schwäche  des  Temperaments,  sondern  ge- 
stützt von  seiner  Vernunft.  Seine  Vergnügungen  sind  edel,  seine  Thätig- 
keit  ist  unermüdlich,  seine  Gerechtigkeit  unerschütterlich.  In  seiner  Be- 
geisterung preist  Balzac  sogar  die  Ermordung  des  Marschalls  d'Ancre, 
welche  auf  Geheiß  Ludwigs  XHI.  stattfand,  als  eine  rettende  That.  Hat 
doch  auch  Moses  einen  Ägypter  erschlagen!  Ebenso  findet  Balzac  es 
ganz  recht,  daß  der  König  nach  Gutdünken  seine  Unterthanen  ins  Ge- 
fängnis werfen  läßt.  Er  hat  oft  schwere  Sorgen,  und  wenn  er  sie  bannen 
kann  durch  die  Verhaftung  eines  Menschen,  der  ihm  gefährlich  erscheint, 
warum  sollte  er  es  nicht  thunV  Er  straft  diesen  Menschen  ja  nicht, 
er  giebt  ihm  nur  Ruhe.  Freilich  die  Ruhe  des  Gefängnisses ;  doch  welcher 
treue    Diener    wird   nicht   freudig    eine  solche    Haft    erdulden,    wenn   er 


')  Le  Prince,  chap.  VI. 


112 

dadurch  seine  Anhänglichkeit  beweisen  und  die  Befürchtungen  seines 
Herrn  zerstreuen  kann?  Ist  es  nicht  besser,  einen  noch  unschuldigen 
Menschen  vor  einem  möglichen  Fehltritt  zu  bewahren,  als  zu  warten, 
bis  er  schuldig  geworden  ist,   um  ihn  dann  zu  strafen? 

So  weit  war  man  in  wenig  Jahren  gekommen!  Von  dem  Recht 
des  Volkes,  von  seiner  Selbstregierung,  von  seiner  Teilnahme  an  der 
Verwaltung  hat  Balzac  keine  Ahnung  mehr.  Er  verheiTlicht  den  Polizei- 
staat und  die  Willkür,  und  seine  Ansichten  entsprachen  den  Ideen  einer 
großen  Majorität  im  Lande. 

Im  zweiten  Teil  seines  Buchs  wird  die  äußere  Politik  Ludwigs  be- 
trachtet, und  derselbe  als  Vertheidiger  der  europäischen  Freiheit  gepriesen, 
während  Spanien  und  England  aufs  heftigste  angegriffen  werden.  Wir 
brauchen  Balzac  nicht  in  den  weiteren  Ausführungen  zu  begleiten,  zumal 
dieselben  immer  wieder  in  einem  Lob  des  Königs  endigen.  Im  letzten 
Kapitel  wird  Ludwig  noch  als  die  Stütze  Roms  gefeiert.  Er  weiß,  daß 
er  der  Erbe  der  Fürsten  ist,  welche  den  Päpsten  die  Flaminia,  die 
Emilia,  die  Insel  Corsika,  die  Herzogtümer  Spoleto  und  Benevent,  sowie 
alles  Land  zwischen  Parma  und  Lucca  geschenkt  haben;  er  ist  der 
Enkel  dessen,  der  sich  mit  größerem  Recht  als  Konstantin  den  Wohl- 
thäter  der  Kirche  nannte.  Kurz,  Balzac  kennt  keinen  Menschen,  welchen 
König  Ludwig  nicht  übertreffe;  kein  Leben,  das  der  Bewunderung 
würdiger  sei,  als  das  seines  Fürsten. 

Wenn  das  Buch  in  der  Idee  seines  Verfassers  ein  Gegenstück  zu 
dem  „Fürsten"  des  Macchiavell  bilden  sollte,  so  erreichte  es  seinen 
Zweck  nicht,  denn  es  ist  ohne  Geist,  ohne  Geschmack  und  ohne  Takt 
geschrieben;  es  hat  sein  Rüstzeug  größtenteils  aus  dem  Arsenal  der 
philologischen  Gelehrsamkeit  entnommen,  und  verschanzt  sich  hinter 
den  vielfach  entstellten  und  mißverstandenen  Traditionen  der  griechischen 
und  römischen  Geschichte.  Nur  in  der  Form  zeigt  Balzac  sein  Talent; 
er  versteht  es,  die  verschiedenen  Fragen  leicht,  verständlich  und  in 
schöner,  abgerundeter  Sprache  zu  behandeln.  Sein  Werk  erschien,  wol 
nicht  ganz  zufällig,  gerade  zur  Zeit,  da  die  lange  Rivalität  zwischen  der 
Königin-Mutter  und  Richelieu  mit  der  Verbannung  der  ersteren  geendigt 
hatte.  Balzac  erwähnt  diese  Vorgänge  in  den  zwei  Schreiben  an  den 
Kardinal,  die  er  gewissermaßen  als  Widmung  dem  Buch  vorsetzte.  Allein 
er  war  in  seinen  Äußerungen  so  ungeschickt,  daß  er  sowohl  Richelieu 
als  auch  die  Partei  der  Königin,  zu  der  er  früher  selbst  gehört  hatte, 
verletzte.  Dabei  wollte  er  sich  dem  allmächtigen  Minister  als  ein  allezeit 
getreuer  Unterthan  empfehlen.  Er  streite  nie  mit  dem  Steuermann,  der 
sein  Schiff  führe,  und  sei  kein  Freund  von  Neuerungen.  „Ich  beuge 
mich  der  Tyrannei",  sagte  er  ihm,  „wünsche  aber  eine  gerechte  Regierung. 
Wenn  meine  Oberen  lästig  sind,  bin  ich  gelehrig  und  geduldig;  wenn 
sie  sind,  wie  sie  sein  sollten,  bin  ich  ihnen  dankbar  und  in  Liebe 
zugethan. " 

Alle  diese  Winke  blieben  unbeachtet.  Richelieus  Scharfblick  mochte 
den  Mann  der  schönen  Phrasen  längst  erkannt  und  gewürdigt  haben. 
Balzac  gesteht  ein,  daß  er  sich  mehrmals  an  den  Hof  und  zu  Richelieu 


13 


begeben  habe,  um  eine  Stellung-  zu  erlangen,  allein  er  habe  diese  Schritte 
nur  aus  Liebe  zu  seinem  Vater  gethan.  der  für  ihn  ehrgeizig  gewesen 
wäre.  Wie  weit  dies  richtig  ist,  bleibe  dahin  gestellt.  Jedenfalls  änderte 
Balzac  sein  Urteil  über  Richelieu,  als  derselbe  die  Augen  für  immer  ge- 
schlossen hatte.  Der  unvergleichliche  Kardinal,  „dessen  Weislieit  Gott 
die  Regierung  der  ganzen  Erde  anvertrauen  könnte",  und  .,dessen  Greis' 
keine  Grenzen  kennt", ^)  wurde  später  von  ihm  beschuldigt,  das  Unglück 
des  Landes  gewollt  zu  haben. ''^) 

So  blieb  Balzac  denn  in  seiner  stillen  Provinz.  Aber  sein  Ruhm 
litt  nicht  unter  dieser  Isolierung.  Je  ferner  er  stand,  desto  höher  sah 
man  zu  ihm  hinauf.  Von  allen  Seiten  huldigte  man  ihm  und  bat  um 
sein  Urteil;  man  kam  von  weiter  Ferne,  ihn  in  seiner  Heimstätte  auf- 
zusuchen, und  die  neugegründete  Akademie  nahm  ihn  alsbald  unter  die 
Zahl  ihrer  Mitglieder  auf.  Kam  er  einmal  nach  Paris,  was  selten  geschah. 
so  sah  er  sich  gefeiert,  von  dem  gastlichen  Hotel  Rambouillet  willkommen 
geheißen,  als  Schiedsrichter  in  Fragen  der  Ästhetik  angerufen.  In  dem 
Streit,  der  die  litterarischen  Kreise  aus  Anlaß  des  „Cid"'  bewegte,  wendete 
sich  Corneilles  Gegner,  Scudery,  ebenfalls  an  ihn  und  bat  um  sein  Urteil. 
Wir  werden  später  auf  Balzacs  Antwortschreiben  zurückkommen;  hier 
sei  nur  bemerkt,  daß  er  seine  Ansicht  allerdings  in  vorsichtiger  Weise 
äußerte,  um  keine  Partei  zu  kränken,  daß  er  aber  bei  alledem  die  Schön- 
heit des  Corneille'schen  Dramas  rückhaltslos  anerkannte.  Der  Aufenthalt 
in  der  Provinz,  der  manchen  Nachteil  für  ihn  mit  sich  brachte,  hatte 
ihn  wenigstens  vor  den  kleinlichen  Kämpfen  der  Koterien  so  ziemlich 
bewahrt  und  seinen  Blick  frei  erhalten. 

Doch  das  führt  uns  weit  über  die  Grenzen  unseres  Bandes  hinaus, 
der  sich  mit  der  Periode  des  Übergangs  zur  klassischen  Litteratur  be- 
schäftigen soll.  Allein,  um  ein  Gesamtbild  Balzacs  zu  gewinnen,  sei 
hiev  auch  seiner  späteren  Arbeiten  bereits  gedacht. 

Im  Jahr  1G44  gab  er  eine  Sammlung  von  Abhandlungen  (Discours) 
heraus,  welche  sehr  verschiedenartige  Fragen  behandelten.  Bemißt  man 
sie  nach  ihrem  inneren  Wert,  so  bedeuten  sie  allerdings  nicht  viel.  Allein 
sie  waren  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  französische  Litteratur  und  so 
müssen  wir  einige  von  ihnen  näher  betrachten. 

Zunächst  finden  wir  vier  philosophisch-historische  Aufsätze,  welche 
Balzac  für  die  Marquise  von  Rambouillet  geschrieben  hat,  und  die  sich 
mit  den  Römern,  den  edlen  Vorfahren  der  Dame,  beschäftigten..  In  seiner 
ersten  Abhandlung  will  Balzac  den  Charakter  des  römischen  Volkes  be- 
leuchten,  und  er  entwirft  darin  ein  völlig  unwahres,  phantastisches  Bild. 


1)  Lettre  de  Balzac  au  Cardinal  de  Richelieu,  livre  I,  u"  2. 

2)  Siehe  Discours  ä  la  Reine  Regente:  „Mais  parce  qua  si  nous  souste- 
uions  si  atfirmativement  qu'un  Espagnol  qui  est  hors  de  la  Cour  a  commence 
la  quereile,  on  nous  repartiroit  avec  presque  autant  d'affirmation,  qu'un  Fran- 
i;ois  qui  n'est  plus  au  Monde  ne  l'a  pas  voulu  tinir,  et  qu'ayant  dessein  de  per- 
petuer  nos  maux,  pour  rendre  eternelle  son  authorite,  il  a  tousjours  niesle  son 
ambition  daus  la  justice  de  la  cause  de  la  France,  je  ne  suis  pas  d'avis  que 
nous  examinions  cette  question  avec  trop  de  curiosite." 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  o 


114 

Er  schildert  den  Römer  als  das  Ideal  unerschütterlicher  Mannestugend ; 
als  einen  Mann,  der  sowol  der  Eitelkeit,  wie  der  Furcht  und  der  Hab- 
sucht unzugänglich  gewesen  sei.  der  gleichzeitig  den  offenen  Angriff  und 
die  geheimen  Machinationen  der  Gegner  zu  Schanden  gemacht  habe.  Für 
eine  so  gesunde  und  starke  Seele  habe  es  keine  Gefahr  gegeben. 

Mit  diesem  Lob  nicht  zufrieden,  bespricht  Balzac  in  einem  zweiten 
Aufsatz  die  Gabe  der  Römer  für  die  gesellige  Unterhaltung  und  haupt- 
sächlich für  die  Konversation  Damit  will  er  der  Marquise  besonders  an- 
genehm sein,  und  wir  ersehen  aus  seiner  Schilderung  der  römischen 
Gesellschaft  deutlich  das  Ziel,  das  seiner  Gonnerin  vorschwebte.  Balzac 
holt  weit  aus,  denn  er  beginnt  seinen  Aufsatz  mit  Aristoteles.  Ohne  solchen 
gelehrten  Apparat  geht  es  nun  einmal  bei  ihm  nicht.  Er  will  beweisen, 
daß  die  Römer  auch  auf  diesem  Gebiet  die  Griechen  übertroffen  haben. 
Die  römische  Urbanität  habe  höher  gestanden,  als  der  Atticismus.  In 
dem  vertrauten  Kreis  der  römischen  Gesellschaft  habe  man  zweifelsohne 
jene  nachlässige  Grazie  und  jene  natürliche  Anmut  gefunden,  die  freilich 
der  Regeln  spotte,  und  darum  den  Gelehrten  unverständlich  bleibe. 

Balzac  wußte  genau,  zu  wem  er  sprach.  Aber  gleich  als  ob  er 
seinen  Satz  von  dem  Ungeschmack  der  Gelehrten  drastisch  beweisen 
wollte,  fuhr  er  in  seiner  Begeisterung  fort  und  lehrte,  daß  ein  Volk, 
welches  gefangene  Könige  durch  die  Straßen  seiner  Hauptstadt  habe 
schleppen  sehen,  nichts  Gemeines  in  seinem  Geist  bewahrt  habe.  Selbst 
die  Hefe  des  Volkes  sei  noch  „precieux"  gewesen.  Niemals  hätten  die 
Römer  ihre  Größe  gänzlich  ablegen  können ;  sie  hätten  nie  eine  Bewegung 
gemacht,  die  ihrer  weltbeherrschenden  Stellung  unwürdig  gewesen  wäre, 
ja  sie  hätten  selbst  mit  Würde  gelacht  und  gespielt. 

Bei  dem  Ansehen,  das  Balzac  allgemein  genoß,  sind  diese  Auf- 
sätze nicht  zu  übersehen.  Sie  wirkten  bestimmend  auf  das  Urteil  vieler 
Kreise  Hatte  man  sich  schon  früher  gewöhnt,  die  altrömische  Welt  als 
den  Inbegriff  heroischer  Größe  anzusehen,  so  erhob  Balzac  diese  Idee 
nun  fast  zur  Höhe  eines  Dogmas.  Bjvor  er  seine  Aufsätze  drucken  ließ, 
hatte  er  sie  schon  der  Marquise  einge3.inlt,  und  es  ist  nicht  unmöglich, 
daß  Corneille  sie  d)rt  gelesen  u;il  in  ihnen  die  Ermutigung  gefunden 
hat.  die  Heldenfigureu  seiner  römischen  Tragödien  mit  jener  herben,  oft 
über-,  wenn  nicht  unmenschlichen  Größe  auszustatten.  Jedenfalls  ist  die 
Übereinstimmung  der  beiden  Männer  in  ihren  Ansichten  von  der  alt- 
römischen Welt  hervorzuheben,  denn  eben  diese  Ansichten  haben  geholfen, 
die  französische  Tragödie  in  ihrer  steifen  Feierlichkeit  zu  bestärken. 

Umsomehr  überrascht  es,  Balzac  in  zwei  weiteren  Abhandlungen: 
„Über  die  Beredsamkeit"  und  „Über  das  Lustspiel",  als  den  eifrigen 
Verteidiger  einer  natürlichen  und  lebenswahren  Dichtung  gegenüber  der 
gezierten  Eleganz  zu  finden,  welche  aus  Italien  her  sich  einschlich. 
Besonders  in  dem  letzten  Aufsatz  tadelt  er  das  Streben,  alles  in  falscher 
Weise  zu  idealisieren.  Eine  ländliche  Scene  z.  B.  müsse  eine  gewisse 
natürliche  Derbheit  bewahren  und  nicht  nach  gesuchter  Feinheit  haschen. 
In  solchen  Stücken  seien  die  Hütten  oft  nach  dem  Plan  der  Paläste  gebaut. 
Allerdings  spricht  Balzac  nur  von  italienischen  Schauspielen  und   deren 


115- 


französischen  Nachahmungen,  doch  ist  es  schwer,  bei  seinen  Worten 
nicht  auch  an  „Asträa^'  zu  denken.  „Wir  sahen  geiiünstelte  Menschen, 
gemachte  Leidenschaften  und  gezierte  Handlungen.  Wir  sahen  die  Natur 
gefälscht  und  eine  Welt,  die  nicht  die  unsere  ist.  Wo  man  nur  Klarheit 
und  Milde  gebraucht  hätte,  strebten  unsere  Dichter  nach  Kraft  und 
Glanz."  Er  erhebt  sich  ferner  gegen  die  unglückliche  Idee,  daß  das 
Volkstümliche  aus  der  Poesie  zu  verbannen  und  nur  die  feine,  adelige 
Welt  der  dichterischen  Darstellung  würdig  sei.  Nur  müsse  man  die  ver- 
schiedenen Menschen  auch  je  nach  ihrem  Stande  verschieden  reden  lassen 
und  nicht  alle  so,  als  ob  sie  gerade  von  der  Universität  kämen. ^) 

Aus  den  anderen  Aufsätzen  ist  nur  noch  der  Diskurs  an  die 
Königin-Regentin  Anna  von  Österreich"  hervorzuheben.  Balzac  beschwört 
darin  die  Regentin,  dem  verderblichen  Krieg  in  Deutschland  ein  Ende 
zu  machen  und  Frankreich  den  Frieden  zu  geben.  Das  Volk  sei  im 
tiefsten  Elend ;  Siegesbotschaften  und  der  Ruhm  der  Generale  vermöchten 
nicht  es  zu  ernähren;  es  verlange  mehr  Brot  und  weniger  Lorbeeren. 
„Eure  Majestät  ist  gut!"  ruft  Balzac  ihr  zu:  „Ihr  Herz  ist  nicht  von 
Eisen  oder  Marmor!"  Er  hofft  dabei  mehr  Erfolg  von  ihrer  Frömmigkeit, 
die  den  Himmel  rühren  werde,  als  von  ihrer  Macht.  Und  welch  ein 
Glück,  wenn  der  Friede  dem  Lande  seine  Segnungen  wieder  brächte !  Dann 
sähe  man  keine  Meteore  mehr,  welche  die  Sterne  und  die  Sonne  ver- 
dunkelten, keine  fremden,  furchtbaren  Erscheinungen,  dann  werde  sich 
Frankreich  wieder  verjüngen  und  sein,   wie  es  zur  Zeit  der  Väter  gewesen. 

Die  weiteren  Aufsätze  können  wir  übergehen.  Es  genügt  zu  be- 
merken, daß  Balzac  sich  in  einigen  derselben  wegen  mehrerer  Stellen 
seiner  „Briefe"  und  seines  „Fürsten''  verteidigte,  die  Vortrefflichkeit  des 
Klosterlebens  pries  und  von  dem  Alter  der  christlichen  Kirche  bandelte. 

Sein  Leben  verfloß  still  und  einförmig.  Mit  der  Außenwelt,  besonders 
mit  der  Pariser  litterarischen  Welt,  stand  er  in  regem  Verkehr,  und 
unter  den  Gelehrten  daselbst  war  ihm  besonders  Valentin  Conrart  in 
treuer  Freundschaft  verbunden.  ^)  In  seinen  letzten  Jahren  beschäftigten 
ihn  mehrere  größere  Arbeiten,  von  welchen  er  jedoch  nur  eine,  den 
„Socrate  chrestien",  eine  Reihe  religiöser  Betrachtungen  und  kirchen- 
geschichtlicher Abhandlungen,  im  Jahr  1652  selbst  veröffentlichte. 

Er  starb  am  18.  Februar  1654,  nachdem  er  seinen  Vater  nur 
wenige  Jahre  zuvor,  1650,  im  höchsten  Alter  und  seine  Mutter  erst  im 
Jahr  1653  verloren  hatte.  Gegen  das  Ende  seines  Lebens  einem  strengen 
kirchlich-religiösen  Leben  mit  steigendem  Eifer  zugethan,  hatte  er  sich 
zwei  bequeme  Zimmer  im  Kapuzinerkloster  zu  Angouleme  herrichten 
lassen,  um  einen  Teil  des  Jahrs  daselbst  in  klösterlicher  Stille  zu  ver- 
bringen.    Er    starb  jedoch  nicht  dort,    sondern  während  eines  Besuchs, 


1)  „Ainsi  le  genre  Mediocre  est,  en  quelques  occasions,  le  genre  Parfait, 
soit  dans  la  Poesie,  seit  dans  la  Prose."  Discours  sixiesme.  Response  ä  deui 
questions  ou  du  charactere  et  de  rinstruction  de  la  Comedie.  Ed.  L.  Moreau. 
Bd.  I,  S.  295  u.  298. 

-)  Über  Comart  Genaueres  in  dem  Abschnitt  über  die  Akademie. 

8* 


116 


den  er  bei  seiner  verwitweten  Schwester  in  Angouleme  machte.  In  seinem 
Testament  fanden  sich  die  Kirche  und  die  Armen  als  Erben  seines  Ver- 
mögens eingesetzt.^) 

Die  Veröffentlichung  der  nachgelassenen  Werke  übernahm  Conrart, 
der  im  Jahr  1657  die  „Unterhaltungen"  („Les  Entretiens")  und  ein  Jahr 
später  den   „Aristipp"   herausgab. 

Die  „Entretiens"  enthalten  verschiedenartige  Aufsätze,  meist  moral- 
phüosophischen  Inhalts.  Gewissermaßen  als  Einleitung  spricht  Balzac 
darin  von  der  Annehmlichkeit  eines  in  der  Stille  verbrachten  Lebens. 
..Ich  verkehre  nur  mit  meinen  Freunden  aus  dem  Altertum",  sagt  er 
dabei.  Dann  erzählt  er  einige  Vorfälle  seines  Lebens,-)  und  ergeht  sich 
in  den  folgenden  Aufsätzen  über  die  Eitelkeit,  wobei  er  sich  selbst  gegen 
den  Vorwurf  der  Überhebung  verteidigt,  spricht  ferner  über  die  Kritik, 
über  Montaigne,  über  Ronsard  und  Malherbe,  über  kirchliche  Ceremonien 
und  derlei  Fragen  mehr. 

Im  „Aristipp"  versuchte  Balzac  das  Ideal  eines  Staatsmanns  zu 
zeichnen.  Er  wollte  in  dieser  Schrift,  die  er  von  allen  seinen  Arbeiten 
für  die  beste  hielt,  die  er  „im  Feuer  der  Jugend"  begonnen  hatte  und 
an  der  er  fortwährend  feilte,  ein  Gegenstück  zu  seinem  „Fürsten"  bieten. 
Er  erzählt,  wie  der  Landgraf  von  Hessen  im  Jahr  1618  auf  der  Heim- 
reise von  Spaa  nach  Metz  kam  und  den  Herzog  von  Epernon  besuchte, 
der  dort  residierte.  Kaum  angekommen,  erkrankte  der  Landgraf  und 
mußte  längere  Zeit  in  Metz  verweilen.  In  seinem  Gefolge  befand  sich  ein 
feingebildeter  Edelmann,  ein  Franzose,  dessen  Vorfahren  jedoch  aus 
Deutschland  stammten.  Derselbe  hatte  dem  Landgrafen  vorzulesen,  und 
durch  seine  geistvolle  Unterhaltung  half  er  ihm  über  manche  schwere 
Stunde  hinweg.  Der  Landgraf  nannte  ihn  mit  dem  Freundesnamen 
Aristipp.  Balzac,  der  gerade  in  Metz  war,  machte  die  Bekanntschaft 
dieses  Mannes,  wurde  auch  dem  deutschen  Fürsten  vorgestellt  und  nahm 
Teil  an  seinen  Unterhaltungen.  Aristipp  las  damals  gerade  Tacitus 
vor  und  begleitete  seine  Lektüre  mit  ausführlichen  Erläuterungen.  Diese 
Geschichte  von  dem  Aufenthalt  des  Landgrafen  in  Metz  bildet  gewisser- 
maßen die  Einleitung  zu  dem  Balzac'schen  Buch,  denn  die  Erklärungen 
und  Reden  Aristipps,  welche  dessen  Hauptinhalt  ausmachen,  sind  so 
wieder;,'egeben .  als  habe  Balzac  sie  zu  Hause  nur  aus  der  Erinnerung 
niedergeschrieben. 

Wie  in  seinem  „Fürsten",  so  bewies  Balzac  auch  hier,  daß  er 
kein  Politiker  war.  In  der  Stille  seines  Landlebens  hatte  er  sich  in 
Spekulationen  und  Ideen  vertieft,  die  zur  realen  Welt  in  keiner  Beziehung 
standen.  Die  modernen  Verhältnisse  waren  ihm  fremd,  und  er  maß  sie 
immer  mit  dem  Maßstab  seiner  alten  Geschichte.  Handelt  er  von  der 
Gefahr  des  Monarchen,  welcher  zu  sehr  auf  die  Einflüsterungen  seiner 
Günstlinge  hört,    so   verwahrt  er    sich   schnell,    als    ob  er  einen  König 


1)  Sein  Grab  befand  sich  im  Hospital  „NotrQ  Dame  des  Anges",  bis  seine 
Eeste  1851  in  die  Kapelle  des  jetzigen  Hospitals  übertragen  wurden. 
^)  Entretien  n»  II. 


ir 


tyi-aiinisieren  und  ihm  verbieten  wolle,  einen  Günstling  und  Vertrauten 
zu  wählen.  Habe  doch  auch  Gottes  Sohn  hienieden  einen  Liebling  vor 
allen  anderen  ausgezeichnet.  Er  will  nur  Vorsicht  in  der  Wahl  empfehlen 
und  erinnert  dabei  an  die  Freigelassenen  des  Kaisers  Claudius  und  an 
die  Diener  der  Söhne  Konstantins,  statt  wenigstens  einige  schlagende 
Beispiele  aus  der  Geschichte  seines  Landes  zu  geben,  die  wahrlich  nahe 
genug  lagen.  Geradezu  komisch  wirkt  sein  Wunsch,  der  leitende  Staats- 
minister solle  immer  unvermählt  bleiben.  Zeigt  sich  in  dieser  barocken 
Ansicht  nur  Balzacs  Vorliebe  für  die  klösterlichen  Ideen  und  das  Cölibat, 
oder  glaubte  er  damit  als  feiner  Politiker  dem  herrschenden  Minister, 
dem  Kardinal  Mazarin,  etwas  Angenehmes  zu  sagen? 

Die  verschiedenen  Schriften  des  Mannes  haben  uns  fast  zu  lang 
beschäftigt,  wenn  man  bedenkt,  daß  sie  heute  fast  unbeachtet  bleiben. 
Allein  aus  ihrer  heutigen  Unpopularität  darf  man  nicht  auf  ihre  geringe 
Bedeutung  für  eine  frühere  Zeit  schließen.  Der  Einfluß  Balzacs  auf  seine 
Zeitgenossen  war  allerdings  sehr  groß. 

Betrachten  wir  ihn  als  Menschen,  so  erinnert  er  uns  in  mancher 
Beziehung  an  Malherbe,  obwol  er  milder  und  humaner  ist.  Aber  er  ist  wie 
jener  pedantisch  und  kalt;  trotz  seiner  philosophischen  Resignation  erscheint 
er  überaus  lüstern  nach  Lob.  Er  ist  ohne  Phantasie,  ohne  große  Ideen, 
ohne  höhere  Anschauung,  das  Muster  eines  allzeit  gehorsamen  Unterthaus. 
„Der  Weise  hütet  sich,  diejenigen  zu  reizen,  welche  ihn  verderben  können", 
sagt  er  einmal.  „Die  Unschuld  selbst  wird  schuldig,  wenn  sie  die  Ver- 
folgung veranlaßt." ')  Er  findet  die  Ursache  der  allgemeinen  Schwäche 
und  Feigheit,  des  zerrütteten  Wohlstands  in  Frankreich  in  dem  Umstände, 
daß  man  nicht  mehr  so  viel  Kriegsleute  wie  früher  und  dafür  umsomehr 
Advokaten  und  Bücherschreiber  habe.-) 

In  seinem  Haus  darf  kein  Gespräch  über  Politik,  über  Religion 
und  Philosophie  geführt  werden.")  Er  unterwirft  sich  der  Autorität  der 
Kirche,  überzeugt,  daß  die  Meinung  eines  einzelnen  nie  so  gesund  sein 
kann,  wie  der  allgemein  herrschende  Glaube,  gleich  wie  ein  Wasser- 
tropfen leichter  verdirbt,    als    der  Ocean.*)     Und  so  kümmert  ihn  auch 


i|  Lettre  ä  Mr.  Borstel,  26  avril  1634:  „Les  sages  n'irritent  Jamals  ceux 
qui  les  peuvent  perdre. . .  L'innocence  mesme  se  rend  coupable  lorsqu'elle  attire 
la  persecution". 

2)  Le  Prince,  chap.  XII:  „L'oisivete  ne  peut  entrer  dans  les  Estats  bleu 
policez  par  une  plus  subtile  ny  plus  dangereuse  tromperie  que  celle  des  lettres. 
Ce  sont  ces  personnes  oisives  et  paresseuses,  qui  en  partie  ont  ruine  le  com- 
merce et  Tagriculture,  qui  sont  cause  de  la  foiblesse  de  nostre  Estat  et  de  la 
laschete  de  nostre  Siecle.  Et  si  dans  un  grand  Royaume  on  ne  peut  aujourd'huy 
lever  que  de  petites  armees,  ...  c'est  que  la  pluspart  de  ceux  dont  on  compo- 
seroit  ces  puissantes  et  formidables  armees  embrassent  uue  profession  contraire 
ä  Celle  des  armes  et  qu'il  y  a  un  grand  peuple  inutile,  qui  cousomme  toute  sa 
(iholere  en  procez,  et  ne  se  sert  de  ses  mains  qu'a  faire  des  Escritures  et  des 
Livres."  Man  sieht,  da£>  die  Klagen  über  das  „papierene  Zeitalter"  und  das 
„skrophulöse  Gesindel"  schon  alt  sind. 

3)  Le  Prince,  chap.  I. 

*)  Lettre  ä  l'Evesque  d'Ayre,  20  septembre  1623:  „Quelque  desbauche 
qu'ait  este  mon  esprit,  je  Tay  tousjours  soumis  a  Tauthorite  de  l'Eglise,  et  au 


118 


das  Schicksal  seiner  Mitmenschen  im  ganzen  sehr  wenig.  Er  habe  sich 
gewöhnt,  schreibt  er  von  Rom  an  den  Kardinal  de  La  Valette,  die  poli- 
tischen Vorgänge  um  ihn  her  so  gleichgiltig  zu  betrachten,  als  seien  es 
Ereignisse,  die  man  ihm  aus  Japan  melde.  Man  käme  ja  nie  zu  Eade. 
wenn  man  sich  die  Welthändel  zu  Herzen  nehmen  und  für  das  Volk 
sich  interessieren  wolle.  Wenn  man  alle  Menschen  für  seine  Brüder 
halte,  komme  man  aus  der  Trauer  nicht  heraus.')  Bei  der  Beurteilung 
eines  Menschen  muß  man  freilich  mit  solchen  brieflichen  Äußerungen, 
die  vielleicht  im  Augenblick  der  Ermüdung  geschrieben  sind,  vorsichtig 
sein.  Wenn  sie  aber  durch  die  ganze  Lebensweise  des  Schreibenilen  als 
seine  wirk'liche  Meinung  bestätigt  werden,  gewinnen  sie  doppelt  an 
Gewicht.  Und  dies  ist  bei  Balzac  der  Fall,  der  trotz  seiner  politischen 
Schriften  sich  von  jeder  wärmeren  Teilnahme  an  dem  Geschick  seiner 
Mitmenschen  freihielt.  Dafür  kannte  er  auch  keine  Leidenschaften,  es 
sei  denn  diejenige  des  Stils ;  und  dieses  kühle  Maßhalten  im  Leben  be- 
wahrte ihn  allerdings  vor  manchem  Fehler  in  seinen  Werken,  machte 
aber  auch  jedes  wärmere  Interesse  auf  die  Dauer  für  ihn  unmöglich. 

Als  Schriftsteller  strebte  er  hauptsächlich  nach  der  Vollendung  des 
Stils.  Er  sagt  selbst,  daß  er  oft  tagelang  über  einem  Satz  brüte,  den 
er  nicht  nach  Wunsch  gestalten  könne,  und  so  wie  er  sich  einmal  er- 
laubt hat.  Malherbe  einen  Silbentyrannen  zu  nennen,  so  könnte  man 
ihn  als  Fanatiker  der  Periode  bezeichnen.  Seine  Prosa  ist  wie  ein  sauber 
gearbeitetes  Schnitzwerk,  an  dem  der  Künstler  fortwährend  schneidet  und 
bessert.  Er  ist  einseitig,  aber  in  dieser  Einseitigkeit  liegt  sein  Verdienst. 
Die  Sprache  verdankt  ihm  eine  bedeutende  Förderung,  denn  er  gab  seinen 
Sätzen  zuerst  die  Rundung  und  die  abgemessene  Form;  er  schrieb  immer 
voll  Giavität.  freute  sich  der  Antithesen,  und  behandelte  den  kleinsten 
Umstand  mit  derselben  Wichtigkeit,  mit  welcher  er  eine  Staatsaktion 
besprach.  Was  ihm  fehlte,  war  die  Einfachheit,  die  richtige  Würdigung 
der  Vorhältnisse  um  ihn  her,  und  das  spiegelte  sich  in  seinem  Stil  ab, 
der  darum  bald  in  eine  gewisse  Manier  verfiel,  Seine  Zeitgenossen  konnten 
freilich  diese  Schwäche  nicht  so  leicht  erkennen,  denn  sie  waren  von 
dem  Glanz,  welchen  Balzac  der  Sprache  verlieh,  wie  geblendet,  und 
wußten  nicht  genug  des  Lobs  von  der  Harmonie  und  der  Vollendung 
seines  Stils  zu  sagen.  Er  selbst  hat  sich  über  sein  Talent  sehr  be- 
scheiden geäußert.  Er  habe  gefunden,  was  einige  gesucht  hätten,  d.  h. 
eine  gewisse  kleine  Kunst,  die  Worte  zusammenzufügen  und  jedem  seinen 
richtigen  Platz  anzuweisen.^) 


consentement  des  Peuples.  Et  comme  j'ay  ereü  qu'une  goutte  d'eau  se  pouvoit 
beaucoup  plus  aisement  eorrompre  que  toute  la  mer,  j'ay  pens^  de  mesme  que 
les  opinions  particulieres  ne  s9auroient  Jamals  estre  si  saines  que  les  generales." 

1)  Lettre  au  Cardinal  de  La  Valette.  Livre  II,  n**  1. 

-I  Entretien  n"  III,  ä  Monseigneur  le  marquis  de  Montausier.  —  Abbe 
Cassagne  sagt  in  seiner  Vorrede  zu  der  großen  Ausgabe  der  Werke  Balzacs 
1665:  ,Mr.  de  Balzac  est  venu  en  ce  temps  de  confusion  et  de  desordre,  oü 
toutes  les  lectures  qu'il  faisoit  et  toutes  les  actions  qu'il  entendoit,  luy  devoient 
estre  suspectes ;  oü  11  avoit  ä  se  defier  de  tous  les  maistres  et  de  tous  les  exemples, 


119 


Vertrat  Balzac  hauptsächlich  die  Gelehrten  und  die  Freunde  einer 
gründlich  und  methodisch  zu  Werke  gehenden  Litteratur,  so  repräsentierjte 
Voiture  eine  ganz  andere  Schicht  der  französischen  Gesellschaft.  In  ihm 
spiegelt  sich  die  lebenslustige,  feine,  in  ihrer  Feinheit  schon  vielfach 
raffinierte  vornehme  Welt  wieder,  welche  von  den  dargebotenen  Früchten 
der  Litteratur  wol  kostet  und  sich  an  deren  Süßigkeit  erfreut,  welche 
aber  in  den  Werken  des  Geistes  nur  ein  Mittel  zur  Zerstreuung  sieht 
und  sie  wie  jedes  andere  Vergnügen  nur  als  eine  Annehmlichkeit  be- 
trachtet, um  den  sorglosen  Lebensgenuß  zu  erhöhen. 

Streben  darum  die  beiden  Männer  auch  nach  dem  gleichen  Ziele, 
so  wandeln  sie  doch  sehr  vei'schiedene  Bahnen. 

Voiture  war  mit  dem  geselligen  Leben  der  höheren  Pariser  Kreise 
eng  verflochten,  und  seine  Briefe  schildern  es  uns  in  nnschaulicher 
Weise;  besonders  führen  sie  uns  mitten  in  das  lebendige,  heitere,  elegante, 
manchmal  auch  gesuchte  Treiben  des  HOtel  Rambouillet.  Vincent  Voiture 
stammte  aus  einer  wohlhabenden  Bürgersfamilie  in  Amiens.  Sein  Vat^r 
war  Weinhändler  und  veri^ah  auch  den  Hof  mit  seinen  Lieferungen.  Ja 
mancher  vornehme  Herr  soll  sich  in  seiner  Geldnot  an  ihn  gewandt 
haben,  und  die  Gefälligkeiten,  die  der  Vater  erwies,  haben  dem  Sohn 
gewiß  später  manchen  Weg  erleichtert. 

Geboren  im  Jahr  1598,  erhielt  der  Knabe  eine  sorgfältige  Er- 
ziehung und  kam  frühe  nach  Paris,  wo  er  seine  Studien  vollendete. 
Über  seine  folgenden  Lebensjahre  ist  nicht  viel  bekannt.  Im  Kreise  des 
reichen  Bürgertums  aufgenommen,  sah  er  sich  dort  seines  Witzes  und 
seines  Geistes  wegen  bewundert.  Als  er  eines  Tags  einer  Fi'au  de  Saintot. 
zu  der  er  intime  Beziehungen  hatte,  ein  Exemplar  des  „Rasenden  Roland" 
schickte,  begleitete  er  seine  Sendung  mit  einem  langen  Brief,  der  als 
das  Muster  eines  geistvollen  Schreibens  galt  und  durch  den  Druck  in 
weiten  Kreisen  verbreitet  ward.  Voiture  schrieb  darin,  Roland  habe  nie 
ein  schönei-es  Abenteuer  gehabt,  als  das,  was  ihm  gestatte,  Frau  de 
Saintot  die  Hand  zu  küssen.  Die  schöne  Frau  möge  nicht  erschrecken, 
wenn  auch  die  ganze  Welt  den  Helden  als  rasend  bezeichne;  in  ihrer 
Gegenwart  werde  er  sicher  sanft  werden  und  seine  Angelika  vergessen. 
In  diesem  Ton   geht   es    so    lange  fort,    bis   die  Galanterie    zur  Fadheit 

et  Oll  11  ne  poiivoit  airiver  ä  son  but  qii'en  s'esloignant  de  tous  les  ehemins 
battus,  ny  mancher  dans  la  bonne  route  qu'apres  se  l'estre  ouverte  ä  luymesme. 
II  l'a  ouverte  en  effet  et  pour  luy  et  pour  les  aiitres.''  Dali  es  ^alzac  auch  an 
Gegnern  nicht  fehlte,  zeigt  Sorel  in  seiner  „Histoire  de  Francion",  von  der 
später  die  Rede  sein  wird.  Darin  kommt  ein  Pedant  Hortensius  vor,  welcher 
die  Ptedeweise  Balzacs  persifliert. 

Die  erste  Gesamtausgabe  der  Schriften  Balzacs  wurde  von  Courart  im 
Jahr  1665  besorgt  und  erschien  in  zwei  Foliobänden  in  Paris.  Auiier  der  schon 
citierten  Ausgabe  von  L.  Moreau  giebt  es  noch  eine  andere  von  Malitourne. 
Neuerdings  hat  man  noch  eine  Anzahl  bisher  unbekannter  Briefe  Balzacs  ge- 
funden. Sie  sind  von  M.  Tamizey  de  Larroque  in  dem  ersten  Band  der  „Me- 
langes  Historiques  *  iin  der  „Coliection  des  documents  inedits  sur  l'histoire  de 
la  France")  1873  mitgeteilt  worden.  Man  vergleiche  ferner:  Villemain,  Discours 
d'ouverture  du  cours  d'eloquence  franraise,  und  Sainte-ßeuve,  Port-Royal,  t.  11, 
chap.  VIII,  IX  und  Appendice. 


120 


wird.^j  Der  ßuhm,  den  sich  Voiture  auf  solche  Weise  erwarb,  führte  ihn 
weiter,  und  er  sah  sich  bald  in  das  Hotel  Rambouillet  eingeführt.  Genau 
zu  bestimmen,  wann  dies  geschah,  ist  schwer,  denn  die  Briefe  Voitures, 
welche  uns  darüber  am  besten  aufklären  könnten,  sind  meist  ohne  Datum. 
Man  sieht,  die  Marquise  war  nicht  engherzig  in  der  Wahl  ihrer  Be- 
kannten, denn  Voiture  hatte  weder  Adel  noch  litterarischen  Ruhm  für 
sich;  er  stand  nur  im  Ruf  eines  witzigen  Kopfes,  und  das  genügte.  Bald 
war  er  in  der  neuen  Gesellschaft  heimisch.  Er  sei  dort  neu  geschaffen 
worden,  sagte  er  einmal,  und  jedenfalls  fand  er  im  Hotel  Rambouillet 
den  Platz,  der  ihm  am  meisten  behagte.  Dort  war  er  in  seinem  Element 
.und  gehörte  bald  zu  den  gern  gesehenen  Gästen.  Er  verstand  es,  in  den 
fröhlichen  Ton  des  Hauses  getreulich  mit  einzustimmen,  und  bei  seiner 
Geschmeidigkeit  und  seinem  geselligen  Talent  erwarb  er  sich  die  Vor- 
rechte eines  Vertrauten.  Wie  Voltaire  100  Jahre  später  mit  dem  höch- 
sten Adel  umging  und  im  Ton  der  Vertraulichkeit  mit  ihm  verkehrte, 
ohne  doch  am  geeigneten  Ort  die  äußeren  Rücksichten  außer  acht  zu 
lassen,  so  auch  Voiture.  Nur  daß  Voltaire  geistig  unendlich  viel  höher 
stand,  und  ein  Jahrhundert  gesellschaftlicher  Kultur  die  Sitten  abge- 
schliffen hatte.  Voltaire  hätte  es  nicht  für  einen  guten  Scherz  gehalten, 
seine  hohe  Gönnerin  dadurch  zu  erschrecken,  daß  er  ihr,  die  in  ihrem 
Schlafzimmer  lag  und  in  ein  Buch  vertieft  war,  plötzlich  zwei  Tanz- 
bären vor  das  Bett  führte,  wie  dies  Voiture  sich  einmal  wirklich  er- 
laubt hat. 

Dafür  mußte  er  sich  gefallen  lassen,  das  Opfer  ähnlicher  Streiche 
zu  sein.    Eines  Tags  wurde  er  in   einer  Stunde   des  Übermuts   und    der 


^)  Den  Ton,  welcher  damals  herrschte,  zu  kennzeichnen,  seien  übrigens 
auch  einige  Strophen  des  Gedichts  mitgeteilt,  das  Voiture  an  dieselbe  Dame 
richtete,  als  sie  beide  auf  einer  Spazierfahrt  mit  dem  Wagen  umgeworfen  wurden 
und  die  Kleider  der  Dame  dabei  in  Unordnung  gerieten.  Voiture  besang  in  elf 
sechszeiligen  Strophen,  was  er  gesehen  hatte,  und  das  Gedicht  kursierte  ü"berall. 
Es  heißt  darin: 

Ij   Philis,  je  suis  dessous  vos  loix: 

Et  sans  remede  ä  cette  fois 

Mon  ame  est  vostre  prisonniere. 

Mais  sans  justice  et  sans  raison, 

Vous  m'avez  pris  par  le  derriere: 

N'est-ce  pas  une  trahison? 

2)  Je  m'estois  garde  de  vos  yeux: 
Et  ce  visage  gracieux, 
Qui  peut  fair  paslir  le  nostre, 
Contre  moy  n'ayant  point  d'appas, 
Vous  m'en  avez  fait  voir  un  autre 
De  quoy  je  ne  me  gardois  pas. 

8)   Oa  ni'a  dit  qu'il  a  des  defaux 
Qui  me  causeront  mille  maux. 
Car  il  est  farouche  a  raerveilles ; 
II  est  dur  comme  un  diamant, 
II  est  sans  yeux  et  sans  oreilles, 
Et  ne  parle'  que  rarement. 


121 


Laune  auf  Befehl  des  Fräuleins  von  Rambouillet,  der  später  so  oft  ge- 
nannten Julie  d'Angennes,  und  ihrer  Freundin,  des  Fräuleins  Faulet, 
tüchtig  ,.geprellt";  gleich  dem  guten  Sancho  Pansa  in  der  Schenke,  die 
sein  Herr  für  ein  Schloß  hielt  und  darum,  ohne  die  Zeche  zu  zahlen, 
verließ.  Voiture  erzählt  diesen  Spaß  selbst  in  einem  Brief  an  die  Prinzessin 
von  Bourbon,  die  spätere  Herzogin  von  Longueville.  „Mein  Fräulein", 
schreibt  er,  „Freitag  Nachmittag  nach  Tisch  wurde  ich  geprellt,  weil 
ich  Sie  nicht  in  der  bestimmten  Zeit  erheitert  hatte;  auf  Antrag  des 
Fräuleins  vonKambouillet  und  des  Fräuleins  Faulet  gab  Frau  von  Rambouillet 
den  Auftrag  dazu.  .  .  .  Ich  schrie  und  wehrte  mich,  aber  vergebens. 
Die  Decke  ward  gebracht  und  vier  der  stärksten  Männer  ausgesucht. 
Ich  kann  Sie  versichern,  mein  Fräulein,  daß  noch  nie  jemand  so  hoch 
hinaus  gewesen  ist,  wie  ich;  und  daß  ich  nie  geglaubt  hätte,  von  dem 
Schicksal  so  erhoben  zu  werden.  Bei  jedem  Schwung  verloren  sie  mich 
aus  den  Augen,  und  sie  schickten  mich  höher  als  die  Adler  steigen.  Ich 
sah  die  Berge  tief  unter  mir,  sah  die  Winde  und  Wolken  unter  meinen 
Füßen  dahinziehen ;  ich  entdeckte  Länder,  die  ich  nie  gesehen,  und  Meere, 
die  ich  nie  geahnt  hatte.  Nichts  Unterhaltenderes  als  so  viel  auf  einmal 
zu  sehen  und  mit  einem  einzigen  Blick  den  halben  Erdkreis  zu  umfassen. 
Ich  beschwöre  Sie,  mein  Fräulein;  diesen  Vorgang  für  ein  Attentat  zu 
erklären,  das  Sie  mißbilligen,  und  ferner  zu  verfügen,  daß  man  zur 
Wiederherstellung  meiner  Ehre  und  meii;er  Kräfte  ein  großes  Zelt  von 
Gaze  im  blauen  Salon  des  HOtel  Rambouillet  errichte,  in  dem  ich  acht 
Tage  lang  von  den  beiden  Damen,  den  Urheberinnen  dieses  Unglücks, 
bedient  und  bewirtet  werde.  .  .  Damit  werden  Sie  eine  Handlung  der 
Gerechtigkeit  thun ,  wie  es  einer  so  großen  und  schönen  Prinzessin 
würdig  ist."') 

Ob  der  Brief  einfach  ein  Scherz  war  und  die  „Prellerei"  nur  in 
Voitures  Einbildung  stattgehabt  hatte,  oder  ob  man  sich  wirklich  einen 
so  tollen  Spaß  mit  ihm  erlaubte,  ist  schwer  zu  sagen.  Die  Übertreibung, 
in  der  sich  Voiture  immer  gefällt,  macht  es  schwierig,  klar  zu  sehen. 
Aber  fast  möchten  wir  glauben,  daß  man  den  kleinen,  naseweisen, 
manchmal  renommierenden  Voiture  wirklich  auf  der  Decke  hat  fliegen 
lassen,  und  daß  die  mutwillige  junge  Welt  sich  an  diesem  Schauspiel 
weidlich  ergötzt  hat.  Wir  finden  ihn  auch  sonst  im  Krieg  mit  den  beiden 
Fräulein  Julie  d'Angennes  und  Angelique  Faulet;^)  es  ist  ein  Krieg, 
der  mit  Witzworten  geführt  wird.     Voiture   spielt    dabei  den  Liebenden 

1)  Lettrcs  de  Voiture,  publiees  par  Aaiedee  Roux.  Paris  1856,  Firmin 
Didot  freres.  Brief  nr.  IX.  Der  Brief  war  berühmt  gleich  jenem  an  Frau  de  Saintot 
und  hier»  kurzer  Hand  „La  lettre  de  la  berne". 

2)  Tochter  des  bekannten  Charles  Faulet  und  geboren  1592.  Ch.  Faulet 
war  „Seeretaire  de  la  chambre  du  roi"  und  Erfinder  der  „Faulettc",  jenes  lösen 
Systems,  wonach  die  Beamten  ihre  Stelle  durch  eine  jährliche  Abgabe  in  ihrer 
Familie  erblich  macheu  konnten  (1(504).  Faulet  war  der  Erste,  der  diese  Steuer 
pachtete  und  dem  Staat  dafür  •_'  Millionen  zahlte.  Nach  einer,  wie  manche  be- 
haupteten, etwas  stürmischen  Jugend  stand  Mademoiselle  Faulet  als  Freundin 
der  Marquise  von  Rambouillet  und  deren  Töchter  in  hohem  Ansehen  bei  der 
guten  Gesellschaft.  Sie  starb  1651. 


122 


oder  weiiiüsteiis  den  Galanten,  der  sich  tief  bekümmert  erklärt,  weil 
seine  (Icbictorinnen  ihn  so  frostig  behandeln.  Julie  d'Angennes  drückt 
einmal  ihre  Bewunderung  für  Gustav  Adolf  aus  und  flugs  ersinnt  Voiture 
eine  Maskerade.  Ein  paar  Schweden  erscheinen  im  Palais  und  über- 
reichen dem  Fräulein  ein  Bild,  das  ihr  der  „nordische  Held"  sendet, 
nebst  einem  Brief,  worin  der  König  erklärt,  daß  er  das  Glück  Alexanders 
für  gering  erachte,  wenn  er  nur  Juliens  Gunst  erwerben  könne. ^)  In 
dem  galanten  und  schon  reclit  preciösen  Stil  der  Zeit  schrieb  Voiture 
auch  eine  Reihe  ,. Metamorphosen ■%  worin  er  auf  seine  Weise  schmeichelte 
und  dabei  auch  kleine  Xadelstiche  versetzte.  Während  er  darin  die 
Marquise  als  eine  Nymphe  mit  göttlicher  Weisheit  preist,  die  in  eine 
Rose  verwandelt  wird  und  keinerlei  Annähei'ung  duldet,  erzählt  er  von 
Juliens  Verwandlung  in  einen  Diamant,  da  sie  zuvor  eine  zwar  gött- 
liche, aber  fühllose,  herrschsüchtige  und  hartnäckige  Xayade  war  u.  s.  f. 
Doch  solcher  Ton  hielt  nicht  lange  an.  Sein  Brief  an  den  Kardinal  de 
La  Valette,  in  welchem  er  von  einem  ländlichen  Fest  erzählt,  klingt 
ganz  andei's.  Beim  Schein  von  20  Fackeln  fuhr  die  Gesellschaft  nach 
Paris  zurück,  man  sang  unterwegs  kleine  Lieder,  wie  sie  gerade  im 
Schwang  waren,  und  als  sie  gar  in  Villette  die  Musikantenschar  einholten, 
die  ihnen  zum  Tanz  aufgespielt  hatte,  verfiel  das  Fräulein  von  Rambouillet 
auf  die  Idee,  sie  mitzunehmen  und  in  der  Stadt  verschiedene  Serenaden 
zu  bringen.  Die  Musikanten  hatten  jedoch  ihre  Instrumente  zurück- 
gelassen, und  so  scheiterte  der  Plan.-) 

Noch  vertraulicher  und  übermütiger  klingt  Voitures  Sprache  in 
einem  andern  Brief  an  den  Kardinal.  Er  berichtet  darin  von  einem  Un- 
wetter, das  die  Gesellschaft  auf  einer  Spazierfahrt  überrascht  habe.  ..Ein 
Nordwestwind,  der  sich  erhob,  zwang  uns,  nach  Montrouge,  einem  kleinen 
Seehafen,  zu  segeln.  Der  Regen  war  so  heftig  und  der  Sturm  so  groß, 
daß  wir  nur  durch  ein  Wunder  gerettet  wurden.  Ohne  die  Gebete  der 
frommen  Menschen,  die  mit  uns  waren,  wären  wir,  glaube  ich,  verloren 
gewesen.  Als  die  Gefahr  am  höchsten  war.  gelobte  das  Fräulein  von 
Rambouillet,  Sie  würden  während  zweier  Monate  jede  Woche  einmal  zur 
Beichte  gehen,  und  bei  einem  furchtbaren  Windstoß  versprach  ich,  daß 
Sie  drei  Tage  lang  fasten  würden.  Nun  bitten  wir  Sie  demütigst,  Sio 
möchten  unsere  Gelübde  erfüllen. .  .  Es  ist  trübselig  hier  zu  Lande.  Man 
hat  uns  gesagt,  man  werde  nach  Brot  suchen  und  in  acht  Tagen  könnten 
wir  auch  Bohnen  haben."') 

Jeder  Thätigkeit  abgeneigt,  wünschte  Voiture  doch  eine  einträgliche 
Stellung  zu  haben.  So  wurde  er  Kammerherr  bei  Gaston  von  Orleans, 
dem  Bruder  des  Königs.  Als  solcher  hatte  er  das  Amt,  die  fremden 
Gesandten  bei  dem  Prinzen  einzuführen.  Er  hielt  die  Stelle  für  eine 
Sinekure,  die  ihm  volle  Freiheit  ließe,  sein  vergnügliches  Leben  fortzu- 
setzen, wie  zuvor.  Allein  es  kam  anders  und  sein  Amt  führte  ihn  weiter 
als  er  geahnt  hatte. 


')  Brief  nr.  VIII. 

2)  Brief  nr.  X. 

3j  Xouvelles  lettres,  n"  IV,  S.  004,  in  der  Ansgube  von  A.  Roux. 


123 


Gaston  war  ein  entschiedener  Gegner  des  Kardinals  Richelieu  und 
ließ  sich  in  alle  Intriguen  gegen  ihn  ein.  Darüber  geriet  er  öfters 
in  eine  bedenkliche  Lage,  der  er  sich  durch  die  Flucht  entzog.  So 
eilte  er  1629  nach  Lothringen,  und  nach  einer  Versöhnung,  die  nur 
kurz  währte,  hielt  er  es  im  Jahr  1631  für  geraten,  sich  nach  Brüssel 
zu  retten.  Seine  Hausbeamten  mußten  ihm  folgen,  und  so  sah  sich  auch 
Voiture  genötigt,  Paris  zu  verlassen,  was  ihm  sehr  nahe  ging.  Aber 
noch  mehr.  In  den  Niederlanden  warb  Gaston  ein  Corps  von  2000 
Mann,  fiel  damit  in  Frankreich  ein  und  drang  nach  Burgund  und  dem 
Languedoc  vor,  wo  sich  ihm  der  Herzog  von  Montmorency  anschloß. 
Voiture  sah  sich  mit  einem  Mal  in  einen  Feldzug  mitgerissen  und  fühlte 
sich  nicht  wenig  stolz  als  Krieger.  Unterwegs  verfehlte  er  nicht,  seinen 
Freundinnen  in  Paris  Nachricht  zu  geben.  Freilich  steht  in  seinen  Briefen 
keine  irgend  erhebliche  Mitteilung;  der  galante  Mann  tändelt  in  seiner 
Weise  weiter  fort.  Er  wiederholte  >die  schon  oft  geschriebenen  Kompli- 
mente, erlaubt  sich  höchstens  eine  Bemerkung  über  die  Unwiderstehlich- 
keit der  Orleans'schen  Truppen  und  freut  sich,  dem  Lande  der  Melonen 
und  Feigen  täglich  näher  zu  kommen  und  so  in  einer  Gegend  zu 
kämpfen,  in  der  man  nebst  Lorbeeren  auch  Orangen-  und  Granatblüten 
pflücken  werde. 

Aber  Gaston  von  Orleans  sollte  nicht  viel  Lorbeeren  pflücken; 
Montmorency  wurde  bei  Castelnaudary  von  den  königlichen  Truppen  ge- 
schlagen und  gefangen  genommen.  Von  dem  Prinzen  verlassen,  endete 
er  auf  dem  Schaffet.  Gaston  aber  unterwarf  sich  abermals,  um  einige 
Monate  später  aufs  neue  nach  Belgien  zu  entfliehen.  Nun  ließ  er  sich 
für  längere  Zeit  in  Brüssel  nieder  und  suchte  an  den  Höfen  von  Madrid, 
Wien  und  London  geheime  Verbindungen  anzuknüpfen.  Nach  Madrid 
schickte  er  Voiture  als  Agenten.  Die  Aufgabe,  Interesse  für  einen^Fürsten 
zu  erwecken,  den  man  überall  längst  als  wankelmütig  und  unfähig  er- 
kannt hatte,  war  schwer;  auch  richtete  Voiture  nichts  von  Bedeutung 
aus.  Persönlich  wußte  er  sich  in  der  spanischen  Hauptstadt  allerdings 
beliebt  zu  machen,  aber  es  gefiel  ihm  nicht  daselbst.  Er  fand  die  Stadt 
Madrid  zwar  sehr  angenehm  für  Gesunde  und  Liederliche,  aber  höchst  lang- 
weilig für  anständige  Leute  und  Kranke.')  Und  er  selbst  hatte  fort- 
während über  seine  Gesundheit  zu  klagen.  .,Ich  habe  acht  Monate  ver- 
lebt", schrieb  er  an  Fräulein  Faulet,  „ohne  mit  einer  Frau  zusprechen, 
ohne  zu  zanken,  ohne  zu  disputieren,  ohne  zu  spielen,  and  was  das 
Merkwürdigste  ist,  ohne  ein  einziges  Mal  warm  zu  werden.  Schon  die 
Erzählung  davon  ist  schrecklich.  Ich  habe  einen  Winter  ausgehalten,  der 
strenger  war,  als  er  gewöhnlich  in  Frankreich  ist,  und  das  in  einem 
Lande,  in  dem  man  keine  Schlafröcke  und  keine  Kamine  kennt,  in  dem 
man  niemals  Feuer  anzündet,  außer  wenn  es  gilt,  einen  Sieg  oder  die 
Geburt  eines  Prinzen  zu  feiern".^)  Ihn  zu  trösten  und  zu  unterhalten, 
schickte  ihm  seine  Freundin  die  neuen  litterarischen  Erscheinungen  und 


1)  A  Mr.  de  Chaude-bonne,  n"  XXVI,  S.  125. 
■')  Brief  nr.  XXIH,  S.  116. 


124 


zum  Dank  sandte  er  ihr,  die  wegen  ihres  reichen  blonden  Haars  scherz- 
weise die  Löwin  genannt  wurde,  aus  Afrika,  bis  wohin  er  gekommen 
war,  kleine  Löwen  aus  Wachs,  die  er  ihr  als  nahe  Verwandte  aus  der 
Wüste  empfahl. 

Auf  sein  Andringen  endlich  zurückberufen,  reiste  er  über  Lissabon 
und  London  nach  Brüssel  heim.  Aber  obschon  er  viel  Neues  sah,  füllte 
er  seine  Briefe  doch  nur  mit  seinen  herkömmlichen  Scherzen.  Die  See- 
reise war  wegen  der  Piraten  nicht  gefahrlos  und  offenbar  hatte  ihm 
Julie  d'Angennes  geschrieben,  daß  ihm  eine  kleine  Gefangenschaft  nichts 
schaden  könnte.  Denn  er  antwortete  ihr  im  gleichen  Ton:  „Sie  sind 
überaus  gütig,  mir  der  Abwechslung  halber  zwei  bis  drei  Jahre  Ruder- 
arbeit auf  einer  türkischen  Galeere  zu  wünschen.  Sie  hätten  wol  gern 
von  mir  gehört,  wie  gut  ich  die  Kameele  besorgt  und  wie  geduldig  ich 
die  Bastonade  ertragen  hätte.  Dieser  Wissensdurst  ist  hübsch.  Vielleicht 
wäre  es  Ihnen  auch  recht  gewesen,  wenn  ich  eine  halbe  Stunde  gepfählt 
worden  wäre,  um  zu  erfahren,  wie  das  thut  und  wie  man  sich  dabei 
befindet."^) 

Doch  er  kam  glücklich  nach  Brüssel  zurück  und  hatte  die  Freude, 
bald  darauf  nach  Paris  heimkehren  zu  dürfen,  da  der  Herzog  von  Orleans 
sich  abermals  unterworfen  hatte.  Wie  früher,  verkehrte  er  wieder  im 
Hi'itcl  Rambouillet,  und  schloß  sich  besonders  au  den  Sohn  des  Marquis 
Kambouillet,  den  jungen  Marquis  Pisani,  an,  der  ein  etwas  lockeres  Leben 
führte  und  frivole  Gesellen,  wie  Voiture,  gerne  um  sich  sah.  Um  aber 
künftig  nicht  mehr  von  dem  Herzog  von  Orleans  abzuhängen,  suchte 
Voiture  auch  Kichelieus  Gunst  zu  erlangen.  Er  schrieb  an  einen  fingierten 
Gegner  des  Kardinals  einen,  natürlich  für  die  Öffentlichkeit  bestimmten 
Brief,  um  ihn  zur  Bewunderung  des  großen  Staatsmanns  zu  bekehren. 
Noch  nach  Jahrhunderten,  rief  er  aus,  würden  die  Franzosen  den  Mann 
lieben,  wenn  sie  die  Erzählung  seiner  herrlichen  Thaten  lesen.-) 

Die  Geschichte  der  französischen  Litteratnr  hat  wenig  unabhängige, 
charakterfeste  Männer  in  diesen  ersten  Jahrzehnten  des  Jahrhunderts  zu 
verzeichnen. 

Aber  Richelieu  wußte  zu  belohnen.  Leute,  wie  Voiture,  konnte  er 
brauchen,  wenn  sie  auch  nichts  weiter  thaten,  als  sein  Lob  verbreiten.  Er 
schickte  ihn  im  Jahr  liVil  als  Gesandten  nach  Florenz,  dem  dortigen 
Hof  die  Geburt  eines  Dauphin,  des  künftigen  Ludwig  XIV.  anzuzeigen. 
Auf  seiner  Pieise  über  die  Alpen  schloß  er  einen  Vertrag  mit  den  Banditen 
der  Gegend,  und  ließ  sich  von  ihnen  zur  größeren  Sicherheit  geleiten. 
Solche  Zustände  herrschten  damals  noch  an  den  Grenzen  von  Frankreich, 
in  dem  civilisierten  Italien!^)    Frau    von  Kambouillet   hatte  Voiture   ge- 

1)  Lettre  a  Mademoiselle  de  Rambouillet,  n"  L,  S.  172. 

2)  Brief  vom  14    Dezember  1G36,  n»  LXXIV,  S.  213. 

^)  Lettre  a  Mademoiselle  de  Rambouillet,  n"  XCIV,  S.  245 :  „Je  voudrois 
que  vous  m'eussiez  pü  voir  aujourd'huy  dans  uu  miroir,  en  Testat  oii  j'estois. 
Vous  m'eussiez  veu  dans  les  plus  effroyables  montagnes  du  monde  au  milieu 
de  douze  ou  quinze  hommes  les  plus  horribles  que  ron  puisse  voir,  dont  le  plus 
innocent   en   a   tue   quinze  ou  vingt  autres,    qui    sont   tous    noirs    comme  des 


125 


beten,  auf  seiner  italienischen  Reise  einige  bedeutem.le  Werke  der  Archi- 
tektur und  bildenden  Kunst  zu  besichtigen  und  ihr  darüber  zu  berichten. 
Voiture  hatte  es  zwar  versprochen,  aber  er  hielt  sein  Wort  nicht.  War 
es  Trägheit,  war  es  Unwissenheit? 

..Aus  Liebe  für  Sie",  schrieb  er  ihr,  „habe  ich  den  Valentine  mit 
mehr  Aufmerksamkeit  betrachtet,  als  je  etwas,  und  da  Sie  eine  Be- 
schreibung davon  wünschen,  werde  ich  sie  Ihnen  so  genau  geben,  als 
ich  kann.  Nur  bemerken  Sie,  daß,  wenn  ich  diesen  Auftrag  und  den 
andern  in  Rom  erfüllt  habe,  ich  für  Sie  die  zwei  Dinge  gethan  habe, 
die  mir  von  allen  auf  der  Welt  am  schwersten  fallen,  nämlich  von  Ge- 
bäuden und  von  Geschäften  zu  sprechen.  Der  Valentine  ist  also  ein  Haus, 
eine  Viertelstunde  von  Turin  entfernt,  in  einer  Ebene  am  Ufer  des  Po. 
Wenn  man  ankommt,  findet  man  zunächst  —  ich  will  sterben,  wenn 
ich  weiß,  was  man  zunächst  findet.  Ich  glaube  eine  Freitreppe.  Nein, 
einen  Säulengang.  Ich  irre  mich,  es  ist  eine  Treppe.  Meiner  Treu,  ich 
weiß  nicht,  ist  es  ein  Säulengang  oder  eine  Treppe?  Vor  einer  Stunde 
wußte  ich  es  vorzüglich,  aber  mein  Gedächtnis  läßt  mich  im  Stich.  Wenn 
ich  zurückkomme,  werde  ich  mich  besser  unterrichten,  und  nicht  ver- 
fehlen, Ihnen  genaueren  Bericht  zu  erstatten. "M 

Von  Florenz  ging  Voiture  weiter  nach  Rom ;  allein  auch  diese 
Stadt  machte  ihm,  so  wie  ganz  Italien,  keinen  Eindruck.  Er  fühlte  sich 
in  Rom  krank  und  melancholisch.  Auch  blieb  er  nicht  lange,  sondern 
kehrte  so  schnell  als  möglich  nach  Paris  zurück.  Dort  trat  er  nun  in 
engere  Verbindung  mit  dem  Hof,  dem  er  auch  auf  seinen  Reisen  folgte. 
Nach  Richelieus  Tod  erfreute  er  sich  der  Gunst  Mazarins  und  bald  auch 
der  Regentin.  Er  wurde  zum  königlichen  Kammerherrn  ernannt  und  er- 
hielt eine  einträgliche  Stelle  in  der  Finanzverwaltung,  später  auch  noch 
eine  Pension  von  1000  Thalern  jährlich. ■■^)  Aber  seine  Leidenschaft  für 
das  Spiel  und  die  Schönen  kostete  ihn  viel,  und  als  ihm  bei  heran- 
nahendem Alter  die  Rolle  des  erheiternden  Gesellschafters  schwieriger 
fiel,  wurde  er  münisch  und  unverträglich.  Ausbrüche  übler  Laune  er- 
setzten häufig  die  Galanterie.  In  den  letzten  Jahren  von  Fieberanfällen 
heimgesucht,  starb  er  im  Juli   1()48  nach  kurzer  Krankheit. 

Wir  haben  ein  leeres,  frivoles  Leben  geschildert ;  ein  Leben,  wie 
es  deren  ja  viele  giebt,  von  welchen  man  dann  aber  auch  nicht  redet. 
Voiture  aber  hat  seinen  Platz  in  der  Litteraturgeschichte.  und  so  fällt 
seine  Nichtigkeit  unangenehm  auf.  Dagegen  muß  man  aber  bedenken, 
daß  Voiture    selbst    nie    einen  Schritt   gethan  hat,    um    sich    litterarisch 


Diables,  et  qui  ont  des  cheveux  qui  leur  viennent  jusques  k  la  moitie  du  eorps, 
chacun  deux  ou  trois  balafres  sur  le  visage;  une  grande  harquesbuse  sur  l'epaule 
et  deux  pistolets  et  deux  poignards  ä  la  ceinture.  Ca  sont  les  Baudis  qui  vivent 
dans  les  montagnes  des  confins  de  Piedmont  et  de  Genes...  De  peur  d'en  estre 
vole  je  m'en  estois  fait  accompagner." 

1)  Lettre  ä  Madame  de  Rambouillet,  n"  XLV,  S.  247. 

-)  Man  veranschlagte  sein  jährliches  Einkommen  auf  18  000  Livres,  welche 
Summe  man  vervierfachen  muß,  wenn  man  ihren  Wert  in  heutigem  Geld  an- 
nähernd finden  will. 


126 


geltend  zu  machea.  Er  war  ein  Mann  des  Lebensgenusses  und  der  Ge- 
selligkeit, aber  an  schriftstellerischen  Ruhm  hatte  er  nie  gedacht.  Er 
hat  kein  einziges  Werk  veröffentlicht,  und  wenn  er  eine  Anzahl  Gelegen- 
heitsgedichte geschrieben  hat,  so  hat  er  sich  doch  nicht  für  einen  Dichter 
gehalten.  Im  Auftrag  des  Fräuleins  von  Rambouillet  hat  er  allerdings 
auch  an  einem  Roman:  „Alcidalis  und  Zelide"',  gearbeitet.  Julie  hatte  ihm 
den  Stoff  angegeben,  den  Gang  der  Geschichte  angedeutet  und  ihn  ge- 
beten, die  Arbeit  auszuführen.  Zwanzig  Jahre  lang  hatte  er  sie  in  Arbeit, 
und  bei  seinem  Tod  fand  man  sie  unvollendet  unter  seinen  Papieren. 
Auch  das  beweist,  daß  litterarischer  Ehrgeiz  ihn  nicht  beseelte.  Seine 
Briefe  waren  zwar  zum  Teil  so  abgefaßt,  daß  sie  in  weiteren  Kreisen 
gelesen  und  bewundert  werden  konnten,  aber  weiter  gingen  seine  Wünsche 
nicht.  Sein  Streben  war  einzig  darauf  gerichtet,  in  dem  vornehmen  Kreis, 
in  dem  er  zugelassen  war.  zu  glänzen  und  zu  gefallen.  Darin  unterschied 
er  sich  von  Balzac.  Der  letztere  schrieb  seine  Briefe  für  den  Druck. 
Voiture  nur  zur  Unterhaltung  eines  verhältnismäßig  beschränkten  Kreises. 
Erst  nach  seinem  Tod  geriet  man  auf  den  Gedanken,  seine  Briefe  zu 
sammeln  und  zu  veröffentlichen.  Dieser  Arbeit  unterzog  sich  sein  Neffe 
Pinchesne,  der  in  der  Vorrede  zu  seiner  Ausgabe  das  bezeichnende  Wort 
sagte,  er  rechne  hauptsächlich  auf  die  Zustimmung  der  illustren  Damen, 
die  Voitures  Unterhaltung  und  seine  Briefe  so  hoch  geschätzt  hätten. 
In  der  That  ist  Voiture  einer  der  ersten  in  der  langen  Reihe  von  Schrift- 
stellern, die  ihr  Glück  durch  die  Damen  gemacht  haben.  Pinchesne  glaubte 
übrigens  die  Briefe,  die  er  veröffentlichte,  verstümmeln  zu  müssen,  doch 
.sind  die  Lücken  seitdem  zum  Teil  ausgefüllt  worden.') 

So  kam  Voiture  nach  seinem  Tod  zu  der  Ehre  litterarischer  An- 
erkennung, wie  ja  auch  später  Frau  von  Sevigne  erst  viele  Jahre  nach 
ihrem  Hinscheiden  eine  Zierde  der  französischen  Litteratur  wurde,  nur 
hüte  man  sich,  neben  dieser  äußerlichen  Ähnlichkeit  in  dem  Schicksal 
der  beiden  Briefschreiber  auch  auf  eine  innere  Übereinstimmung  zu 
schließen.  Während  die  eine  ganz  Natürlichkeit  und  Frische  ist,  bleibt 
der  andere  immer  künstlich  und  selbst  in  seinem  Witz  berechnet. 

Diese  Berechnung  erhellt  am  besten  aus  der  Art,  wie  Voiture  mit 
den  Großen  umgeht.  Er  weiß  genau,  wann  er  sich  in  seinen  Briefen 
eine  Freiheit  erlauben  darf,  und  wann  er  ehrerbietig  sein  muß.  Der 
Herzog  von  Enghien.  der  bedeutendste  französische  Feldherr  seiner  Zeit, 
und  nach  seines  Vaters  Tod  als  Prinz  von  Conde  bekannt,  hatte  im 
Jahr  1643  den  Rhein  überschritten,  um  sich  mit  dem  Marschall  Guebriant 
zu  vereinigen.  Der  junge  Herzog,  der  Bruder  der  schon  erwähnten 
Prinzessin  von  Bourbon,  war  auch  ein  häufiger  Gast  im  Hotel  Ram- 
bouillet gewesen,  und  an  ein  dort  beliebtes  Gesellschaftsspiel  erinnernd. 


')  Etienne  Martin,  sieur  de  Pinchesne,  war  selbst  Dichter.  Seine  Gedichte 
orschienen  in  zwei  Bänden  in  4^.  Boileau  (Epitre  V,  v.  17)  erwähnt  seiner  mit 
verächtlichem  Wort: 

Que  tout,  jusqu'ä  Pinchesne,  et  m'insulte  et  m'accable. 

Siehe  ferner  desselben  Epitre  VIII,  v.  104,  Art.  „Poetique",  IV,  v.  34, 
und  .Lutrin'-,  V,  v.  163. 


127 


schrieb  ihm  Voiture  :  „Guten  Tag,  Gevatter  Hecht!  Es  ahnte  mir  immer. 
<laß  das  Wasser  des  Rheins  dich  nicht  aufhalten  würde.  .  .  Zwar  hast 
<lu  bisher  in  allen  Saucen  gut  geschmeckt,  aber  man  muß  gestehen,  daß 
<lie  deutsche  Sauce  dir  einen  besonderen  Geschmack  verleiht.  Die  Kaiser- 
lichen wollten  dich  backen  und  mit  Salz  essen  .  .  .  und  jetzt  freut  man 
sich  zu  sehen,  daß  diejenigen,  welche  das  Ufer  des  Rheins  verteidigen 
wollten,  nicht  einmal  des  Besitzes  der  Donau  sicher  sind."  In  diesem 
Ton  geht  es  lang  fort,  und  der  Brief,  der  von  dem  ergebenen  und  ge- 
horsamen Diener  und  Gevatter  Karpfen  unterzeichnet  ist,  schließt  mit 
dem  Wunsch,  der  glorreiche  Hecht  möge  nach  so  vielen  Mühen  sich  bald 
in  dem  Wasser  der  Seine  erfrischen,  und  sich  mit  den  hübschen  Schleihen, 
schönen  Barschen  und  anständigen  Forellen  unterhalten,  die  seiner  mit 
Ungeduld  warteten.') 

Ein  anderes  Mal  schreibt  Voiture  an  den  Herzog  in  ähnlich  humori- 
stischem Ton-  „In  diesem  ganzen  Feldzug  hat  Eure  Holieit  keine  so 
kühne  That  vollbracht,  wie  die  ist,  die  ich  jetzt  unternehme.  Denn  ob- 
schon  ich  weiß,  welch  feines  Verständnis  Sie  haben  und  wie  wenig  Briefe 
Ilinen  gefallen,  unternehme  ich  es  doch,  Ihnen  zu  schreiben,  ohne  daß 
ich  etwas  Gutes  oder  Gefälliges  zu  sagen  wüßte.  Ich  will  sterben,  wenn 
ich  nicht  lieber  sechs  Menschen  mit  eigener  Hand  umbrächte  oder  mich 
bei  einem  Ausfall  der  Feinde  an  Ihrer  Seite  hielte.  Das  verrät  große 
Kühnheit,  gnädiger  Prinz,  ist  aber  nur  Furcht,..." 

Ermangeln  diese  Briefe  jeder  höheren  Idee,  ja  sind  sie  selbst  jed(3S 
Ernstes  bar  und  vollkommen  nichtig,  so  ist  auch  ihr  Witz  nur  ober- 
flächlich und  häufig  nur  auf  eine  mehr  oder  weniger  komische  Über- 
treibung gestützt.  Noch  auffallender  ist  Voitures  Mangel  an  Beobach- 
tungsgabe, oder  vielleicht  mehr  noch  an  Interesse.  Er  durchreiste 
Spanien,  Portugal  und  Italien,  er  sah  England  und  die  Niederlande, 
aber  seine  Briefe  bieten  nichts  zur  Kenntnis  jener  Länder.  Höchstens 
drückt  er  einmal  sein  Erstaunen  über  die  Trägheit  des  spanischen  Volkes 
aus,  oder  er  schildert  in  raschen  Zügen  die  Natur  der  iberischen  Halb- 
insel. Am  meisten  fällt  die  Beschreibung  einer  Rhonefahrt  auf,  da 
sie  einen  fast  modernen .  sentimental  romantischen  Charakter  trägt, 
wie  man  ihn  in  jener  Zeit  am  wenigsten  erwartet.  „Hätten  Sie  mich 
doch  neulich  auf  meiner  Fahrt  von  Vienne  nach  Valence  gesehen!" 
schreibt  er  an  das  Fräulein  von  Rambouillet.  „Als  der  Tag  graute  und 
die  Sonne  die  Gipfel  der  Berge  beleuchtete,  schifften  wir  uns  auf  der 
Rhone  ein. . .  Meine  Gefährten  betrachteten  bald  die  schneebedeckten  Ge- 
birge der  Dauphine,  die  sich  auf  der  linken  Seite,  zehn  bis  zwölf  Meilen 
von  uns  entfernt,  erhoben,  bald  die  mit  Reben  bepflanzten  Rhone-Ufer, 
oder  ihr  Blick  schweifte  hinaus  über  weite  Thäler  voll  blühender  Bäume. 
Ich  aber  stieg  inmitten  dieser  allgemeinen  Freude  auf  die  Warenballen 
unseres  Schiffs,  und  während  die  anderen  die  Gegend  bewunderten, 
dachte  ich  an  das,  was  ich  verlassen  hatte.  Den  rechten  Ellbogen  auf- 
gestützt,   den  Kopf  vorgeneigt  und  auf  die  rechte  Hand  gelegt,    in  der 

^;  Lettre  k  Mouseigneur  le  duc  d'Anguieu,  u"  CXLIII,  S.  313. 


128 


nachlässig  ausgestreckten  Linken  ein  ßucii,  das  mii-  den  Vorwand  meiner 
Isolierung  gab:  so  saß  ich  da,  blickte  starr  auf  den  Fluß,  aber  sali  ihn 
nicht.  Dicke  Thränentropfen  entquollen  von  Zeit  zu  Zeit  meinen  Augen ; 
ich  stieß  Seufzer  aus,  als  wollte  meine  Seele  mit  ihnen  den  Körper  ver- 
lassen; ich  redete  unklare,  verwirrte  Worte,  welche  die  anderen  nicht 
hören  konnten,  und  die  ich  Ihnen  mitteilen  werde,  wenn  Sie  es  wünschen."  M 
Natürlich  ist  die  ganze  Geschichte  von  seiner  Schwärmerei  nur  ein 
Scherz.  Voiture  fügt  selbst  hinzu,  die  Stelle  müsse  eigentlich  in  Verse 
gebracht  werden,  damit  sie  sich  noch  besser  ausnehme.  Er  hört  auch 
zum  voraus  den  Vorwurf  seiner  Freundin,  daß  alle  diese  schönen  Phrasen 
nur  Lückenbüßer  seien,  die  den  Brief  füllen  müßten. 

Einen  ganz  andern  Ton  schlug  Voiture  an,  wenn  er  mit  seinen 
gelehrten  Freunden  Balzac,  Chapolain,  Costar  u.  a.  correspondierte.  Dann 
möchte  er  auch  gern  den  kenntnisreichen  Herrn  herauskehren,  verhandelt 
über  den  Wert  einzelner  Wörter,  über  lateinische  Verse  und  xVusdrücke, 
und  spickt  seine  Briefe  mit  lateinischen  Citaten.  Im  Grunde  kümmerte 
er  sich  freilich  nicht  viel  um  diese  Fragen.  Aber  es  regnete  Höflich- 
keiten. Die  Komplimente,  welche  er  mit  Balzac  wechselte,  sind  wahr- 
liaft  ergötzlich.  Man  bedurfte  des  gegenseitigen  Lobs  und  man  sah  darin 
eine  Art  Ruhmes-  und  Lebensversicherung.  Jeder  pries  des  andern  Geist 
und  sein  Talent  in  der  Kunst  des  Briefschreibens.  Und  in  der  That,  es 
war  eine  Kunst.  Der  Brief  hatte  im  allgemeinen  früher  eine  höhere  Be- 
deutung als  jetzt.  Das  Leben  der  heutigen  Menschen  ist  zu  rasch,  zu 
sehr  in  Anspruch  genommen,  als  daß  es  einer  vielseitigen,  gemütlichen, 
mitteilsamen  Korrespondenz  noch  solchen  Platz  einräumen  könnte,  zumal 
die  wachsende  Ausdehnung  der  Tagespresse  das  Bedürfnis  brieflicher 
Verbindungen  bedeutend  verringert  hat.  Im  17.  Jahrhundert,  das  die 
Annehmlichkeit  einer  gut  unterrichteten,  sich  um  die  kleinsten  Erschei- 
nungen kümmernden  Presse  noch  gar  nicht  kannte,  mußten  die  Briefe 
'ioppelten  Wert  haben,  hi  der  jungen,  sich  neu  gestaltenden  Gesellschaft 
hatte  man  Durst  nach  geistiger  Mitteilung,  nach  Anregung  und  Verkehr 
mit  der  Ferne.  Die  Folianten  und  Quartanten  der  Gelehrten  entsprachen 
nur  selten  diesem  Wunsch;  die  schöne  Litteratur,  welche  eine  leichtere 
Unterhaltung  bieten  konnte,  war  erst  im  Erblühen  und  bot  nur  wenig 
Bedeutendes.  So  trat  denn  der  Brief  an  die  Stelle  des  Buchs.  Man  schrieb 
sich  Briefe,  nicht  um  gerade  Neues  zu  hören,  denn  die  wichtigsten  Fragen 
.scheute  man  sich  darin  zu  berühren ,  wohl  aber  um  das  Vergnügen  zu 
iiaben,  überhaupt  etwas  Leichteres  zu  lesen.  Man  empfing  die  Briefe,  wie 
man  heute  die  Zeitung  nimmt,  fast  als  Gemeingut;  man  besprach  sie, 
gab  sie  weiter,  und  je  mehr  sich  die  Briefe  zur  Verbreitung  eigneten, 
desto  besser  erschienen  sie.  Wirklich  intime  Mitteilungen  waren  natür- 
lich nicht  ausgeschlossen,  aber  während  des  ganzen  Jahrhunderts  legte 
man  den  Briefen,  die  man  zeigen  konnte,  mit  welchen  man  sich  brüsten 
konnte,  den  sogenannten  geistreichen  Briefen,  besonderen  Wert  bei.   Sie 


1)  A  Mademoiselle  de  liambouillet,    datiert    .\vignon,  Luiidi  gras,   1(>42 
n"  CXXVIII,  S.  29-4. 


129 

> 
ersetzten  gewissermaßen  das  Feuilleton  und  die  Plaudereien  der  modernen 
Zeitungen. 

Von  diesem  Standpunkt  aus  sind  auch  die  Briefe  Balzacs  und 
Voitures  zu  beuiteilen.  Darum  erscheinen  sie  uns  oft  so  nichtssagend 
und  leer.  Denn  sie  fußen  häufig  nicht  auf  realem  Boden  und  verlieren 
deshalb  für  die  Nachwelt  den  hauptsächlichen  Reiz. 

Einmal  aber  auf  irrigem  Weg  und  nur  besorgt,  einer  falschen 
Mode  seiner  Zeit  zu  huldigen,  wird  der  Briefsteller  gar  bald  durch  seine 
Manier  unerträglich.  Dies  beweist  Voiture  in  seinen  gekünstelten  .,Liebes- 
briefen"/)  aus  welchen  jeder  Geschmack  und  jedes  natürliche  Gefühl  ge- 
schwunden sind.  „Sie  können  überzeugt  sein,  daß  weder  Traurigkeit 
noch  Liebe  jemals  einem  Menschen  den  Tod  geben  können",  schreibt  er 
an  eine  Dame,  „da  Sie  mich  nicht  getötet  haben;  denn  nachdem  ich 
zwei  Tage  lang  nicht  die  Ehre  hatte,  Sie  zu  sehen,  bleibt  mir  dennoch 
ein  Restchen  von  Leben."  Oder  er  sagt:  „Ich  atme  nur  noch,  insofern 
ich  seufze".  „Die  Nacht  ist  für  die  anderen  Menschenkinder  vorüber- 
gegangen ;  für  mich  dauert  sie  noch,  da  ich  nicht  klar  sehen  kann,  ob 
ich  der  glücklichste   oder   der  unglücklichste  Mensch    auf  Erden   bin."^) 

Nicht  minder  schwülstig  war  Voiture  in  seinen  sozusagen  offi- 
ziellen Huldigungsgedichten.  Dagegen  ließ  er  seiner  Natur  freien  Lauf 
in  den  leichten  Chansons  und  Rondeaux.  Sind  sie  auch  oft  etwas  zu 
langatmig,  so  sind  sie  doch  nicht  ohne  Heiterkeit  und  Laune.  Sie  er- 
innern an  die  leichten  Gedichte  Gressets  und  Voltaires,  wenn  sie  deren 
Anmut  und  Geist  auch  nicht  erreichen.  Für  einen  poetischen  Wettstreit 
mit  dem  Dichter  Benserade  gelang  es  ihm.  den  ganzen  Hof  so  zu  inter- 
essieren, daß  er  sich  in  zwei  Lager  teilte.  Voiture  stand  mit  einem 
„Sonett  an  Urania"  einem  Sonett  des  genannten  Dichters  über  Hieb 
gegenüber.  Die  Herzogin  von  Longueville,  Voitures  Freundin,  stand  an 
der  Spitze  der  „Uranisten",  während  Prinz  Conti  das  Haupt  der  „Jo- 
bisten"   war.^) 

1)  Lettres  amoureuses  et  de  galanterie  de  Mr.  de  Voiture. 

2)  Lettres  amoureuses,  n«  X,  S.  404,  und  n»  XVII,  S.  412. 

3)  Wir  können  heute  nicht  mehr  begreifen,  wie  ein  solcher  Streit  über- 
haupt entstehen  konnte.  Umsomehr  wird  es  vielleicht  interessieren,  die  beiden 
Gedichte  zu  lesen. 

Voitures  Sonett  lautet: 

II  faut  finir  mes  jours  en  ramour  d'üranie! 
L'absence  n_y  le  temps  ne  m'en  syauroient  guerir: 
Et  je  ne  voy  plus  rien  qui  me  püt  secourir; 
Ny  qui  sceust  r'appeler  raa  liberte  bannie. 

Des  long-teraps  je  connois  sa  rigueur  inflnie! 
Mais  pensant  aux  beautez  pour  qui  je  dois  perir 
Je  benis  mon  martyre,  et  content  de  mourir, 
Je  n'ose  murmurer  contre  sa  tyrannie. 

Quelquefois  ma  raison,  par  de  foibles  discours, 

M'incite  ä  la  revolte,  et  me  promet  secours. 

Mais  lors  qu'ä  mon  besoin  je  me  veux  servir  d'ello; 

Lotlieißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  u 


130 


Daß  sieb  Voiture  auch  in  seinen  Gedichten  zu  keinem  hohen  FJug 
erhob,  ist  kaum  zu  sagen  nötig.  Wir  finden  u.  a.  Stanzen  auf  den  Schuh 
einer  Dame  und  Verse  an  ein  Fräulein,  das  unreine  Manschetten  hatte. 
Das  ist  echter  Voiture. 

Nach  seinem  Tod  entbrannte  zwischen  einem  Anhänger  Balzacs 
und  Costar,  dem  Freund  Voitures.  eine  heftige  litterarische  Fehde  über 
die  Bedeutung  des  Verstorbenen.  Balzac  hatte  sie  indirekt  hervor- 
gerufen, indem  er  sich  an  seinen  gelehrten  Freund  Girac  wandte,  mit 
dßr  Bitte,  ihm  seine  Meinung  über  Voiture  zu  schreiben,  und  dieses  Gut- 
achten dann  an  Costar  zur  Beurteilung  schickte.  Es  entspann  sich  daraus 
eine  Fehde,  welche  für  Balzac  nicht  gerade  angenehm  war.  Allein  wir 
haben  nicht  nötig,  die  grobe  Zänkerei  hiei'  weiter  zu  verfolgen.  Balzac 
hoffte  wohl  den  Kuhmeskranz  seines  Rivalen,  der  so  ganz  entgegen- 
gesetzten Charakters  war,  in  diesen  Kämpfen  etwas  zerzaust  zu  sehen  ; 
doch  täuschte  er  sich  oder  hatte  zum  wenigsten  von  Seiten  Costars  nicht 
minder  Anzügliches  zu  hören.  Man  mag  über  Voiture  urteilen,  wie  man 
will,  jedenfalls  muß  man  anerkennen,  daß  er  den  leichten  Stil  der  Plau- 
derei schuf  und  der  Sprache  die  Gelenkigkeit  und  Leichtigkeit  der  Be- 
wegung gab,  welche  sie  bei  Balzac  nicht  erlangen  konnte.  Darin  stimmen 
die  Zeitgenossen    mit   der   späteren    Kritik   überein.     Sehr  fein    beurteilt 


Apres  beaucoup  de  peine  et  d'efforts  impuissaus, 
EUe  dit  qu'üranie  est  seule  aymable  et  belle, 
Et  m'y  rengage  plus  que  ne  fönt  tous  mes  sens. 

Benserade  dagegen  dichtete: 

Job  de  mille  tourmens  atteint 
Vous  rendra  sa  douleur  connue, 
Et  raisonnablemeut  il  craint 
Que  vous  n'en  soyez  point  emue. 

Vous  verrez  ma  misere  nue; 

II  s'est  luy-mesme  icy  depeint: 

Aceoutumez-vous  a  la  vue 

D'un  homme  qui  souffre  et  se  plaint. 

Bien  qu'il  eust  d'extremes  souffrances, 
On  voit  aller  des  patiences, 
Plus  loin  que  la  sienne  n'aUa. 

II  souffrit  des  maux  incroyables, 
II  s'en  plaignit,  il  en  parla... 
J'en  coanois  de  plus  miserables. 

P.  Corneille  urteilte  über  die  beiden  Gedichte  folgendermaßen: 

L'un  nous  fait  voir  plus  d'art  et  l'autre  plus  de  vif; 

L'un  est  le  mieux  soigne,  l'autre  le  plus  naif; 

L'un  sent  uu  Jong  efiort  et  l'autre  un  prompt  caprice; 

Eu-fin,  Tun  est  mieux  fait  et  l'autre  est  plus  joli. 
Et  pour  te  dire  tout  en  somme, 
L'uu  part  d'un  auteur  plus  poli, 
Et  l'autre  d'un  plus  galant  homme. 


131 


Boileau  die  beiden  Meister  der  Prosa,  indem  er  jeden  von  ihnen  einen 
Brief  aus  der  Unterwelt  schreiben  läßt  und  darin  ihre  Manier  trefiflich 
nachahmt.')  Sainte-Beuve  faßt  seine  Meinung  über  beide  dahin  zusammen, 
daß  Balzac  Talent,  Voiture  Esprit  gehabt  habe,  und  setzt  an  anderer 
Stelle  hinzu:  „Voiture  hat  alles  auf  eine  Leibrente  gesetzt:  er  war  eine 
Zierde  der  Gesellschaft:  er  wollte  gefallen  und  erreichte  sein  Ziel;  aber 
er  hat  sich  dabei  ganz  verzehrt".-) 


1)  Siehe  Boileaus  Briefe:  „Lettre  a  Monseigneur  le  duc  de  Vivonne"  vom 
4.  Juni  1675  und  seine  „Art  Poetique",  ü,  45  ff.,  wo  er  besonders  Voiture  im 
Auge  hat,  wenn  er  von  den  faden  Liebesgedichten  spricht. 

2)  Sainte-Beuve,  Causeries  du  lundi,  tome  XII,  mit  zwei  Artikeln  über 
Voiture. 

Bibliographie:  Außer  den  schon  citierten  Werken  ist  noch  die  Ausgabe 
der  Werke  Voitures  von  A.  Ubicini  (2  Bände,  1855)  zu  nennen.  Man  vergleiche 
ferner :  Tallemant  des  Reaux,  Historiettes,  Band  III,  der  einen  Abschnitt  über 
Voiture  hat.  Für  die  Geschichte  der  damaligen  Gesellschaft  sei  hier  nochmals 
Cousin,  La  societe  fran^aise  au  XVII  siecle  genannt.  Der  zweite  Band  enthält 
ein  Kapitel  (VIII)  über  Madame  de  Sable  und  Voiture.  Ebenso  desselben  Ver- 
fassers Buch :  La  jeunesse  de  Madame  de  Longueville,  chap.  IL  In  dem  sechsten 
Teil  des  „Grand  Oyrus"  von  Madeleine  de  Scudery  wird  Voiture  unter  dem 
Namen  Callicrate  eingeführt,  sein  Geist  gelobt,  aber  sein  Charakter  als  häßlich 
geschildert. 


VIII. 

Die  Lyrik. 

Bei  der  Würdigung  der  französischen  Litteratur  in  der  ersten 
Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  muß  man  stets  im  Auge  behalten,  daß 
die  Nation  in  entschiedener  Weise  auf  Gleichmäßigkeit  und  Regelmäßigkeit 
auf  allen  Gebieten  des  Lebens  drang;  diesem  mächtigen  Zug  der  Zeit 
war  schwer  zu  widerstehen,  und  die  Individualität  verlor  dieser  aus- 
gleichenden Tendenz  gegenüber  mehr  und  mehr  ihre  Rechte.  Jede  eigen- 
geartete Persönlichkeit  mußte  Not  leiden.  Nun  ist  aber  die  Lyrik  mehr 
als  jede  andere  Gattung  der  Poesie  eine  Äußerung  des  individuellen 
Lebens,  und  so  darf  es  nicht  überraschen,  wenn  die  französische  Dichtung 
in  jener  Zeit  wenig  Bemerkenswertes  auf  diesem  Gebiet  aufzuweisen  hat. 

Montaigne  sagt  einmal  in  seineu  „Essais",  die  Poesie  allein  ge- 
stattet keine  Ungeschicklichkeit,  ein  mittelmäßiger  Dichter  sei  uner- 
träglich. Er  beruft  sich  dabei  auf  einen  horazischen  Vers,  der  ungefähr 
dasselbe  besagt,  und  den  er  als  Inschrift  an  der  Thür  jeder  Druckerei 
sehen  möchte,    um  damit  die  Menge   der  Reimschmiede  abzuschrecken.^) 

Mit  diesem  Wort  Montaignes  könnte  man  die  gesamte  Lyrik  der 
Epoche,  welche  wir  betrachten,  als  verurteilt  ansehen  und  beiseite  schieben. 
Denn  nur  die  helle  Mittelmäßigkeit  herrschte  damals  auf  diesem  Gebiet, 
und  trotz  des  Lobs,  das  den  Dichtern  in  überschwänglicher  Weise  voa 
ihren  Zeitgenossen  gespendet  ward,  hat  sich  kein  einziger  von  ihnen  in 
der  dankbaren  Erinnerung  des  Volkes  erhalten.  Wol  dichteten  und 
reimten  eine  Menge  zum  Teil  begabter  Männer,  aber  aus  dem  lauten 
Chor  so  vieler  Sänger  klang  keine  wahrhafte  Dichterstimme  hervor.  Die 
Lyrik  jener  Zeit  war  ein  künstliches  Produkt;  sie  kam  nicht  aus  dem 
Herzen  und  drang  nicht  in  die  Tiefe  bis  zu  ihm.  Trotz  alles  Haschens 
nach  Leidenschaftlichkeit  blieb  das  Gemüt  unbewegt,  und  das  Volk  selbst 
hatte  mit  dieser  Poesie  nichts  gemein.  Weniger  aber  wie  jede  andere 
Gattung  der  Dichtung  kann  die  Lyrik  des  natürlichen  warmen  Gefühls 
entbehren,  will  sie  nicht  einer  künstlich  im  Treibhaus  gezogenen  Pflanze 
gleichen. 


1)  Montaigne,  Essais,  I.  II,  chap.  17  „de  la  presomption" :  „On  peut  faire 
le  sot  partout  ailleurs,  mais  non  en  la  Poesie. 

—  Mediocrihus  esse  poetis 
Non  Di,  non  homines,  non  concessere  eolumnae. 
Pleust  ä  Dieu,    que  cette  sentence  se  trouvast  au  front  des  boutiques  de 
tous  nos  Imprimeurs,  pour  en  deffendre  l'entree  ä  tant  de  versificateurs."' 


133 


Die  Lyrik  ist  überhaupt  nicht  die  starke  Seite  der  Franzosen; 
kaum  aber  mag  es  eine  Zeit  gegeben  haben,  in  der  sie  weniger  lyrischen 
Schwung  in  sich  verspürten,  als  während  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts. Auch  die  Völker  haben  ihre  Stimmungen  und  Launen,  die 
selbst  wieder  oft  unter  der  Herrschaft  der  Mode  stehen.  Nirgends  jedoch 
ist  die  Mode  so  mächtig  wie  in  Frankreich,  weil  die  sociale  Gleichheit 
nirgends  so  groß  ist.  Man  scheut  sich  anders  zu  leben,  anders  zu  thun 
und  zu  denken,  als  der  gerade  herrschende  Geist  es  will.  Das  gilt  zu- 
nächst von  den  litterarischen  und  ästhetischen  Anschauungen,  von  dem 
gesellschaftlichen  Leben,  von  dem  Ausdruck  in  Wort  und  Schrift,  obwol 
man  auch  die  häufig  und  unerwai'tet  eintretenden  Umschläge  in  der  poli- 
tischen Geschichte  des  Landes  zum  Teil  damit  erklären  kann.  Auch  die 
Art,  zu  empfinden,  .  oder  besser  vielleicht,  die  Art,  eine  Empfindung 
auszudrücken,  ist  mehr,  als  man  gewöhnlich  glaubt,  Sache  des  zufällig 
herrschenden  Geschmacks.  Nur  das  echte  Dichtergenie  unterwirft  sich 
ihm  nicht,  sondern  bestimmt  ihn.  Versemachen  war  zur  Zeit  Lud- 
wigs XIII.  ein  beliebter  Zeitvertreib  der  eleganten  Welt,  und  so  unter- 
zogen sich  dieser  Pflicht  viele,  die  sonst  nicht  daran  gedacht  hätten. 
Solche  Dichter  aber  können  nur  nachahmen,  und  da  Italien  damals  den 
Ton  augab,  dichteten  sie  im  italienischen  Geschmack.  Die  Männer,  welche 
im  Hotel  Rambouillet  wegen  ihrer  galanten  Sonette  gepriesen  wurden, 
hätten  mit  nicht  minderem  Eifer  weltschmerzlich  empfunden  oder  ihre 
Verse  im  Stil  der  Romantiker  verfaßt,  wenn  sie  zufällig  Lord  Byrons 
oder  Victor  Hugos  Zeitgenossen  gewesen  wären.  Ihre  Begabung  hätte 
für  die  äußerliche  Nachahmung  auch  dieser  Manier  ausgereicht.  Da  sie 
aber  zwei  Jahrhunderte  früher  lebten,  fanden  sie  ihren  Ruhm  in  zier- 
lichen Worten  und  gesuchtem  Witz.  Jede  Epoche  hat  ihren  besonderen 
Charakter,  den  sie  in  allen  Äußerungen  offenbart.  Und  darum  findet 
auch  eine  Lyrik,  die  ohne  inneren  dichterischen  Wert  ist,  ihre  Stelle  in 
der  Geschichte  der  Litteratur.  Spiegelt  sich  doch  oft  die  Zeit  in  ihr  auf 
ganz  besondere  Weise.  Das  Bild  des  Geisteslebens  und  der  Gesellschaft 
jener  Tage  wäre  unvollständig,  wenn  man  die  Lyrik  unbeachtet  lassen 
wollte. 

Wie  sich  die  lyrische  P.oesie  in  Frankreich  unter  Malherbes  Einfluß 
und  unter  der  Herrschaft  des  Hauses  Rambouillet  in  ihrer  Entwicklung 
gestalten  mußte,  ist  klar.  Sie  gehörte  einer  neuen  Zeit  an,  und  eine  tiefe 
Xluft  trennte  sie  von  den  Dichtungen  eines  Desportes  und  Bertaut. 
Auch  hier  tritt  vor  allem  das  Ringen  um  die  Form  zu  Tage.-  Die  Vorzüge 
und  Mängel  Malherbes  finden  sich  auch  bei  seinen  Nachfolgern;  die 
eisteren  abgeschwächt,  die  letzteren  oft  verstärkt.  Es  ist  kein  Zufall, 
daß  unter  allen  Formen  der  lyrischen  Poesie  das  Sonett  damals  zumeist 
zu  Ehren  kam.  Wenn  irgendwo,  so  ist  im  Sonett  die  Schönheit  der 
Form  unerläßlich.  Je  größer  der  Zwang,  der  zu  überwinden  war,  desto 
ruhmvoller  erschien  der  Sieg.  Noch  Boileau  erklärte,  daß  ein  gelun- 
genes Sonett  eine  große  Dichtung  aufwiege.  Daneben  wurden  haupt- 
sächlich die  Ode,  die  Stanze,  das  Epigramm  gepflegt,  während  die  natio- 
nalen Formen  der  französischen  Lyrik  mehr  noch  als  früher  vernachlässigt 


134 

wurden.  Alle  Poesie  lag  fär  die  damaligen  Dichter  in  dem  ängstlichen 
Abwägen  der  Silben,  in  der  pedantischen  Beobachtung  der  vorge- 
schriebenen Ruhepunkte,  in  dem  emsigen  Feileu  und  «rlätten  der  ein- 
zehien  Verse;  und  dem  Spiel  mit  der  künstlichen  Form  entsprach  der 
Geist,  der  sich  in  ihr  enthüllte.  Der  Mangel  an  Gehalt  wurde  immer 
größer.  Daß  die  Lyrik  politisch  völlig  farblos  war,  ist  erklärlich.  Ab- 
gesehen von  den  schmeichelnden  Huldigungsgedichten  für  die  Großen, 
findet  sich  nirgends  eine  Andeutung,  daß  man  wirklichen  Anteil  an  dem 
Schicksal  des  Landes  genommen  hätte,  wie  z.  B.  d'Aubigne  es  während 
der  Religionskriege  gethan.  Wie  hätte  es  auch  anders  sein  können,  da 
das  öffentliche  Leben  immer  mehr  dahinschwand.  Wer  nicht  seinen 
Privatvorteil  bei  Hof  oder  in  einem  Staatsamt  suchte,  zog  sich  in  die 
Stille  zurück.  Das  Gefühl  der  Vaterlandsliebe  findet  darum  in  der  ganzen 
damaligen  Poesie  keinen  Ausdruck.  So  singt  Racan  einmal  das  Lob 
de?  dunkeln  Lebens,  das  thaten-  und  ruhmlos  verstreicht.  Mögen  andere 
ihrem  Ehrgeiz  fröhnen.  er  verzichtet  willig  auf  die  Gunst  des  Hofes, 
der  doch  allein  Ruhm  und  Ehre  verleihen  kann.  Der  König  zieht  zum 
Kampf  aus,  und  der  Dichter  überlegt,  ob  er  ihm  folgen  soll.  Aber  er 
kommt  zum  Schluß,  daß  er  sein  Leben  und  seine  Treue  schon  einem 
andern  Herrscher,  dem  Liebesgott,  gewidmet  hat.  Wenn  andere  dem 
mächtigsten  der  Menschen  dienen,  so  dient  er  dem  mächtigsten  der 
Götter.')  „Fortan  sei  die  Liebe  das  Ziel  unserer  Wünsche!"  ruft  er  ein 
andermal  aus,  „denn  die  Götter  haben  den  Ruhm  für  sich  geschaffen 
und  für  uns  die  Lust.''-) 

Unwillkürlich  gedenkt  man  dabei  des  römischen  Volkes,  welches 
sich  nach  einem  langwierigen,  verzweifelten  Bürgerkrieg  unter  die 
Herrschaft  eines  Imperators  beugte,  dessen  Lyriker  dann  das  Glück  des 
Friedens  priesen  und  den  egoistischen  Lebensgenuß  als  höchste  Lebens- 
weisheit empfahlen.  Allein  der  Unterschied  ist  doch  gewaltig.  Horaz, 
Tibull  und  ihre  Freunde  besaßen  nicht  allein  in  ihrer  klassisch  ausge- 
bildeten Sprache  ein  wunderbares  Instrument;  sie  hatten  auch  Geist, 
Empfindung  und  Geschmack.  Gaben,  welche  zwar  nicht  genügen,  die 
höchsten  Anforderungen  in  der  Lyrik  zu  erfüllen,  welche  aber  immerhin 
eine  reiche  und  schöne  Litteratur  schaffen  können.  Alles  dies  aber  fehlte 
der  französischen  Poesie  jener  Zeit.  Schärfer  kann  man  sie  nicht  be- 
urteilen, als  dies  Guizot  gethan  hat:  ., Ungeachtet  der  Mannigfaltigkeit 
in  der  Litteratur  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  erkennt  man 
in  ihr  einen  Hauptzug,  den  Mangel  eines  wahren  und  ernstlichen  Gefühls 
und  jener  Inspiration,  welche,  aus  der  Wirklichkeit  selbst  geschöpft, 
diese  zunächst  in  das  Gebiet  der  Phantasie  erhebt  und  dann  erst   in  die 


^)  Siehe  Racan,  Oeuvres,  Ausgabe  1724,  S.  164,  die  Ode:  „Saison  des  fleurs 
et  des  plaisirs". 

-)  Sieie  Racan,    Ode  a  Mr.  le  eomte  de  Bussy,    wo  es  am  SohluD  heißt: 

Qu"amour  seit  desormais  la  lin  de  nos  desirs; 

Gar  pour  eux  seulement  les  Dieus  ont  fait  la  gloire, 

Et  pour  nous  les  plaisirs. 


135 

Verse  des  Dichters  übergeht.  Die  zahlreichen  Reimschmiede,  welche  damals 
die  Psalmen  übertrugen  oder  paraphrasierten,  waren  keineswegs  von  reli- 
giöser Begeisterung  beseelt;  kein  einziges  der  zehntausend  Sonette, 
Balladen  und  Madrigale,  welche  die  Liebe  bis  zum  Überdruß  feierten, 
war  von  der  Liebe  eingegeben;  die  Freude  an  der  Natur  und  der  An- 
blick ihrer  Schönheiten  haben  kein  einziges  Gedicht  veranlaßt,  das  wirklich 
von  Herzen  käme  oder  eine  Erregung  der  Phantasie  andeutete.  Welches 
Thema  man  auch  für  seine  Verse  wählen  mochte,  man  sah  darin  nur 
ein  Spiel  des  Geistes,  eine  Gelegenheit,  mehr  oder  weniger  harmonische 
Wörter,  mehr  oder  weniger  angenehme  Ideen  auf  mehr  oder  weniger 
sinnreiche  Weise  zusammenzustellen." 

,.Kein  Mensch,  der  dichten  wollte,  dachte  daran,  seine  wahren 
Seelenempfindungen.  seine  wahre  Sehnsucht,  seine  Befürchtungen  und 
Hoffnungen  zu  ergründen,  sein  Herz  und  die  Erinnerungen  seines  Lebens 
zu  befragen,  kurz,  ein  Dichter  und  nicht  bloß  ein  Verseschmied  zu  sein. 
Die  Unmöglichkeit,  in  den  poetischen  Werken  eines  halben  Jahrhunderts 
ein  wahrhaft  erhabenes,  kraftvolles  oder  leidenschaftliches  Gedicht  zu 
finden^  ist  eine  Thatsache,  die  den  Gesichtspunkt  begreiflich  maclit, 
unter  welchem  man  die  Poesie  zu  einer  Zeit  ansah,  welcher  die  natür- 
lichen und  mächtigen  Gefühle  des  menschlichen  Herzens  so  wenig  fremd 
waren,  wie  irgend  einer  anderen  Epoche."') 

Guizot  irrt  nur  in  dem  letzten  Punkt,  und  seine  Bemerkung,  daß 
die  Herzen  damals  so  lebhaft  geschlagen  hätten  wie  sonst,  ist  vielleicht 
zu  allgemein.  Er  übersieht,  daß  er  es  nicht  mit  nationaler  Poesie, 
sondern  mit  höfischer  Dichtung  zu  thun  hat.  Und  während  das  Volk, 
wie  zu  jeder  Zeit,  die  Lebendigkeit  seines  Gefühls  und  seiner  Anschauung 
bewahrte,  hatten  diese  vornehmen  Kreise  wirklich  die  Kraft  der  Leiden- 
schaft, die  Wahrheit  der  Empfindung  eingebüßt.  Hätten  sie  in  der 
That  kräftig  empfunden,  so  müßten  wir  die  Spuren  davon  in  ihren 
Gedichten  finden.  Es  war  also  nicht  allein  eine  falsche  Anschauung  von 
dem  Wesen  und  der  Aufgabe  der  Poesie,  welche  die  Dichter  jener  Zeit 
irre  leitete,  es  war  die  jeder  Poesie  entfremdete  Natur  der  Dichter, 
welche  nichts  Besseres  schaffen  konnte. 

So  nur  erklärt  sich  die  falsche  Galanterie,  der  hohle  Witz,  die 
künstlich  erregte  und  deshalb  so  frostige  Leidenschaftlichkeit  in  der  da- 
maligen Lyrik.  ..Willst  Du  mich  über  die  Sterblichen  erheben,  so  lasse 
mich  aus  Deiner  hohlen  Hand  trinken,  sofern  das  Wasser  nicht  den 
Schnee  derselben  zum  Schmelzen  bringt",  fleht  der  eine,  und  wenn  ihm 
sein  Wunsch  erfüllt  wird,  so  fühlt  er  sich  vor  Wonne  dem  Tode  nahe, 
denn  die  Geliebte  hat  ihn  „um  die  Hälfte  mehr  Feuer  als  Wasser 
schlürfen    lassen".-)     Ein    anderer   weiß,    daß   seine    Schöne    selbst    im 


1)  Guizot,  Corneille  et  .sou  tcmps.  >]tiide  litteraire.  Nouvelle  edition.  Paris 
1858,  Didier  &  Cie.  S.  85  if. 

2)  Tristan  l'Ermite,  „promenoir  de  deux  amants" : 

„Veux-tu  par  un  doii.x  privilege 
„Me  mettre  au-dessus  des  Humains  V 


136 


Himmelreich  Herrscherin  ist,  und  darum  hält  er  es  für  ein  Glück,  daß 
Amor  blind  ist,  sonst  wäre  auch  dieser  verloren.  Denn  die  Schönheit 
seiner  Geliebten  ist  so  groß,  daß  man  sinnlos  sein  muß,  um  seine  Sinne 
zu  bewahren.^)  Ist  Philis  fieberkrank,  so  weiß  der  Dichter  gleich,  daß 
der  Himmel  ihr  dieses  Leiden  schickt,  weil  er  neidisch  ist  und  der  Erde 
einen  solchen  Besitz  mißgönnt.^)  Wieder  ein  anderer  bittet  die  Nach- 
tigall, der  Geliebten  zu  sagen,  daß  der  Bach,  der  zwischen  den  Blumen 
dahinströmt,  ein  Überrest  der  Thränen  sei,  welche  ihm  seine  Liebe 
entlockt  habe.^)  In  dieser  AVeise  klingen  alle  Liebeslieder  der  Zeit.  Sie 
sind  nur  ein  konventionelles  Spiel .  und  es  ist  erklärlich ,  warum  der 
ebenso  gelehrte  als  trockene  Chapelain  in  einer  späteren  akademischen 
Rede  sich  gegen  die  Liebe  erklärte  und  ihr  jede  Bedeutung  für  die 
Poesie  absprach.  Statt  der  Empfindung  bot  der  Dichter  Wortspiele  und 
Antithesen,  statt  der  Wahrheit  hatte  er  nur  Künstelei.  Einer  der  besten 
unter  den  damaligen  Poeten,  Racan ,  klagt,  daß  ihn  seine  Liebe  weder 
leben  noch  sterben  lasse.  Selbst  im  Krieg  könne  er  den  Tod  nicht 
finden,  denn,  wenn  Amor  mit  seinen  Pfeilen  ihn  nicht  habe  töten 
können,  wer  vermöchte  es  dann?  Auch  dürfe  der  treue  Liebende  den 
Tod  nicht  suchen,  denn  der  Tod  endige  ja  die  Liebesqual,  in  der  er 
ewig  zu  schmachten  begehre."*)  Racan  feiert  ein  andermal  eine  Cloris, 
welche  mit  jedem  ihrer  Haare  eine  Seele  gefesselt  hält  und  deren  feurige 
Augen  die  Welt  schon  längst  zu  Asche  gebrannt  hätten,  wenn  diese  nur 
solcher  Ehre  würdig  wäre.'') 

Bei  dieser  beispiellosen  Fadheit  und  diesem  Ungeschmack,  der 
übrigens  zu  jener  Zeit  nicht  in  Frankreich  allein,  sondern  in  allen 
romanischen  Ländern  und  noch  weiter  hinaus  herrschte,  sollte  man 
wenigstens  denken,  daß  die  Sprache  ängstlich  vor  jeder  unschönen 
Wendung,  jedem  häßlichen  Bild  bewahrt  worden  wäre.  In  formeller 
Hinsicht  hat  die  Sprache  allerdings  durch  diese  Dichter  manches  ge- 
wonnen,    allein    bei    alledem    sind    selbst   die   besseren   derselben,    wie 


„Fay-moi  boire  au  creux  de  tes  iiiaias, 
,,Si  l'eau  n'en  dissout  point  la  neige. 

„Ah,  je  n'en  puls  plus,  je  me  pasme, 
,,Mon  ame  est  preste  ä  s'envoler, 
„Tu  vieus  de  me  faire  avaler 
„La  moltie  moins  d'eau  que  de  flame  "^ 

1)  Racan  in  seiner  Ode  „Plaisant  sejour"  : 
„Ses  beautes  sont  telles 

Que  pour  estre  insensible  il  faut  estre  insense." 
-)  Racan,  Sonnet  sur  la  maladie  d'une  maitresse. 

3)  Francois  Maynard,  Oeuvres,  Paris  1646,  chez  Augustin  Courbe,  S.  130: 
„Apprens  ä  cette  ame  cruelle 
„Que  l'eau  qui  coule  entre  ces  Fleurs 
„Est  un  petit  reste  des  pleurs 
„Que  j'ay  verses  pour  Tamour  d'elle." 
*)  ßacau,  Ode,  S.  170,  der  oben  citierten  Ausgabe. 
5)  Racan,  Ode,  S.  177. 


137 

Majnard  u.  a.,  oft  unglaublich  geschmacklos  und  roh.  Die  größere 
Freiheit,  welche  die  Zeit  dem  Wort  gestattete,  kann  zum  Teil  die 
Derbheit  des  Ausdrucks  erklären,  aber  sie  entschuldigt  nicht  die  Ge- 
schmacksverwirrung, die  überall  eingerissen  war.') 

Auf  den  Giund  dieser  merkwürdigen  Erscheinung  haben  wir  schon 
oben  hingedeutet.  Die  Lyrik  war  gleich  der  ihr  verwandten  Schäfer- 
dichtung wesentlich  Hofpoesie.  Noch  fehlte  das  große  Publikum,  das 
allein  den  Dichter  selbständig  machen  und  ihn  vor  vielen  Verirruugen 
bewahren  kann.  Damals  mußten  die  Dichter,  die  nicht  von  Haus  aus 
unabhängig  waren,  in  den  Dienst  der  Großen  treten,  ihnen  huldigen 
und  sich  deren  Geschmack  unterwerfen.  So  war  es  ihnen  schwer,  aus 
der  Welt,  in  der  sie  sich  bewegten,  und  dem  engen  Gedankenkreis,  in 
welchen  sie  eingeschlossen  waren,  sich  zu  retten.  Ein  Dichter  gehörte 
zum  Hofhalt  eines  vornehmen  Herrn  und  ergänzte  gewissermaßen  dessen 
Dienerschaft.  Daher  denn  auch  die  Sündflut  von  Huldigungsgedichten. 
Man  könnte  allein  ganze  Bände  füllen  mit  den  Oden,  welche  zu  Ehren 
des  Königs  Ludwig  oder  des  Kardinals  Richelieu  verfaßt  wurden.  Jeder 
Dichter  hielt  es  für  seine  Pflicht,  sich  anbetend  in  den  Staub  zu  werfen 
und  das  Lob  der  Mächtigen  zu  verkünden,  von  deren  Gnade  er  abhing. 
Da  das  gleiche  Thema  häufig  wiederkehrte,  konnte  der  Poet  durch  die 
Variationen,  die  er  anzubringen  wußte,  seine  besondere  Geschicklichkeit 
beweisen.  Daß  man  kleine  Kriegsthaten  der  Gönner  zur  Größe  welt- 
geschichtlicher Ereignisse  aufblähte,  war  natürlich,  wie  denn  diese  Kunst 
auch  von  Malherbe  schon  geübt  worden  war,  als  er  in  etwas  fei- 
nerer Schmeichelei  zum  Kampf  gegen  den  Halbmond  aufforderte  und 
die  Eroberung  des  Orients  als  selbstverständlich  in  nächste  Aussicht 
stellte.  Von  Malherbe  auch  hatte  man  gelernt,  die  Lobsprüche  gleichsam 
an  den  Meistbietenden  zu  verschachern.  Maynard,  welcher  Präsident 
eines  Gerichtshofs  war,  trug  keine  Scheu,  sich  dem  König  zum  Leib- 
poeten anzutragen  und  ihm  ein  Geschäft  vorzuschlagen.  „Gieb  mir  Geld," 
sagte   er  ihm,    „und   ich    gebe  Dir  Ruhm."-)     Denn   diese  Leute  waren 

1)  So  sagt  z.  B.  Maynard  einmal  in  einem  Glückwunsch  zum  Beginn  des 
Jahrs,  das  Jahr  habe  neue  Stiefel  angezogen  (s.  Maynard,  Oeuvres,  Ode  S.  306) : 
Comte,  illustre  par  mille  epreuves 
Je  te  salue  en  ce  beau  jour, 
Que  l'an  a  mis  des  Bottes  neuves 
Pour  aller  refaire  son  tour. 
Ein  Epigramm  desselben  Dichters  (S.  82)  schließt: 
Meuble-toy  d'un  autre  Amy. 
Cette  beuche  qui  te  baise 
A  moins  parle  que  vomy. 

-)  Maynard,  Oeuvres,  Ausgabe  von  164G,  S.  178.  Dort  schließt  das  Ge- 
dicht „Grand  Louis,  ma  faf/on  d'ecrire"'  wie  folgt: 

„J'auray  du  sein  pour  ton  Histoire, 
Et  si  tu  me  donnes  du  Bien 
Je  te  donneray  de  la  Gloire." 
Ein  wenig  Statistik    wird    hier   nicht    stören.    Eine  Sammlung   von  Ge- 
dichten:   „Les  nouvelles  Muses    des    sieurs    Godeau,    Chapelain,    Habert,   Baro, 


138 


in  der  That  fest  überzeugt,  daß  es  in  ihrer  Macht  stünde,  nach  Belieben 
ewigen  Ruhm  zu  verleihen.  Sie  hielten  ihre  Gedichte  für  unvergänglich 
und  glaubten  umso  fester  an  ihre  Unsterblichkeit,  als  sie  es  sich  gegen- 
seitig mit  freundnachbarlicher  Liebenswürdigkeit  versicherten. 

Malherbe,  der  Meister  und  das  Haupt  der  Schule,  hatte  bei  alle- 
dem doch  eine  gewisse  Größe  des  Ausdrucks,  Schwung  in  der  Sprache 
und  Glanz  der  Bilder  besessen.  Die  Mehrzahl  seiner  Zeitgenossen  und 
Nachahmer  war  auch  dieser  Vorzüge  bar  und  sank  zu  völliger  Trivia- 
lität herab.  Für  diese  Dichter  gab  es  nur  eine  Stätte,  wo  sie  gedeihen 
konnten.  Der  Hof  war  ihre  Welt,  und  Paris  der  einzige  Ort,  der  sie 
begeisterte.  So  sehr  war  schon  damals  der  Gegensatz  zwischen  der  Haupt- 
stadt und  der  Provinz  ausgebildet,  daß  sich  die  Pariser  Schöngeister  in 
der  Provinz  wie  in  einer  Wüste  glaubten.  Allerdings  fanden  sie  keinerlei 
litterarisches  Leben  daselbst  oder,  was  noch  schlimmer  war.  das  schlimmste 
Zerrbild  eines  solchen.-)  Daher  denn  auch  der  vollständige  Mangel  an 
Naturgefühl.  Nur  selten  findet  ein  Dichter  einmal  ein  wahres  Bild  aus 
dem  Leben  der  Natur,  kaum  einer  ahnt  ihre  Kraft  und  Schönheit. 
Die  meisten  kennen  die  Natur  nur  aus  den  Büchern:  sie  wiederholen 
die  eingelernten  Schulausdrücke,  die  Bilder  und  Vergleiche,  die  sie  ihrem 
Virgil  oder  einem  andern  Klassiker  entnommen  haben.-)  Selbst  ßacan, 
der  meist  auf  seinem  Gut  wohnte  und  sich  des  Landlebens  erfreute, 
bleibt  so  sehr*  in  den  Fesseln  der  Konvention  gefangen,  daß  er  in 
einer  Ode  auf  den  Frühling  die  Äcker  als  von  der  Frucht  vergoldet 
schildert !  ^)  Überall  mischt  er  künstliche  Zuthaten  in  seine  Natur- 
beschreibungen. Statt  von  der  Sonne  spricht  er  von  der  .,  Fackel  des 
Tags",  und  die  Wiese,    auf  der  er  ruht,    ist  ihm  ein   Bett,    das  keine 


Eacan,  L'Estoile,  Menard,  Desmarets,  Maleville  et  autres"*  (Paris  1G3.3,  chez 
Piobert  Bertault)  enthält  auf  110  Seiten  ein  Loblied  auf  den  König,  sechs  auf 
Kichelieu,  zwei  Gedichte  zu  Ehren  anderer  hohen  Herren  und  zwei  geistliche 
Gedichte.  Dann  folgt  ein  Anhang  von  45  Seiten,  auf  welchen  die  Dichter  mit- 
einander wetteifern  im  Preis  einer  Statue  von  Cochet,  Dido  darstellend;  nichts 
als  Sonette,  Madrigale  und  Epigramme,  54  in  französischer  und  4s  in  lateini- 
scher Sprache.  Die  Statue  war  nämlich  in  den  Besitz  Richelieus  übergegangen. 
Der  Dichter  Maynard,  einer  der  am  meisten  gerühmten  Poeten,  hat  unter  60  So- 
netten mehr  als  30  Huldigungsgedichte  an  vornehme  Herren,  elf  allein  an  den 
Kanzler  Seguier.  Ähnliche  Berechnungen  könnte  man  bei  jedem  Dichter  jener 
Zeit  anstellen  und  zum  voraus  eines  ähnlichen  Ergebnisses  sicher  sein. 

^)  Maynard,  zum  Gerichtspräsidenten  in  Aurülac  ernannt,  konnte  sich 
über  seine  Verbannung  nicht  trösten.  Ein  Schranzenleben  bei  Hof  wäre  ihm 
lieber  gewesen.  Immer  wieder  klagt  er  über  das  „barbarische"  Land,  während 
er  Paris  „le  pais  de  tout  le  monde-'  nennt.  So  sagt  auch  Gomberville  in  der 
Vorrede,  mit  welcher  er  die  Ausgabe  von  Maynards  Werken  (1646)  begleitete: 
„...pour  avoir  relegue  ce  grand  homme  dans  des  Provinces  que  je  nommerais 
barbares  si  la  presence  d'un  si  bei  esprit  n'en  avoit  bany  toute  la  barbarie." 

2)  Dem  Naturgefühl,  wie  es  sich  im  17.  Jahrhundert  überhaupt  äußerte, 
wird  ein  besonderer  Abschnitt  eines  späteren  Bands  gewidmet  werden. 

3)  Siehe  Racan.  La  venue  du  printemps.  Ode  ä  Mr.  de  Termes.  Darin 
heißt  es  im  ersten  Vers  der  dritten  Strophe : 

„Les  moissons  dorent  les  plaines.-*     Im  Frühling! 


139 


anderen  Vorhänge  hat,  als  den  Schatten  der  Gebüsche.  Die  Sterne  er- 
bleichen bei  ihm  des  Morgens  „vor  Erstaunen"  und  der  Tag  „entwendet 
der  Göttin  Aurora  die  Rosen"   u.  s.  w. 

Modesache,  wie  die  Bethätigung  der  Galanterie,  war  aucli  die  Be- 
tonung des  frommen  Sinns.  Obwol  damals  die  maßgebende  Gesellschaft 
sich  der  Kirche  gegenüber  ziemlich  gleichgiltig  verhielt,  so  gehörte  es 
doch  unter  den  Dichtern  zum  guten  Ton,  auch  einige  geistliche  Gedichte 
zu  verfassen.  Fast  immer  waren  es  die  Psalmen,  deren  Paraphrase  ver- 
sucht wurde.  Je  weniger  man  im  stände  war,  die  großartige  Einfach- 
heit der  hebräischen  Poesie  zu  erkennen,  umso  mutiger  unternahm  man 
die  Arbeit  und  verwässerte  das  Original  in  matten  Umschreibungen.  Wie 
ernst  es  im  übrigen  oft  mit  diesen  religiösen  Kundgebungen  gemeint 
war,  erkennt  man  daraus,  daß  dieselben  Leute  neben  ihren  Psalmen  dei'b 
lascive  Gedichtchen  lieferten.  An  solchen  war  die  Zeit  sehr  reich.  Unter 
Heinrich  IV.  legte  man  ihrer  Verbreitung  nichts  in  den  Weg;  später 
sah  mau  nur  darauf,  daß  sie  nicht  geiade  öffentlich  äusgeboten  wurden.') 

Die  Zeit  war  an  Dichterlingen  so  fruchtbar  wie  irgend  eine.  Die 
Liste  der  Lyriker  weist  eine  stattliche  Reihe  von  Namen  auf,  und  käme 
es  nur  auf  die  Quantität  an,  man  könnte  zufrieden  sein.  Madrigale  und 
Epigramme  zu  schreiben,  wurde  in  der  feineren  Gesellschaft  zur  wahren 
Manie.  Maynard  beklagt  sich,  daß  selbst  sein  Stallknecht  Verse  machen 
wolle.^')  Doch  ht  es  nicht  leicht,  sich  von  den  Arbeiten  aller  dieser 
Jünger  Apolls  genaue  Rechenschaft  zu  geben.  Ihre  Gedichte  erschienen 
zum  großen  Teil  in  den  poetischen  Sammelwerken  jener  Zeit  zerstreut 
und  nur  von  einzelnen  sind  später  Gesamtausgaben  veranstaltet  worden.^) 

An  der  Spitze  der  ganzen  Heerschar  wandelte  der  reisige  Mal- 
herbe als  Rufer  im  Streit  und  als  Führer  der  Schlacht  Ihn  haben  wir 
schon  gewürdigt,  und  es  bleibt  uns  hier  nur  noch  'die  Schar  seiner 
Gefährten  zu  mustern. 

Den  nächsten  Anspruch  auf  Beachtung  haben  nach  Malherbe  die 
Dichter  Racan  und  Maynard.  Beide  standen  ihrem  Meister  nahe  und 
hätten,  nach  dessen  Ausspruch,  vereinigt  vielleicht  einen  großen  Dichter 
gebildet, ■*)  denn  dem  ersteren  schrieb  er  Kraft,  dem  andern  das  Talent 
des  Versbaues,  Sprach-  und  Versgefühl  zu.  Aber  selbst  wenn  sich  diese 
beiden  Talente  in  einem  Mann  vereint  gefunden  hätten,  so  hätte  ihm 
doch  noch  das  Beste  —  was  Malherbe  freilich  auch  nicht  kannte  — 
das  wahrhafte  Dichtergeraüt  gefehlt. 

1)  So  erschienen,  um  nur  einige  der  Hauptsammliuigeu  anzuführen,  im 
Jahr  1609  mit  königlichem  Privileg:  „Les  Muses  gaillardes,  recueillie.s. des  plus 
beaux  esprits  de  ce  temps,  par  A.  D.  B.  Parisien"  (letzte  Ausgabe).  Ähnlichen 
Inhalts  war  ^Le  Cabinet  satirique"  (16U  schon  in  der  2.  Auflage),  „Les  Delices" 
und  „La  Quintesseuce  satirique"  (1620).  „Le  Parnasse  satirique"  (1622)  war  ein 
Abdruck  dieser  letztgenannten  Sammlung  mit  Hinzufügung  einiger  frechen 
Stücke,  die  man  Theophile,  CoUetet  u.  a.  zuschrieb.  Die  Gemeinheit  der  in 
diesen  Sammlungen  enthaltenen  Stücke  kann  wol  nicht  überboten  werdeu. 

-)  Maynard,  Oeuvres,  Epigramm  S.  199. 

3)  Siehe  die  bibliographische  Notiz  am  ScbliiCi  des  Abschnitts. 

*)  Siehe  Abschnitt  III,  S.  94. 


140 


Honorat  de  Bueil,  Marquis  de  Racan,  war  zu  La  Roche  Racau, 
einer  Besitzung  seines  Vaters  in  der  Touraine,  im  Jahr  1589  geboren. 
Sein  Vater  hatte  Kriegsdienste  geleistet  und  war  als  Marechal  de  Camp 
aus  der  Armee  geschieden.  Die  Vermögensverhältnisse  der  Familie  fanden 
sich  nach  dem  Bürgerkrieg  völlig  zerrüttet.  Der  junge  Racan  kam  im 
Jahr  1605  als  Page  an  den  Hof  des  Königs  und  fand  dort  in  dem 
Herzog  von  Bellegarde  einen  Verwandten  und  Gönner.*)  Den  Dank  für 
den  Halt,  den  er  an  ihm  fand,  zahlte  Racan  später  als  Dichter, 
indem  er  den  Herzog  in  überschwängl icher  Weise  als  den  größten  Mann 
Frankreichs,  als  den  Retter  des  Vaterlands  pries.  Xach  einiger  Zeit  trat 
er  in  die  Armee,  der  er  indessen  nur  wenige  Jahre  angehörte.  Xach 
Tallemants  Zeugnis  war  er  durch  seine  äußere  Erscheinung  vielfach 
gehemmt;  er  habe  einem  derben  Pächter  gleichgesehen  und  stark  ge- 
stottert. So  gab  er  bald  jede  weitere  ehrgeizige  Absicht  auf,  trat  ins 
Privatleben  zurück  und  schloß  sich  eng  an  Malherbe  an,  den  er  schon 
aus  früherer  Zeit  als  Untergebenen  Bellegardes  kannte.  Von  diesem  an- 
geregt und  gefördert,  wol  auch  manchmal  mit  Eifersucht  verfolgt,-)  ge- 
hörte Racan  bald  zu  den  angesehensten  Dichtern  seiner  Zeit  und  wurde 
bei  der  Stiftung  der  Akademie  für  würdig  befunden,  in  dieselbe  einzu- 
treten. Doch  kam  er  selten  nach  Paris.  Er  liebte  die  friedliche  Zurück- 
gezogenheit seiner  Heimat  und  verbrachte  daselbst  einen  großen  Teil 
seines  Lebens.  Da  er  zu  hohen  Jahren  kam.  war  es  ihm  vergönnt,  noch 
die  höchste  Blüte  der  französischen  Litteratur  zu  erleben.  Er  starb  im 
Alter  von  81  Jahren  im  Februar  des  Jahrs  1670. 

Sein  Hauptwerk  war  ein  Pastoraldrama:  „Les  Bergeries",  mit 
welchem  er  dem  herrschenden  Geschmack  entsprach.  Wir  werden  davon 
später  handeln ,  wenn  wir  die  Entwicklung  der  dramatischen  Litte- 
ratur zu  schildern  haben.  Daneben  besitzen  wir  von  ihm  eine  Samm- 
lung von  Oden,  Stanzen,  Sonetten  und  Epigrammen.  Die  meisten  seiner 
Gedichte  enthalten  Huldigungen  für  hochgestellte  Personen,  oaer  Liebes- 
klagen im  üblichen  Ton  der  Galanterie.  Am  besten  ist  er,  wenn  er  das 
Landleben  und  den  sorglosen  Genuß  stiller  Unabhängigkeit  feiert.  Dann 
findet  er  manchmal  den  Ton  der  Wahrheit  und  Natürlichkeit,  wie  z.  B. 
in    seinem  Gedicht    ..An  Tirsis^.    das   er    auch    seinen   „ Bergeries "   vor- 


1)  Die  Herzogin  von  Bellegarde,  Anne  de  Bueil,  war  seine  Cousine  und 
vermachte  ihm  später  eine  Rente  von  2000  Livres.  Siehe  ferner  Racans  „Ode 
pour  Monseigueur  le  Duo  de  Bellegarde,  Pair  et  Grand-Ecuyer  de  France'-,  letzte 
Strophe : 

Pour  moy  de  qui  l'enfance  au  malheur  asservie, 
Surmonta  les  soucis  qui  mena^oient  ma  vie 
Par  l'excez  des  faveurs  qu'elle  reeeut  de  toy; 
Ces  obligatious  me  rendent  insolvable; 
Mais  dois-je  estre  honteux  d'estre  ton  redevable 
Si  la  Frauce  ä  Jamals  Fest  aussi  bien  que  moyV 
Welche  Gefahren    ihn  in  seiner  Jugend  bedroht  haben  sollen,    ist    nicht 
bekannt. 

2)  Tallemaut  des  Reaux,  Historiettes,  II,  354.  wo  Racan  auch  als  „bon- 
horame  et  sans  finesse"  cfeschildert  wird. 


141 

stellte.  „Es  ist  Zeit,"  ruft  er  darin  seinem  Freund  zu,  „an  den  Rück- 
zug zu  denken.  Wir  haben  die  Hälfte  unserer  Lebensbahn  durchmessen 
und  das  Alter  führt  uns  unbemerlit  dem  Tod  zu.  Genugsam  haben  wir 
unser  Schifflein  von  der  Laune  der  Wogen  auf  dem  Meer  dieses  Lebens 
umhertreiben  lassen;  es  ist  Zeit,  das  Glück  des  sicheren  Hafens  zu  ge- 
nießen." Racan  erhebt  sich  stellenweise  zu  wirklicher  Beredsamkeit,  wenn 
er  den  Mann  preist,  der,  ohne  nach  eitlem  Ruhm  zu  streben,  sein  Leben 
in  der  Stille  verbringt,  das  Land  seiner  Väter  bebaut  und  in  den  engen 
Grenzen  seines   Besitzes  sein  eigener  König  ist. ^) 

Daneben  hat  er  Liebeslieder,  welche  ganz  das  falsche  Pathos  und 
den  üngeschmack  der  anderen  Lyriker  zeigen,  und  von  welchen  schon 
einige  Proben  gegeben  wurden.  Großen  Ruhm  erwarb  er  noch  mit  einer 
Paraphrase  der  Psalmen,  die  er  mit  Zustimmung  der  Akademie  unter- 
nahm. Er  hatte  sich,  um  sicher  zu  gehen,  an  die  würdige  Gesellschaft 
gewandt  und  um  deren  Urteil  gebeten,  das  denn  auch  ganz  nach  Wunsch 
ausfiel.  Um  seine  Psalmen  „den  Damen  und  den  Gebildeten  aus  den 
höheren  Ständen  (aux  personnes  polies  du  beau  monde)  angenehmer  zu 
machen",  erlaubte  er  sich,  sie  zu  modernisieren.  So  wurde  unter 
seiner  Hand  der  13.  Psalm  zu  einer  Art  Satire  gegen  das  17.  Jahr- 
hundert, den  19.  Psalm  schnitt  er  auf  die  Person  Ludwigs  XIII.  zu, 
und  König  David  mußte  von  den  Kanonen,  den  „furchtbaren  Feuer- 
schlünden", reden. ^)  Daß  die  Größe  des  biblischen   Ausdrucks  bei  solcher 


1)  Stances  ä  Tirsis: 

„Tirsis,  il  faut  penser  ä  faire  la  retraite, 
„La  course  de  nos  jours  est  plus  qu'ä  demy  falte, 
„L'äge  insensiblement  nous  couduit  ä  la  mort. 
„Noiis  avons  assez  veu  sur  la  Mer  de  ce  monde 
„Errer  au  gre  des  Acts,  nostre  nef  vagabonde, 
„li  est  temps  de  jouir  des  delices  du  port. 

„0  Wen  heureux  celuy  qui  peut  de  sa  memoire 
.,Effacer  pour  jaraais  ce  vaia  espoir  de  gloire, 
„Dont  riuutile  soing  traverse  nos  plaisirs. 
„Et  qui  loing  retire  de  la  foule  Import une, 
„Vivant  dans  sa  maison  content  de  sa  fort  une, 
„A  Selon  son  pouvoir  mesure  ses  desirs. 

„11  laboure  le  champ  que  labouroit  son  Pere 
„11  ne  s'informe  point  de  ce  qu'on  delibere 
„Dans  ces  graves  conseils  d'aflaires  accablez. 

„Roy  de  ses  passions,  il  a  ce  qu'il  desire, 

„Son  fertile  domaiue  est  son  petit  Empire. 

„Sa  cabane  est  son  Louvre  et  son  Fontainebleau. 

2)  Man  vergleiche  Psalm  XX:  „Der  Herr  erhöre  dich  in  der  Not;  der 
Name  des  Gottes  Jakobs  schütze  dich...  Jene  verlassen  sich  auf  Wagen  uuti 
Rosse.  Wir  aber  denken  an  den  Namen  des  Herrn,  unseres  Gottes".  Diese  letzte- 
Strophe  wird  von  Racan  in  folgenden  Versen  breitgetreten  (Pseaume  XIX. 
Str.  6  et  7): 

En  vain  leurs  camps  nombreux  fönt  par  leurs  insolences 
Nos  campagnes  gemir  sous  des  forests  de  lances, 


142 


Manier  völlig  verloren  ging,  verstand  man  nicht,  und  bewunderte  um- 
somehr  den  Wohllaut  und  die  Weichheit  der  Eacan'schen  Verse. ^) 
Allerdings  hatte  Malherbe  ihn  öfters  getadelt,  weil  er  seine  Verse  nicht 
genug  feile.  Allein  wir  wissen,  daß  sich  nach  des  strengen  Censors 
Tod  die  Anforderungen  wieder  milderten  und  nicht  alle  seine  Gesetze 
aufrecht  erhalten  wurden.  Jedenfalls  besaß  Eacan  trotz  seiner  Schwächen 
einen  für  gefällige  Poesie  empfänglichen  Sinn  und  fand  für  dieselbe 
einen  glücklichen  Ausdruck.  So  bestand  denn  auch  sein  Ansehen  in 
der  Litteratur  länger  als  der  Ruhm  vieler  anderer  Dichter  seiner  Zeit, 
die  anfangs  mehr  Aufsehen  geuiacht  hatten.  Geradezu  unbegreiflich 
aber  erscheint  es,  daß  Boileau,  der  über  die  litterarischen  Bestrebungen 
seiner  Zeitgenossen  so  streng  und  im  allgemeinen  mit  Verständnis 
urteilte,  sich  über  Eacans  Begabung  so  täuschen  konnte,  daß  er  ihn 
Homer  an  die  Seite  zu  setzen  wagte.  Oder  sollte  er  den  griechischen 
Dichter  so  sehr  unterschätzt  haben  ?  -) 

Fran^ois  Maynard  (1582 — 1646)  stammte  aus  einer  angesehenen 
Familie  in  Toulouse.  Sein  Vater  war  Parlamentsrat  gewesen  und  hatte 
sich  als  juridischer  Schriftsteller  einen  gewissen  Namen  erworben.  Auch 
Fran^ois  widmete  sich  der  Rechtsgelehrsamkeit,  ging  jedoch  nach  voll- 
endeten Studien  an  den  Hof,  wo  er  eine  Zeit  lang  Sekretär  der  Königin 
Margarete  war.  Damals  schloß  er  sich,  wie  Racan,  an  Malherbe  an, 
was  ihn  jedoch  nicht  hinderte,  auch  mit  dessen  Gegnern  in  freundlichen 
Verkehr  zu  treten.  Seine  erste  größere  Arbeit  war  ein  Schäfergedicht : 
„Philandre",  in  fünf  Gesängen,  in  welchem  er  hauptsächlich  von  Honore 
d'ürfe  inspiriert  erschien.    Aber  weder  die  Muse,    noch  sein  Dienst  bei 

Serrent  leurs  bataillons  de  pique.s  herissez: 
Nous  sommes  assurez,  si  Dieu  nous  est  propice. 
De  voir  du  mesme  bras  qui  soütient  la  Justice, 
Leurs  desseins  renversez. 

Ces  machines  de  bronze  aux  bouches  redoutables 
Qui  vomissent  d'ua  coup  cent  uiorts  inevitables, 
Et  jettent  dans  les  rangs  la  flamme  et  la  terreur; 
Ces  tonneies  roulans  qui  fönt  trembler  la  plaine, 
N'y  feront  autre  mal  que  perdre  avee  la  peine 
L'espoir  du  laboureur. 
1)  Conrart,  der  Sekretär  der  Akademie,  schrieb  im  Auftrag  der  gelehrten 
Gesellschaft  an  den  Dichter  über  dessen  Psalmen:  „L'Academie  y  a  reconnu  ce 
beau  tour  et  ce  caractere  de  douceur  et  d'agrement   qui  ont   tousjours  este  ad- 
mirez  dans  vos  ouvrages.  Elle  vous  exhorte  d'en  haster  rexecution,  puisque  vous 
ne  pouvez  prendre  un  plus  noble." 
•^}  Boileau,  Sat.  IX,  v.  43: 

Sur  un  ton  si  hardi,  sans  etre  temeraire, 
Racan  pourroit  chanter  au  defaut  d'un  Homere. 
Man  vergleiche  damit  das  Lob,    das  Boileau  Homer  in  seiner  „Art  Poe- 
tique"  spendet  (lU,  295  flf.). 

Eine  bescheidenere  Stelle  erhält  übrigens  Racan  in  derselben  „Art  Poe- 
tique"  angewiesen.  I,  17,  heißt  es: 

Malherbe  d'un  heros  peut  vanter  les  exploits; 
Racan,  chanter  Philis,  les  bergers  et  les  bois. 


143 


Hof  brachten  ihm,  was  er  ersehnte;  und  so  ging  er  im  Jahr  16o4 
mit  dem  Gesandten  Fran9ois  de  Noailles,  Grafen  von  Ayen,  nach  Rom. 
um  dort  sein  Glück  zu  versuchen.  Vergebens.  Die  Ehrenstellen  und 
Pensionen  blieben  aus,  und  Maynard  mußte  sich  begnügen,  als  Präsident 
eines  Untergerichts  nach  Aurillac  in  der  rauhen  Auvergne  zu  gehen. 
Kichelieu  wollte  nichts  von  ihm  wissen,  und  der  Dichter  erging  sich  in 
bitteren  Klagen  über  dieses  Unglück.  Den  mächtigen  Kardinal  zu  er- 
weichen, wandte  er  sich  mit  einem  Gedicht  an  ihn,  und  teilte  ihm  mit. 
daß  er  bald  zu  seinen  Vätern  versammelt  werde.  Wenn  er  dann  in 
der  Unterwelt  dem  kunstsinnigen  König  Franz  I.  begegne,  werde  er 
ihm  von  Frankreichs  Geschicken  und  Richelieus  Großthaten  berichten. 
Was  aber  solle  er  antworten,  fragt  er  am  Schluß,  wenn  sich  der  König 
nach  den  Wohlthaten  erkundige,  die  er,  der  Dichter,  dem  Kardinal 
verdanke?  ..Nichts!"'  soll  die  Eminenz  verächtlich  bemerkt  haben,  als 
man  ihr  das  Gedicht  mit  der  unbescheidenen  Frage  vorlegte.  Und  also 
enttäuscht,  wurde  Maynard  Philosoph,  sang  von  der  Schlechtigkeit  der 
Welt,  welche  das  Verdienst  verkennt,  und  von  dem  Frieden  des  Herzens, 
den  er  in  der  Einsamkeit  gefunden  habe.  In  einem  resignierten  Sonett 
nahm  er  Abschied  von  Paris.  Die  Dienstbarkeit  sei  schimpflich  für  den, 
der  sein  eigener  König  sein  könne,')  „Besser  Schuster  sein,  als  Dichter !- 
ruft  er  ein  andermal  aus,  obwol  er  für  gewöhnlich  vom  höchsten  Selbst- 
gefühl erfüllt    ist  und    seinen  Ruhm   für  alle  Zeiten  begründet  glaubt.-) 


1)  Maynard,  Sonnet: 

Adieu,  Paris,  adieu  pour  la  derniere  fois. 
Je  suis  las  d'encenser  l'autel  de  ta  fortune, 
Et  brusle  de  revoir  mes  rochers  et  mes  bois, 
Oü  tout  me  satisfait  et  rien  ne  m'importune. 

Je  n'y  suis  point  touche  de  ramour  des  threzors ; 
Je  n'y  demande  pas  d'augmenter  mon  partage. 
Le  bien  qui  m'est  venu  des  peres  dont  je  sors, 
Est  petit  pour  la  cour,  mais  grand  pour  le  village. 

Depuis  que  je  connais  que  le  siecle  est  gaste 
Et  que  le  haut  merite  est  souvent  maltraite. 
Je  ne  trouve  ma  paix  que  dans  ma  solitude. 

Les  heures  de  ma  vie  y  sont  toutes  ä  moy; 
Qu'il  est  dous  d'estre  libre  et  que  la  Servitude 
Est  honteuse  ä  celuy  qui  peut  estre  son  Roy. 

~)  Siehe  s.  Epigramm  S.  209  in  der  Ausgabe  1646,  am  Schluß: 

U  vaut  mieux  au  siecle  oii  nous  sommes, 
Faire  des  bottes  que  des  Vers. 

Für  gewöhnlich  aber  Spricht  er  ganz  anders.   Vergl.  Sonnet  S.  15  („Que  j'aime 

ees  forests"): 

Depuis  que  le  village  est  toutes  mes  amours. 
Je  remplis  mon  papier  de  tant  de  helles  choses, 
Qu'on  verra  les  sfavans  apres  mes  derniers  jours 
Honorar  mon  tombeau  de  larmes  et  de  roses. 

Oder  das  Epigramm  S.  157  („Sors  de  la  poudre"): 


144 


Seine  Weisheit  hielt  indessen  nicht  lange  stand,  ei'  fühlte  sich  in  seiner 
Provinz  verlassen,  und  seine  Gedichte  verraten  sein  Leid.  Seine  Augen 
füllen  sich  mit  Thränen,  sagt  er,  so  oft  er  an  Paris  denkt,  und  er  nennt 
sich  kläglich  stolz  einen  „Provinz-Horaz".  So  versuchte  er  es  denn 
immer  wieder,  die  Machthaber  in  Paris  auf  sich  aufmerksam  zu  machen. 
In  einem  Bettelgedicht  an  Ludwig  XIIL  sagte  er,  er  habe  vernommen, 
daß  der  König  Gefallen  an  seinen  Epigrammen  finde.  Er  selbst  halte 
sie  für  zu  unbedeutend  und  werde  so  lang  an  ihrem  Wert  zweifeln,  bis 
der  König  ihm  durch  ein  Dekret  die  Versicherung  seines  Talents  gegeben 
habe.  Daraufhin  erfolgte  in  der  That  ein  königliches  Schreiben,  das 
ihm  den  Titel  eines  Staatsrats  verlieh.  Paris  aber  blieb  ihm  verschlossen, 
und  er  fand  sein  Grab  auf  dem  Friedhof  eines  Dorfs,  „das  nicht  einmal 
auf  der  Karte  verzeichnet  steht",  wie  er  ahnungsvoll  in  einem  Gedicht 
vorausgesagt  hatte. 

Von  Maynards  Dichtungen  waren  seiner  Zeit  die  Sonette  und  Epi- 
gramme am  höchsten  geschätzt.  Uns  erscheinen  sie  platt  und  geschmacklos. 
Man  rühmte  Maynard  nach,  daß  er  den  Bau  der  Stanzen  verbessert 
habe,^)  und  dieses  Verdienst  wurde  ihm  besonders  hoch  angeschlagen. 
So  zeigte  das  Jahrhundert  im  kleinen  wie  im  großen  dasselbe  Be- 
streben. 

Die  anderen  lyrischen  Dichter,  welche  sich  neben  Racan  und  May- 
nard bekannt  machten,  dürfen  wir  noch  kürzer  behandeln,  und  von 
manchen  werden  wir  nur  die  Namen  anführen,  um  eine  gewisse  Voll- 
ständigkeit der  Übersicht  zu  erreichen.  Unterschieden  sich  auch  einzelne 
unter  ihnen  durch  ihre  eigentümliche  Xatur,  so  wußten  sie  doch  nur 
selten  ihren  Dichtungen  einen  besonderen,  charakteristischen  Zug  zu 
verleihen.  Da  bietet  sich  zunächst  der  lebhafte,  witzige  Antoine  Godeau 
(1605—1672),  als  Student  der  Liebling  aller  deutschen  Kommilitonen, 
die  mit  ihm  dasselbe  Haus  bewohnten,  und  mit  welchen  er  trefflich  zu 
kneipen,  zu  singen  und  zu  lachen  wußte.^)  Später  widmete  er  sich  der 
Kirche,  ging  unter  die  galanten  Dichter  und  wurde  einer  der  eifrigsten 
und  beliebtesten  Gäste  des  Hauses  Rambouillet,  wo  er  wegen  seiner 
auffallend  kleinen  Statur  als  „Juliens  Zwerg"  bekannt  war.  Von  Richelieu 
zum    Bischof  von    Grasse    und   bald   auch    von  Vence    in   der  Provence 


Quiconque  saura  bien  escrire, 
Dira  que  Jamals  la  Satire 
N'a  public  de  si  beaux  vers. 

^)  Maynard  verlangte  in  der  sechszeiligen  Strophe  einen  Ruhepunkt  nach 
dem  dritten  Vers,  und  in  der  zehnzeiligen  Strophe  brachte  er  einen  Halt  nach 
dem  siebenten  Vers  an.  Allerdings  haben  schon  die  früheren  Dichter,  Desportes, 
ja  schon  Marot  und  selbst  dessen  Vorgänger  diese  ßuhepunkte  beobachtet. 
Maynard  aber  hat  diese  Weise  erst  zum  festen  Gesetz  erhoben.  Man  vergleiche 
Pellisson,  Histoire  de  TAcademie  franyaise,  I,  S.  114  und  S.  194  ff.;  ferner 
Richelet,  La  versification  fran9oise,  ou  l'Art  de  bien  faire  et  tourner  les  vers, 
Paris  1671;  Goujet,  Bibliotheque  fran^oise,  Paris  1754,  Bd.  XVI,  S.  63;  Louis 
Quicherat,  Traite  de  versification  fran^aise,  2°ieed.,  Paris  1850,  S.  555  u.  568. 

^)  Tallemant,  Historiettes,  III,  231. 


145 


ernannt,  vernichtete  er  seine  Liebesgedichte  und  beschränkte  sich  fortan 
auf  geistliche  Lieder,  Psalmen  und  Oden.  Seine  Verse  sind  nicht  ohne 
"Wohllaut,  aber  sein  Ruhm,  der  eine  Zeit  lang  in  hellem  Glanz  strahlte, 
verblaßte  bald  und  schon  Boileau  äußerte  sich  sehr  kühl  über  sein 
Talent.') 

Anders  erscheint  Jean  Ogier  de  Gombauld  (1570 — 1666)  aus 
St.  Just  de  Lussac  in  Saintonge  (Guyenne),  anders  in  seinem  Charakter 
und  seinem  Schicksal,  wenn  auch  nicht  gerade  in  seiner  Poesie.  Er 
war  einer  der  vielen,  welche  durch  den  schroffen  Gegensatz  der  reli- 
giösen Parteien  persönlich  zu  leiden  hatten.  Hugenotte  von  Geburt,  wurde 
er  mit  Zustimmung  des  Vaters,  aber  gegen  seinen  eigenen  Willen,  in 
die  katholische  Kirche  aufgenommen.  Sobald  er  selbständig  war,  wandte 
er  sich  von  ihr  wieder  ab,  ohne  deshalb  offen  zum  Protestantismus 
zurückzutreten.  In  Paris,  wohin  er  früher  geschickt  wurde,  fand  er  in 
Heinrich  IV.  einen  freundlichen  Herrn,  der  sein  poetisches  Talent  mehr 
als  einmal  in  Anspruch  nahm.  Maria  von  Medici  sah  ihn  ebenfalls 
gern  und  bewilligte  ihm  ein  jährliches  Gehalt  von  zwölfhundert  Thalern. 
Gombauld  feierte  allerdings  die  Königin  und  Richelieu  in  seinen  Ge- 
dichten, und  für  die  erstere  trug  er  sogar  eine  galante  Neigung  zur 
Schau ;  aber  in  anderer  Hinsicht  machte  er  doch  eine  rühmliche  Aus- 
nahme unter  den  Dichtern.  Er  war  genügsam  und  wollte  niemandem 
Dank  schulden  als  seinem  König.  Als  er  in  der  Verwirrung  der  Zeiten 
seine  Pension  verlor,  weigerte  er  sich,  von  anderen  Hilfe  anzunehmen 
und  schlug  das  Anerbieten  der  Herzogin  von  Longueville,  die  ihm  ein 
Gehalt  aussetzen  wollte,  rundweg  ab.''')  Ein  unglücklicher  Sturz  im 
Zimmer  hielt  ihn  lange  Jahre,  bis  zu  seinem  Tod,  fast  ganz  ans  Bett 
gefesselt. 

Als  Dichter  war  Gombauld  mehr  als  einfach;  Leidenschaft  und 
poetische  Aufwallung  waren  ihm  noch  fremder  als  den  bisher  genannten 
Lyrikern.  So  oft  er  auch  seine  Philis,  seine  Amarant  und  wie  die 
Schönen  alle  heißen  mögen,  in  seinen  145  Sonetten  besingt  und  sein 
Liebesleid  klagt,  er  bewegt  uns  nicht.  Doch  galt  er  neben  Maynard  und 
Maleville  als  ein  Meister  des  Sonetts.  Schon  Boileau  freilich  meinte, 
unter  tausend  Sonetten  dieser  Dichter    finde    man    höchstens    zwei    oder 


1)  Im  Kreise  Eiehelieus  stand  er  eine  Zeit  lang  in  solchem  Ansehen,  daß 
man  bei  litterarischen  Werken  gern  den  bewundernden  Ausruf  brauchte:  „Das 
ist  so  schön,  als  wenn  es  von  Godeau  wäre!"  Boileau  dagegen  schrieb  au  Mau- 
eroix,  29.  April  1695:  „Je  suis  persuade  aussi  bien  que  vous,  que  Monsieur 
Godeau  est  un  poete  fort  estimable.  II  me  semble  pourtaut  qu'on  peut  dire  de 
lui  ce  que  Longin  dit  d'Hjperide,  qu'il  est  toujours  k  jeun  et  qu'il  n'a  rien 
qui  remue  ni  qui  echauffe".  Vergl.  Pellisson,  I,  255. 

^)  Gombauld  erwähnt  einmal  seines  genügsamen  Sinus  und  sagt,  er  ver- 
traue auf  Gottes  Hilfe: 

Sa  main  pour  moy  n'est  jamais  dose, 
Et  comme  il  me  faut  peu  de  cbose, 
J'ay  tousjours  tout  ce  qu'il  me  faut. 
Der  Gedanke  ist  ebenso  anerkennenswert,  wie  die  Verse  schlecht  sind. 
Lotlieißen,  Gesell,  d.  franz.  Litteratnr  im 


146 


drei,  die  Wert  hätten,  und  wir  können  heute  nicht  einmal  diese  wenigen 
Perlen  herausfinden.^) 

Claude  de  Maleville  (1597  —  1647),  der,  wie  eben  bemerkt  worden 
ist,  zu  dem  Triumvirat  in  dem  Reich  des  Sonetts  gezählt  wurde,  war 
lange  Zeit  Sekretär  des  Marschalls  Bassompierre  und  kaufte  sich  später 
eine  Stelle  in  dem  Kanzleramt.  Wie  hoch  er  zu  seiner  Zeit  geschätzt 
wurde,  geht  schon  zur  Genüge  daraus  hervor,  daß  er  allein  neun  Ge- 
dichte für  „Juliens  Guirlande"  geben  durfte.  Sein  berühmtes  Sonett: 
„La  belle  matineuse"  zeigt  seine  Begabung,  sowie  seine  Schwäche  in 
deutlicher  Weise.  Er  vergleicht  darin  die  jugendliche  Schönheit  seiner 
Philis  mit  der  Morgenröte  und  findet,  daß  das  Licht  der  Sonne  vor  dem 
Glanz  des  Mädchens  verblassen  muß.-) 

Aus  der  großen  Zahl  der  Musenjünger,  welche,  um  mit  der  Sprache 
der  Zeit  zu  reden,  den  Parnaß  bevölkerten,  sind  noch  Theophile  de  Viau 
und  Tristan  l'Herraite,  L'Estoile  und  Desmarets  hervorzuheben.  Aber  da 
sie  sich  auch  im  Drama  versuchten,  mag  ihre  Würdigung  erst  in  dem 
darauf  bezüglichen  Abschnitt  eine  Stelle  finden.^) 

1)  Boileau,  Art  Poetique,  II,  94  S.  —  Neben  seinen  Gedichten  verfaßte 
Gombauld  noch  einen  Eoman  „Endymion",  in  welchem  er  die  Königin  Maria 
unter  dem  Bild  der  Luna  feierte,  ein  Pastoraldrama  in  fünf  Akten  :  „Amarant" 
(1631),  mit  einer  Widmung  an  die  Königin -Mutter,  zu  einer  Zeit  also,  da 
sie  in  Ungnade  gefallen  war,  sowie  mehrere  Tragödien  und  Tragikomödien 
(„Les  Danaides",  „Cydippe").  Auch  existiert  von  ihm  ein  Band  Briefe  und  reli- 
giöse Abhandlungen.  Die  Gedichte  erschienen  1646  in  4^,  die  Briefe  1647,  die 
Epigramme  1657,  die  „Danaides"  1658  mit  einer  Widmung  an  Fouquet.  Die 
Herausgabe  der  „Traites  et  lettres  touchant  la  Religion"  wurde  von  Conrart 
besorgt.  Sie  erschienen  1669  zu  Amsterdam.  „Cydippe"  (auch  wol  „Aconce"  be- 
titelt) blieb  ungedruckt.  Vergl.  Tallemant,  III,  237,  Les  freres  Haag,  la  France 
protestante,  5.  Bd.,  Artikel  „Gombauld". 

2)  „La  belle  matineuse": 

Le  silence  regnoit  sur  la  terre  et  sur  Tonde: 
L'air  devenoit  serein  et  l'Olympe  vermeil; 
Et  l'amoureus  Zephire,  aflFranchi  du  sommeil, 
Ressuscitoit  les  üeurs  d'une  haieine  feconde. 

L'aurore  deployoit  l'or  de  sa  tresse  blonde, 
Et  semoit  de  rubis  le  chemin  du  Soleil: 
Enfin  ce  Dieu  venoit  au  plus  grand  appareil, 
Qu'il  seit  Jamals  venu  pour  eclairer  le  monde. 

Quand  la  jeune  Philis  au  visage  riant 
Sortant  de  son  palais  plus  clair  que  l'Orient, 
Fit  voir  une  lumiere  plus  vive  et  plus  belle. 

Sacre  flambeau  du  jour,  n'en  soyez  point  jaloux; 
Vous  parutes  alors  aussi  peu  devant  eile 
Que  les  feux  de  la  nuit  avoient  fait  devant  nous. 
Neben  der  Preciosität  und  Übertreibung,    neben   dem    leeren    Spiel   mit 

Worten  und  Bildern,  wie  z.  B.  daß  die  Fackel  des  Tags  nicht  eifersüchtig  sein 

soll,    kann  man    die  einschmeichelnde  Weichheit  der  Diktion  nicht  verkennen. 

Maleville  entsprach  somit  in  jeder  Hinsicht  dem  Geschmack  seiner  Zeit.  Vergl. 

Goujet,  tomeXVI,  p.  70  ff.;  Recueil  Barbin,  III,  51—65;  Pellisson,  I,  209. 

3)  Siehe  Abschnitt  XI. 


Wi 


Häufig  genannt,  aber  als  Dichter  noch  unbedeutender  als  die  bis- 
her erwähnten  Männer,  war  der  Abbe  Fran(;ois  Le  Metel  de  Boisrobert 
(1592 — 1662).  Aus  Caen  gebürtig,  hatte  er  sich  als  Advokat  versucht, 
sich  dann  am  Hof  der  Königin-Mutter  in  Blois  umhergetrieben  und  war 
dazwischen  nach  Paris  und  London  gekommen.  Wenn  die  Geschichten, 
die  man  von  ihm  erzählt,  auch  nur  zum  Teil  wahr  sein  sollten,  so 
würden  sie  doch  beweisen,  daß  er  in  der  Wahl  seiner  Mittel  nichts 
weniger  als  ängstlich  war,  wenn  es  galt,  sich  aus  Geldverlegenheit  zu 
retten.  In  Korn,  wohin  er  sich  einmal  verschlagen  sah,  wurde  er  Abbe 
mit  einer  kleinen  Pfründe  von  jährlich  170  Livres.  Seine  geistliche 
Würde  hinderte  ihn  freilich  nicht,  in  seiner  geschäftlichen  Lebensweise 
zu  beharren ;  und  nach  Paris  zurückgekehrt,  gelang  es  ihm  endlich,  nach 
vielen  vergeblichen  Bemühungen  die  Gunst  des  Kardinals  Richelieu  zu 
erwerben.  Damit  erlangte  er  eine  Stellung,  wie  er  sie  wünschte.  Keck, 
witzig,  Meister  der  Parodie,  ein  guter  Schauspieler  und  ein  trefflicher 
Anekdotenerzähler,  wurde  Boisrobert  gewissermaßen  der  Spaßmacher  und 
Hofnarr  des  Kardinals,  der  ihn  bald  nicht  mehr  missen  mochte.  Richelieu 
duldete  selbst  Widerspruch  von  seiner  Seite,  und  wenn  er  ihm  wol  auch 
manchmal  darob  zürnte,  er  verzieh  ihm  immer  wieder.  Sein  Leibarzt 
verschrieb  ihm  deshalb  auch  zuweilen  statt  aller  Arzneien  „einige  Drach- 
men Boisrobert".  So  wuchsen  denn  die  Einkünfte  des  lustigen  Abbes, 
besonders  als  ihm  die  Abtei  von  Chätillon  zu  teil  ward.  Bei  allem  Leicht- 
sinn war  Boisrobert  jedoch  gutmütig  und  gefällig,  und  benutzte  seinen 
Einfluß  gern  zum  Nutzen  anderer.  Wie  weit  er  gehen  durfte,  zeigt  am 
besten  seine  poetische  Epistel  an  den  Kanzler  Seguier,  den  obersten 
Wächter  der  Gerechtigkeit.  Er  erlaubt  sich  darin,  dem  Kanzler  in  spaß- 
haften Versen  mitzuteilen,  daß  seine  Neffen  einen  Menschen  totgeschlagen 
hätten  und  deshalb  vom  Gericht  verfolgt  würden.  In  dieser  Verlegenheit 
wende  er  sich  an  seinen  Gönner  mit  der  Bitte,  er  möge  den  Prozeß 
niederschlagen;  der  Getötete  sei  ein  Raufbold,  eine  Landplage  der  Nor- 
mandie  gewesen,  und  die  eigentliche  Schuld  an  dem  Totschlag  trage 
doch  der  Kanzler.  Denn  warum  habe  er  die  Familie  Boisrobert  in  den 
Adelstand  erhoben?  Nun  hätten  seine  Neffen  geglaubt,  auch  das  Leben 
und  die  Thaten  der  jungen  Edelleute  nachahmen  zu  müssen.  Und  so 
wiederholt  Boisrobert  am  Schluß  seine  IBitte,  Seguier  möge  den  Gnaden- 
brief ausfertigen  und  ihn  auch  gratis  geben.  ^) 

Boisrobert  war  ein  fruchtbarer  Dichter.  Am  besten  gelang  ihm 
der  leichte,  scherzhafte  Konversationston  der  Episteln,  von' denen  zwei 
Bände  erschienen.  Mit  größeren  Werken  scheiterte  er  dagegen  kläglich. 
Weder  sein  Roman   „Anaxandre",  noch  seine  Novellen,  noch  seine  zahl- 


1)  Boisrobert,  A  Monseigneur  le  Chancelier.  (Eecueil  des  plus  belies  poesies 
des  poetes  franfois,  chez  Barbin  1692,  Teil  III,  S.  181.)  Die  Epistel  schließt 
mit  den  Versen: 

Aboly  tout,  casse  tout  comme  un  verre; 
Voy  que  de  plus  nous  estions  dans  la  guerre, 
Et  qu'ils  estoient  de  contraires  partis; 
Scelle  donc  viste  et  donne  le  gratis. 

10* 


148 


reichen  Theaterstücke  fanden  Beifall.  Selbst  vor  Richelieus  Tod  sollte  er 
erfahren,  wie  wandelbar  die  Laune  des  Glückes  ist.  Bei  Ludwig  XIIL 
von  Cinq-Mars  verklagt,  wurde  er  auf  seine  Abtei  Chätillon  verwiesen. 
Richelieu,  der  dem  König  in  kleinen  Dingen  gern  nachgab,  opferte  seinen 
Günstling  auf.  Nach  dem  Tod  des  Cinq-Mars  kam  Boisrofcert  freilich 
nach  der  Hauptstadt  zurück,  aber  die  Zeit  des  Glanzes  war  für  ihn  vor- 
über. Richelieu  selbst  starb  wenige  Tage  darauf,  und  nun  erfolgten  die 
gehässigsten  Angriffe  gegen  den  einst  so  einflußreichen  Mann.  Boisrobert 
wußte  sich  darüber  zu  trösten.  Ei-  war  reich  und  konnte  nach  seinem 
Belieben  leben.  Mit  einer  wahren  Leidenschaft  schrieb  er  für  das  Theater, 
Stück  auf  Stück.  Seine  Stoffe  nahm  er,  wo  er  sie  fand ;  er  plünderte  die 
Spanier,  die  Italiener,  das  alte  französische  Theater,  und  seine  Dramen 
waren  im  Handumdrehen  fertig.  Das  Theater  des  Hotel  de  Bourgogne 
weigerte  sich  zuletzt,  sie  zur  Aufführung  anzunehmen,  obwol  er  dafür 
zahlen  wollte.  So  sank  er  immer  mehr,  überließ  seine  Stücke  den 
herumziehenden  Gesellschaften  und  schrieb  für  sie  derbe  Possen.  Sein 
Leben  in  den  Schenken  und  mit  leichtsinnigen  Dirnen  wurde  immer  an- 
stößiger; wenigstens  sagten  so  seine  Feinde,  die  ihn  bei  dem  jungen 
König  und  seiner  Mutter,  Anna  von  Österreich,  verklagten.  Darüber 
wurde  er  zum  zweitenmal  aus  Paris  verbannt  (1655).  Erst  nach  drei 
Jahren  bekam  er  auf  inständiges  Bitten  die  Erlaubnis,  in  die  Hauptstadt 
zurückzukehren,  und  starb  daselbst  einige  Jahre  später. 

In  rascher  Aufzählung  seien  nun  noch  einige  andere  Lyriker  er- 
wähnt. Zunächst  Marin  Le  Roy  de  Gomberville  (1600—1674),  der  sich 
später  jedoch  ganz  dem  Roman  zuwandte ,  dann  Nicolas  Vauquelin  des 
Yveteaux  (1567 — 1649),  ein  Sohn  Vauquelins  de  La  Fresnaye,  der  sich 
durch  seine  Idyllen  und  sein  Lehrgedicht  über  die  Dichtkunst  bekannt 
gemacht  hatte.  Des  Yveteaux  unterrichtete  den  Herzog  von  Vendöme, 
einen  natürlichen  Sohn  Heinrichs  IV.,  und  schrieb  für  ihn  1607 
sein  Gedicht  „L' Institution  du  Prince".  Später  soll  er  auch  eine  Zeit 
lang  Lehrer  des  jungen  Königs  Ludwig  gewesen,  jedoch  auf  Befehl  der 
Königin  entlassen  worden  sein.  Er  galt  als  Epikuräer  und  Sonderling, 
und  allerdings  mußte  es  vielen  seiner  Kollegen  absonderlich  vorkommen, 
daß  er  seine  Unabhängigkeit  höher  schätzte  als  Geld  und  Gunst.  Als 
Richelieu  ihm  eines  Tags  über  seine  Lebensart  Vorwürfe  machte,  ver- 
zichtete Des  Yveteaux  lieber  auf  die  königliche  Pension,  die  er  bis  dahin 
bezogen  hatte,  als  daß  er  sich  unterworfen  hätte.  ^) 


1)  Siehe  Goujet,  t.  XVI,  S.  113.  Des  Yvetaux  starb  im  hohen  Alter  von 
über  90  Jahren.  In  einem  seiner  Sonette  spricht  er  aus,  was  ihm  zum  glück- 
lichen Leben  wünschenswert  erscheint: 

„Avoir  peu  de  parents,  moins  de  train  que  de  rente, 

„Rechercher  en  tout  temps  l'honneste  volupte, 

„Contenter  ses  desirs,  conserver  sa  sante..."  etc. 
Er  besaß  ein  schönes  Landhaus  und  hatte  seine  Freude  an  den  Werken 
der  Kunst  und  der  Poesie. 

„Des  jardins,  des  Tableaux,  la  Musique,  des  vers, 

,Une  table  fort  libre  et  peu  de  couverts." 


149 


Nicolas  Faret,  ein  Freund  des  Weins  und  des  fröhlichen  Lebens, 
aber  von  seinem  Genossen  Saint-Amant  und  nach  dessen  Vorgang  später 
von  Boileau  mit  Unrecht  als  Trinker  und  Wüstling  verschrieen,  war 
der  Verfasser  einer  Art  höheren  gereimten  Komplimentierbuchs  („L'honneste 
homme  ou  l'Art  de  plaire  ä  la  Cour").^)  Pierre  Forget  de  la  Picardiere 
gab  in  seinen  „Sentiments  universels"  (1630)  Sprüche  über  Politik  und 
Moral.")  Von  den  Brüdern  Philipp  und  Germain  Habert,  welche  beide 
der  Akademie  als  Mitglieder  angehörten,  fiel  der  erstere  als  junger  Mann 
bei  der  Belagerung  von  Emery  im  Hennegau  (1637).  Von  ihm  ist  ein 
einziges  Gedicht  erhalten,  „Le  temple  de  la  mort",  eine  Klage  über 
den  Tod  der  Gemahlin  des  Marschalls  de  la  Meilleraye.  Während  man 
in  diesem  Gedicht  den  Ausdruck  wahrer  Empfindung  fand,  war  die 
Poesie  seines  jüngeren  Bruders,  des  Abbe  von  Cerisy,  um  so  affektierter.^) 
Als  Gesellschafter  beliebt  und  seinem  Wesen  nach  manchmal  mit  Voiture 
verglichen,  war  Fran9ois  Sarrazin,  dessen  wenige  Gedichte  erst  nach 
seinem  Tod  veröffentlicht  wurden.*) 

Absonderliche  Poeten,  wie  Charles  d'Arcussia,  sieur  d'Esparre,  der 
in  zehn  langen  Gesängen  ein  episch-didaktisches  Gedicht  über  die 
Falkenjagd  schrieb,  findet  man  zu  jeder  Zeit,  wenn  sich  auch  die  Litte- 
raturgeschichte  nicht  weiter  mit  ihnen  zu  beschäftigen  hat.^)  Ein 
Gegenstand  allgemeinen  Spotts  endlich  war  Louis  de  Neufgermain,  der 
sich  selbst  als   „poete  heteroclite"   bezeichnete  und  seinen  Euhm  in  Spiele- 


Vergl.  Huet,  Origines  de  Caen,  S.  356.  Seine  Gedichte,  darunter  auch 
seine  „Institution",  finden  sich  in  den  „Dehces  de  la  Poesie  franfoise",  chez 
Du  ßray,  1620,  S.  301—381. 

^)  Faret  (1596-1646)  .soll  seinen  Ruf  nur  dem  Umstand  verdanken,  daC 
sein  Name  einen  bequemen  Reim  für  das  Wort  „cabaret"  bot.  Siehe  Saint- 
Amant,  Les  cabarets  ä  mon  eher  amy  M.  Faret  (Oeuvres  I,  S.  142,  Bibliotheque 
Elzevirienne) : 

Si  tu  ne  veux  que  je  m'escrie : 

On  fait  ä  scavoir  que  Faret 

Ne  rime  plus  ä  cabaret . . . 
und  in  „La  Vigne"  (I,  170): 

Chere  rime  de  cabaret, 

Mon  cceur,  mon  aymable  Faret. 
Ebenso  „Orgye",  I,  S.  239  und  öfters.  Vergl.  auch  die  Vorrede,  mit  der 
Faret  selbst  eine  Ausgabe  der  Werke  Saint-Amants  begleitet.  Jedenfalls  war  er 
ein  Gefährte  des  lebenslustigen  Saint-Amant.  Vergl.  ferner:  Saint -Evremond, 
„Les  Academiciens",  acte  1,  sc.  3.  Farets  „L'Honneste  homme"  erschien  1638. 
Man  hat  auch  historische  Werke  von  ihm,  besonders  eine  Geschichte  der  Türkei. 

2)  Über  Forget  (f  1638)  s.  Goujet,  t.  XVI,  S.  8. 

3)  Über  Philipp  Habert  s.  Goujet,  t.  XVI,  S.  1.  Sein  „Temple  de  la  mort" 
erschien  1637  und  ist  in  mehreren  Sammlungen  des  17.  Jahrhunderts  abgedruckt. 
In  dem  „Choix  de  poesies  morales  et  chretiennes"  von  Le  Fort  de  la  Moriniere, 
T.  II,  S.  .S06,  findet  sich  ein  Bruchstück  davon.  Vergl.  auch  Pellisson,  Histoire 
de  l'Academie  (ed.  Livet),  I,  1^2. 

4)  Siehe  Titon  du  Tillet,  Le  Parnasse  fran^ois,  S.  243. 

5)  Über  Arcussia,  dessen  ,.Fauconnerie"  zuerst  1621  erschien,  s.  Goujet, 
T.  XVL  32. 


150 


reion  suchte,  wie  z.  B.  daß  er  seine  Gedichte  auf  einen  einzigen  Reim 
aufbaute  u.  dgl.  m.^) 

In  jener  Zeit,  welche  die  poetische  Schönheit  fast  ausschließlich 
in  der  Künstelei  suchte,  forscht  man  vergebens  nach  einer  volkstüm- 
lichen Dichtung.  Allerdings  hatte  das  Volk  seinen  altererbten  Schatz 
von  Liedern  bewahrt,  in  welchen  es  seine  Freude  und  sein  Leid  in  der 
ihm  eigentümlichen  kräftigen  Weise  aussprach.  Auch  das  16.  Jahr- 
hundert hatte  das  Yolk  noch  zu  neuen  Dichtungen  angeregt,  und  be- 
sonders die  Hugenotten  hatten  einen  großen  Reichtum  von  Kampfes- 
und  Trostliedern.  Aber  von  dieser  poetischen  Kraft  zeigte  sich  in  der 
ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  sehr  wenig,  und  wenn  sie  sich  zeigte, 
wurde  sie  vornehm  übersehen.  Allerdings  wußte  man  auch  damals  von 
einem  Volksdichter  zu  reden,  von  Meister  Adam  Billaut  aus  Nevers, 
der  seines  Zeichens  ein  Tischler  war  und  in  freien  Stunden  seine  Vers- 
kunst übte.  Sein  Ruhm  war  nicht  gering.  Man  kannte  ihn  allgemein 
unter  dem  Namen  des  Maitre  Adam  oder  feierte  ihn  als  den  „Virgil 
mit  dem  Hobel".  Aber  wenn  er  auch  einsichtig  genug  war,  in  seiner 
Sphäre  zu  bleiben  und  trotz  mehrfacher  Aufforderungen  nach  Paris  zu 
kommen,  seinem  Handwerk  nicht  entsagte,  so  darf  man  doch  keinen 
echten  Volksdichter  in  ihm  suchen.  Er  war  kein  Hans  Sachs,  der  den 
einfachen  Sinn  des  Volkes  wiedergegeben  hätte.  Seine  einzelnen  Gedicht- 
sammlungen betitelte  er:  „Les  Chevilles"  oder  nach  seinen  Instrumenten 
„Le  Vilebrequin"  und  „Le  Rabot  de  Me.  Adam".  Schlägt  er  auch  in 
einzelnen  Gedichten  einen  kräftigeren  Ton  an,  so  redet  er  doch  gewöhnlich 
ganz  die  Sprache  der  anderen  gekünstelten  und  abgerichteten  Dichter. 
Höchstens  könnte  man  sagen,  daß  er,  um  volkstümlich  zu  erscheinen, 
noch  schamloser  bettelt  als  die  anderen,  und  noch  gemeinere  Ausdrücke 
wählt.  Er  wendet  sich  einmal  in  einem  Gedicht  an  seine  gnädige 
Herrschaft,  die  durch  einen  Todesfall  in  Trauer  versetzt  ist,  und  bittet 
um  ein  Trauergewand.  Wenn  die  Natur  ihn  zum  Mohren  gemacht  hätte, 
würde  er  diese  Bitte  nicht  nötig  haben,  schließt  er  mit  einem  entsetz- 
lichen Witzwort.  Er  hat  die  nämliche  Sprache,  dieselbe  Mythologie,  die 
gleiche  Schmeichelei,  wie  die  höfischen  Poeten.  In  seinen  Versen  treiben 
sich  Jupiter  und  Phöbus  und  die  gesamte  heidnische  Götterwelt  ebenso 
albern  umher,  wie  in  den  Gedichten  seiner  Kollegen,  und  von  wahrer 
Volkspoesie  ist  kaum  eine  Spur  zu  finden.-) 

Diese  unerquickliche  Geschmacksrichtung  sollte  noch  lange  in  der 
französischen  Lyrik  herrschen,    und  ihr   schädigender  Einfluß   auch    auf 


1)  Neufgermain  starb  nach  dem  Jahr  1652.  (Goujet,  XVI,  156;  Tallemant, 
Historiettes,  III,  211;    ßoileau,  !Sat.  IX,  72.) 

-)  Maitre  Adam,  der  auch  darin  den  anderen  glich,  daß  er  von  Richelieu 
mit  einer  Pension  bedacht  war,  starb  im  Jahr  1662.  Seine  „Chevilles"  er- 
schienen 1641,  sein  „Vilebrequin"  erst  1663  und  sein  „Rabot"  ist  gar  nicht  ge- 
druckt worden.  Eine  Anzahl  seiner  Gedichte  finden  sich  im  Reeueil  Barbin,  III, 
S.  251—301.  Seine  „Oeuvres  choisies"  erschienen  zu  Paris  1842.  Die  „Revue 
de  Paris"  vom  November  1831  brachte  einen  größeren  Aufsatz  über  ihn  von 
Ferdinand  Denis. 


151 


den  anderen  Gebieten  der  Dichtung  fühlbar  werden.  Denn  der  Unge- 
schmack,  die  „Preciosität"  machte  sich  nicht  allein  in  der  Lyrik  geltend; 
sie  sollte  noch  lange  auf  der  Bühne,  im  Eoman,  selbst  in  der  Gesell- 
schaft heimisch  sein.  Wir  werden  auf  sie  zurückkommen  müssen, 
wenn  wir  zu  zeigen  haben,  wie  erst  die  jungklassische  Schule  unter 
Boileau  und  Moliere  den  Kampf  gegen  diese  Manier  mit  Erfolg  aufnahm. 

Immerhin  darf  man  nicht  übersehen,  daß  schon  von  der  ersten 
Zeit  an,  in  welcher  diese  Eichtung  Bedeutung  erlangte,  lebhaft  gegen 
sie  protestiert  wurde.  Der  Geschmack  einzelner  Kreise  der  Gesellschaft 
konnte  wol  fehlgehen,  das  Volk  ließ  sich  in  seinem  natürlichen  Gefühl 
und  seinem  Verstand  nicht  beirren,  und  darin  liegt  mit  ein  Grund, 
warum  diese  ganze  Lyrik  so  wenig  in  die  weiteren  Schichten  der  Nation 
eindrang.  Im  Drama,  welches  sich  an  ein  größeres  Publikum  wandte, 
siegte  zwar  auch  der  schlechte  Geschmack ;  auch  dort  fürchteten  manche 
Dichter  jeden  natürlichen  Ausdruck,  und  haschten  nach  Witz  und  Fein- 
heit selbst  bei  dem  einfachsten  Gedanken,  doch  kam  die  Manier  auf 
diesem  Gebiet  nie  zur  völligen  Herrschaft.  Und  selbst  in  der  Lyrik 
erhob  sich,  wie  gesagt,  der  Widerstand  dagegen,  nur  daß  man  aus  dem 
einen  Extrem  in  das  andere  verfiel,  und  die  Gegner  des  manierierten 
aufgeputzten  Stils  sich  dafür  in  der  unschönen,  formlosen  und  niedrig 
burlesken  Dichtung  gefielen.  Suchten  die  höfischen  Dichter  selbst  das 
Geringfügigste  in  ihrer  schwülstigen  und  geleckten  Sprache  zu  verhimmeln, 
so  zogen  die  Poeten  der  burlesken  Poesie  dafür  alles  Ernste  und  Er- 
habene durch  ihre  nüchtern  komische  Ausdrucksweise,  ihre  niederen 
Anschauungen  in  den  Staub  herab.  Beide  Richtungen  sind  gleichermaßen 
Anzeichen  ungesunder  Verhältnisse,  beide  sind  Manier  und  die  eine  so 
verderblich  wie  die  andere.^) 

Als  Haupt  der  burlesken  Dichtung,  die  bald  eifrige  Freunde  finden 
sollte,  erschien  später  der  witzige  Scarron,  dem  selbst  schwere  körper- 
liche Leiden  die  geistige  Kraft  nicht  zu  rauben  vermochten.  Vor  ihm 
aber  hatte  Marc  Antoine  de  Gerard  eine  ähnliche  Richtung  eingeschlagen. 
Gerard  legte  sich  den  Namen  Saint-Amant  bei,  obgleich  er  mit  dem 
altadeligen  Geschlecht  dieses  Namens  keinerlei  Verwandtschaft  hatte. ^) 
Seine  Familie  hatte  schwere  Schicksale  zu  ertragen.  Sein  Vater  fiel  mit 

1)  Man  vergleiche  auch  das  5.  Buch  von  Sorels  „Histoire  comique  de 
Francion",  in  dem  Francion  von  den  Dichtern  seiner  Zeit  redet.  In  otfenbar 
satirischem  Geist  heißt  es  dort:  „Veritablement  leurs  lois  ne  töndoient  qu'a 
rendre  la  poesie  plus  douce,  plus  coulante  et  plus  remplie  de  jugement;  qui 
est-ce  donc  qui  refuseroit  de  la  voir  en  cette  perfection?  On  me  dira  qu'il  ya 
beaucoup  de  peine  et  de  geue  ä  faire  des  vers  suivant  les  regles;  mais  si  on 
ne  les  observoit  point,  chacun  s'en  pourroit  meler,  et  l'art  n'auroit  plus  d'excel- 
lence".  (In  der  Ausgabe  von  Emile  Colombey.  Paris  1858,  A.  Delahays.  S.  184.) 

-)  Saint-Amant  war  im  Jahr  1594  geboren,  denn  er  sagt,  da  er  die  Über- 
schwemmung der  Seine  im  Jahr  1649  erwähnt: 

„Quand  l'an  qui  court  se  fermera 
J'ouvriray  mon  douzieme  lustre." 

Sein  Tod  fiel  in  das  Jahr  16(51. 


152 


einem  seiner  Brüder  in  die  Gefangenschaft  der  Türken,  während  ein 
anderer  Bruder  im  Seegefecht  gegen  sie  umkam.  Saint -Amant  selbst 
führte  ebenfalls  ein  bewegtes  Leben.  Er  gehörte  zum  Hof  des  Herzogs 
von  Retz,  kam  im  Jahr  1631  nach  England,  mit  welchem  sich  damals 
zuerst  ein  regerer  Verkehr  entwickelte,  1633  mit  dem  Marschall  Crequy 
nach  Eom,  und  schloß  sich  im  Jahr  1637  einer  Expedition  der  fran- 
zösischen Flotte  unter  dem  Befehl  des  Grafen  d'Harcourt  in  das  Mittel- 
meer an.  In  den  folgenden  Jahren  nahm  er  an  den  Feldzügen  in  Pie- 
mont  teil,  und  war  1643  wieder  in  Rom,  das  er  in  einem  Gedicht 
von  über  hundert  Strophen  aufs  heftigste  angriff.^)  Die  Ruinen  des  alten 
Rom  waren  ihm  verächtlich  und  des  Niederreißens  wert ,  und  die 
Römer  erschienen  ihm  gleich  Heiden,  da  sie  die  Marmorbilder  der  alten 
Götter  mit  Gold  aufwogen.  Überhaupt  empörte  ihn  das  Treiben  der 
modernen  Quirlten,  und  neben  mancher  derben  Schilderung  ihres  Privat- 
lebens fielen  auch  scharfe  Worte  über  die  Kirche  und  ihre  hohen  Diener. 
Wie  sehr  dem  Dichter  jedes  Verständnis  für  die  Schönheit  der  antiken 
Kunst  und  die  Größe  der  historischen  Erinnerungen  abging,  zeigt  sich 
besonders  deutlich  in  dem  ersten  Teil  der  Satire.  Aber  freilich,  wie 
schmutzig  war  auch  die  Wohnung,  die  man  ihm  bot,  wie  ungenießbar 
die  römische  Kost  und  vor  allem,  wie  empörend  schlecht  der  Wein, 
den   er  zu  trinken  bekam! 

In  anderer  Art,  aber  nicht  minder  übel,  behandelte  er  England, 
das  er  noch  einmal  im  Jahr  1643  im  Gefolge  des  Grafen  d'Harcourt 
besuchte,  als  dieser  mit  einer  vermittelnden  Mission  zwischen  König 
Karl  und  dem  Parlament  beauftragt  war.  Saint-Amant  erklärte  die  Eng- 
länder für  das  roheste  und  gröbste  Volk,  das  es  gäbe,  und  ereiferte  sich 
besonders  gegen  die  ketzerischen  Rundköpfe,  welche  des  Königs  Autorität 
verachteten.-)  Als  später  Louise  Gonzaga,  die  Tochter  des  Herzogs  von 
Nevers,  den  König  von  Polen  heiratete,  wurde  Saint-Amant  zum  Kammer- 
herrn am  polnischen  Hof  ernannt  und  erhielt  eine  ansehnliche  Pension. 
Er  hielt  sich  sogar  zwei  Jahre  in  Warschau  auf  und  ging  einmal  im 
Auftrag  der  Königin  nach  Stockholm,  kehrte  aber  im  Jahr  1651  nach 
Paris  zurück,  wo  er  noch  zehn  Jahre  ungestört  verlebte.^) 

Wir  haben  hier  indessen  nur  seine  Jugendwerke,  die  früheren 
Gedichte,  ins  Auge  zu  fassen.  Das  Epos:  „Moyse  sauve",  das  er  später 
veröffentlichte,  gehört  bereits  in  eine  andere  Zeit.  Schon  in  seinen  ersten 
poetischen  Arbeiten  verrät  Saint-Amant  eine  gewisse  Unsicherheit  der 
Methode.  Zwei  Seelen  wohnen  in  seiner  Brust.   Die  eine  heißt  ihn,  dem 


1)  „Rome  ridicule,  mi  caprice."  Der  Drucker  dieser  Satire  kam  ins  Ge- 
fängnis, Saint-Amant  selbst  blieb  unbehelligt. 

-)  Das  Gedicht  „L'Albion,  caprice  heroi-comique"  enthält  120  Strophen 
und  ist  von  London,  12.  Februar  1644,  datiert. 

2)  Boileau  (Sat.  I,  97 — 100)  spricht  von  Saint- Amants  großer  Armut.  Doch 
beruht  diese  Behauptung  auf  keiner  sicheren  Nachricht,  ist  vielmehr  nach  dem 
Gesagten  sehr  unwahrscheinlich.  Wir  wissen  auch,  daß  die  Königin  von  Polen 
ihn  nicht  vergaß,  sondern  ihm  Geld  schickte  (s.  Epitre  ä  l'abbe  de  Yilleloin). 
Ebendaselbst  sagt  er,  daß  seine  Kasse  nie  den  Mangel  gekannt  habe. 


153 


Euhm  Marin is  nacheifern,  das  Beispiel  der  höfischen  Dichter  befolgen 
und  sich  den  „Precieusen"  anreihen;  die  andere  treibt  ihn,  sich  zu 
emancipieren,  die  Maske  abzuwerfen  und  frei  seine  eigenen  Empfindungen 
zu  offenbaren.  So  oft  er  dieser  letzteren  Eegung  folgt,  zeigt  er  sein 
Talent  und  enthüllt  nicht  selten  dabei  ein  Gefühl  für  die  Schönheit  der 
Natur,  wie  man  es  in  jener  Zeit  nicht  erwartet,  und  das  manchmal 
einen  ganz  modernen  Ton  anschlägt.  Dies  finden  wir  z.  B.  gleich  in 
seinem  ersten  größeren  Gedicht  von  der  ..Einsamkeit".  Er  schildert 
darin  seinen  Gang  durch  eine  einsame  romantische  Landschaft.  Zuerst 
durchstreift  er  die  altehrwürdigen  Wälder,  in  welchen  ihn  der  Gesang 
der  Nachtigall  fesselte,  und  gelangt  dann  durch  ein  grünes,  wildes  Thal, 
durch  das  ein  Bergstrom  rauscht,  bis  zu  einem  stillen,  versumpften 
Teich.  Noch  keines  räuberischen  Menschen  Hand  hat  den  Frieden  dieser 
Natur  gestört.  Wie  er  weitergeht,  stößt  er  auf  die  Euinen  eines  alten 
Schlosses  und  gelangt  endlich  zu  einer  Höhe,  die  ihm  den  Blick  auf 
das  unendliche  Meer  eröffnet,  mit  dessen  Schilderung  er  seia  Gedicht 
schließt.^) 

1)  La  Solitude  (A  Alcidoa).  Zur  Probe  seien  zwei  Strophen  des  Anfangs 
mitgeteilt. 

Die  Str.  1  beginnt:     Qua  j'ayme  la  solitude! 

Que  ces  lieux  saerez  ä  la  nuit, 
Esloignez  du  raonde  et  du  bruit, 
Plaisent  ä  mon  inquietude. 

Str.  3:     Que  sur  cette  espine  fleurie, 

Dont  le  printemps  est  amoureux, 
Philomele  au  chaiit  langoureux, 
Entretient  bien  ma  resverie! 

Der  Dichter  fühlt  hier  seine  Stimmung  in  Harmonie  mit  der  Natur.  Man 
vergleiche  damit  das  Gedicht  von  Lamartine  (Mediations  poetiques,  I):  „L'Isole- 
ment"  : 

„Souvent  sur  la  montagne,  ä  l'ombre  du  vieux  chene, 
„Au  eoucher  du  soleil,  tristemeut  je  m'assieds; 
„Je  promene  au  hasard  mes  regards  sur  la  plaine, 
„Dont  le  tableau  changeant  se  deroule  ä  mes  pieds. 


„Quand  la  feuille  des  bois  trombe  dans  la  pralrie, 
„Le  vent  du  soir  s'eleve  et  l'arrache  aux  vallons; 
„Et  moi,  je  suis  semblable  ä  la  feuille  fletrie: 
„Emportez-moi  comme  eile,  orageux  aquilons!" 
Dasselbe  Gefühl  beseelt  die  beiden  Dichter,  aber  die  Sprache  Saiut-Araants 
ist  noch  widerspenstig;  sie  schmiegt  sich  dem  Gedanken  noch  nicht  so  an.  La- 
martine« Strophen  haben  dagegen  eine  Weichheit,  welche  die  klassische  Einfach- 
heit schon  überschritten  hat.  Ihre  einschmeichelnde  Schönheit  und  die  Harmonie 
der  Verse,  die  wie  Gesang  dahinfließen,  sind  auch  nicht  frei  von  Manier. 

In    dem  Gedicht    „Le  Contemplateur"    hat    Saint -Amant    ein  Bild  ganz 
modernen  Charakters  gegeben.  Er  sagt  Strophe  26: 
J'escoute,  ä  demy  transporte, 
Le  bruit  des  ailes  du  silence 
Qui  vole  dans  Tobscurite. 
So  sagt  er  von  einer  neuen  Geliebten  (Sonett,  I,  S.  132,  in  der  Ausgabe 
von  Livet): 


154 


Xeben  einigen,  sehr  getalligen  Stellen  fallen  in  diesem  Gedicht 
andere  durch  ihre  Geschmacklosigkeit  umso  unangenehmer  auf.  Saint- 
Amant  gerät  darin  öfters  in  die  Affektation  der  Pastoralpoesie;  so  wenn 
er  von  dem  Schäfer  spricht,  der  sich  aus  Liebesgram  in  den  Euinen 
des  Schlosses  aufgehängt  hat  und  um  dessen  Skelett  nun  der  Geist  der 
hartherzigen  Schönen  zur  Strafe  irren  muß,^)  oder  wenn  er  bei  der 
Schilderung  eines  grauenvollen  Abgrunds  an  die  gute  Gelegenheit  denkt, 
welche  der  Unglückliche  hier  fände,  der  seinem  Leben  ein  Ende  zu 
machen  wünscht. 

Doch  der  ernste  Ton  ist  ja  Saint-Amant  nicht  natürlich.  Sein 
wahrer  Charakter  tritt  in  den  lärmenden  Trinkliedern,  in  den  heiteren 
Ausfällen,  den  satirischen  Zeitbildern  zu  Tage.  Rauchen  und  Zechen, 
das  ist  seine  liebste  Beschäftigung,  und  die  Schenke  ist  der  Tempel,  in 
dem  er  sich  begeistert.  Er  zeichnet  sich  selbst,  wie  er  vor  dem  Kamin, 
auf  einem  Bündel  Eeisig  sitzend,  eine  Pfeife  in  der  Hand,  seinen  Ge- 
danken nachhängt.-)  Und  noch  häufiger  zeigt  er  sich  uns  bei  der  Flasche, 
mit  seinen  Kameraden,  besonders  seinem  Freund  Faret.  „Was  willst  Du 
mit  der  Schönheit,  mit  der  Kunst,  mit  dem  frischen  Grün  der  Natur?" 
ruft  er  diesem  zu;  „die  schlechteste  Unterhaltung  in  der  Schenke  gefällt 
Dir  besser  als  das  Echo  des  Waldes".  „Und  mir  auch!"  schließt  er  das 
Gedicht. 

Bei  alledem  ist  er  ..der  gute,  dicke  Saint-Amant",  wie  er  sich  selbst 
nennt,  und  wenn  er  satirisch  wird,  wird  er  doch  nie  persönlich  oder 
boshaft.  Höchstens  daß  er  seine  Freunde  und  Kollegen  von  der  Akademie 
ein  wenig  zaust,  aber  auch  sie  nur  im  allgemeinen.  Er  paßte  nicht 
recht  zu  der  gelehrten  Gesellschaft,  und  als  sie  einem  jeden  Mitglied 
die  Verpflichtung  auferlegte,  von  Zeit  zu  Zeit  einen  Vortrag  zu  halten, 
erbot  sich  Saint-Amant.  die  burlesken  Ausdrücke  für  das  Wörterbach  zu 
bearbeiten,  wenn  man  ihn  von  jener  Verpflichtung  freispräche.  So  stellte 
er  sich  selbst  als  den  ersten  Vertreter  der  Burleske  hin. 


Sou  visage  est  plus  frais  qu'une  rose  au  matin, 
Quand  au  chant  des  oiseaux  son  odeur  se  reveille 
Elle  remplit  mes  sens  de  gloire  et  de  merveille 
Et  me  fait  mespriser  la  bergere  Gatin. 

Dieses  triviale  Schlußwort  hat  man  Saint-Amant  übelgenommen.  Aber  es 
ist  ja  das  Charakteristische  der  burlesken  Dichter,  daß  sie  die  Stimmung  mut- 
wilHg  zerstören. 

**^  1)  Theophile  Gautier  giebt  in  seinen  „Grotesques"  (2  Bde.,  Paris  1844, 
Desessart)  auch  einen  Aufsatz  über  Saint-Amant.  Den  glühenden  Eomantikern, 
welche  die  klassische  Litteratur  verabscheuten,  mußten  die  früheren  Dichter, 
besonders  diejenigen,  welche  von  Boileau  getadelt  worden  waren,  teuer  sein. 
Gautier  findet  das  Skelett  sehr  am  Platz,  es  trägt  ihm  zur  Stimmung  bei.  „N'en 
deplaise  ä  Boileau,  je  crois  que  ce  pendu  est  tres-bien  a  sa  place"  sagt  er  I,  266. 

2)  Sonett  (ed.  Livet,  I,  182): 

Assis  sur  un  fagot,  une  pipe  ä  la  main, 
Tristement  accoude  contre  une  cheminee, 
Les  yeux  fixes  vers  terre,  et  Tarne  mutinee. 
Je  songe  aux  cruautes  de  mon  sort  inhumain. 


155 


Überblicken  wir  noch  einmal  die  poetische  Produktion  der  ganzen 
Epoche,  so  drängt  sich  uns  unwiderstehlich  ein  scharfes  Urteil  über  die 
hohle,  geschmack-  und  geistlose  Manier  auf,  die  sich  darin  breit  macht. 
Auffallend  ist  dabei  nur,  daß  man  dieselbe  Erscheinung  gleichzeitig  bei 
allen  Völkern  Europas,  die  an  der  Entwicklung  der  Kultur  teilnahmen, 
beobachten  kann.  Sie  muß  somit  ihren  Grund  in  allgemeinen  Verhält- 
nissen gehabt  haben.  Und  vielleicht  irren  wir  nicht,  wenn  wir  in  der 
Betonung  des  rein  Äußerlichen,  in  jener  faden  Galanterie,  jenem  auf- 
geputzten Gefühl  auch  nur  eine  andere  Episode  des  langen  Kampfes 
finden,  in  welchem  die  neue  Zeit  die  letzten  Fesseln  des  Mittelalters 
abzustreifen  sucht.  Noch  hatte  man  die  überlieferten  Formen,  aber  sie 
waren  alt  und  hohl  geworden.  Der  Kitterdienst,  der  Frauenkultus,  der 
Mysticismus  des  Mittelalters  waren  längst  geschwunden,  aber  noch  hatten 
sich  keine  neuen  Ideale  an  ihrer  Stelle  gefunden,  noch  war  kein  ge- 
nügender Ersatz  für  das  reichströmende  Leben  der  früheren  Zeit  geboten. 
Die  Wirkung  der  Eenaissance  war  langsam,  ihr  Einfluß  anfangs  oft 
verwirrend.  Da  der  geistige  Inhalt  mangelte,  suchte  man  sich  durch 
die  Schönheit  der  Form  zu  entschädigen.  In  diesem  Ringen  mit  der 
Form  verflüchtigte  sich  die  letzte  Spur  des  früheren  Geistes  und  der 
früheren  Weltanschauung,  aber  aus  diesem  Kampf  ging  die  Sprache 
umgewandelt  und  zu  neuem  Leben  tüchtig  hervor.  Sie  wurde  das  voll- 
endete Instrument  für  den  Ausdruck  einer  anders  gearteten  Gedanken- 
und  Gefühlswelt,  die  scharfe  Waffe  in  dem  neuen  Kampf,  der  bald  ent- 
brennen sollte.  Zwischen  dem  Streben  der  früheren  Jahrhunderte  und 
dem  der  modernen  Zeit  war  eine  kurze  Pause  der  Ruhe.  Es  kam  ein 
Augenblick,  in  welchem  das  geistige  Leben  und  die  Sprache  des  Volkes 
sich  harmonisch  deckten  und  diese  kurze  Spanne  Zeit  umfaßte  die  klas- 
sische Litteratur  in  ihrer  Größe.  Sie  war  der  Höhepunkt,  zu  dem  eine 
lange,  mühsame  Wanderung  führte  und  von  dem  nach  kurzer  Rast 
wieder  aufgebrochen  werden  mußte,  weil  neue  Ziele  auch  mit  neuer 
Unruhe  erfüllten. 


Bibliographische  Notizen.  Nachfolgend  seien,  abgesehen 
von  den  schon  in  den  Noten  angeführten  Einzelausgaben  und  Special- 
schriften, die  hauptsächlichsten  größeren  Sammelwerke  angegeben :  Le 
Temple  des  Muses,  puplie  par  Raphael  de  Petit-Val.  Paris  1611.  — 
Les  Muses  gaillardes,  recueillies  des  plus  beaux  esprits  de  ce  temps  par 
A.  D.  B.  Parisien.  Paris  1609.  —  Le  cabinet  satirique  ou  recueil  par- 
faict  des  vers  piquants  et  gaillards  de  ce  temps.  Tire  des  secrets  ca- 
binets  des  Sieurs  de  Sigogne,  Regnier,  Motin,  Berthelot,  Maynard  et 
autres  des  plus  signalez  Poetes  de  ce  Siecle.  Nouvelle  Edition.  Paris 
1614,  chez  Billaine.  —  Les  Delices  de  la  Poesie  francjoise.  Chez  Tous- 
saint  du  Bray.  Paris  1621.  —  Les  nouvelles  Muses  des  sieurs  Godeau, 
Chapelain,  Habert,  Baro,  Racan.  L'Estoile,  Menard,  Desmarets,  Male- 
ville  et  autres.  Paris  1633,  chez  Robert  Bertault.  —  Recueil  de  pieces  etc. 
Paris  1659—1662,    Ch.  de  Sercy.  4  Bde.    in  12°.   —    Recueil  des  plus 


156 


belies  pieces  des  poetes  fran9ois  tant  anciens  que  modernes  depuis 
Villon  jusqu'ä  Benserade,  imprime  par  Claude  Barbin,  Paris  1692. 
5  Bände. 

Le  Parnasse  Fran9ois,  dedie  au  Roi  par  Mr.  Titon  du  Tillet, 
Commissaire  Provincial  des  guerres,  ci-devant  Capitaine  de  Dragons  et 
Maitre  d'Hötel  de  feue  Madame  la  Dauphine,  Mere  du  Roi.  A  Paris, 
de  rimprimerie  de  Jeau  Baptiste  Coignard  fils,  1732.  —  (Le  Fort  de 
la  Moriniere)  Choix  de  poesies  morales  et  chretiennes  depuis  Malherbe 
jusqu'aux  Poetes  de  nos  jours.  Paris  1739/40.  3  Bde.  (Der  Herausgeber 
ist  auf  dem  Titel  nicht  genannt.)  —  Niceron,  Memoires  pour  servir  ä 
l'Histoire  des  Hommes  illustres  dans  la  Eepublique  des  Lettres,  avec  le 
catalogue  raisonne  de  leurs  Ouvrages.  Paris  1727  —  1745.  43  Bde.  — 
(Goujet)  Bibliotheque  fran9oise  ou  Histoire  de  la  litterature  fran9oise, 
dans  laquelle  on  montre  l'utilite  que  Ton  peut  retirer  des  Livres  publies 
en  Frangois  depuis  l'origine  de  l'imprimerie,  pour  la  connaissance  des 
Belles-Lettres,  de  l'Histoire,  des  Sciences  et  des  Arts,  et  oü  Ton  rapporte 
les  Jugements  des  critiques  sur  les  principaux  Ouvrages  en  chaque  genre 
ecrits  dans  la  meme  langue.  Par  Mr.  l'abbe  Goujet.  Paris  1740  u.  ff. 
18  Bände. 

Haag  (Eug.  et  Em.)  La  France  protestante,  ou  Vies  des  protestants 
fran9ais.  Ouvrage  precede  d'une  notice  historique  sur  le  protestantisme 
en  France.  Paris  1846  u.  ff.,  chez  Cherbuliez.  8  Bde. 


IX. 

Richelieu  und  die  Akademie. 

Betroffen  von  der  Erscheinung,  daß  ein  so  einseitiger  und  ab- 
sonderlicher Geschmack  während  eines  verhältnismäßig  langen  Zeitraums 
in  der  Poesie  vorherrschen  konnte,  fragt  man  sich,  ob  denn  zu  jener 
Zeit  keinerlei  ernstliche  Kritik  geübt  worden  sei ,  ob  kein  klarsehender, 
einfach  fühlender  und  ruhig  denkender  Geist  auf  die  Irrwege,  die  man 
wandelte,  hingewiesen  habe?  Man  wird  forschen,  ob  denn  vor  zwei  Jahr- 
hunderten nichts  von  dem  bestanden  habe,  was  wir  heute  litterarische 
Kritik  nennen  ? 

Allerdings  hat  erst  das  mächtige  Anwachsen  der  Presse  auch  dieser 
Art  der  öffentlichen  Kontrolle  ein  weites  Feld  der  Wirksamkeit  geöffnet. 
Litterarische  Zeitschriften  gab  es  damals  nicht.  Das  17.  Jahrhundert 
sah  wol  in  den  letzten  Jahren  Eichelieus  die  schüchternen  Anfänge  einer 
Zeitungspresse,  allein  es  sollte  noch  lange  dauern,  bis  dieselbe  selbstän- 
dige, entscheidende  Urteile  zu  fällen  wagte. 

Deshalb  darf  man  aber  nicht  annehmen,  daß  zur  Zeit  Malherbes 
und  Eichelieus  weniger  litterarische  Schlachten  als  heute  geschlagen 
worden  seien.  Man  hatte  eine  andere  Kampfart,  unvollkommenere  Waffen; 
man  scharmützelte  weniger  als  heute,  wo  der  kritischen  Zeitschriften  so 
viele  sind  und  selbst  politische  Journale  die  Erscheinungen  der  Litteratur 
besprechen;  aber  Schlachten,  Hauptaktionen  und  Exekutionen  gab  es 
so  viel  wie  heute,  und  man  schlug  sich  mit  der  nämlichen  Hitze.  Wir 
erinnern  nur  des  Beispiels  halber  an  Balzacs  litterarische  Fehden.  Als 
er  seine  Briefe  veröffentlicht  hatte,  trat  ein  junger  Feuillantinermönch, 
Don  Andre  de  Sainct  Denys,  mit  einer  heftigen  Schrift  gegen  ihn  auf 
und  beschuldigte  ihn  des  Plagiats.  Gegen  diesen  Vorwurf  verteidigte 
sich  Balzac  in  einer  „Apologie",  welche  unter  dem  Namen  seines  Freundes, 
des  Abbe  Ogier,  erschien.  Daraufhin  mischte  sich  sogar  der  General  der 
Feuillantiner,  Jean  Goulu,  in  den  Streit  und  schleuderte  zwei  Bände  der 
plumpsten  Invektiven  gegen  Balzac.^)  Wie  sich  nach  Voitures  Tod  aus 
einem  von  Balzac  angeregten  freundschaftlichen  litterarischen  Brief- 
wechsel über  des  Geschiedenen  Verdienste  allmählich  ein  erbitterter 
Kampf  entwickelte,  in  welchem  sich  die  Streitenden  mit  dicken  Quar- 
tanten  zu  Leibe  gingen,  ist  schon  bei  früherer  Gelegenheit  gesagt  worden.^) 


1)  Lettres  de  Phyllarque  ä  Ariste  (1627—1628). 

2)  Siehe  Abschnitt  VII,  S.  131. 


158 


Ebenso  werden  wir  bald  sehen,  wieviel  Broschüren  und  Bücher  der  Streit 
um  Corneilles  „Cid"  veranlaßte  und  welch  strenge  Polizei  die  herrschende 
litterarische  Schule  gegen  den  jungen  Dichter  auszuüben  versuchte,  weil 
dieser  sich  an  die  willkürlich  diktierten  Gesetze  einer  absonderlichen 
Ästhetik  nicht  halten  wollte.  Die  Kreise,  welche  sich  für  Litteratur  inter- 
essierten, waren  allerdings  noch  klein,  aber  im  Verhältnis  dazu  war  die 
Kritik  sehr  lebhaft.  Je  enger  umgrenzt  das  Gebiet  war,  auf  dem  man 
sich  erging,  umso  härter  traf  man  oft  aufeinander.  Noch  war  das 
geistige  Leben  der  Nation  minder  entwickelt,  die  Wissenschaften  wurden, 
soweit  man  sie  ausgebildet  hatte,  in  schwerfälliger  Form  überliefert  und 
entzogen  sich  dem  allgemeinen  Interesse.  Das  öffentliche  Leben  war  der 
freien  Besprechung  fast  völlig  entrückt  und  die  Aufmerksamkeit  der  Ge- 
bildeten mußte  sich  so  auf  die  Litteratur  konzentrieren.  Die  schwerfällige 
Gelehrsamkeit,  die  auch  hierüber  mitreden  wollte,  legte  ihr  Urteil  in 
Streitschriften  und  dickleibigen  Büchern  nieder.  Gewandtere  Männer 
schufen  sich  auch  wol  ein  Organ  für  ihre  kritischen  Aussprüche  in  ihren 
Briefen,  denn  trotz  ihres  privaten  Charakters  gingen  diese  Schreiben 
von  Hand  zu  Hand,  wurden  vielfach  kopiert  und  waren  umso  wirk- 
samer, je  intimer  sie  schienen.  Und  doch  waren  sie  meistens  für  einen 
größeren  Kreis  bestimmt  und  wurden  oft  nach  einiger  Zeit  durch  den 
Druck  bekannt  gemacht.  Solche  Briefe  hat  man  nicht  allein  von  Balzac, 
sondern  von  einer  Reihe  von  Schiüftstellern  und  Gelehrten.  Der  Brief- 
schreiber konnte  auf  diese  Weise  seine  Meinung  offen  mitteilen,  und 
hatte  den  Vorteil  dabei,  eine  gewisse  Frische  und  Natürlichkeit  des  Aus- 
drucks zu  bewahren. 

Nach  dem  erfolglosen  Widerstand,  den  Mathurin  Regnier  gegen 
die  Lehren  Malherbes  gewagt  hatte,  zeigte  sich  allerdings  längere  Zeit 
hindurch  keine  erhebliche  Meinungsverschiedenheit  über  die  Aufgaben 
der  Poesie.  Erst  Corneille  sollte  mit  seinem  „Cid"  wieder  einen  Anlaß 
zu  hitzigem  Streit  bieten.  Friedlich  war  man  deshalb  doch  nicht,  nur 
daß  man  sich  mehr  mit  persönlichen  Fragen  beschäftigte.  Übten  doch 
die  Dichter  selbst  oft  ihren  Freunden  gegenüber  das  Amt  des  Kritikers, 
und  wenn  sie  sich  auch  für  gewöhnlich  mit  maßlosen  Lobsprüchen  über- 
häuften, gab  es  doch  auch  hin  und  wieder  Anlaß  zur  Klage.  Im  all- 
gemeinen aber  war  man  mit  sich  und  mit  den  anderen  zufrieden,  und 
man  genügte  den  Ansprüchen  der  eleganten,  oberflächlichen  Gesellschaft, 
in  deren  Dienst  man  stand.  Diese  Übereinstimmung  der  Kritik,  die  wir 
auch  mit  einem  stärkeren  Wort  als  Mangel  an  Urteil  bezeichnen  können, 
ist  nicht  zu  übersehen.  Sie  konnte  nicht  ohne  Bedeutung  für  die  Ent- 
wicklung der  Litteratur  bleiben.  So  wie  diese  fast  principlos  und  ohne 
feste  Richtung  von  dem  Wellenschlag  des  gerade  herrschenden  Geschmacks 
sich  dahin  treiben  ließ,  so  auch  die  Kritik.  Umso  wichtiger  war  darum 
der  Versuch,  der  Kritik  ein  besonderes  Organ,  der  Litteratur  eine  Stütze 
und  eine  Führerin  zu  schaffen,  und  so  entstand  die  Akademie. 

Bevor  wir  die  Geschichte  ihrer  Gründung  genauer  betrachten, 
wollen  wir  die  einflußreichsten  Kritiker  und  Schöngeister,  welche  später 
die  Häupter  der  neuen  Gesellschaft  bilden  sollten,  einzeki  kennen  lernen. 


159 


Hoch  über  allen  stand  in  der  Achtung  der  Zeitgenossen  Balzac,  dessen 
Arbeiten  wir  schon  früher  gewürdigt  haben^)  und  der  als  das  Muster 
der  gelehrten  Ästhetiker  jener  Zeit  betrachtet  werden  kann.  Neben  ihm 
standen  andere,  ebenfalls  in  hohem  Ansehen,  wie  Chapelain  und  Conrart, 
die  zwar  den  Euhm  Balzacs  nicht  erreichten,  deren  Wirksamkeit  aber 
vielleicht  eingreifender  war   als  jene  des   Einsiedlers  von    der  Charente. 

Jean  Chapelain  (1595  —  1674)  war  zu  Paris  als  der  Sohn  eines 
Notars  geboren.  Seine  Mutter  soll  ihn  frühzeitig  mit  den  Werken  der 
Poesie  bekannt  gemacht  haben.  Aber  wenn  er  auch  von  ihr  „die  Lust, 
zu  fabulieren"  geerbt  hatte,  so  war  seine  Begabung  dafür  nicht  groß. 
Er  hatte  mehr  von  der  Natur  des  Vaters,  und  der  Notar  hat  sich  nie 
ganz  in  ihm  verleugnet.  Als  Erzieher  in  einem  vornehmen  Haus,  wurde 
er  mit  Malherbe  bekannt,  dessen  Magisterton  ihm  zusagte.  Er  fand 
Zutritt  in  dem  Haus  Rambouillet  und  erlangte  den  Ruf  eines  tüchtigen 
Gelehrten  und  einsichtigen  Kritikers.  Um  jene  Zeit  war  Marini  mit  seinem 
später  so  berühmt  gewordenen  Gedicht  „Adonis"  nach  Paris  gekommen 
und  hatte  es  im  Kreise  Malherbes  vorgelesen,  denn  seine  Absicht  war, 
eine  Ausgabe  davon  in  Frankreich  zu  veranstalten.  Es  wird  erzählt, 
Chapelain  habe  bei  dieser  Gelegenheit  manche  Bedenken  gegen  das  Werk 
geäußert  und  sich  dabei  so  scharfsinnig  erwiesen,  daß  Marini  gerade 
ihn  gebeten  habe,  die  Vorrede  zu  diesem  Gedicht  zu  schreiben.  Er  sollte 
das  Publikum  darin  günstig  stimmen,  und  die  Kritik  zum  voraus  ent- 
waffnen. Er  hätte  also,  wenn  sich  die  Sache  so  verhält,  den  Auftrag 
erhalten,  sich  selbst  zu  widerlegen.  Wie  dem  auch  sei,  er  schrieb 
jedenfalls  diese  gewünschte  Vorrede,  die  uns  freilich  völlig  ungenieß- 
bar ist.^) 

Zu  jener  Zeit  muß  sie  indessen  Beifall  gefunden  haben,  und  Cha- 
pelain übte  seitdem  mit  Vorliebe  litterarische  Kritik.  Er  besaß  wirkliche 
Gelehrsamkeit,  denn  er  verstand  neben  den  beiden  klassischen  Sprachen 
auch  Spanisch  und  Italienisch,  aber  sein  Geschmack  gewann  dadurch 
nicht  an  Sicherheit.  Er  war  der  Hauptverteidiger  jener  nüchternen, 
pedantisch  ausgeklügelten  Theorien,  welche  in  der  Litteratur  des  17.  Jahr- 
hunderts so  viel  Verwüstungen  angerichtet  haben.  So  war  Chapelain 
in  vieler  Hinsicht  der  richtige  Nachfolger  Malherbes.  Er  brachte  die 
Schwäche  und  Poesielosigkeit  in  ein  System;  man  möchte  ihn  den  Gott- 
sched der  Franzosen  nennen.  In  seiner  äußeren  Erscheinung  unan- 
sehnlich, klein,  häßlich,  dabei  geizig,  entwickelte  er  sich  allmählich  zu 
einem  kleinen  Litteraturtyrannen,  auf  dessen  Worte  die  Dichter  ehr- 
erbietig lauschten.  Auch  Balzac  preist  den  .,weisen  und  gelehrten" 
Herrn  Chapelain  als  das  Orakel  der  Kritik  und  des  Wissens.  Er  dringe 
in  das  tiefste  Geheimnis  des  Altertums.  Wenn  er  nur  wolle,  könne  er 
die  verlorenen  Bücher  der  „Poetik"  des  Aristoteles  wiederherstellen. 
Denn  wenn  man  mit  Recht  Aristoteles    den    Genius    der  Natur    nenne. 


1)  Siehe  Abschnitt  VII,  S.  107  ff. 

2)  Sie  erschien  in  Form  eines  Briefs  an  Mr.  Favereau  in  der  Folio- Aus- 
gabe des  „Adonis"  (Paris  1623). 


160 


so  könne  man  ebenso  treffend  Herrn  Chapelain  als  den  Genius  des 
Aristoteles  bezeichnen!^)  Man  schreibt  es  wesentlich  Chapelains  Einfluß 
zu,  daß  die  dramatischen  Dichter  die  allerdings  schon  bekannten,  aber 
wenig  beachteten  Regeln  von  der  Einheit  der  Handlung,  des  Ortes 
und  der  Zeit  allmählich  sorgfältiger  beobachteten.  Ganz  besonders  soll  er 
darauf  gedrungen  haben,  daß  die  Einheit  der  Zeit  in  der  strengsten 
Weise  aufzufassen  wäre,  und  die  im  Drama  vorgestellten  Ereignisse 
innerhalb  eines  Zeitraums  von  vierundzwanzig  Stunden  sich  abspielen 
müßten.^) 

Es  ist  bezeichnend  für  sein  trockenes  Naturell,  daß  er,  wie  schon 
früher  erwähnt  wurde,  in  der  Akademie  einen  Vortrag  gegen  die  Liebe 
in  der  Poesie  hielt. ^)  Wenn  er  dabei  freilich  nur  die  Dichtungen  seiner 
liebegirrenden  Kollegen  im  Sinn  hatte,  war  er  nicht  ganz  im  Unrecht. 
Da  er  nun  sein  Urteil  in  litterarischen  Fragen,  besonders  in  der  Poesie, 
so  hochgeachtet  sah,  glaubte  er  auch  selbst  Dichter  zu  sein,  und  ver- 
suchte sich  gelegentlich  in  kleinen  Gedichten.  Natürlich  besang  er  den 
Kardinal  Eichelieu,  der  sich  ihm  immer  wohlwollend  erwies.'*)  Zuletzt 
schraubte  er  sich  in  seinem  Selbstbewußtsein  so  hoch,  daß  er  es  unter- 
nahm, Frankreich  ein  nationales  Epos  zu  geben,  und  eine  große,  heroische 
Dichtung  in  24  Gesängen  begann ,  welche  die  Jungfrau  von  Orleans 
verherrlichen  sollte.  Die  Spannung  war  groß,  und  in  den  schöngeistigen 
Kreisen  erwartete  man  ein  Wunderwerk,  das  Homer  und  selbst  den  am 


1)  Balzac,  6^^  discours. 

2)  Vergl.  Segraisiana  (Haager,  Ausgabe  1722),  S.  144. 

3)  Chapelain  hielt  diesen  Vortrag  „contra  l'amour"  in  der  Sitzung  der 
Akademie  vom  6.  August  1635.  „U  tache  d'öter  ä  cette  passion  la  divinite  que 
les  poetes  lui  ont  attribuee,"  sagt  darüber  Pellisson,  Histoire  de  TAcademie 
(edition  Livet),  S.  76. 

*)  Seine  Ode  an  Kardinal  de  Richelieu  findet  sich  in  Barbins  „ßecueil 
des  plus  belies  pieces",  IV.  Teil,  S.  181.  Boileau,  sonst  ein  so  entschiedener 
Widersacher  Chapelains,  fand  die  Ode  erträglich  hübsch.  (Menagiana  III,  S.  73.) 
Uns  erscheint  selbst  dieses  Urteil  sehr  nachsichtig.  —  Der  erste  ernstliche 
Widerstand  gegen  Chapelain  erhob  sich  überhaupt  gegen  ihn  als  Dichter.  In 
dem  satirischen  Lustspiel  „Les  Aeademistes"  von  Saint-Evremond  (1643),  in 
der  die  Mehrzahl  der  AkademiemitgUeder  ihre  PtoUe  haben,  tritt  in  der  ersten 
Scene  des  zweiten  Akts  Chapelain  auf,  wie  er  sich  gerade  abmüht,  ein  Gedicht 
zu  stände  zu  bringen: 

„Qui  Vit  Jamals  rien  de  si  beau, 

(II  me  taudra  choisir  pour  la  rime  fl  am  beau) 

„Que  les  beaux  yeux  de  la  comtesse? 

(Je  voudrais  bien  aussi  mettre  en  rime  Deesse) 

„Je  ne  croi  point  qu'une  Deesse 

„Nous  eclairät  d"un  tel  flambeau. 

„Aussi  peut-on  trouver  une  ame 

„Qui  ne  sente  la  vive  Flamme, 

„Qu'allume  cet  Oeil  radieux? 

Radieux  me  plait  fort:  un  ceil  plein  de  lumiere. 

Et  qui  fait  sur  nos  Coeurs  l'impression  premiere, 

D'oix  se  forment  enfin  les  tendresses  d'Amour. 

Radieux!  j'en  veux  faire  un  terme  de  la  Cour. 


161 


höchsten  bewunderten  Virgil  verdunkeln  würde.  Die  Franzosen,  die  sich 
berufen  glaubten,  die  Nachfolger  der  Römer  in  der  Weltherrschaft  zu 
werden,  deren  Sprache  in  rascher  Entwicklung  stand  und  bereits  in 
ganz  Europa  von  den  Gebildeten  verstanden  wurde,  erwarteten  nun  auch 
ihr  nationales  Epos.  Schon  Ronsard  hatte  in  seiner  „Franciade"  den 
Versuch  gemacht,  diesen  Wunsch  zu  erfüllen.  Aber  Ronsard  war  längst 
überholt.  Jetzt  erst  schien  die  richtige  Zeit  gekommen  und  in  Chapelain 
sah  man  den  lang  ersehnten  Messias.  Ein  Nachkomme  des  tapferen 
Dunois,  der  Herzog  von  Longueville,  der  von  dem  Gedicht  besonderen 
Glanz  für  sein  Haus  erhoffte,  setzte  dem  Dichter  für  die  ganze  Dauer 
der  Arbeit  ein  Gehalt  von  2000  Franken  aus,  und  Richelieu  bewilligte 
ihm  die  gleiche  Summe  als  Untei'stützung.  Er  that  dies  in  demselben 
Jahr  1636,  in  welchem  der  „Cid"  erschien,  den  er  durch  seine  Getreuen 
richten  ließ.  Auch  Richelieus  Name  sollte  in  dem  Epos  verherrlicht 
werden.  Jeder  Gesang  wurde  den  beiden  Gönnern  zur  Durchsicht  und 
Genehmigung  vorgelegt.  Die  Veröffentlichung  verzögerte  sich  viele  Jahre. 
Die  ersten  zwölf  Gesänge  erschienen  1656  und  erlebten  binnen  18  Mo- 
naten sechs  Auflagen,  was  für  jene  Zeit  außerordentlich  ist.  und  jedenfalls 
für  die  wachsende  Teilnahme  des  Publikums  an  der  Litteratur  Zeugnis 
ablegt.  Chapelain  glaubte  seinen  Ruhm  für  die  Ewigkeit  gesichert.  Und 
doch  war  er  seinem  Sturz  nahe.  Wie  die  Stimmung  umschlug,  wie  die 
Angriffe  gegen  ihn  lauter  und  schärfer  wurden,  wie  endlich  Boileau  sich 
gegen  ihn  erhob,  und  der  lange  Zeit  mühsam  aufrecht  erhaltene  Ruhm 
des  armen  Chapelain  plötzlich  zusammenbrach,  das  zu  schildern,  muß 
einer  späteren  Darstellung  vorbehalten  bleiben,  wenn  von  den  epischen 
Versuchen  anderer  Dichter  und  der  litterarischen  Reaktion  zur  Zeit 
Boileaus  die  Rede  sein  wird.  War  aber  Chapelain  als  Dichter  unglücklich 
gewesen,  so  hielt  sich  doch  sein  Ansehen  als  Kritiker  noch  einige  Zeit 
in  Kraft.  Er  wurde  der  litterarische  Vertrauensmann  des  Ministers 
Colbert.  Als  König  Ludwig  im  Jahr  1662  sich  als  Förderer  der  Künste 
und  Wissenschaften  zu  zeigen  und  eine  augusteische  Periode  einzuleiten 
beschloß,  wollte  er  unter  anderem  auch  eine  große  Zahl  von  Dichtern 
und  Gelehrten  mit  Pensionen  begnaden.  Zu  diesem  Behuf  wandte  sich 
Colbert  an  Chapelain,  der  eine  Liste  von  60  Namea,  45  Franzosen  und 
15  Ausländer,  aufstellte.  Jeden  der  Männer,  welche  er  einer  solchen 
Auszeichnung  würdig  erachtete,  suchte  er  in  einigen  begleitenden  Worten 
zu  kennzeichnen.  Ein  Hauptgewicht  bei  dieser  Beurteilung  fiel  darauf, 
inwieweit  der  Betreffende  den  Ruhm  des  Königs  zu  verbreiten  im 
Stande    wäre.^)     Zugleich    ersieht   man  aus  diesen  Charakteristiken,  wie 


1)  So  erweist  sich  Chapelain  gerecht  gegen  Corneille,  dessen  Ruhm  im 
Jahr  1662  allerdings  sicher  stand.  Von  dem  Übersetzer,  d'Ablaucourt,  sagt  er 
z.  B.  als  Empfehlung,  „qu'il  recevroit  les  avis  qu'on  lui  donneroit" ;  Mezeray 
dagegen  müßte  fügsamer  (plus  docile)  sein,  und  Furetiere  könnte  etwas  leisten, 
„wenn  er  sich  leiten  ließe".  Sich  selbst  nennt  pr  einen  Mann  „qui  fait  une  pro- 
fession  exacte  d'aimer  la  vertu  «ans  interet".  Vergl.  auch  Guizot,  Corneille  et 
son  temps,  S.  355.  Chapelain  trug  eine  jährliche  Pension  von  3000  Franken 
davon,  nachdem  ihm  schon  früher  Mazarin  ein  Gehalt  von  1500  Pranken  be- 
willigt hatte. 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litleratar.  -j^j 


162 


sehr  Chapelain  auf  Unterwürfigkeit  unter  die  von  ihm  als  unfehlbar 
erachteten  Lehren  hielt,  wie  er  sich  aber  unparteiisch  zu  seiu  bemühte, 
so  gut  ihm  das  von  seinem  Standpunkt  aus  möglich  war.^)  „Er  hatte 
die  Tugend  erlernt  wie  die  Poetik",  sagt  Guizot  von  ihm,  aber  seine 
Tugend  blieb  stets  etwas  selbstsüchtig.  Mit  der  Zeit  geriet  er  immer 
mehr  in  Opposition  gegen  die  neu  sich  erhebende  Schule  der  jüngeren 
Generation,  gegen  Boileau  und  Moliere.  und  so  gewöhnte  man  sich 
daran,  ihn  nebst  dem  Abbe  Cotin  als  den  Inbegriff  alles  Ungeschmacks 
zu  betrachten,  —  ein  Urteil,  das  ebenso  ungerecht,  wie  die  frühere 
Verehrung,   die  man  ihm  gezollt  hatte,  übertrieben  erscheint.^) 

Chapelains  Freund  und  Gesinnungsgenosse.  Valentin  Conrart  (1603 
bis  1675).  der  aas  einer  streng  bürgerlichen  Familie  in  Valenciennes 
stammte,  hatte  den  gewöhnlichen  Bildungsgang  der  wohlhabenden  Jugend 
seiner  Zeit  nicht  durchgemacht.  Die  klassischen  Studien  waren  ihm  fremd 
geblieben,  aber  er  zeigte  sich  später  mit  den  modernen  Sprachen,  mit 
Italienisch  und  Spanisch,  vertraut.  Conrart  war  eigentlich  kein  Kritiker, 
noch  weniger  Dichter;  er  war  nur  Sammler.  Einer  der  Menschen,  welche 
den  anderen  gerne  zuhören  und  deren  Leistungen  neidlos  bewundern, 
sah  er  sich  bei  allen  seinen  Freunden  beliebt.  Er  war  Sekretär  des 
Königs  und  wurde  nach  der  Gründung  der  Akademie  deren  erster 
lebenslänglicher  Sekretär.  Von  seinen  Werken  kannte  man  nichts,  und 
Boileau  fand,  daß  er  sich  in  ein  kluges  Schweigen  hülle. ^)  Außer  den 
paar  Gedichten,  die  man  von  ihm  kennt,  schrieb  er  auch  ein  Buch 
Memoiren.  Doch  blieben  sie  ungedruckt  und  sind  erst  vor  ungefähr 
50  Jahren  veröffentlicht  worden.*) 

Xeben  Balzac,  Chapelain  und  Conrart  standen  noch  viele  Schön- 
geister, deren  kritisches  Urteil  für  ihre  Zeitgenossen  von  Gewicht  war, 
wenn   sie   auch   selbst   nichts  leisteten.    Zu  ihnen  gehörte  Pierre  Costar 

ij  Unter  den  von  Ludwig  XIV.  mit  Pensionen  bedachten  Ausländern  sind 
zu  nennen:  Isaak  Vossius,  N.  Heinsius,  Gronovius  und  Huyghens  in  Holland; 
J.  H.  Boeklerus  in  Strasburg:  Thomas  Eeiuesius ,  Rat  des  Kurfürsten  von 
Sachsen ;  Joh.  Christ.  Wageuseilius,  Professor  zu  Altorf;  Hevelius,  Professor  der 
Astronomie  zu  Danzig;  Conringius,  Professor  zu  Helmstädt  u.  a.  m. 

-)  Die  Gedichte  Chapelains  sind  nicht  gesammelt  worden.  Auch  seine 
kritischen  Arbeiten  sind  zerstreut  und  meist  verloren.  Seine  Vorrede  zum 
_Adonis"  von  Marin i  und  einige  seiner  Briefe  finden  sich  in  den  Melanges  de 
Litterature,  tires  de  lettres  manuscrites  de  Chapelain  et  publies  par  Camusat, 
17-26.  Chapelains  Briefe  (5  Bände)  befanden  sich  in  Saint-Beuves  Besitz.  In 
wessen  Hände  sie  nach  dessen  Tod  übergegangen  sind,  ist  uns  unbekannt.  Einen 
Auszug  daraus  giebt  Ch.  Livet  in  seiner  Ausgabe  von  Pellisson. 

s)  Boileau,  Epitre,  I,  v.  40: 

„J'imite  de  Conrart  le  silence  prudent." 

*)  Die  Memoires  de  Conrart  finden  sieh,  von  L.  J.  N.  Monmerque  heraus- 
gegeben, in  Petitots  großer  Sammlung  von  Memoiren  zur  Geschichte  Frank- 
reichs. (Collection  des  Memoires  relatifs  ä  l'histoire  de  France,  Bd.  48,  1825. )  — 
Die  Bibliothek  des  Arsenals  in  Paris  besitzt  eine  wichtige,  von  Conrart  ange- 
legte Sammlung  von  litterarischen  Arbeiten  der  verschiedensten  Art,  Kopien  von 
Druckschriften  oder  Originalmanuskripten.  Sie  umfaßt  zwei  Serien,  eine  von 
18  Foliobänden,  die  andere  von  24  Quartbänden. 


163 


(1603 — 1660),  ein  Geistlicher,  der  mit  der  Schriftstellerwelt  wohlbekannt, 
mit  Voiture  sogar  befreundet  war  und  das  Andenken  des  letzteren,  wie 
schon  einmal  gesagt,  in  hitziger  Fehde  verteidigte.  Costar  führte  in  Le 
Mans,  'das  er  nur  selten  verließ,  ein  epikuräisch  bequemes  Leben,  zu- 
frieden in  dem  oberflächlichen  Genuß  dessen,  was  die  Kenntnis  der  alten 
Welt  und  die  schöne  Litteratur  ihm  bieten  konnten,  ohne  ihn  zu  er- 
müden.^) 

So  hatte  sich  allmählich  eine  kleine  litterarische  Welt  in  Frank- 
reich gebildet,  deren  Mittelpunkt  Paris  war.  In  der  Hauptstadt  fanden 
sich,  mit  wenigen  Ausnahmen,  alle  zusammen,  welche  poetisch  oder  in 
irgend  einer  Weise  litterarisch  thätig  waren.  Sie  fanden  dort  die  beste 
materielle  Hilfe,  aber  auch  die  erwünschte  Anregung  in  einer  Gesell- 
schaft, von  der  sie  sieh  allein  verstanden  und  gewürdigt  wußten. 

Darum  ist  es  nur  natürlich ,  daß  sich  um  jene  Zeit  eine  Anzahl 
gleichgesinnier  Freunde  zusammenfand,  die  sich  in  freundschaftlichem 
Verkehr  gegenseitig  zu  stützen  und  zu  fördern  strebten.  Pellisson,  der 
elegante  Geschichtschreiber  der  Akademie,  erzählt,  daß  der  erste  Gedanke 
einer  regelmäßigen  Vereinigung  im  Kreise  der  Freunde  im  Jahr  1629 
aufgetaucht  sei.  Sie  hätten  in  den  verschiedenen  Stadtteilen  gewohnt 
und  sich  bei  ihren  Besuchen  oft  verfehlt.  Da  seien  sie  übereingekommen, 
sich  bei  einem  von  ihnen  an  einem  bestimmten  Tag  in  der  Woche  zu 
versammeln.  „Sie  alle  waren  Schriftsteller  und  Männer  von  Bedeutung", 
sagt  Pellisson.  „Godeau,  jetzt  Bischof  von  Grasse,  damals  aber  noch 
nicht  im  geistlichen  Stand,  Gombauld,  Chapelain,  Conrart,  Giry,")  der 
verstorbene  Artilleriekommissär  Habert,  sein  Bruder,  der  Abbe  von  Cerisy, 
dann  Serisav  und  Maleville.  Sie  versammelten  sich  bei  Conrart,  dessen 
Wohnung  am  bequemsten  für  diesen  Zweck  im  Herzen  der  Stadt  gelegen 
war,  so  daß  alle  gleich  weit  zu  ihm  hatten.  Dort  unterhielten  sie  sich 
zwanglos,  wie  sie  es  bei  einem  andern  Besuch  gethan  hätten,  und  über 
alle  möglichen  Fragen,  über  Geschäfte,  Neuigkeiten,  Litteratur.  Wenn 
einer  von  ihnen  ein  Werk  vollendet  hatte,  wie  das  oft  vorkam,  so  teilte 
er  es  gern  allen  anderen  mit,  die  ihm  darüber  offen  ihre  Meinung  sagten. 
Auf  ihre  Besprechungen  ließen  sie  dann  entweder  einen  Spaziergang  oder 
ein  gemeinsames  Mahl  folgen."^) 


1)  Außer  seinen  Streitschriften  für  Voiture  veröffentlichte  Costar  noch  im 
Jahr  1654:  Entretiens  de  Mr.  de  Voiture  et  de  Mr.  Costar,  ferner  eine  Samm- 
lung unbedeutender  Briefe  (Paris  1658),  eine  Abhandlung  über  das  Epigramm 
und  im  Auftrag  Mazarins  zwei  weitere  über  die  berühmtesten  Schriftsteller 
Frankreichs  und  des  Auslands. 

2)  Louis  Giry,  Advokat  in  Paris,  hatte  sich  durch  einige  Übersetzungen 
bekannt  gemacht. 

3)  Paul  Pellisson-Fontanier  (1624 — 1093),  stammte  aus  einer  protestanti- 
schen Familie  und  war  eine  Zeit  lang  im  Finanzministerium  unter  Fouquet  an- 
gestellt. Beim  Sturz  dieses  seines  Gönners  wurde  auch  Pellisson  in  die  ßastille 
gesperrt  und  verlor  sein  ganzes  Vermögen.  Aber  selbst  im  Kerker  wagte  er 
noch  für  Fouquet  zu  schreiben,  und  wurde  daraufhin  zur  strengsten  Haft  ver- 
urteilt. Aller  Mittel,  sich  zu  beschäftigen,  beraubt,  habe  er,  so  heißt  es,  sich 
die  Zeit   mit   der  Zähmung   einer   Spinne   vertrieben.    Auf  Verwenden    seiner 

11* 


164 


Wir  sehen  also  in  diesen  Zusammenkünften,  die  keinerlei  Anspruch 
auf  besondere  Bedeutung  machten,  nur  den  Wunsch  nach  lebhafterem 
freundschaftlichen  Verkehr  verwirklicht,  und  aus  diesem  Grunde  sollte 
auch  kein  Fremder  in  den  Kreis  zugelassen  werden.  Einige  Jahre  hin- 
durch kamen  die  Mitglieder  dieser  geschlossenen  Gesellschaft,  die  sich 
scherzweise  manchmal  als  Akademie  bezeichnete,  zusammen,  ohne  daß 
man  in  der  Welt  davon  erfuhr,  und  wii-  können  uns  leicht  vorstellen, 
wie  angenehm  und  in  seiner  Weise  auch  fördernd  der  vertrauliche  Um- 
gang miteinander,  der  ungestörte  Austausch  der  Meinungen  auf  jeden  der 
Freunde  gewirkt  haben  mag. 

Auf  die  Dauer  konnten  diese  Zusammenkünfte  jedoch  nicht  un- 
bemerkt bleiben.  Auch  Richelieu  hörte  von  ihnen  und  ergriff  mit  Leb- 
haftigkeit den  Gedanken,  diese  anspruchslose  Gesellschaft  von  Privat- 
leuten, diese  Freundesakademie,  in  eine  öifentlich  anerkannte  Korporation 
umzuwandeln. 

Richelieu  hat  als  Staatsmann  einen  Einfluß  auf  die  politische  und 
sociale  Entwicklung  seines  Landes  ausgeübt,  wie  nur  wenige  vor  und 
nach  ihm.  Gewaltthätig  und  rücksichtslos  hat  er  die  königliche  Macht 
in  Frankreich  zu  der  Höhe  völliger  Unumschränktheit  emporgehoben,  auf 
der  sie  sich  beinahe  zwei  Jahrhunderte  hindurch  erhielt;  er  hat  Frank- 
reich zu  jenem  straff  centralisierten  Staat  umgeschaffen,  der  des  Landes 
Kraft  zusammenfaßte  und  verdoppelte,  der  es  aber  in  anderer  Hinsicht 
auch  gefährlich  schwächte.  Wir  haben  hier  nicht  noch  einmal  die  Folgen 
dieses  Systems  hervorzuheben;  es  sei  uns  nur  gestattet,  daran  zu  er- 
innern ,  daß  selbst  Richelieu ,  diese  mächtig  konstruierte  Persönlichkeit 
und  fast  der  einzige  entschiedene  Charakter  in  einer  Epoche  der  Charakter- 
schwäche, nur  deshalb  seine  Politik  mit  Erfolg  gekrönt  sah,  weil  er  das 
unbewußte  Streben  seiner  Zeit  mit  scharfem  Blick  erkannte  und  das- 
selbe zum  Ziel  zu  führen  unternahm. 

Auch  in  der  Geschichte  der  Litteratur  kann  er  nicht  übersehen 
werden.  Auch  hier  griff  er  entschieden  ein  und  wurde  von  der  allgemeinen 
Strömung  getragen.  Daß  er  sich  später  einmal,  bei  der  Erscheinung  des 
..Cid",  im  Widerspruch  mit  dem  Geschmack  des  Publikums  befand,  darf 


Freundin,  des  Fräuleins  von  Scuderj',  erhielt  er  endlich  wieder  Bücher  und  auch 
etwas  mehr  Freiheit.  Seine  volle  Freiheit  erhielt  er  jedoch  erst  nach  viereinhalb- 
jähriger Haft.  Einige  Jahre  später  bekehrte  er  sich  zum  Katholizismus  und  er- 
hielt eine  königliche  Pension  von  2000  Thalern.  In  den  geistlichen  Stand  ein- 
getreten, erhielt  er  einige  Abteien,  deren  Einkünfte  ihm  gestatteten,  ein  schönes 
Vermögen  zu  sammeln.  Da  er  sich  mit  Eifer  der  Bekehrung  seiner  früheren 
Glaubensgenossen  widmete,  nannte  man  ihn  spottweise  „le  grand  convertisseur".  — 
Die  Anzahl  seiner  Schriften  war  groß;  doch  waren  sie  meistenteils  theologi- 
schen Inhalts.  Zu  nennen  sind  höchstens  seine  Einleitung  zu  der  Ausgabe  von 
Sarrazins  Werken,  seine  Geschichte  der  Eroberung  der  Franche-Comte  (1648), 
sein  „Journal  des  voyages  de  Louis  XIV  en  1670"  und  seine  Rede  beim  Em- 
pfang des  Erzbischofs  von  Paris  in  der  Akademie,  welche  in  einem  Lob  des 
Königs  gipfelte.  Wichtig  ist  aber  nur  seine  „Histoire  de  l'Academie  fran9oise'' 
(Paris  1(353),  fortgesetzt  von  dem  Abbe  d'Olivet  bis  zur  Zeit  Racines.  Eine  neue 
treffliche  Ausgabe  dieses  Werks,  das  sich  durch  gefeilte,  schöne  Sprache  aus- 
zeichnet, hat  Charles  Livet  besorgt.  (Paris  1858,  l3idier,  2  Bde.) 


165 

uns  nicht  irren.  War  doch  dieser  Widerspruch  in  mancher  Beziehung 
nur  scheinbar,  wie  wir  später  nachweisen  werden. 

Richelieu  war  fein  gebildet.  Er  liebte  die  Kunst,  die  Poesie;  er 
freute  sich  der  Schönheit  des  geschmackvoll  geordneten  Lebens.  Trotz 
der  Arbeitslast,  die  auf  ihn  drückte,  fand  er  nocli  Muße,  sich  mit  den 
Werken  der  Litteratur  eingehend  zu  'beschäftigen.  Sein  väterliches  Schloß 
Richelieu  arn  Fluß  Amable  (Departement  Indre-et-Loire)  war  im  Geschmack 
der  Zeit  prächtig  ausgestattet.  Wir  haben  noch  ein  langes  Gedicht  von 
Julien  Collardeau,  das  die  Herrlichkeit  dieses  Besitzes  schildert.  Nach 
einer  schwülstigen  Einleitung,  in  welcher  das  Schloß  Richelieu  mit  den 
Pyramiden,  der  babylonischen  Mauer,  dem  Koloß  von  Rhodus  und  an- 
deren Wunderbauten  verglichen  und  natürlich  über  dieselben  erhoben 
wird,  folgt  die  eingehende  Beschreibung  desselben,  sowie  der  Kunstwerke, 
die  es  enthielt,  und  das  Gedicht  läßt  uns  somit  den  Geschmack  des 
Schloßherrn  deutlich  erkennen. \) 

Auch  in  Paris  ließ  der  Kardinal  an  einem  wenig  belebten  und  ziemlich 
vernachlässigten  Platz  inmitten  von  Wiesen,  an  Stelle  des  alten  Hotel  de  Ram- 
bouillet und  des  Hotel  de  Mercceur,  durch  den  Baumeister  Jacques  Le  Mercier 
einen  neuen,  prächtigen  Palast  errichten,  das  Palais-Cardinal,  das  in  der 
Folge,  als  es  in  den  Besitz  des  Königs,  später  der  Familie  Orleans,  über- 
ging, unter  dem  Namen  des  Palais-Royal  bekannt  wurde. ^)  Noch  mehr  als 


ij  Julien  Collardeau:  „La  description  de  Richelieu";  siehe  Goujet,  Teil 
XVI,  S.  24  ff.  Das  Gedicht  wurde  erst  nach  dem  Tod  des  Kardinals  gedruckt, 
mit  einer  Widmung  an  die  Herzogin  von  Aiguillon,  seine  Nichte.  Collardeau 
fand  darin  reiche  Gelegenheit  zu  Ruhmesbymuen.  zumal  bei  der  Beschreibung 
der  Gemälde,  welche  Richelieus  Kiiegsthaten  vor  La  Rochelle.  Susa  u.  s.  w. 
darstellten.  —  In  ähnlicher  Weise  schilderte  er  in  einem  Gedicht  die  Gemälde, 
welche  die  Siege  Ludwig.s  XIII.  verherrlichten. 

-)  Der  Bau  währte  von  1629  bis  1636.  Über  das  erstaunliche  Wachs- 
tum der  Hauptstadt,  über  die  prächtigen  Gebäude  und  besonders  über  das 
Palais-Cardinal  hat  Corneille  in  seinem  Menteur  Jl,  5  einige  für  Richelieu  be- 
rechnete Verse  eingeschoben. 

Dorante : 

Paris  semble  ä  mes  yeux  un  pays  de  romans. 

J'y  croyais  ce  matin  voir  une  ile  enchantee: 

Je  la  laissois  deserte,  et  la  trouve  habitee; 

Quelcj^ue  Amphion  nouveau.  saus  l'aide  des  ma^ons, 

En  süperbes  palais  a  change  ses  buissons. 
Geronte: 

Paris  voit  tous  les  jours  de  ces  metamorphoses : 

Dans  tout  le  Pre  aux  clercs  tu  verras  memes  choses; 

Et  l'univers  entier  ne  peut  rien  voir  d'egal 

Aux  süperbes  dehors  du  palais  Cardinal. 

Toute  une  ville  entiere,  avec  pompe  bätie, 

Semble  d'un  vieux  fosse  par  miracle  sortie. 

Et  nous  lait  presumer,  ä  ses  süperbes  toits, 

Que  tous  ses  habitants  sont  des  dieux  on  des  rois. 
Vergl.   die  Bemerkuug    zu    dieser  Stelle    in    der  Ausgabe  Corneilles   von 
Marty  Laveaux  („Grands  Ecrivains  de  la  France'",   Hachette)   und   die  dort  an- 
geführte Notiz  aus  Piganiol  de  la  Force,  description  de  Paris  1742,  t.  II.  p.  220. 
In  dem  heutigen  Bau  ist  jede  Erinnerung  an  den  früheren  Stil  verschwunden. 


166 

die  bildenden  Künste  liebte  Richelieu  die  Poesie,  vor  allem  die  dramatische 
Dichtung.  In  seinen  jüngeren  Jahren  gehörte  er  zu  den  Besuchern  der 
Marquise  von  Eambouillet,  und  als  er  später  zur  Macht  gelangte,  hatte 
er  immer  einen  Kreis  von  Dichtern,  Schriftstellern  und  Schöngeistern 
um  sich,  mit  welchen  er  sich  gern  und  eingehend  unterhielt.  Er  be- 
willigte einer  ganzen  Reihe  von  Dichtern  jährliche  Gehalte.  Ein  paar 
unbedeutende  Verse  lohnte  er  dem  Dichter  Colletet  mit  einem  Geschenk 
von  60  Pistolen,')  und  selbst  auf  seinen  Reisen  und  Feldzügen  wollte 
er  seine  schöngeistigen  Gesellschafter  nicht  missen.  Er  nannte  sie  scherz- 
weise seine  „Academie  de  campagne"."-)  Wie  er  in  seinem  Palast  einen 
großen  Saal  für  dramatische  Vorstellungen  herrichten  ließ  und  sich  selbst 
an  der  Komposition  von  Bühnenwerken  versuchte,  wird  in  der  Geschichte 
des  Theaters  ausführlicher  zur  Sprache  kommen.  Auch  der  ofterwähnte 
Prozeß  über  den  „Cid",  der  zuoi  Teil  wenigstens  im  Interesse  einer 
ästhetischen  Theorie  geführt  wurde,  zeugt  von  dem  lebhaften  Anteil,  den 
Richelieu  an  den  litterarischen  Vorgängen  nahm.  Daß  er,  der  Mann  der 
Ordnung  und  festen  Staatsgewalt,  sich  für  die  Regelmäßigkeit  in  den 
Dichtungen  ereiferte,  ist  natürlich.  So  ergriff  er  die  Gelegenheit,  diese 
zu  befördern,  wo- er  konnte,  und  eine  solche  Veranlassung  glaubte  er 
gefunden  zu  haben,  als  er  von  den  ungezwungenen  Versammlungen  bei 
Conrart  hörte.  Die  Idee  einer  Akademie,  einer  für  die  Sprache  und  Litte- 
ratur  maßgebenden  Gesellschaft,  mußte  ihm  sowie  anderen  schon  öfters 
gekommen  sein.  Waren  doch  in  Italien  in  allen  Städten  solche  Akade- 
mien in  Thätigkeit,  und  die  „Humoristi"  in  Rom,  die  „Crusca"  in  Flo- 
renz waren  selbst  in  Frankreich  sehr  bekannt.  Letztere  hatte  sich  die 
Aufgabe  gestellt,  die  Reinheit  der  italienischen  Sprache  durch  Ausarbei- 
tung eines  Wörterbuchs,  das  als  Autorität  gelten  könne,  zu  befördern. 
Warum  sollte  man  in  Frankreich,  wo  man  noch  so  sehr  von  Italien  ab- 
hing, diese  Einrichtung  nicht  nachahmen?  Entsprach  sie  nicht  voll- 
ständig der  herrschenden  Richtung?  Hatte  man  nicht  schon  zur  Zeit 
Karls  IX.  etwas  Ähnliches  versucht?'')  Wie  Frankreich  mit  dem  Haus 
Österreich-Spanien  um  die  Suprematie  zu  ringen  begann,  so  galt  es  auch 
auf  dem  Gebiet  der  Sprache  einen  nationalen  Wettstreit,  und  die  Grün- 
dung der  Akademie  schien  ein  vortreffliches  Mittel  mehr,  zum  Sieg  zu 
gelangen. 

Boisrobert,  der  mit  Chapelain  und  dessen  Freunden  persönlich  be- 
kannt war,  erhielt  von  Richelieu    den  Auftrag,  seine  Vorschläge  zu  über- 


ij  Es  sind  das  die  Verse,  die  überall,  wo  von  Richelieus  Mäcenatentum 
die  Rede  ist,  citiert  werden.  Sie  stehen  in  dem  von  Colletet  im  Auftrag  Eiche- 
Heus  verfaßten  Prolog  zu  dem  Lustspiel:  „La  Comedie  des  Tuileries",  dessen 
3.  Akt  von  Corneille  herrühren  soll.     Die  Verse  heißen: 

A  meme  temps  j'ai  vu  sur  le  bord  d'un  ruisseau 

La  cane  s'humecter  de  la  bourbe  de  l'eau, 

D'une  voix  enrouee  et  d'un  battement  d'aile 

Animer  le  canard  qui  languit  aupres  d'elle. 

2)  Tallemant  des  Reaux,  Historiettes,  II,  S.  389. 

3)  S.  Abschnitt  I,  S.  20. 


167 


bi'ingen.  Dieselben  zielten  dahin,  aus  der  intimen  Vereinigung  eine  öffent- 
liche Gesellschaft  zu  bilden  (1634).  Die  zu  solcher  Ehre  berufenen  Männer 
sahen  die  Sache  sehr  ernst  an.  Wenn  sie  gleich  vor  dem  Unbekannten, 
das  ihnen  entgegentrat,  zurückscheuten,  so  schien  es  doch  nicht  geraten, 
den  Kardinal  durch  Widerspruch  zu  reizen;  und  so  erklärten  sie  sich 
denn,  hauptsächlich  durch  Chapelain  überredet,  in  einem  Schreiben  an 
Richelieu  bereit,  auf  seinen  Vorschlag  einzugehen,  und  ersuchten  ihn, 
das  Protektorat  der  neuen  Gesellschaft  zu  übernehmen.^)  Diese  zu  be- 
gründen, lud  man  noch  einige  andere  Männer  zur  Teilnahme  ein,  unter 
ihnen  Boisrobert.  sowie  den  Dichter  Desmarets,  ebenfalls  einen  Günst- 
ling des  Kardinals.  Faret  übernahm  es,  in  längerer  Abhandlung  die  Auf- 
gabe und  das  Ziel  der  neuen  Gesellschaft,  die  sich  „Französische  Aka- 
demie" nannte,  zu  entwickeln.  In  dieser  Schrift  hieß  es,  der  Kardinal 
habe  die  Absicht,  die  französische  Sprache  aus  der  Reihe  der  barbari- 
schen Sprachen  zu  erheben.  Von  solchem  Gedanken  geleitet,  habe  er  die 
Veieinigung  mehrerer  Männer  gewünscht,  welche  ihn  in  seinen  Plänen 
unterstützen  könnten.  W^ie  einst  die  lateinische  Sprache  auf  die  griechische 
gefolgt  sei,  so  könne  jetzt  die  französische  Sprache  das  Lateinische  er- 
setzen, da  sie  schon  vollkommener  erscheine  als  die  anderen  lebenden 
Sprachen.  Es  gelte  nur.  fortwährend  noch  größere  Sorgfalt  auf  sie  zu 
verwenden,  und  die  Aufgabe  der  Akademie  werde  es  sein,  die  Sprache 
zu  reinigen.  Im  Munde  des  Volkes,  der  Gerichtsbeamten,  der  Hofleute, 
der  Prediger  sei  dieselbe  entstellt  worden;  es  gelte  nun,  die  Anwendung 
der  einzelnen  Wörter  zu  regeln.  Nur  wenige  der  allgemein  gebrauchten 
Ausdrücke  seien  ganz  zu  verbannen,  vorausgesetzt,  daß  man  sie  ihrem 
Charakter  entsprechend  in  der  Redegattung  anwende,  für  die  sie  passend 
seien,  nicht  etwa  die  Ausdrücke  des  erhabenen  Stils  in  niedriger  Rede 
und  umgekehrt.  Eine  weitere  Aufgabe  der  Akademie  werde  es  sein,  die 
Arbeiten  der  Mitglieder  zu  prüfen  und  zu  verbessern. 

Auf  Chapelains  Anregung  wurde,  um  das  ins  Auge  gefaßte  Ziel 
zu  erreichen,  die  Ausarbeitung  eines  Wörterbuchs,  einer  Grammatik, 
einer  Rhetorik  und  einer  Poetik  beschlossen. 

Conrart  entwarf  die  Statuten,  welche  sich  die  Akademie  nach  ein- 
geliender  Beratung  selbständig  gab.  Danach  war  die  Anzahl  der  Mit- 
glieder auf  40  festgesetzt,  und  bestimmt,  daß  sie  durch  freie  Wahl 
kooptiert  werden  sollten.  Doch  war  dem  Protektor  das  Recht  des  Veto 
dabei  vorbehalten.  Ein  zeitweise  neu  zu  wählender  Direktor  und  ein 
Kanzler  sollten  an  der  Spitze  der  Akademie  stehen,  neben  ihnen  ein 
auf  Lebenszeit  gewählter  Sekretär  die  laufenden  Geschäfte  besorgen. 
Allwöchentlich  sollte  eine  Sitzung  abgehalten  werden,  in  welcher  jedesmal 
ein  Mitglied,  der  Reihe  nach,  einen  Vortrag  zu  halten  habe,  und  darauf 
die  Prüfung  der  vorgelegten  Arbeiten  oder  die  Weiterführung  der  oben 
genannten  großen  Werke  vorzunehmen  sei.  Der  Regel  nach  sollten  nur 
die  Werke  der  Mitglieder  einer  Prüfung  von  Seiten  der  Akademie  unter- 
zogen werden.    Wenn  sie  in  die  Lage  käme,    auch  einmal   ein  fremdes 


')  Brief  Serizays  vom  22.  März  1634,  im  Namen  der  Akademie. 


168 

Werk  zu  prüfen,  solle  sie  nur  ihre  Meinuug  aussprechen,  ohne  dabei 
Tadel  oder  Lob  zu  spenden ;  eine  allerdings  schwierige  Aufgabe.  Zur 
Aufnahme,  wie  zur  Ausschließung  eines  Mitgliedes  müßten  wenigstens 
20  Akademiker  in  der  Sitzung  gegenwärtig  sein,  und  die  Ausschließung 
zum  mindesten  mit  einer  Majorität  von  vier  Stimmen  verfügt  werden. 

Zur  Würde  eines  Direktors  wurde  in  der  ersten  Wahl  Jacques 
de  Serizay  erhoben,  und  zum  ständigen  Sekretär  Conrart  ernannt.  Die 
Sitzungen  fanden  anfangs  jeden  Montag  Xachmittag  statt,  später  wechselte 
man  den  Tag,  kam  auch  wol  öfters  in  der  Woche  zusammen,  wenn  sich 
gerade  ein  besonderer  Eifer  für  das  Wöiterbuch  zeigte.  Eichel ieu  hatte 
die  Absicht,  für  die  Gesellschaft  ein  besonderes  Gebäude  zu  errichten, 
und  die  Akademie  versammelte  sich  voiläufig  bei  Conrart,  später  bei 
anderen  ihrer  Mitglieder.  Richelieu  starb  indessen,  ohne  seinen  Plan 
auszuführen.  An  seiner  Statt  wählte  die  Akademie  den  Kanzler  Seguier 
zum  Protektor,  und  dieser  bot  ihr  ein  ständiges  Sitzungslokal  in  seinem 
eigenen  Palais  an.  Dort  blieb  sie,  bis  Ludwig  XIV.  ihr  im  Louvie 
eine  Stätte  einräumte.  Ludwig  war  es  auch,  der  den  Mitgliedern  ein 
bestimmtes  Gehalt  anwies,  während  sie  bis  dahin  nur  Sitzungsgelder 
erhalten  hatten.-^)  Das  Patent,  womit  König  Ludwig  XIIL  der  Aka- 
demie einen  öiJentlichen  Charakter  zuerkannte,  datiert  vom  29.  Januar 
1035.  Darin  waren  den  Mitgliedern  verschiedene  Vorrechte  und  wich- 
tige Privilegien  eingeräumt.')  Um  jedoch  volle  Giltiglceit  zu  erhalten, 
mußte  dieses  Patent  vom  Pariser  Parlament  registriert,  d.  h.  als  den 
Gesetzen  entsprechend  anerkannt  und  eingeschrieben  sein.  Doit  aber 
fand  es  unerwartet  einen  zähen  Widerstand.   Oifenbar  war  das  Parlament 


^)  Die  Statuten  enthielten  50  Paragraphe.  §.  1  besagte:  „Personne  ne 
sera  recu  dans  rAcadeniie  qui  ne  seit  agreable  ä  Mr.  le  Protecteur,  et  qui  ne 
seit  de'bonues  moeurs,  de  bonne  reputation,  de  bon  esprit  et  propre  aux  fone- 
tions  academiques"'.  —  §.  "-^4:  „La  prineipale  foaction  de  l'Aeademie  sera  de 
travailler  avec  tout  le  sein  et  toute  la  diligence  possible  ä  donner  des  regles 
certaines  ä  notre  langue  et  ä  la  rendre  pure,  eloquente  et  capable  de  traiter  les 
arts  et  les  sciences".  —  §.44:  „L'Aeademie  ne  jugera  que  des  ouvrages  de 
ceux  dont  eile  est  composee;  et  si  olle  se  trouve  obligee  par  quelque  consi- 
deration  d'en  examiner  d'autres,  eile  donnera  seulement  ses  avis,  saus  en  faire 
aucune  censure  et  sans  en  doimer  aussi  d'appropation".  Die  Nötigung,  über 
ein  fremdes  Werk  zu  urteilen,    sollte  bald  genug  an  die  Akademie  herantreten. 

Welch  sonderbare  Vorschläge  übrigens  bei  der  Abfassung  der  Statuten 
gemacht  wurden,  ersieht  man  aus  Pellisson.  So  meinte  Gombauld,  jedes  Mitglied 
sollte  gehalten  sein,  alljährlich  ein  Gedicht  zum  Loh  Gottes  zu  verfassen. 
Mr.  Sirmond,  „homme  d'ailleurs  d'un  jugement  fort  solid«-,  wie  Pellison  sagt, 
schlug  vor,  die  Mitglieder  sollten  schwören,  die  von  der  Akademie  gebilligten 
Ausdrücke  auch  selbst  zu  gebrauchen,  so  daß  jeder,  der  sich  nicht  an  die  Vor- 
schriften der  Gesellschaft  halte,  nicht  bloß  einen  Sprachfehler,  sondern  sogar 
eine  Sünde  begehe. 

2)  Sie  erhielten  das  Piecht  des  „Committimus",  d.  h.  das  Recht,  alle  Pro- 
zesse vor  besonderen  Gerichtshöfen  in  Paris  durchzuführen.  Das  Recht  des 
„Committimus  du  graud  sceau"  teilten  sie  mit  den  königlichpn  Prinzen,  den 
Herzogen  und  Pairs,  den  Kronämtern  und  den  hohen  Würdenträgern  des  Staats. 
Vgl.  Cheruel,  Dictionnaire  des  Institutions,  Artikel:  „Committimus"'.  —  Die 
Mitglieder  der  Akademie  waren  ferner  „exempts  de  toutes  tutelies  et  curatelles, 
et  de  tous  guets  et  gardes*. 


169 


über  Eichelieus  Absichten  nicht  klar  und  fürchtete  die  Konsequenzen. 
Es  war  dem  mächtigen  Minister  ohnehin  gram  und  wollte  ihm  nicht 
die  Hand  zur  Verstärkung  seines  Einflusses  bieten.  Auch  die  Universität 
sah  nicht  ohne  Besorgnis  auf  die  jüngste  Schöpfung  des  Kardinals. 
Zahlreiche  Stimmen,  selbst  Unbeteiligter,  erhoben  sich  gegen  die  neue 
Gesellschaft,  tadelten  deren  Gründung  als  zum  wenigsten  unnütz  oder 
verhöhnten  sie  mit  scharfem  Spott.  So  sahen  sich  die  Freunde,  wie  sie 
es  vorausgesehen,  aus  ihrer  Stille  auf  den  lauten  Markt,  in  das  Getriebe 
der  arbeitenden  Parteien  gerissen.  Erst  nach  mehr  als  zweijährigem 
Widerstreben  beugte  sich  das  Parlament  vor  dem  Willen  des  Königs  und 
trug  das  Patent  in  seine  Bücher  ein. 

Wie  die  Zeitgenossen  Eichelieus.  so  fragen  auch  wir  uns  alsbald 
na_ch  dem  Einfluß  einer  solchen  Akademie  auf  die  Sprache  und  die  Litte- 
ratur  des  Volkes.  Während  man  damals  ihrer  zukünftigen  Thätigkeit 
nur  mit  Hoffnungen  oder  Befürchtungen  entgegensehen  konnte,  sollte 
man  heute  zu  einer  festen  Ansicht  über  sie  gelangt  sein,  da  sie 
seit  zwei  und  einem  halben  Jahrhundert  besteht  und  ihre  Thätigkeit 
eigentlich  nie  unterbrochen  hat.  Denn  selbst  während  der  Revolution 
wurde  sie  zwar  aufgehoben,  aber  doch  an  ihrer  Stelle  eine  Körperschaft 
eingesetzt,  welche  eine  ähnliche  Aufgabe  hatte.  Und  doch  hat  man  sich 
bis  zum  heutigen  Tag  im  Urteil  über  die  Akademie  nicht  einigen  können. 
Von  Anbeginn  an  war  sie  der  Gegenstand  heftiger  Angriffe  und  das 
geheime  Ziel  jedes  ehrgeizigen  Schriftstellers.  Sie  ward  ebenso  heftig 
geschmäht  wie  begeistert  gepriesen. 

Ihre  Gegner  werfen  ihr  vor,  daß  sie  die  französische  Sprache  in 
eine  Bahn  gedrängt  habe,  welche  jede  weitere  Entwicklung  hemmen  und 
zu  förmlicher  Erstarrung  habe  führen  müssen.  Nicht  minder  verderblich 
sei  ihr  Einfluß  auf  die  Litteratur  gewesen,  und  bei  dieser  Behauptung 
wird  auf  das  Gutachten  der  Akademie  über  den  „Cid"  hingewiesen.  Sie 
habe  den  Geist  der  Dichter  in  Fesseln  gelegt,  und  trage  einen  Haupt- 
teil der  Schuld  an  dem  leeren  Formalismus,  dem  die  französische  Litte- 
ratur am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  verfallen  sei.  Sie  habe  in  ihrem 
höfischen  Sinn  stets  den  Mächtigen  gehuldigt  und  Sorge  getragen,  immer 
einige  Vertreter  der  hohen  Aristokratie  in  ihrer  Gesellschaft  zu  besitzen. 
Neben  diesen  aber  habe  sie  recht  viele  Nullen  berufen,  während  die 
begabtesten  Männer,  die  Zierden  des  Landes,  neidisch  von  ihr  fern- 
gehalten worden  seien.  Allerdings  waren  weder  Descartes  noch  Pascal, 
weder  La  Rochefoucauld  noch  Möllere,  weder  Regnard  noch  Le  Sage, 
weder  Jean  Jacques  Rousseau  noch  Diderot  Mitglieder  der  Akademie. 
Nicht  minder  heftige  Anklagen  mußte  sich  die  Akademie  in  unserer  Zeit 
gefallen  lassen,  weil  sie  Dichter,  wie  Beranger,  Honore  de  Balzac 
u.  a.  m.  von  ihrem  Kreise  fernhielt,^)  und  es  ist  gewiß,  daß  sie  sich 
ai'ge  Mißgriffe  zu  Schulden  kommen  ließ,  ja  sich  oft  rocht  engherzig 
zeigte. 


1)  Siehe  u.  a.  Arsene  Houssaye,  Histoire  du  4ln'e  fauteuil  de  l'Academi 
fiancaise.     lO^ic  ed.     Paris  1877,  Dentu. 


170 


Die  Lübredner  preisen  dagegen  die  Akademie  als  den  Mittelpunkt, 
des  litterarischen  Lebens  in  Frankreich,  als  die  Gesetzgeberin  auf  dem 
Gebiet  der  Sprache,  und  behaupten,  ihrem  Geschmack  und  ihrem  Takt 
sei  es  wesentlich  zuzuschreiben,  daß  die  französische  Sprache  sich  zu 
der  Feinheit  und  Klarheit  erhoben  habe,  die  man  an  ihr  rühmt.  Durch 
ihre  Existenz  aliein.  dadurch,  daß  sie  als  der  schönste  Lohn  eines 
gewissenhaften  schriftstellerischen  Wirkens  gelte,  sichere  die  Akademie 
die  Erhaltung  der  guten  Traditionen,  die  Eeinheit  und  klassische  Schön- 
heit der  Sprache.  So  wird  sie  von  dieser  Seite  als  eine  der  wichtigsten 
Schöpfungen  des  17.  Jahrhunderts  angesehen,  und  erst  neuerdings  hat 
einer  der  hervorragendsten  Gelehrten  in  Deutschland  die  Errichtung 
einer  ähnlichen   „deutschen  Akademie"   angeregt.^) 

Unseres  Erachtens  verdient  die  französische  Akademie  weder  solchen 
Haß  noch  solche  Ehre. 

Man  mag  die  Entwicklung  des  französischen  Geistes,  wie  er  sich 
in  der  Sprache  und  Litteratur  offenbart,  bewundern  oder  bedauern,  man 
wird  nicht  bestreiten  können,  daß  die<e  Richtung  schon  lange  vor  der 
Gründung  der  Akademie  ganz  entschieden  eingeschlagen  war.  Wir  glauben 
durch  die  Geschichte  der  ersten  drei  Decennien  des  17.  Jahrhunderts 
den  Beweis  erbracht  zu  haben,  wie  die  Xation  selbst,  nicht  einzelne 
nur,  in  diesem  Sinn  vordrängte.  Den  Anstoß  dazu  hat  nicht  die 
Akademie  gegeben,  ihre  Stiftung  ist  vielmehr  umgekehrt  ein  Symptom 
der  gewaltigen  Strömung,  sie  ist  die  Frucht  dieses  Strebens  nach  Kegel- 
mäßigkeit und  Centralisation.  Die  Vierzig,  welche  berufen  wurden,  in 
der  Akademie  ihren  Sitz  einzunehmen,  haben  nie  die  pedantische  Strenge 
Malherbes  in  der  Handhabung  der  Sprache  beobachtet. 

Ebensowenig  begründet  ist  der  Vorwurf,  daß  die  Akademie  schä- 
digend auf  den  Geist  der  Dichter  eingewirkt  habe.  In  dem  Streit  um 
den  „Cid"  hat  sie  allerdings  nicht  gewagt,  ihre  Herzensmeinung  dem 
Kardinal  gegenüber  offen  auszusprechen.  Aber  sie  hat  sich  seitdem  nie 
wieder  direkt  in  die  litterarischen  Kämpfe  gemischt.  Alle  späteren  Streit- 
fälle wurden  außerhalb  ihrer  Schranken  ausgefochten,  wie  z.  B.  die 
Rivalität  zwischen  Racine  und  Pradon.  die  sehr  an  Corneilles  Fehde  mit 
Scudery  erinnert.  Die  Akademie  zog  die  Klagen  über  Boileaus  satirische 
Angriffe  nicht  vor  ihr  Forum,  und  maßte  sich  ebensowenig  ein  Schieds- 
richteramt an  in  dem  Streit,  der  gesen  das  Ende  des  17.  Jahrhunderts 
die  Schriftsteller  in  zwei  feindliche  Parteien  schied,  weil  die  einen  den 
Völkern  des  Altertums  die  Palme  zuerkannten,  die  anderen  den  Fort- 
schritt der  Neuzeit  auf  allen  Gebieten,  auch  der  Kunst  und  der  Litte- 
ratur behaupteten.  Ebenso  ging  es  im  vorigen  Jahrhundert  mit  dem 
Shakespeare-Kultus,  dem  sich  viele  Franzosen  eine  Zeit  lang  hingaben, 
und  der  von  Voltaire  heftig  bekämpft  wurde,  während  die  Akademie 
Shakespeare-Freunde  und  Shakespeare-Gegner  in  ihre  Reihen  aufnahm, 
wenn  sie   nur    schön  französisch  schrieben.     Kurz,    nirgends    zeigt  sich 


^)    Du    Bois    Eeymond,     Über    eine    Akademie    der    deutschen    Sprache. 
Festrede.     Berlin  1874,  Dümmler. 


171 


das  Bestreben  der  Akademie,  den  Geschmack  in  der  Litteratur  zu  be- 
herrschen, und  wenn  sie  es  auch  gehabt  hätte,  würde  die  Geschichte 
nur  ihre  Ohnmacht  konstatieren  müssen.  Sah  man  doch  noch  in  unserem 
Jahrhundert  die  romantische  Schule  gegen  die  klassische  Richtung,  für 
welche  die  Akademie  eine  ausgesprochene  Neigung  zeigte,  Sturm  laufen 
und  siegen.  Und  so  verzeihe  man  ihr  endlich  den  Fehler,  den  sie  sich 
Corneille  gegenüber  zu  Schulden  kommen  ließ.  Ihre  Kritik  allein  hätte 
nicht  genügt,  dem  französischen  Drama  die  größere  Freiheit  der  Be- 
wegung zu  rauben,  wenn  es  nicht  andere  festere  Schranken  in  dem  Sinn 
der  Nation  gefunden  hätte. 

Der  Vorwurf  endlich,  daß  die  Akademie  sich  zum  gefügigen  Werk- 
zeug höfischer  Laune  hergegeben  habe,  wird  ebenfalls  durch  die  Geschichte 
widerlegt.  Einzeln  genommen,  haben  die  Mitglieder,  Chapelain  an  der 
Spitze,  die  Mächtigen  des  Staates  gefeiert  und  sich  Pensionen  erworben. 
Aber  das  thaten  sie  vor  der  Stiftung  der  Akademie  so  gut  wie  nachher. 
Es  wäre  nicht  nötig  gewesen,  eine  solche  Gesellschaft  ins  Leben  zu 
rufen,  wenn  man  nur  gefügige  Lobredner  hätte  haben  wollen.  Als 
Körperschaft  hat  die  Akademie  vielmehr  immer  nach  einer  gewissen 
Selbständigkeit  gestrebt.  Freilich  zeigte  sich  das  am  wenigsten  unter 
Ludwig  XIV..  dem  jede  männliche  Haltung  verhaßt  war;  aber  schon  im 
folgenden  Jahrhundert  gehört  sie  zur  Opposition,  nimmt  Montesquieu 
auf,  trotz  oder  vielmehr  wegen  seiner  „Persischen  Briefe",  die  von  An- 
griffen gegen  das  Königtum  und  die  Kirche  wimmeln.  Sie  empfängt  den 
greisen  Voltaire  wie  einen  Triumphator,  obgleich  er  im  Bann  der  Re- 
gierung steht ;  sie  ist  der  Aufklärung  hold,  wenn  sie  auch  selbst  nichts 
zu  ihrer  Förderung  tbut.  Ebenso  ist  sie  im  19.  Jahrhundert  fast  immer 
liberal  angehaucht  und  findet  eine  gewisse  Genugthuung  darin,  den  je- 
weilig herrschenden  Gewalten   eine  ungefährliche  Opposition    zu  machen. 

Das  ist  kleinlich,  wird  man  sagen,  und  mit  Recht.  Eine  solche 
Gesellschaft  hat  eine  andere  Aufgabe,  als  unschädliche  politische  Demon- 
strationen zu  machen.  Doch  ist  es  schwer,  in  einem  Lande,  wo  so  leicht 
jede  Äußerung  des  öffentlichen  Lebens  einen  politischen  Charakter  an- 
nimmt, den  Schein  der  Politik  zu  vermeiden. 

Immerhin  halten  uns  diese  Betrachtungen  ab,  dem  scharfen  Ver- 
dammungsurteil über  die  französische  Akademie  zuzustimmen.  Dieselben 
Betrachtungen  lehren  uns  aber  auch,  über  die  von  anderen  so  hoch 
gepriesenen  Verdienste  kühler  zu  reden.  Wenn  wir  überhaupt  nicht  an 
ihren  nachhaltigen  Einfluß  auf  die  Litteratur  glauben,  so  kann  ebenso- 
wenig von  ihrem  besonders  schädlichen  wie  von  ihrem  eminent  fördernden 
Wirken  die  Rede  sein.  Verdienstlich  allerdings  erscheint  ihre  Sorgfalt 
für  die  Reinheit  und  grammatische  Klarheit  der  Sprache,  wie  sie  sich 
in  der  Ausarbeitung  des  Wörterbuchs  zeigte.  Aber  diese  Wertschätzung 
teilt  die  Akademie  mit  allen  Gebildeten  der  Nation,  und  vor  der  Ver- 
öffentlichung ihrer  großen  Arbeit  sowie  nach  derselben  haben  einzelne 
Ähnliches,  wenn  nicht  Besseres  geleistet.  Dasselbe  gilt  von  der  Ai'beit 
auf  dem  grammatischen  Gebiet.  Zudem  haben  sprachliche  Forschungen, 
so  wichtig  sie  auch  sein  mögen,    zur  Förderung  einer  nationalen  Litte- 


172 


ratur,  zur  Hebung  des  poetischen  Sinns  und  des  Geschmacks  noch  niemals 
beigetragen.  Die  Dichtung  ist  nicht  das  Produkt  gelehrter  Studien,  wol 
aber  können  diese  dem  Genius  des  Dichters,  der  die  Sprache  beherrscht 
und  sie  veredelt,  aufmerksam  folgen.^) 

Die  französische  Akademie  behält  deshalb  doch  ihren  Kuhm  und 
ihren  Glanz.  Sie  ist  trotz  aller  Einwendungen,  die  man  gegen  ihre 
Wahlen  erhebt,  die  Vereinigung  der  vorzüglichsten  Dichter  und  Schrift- 
steller des  Landes.  Sie  ist  zudem  eine  aristokratische  Gesellschaft,  und 
die  Teilnahme  einiger  Mitglieder  des  höchsten  Adels  entspricht  ihrem 
Charakter.  In  ihrem  Kreise  sollen  die  Männer  Platz  finden,  welche  durch 
ihre  Arbeit,  ihren  Geschmack,  ihre  Kunst  für  die  Schönheit  der  franzö- 
sischen Sprache  ein  glänzendes  Zeugnis  abgelegt  haben,  und  die  vor- 
nehme französische  Gesellschaft  hat  durch  ihre  rege  Teilnahme  an  der 
Litteratur  und  ihren  ausgeprägten  Kunstsinn  nicht  wenig  zu  ihrem 
formalen  Aufschwung  beigetragen.  Insofern  kann  man  die  Akademie  die 
Hüterin  der  Sprache  nennen.  Ein  Schriftsteller,  und  sei  er  noch  so 
genial,  gehört  also  genau  genommen  nicht  in  die  Akademie,  sobald  er 
ohne  Eücksicht  auf  die  strenge  Schönheit  der  Sprache  schreibt.  In  die 
Akademie  berufen  zu  werden,  und  zwar  durch  die  freie  Wahl  der  besten 
Eichter,  ist  und  bleibt  darum  mit  Recht  die  größte  Auszeichnung,  die 
einem  französischen  Schriftsteller  erwiesen  werden  kann,  und  somit  die 
Hoffnung  darauf  ein  Sporn  mehr  zur  sorgfältigen  Behandlung  der  Sprache.^) 
Dauernden  und  wahrhaften  Ruhm  kann  einem  Dichter  freilich  allein  die 
Liebe  und  Bewunderung  der  Nation  verleihen. 

In  keinem  anderen  Lande,  weder  in  England,  noch  in  Deutschland, 
noch  in  Italien  könnte  eine  Akademie  sich  annähernd  eine  ähnliche 
Stellung  erringen.  Es  gehört  dazu  die  durchgreifende  Centralisation  des 


1)  Das  Wörterbuch,  eine  höch.st  wertvolle  Arbeit,  erschien  erst,  als  die 
französische  Sprache  die  klassische  Ausbildung  erlangt  hatte.  Es  erschien  aller- 
dings unter  der  Ägide  der  Akademie,  ist  aber  doch  immer  nur  das  Werk  ein- 
zelner. So  übertrug  Richelieu  die  Leitung  der  Arbeiten,  deren  Plan  von  Cha- 
pelain  entworfen  war,  dem  bekannten  Sprachgelehrten  Claude  Favre  de  Vaugelas 
aus  Chambery  in  Savoyen  (1585 — 1650).  Siehe  Pellisson  I.,  1)7—108.  Zur  Zeit, 
da  Pellisson  sein  Werk  über  die  Akademie  schrieb,  war  das  Wörterbuch  bis 
zum  Buchstaben  J  gelangt.  Die  erste  Ausgabe  erschien  erst  1694.  Die  beiden 
folgenden  Ausgaben  von  1718  und  1740  waren  fast  nur  ein  Abdruck.  Erst  die- 
jenige vom  Jahr  1762  brachte  Veränderungen  und  Zusätze,  da  sich  die  Sprache 
weiter  entwickelt  hatte.  Die  späteren  Ausgaben  stammen  aus  den  Jahren  1798 
und  1835.  Eine  siebente  Ausgabe  mit  bedeutenden  Veränderungen  erschien  1878. 

-)  K.  Hillebrand  sagt  in  seinem  Buch:  .Frankreich  und  die  Franzosen", 
2.  Aufl.,  Berlin  1874,  Oppenheim,  S.  92  (Abschnitt  über  das  Unterrichtswesen): 
,. Selbst  die  vielgeschmähte  Akademie  vollzieht  mit  der  außerordentlichen  Fein- 
sinnigkeit ihr  heikles  Amt  einer  Bewahrerin  des  traditionellen  französischen 
Geschmacks  in  Schrift  und  Rede;  sie  war  nur  ihrer  Pflicht  getreu,  wenn  sie 
einen  Gelehrten  im  deutschen  Stil,  wie  Littre,  ausschloß,  einem  grand  seigneur 
im  Stil  des  grand  siecle,  wie  dem  letzten  Herzog  von  Broglie,  einen  Sessel  bot". 
Seitdem  ist  Littre  allerdings  in  die  Akademie  berufen  worden,  aber  die  Be- 
merkung Hillebrands  bleibt  deshalb  doch  richtig.  Man  hat  Littre  später  haupt- 
sächlich wegen  seiner  Verdienste,  die  er  sich  durch  sein  Wörterbuch  um  die 
französische  Sprache  erworben  hat,  in  die  Akademie  berufen. 


173 


Landes,  der  Charakter  des  Volkes,  und  vor  allem  die  Freude,  die  es  an 
der  Schönheit  und  Klarheit  seiner  Sprache  von  jeher  empfindet.  Eine  In- 
stitution, die  sich  seit  dritthalb  hundert  Jahren  des  Beifalls  der  Besten 
im  Lande  erfreut,  kann  nicht  wertlos  sein,  und  das  Verdienst  dieser 
Schöpfung  bleibt  somit  dem  Kardinal  ßichelieu.') 


1)  Man  vergleiche  außer  Pellisson,  Histoire  de  TAcademie  frangaise, 
fortgesetzt  von  dem  Abbe  d'Olivet  (neu  herausgegeben,  mit  Zusätzen  und  An- 
merkungen von  Ch.  Livet,  2  Bde.  Paris  1858,  Didier  k  Cie.)  auch  noch  den 
Eecueil  de  harangues  prononcees  par  M.  M.  de  l'Academie  fran<;aise  depuis 
1640—1782  (Paris  1714—1787,  12  Bde.).  —  P.  Mesnard,  Histoire  de  l'Academie 
fran^aise.  Paris  1857,  Charpentier.  —  W.  Königs  Aufsatz  über  die  Akademie 
iu  dessen  Buch:  Zur  französischen  Litteraturgeschichte.  Studien  und  Skizzen. 
Halle  1877. 


X. 

Die  dramatisch«  Litteratur. 


Beffrüuduuff  einer  Kiinstbühuo.  Italionisclie  und  spanische 
Einflüsse. 

Wir  haben  in  den  voi-bergelieaden  Abschnitten  versucht,  eine  Dar- 
stellung der  litterarischen  Entwicklung  in  Frankreich  während  der  ersten 
Decennien  des  17.  Jahrhunderts  zu  geben.  Wir  haben  gezeigt,  wie  im 
Gegensatz  zu  den  Bestrebungen  einer  früheren  Zeit  eine  Reformbewegung 
begann,  welche  für  die  Richtung  der  französischen  Litteratur  maßgebend 
werden  sollte ,  und  haben  gesehen ,  wie  sich  diese  Reformen  fast  aus- 
schließlich auf  das  Äußere,  auf  die  Sprache  bezogen,  während  das  Ver- 
ständnis für  die  wahrhafte  Poesie  immer  mehr  entschwand. 

Das  Drama,  das  seit  dem  Beginn  des  Jahrhunderts  mit  erneutem 
Eifer  gepflegt  wurde,  und  das  aus  den  einfachen  Anfängen  des  Volks- 
schauspiels und  der  gelehrten  Schuldichtungen  sich  allmählich  zu  einer 
Kunstdichtung  aufzuschwingen  strebte,  schien  sich  eine  Zeit  lang  den 
anderweitig  herrschenden  Einflössen  entziehen  und  seine  eigene  Bahn 
gehen  zu  wollen.  Allerdings  fehlte  auch  ihm  jedes  leitende  Princip ;  aber 
während  auf  allen  anderen  Gebieten  der  engherzige  höfische  Geist  die 
Herrschaft  gewann,  blieb  die  Bühne  von  diesem  Einfluß  längere  Zeit 
befreit. 

Die  Mysterien  und  Mirakelspiele  des  Mittelalters  waren  verschwun- 
den, die  satirischen  und  von  Humor  überströmenden  Stücke  der  „Bazo- 
chiens"  waren  verboten,  und  die  der  ,.Enfants  sans  souci"  hatten  sich 
überlebt.  Die  Renaissance  hatte  eine  tiefgreifende  Umwandlung  in  dem 
Geschmack  und  in  der  Denkweise  der  Völker  im  Gefolge  gehabt.  Die 
genauere  Kenntnis  der  alten  Welt  und  ihrer  schönheitstrahlenden  Werke 
mußte  zur  Vergleichung  und  zur  Xachahmung  auffordern.  In  Italien  be- 
gann man  schon  früh  die  alten  Tragödien,  besonders  die  des  Seneca, 
daneben  die  Lustspiele  des  Plautus  und  Terenz  in  der  Ursprache  auf- 
zuführen, bald  auch  zu  übersetzen  und  nachzubilden.  Nur  langsam  drang 
diese  Sitte  nach  Frankreich  vor.  Populär  konnte  diese  Dramendichtung 
nicht  werden;  dem  großen  Publikum  war  sie  unverständlich,  und  die 
Aufführung  dieser  mehr  oder  weniger  ängstlich  den  antiken  Vorbildern 
sich  anschließenden  Werke  blieb  auf  Hoffeste  oder  auf  Schulen  und  Uni- 


175 


versitäten  beschränkt.  Die  dramatische  Poesie  gewinnt  erst  wirkliches 
Leben,  wenn  sie  aus  diesem  Kreise  heraustritt  und  zum  Volk  reden  kann. 
Allmählich  bildeten  sich  in  Frankreich  kleine  Schauspielerbanden,  die  in 
der  Provinz  umherzogen,  da  sie  von  der  Hauptstadt  ausgeschlossen  waren. 
In  Paris  hatte  die  ,. Bruderschaft  der  Passion''  (la  confrerie  de  la  Passion) 
das  Privileg  der  öffentlichen  Schauspiele,  und  was  diese  boten,  konnte 
freilich  keinen  Anspruch  auf  künstlerische  Bedeutung  machen.  Waren  es 
doch  nur  ehrsame  Bürger  und  Handwerker,  die  in  diesen  theatralischen 
Darstellungen  auftraten.^) 

Der  Anstoß  zum  Fortschritt  sollte  auch  hier  von  Italien  kommen. 
Dort,  sowie  in  Spanien,  hatte  sich  bereits  aus  der  schulgemäßen  Nach- 
ahmung des  antiken  Dramas  ein  neues  volkstümliches  Theater  entwickelt. 
An  den  glänzenden  Fürstenhöfen  Italiens  erhoben  sich  bald  eigene,  aus 
Stein  erbaute  Schauspielsäle,  und  kein  großes  Fest  konnte  ohne  scenische 
Spiele  gedacht  werden.  Die  Pracht  der  Ausstattung,  der  Reiz  der  Musik 
und  des  Gesangs,  der  Zauber  pantomimischer  Darstellungen  und  an- 
mutiger Tänze,  das  alles  verband  sich  mit  der  Kunst  des  Dichters  und 
des  Schauspielers,  um  die  Zuschauer  zu  fesseln  und  für  immer  diesen 
heiteren  Spielen  zu  gewinnen.-) 

Es  konnte  nicht  fehlen,  daß  die  Vorliebe  für  künstlerisch  geord- 
nete theatralische  Aufführaugen  mit  der  Zeit  auch  nach  Frankreich  vor- 
drang. Hatte  das  französische  Volk  doch  von  jeher  große  Begabung  für 
die  dramatische  Darstellung  gezeigt,  wie  sollte  es  den  großen  Fortschritt, 
den  Italien  in  dieser  Kunst  aufwies,  nicht  willig  anerkennen  und  bei 
sich  Ähnliches  versuchen? 

Dieser  Zug  des  italienischen  Theaters  nach  Frankreich ,  der  Ein- 
fluß, den  die  italienischen  und  spanischen  Dramen  auf  die  französische 
Bühne  ausübten,  muß  uns  nun  zunächst  beschäftigen.  Wir  werden  sehen, 
wie  sich,  unbeirrt  von  der  geistlosen  Künstelei,  welche  die  anderen  Ge- 
biete der  Litteratur  beherrschte,  das  Theater  populär  zu  gestalten  be- 
gann, dann  aber  durch  fremde  Einflüsse  in  seiner  nationalen  Entwick- 
lung gehemmt  wurde.  Nur  so  lang  hielt  sich  das  französische  Drama 
von  der  Unnatur  frei,  als  es  sich  selbst  überlassen  und  von  der  feinen 
Gesellschaft  unbeachtet  blieb.  Bald  aber  wurde  das  Theater  auch  dort 
beliebt,  und  dieselbe  falsche  Manier,  welche  sich  schon  in  der  Lyrik  gel- 
tend gemacht  hatte,    der  Marinismus,    bemächtigte   sich    nun  auch    des 


1)  Über  die  frühere  Geschichte  des  französischen  Theaters  's.  Ad.  Ebert, 
Entwicklungsgeschichte  der  französischen  Tragödie.  Gotha  1856,  J.  A.  Perthes. 

-)  Man  sehe  z.  B.  die  Beschreibung  der  glänzenden  Feste,  welche  schon 
im  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  bei  Gelegenheit  der  Vermählung  Lucrezia  Bor- 
gias  mit  dem  Erbprinzen  Alfons  von  Este  in  Ferrara  gefeiert  wurden  (1501), 
bei  Gregorovius :  „Lucrezia  Borgia.  Nach  Urkunden  und  Korrespondenzen  ihrer 
eigenen  Zeit".  '2  Bde.  3.  Auflage.  Stuttgart  1875,  Cotta.  S.  259  u.  ff.  Herzog 
Ercole  von  Ferrara  ließ  damals  während  der  Festwoche  fünf  plautinisehe  Lust- 
spiele aufführen.  Die  Pausen  wurden  mit  musikalischen  Vorträgen  und  Moresken 
ausgefüllt.  „Die  Moreska  war,  was  wir  heute  Ballett  nennen,  die  getanzte  Panto- 
mime", sagt  Gregorovius.  Sie  diente  oft  zu  allegorischen  Darstellungen,  in 
welchen  den  hohen  Familien  und  ihren  Gästen  crehuldifft  wurde. 


176 


drainatiscben  Gebiets  und  verdrängte  mehr  und  mehr  die  natürliche  Rich- 
tung, aus  der  sich  vielleicht  ein  großes  volkstümliches  Drama  hätte  ent- 
wickeln können.  War  in  diesem  Widerstreit  eine  Versöhnung  möglich, 
so  war  das  französische  Drama  gerettet;  siegte  die  einseitige,  affektierte 
Richtung,  so  war  für  lange  Zeit  jeder  wirkliche  Aufschwung  unmöglich. 
Pierre  Corneille  sollte  die  Entscheidung  herbeiführen. 

In  Italien  war  im  16.  Jahrhundert  die  Stegreifkomödie,  die  „Com- 
media  dell'Arte'',  vorzugsweise  beliebt,  und  sie  fand  auch  bald  ihren  Weg 
über  die  Alpen.  Als  Katharina  von  Medici  (1533)  dem  Dauphin  von 
Fiankreich,  späterem  König  Heinrich  IL,  ihre  Hand  reichte  und  auf  der 
Reise  nach  Paris  die  Stadt  Lyon  berührte,  veranstaltete  die  dortige  Flo- 
rentiner Kolonie  ilir  zu  Ehren  eine  italienische  Theatervorstellung,  die 
erste  ihrer  Art  in  Frankreich.  Aber  bald  sollte  sich  das  italienische 
Theater  im  Nachbarland  ganz  einbürgern,  wie  denn  überhaupt  seit  Katha- 
i'inas  Heirat  der  italienische  Geschmack  unter  den  Franzosen  über- 
raschende Fortschritte  machte  und  besonders  der  Hof  ganz  italienischen 
Zuschnitt  hatte.  In  schwüler  Zeit,  als  ganz  Frankreich  in  Gährung  war 
und  der  furchtbarste  aller  Kriege,  der  Religionskrieg  zwischen  den 
Söhnen  desselben  Landes  auszubrechen  drohte,  entbot  König  Heinrich  III. 
eine  Versammlung  der  Reichsstände  nach  Blois  {IblQ),  und  um  die- 
selben zu  unterhalten  und  dadurch  vielleicht  auch  williger  zu  stimmen, 
lud  er  eine  der  berühmtesten  italienischen  Schauspielergesellschaften,  die 
„Comici  gelosi",  an  seinen  Hof.^)  Sie  waren  hauptsächlich  Meister  der 
„Commedia  dell'  Arte",  obwol  sie  auch  Stücke  der  .,Commedia  erudita", 
d.  i.  der  geschriebenen  dramatischen  Dichtung,  spielten.  Der  königlichen 
Einladung  folgend ,  kamen  sie  unter  der  Leitung  ihres  Direktors  Fla- 
minio  Scala,  genannt  Flavio,  über  die  Alpen.  Ihr  Zug  war  groß  und 
wegen  des  vielen  Gepäcks,  das  sie  mit  sich  führten,  kam  ihre  Karawan« 
nur  langsam  vorwäi'ts.  Zum  Unglück  fielen  sie  unterwegs  in  die  Gewalt 
eines  Streifkorps  von  Hugenotten,  die  sie  so  lange  in  Gewahrsam  hielten, 
bis  der  König  sie  auslöste.")  So  kamen  sie  allerdings  nach  Blois  zu 
spät,  aber  Heinrich  nahm  sie  mit  sich  nach  Paris  und  räumte 
ihnen  dort  den  Saal  des  Palais  ßourbon  ein.^)  Sie  forderten  als 
Eintrittspreis  vier  bis  fünf  Sous,  also  nicht  mehr  als  die  französischen 
Schauspieler,  und  doch  übten  ihre  Vorstellungen  einen  ganz  andern 
Reiz  auf  das  Pariser  Publikum  aus  und  erfreuten  sich  bald  des  größten 
Beifalls.  Bis  dahin  hatte  man  nur  Dilettanten  auf  der  Bühne  gesehen, 
und  die  Gelosi  waren  Künstler.    In  Frankreich  wurden  die  Frauenrollen 


^)  Sie  nannten  sich  Gelosi,  d.  h.  „jaloiix  de  plaire". 

2)  Vergi.  Moland,  Meliere  et  la  comedie  italienne.  2me  ed.  Paris  1867, 
Didier  &  Co.  S.  38  tf. 

3)  Das  Palais  Bourbon  hatte  in  der  Nähe  des  Louvre  gestanden  und  war 
nach  dem  Abfall  des  Connetable  von  Bourbon,  der  zu  Karl  V.  übertrat,  im 
Jahr  1527  fast  ganz  demoliert  worden.  Es  blieb  nur  ein  Teil  mit  einem  großen 
Saal  stehen,  der  häufig  zu  Vorstellungen  und  Festlichkeiten  benutzt  wurde. 
Auch  Meliere  spielte  später  mit  seiner  Truppe  in  der  ersten  Zeit  nach  seiner 
Rückkehr  aus  der  Provinz  in  diesem  Saal. 


177 


noch  von  jungen  Burschen  gespielt,  bei  den  Italienern  betraten  auch 
Frauen  die  Bühne  und  blendeten  die  entzückten  Zuschauer  durch  ihre 
Schönheit,  ihr  Spiel,  ihr  anmutiges  Wesen.  Dabei  glänzten  die  italieni- 
schen Vorstellungen  durch  eine  Eleganz  und  eine  Pracht  in  der  Aus- 
stattung, dergleichen  man  in  Frankreich  noch  nicht  gesehen  hatte.  Für 
die  Vortrefflichkeit  der  Gelosi  zeugt  wol  am  besten  der  Zulauf  des  großen 
Publikums.  Diesem  war  die  italienische  Sprache,  deren  Kenntnis  in  den 
oberen  Gesellschaftskreisen  bereits  sehr  verbreitet  war,  sicherlich  fremd ; 
trotzdem  verstand  es  die  Schauspieler,  so  beredt  war  deren  Spiel,  so 
groß  die  Lebhaftigkeit  und  Deutlichkeit  ihrer  Bewegungen. 

Freilich  machten  die  Stücke  der  „Commedia  dell'  Arte"  keinen 
Anspruch  auf  höhere  Ideen.  Man  hatte  noch  keine  Ahnung  von  der 
veredelnden  Aufgabe  der  dramatischen  Kunst.  Die  „Gelosi"  spielten  ihre 
Stücke  als  ergötzliche  Bilder  aus  dem  gewöhnlichen  Leben  sehr  gewöhn- 
licher Menschenkinder.  Was  sie  spielten,  waren  meistens  Possen  oder 
mit  possenhaften  Scenen  reichlich  durchzogene  Schauspiele,  und  diese 
Stücke  boten  fast  immer  Variationen  über  ein  und  dasselbe  Lied.  Alles 
drehte  sich  um  Liebesintriguen,  Entführungen  oder  Verwechslungen. 
Man  häufte  Tollheit  auf  Tollheit  und  das  heitere  Spiel  glitt  wie  ein 
Zaoberbild  vor  den  Augen  der  Zuschauer  vorüber.  Die  Einrichtung  der 
Bühne  war  denn  auch  derart,  daß  sie  das  Intriguenspiel  wesentlich  er- 
leichterte. Sie  stellte  gewöhnlich  eine  Straße  mit  zwei  Arkadengängen 
vor,  wie  sie  in  den  Städten  des  Mittelalters  üblich  waren,  oder  sie  zeigte 
einen  Platz,  in  den  mehrere  Straßen  mündeten.  So  war  die  Gelegenheit 
geboten,  sich  zu  verstecken,  zu  lauschen,  zu  flüchten  und  nach  Belieben 
einander  zu  täuschen.  Trotz  ihrer  scheinbaren  Gleichförmigkeit  boten  die 
Stücke  der  Commedia  dell'  Arte  einen  unerschöpflichen  Wechsel,  eine 
Mannigfaltigkeit  der  Verwicklungen  und  eine  Heiterkeit,  daß  niemand 
mit  ihnen  wetteifern  konnte.  So  unerschöpflich  war  ihr  Eeichtum  an 
Einfällen,  Intriguen  und  Verschlingungen,  welche  den  Stücken  immer 
neuen  Reiz  verliehen,  daß  die  Lustspiellitteratur  der  folgenden  zwei  Jahr- 
hunderte immer  wieder  auf  sie  zurückgriff  und  sich  bei  ihr  frische  An- 
regung holte. 

Die  Commedia  dell'  Arte  war  in  Italien  wahrhaft  national.  Sie 
stellte  den  Schauspielern  die  Aufgabe,  zu  improvisieren,  aus  dem  Stegreif 
zu  spielen,  ohne  ihnen  einen  geschriebenen  oder  gedruckten  Text  zum 
Anhalt  zu  bieten.  In  ähnlicher  Weise  mögen  schon  die  Atellanen  der 
alten  Eömer  gespielt  worden  sein.  Durch  die  Wandlungen  der  Jahr- 
hunderte, ja  durch  zwei  Jahrtausende  hindurch,  hat  sich  das  Volk  in 
Italien  seine  Spiele  erhalten.  Die  Atellanen  hatten  in  der  stehenden 
Rolle  des  Maccus  ihren  Spaßmacher,  wie  in  dem  Pappus  den  Charakter 
des  geizigen  Alten.  Die  Rollen  änderten  mit  der  Zeit  den  Namen,  aber 
ihr  Wesen  blieb.  In  dem  Arlequino,  in  Scapin  und  Pulcinella  erkennen 
wir  den  alten  Maccus,  in  Pantalone  den  Pappus  der  Atellanen  wieder.') 


1)  Die  beutige  italienische  Posse   hat  noch    immer  ihre    stehenden  Cha- 
raktere.   Jede  Gegend  hat  ihren  besonderen  Vertreter,  Florenz  z.  B.  den  Sten- 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Lilteratur.  jo 


178 

Die  Stücke  der  Commedia  delF  Arte  waren,  wie  schon  bemerkt. 
nicht  geschrieben.  Hinter  der  Bühne  wurde  eine  Tafel  aufgehängt,  auf 
welcher  der  Gang  der  Handlung  und  die  Folge  der  Scenen  mit  kurzer 
Inhaltsangabe  aufgezeichnet  waren.  ^)  Das  war  die  einzige  Richtschnur 
der  Schauspieler,  die  im  übrigen  volle  Freiheit  des  Spiels  hatten. 
Standen  sie  einmal  auf  der  Bühne,  so  waren  sie  sich  selbst  überlassen 
und  mußten  der  Eingebung  des  Augenblicks  vertrauen.  Wußte  doch 
keiner  der  Schauspieler,  was  der  andere  ihm  auf  seine  Worte  entgegnen 
würde.  So  gehörte  schneller  Witz  und  Geistesgegenwart  zu  den  Haupt- 
erfordernissen eines  Künstlers  der  Commedia  dell'  Arte.  Die  Schwierigkeit, 
ein  gutes  Zusammenspiel  zu  erreichen,  war  groß.  Daher  der  Name 
Commedia  dell"  Arte,  denn  in  der  That,  es  gehörte  viel  Kunst  dazu,  sich 
auf  der  Höhe  zu  erhalten.  Gelang  dies  aber,  so  war  das  Spiel  auch 
umso  natürlicher  und  besser.  Der  Schauspieler  mußte  seine  Kollegen 
genau  kennen,  mußte  jede  Intention  der  Mitspielenden  verstehen,  um 
auf  dieselbe  eingehen  zu  können,  jeden  Witz  schon  von  weitem  kommen 
sehen  und  ihn  möglich  machen.  Mit  einem  Wort,  es  mußte  die  größte 
Harmonie  unter  den  Schauspielern  herrschen,  und  man  versteht,  warum 
sie  ihre  Kunst  für  höher  erachteten,  als  die  der  „gelehrten"  Ko- 
mödie.^) 

Ihre  Aufgabe  wurde  allerdings  dadurch  erleichtert,  daß  die  Com- 
media deir  Arte  eine  Reihe  stehender  Rollen  hatte,  deren  jede  in  ihrem 
Charakter  völlig  ausgeprägt  und  stets  demselben  Künstler  zugewiesen 
war.  Ein  jeder  lebte  sich  ganz  in  seine  Rolle  ein,  und  übernahm  außer 
derselben  höchstens  noch  die  Darstellung  einer  Nebenfigur.  Diese  ste- 
henden Charaktere  bildeten  eine  ergötzliche  Galerie  der  menschlichen 
Schwächen ,  und  ihre  Zeichnung  gewann  noch  dadurch  an  satirischer 
Schärfe,  daß  die  Hauptrollen  ein  Zerrbild  des  Charakters  einzelner  ita- 
lienischer Städte  boten.  So  sind  sie  auch  aus  diesem  Gesichtspunkt  lehr- 
reich für  die  Kenntnis  jener  Zeit.  Neben  den  Frauenrollen  und  den  Lieb- 
habern waren  die  Hauptpersonen,  welche  das  komische  Element  vertraten, 
der  Doktor,  Pantalone,  der  Capitano  und  die  Diener. 

Bologna,  die  weitberühmte  Universität;  hatte  den  Charakter  des 
gelehrten  Pedanten,  des  Dottore.  geschaffen.  Es  war  die  Zeit  der  philo- 
sophischen und  philologischen  Haarspaltereien,  und  gerade  von  Bologna 
erzählte  sich  die  böse  Welt  manch  heiteres  Geschichtchen  aus  diesem 
Kapitel.   So  wurde  unter  anderm   berichtet,  zwei  Gelehrte  daselbst  hätten 


terello,  Turin  den  Gianduja,  Mailand  den  Meneghino,  Calabiieu  den  Giaugur- 
golo  u.  s.  w. 

^)  Es  sind  noch  einige  gedruckte  Sammlungen  solcher  Scenarien  vorhanden, 
so  die  von  Andreini,  Venedig  1607;  von  Flaminio  Scala  (dem  oben  erwähnten 
Direktor  der  Gelosi)  1611,  und  von  Eiccoboni,  dessen  Buch  1753  von  den 
Brüdern  Parfaict  herausgegeben  worden  i^t    Vergl.  auch  Molaud,  S.  60  und  101. 

-)  Eduard  Dovrient  erinnert  in  seiner  Geschichte  der  deutschen  Schau- 
spielkunst (I,  S.  5)  an  eine  ähnliche  Anschauung  der  Inder.  In  der  heilig.sten 
Gattung  des  indischen  Dramas,  dem  Dschatra,  wurde  nur  improvisiert.  Das  Er- 
habenste sollte  nur  infolge  unmittelbarer  Begeisterung  dargestellt  werden. 


17^ 


sich  über  eine  griechische  Silbe  lang  herumgestritten,  endlich  um  ihren 
Bart  gewettet,  und  der  verlierende  sei  vor  Kummer  gestorben.^)  Molieres 
unsterbliche  Pedanten,  die  Herren  Trissotin  und  Thomas  Diafoirus,  sind 
'/war  aus  dem  Leben  geschöpft,  aber  ihre  Ahnen  haben  schon  in  der 
Commedia  dell'  Aite  gelebt. 

Pantalone  zeigte  den  habsüchtigen,  eitlen,  aber  philiströsen  Kauf- 
mann aus  Venedig.  Schon  bejahrt,  aber  doch  noch  auf  der  Jagd  nach 
galanten  Abenteuern,  wird  er  in  den  meisten  Stücken  trotz  aller  Schlauheit 
geprellt  und  zieht  schließlich  den  kürzeren.  Aus  der  alten  lateinischen 
Posse  herübergenommen,  ging  Pantalone  in  das  französische  Lustspiel 
über  und  erschien  bei  Moliere  als  Argante,  Geronte  oder  Jourdain. 

Ein  anderer  Hauptcharakter  der  Commedia  dell'  Arte  war  der 
l^oiioramist.  Das  Original  findet  sich  schon  völlig  ausgebildet  in  dem 
,.Miles  gloriosus"  des  Plautus.  Die  Spanier  verwandelten  ihn  zuerst  auf 
ihrer  Bühne  in  einen  Landsmann,  einen  Vetter  Don  Quixotes.  um  die 
Prahlereien  ihrer  stolzen  Hidalgos  zu  verhöhnen.  Die  noch  nicht  lange 
liccndigten  Kämpfe  gegen  die  Mauren  lieferten  dem  Renommisten  den 
hauptsächlichen  Stoff  zu  seinen  Prahlereien,  wie  schon  sein  Name  „Capi- 
tano  Matamoros"  (Maurentöter)  andeutet.  Nach  Italien  verpflanzt,  behielt 
er  seine  spanische  Tracht,  die  ihn  schon  von  weitem  als  Kriegsmann 
kenntlich  machte.  Es  versteckte  sich  wol  auch  ein  Stückchen  nationaler 
Kiicbe  in  dieser  Betonung  des  spanischen  Charakters.  Der  Witz  der 
Unterdrückten  verfolgte  den  stolzen  Sieger.  Italien  stand  damals  zum 
großen  Teil  unter  spanischer  Herrschaft,  und  hatte  viel  von  den  Soldaten- 
haufen zu  leiden.  Der  spanische  Soldat  galt  im  16.  Jahrhundert  als 
der  beste  der  Welt,  und  umsomehr  Veranlassung  fand  die  Commedia 
deir  Arte,  eine  Karikatur  desselben  zu  geben.  Da  kamen  die  Helden, 
der  Capitano  Spaventa  della  Valle  Infernale  (zu  deutsch  etwa  „Ritter 
Schreck  von  Höllenthal "),  die  Capitani  Cocodrillo,  Fracassa,  Rodomonte, 
Rinoceronte,  und  wie  sie  alle  hießen.  Schon  der  Name  sollte  Schrecken 
einflößen.  Aber  die  Träger  dieser  furchtbaren  Namen  entpuppten  sich 
sehr  bald  als  armselige  Helden ;  schwachmütig,  erwiesen  sie  sich  nur 
da  herzhaft,  wo  sie  glaubten,  ungestraft  zu  bleiben ;  nur  mit  Schwachen 
fingen  sie  Händel  an,  sobald  sie  Widerstand  fanden,  wußten  sie  tausend 
Ausflüchte,  um  die  Heldenkraft  ihres  Arms  für  diesmal  nicht  zu  zeigen. 
Ihre  Hauptstärke  bestand  in  den  Aufschneidereien  und  prahlerischen 
Reden.  Der  eine  rühmt  sich,  den  Gegner  mit  dem  bloßen  Blick  seiner 
Augen  durchbohrt  zu  haben;  der  andere  hat  alle  Fürsten  des  Orients 
bezwungen;  wieder  ein  anderer  erglüht  bei  der  Verfolgung  einer  See- 
räuberflotte in  solchem  Zorn,  daß  der  Hauch,  der  sich  seiner  Brust 
«ntringt,  einem  Sturmwind  gleich  über  die  Flut  hinbraust,  die  Segel  der 
feindlichen  Schiffe  schwellt  und  diese  somit  rettet. 


1)  Die  Anekdote  wird  von  dem  gelehrten  Philelphus,  einem  Griechen, 
der  in  Florenz,  Bologna  und  Mailand  lehrte  (1389—1480),  und  einem  gewissen 
Timotheus  erzählt,  welch  letzterer  unterlegen  sei.  Moland,  S.   17. 


12* 


180 

Der  Capitan  ging  auch  in  das  französische  Theater  über;  noch 
Corneille  braucht  ihn  in  seinem  Lustspiel  „L'IUusion  comique".  Aber 
Meliere  kennt  ihn  nicht  mehr.  Zu  seiner  Zeit  hatte  sich  die  Gesellschaft 
soweit  verfeinert,  daß  sich  für  bramarbasierende  Lanzknechte  kein  Platz 
mehr  fand,  und  an  Stelle  des  plumpen  Kriegsmanns  erscheint  bei  Me- 
liere der  geckenhafte,  hohlköpfige  Marquis. 

Neben  den  genannten  Personen  spielten  in  der  „Commedia  dell' 
Arte"  noch  die  vertrauten  Diener  eine  Hauptrolle.  Bei  ihnen  war  größere 
Mannigfaltigkeit  gestattet,  und  es  gab  eine  ganze  Reihenfolge  von  durch- 
triebenen, ihren  Herren  ergebenen  Dienern  bis  herab  zu  den  dummen 
und  tölpelhaften  oder  betrügerischen  Knechten.  Man  bezeichnete  sie  unter 
dem  allgemeinen  Namen  der  Zanni  (der  Spaßmacher  oder  Clowns).  Zu 
ihnen  gehörte  Pulcinella,  der  aus  Venedig,  Arlequino,  der  aus  Bergamo 
stammte,  sowie  die  anderen:  Brighella,  Scapin,  Franca-Trippa.  Es  sind 
die  Sklaven  der  antiken  Komödie,  die  sich  nur  wenig  verändert  haben; 
auch  in  dem  französischen  Lustspiel  werden  wir  ihnen  begegnen.  Sie 
leben  bei  Moliere  als  Scapin  oder  Scaramouche,  civilisieren  und  moder- 
nisieren sich  immer  mehr,  bis  sie  ihren  letzten  Triumph  als  Figaro 
feiern. 

Die  Zanni  hatten  neben  ihrer  speciellen  Rolle  in  jedem  Stück  auch 
noch  die  Aufgabe,  in  schwierigen  Momenten,  wenn  die  anderen  Schau- 
spieler nicht  mehr  weiter  wußten,  helfend  einzuspringen  und  durch  ihre 
Einfälle  die  Aufmerksamkeit  des  Publikums  auf  sich  zu  lenken,  bis  jene 
sich  wieder  zurechtgefunden  hatten.  Ihre  Spaße,  die  Lazzi,  bildeten  nicht 
den  wenigst  beliebten  Teil  der  Aufführungen.^) 

Man  versuche  nun,  sich  ein  Bild  der  Vorstellungen  zu  machen, 
welche  die  „Gelosi"  unter  dem  Schutz  des  Königs  dem  Pariser  Publikum 
boten.  Man  denke  an  die  Pracht  der  Ausstattung,  an  das  natürliche 
Spiel  der  Schauspieler,  die  derbe,  aber  packende  Komik  der  Zanni,  vor 
allem  aber  an  den  Zauber,  den  die  Erscheinung  der  Künstlerinnen  auf 
der  Bühne  ausübte,  und  man  wird  begreifen,  warum  die  italienische 
Komödie  sich  solchen  Beifalls  in  Paris  erfreute. 

Den  Gelosi  gegenüber  gerieten  die  heimischen  Schauspielergesell- 
schaften ins  Gedränge.    Besonders  gefährdet   erschien   die   „Confrerie  de 


')  Wie  auf  die  Sklaven  in  der  alten  Komödie,  regnete  es  auch  auf  die 
Zanni  Ohrfeigen  und  Prügel.  In  der  Kunst  des  Fratzenschneidens  waren  sie 
unübertroffen,  scheint  es.  In  einem  Stück :  „Arlequino  der  Hausdieb",  begleitete 
Arlequino  das  Spiel  der  anderen  Personen  auf  der  Bühne  mit  seinen  panto- 
mimischen Scherzen.  Er  stellte  sich,  als  habe  er  Kirschen  in  seinem  Hut,  äße 
sie  und  schleudere  die  Kerne  seinem  Kollegen  Scapin  ins  Gesicht;  oder  er  fange 
Fliegen,  reiße  ihnen  die  Flügel  aus  und  verzehre  sie.  Im  „Don  Juan",  der  vor 
Moliere  schon  auf  dem  Repertoire  der  Commedia  dell'  Arte  war,  spielte  Antonio 
Vicentini,  ein  unter  dem  Namen  Trivelin  beliebter  Komiker,  den  Diener  Don 
Juans.  Jedesmal,  wenn  er  die  Statue  des  Gouverneurs  einladen  sollte,  nahte  er 
sich  ihr  mit  einem  Glas  "Wein  und  schlug  einen  Purzelbaum  vor  der  Bild- 
säule, ohne  einen  Tropfen  zu  verschütten.  Derselbe  Trivelin  machte  sich  auch 
von  Zeit  zu  Zeit  das  Vergnügen,  auf  der  Brüstung  der  Logen  umherzuspazieren 
und  von  einem  Stock  in  den  andern  zu  steigen.   (Moland,  S.  27  u.  191.) 


181 


la  Passion'",  so  genannt,  weil  sie  früher  die  Darstellung  der  Leidens- 
geschichte Jesu  als  ihre  Hauptaufgabe  angesehen  hatte.  Eigentliche 
Mysterien  wurden  freilich  nicht  mehr  aufgeführt,  aber  die  Passions- 
bruderschaft hatte  seit  lange  das  Privilegium  der  öffentlichen  Theater- 
vorstellungen für  Paris  erworben.  Sie  hatte  im  Jahr  1548  auf  dem  Platz 
des  Hotel  de  Bourgogne  ihr  Theatergebäude  errichtet,  das  in  der  Ge- 
schichte des  französischen  Dramas  eine  so  wichtige  Eolle  spielen  sollte.^) 

Gegenüber  dem  rohen  Spiel  der  Handwerker,  welche  sich  in  den 
Aufführungen  der  Bruderschaft  zeigten,  hatten  die  Italiener  leichten  Sieg. 
Aber  von  dem  Erfolg  der  Fremden  geängstigt,  wandte  sich  die  Bruder- 
schaft an  das  Parlament  und  bat  um  den  Schutz  ihres  Privilegiums. 
Das  Parlament  untersagte  den  Gelosi  wirklich  die  Ausübung  ihrer  Kunst 
in  Paris.  Diese  aber  beriefen  sich  auf  eine  besondere  Erlaubnis  des 
Königs  und  spielten  den  ganzen  Sommer  hindurch.  Im  Herbst  kehrten 
sie  nach  Italien  zui'ück,  allein  seitdem  kamen  öfters  italienische  Gesell- 
schaften über  die  Alpen,  bis  der  Bürgerkrieg,  der  immer  wilder  auf- 
flammte, jeden  Besuch  der  fremden  Künstler  unmöglich  machte.  Erst  als 
Heinrich  IV.  sich  auf  dem  Thron  befestigt  und  den  Frieden  dauernd 
wieder  hergestellt  hatte,  kehrte  auch  die  Möglichkeit  solcher  Unterhal- 
tungen zurück. 

Zur  Feier  seiner  Vermählung  mit  Maria  von  Medici  im  Jahr  1600 
lud  Heinrich  auch  die  Gelosi  zu  einem  Besuch  nach  Paris.  An  der  Spitze 
der  Gesellschaft  stand  noch  immer  wie  im  Jahr  1576  Flaminio  Scala, 
ein  Mann  von  Bildung  und  von  adeliger  Herkunft.  Den  „Capitan"  spielte 
Francesco  Andreini  aus  Pistoja,  der  zugleich  Schriftsteller  war  und  zur 
litterarischen  Gesellschaft  der  Spensierati  (der  „Sorglosen")  in  Florenz 
gehörte.  Die  Hauptstütze  der  Gesellschaft  war  Andreinis  schöne  Gattin 
Isabella,  die  von  ihren  begeisterten  Zeitgenossen  als  die  größte  Künst- 
lerin gefeiert  wurde. ^) 

1)  Das  Hotel  d'Artois  oder  de  Bourgogne  wurde  im  Jahr  1523  in  drei- 
zehn Losen  verkauft.  Ein  Kautmann,  Jean  Rouvet,  brachte  sie  fast  alle  an  sich, 
und  verkaufte  einen  kleineu  Teil  davon  als  Bauplatz  an  die  Coufrerie  (1548). 
Das  Gebäude,  das  diese  darauf  errichtete  und  das  die  Ecke  der  Rue  PVan(,-aise 
und  der  Rue  Mauconseil  bildete,  war  sehr  einfach.  Noch  in  dem  vorigen  Jahr- 
hundert sah  man  an  ihm. die  Abzeichen  der  Passion.  Vergl.  Corneille,  edition 
Martj-^-Laveaux,  II I,  oü.  Über  die  Commedia  dell'  Arte  siehe  ferner  das  Werk 
„Masques  et  bouffous"  (Comedie  italienne),  texte  et  dessins  par  Maurice  Sand. 
Gravures  par  A.  Manceau.  Preface  par  George  Sand.  2  vols.  Paris  1860,  Michel 
Levy  freres. 

-)  Wir  haben  schon  oben  die  Sammlung  von  Seenarien  erwähnt,  welche 
Andreini  veröffentlichte.  Sein  Stück  „Adam"  soll  Milton  zu  seinem  „Verlorenen 
Paradies"  angeregt  haben.  —  Isabella  Audreini  war  1562  zu  Padua  geboren 
und  seit  ihrem  16.  Jahr  Mitglied  der  Gelosi.  Sie  war  folghch  nicht  mehr  jung, 
als  sie  im  Jahr  1600  nach  Paris  kam.  Doch  muß  sie  immer  noch  eine  statt- 
liche Erscheinung  gewesen  sein,  nach  der  Denkmünze  zu  urteilen,  die  man  nach 
ihrem  Tod  ihr  zu  Ehren  geprägt  hat  und  die  ihr  Bildnis  trägt.  Isabellens 
Privatleben  und  ihr  Charakter  wurden  niemals  von  böser  Nachrede  angegriffen. 
Italienische  und  französische  Dichter  verherrlichten  die  Künstlerin  in  begeisterten 
Huldigungsgedichten.  Auch  als  Dichterin  war  Isabella  bekannt.  Ihr  Pastoral- 
gedicht „Mirtilla"  erschien  zu  Verona  1588,  ihre  Sonette,  Canzonen  und  Madri- 


182 


Die  Gelosi  blieben  diesmal  ohne  Unterbrechung  bis  zum  Jahr  1604 
in  Paris  und  trugen  indirekt  viel  zur  raschen  Entwicklung  des  franzö- 
sischen Theaters  bei.  Schon  waren  es  nicht  mehr  die  Mitglieder  der 
Passionsbruderschaft,  welche  sich  in  der  Schauspielkunst  versuchten.  Im 
Jahr  1588  hatte  die  Bruderschaft  vorgezogen,  ihren  Saal  an  herum- 
ziehende Gesellschaften  wirklicher  Schauspieler  von  Fach  zu  vermieten. 
Auch  die  Gelosi  hatten  das  Theater  in  dem  Hotel  de  Bourgogne  für 
einige  Tage  in  der  Woche  zur  Verfügung  und  spielten  abwechselnd  mit 
der  französischen  Truppe.  Im  Jahr  1600  gestattete  die  Cenfrerie  einer 
zweiten  Gesellschaft,  eine  Bühne  in  dem  Hotel  d'Argent  im  ..Marals", 
dem  vornehmsten  Bezirk  des  damaligen  Paris,  zu  eröffnen,  wofür  sie 
sich    ein  Livre  Tournois    als  Vergütung   für  jede  Vorstellung    bedang.-^) 

Die  Konkurrenz  mit  den  Italienern  war  äußerst  schwer,  aber  man 
bemühte  sich  nach  Kräften,  von  ihnen  zu  lernen.  Das  Repertoire  der 
französischen  Bühne  bildete  sich  nach  dem  der  Fremden.  Konnten  sie 
auch  nicht  daran  denken,  die  Stegreifkomödie,  die  so  echt  italienischen 
Charakter  trug  und  bis  zu  der  ihr  erreichbaren  Vollkommenheit  aus- 
gebildet war,  nachzuahmen,  so  hielten  sie  sich  umsomehr  an  die  Stücke 
der  andern  Gattung,  an  die  Commedia  erudita,  denn  die  Gelosi  vertraten 
auch  diese,  und  brachten  auch  geschriebene  Dramen,  Heldenstücke  und 
Lustspiele  zur  Aufführung.^)  Die  dramatischen  Dichter  der  früheren  Zeit, 
wie  z.  B.  der  talentvolle  Robert  Garnier,  waren  mit  ihren  Stücken  noch 
meist  auf  Hoffestlichkeiten  und  theatralische  Aufführungen  in  den  Schulen 
beschränkt  gewesen.  Ihren  Nachfolgern  öffneten  sich  nun  auch  die  Pariser 
Bühnen,  und  damit  war  ein  wichtiger  Schritt  auf  der  Bahn  der  Ent- 
wicklung gethan. 

Robert  Garnier  selbst  gehört  noch  ganz  in  das  16.  Jahrhundert.^) 
Von  den  Dichtern  aber,  deren  Thätigkeit  auch  in  die  folgende  Epoche 
herüberreicht,  ist  hier  nur  Pierre  de  Larivey  zu  erwähnen,  von  dem 
neun  Lustspiele  erhalten  sind.  Die  sechs  ersten  erschienen  bereits  1579, 
und  versuchten  schon  damals  eine  Vermittelung  zwischen  dem  französi- 
schen und  italienischen  Theater  herzustellen.  Drei  weitere  erschienen 
erst  1611,  während  andere  drei,  die  er  noch  geschrieben  hatte,  gar 
nicht  veröffentlicht  worden  sind. 

Man  hat  sich  lange  vergeblich  bemüht,  über  Lariveys  Persönlichkeit 
etwas  Genaueres    zu    erfahren.*)     Er    bezeichnet    sich    selbst   in  seinen 


gale  zu  Mailand  1601  („Canzoniere").  Die  Akademie  der  Intenti  zu  Pavia  nahm 
sie  als  Mitglied  auf,  und  in  Rom  gab  der  Kardinal  Aldobrandini  ihr  zu  Ehren 
ein  Fest,  bei  dem  ihr  lorbeerbekränztes  Porträt  zwischen  den  Bilderu  Petrarcas 
und  Tassos  angebracht  war.  Sie  starb  auf  der  Heimreise  von  Paris  im  Jahr  1604 
zu  Lyon  im  Wochenbett. 

1)  Vergl.  Moland,  S.  58.  Guizot,  Corneille  et  son  temps,  S.  130. 

2)  Dieselbe  Erscheinung  zeigt  sich  in  England.  Vergl.  Devrient,  Geschichte 
der  deutsehen  Schauspielkunst,  I,  115,  148  u.  ff.  Heißt  es  doch  auch  von  den 
Schauspielern  in  „Hamlef,  daß  sie  „für  das  Aufgeschriebene  und  für  den  Steg- 
reif" ihresgleichen  nicht  haben.  (II,  2.) 

3)  Eine  eingehende  Würdigung  Garniers  siehe  bei  Ebert,  S.  142  ff. 

•*)  Eine  Hauptquelle  für  die  Geschichte  des  französischen  Theaters  ist 
die  „Histoire  du  theätre  fran^ois  par   les    freres  Parfaict",   welche  1735—1749 


183 

Werken  als  Champenois,  als  einen  Bürger  der  Champagne.  Erst  Sainte- 
Beiive,  der  die  Chroniken  jenes  Landes  durchforschte,  gelang  es,  einen 
festen  Anhaltspunkt  für  weitere  Untersuchungen  zu  finden.  Ein  Zeit- 
genosse Lariveys,  Grosley,  der  Verfasser  einer  Geschichte  der  Stadt 
Troyes,  hat  ein  lange  ungedrucktes  Werk  über  die  berühmten  Männer 
seines  engeren  Vaterlands,  der  Chanapagne,  hinterlassen.')  In  diesem 
letzteren  führt  er  einen  Pierre  de  l'Arrivey  als  Domherrn  von  Saint- 
Etienne  in  Troyes  an,  nnd  setzt  hinzu,  derselbe  sei  von  Geburt  ein 
Italiener,  und  stamme  aus  der  bekannten  Buchdruckerfamilie  der  Giunti, 
die  ihre  Offizinen  zu  Florenz  und  Venedig  hatte.  Diese  Angabe  macht 
es  wahrscheinlich,  daß  der  Name  Larivey  einfach  eine  Übersetzung  des 
italienischen  Namens  war.^)  Der  Dichter  wollte  als  Franzose  gelten, 
weshalb  er  sich  auch  immer  so  nachdrücklich  auf  seinen  Werken  als 
einen  Angehörigen  der  Champagne  bezeichnete. 

So  war  er  allerdings  trefflich  geeignet,  die  italienische  Komödie 
in  Frankreich  einzubürgern,  wie  er  auch  außerdem  mehrere  italienische 
Werke  ins  französische  übertrug.^)  Ums  Jahr  1540  geboren,  starb  er 
bald,  nachdem  er  die  oben  erwähnten  drei  Lustspiele  im  Jahr  1611 
veröffentlicht  hatte.  Eine  lange  Frist  liegt  zwischen  seinen  ersten  und 
seinen  letzten  Stücken.  In  einem  Vorwort  zu  diesen  letzten  sagt  er, 
daß  er  sie  unter  seinen  Papieren  gefunden  habe,  und  es  läßt  sich  an- 
nehmen, daß  der  größere  Eifer,  der  sich  mit  dem  Beginn  des  Jahr- 
hunderts in  dem  französischen  Theater  zeigte,  auch  ihn  bewogen  hat, 
auf  seine  früheren  Arbeiten  zurückzukommen.  Auf  dem  Titel  seiner  Lust- 
spiele, sowie  in  der  Vorrede  zu  der  ersten  Sammlung  sagt  Larivey  aus- 
drücklich, daß  er  seine  Stücke  den  Lustspielen  der  alten  Griechen  und 
Römer,  sowie  der  modernen  Italiener  nachgebildet  habe,  und  führt  unter 
den  Neueren  sogar  seine  Muster  an.  Er  glaubt  sich  sodann  verteidigen 
zu  müssen,  daß  er  in  seinen  Stücken  Prosa  statt  der  Verse  angewandt 
habe.  Prosa  sei  in  einem  Lustspiel  natürlicher,  und  auch  die  italienischen 
Lustspieldichter,  besonders  Kardinal  Bibiena,  Piccolomini  und  Pietro 
Aretino,  hätten  sich  diese  Freiheit  erlaubt. 


in  15  Bänden  bei  Le  Mercier  in  Paris  erschien.  Der  Name  der  Verfasser  ist 
auf  dem  Titelblatt  nicht  angegeben.  Die  Brüder  Parfaict  haben  auch  eine 
„Histoire  de  l'ancien  theätre  Italien"  (1753)  und  ein  „Dictionnaire  des  Theätres 
de  Paris"  (Paris  1767,  chez  Eozet)  veröffentlicht.  Aber  auch  sie  wissen  nicht 
viel  von  Lariveys  Verhältnissen  zu  melden.  —  Siehe  ferner :  Sainte-Beuve, 
Histoire  du  theätre  fran^ais  au  XVI  siecle,  S.  228  ff.,  und  die-  Notice  in  der 
Ausgabe  von  Lariveys  Lustspielen  in  der  Bibliotheque  Elzevirienne  (Paris  1855, 
bei  Jannet). 

1)  Grosley,  Memoires  sur  les  Troyens  celebres,  gedruckt  1812  in  seinen 
„Oeuvres  inedites",  t.  I,  S.  19. 

-)  Giunto  =  Joint,  arrive. 

3)  So  übersetzte  er  1577  „La  Filosofie  fabuleuse"  aus  den  Discorsi  degli 
animali  von  Firenzuola  und  der  Moral  fllosotia  von  Doni.  Im  Jahr  1580  gab 
er  eine  Übersetzung  der  Moralphilosophie  von  Alexander  Piccolomini,  1595  eine 
Übersetzung  der  Discorsi  von  L.  Capelloni,  1604  veröftentlichte  er  „L'humanite 
de  Jesus-Christ",  die  Übertragung  eines  Buchs  von  Aretin.  160;:5  endlich  gab 
er  die  „Veilles  de  Barthelemy  Arnigio". 


184 

Lariveys  Lustspiele  stehen  über  den  französischen  Stücken  dieser 
Art,  wie  sie  das  Ende  des  16.  und  der  Beginn  des  17.  Jahrhunderts 
hervorgebracht  haben.   Allerdings  bietet  er  keine  Originaldichtungen. 

Wir  kennen  jetzt  genau  die  italienischen  Lustspiele,  die  er  über- 
tragen hat,^)  und  sehen  nun,  in  welcher  Weise  er  vorgegangen  ist. 
Seine  Stücke  sind  fast  wörtliche  Übersetzungen,  und  die  Änderungen, 
die  er  sich  erlaubte,  sind  nur  darauf  berechnet,  die  Lustspiele  durch 
Veilegung  der  Scene  nach  Frankreich  dem  französischen  Publikum  an- 
nehmbarer zu  gestalten.  Aus  demselben  Grund  streicht  er  ganze  Scenen 
und  kürzt  besonders  die  Frauenrollen,  die,  noch  von  jungen  Männern 
gespielt,  des  Eeizes  entbehrten,  den  sie  auf  der  italienischen  Bühne 
hatten.  Ebenso  fehlt  bei  ihm  manche  Kühnheit  des  Originals,  weniger 
im  Ausdruck  als  im  Gedanken.  So  macht  er  z.  B.  in  seinen  „Gespenstern" 
Ser  Jacomo,  einen  trägen  Priester  im  italienischen  Original,  zu  einem 
Zauberer  Josse.  In  der  Zeit  der  Religionskriege  wäre  jeder  Spott  auf 
die  Kirche  gefährlich  gewesen,  und  Larivey  war  ja  zudem  selbst  Dom- 
herr. „Die  Gespenster"  („Les  Esprits")  gelten  als  sein  bestes  Stück. 
Es  ist  nach  dem  Lustspiel  „Aridosia'"  von  Lorenzino  Medici,  dem  Vater 
des  Papstes  Leo  X.,  gearbeitet.  Lorenzino  hatte  seinerseits  seine  Arbeit 
aus  zwei  Lustspielen  der  Alten,  den  „Adelphi"  des  Terenz  und  der 
„Aulularia"  des  Plautus,  zusammengesetzt.  Ans  Lariveys  Bearbeitung 
haben  dann  später  Moliere  und  ßegnard  geschöpft.  Echter  Witz  und 
wahre  Komik  erhalten  sich  immer  jung.  Auch  die  Komik  hat  ihre  Tra- 
dition und  pflanzt  sich  von  einem  Jahrtausend  zum  andern,  von  einem 
Volk  zum  andern  fort,  und  in  verändertem  Gewand  bleibt  immer  die 
alte  Idee  erkennbar. 

Die  „Esprits"  zeigen  uns,  wie  die  ..Adelphi"  des  Terenz,  zwei 
Brüder  von  entgegengesetztem  Charakter.  Severin,  der  eine,  ist  rauh, 
mürrisch  und  geizig.  Er  hält  seinen  Sohn  Urbain  in  strengster  Ab- 
hängigkeit und  möchte  ihn  am  liebsten  von  jeder  Berührung  mit  der 
Welt  fernhalten.  Der  zweite  Bruder,  Hilaire,  denkt  nicht  so.  Da  seine 
Ehe  kinderlos  geblieben,  hat  er  einen  andern  Sohn  Severins,  den  jungen 
Fortune,  adoptiert  und  behandelt  ihn  mit  der  größten  Nachsicht  und 
Güte.  Er  verzeiht  ihm  alle  tollen  Streiche,  denn  „Jugend  muß  aus- 
toben". Nicht  mit  Strafpredigten  sucht  er  ihn  zu  bessern,  sondern  nur 
durch  Ratschläge,  denn  er  will  nur  als  sein  Freund  gelten.  Die  Folgen 
solch  verschiedener  Erziehung  treten  nnn  in  dem  Stück  zu  Tasre.   Urbain 


1)  „Le  laquais"  ist  nach  dem  Stück  II  Ragazzo  von  Lod.  Dolce  (1539); 
„La  Veuve"  nach  der  Vedova  des  Nic.Buonaparte  aus  Florenz  („appresso  in  Giunti 
1568")  gearbeitet.  „Les  esprits''  sind  fast  wörtlich  nach  dem  Aridosia  des  Lo- 
renzino de  Medici  gearbeitet;  „Le  Morfondu"  ist  eine  Übertragung  der  Gelosia 
des  Grazzini  (Venedig  1582,  appresso  Bernardo  Giunti  e  fratelli) ;  „Les  Jalpux" 
sind  eine  Übersetzung  der  Gelosi  des  Gabbiani,  1550;  „Les  Ecoliers''  eine  Über- 
setzung der  Zecca  von  Girolamo  Razzi;  „La  Constance"  (1611)  ist  eine  fast 
wörtliche  Übersetzung  der  Costanza  von  Razzi,  1565;  „Le  fidele"  eine  desgleichen 
von  Fedele  von  Pasqualigo.  Die  „Tromperies"  sind  eine  Übersetzung  des  Inganni 
des  N.  Secehi.  Fast  alle  diese  italienischen  Stücke  sind  bei  den  Giunti  in  Florenz 
und  Venedig  gedruckt. 


185 


ist  ein  Bruder  Liederlich  geworden,  während  Fortune  trotz  mancher 
jugendlichen  Streiche  als  besonnen  hingestellt  wird,  ürbain  benutzt  die 
Abwesenheit  seines  Vaters,  um  ein  fröhliches  Gelage  mit  seiner  Geliebten 
zu  veranstalten.  Severin  kommt  jedoch  zu  ungelegener  Stunde  unerwartet 
zurück,  und  nur  der  freche  Einfall  Frontins,  des  verschmitzten  Dieners, 
rettet  die  Überraschten.  Frontin  heißt  sie  das  Haus  von  innen  verriegeln 
und  erzählt  dem  heimkehrenden  Alten  mit  allen  Zeichen  des  Schreckens, 
daß  seine  Wohnung  von  Gespenstern  erfüllt  sei,  die  darin  greulich 
tollten.  In  der  That  beginnt  auch  gleich  darauf  ein  Höllenlärm  im  Haus. 
Severin  ist  blind  abergläubisch;  er  läßt  einen  Zauberer  (der,  wie  schon 
gesagt,  im  italienischen  Original  ein  Priester  ist)  holen.  Der  aber  ist 
von  Frontin  gewonnen,  und  während  er  seine  Beschwörung  macht,  wobei 
der  Alte  niederknieen  muß  und  nicht  aufblicken  darf,  gelingt  es  Urbain, 
mit  seiner  Begleiterin  aus  dem  Haus  zu  entkommen.  Der  Zauber  hat 
gewirkt,  die  Gespenster  sind  entwichen.  Zum  Dank  lädt  Severin  seinen 
Retter  zu  einem  lukullischen  Mahl  ein.  Er  verspricht  ihm  eine  halb  vom 
Marder  aufgezehrte  Taube,  ein  Stückchen  Speck  und  sechs  Kastanien.^) 
Neben  dieser  Verwicklung  spinnt  sich  eine  andere  Geschichte  ab.  Se- 
verins  Geiz  zu  schildern,  ist  aus  der  „Aulularia"  des  Plautus  die  be- 
kannte Scene  herübergenommen,  in  welcher  der  Geizhals  den  Topf  mit 
Gold  vergräbt  und  bald  darauf  zu  seiner  Verzweiflung  dessen  Ent- 
wendung wahrnimmt.  Auch  Severin  vergräbt  einen  Beutel  mit  Gold- 
stücken und  wird  dabei  belauscht,  ganz  wie  später  Harpagon  bei  Moliere. 
Die  Charakteristik  Severins  bietet  jedoch  Züge,  welche  sich  weder  bei 
Plautus  noch  bei  Moliere  finden,  die  aber  vortrefflich  sind.  So  z.  B.  in 
der  Scene,  in  welcher  Severin  immer  wieder  zu  dem  vergrabenen  Schatz 
zurückkehrt,  um  ihn  zu  bewachen,  wie  er  jedem  mißtraut,  der  in  seine 
Nähe  kommt,  und  ganz  ohne  Grund  „Au  voleur!"  ruft  (ü,  5).  Ebenso 
drastisch  ist  auch  seine  Verzweiflung  geschildert  bei  der  Entdeckung 
des  Diebstahls  (HI,  6),  obwol  man  hier  vielfach  an  Plautus  erinner  t 
wird.  Derjenige,  der  ihm  das  Geld  entwendet  hat,  ist  der  Liebhaber 
seiner  Tochter,  der  seinen  Raub  benutzt,  um  vom  Alten  die  Einwilligung 
zur  Heirat  zu  erzwingen,  weil  derselbe  nur  dadurch  wieder  in  den  Besitz 
seines  Schatzes  gelangen  kann.  Auch  muß  er  gestatten,  daß  Urbain 
heiratet,  was  er  gern  thut,  als  er  hört,  daß  dessen  Geliebte  reich  ist. 
Sie  bekommt  eine  Mitgift  von  15.000  Franken.  „15.000  Franken!" 
ruft  Severin  neidisch  aus,  „dann  wird  er  ja  reicher  als  ichl"  —  ein 
feiner  Zug,  der  von  den  Späteren  nicht  benutzt  worden  ist,  so  wenig 
wie  das  bezeichnende  Wort,  mit  dem  Severin  seine  Goldstücke  wieder 
begrüßt.  „Götter,  es  sind  dieselben!"  ruft  er  liebevoll  aus,  und  enthüllt 
damit  seinen  ganzen  Charakter.-)     Doch  sind  alle    diese  Züge  schon  in 

1)  Vergl.  Moliere,  L'Avare  III,  5. 

-)  Die  „Esprits"  zählen  allerdings  zu  den  früheren  Stücken  Lariveys 
(1579)  und  gehören  somit  streng  genommen  nicht  in  den  Rahmen  unserer  Dar- 
stellung. Allein  da  gerade  dieses  Stück  später  vielfache  Anregung  bot,  und 
wir  darauf  zurückkommen  müssen,  sei  es  hier  ausführUcher  erwähnt.  Man 
vergleiche    einstweilen  Molieres  Lustspiele  „L'Ecole  des  maris"  und  „L'Avare", 


186 

dem  italienischen  Stück  enthalten.  Lariveys  Verdienst  liegt  also  nicht 
in  der  Conception  der  Stücke,  sondern  vielmehr  in  der  Behandlung  der 
Sprache.  Sein  Dialog  ist  knapp,  kräftig  und  klar,  aber  auch  ohne  Scheu. 
Dennoch  können  seine  Lustspiele,  trotz  seines  Bestrebens,  sie  dem  fran- 
zösis^chen  Leben  anzupassen,  den  fremden  Ursprung  niemals  ganz  ver- 
bergen. 

Neben  dem  starken  Einfluß,  welchen  das  italienische  Theater  auf 
die  französische  Litteratur  ausübte,  ist  indessen  ein  anderes  Element, 
das  sich  in  ihr  geltend  machte,  nicht  zu  übersehen.  Schon  mehrmals 
haben  wir  auf  die  kräftige  Einwirkung  hingewiesen,  welche  Spanien 
lange  Zeit  auf  die  Litteratur  wie  auf  die  Politik  der  Franzosen  aus- 
geübt hat.  Noch  zur  Zeit  Heinrichs  IV.  war  Frankreich  rings  von 
spanischen  Besitzungen  umgeben.  Im  Norden  grenzte  es  an  die  spanischen 
Niederlande,  im  Osten  an  die  Franche-Comte,  während  sich  im  Süden 
die  iberische  Halbinsel  erstreckte,  und  die  spanische  Herrschaft  selbst 
noch  über  die  Pyrenäen  reichte  und  die  Grafschaft  Roussillon  umfaßte.') 
Kein  Wunder,  daß  spanisches  Wesen  vielfach  eindrang,  daß  die  Kraft 
des  spanischen  Geistes,  der  damals  auf  seiner  Höhe  stand,  sich  auch  in 
Fjankreich  bewährte. 

Italiens  Einfluß  auf  die  französische  Litteratur  fällt  allerdings 
mehr  in  die  Augen.  Bei  dem  lebendigen  Verkehr,  den  Frankreich  mit 
dem  Nachbarland  jenseits  der  Alpen  unterhielt,  machte  sich  dessen  Wesen 
bis  in  das  Detail  des  gewöhnlichen  Lebens  herab  geltend.  Wir  haben 
gesehen,  wie  von  Italien  aus  die  Studien,  die  Litteratur,  die  Kunst,  die 
Gesellschaft,  die  Mode  in  Frankreich  beeinflußt  wurden,  und  wie  wichtig 
diese  Einwirkung  war.  Und  dennoch  will  es  uns  bedünken,  daß  die 
Anregung,  die  eine  Zeit  lang  von  Spanien  ausging,  noch  bedeutsamer 
für  Frankreich  war,  daß  der  Geist,  der  von  dorther  kam,  kräftigend 
wirkte,  während  Italien  vielfach  verweichlichenden  Einfluß  übte.  Wir 
finden  kein  hervorragendes  Werk  der  französischen  Litteratur,  das  direkt 
von  einem  italienischen  Vorbild  angeregt  worden  wäre.  Dagegen  verdankt 
Corneille  seinen  ..Cid"',  seinen  „Menteur'%  nicht  minder  Moliere  seinen 
„Don  Juan"  dem  spanischen  Theater,  wie  auch  später  Lesage  und 
Beaumarchais  ihre  Typen  jenseits  der  Pyrenäen  fanden.  Die  Nachahmung 
des  Altertums  und  der  Italiener  hätte  in  Frankreich  noch  auf  lange  Zeit 
hinaus  jeden  originellen  Aufschwung,  jede  größere  Selbständigkeit  ge- 
hindert,   wenn   nicht   die  Bekanntschaft    mit   Spanien   ein  Gegengewicht 


sowie  Regnards  „Le  retour  imprevu"'.  —  Siehe  auch  Sainte-Beuve,  Tableau  S.  219. 
Zu  bemerken  ist,  daß  in  Lariveys  Bearbeitung  die  Rollen  der  jugendlichen  Lieb- 
haberinnen weggefallen  sind,  weil  sie  in  Frankreich  durch  Männer  hätten  gespielt 
werden  müssen.  Das  ist  aber  auch  die  einzige  Änderung,  die  sich  Larivey  erlaubt 
hat.  Man  vergleiche  L'Aridosia,  Commedia  di  Lorenzo  de'  Medici,  esemplata  suUe 
antiche  rarissime  stampe.  Trieste,  dalla  sezione  letteraris  artistiea  del  Lloyd 
autriaco  1858. 

^j  Die  Franche-Comte  wurde  1668  und  1674  von  Frankreich  besetzt, 
und  erst  1679  im  Frieden  von  Nymwegen  definitiv  von  Spanien  abgetreten. 
Roussillon  fiel  schon  im  pyrenäischen  Frieden  1059  an  Fr.inkreich. 


187 


geboten  und  die  Entstehung  eines  eigentümlichen,  nationalen  Theaters 
erleichtert  hätte.  Es  erklärt  sich  dies  zum  Teil  daraus,  daß  in  Italien 
die  erste  Epoche  der  großen  Litteratur  schon  vorüber  war,  als  sich 
Frankreich  um  die  Dichtung  des  Auslands  zu  bekümmern  begann.  In 
Spanien  aber  stand  die  Litteratur,  zumal  die  dramatische,  um  das 
Jahr  1600  in  schönster  Blüte.  Cervantes  lebte  noch  bis  1616,  Guilhem 
de  Castro,  der  Dichter  des  spanischen  Schauspiels  vom  „Cid-*,  starb 
erst  1626.  Lope  de  Vegas  Tod  fällt  in  das  Jahr  1636,  und  Calderon 
de  la  Barca  war  ein  Zeitgenosse  Molieres  und  Racines.  Er  starb  im 
Jahr  1687.  Neben  den  genannten  Dichtern  aber  war  eine  große  Zahl 
anderer  hervorragender  Dramatiker  in  Spanien  thätig,  und  ihr  Einfluß 
auf  die  Nachbarlitteratur  ist  begreiflich.  Man  könnte  sich  höchstens 
wundern,  daß  das  spanische  Drama  nicht  noch  mehr  zur  Nacheiferung 
anreizte,  wüßte  man  nicht,  daß  die  beiden  Völker,  die  sich  hier  auf 
kurze  Zeit  in  ihrer  Entwicklung  einander  näherten,  rasch  wieder  durch 
feindliche  Gewalten  in  verschiedener  Richtung  auseinander  gerissen 
wurden. 

Der  Reichtum  des  spanischen  Theaters  war  außerordentlich.  Seine 
Stücke  dienten  nicht  selten  der  Commedia  dell'  Arte,  welche  sie  ihren 
Bedürfnissen  entsprechend  veränderte.  Durch  die  Vermittlung  der  Italiener 
kamen  sie  dann  weiter  nach  Frankreich.  Doch  läßt  sich  auch  die  direkte 
Übertragung  nachweisen,  und  zwar  war  es  Alexandre  Hardy,  der  sich 
zuerst  mit  Entschiedenheit  an  das  spanische  Theater  wandte  und  dessen 
Schätze  benutzte.  Direkt  wie  das  italienische  Schauspiel  hat  die  spanische 
Bühne  nicht  auf  das  französische  Theater  gewirkt.  Zwar  versuchten  auch 
spanische  Schauspieltruppen  ihr  Glück  in  Paris,  aber  ohne  Erfolg,  ob- 
wol  sie  von  der  Gemahlin  Ludwigs  XIII.,  einer  spanischen  Infantin, 
begünstigt  wurden,  und  auch  später,  unter  Ludwigs  XIV.  Regierung, 
wurde  der  Versuch  mit  nicht  besserem  Glück  wiederholt.')  Das  Publikum 
fehlte,  und  die  Verschiedenheit  der  beiden  Bühnen,  der  spanischen  und 
französischen,  war  bereits  zu  groß. 


1)  Die  spanische  Schauspieltruppe,  die  nach  dem  pyrenäischen  Frieden 
und  der  Heirat  Ludwigs  mit  Maria  Theresia  von  Spanien  im  Jahr  16G0  nach 
Paris  kam,  blieb  ungefähr  13  Jahre  daselbst.  Sie  führte  den  Titel:  „Comediens 
de  la  reine",  hatte  aber  wenig  Zuspruch.  S.  Eug.  Despois,  Le  theätre  francais  sous 
Louis  XIV.  (Paris  1874,  Hachette),  S.  71. 

Loret  sagt  in  seiner  Muse  historique: 

Pour  considerer  leur  maniere 

J'allai  voir  leur  piece  prämiere 

Donnant  k  leur  poitier  tout  franc 

La  somme  d'un  bei  ecu  blanc. 

Je  n'entendis  point  leurs  paroles; 


Leurs  sarabandes  et  leurs  pas 
Ont  de  la  grdce  et  des  appas; 
Gomme  nouveaux,  ils  divertissent. 
Et  leurs  castagnettes  ravissent. 


Das  Lob  ist  sehr  kühl. 


188 

Wir  können  den  Beginn  der  französischen  Kunstbühne  in  den 
ersten  Jahren  des  17.  Jahrhunderts  suchen,  damals,  als  sich  zwei  selb- 
ständige Schauspieltruppen  in  Paris  niederließen,  und  den  Italienern  nach- 
zueifern sich  bemühten.  Nun  wurde  mehrmals  in  der  Woche  gespielt; 
man  brauchte  Stücke,  welche  die  Leute  in  das  Theater  lockten,  welche 
die  Zuschauer  rühren  und  begeistern  oder  erheitern  konnten.  Das 
komische  Element  behielt  allerdings  noch  lange  das  Übergewicht,  aber 
die  Hauptsache  war,  daß  das  französische  Theater  nun  auch  Anforde- 
rungen au  seine  Dichter  stellte.  Das  große  Publikum,  das  sich  daselbst 
zusammenfand,  war  freilich  in  seiner  Masse  noch  völlig  naiv  und  hatte 
keine  ästhetischen  Bedürfnisse.  Die  Begebenheiten  selbst  interessierten 
die  Zuschauer,  aber  sie  fragten  nicht  danach,  ob  dieselben  in  kunst- 
gerechter Dichtung  vorgeführt  würden;  sie  wußten  nichts  von  wirkungs- 
voller Komposition,  von  Wahrheit  der  Charakteristik,  Schwung  der  Ge- 
danken, tragischer  Hoheit  der  Dichtung;  doch  waren  sie  mit  ganzer 
Seele  bei  den  Vorgängen,  die  sich  auf  der  Bühne  abspielten,  sie  be- 
wunderten die  Großthaten  der  Helden,  verabscheuten  die  Bösewichter, 
und  hatten  vor  allem  ihre  Freude  an  den  derben  Spaßen  ihrer  Lieblinge, 
der  Komiker.  Unter  solchen  Verhältnissen  hat  ein  Theater  noch  keinen 
Anspruch  auf  künstlerische  Bedeutung,  a^ber  wenn  die  Umstände  günstig 
sind ,  kann  es  sie  rasch  erlangen.  Es  findet  Dichter,  die  sich  ihm 
widmen,  es  stellt  ihnen  Aufgaben,  an  welchen  sich  die  Kräfte  aller 
üben,  und  so  in  steter  Berührung  mit  der  Öffentlichkeit,  gegenseitig 
einander  tragend  und  fördernd,  wachsen  die  Dichter,  die  Schauspieler 
und  mit  ihnen  das  Publikum  oft  in  überraschend  kurzer  Zeit  zur  Höhe 
eines  wahren  künstlerischen  Verständnisses.  In  solcher  Weise  hatte  sich 
die  nationale  Bühne  in  England  und  in  Spanien  entwickelt,  hatten  sich 
Shakespeare  und  Lope  de  Vega  erhoben.  Die  Dichter  hatten  dort,  unbe- 
engt von  den  willkürlichen  Gesetzen  eines  im  Streben  nach  Verfeinerung 
verirrten  Geschmacks,  ihre  Stütze  an  dem  großen  Publikum  gefunden. 
Das  Volk,  das  in  dem  englischen  und  spanischen  Theater  die  Haupt- 
stimme hatte,  besaß  noch  ein  unverdorbenes  Gefühl  und  gab  sich  willig 
dem  Eindruck  hin.  Der  Genius  des  Dichters  hatte  freie  Bahn. 

Die  Verhältnisse  in  Frankreich  waren  zu  der  Zeit,  von  der  wir 
handeln,  nicht  ungünstig  für  eine  ähnliche  Entfaltung.  Es  kam  nur 
darauf  an,  ob  sich  die  französische  Bühne  eine  gleich  freie  Entwicklung 
sichern  konnte,  ob  der  Geschmack  der  Nation,  der  so  entschieden  auf 
Ordnung  und  Regelmäßigkeit  drang  und  der  sich  mit  der  Zeit  jeden- 
falls geltend  machen  mußte,  geschmeidig  genug  war,  seine  Anforderungen 
mit  der  unerläßlichen  Freiheit  der  dramatischen  Bewegung  in  Einklang 
zu  bringen.   Das  war  der  Punkt,  um  den  es  sich  handelte. 

An  der  Spitze  der  neuen  Entwicklung  finden  wir  den  Dichter 
Alexandre  Hardy,  der  zunächst  den  richtigen  Weg  einschlug.  Er  war 
sich  zwar  des  Ziels,  auf  das  er  lossteuerte,  schwerlich  klar  bewußt,  aber 
seine  Arbeit  brach  die  Bahn  und  erleichterte  seinen  Nachfolgern  den  Weg. 

Bevor  wir  jedoch  die  weitere  Entwicklung  des  französischen  Dramas 
zu  schildern  unternehmen,    wird  es  zweckmäßig  sein,    die  äußeren  Ver- 


189 


hältnisse  der  französischen  Bühne  zu  jener  Zeit,  ihre  Einrichtung  und 
ihre  Mittel  zu  betrachten.  Erst  wenn  man  die  Umgebung  kennt,  in 
welcher  das  französische  Schauspiel  erwuchs,  kann  man  auch  seine  Ent- 
wicklung vollständig  verstehen. 

Zunächst  muß  man  von  den  Schauspielvorstellungen  am  Hof  und 
in  den  Schlössern  der  Großen  absehen.  Hier  entfaltete  man  in  der  Aus- 
schmückung des  Saals,  in  dem  Reichtum  der  Kostüme,  der  Mannigfaltig- 
keit der  Maschinerien  oft  eine  große  Pracht,  obschon  auch  bei  diesen 
Vorstellungen  gewisse  Traditionen,  wie  z.  B.  die  Einfachheit  der  Deko- 
rationen, gewahrt  blieben.  Die  Volksbühne,  das  öffentliche  Theater,  kannte 
solchen  Glanz  natürlich  nicht.  Noch  zu  Molieres  und  ßacines  Zeit  waren 
Ausstattung  und  Einrichtung  der  Theater  in  der  Hauptstadt  sehr  ein- 
fach. Und  wie  vollkommen  erschienen  diese,  wenn  man  an  den  primi- 
tiven Zustand  der  Bühne  siebzig  Jahre  zuvor  dachte! 

Der  Saal,  in  welchem  eine  Theatergesellschaft  ihre  Bühne  auf- 
schlug, brauchte  zu  Hardys  Zeit  nicht  groß  zu  sein,  da  die  Zahl  der 
Zuschauer  beschränkt  wai-.  Dem  entsprechend  war  auch  die  Bühne  schmal 
und  nötigte  schon  durch  ihre  geringe  Ausdehnung  zur  Einfachheit  der 
dramatischen  Komposition,  sowie  zur  Vermeidung  von  Massenauftritten. 
Wollte  man  trotzdem  ausnahmsweise  eine  Schar  Krieger  oder  eine  Volks- 
menge auf  der  Scene  haben,  so  half  man  sich  durch  ein  einfaches  Mittel, 
indem  man  sie  gemalt  zeigte.  In  dem  „Tod  des  Cyrus''  von  Rosidor 
ruft  im  vierten  Akt  die  Königin  Thomyris  ihre  Bewaffneten  zu  sich 
heran:  „A  moi,  soldats!^"  Und  der  Dichter  bemerkt  dazu  in  der  Ausgabe 
seines  Trauerspiels,  daß  auf  diesen  Ruf  ein  Vorhang  niedersinkt,  auf 
welchem  ein  Schlachtgetümmel  abgebildet  ist.^) 

Die  Scene  des  Theaters  im  Hotel  de  Bourgogne  hatte,  wie  es 
scheint,  nicht  mehr  als  15  Fuß  Breite.'-^)  Ein  Theatersaal  hatte  in  der 
Zeit  Hardys  gewöhnlich  nur  eine  Logen  reihe,  und  die  Beleuchtung  war 
überaus  einfach.  Ein  paar  Talglichter  im  Hintergrund  und  an  den  Seiten, 
erhellten  die  Bühne.  Um  zu  vermeiden,  daß  der  Schatten  das  Gesicht 
der  Schauspieler  verdunkle,  hatte  man  da,  wo  heute  der  Souffleurkasten 
sich  befindet,  zwei  horizontal  schwebende  Holzkreuze  angebracht,  deren 
jedes  vier  Kerzen  trug.  Diese  Kreuze  hingen  an  einem  Strick  und  waren 
beweglich.  Während  des  Spiels  waren  sie  in  die  Höhe  gezogen,  in  den 
Zwischenakten  aber  senkten  sie  sich,  damit  die  Diener  die  Lichter  putzen 
konnten.^) 

^)  „La  mort  de  Cyrus  ou  la  vengeance  de  Thomyris"  von  Rosidor  fällt 
in  das  Jahr  1662.  Vergl.  Fournier,  Le  theätre  franvais  au  XVI  et  au  XVII 
siecle.  2  Bde.  Paris,  Laplace  Sanchez  iV:  Cie.  II,  236.  £ug.  Despois,  S.  127.  — 
So  beschwerte  sich  auch  der  Abbe  d'Aubiguac  im  Jahi  1643,  daß  in  seiner  Tra- 
gödie „La  Pucelle  d'Orleans",  in  welcher  die  Jungfrau  im  Hintergrund  auf  dem 
Holzstoß,  von  einer  großen  Volksmenge  umringt,  erscheinen  soll,  man  nur  eine 
kunstlose  Malerei  aufgerollt  habe.  Vergl.  Fournier,  Chansons  de  Gaultier  Gar- 
guille.  Paris  1858,  Jannet,  S.  159. 

'-)  Jules  Bonnassies,  La  comedie  fran^aise.  Notice  historique  sur  les  an- 
ciens  batiments  n"^  14  de  la  rue  de  l'Ancieane  Comedie.  Paris  1868,  Aubry,  S.  10. 

2)  Perrault   schildert   diese  Einrichtungen   des   Hardy'schen  Theaters    in 


190 


Die  Dekorationen  bestanden  meist  aus  Teppichen,  mit  welchen  der 
Hintergrund  und  die  Seiten  drapiert  waren.  Erst  mit  der  Aufführung 
von  Mairets  „Sylvie"  (1621)  begann  man  auf  die  gemalten  Dekorationen 
mehr  Sorgfalt  zu  verwenden.  Scenische  Verwandlungen  waren  selten ; 
wenn  sie,  wie  besonders  im  Lustspiel,  nicht  zu  vermeiden  waren,  so 
wurde  einfach  ein  neuer  Hintergrund  herabgelassen.  Auch  die  Musiker 
hatten  einen  sehr  bescheidenen  Platz.  Lange  Zeit  waren  sie  in  einer 
engen  Seitenloge  untergebracht,  was  freilich  keine  Schwierigkeit  bot,  da 
das  ganze  Orchester  gewöhnlich  aus  zwei  Violinen  oder  einer  Flöte  und 
einer  Trommel  bestand.')  Nur  allmählich  wies  man  dem  musikalischen 
Element  eine  größere  Rolle  zu  und  verstärkte  die  Zahl  der  Musiker.  Da 
also  in  dem  damaligen  Theater  das  Orchester  wegfiel,  reichte  das  Par- 
terre, in  dem  die  Zuschauer  standen,  bis  zur  Scene.  Um  aber  jede  Kolli- 
sion der  Künstler  mit  den  „Gründlingen  im  Parterre"'  zu  verhüten,  schied 
ein  ziemlich  hohes  Gitter  die  Bühne  vom  Zuschauerraum  ab. 

Die  Vorstellungen  selbst  hatten  in  den  ISTachmittagsstunden  statt, 
nach  dem  Mittagsmahl,  das  nach  damaliger  Sitte  allgemein  um  zwölf 
Uhr  eingenommen  wurde.  Im  Jahr  1609  bestimmte  eine  königliche  Ver- 
ordnung, daß  die  Vorstellungen  im  Winter  des  Nachmittags  um  zwei 
Uhr  beginnen  und  spätestens  um  halb  fünf  Uhr  enden  sollten.  Später 
begann  man  um  drei  Uhr;  dann,  als  Ludwig  XIV.  fromm  wurde,  mit 
Eücksicht  auf  den  Nachmittagsgottesdienst  erst  um  fünf  Uhr.-)  Das 
Publikum  bestand  hauptsächlich  aus  vornehmen  jungen  Leuten,  welche, 
ohne  ernste  Beschäftigung,  im  Theater  einen  Zeitvertreib  suchten  oder 
im  besten  Fall  ein  oberflächliches  Interesse  an  der  Litteratur  hatten, 
aus  Studenten,  Schreibern,  jungen  Beamten,  sowie  aus  der  niederen  Klasse 
des  Volkes,  aus  Handwerkern  und  Arbeitern  aller  Art.  Frauen  kamen 
anfangs  gar  nicht,  später  nur  maskiert  in  das  Theater,  dessen  Besuch 
nicht  für  anständig  galt.^)  Die  Maske  hatte  indessen  nichts  Auffallendes, 
da  sich  die  Damenwelt   lange  auch  auf  der  Straße    nur  maskiert  zeigte. 


seinem  Buch:  „Parallele  des  anciens  et  des  modernes".  Paris  1682,  3.  Bd.  S.  191. 
El-  setzt  stolz  hinzu:  „...  et  maintenant  il  de  theätre  materiell  est  arrive  au 
plus  baut  point  de  perfection".  Noch  zu  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  wurde 
die  erste  Bühne  Frankreichs  durch  zwei  Kronleuchter  mit  je  zwölf  Kerzen  er- 
leuchtet, die  an  die  Stelle  der  Holzkreuze  getreten  waren.  Ein  Kupferstich  von 
Coypel  aus  dem  Jahr  1726  zeigt  uns  den  Saal  des  Theätre  fran^ais  in  dieser 
Arl.  V^ergl.  Mercure  de  France,  Juli  1726.  Despois,  S.  128. 

ij  Perrault  a.  a.  0. 

-)  In  unseren  Tagen  greift  man  zu  den  Nachmittagsvorstellungen,  wenig- 
stens an  Sonn-  und  Festtagen,  zurück.  Nur  besteht  der  Unterschied,  daß  die 
Maßregel  heute  einen  volkstümlichen  Charakter  trägt,  während  damals  die  Ein- 
richtung der  Nachmittagsvorstellungen  einen  mehr  aristokratischen  Anstrich 
hatte.  Kleine  Leute,  Bürger  und  Beamte  konnten  nur  schwer  einen  Nachmittag 
ihrem  Vergnügen  opfern.  Die  vornehme  Gesellschaft  aber  ging  oder  fuhr  nach 
der  Vorstellung  spazieren  und  traf  sich  dann  in  einem  Salon,  wo  man  über  die 
Aufführung  des  Nachmittags  seine  Meinungen  austauschte. 

3)  Eine  königliche  Verordnung  gebot,  die  Theater  eine  Stunde  vor  dem 
Beginn  der  Vorstellungen  zu  beleuchten,  weil  in  den  dunklen  Bäumen  zuviel 
Unfug  getrieben  wurde. 


191 


So  hatte  das  Parterre  unbedingt  die  Hauptstimme  und  sprach  das  end- 
giltige  Urteil.  Die  Lust  am  Theater  verbreitete  sich  rasch.  Bald  bildeten 
sich  größere  und  kleinere  Schauspielerbanden,  die  mit  ihren  Karren  das 
Land  durchzogen,  in  den  Wirtshäusern  der  Landstädtchen  auf  einer  leicht 
improvisierten  Bühne  spielten,  wol  auch  auf  die  Landsitze  des  vermögenden 
Adels  gerufen  wurden.  Einer  der  Schauspieler  hatte  das  Amt  des  Drama- 
turgen, der  die  Stücke  den  Verhältnissen  der  Gesellschaft  anpassen  mußte. 
In  dem  „Eoman  comique"  erzählt  Scarron,  wie  eine  große  Tragödie: 
„Herodes  und  Mariamne",  nur  von  drei  Schauspielern  aufgeführt  wurde, 
und  ein  alter  Komödiant  rühmt  sich,  daß  er  für  sich  allein  ein  ganzes 
Stück  gespielt  habe.')  Der  Stand  eines  Schauspielers  galt  noch  als  un- 
ehrlich; es  wurde  als  gottlos  betrachtet,  sich  auf  der  Bühne  zu  produ- 
zieren. Dieser  Grund  war  mit  die  Veranlassung,  daß  die  Schauspieler 
sich  falsche  Namen  beilegten  und  auf  der  Scene  eine  Maske  trugen.  Bei 
den  Frauenrollen,  die  von  Männern  dargestellt  wurden,  verstand  sich 
dies  auch  später  noch  von  selbst;  es  erklärt  dies  ihre  Zügellosigkeit  in 
Rede  und  Spiel.-) 

Die  Einnahme  wurde  jeden  Abend  nach  der  Vorstellung  unter  die 
Schauspieler  verteilt.  Auch  der  Dichter  hatte  Anspruch  auf  einen  Anteil, 
doch  nur  an  die  Gesellschaft,  für  welche  er  sein  Werk  geschrieben  hatte. 
War  dies  einmal  gedruckt,  so  galt  es  als  Gemeingut,  und  jede  Truppe 
konnte  es  ohne  irgend  welche  Vergütung  zur  Aufführung  bringen.  Auch  die 
Censur  bestand  kaum  für  das  Theater.  Heinrich  IV.  hatte  ihm  die  volle 
Freiheit  der  Meinungsäußerung  gewährt,  und  wenn  sie  unter  seinem  Nach- 
folger auch  beschränkt  wurde,  fühlte  sich  doch  das  Theater  nicht  beengt. 

Die  Dichter  scheuten  nicht  davor  zurück,  selbst  Ereignisse  ihrer 
Zeit  auf  die  Bühne  zu  bringen.  Antoine  de  Montchretien  verfaßte  im 
Jahr  1605  eine  .Maria  Stuart"  und  widmete  seine  Dichtung  sogar  dem 
Sohn  der  unglücklichen  Fürstin,  König  Jakob  von  England.  Maria  Stuart 
erscheint  darin  natürlich  als  Heldin,  aber  auch  ihre  Gegnerin  sollte 
geschont  werden,  und  Elisabeth  wird  als  eine  milde  Herrscherin  gezeichnet, 
welche  von  ihren  Bäten  gewissermaßen  genötigt  wird,  die  Hinrichtung 
zu  befehlen.  Der  Dichter  Claude  Billard  ging  noch  weiter.  Noch  bei 
Lebzeiten  Heinrichs  IV.  schrieb  er  ein  Schauspiel:  „Henry  le  Grand", 
worin  der  König  und  der  Dauphin  auftreten.    Der  letztere,    später  Lud- 


')  Scarron,  Le  roman  comique,  Kap.  2. 

-)  In  der  Darstellung  der  Frauenrollen  war  in  der  ersten  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts  im  Hotel  de  Bourgogne  "in  gewisser  Alizon  besonders  gerühmt. 
Corneille  war  der  erste,  der  in  seinen  Lustspielen  die  wichtigsten  Frauenrollen 
an  Schauspielerinnen  übergab.  Doch  schwand  der  Gebrauch,  Frauenrollen  durch 
junge  Männer  spielen  zu  lassen,  erst  gegen  das  Ende  des  Jahrhunderts  völlig. 
Noch  zu  MoUeres  Zeit  wurden  alte  und  lächerliche  Weiber  von  Männern  dar- 
gestellt, so  die  Gräfin  d'Escarbagnas  in  Molieres  Stück  dieses  Namens.  In  Mo- 
lieres  Truppe  hatte  der  Schauspieler  Hubert  diese  Rollen.  Er  starb  im  Jahr 
1700,  nachdem  er  kurz  zuvor  noch  die  Rolle  der  M^e  Jobin  in  den  „Devine- 
resses"  des  Thomas  Corneille  , kreiert"  hatte.  Mit  ihm  verschwand  der  letzte 
Schauspieler  dieser  Art,  und  alle  Frauenrollen  wurden  seitdem  von  Damen  dar- 
gestellt. Vergl.  Fournier,  II,  281. 


192 

wig  XIII.,  enthüllt  schon  als  Knabe  die  Größe  seines  Geistes  und  seines 
Mutes.  Im  zweiten  Akt  beschwert  er  sich  über  die  lästigen  Studien. 
„Einen  ganzen  Tag  herumzustreifen",  sagte  er,  ., ermüdet  mich  nicht. 
Doch  sobald  ich  ein  Buch  zur  Hand  nehme,  schmerzt  mich  der  Kopf. 
Weiß  ich  nicht  genug  für  den  ältesten  Sohn  eines  großen  Königs?" 
Er  meint,  seine  Vorfahren  hätten  auch  nichts  gewußt  und  seien  doch 
gute  Herrscher  gewesen.  Mehr  als  Philosophie  helfe  ein  guter  Helm, 
eine  Rüstung  und  ein  großes  Herz,  wie  es  sein  Erbteil  sei. ^)  Der  Dichter 
wollte  mit  diesen  Worten  dem  Dauphin  offenbar  ein  Lob  spenden ,  und 
als  solches  wurde  es  gewiß  auch  von  jenen  aufgenommen,  welche  immer 
etwas  wie  Schamgefühl  empfanden,  wenn  sie,  geborene  Edelleute,  statt 
zum  Schwert  zur  Feder  griffen.  Censur  hier  zu  üben,  schien  unnötig. 
Die  übergroße  Derbheit  der  Ausdrücke  verletzte  nicht,  und  eine  Censur 
der  Meinungen  war  unnötig.  Denn  politische  Lehren,  Ideen  über  Staat 
und  Kirche  und  was  sonst  noch  die  Unzufriedenheit  der  Machthaber 
hätte  wecken  können,  das  alles  lag  dem  Drama  jener  Zeit  sehr  fern. 
Die  Dichter  schienen  keine  Ahnung  davon  zu  haben,  daß  ein  Staat, 
eine  Gesellschaft  auch  andere  Formen,  andere  Gesetze  haben  könnte, 
oder  sie  sprachen  wenigstens  nicht  davon.  Das  Theater  lebte  noch  in 
der  naiven  Freude  an  den  Begebenheiten  und  hatte  keinerlei  politische 
Bedeutung,  im  Gegensatz  zu  dem  Theater  des  18.  Jahrhunderts,  das 
viel  weniger  poetische  als  philosophische  und  politische  Aufgaben  zu 
verfolgen  schien,  und  so  genügte  es.  der  Polizei  die  Oberaufsicht  über 
die  äußere  Ordnung  zu  überlassen. 

Die  Schauspielgesellschaft,  welche  das  Theater  des  Hotel  de  Bour- 
gogne  gemietet  hatte,  erwarb  in  den  ersten  Regierungsjahren  Ludwigs  XIII. 
die  Erlaubnis,  sich  ,.königliche  Schauspieltrappe"  („troupe  royale  des 
comediens")  nennen  zu  dürfen,  und  ermutigt  dadurch,  richtete  sie  schon 
1615  eine  Bittschrift  an  den  König,  er  möge  sie  in  den  definitiven 
Besitz  des  Theaters  setzen.  Die  naiven  Künstler  verlangten  nichts  an- 
deres, als  daß  der  König  die  alte  „Passionsbruderschaft"  ihrer  Habe 
beraube.^)  Ihr  Gesuch  wurde  abgewiesen,  aber  die  fernere  Benutzung 
des  Theaters  gegen  einen  kleinen  Mietzins  ihnen  zugesichert.  Unter  der 
glon-eichen  Regierung  Ludwigs  XIV.  war  man  weniger  ängstlich.  In 
der  Absicht.  Ordnung  in  das  verwickelte  Verhältnis  zu  bringen,  erklärte 
ein  königliches  Dekret  die  Besitzungen  der  Bruderschaft  für  eingezogen 
und  überließ  sie  dem  Pariser  Krankenhaus,  an  welches  die  Schauspieler 
seitdem  ihre  Abgahe  zu  entrichten  hatten. 


1)  Vergl.  Parfaict  IV,  S.  130. 

2)  Siehe  les  freres  Parfaict,  Histoire  du  theätre  fran^ais,  T.  III,  S.  258. 
Die  Begründung  des  Gesuchs  ist  für  die  Ansichten  der  Zeit  charakteristisch, 
und  zeigt,  mit  welchem  Hochmut  man  noch  auf  die  Handarbeit  herabsah.  Die 
Schauspieler,  die  doch  selbst  noch  in  dem  Bann  der  Gesellschaft  standen,  er- 
achteten sich  hoch  erhaben  über  die  Handwerker  der  „Bruderschaft",  welche  sie 
nicht  als  anständige  Bürger  anerkennen  wollten,  da  „leur  profession  les  oblige 
la  plupart  de  raendier  leur  vie  du  ministere  de  leur  main",  und  sie  erinnerten  au 
das  Altertum,  welches  auch  die  Handwerker  den  Sklaven  gleich  geachtet  hätte. 
Vergl.  Despois,  S.  3. 


193 

Das  Ansehen  des  „Hotel  de  Bourgogne"  stieg  indessen  rasch. 
Ludwig  XIII.  bewilligte  der  Gesellschaft  einen  jährlichen  Zuschuß  aus 
seiner  Kasse  und  hieß  sie  im  Jahr  1634  sechs  der  besten  Künstler  des 
Marais-Theaters  zu  sich  herübernehmen.')  Bei  alledem  erhob  sich  das 
Theater  des  Hotel  de  Bourgogne  in  den  ersten  Decennien  des  Jahr- 
hunderts wenig  über  das  Niveau  der  anderen  Bühnen.  Sie  spielten  zwar 
auch  Tragödien  und  Tragikomödien,  aber  doch  wurde  nach  dem  Vorbild 
der  Commedia  dell'  Arte  anfänglich  mehr  die  Posse  von  ihnen  gepflegt. 
Dem  Geschmack  des  Publikums  zu  entsprechen,  bot  eine  Vorstellung 
gewöhnlich  ein  sehr  mannigfaltiges  Programm.  Sie  begann  mit  einem 
dei-  Regel  nach  sehr  freien  Prolog;  dann  folgte  die  Aufführung  des 
Hauptstücks,  eines  Trauerspiels  oder  einer  Pastorale.  Auf  dieses  kam 
eine  ausgelassene  Posse,  oft  die  Parodie  des  gerade  zuvor  gegebenen 
Stücks,  und  den  Schluß  bildete  der  Vortrag  eines  lustigen,  leichtfertigen 
Liedes  — ■  eine  Gewohnheit,  die  sich  aus  den  Darstellungen  der  früheren 
Zeit  erhalten  hatte. 


Anfänge  eines  TOlkstümlichen  Dramas. 
Alexandre  Hardy. 

Die  französische  Bühne  stand  auf  dem  Punkt  der  Entwicklung, 
auf  dem  das  englische  Theater  angelangt  war,  als  James  Burbadge  mit 
seiner  Gesellschaft  das  Schauspielhaus  von  Blackfriars  eröffnete  (1576), 
und  Dichter  wie  Robert  Greene  und  George  Peele  mit  ihren  kräftigen, 
aber  noch  unförmlichen  Dramen  den  Aufschwung  der  englischen  Bühne 
einleiteten. 

Die  alten  Mysterien-  und  Moralitätenspiele,  echte  Volksschauspiele 
des  Mittelalters,  waren  verschwunden.  Gelehrte  Dichter  hatten  es  unter- 
nommen, das  Drama  der  Griechen  und  Römer  in  Frankreich  neu  auf- 
leben zu  lassen  und  unter  ihnen  hatte  sich  Robert  Garnier  durch  sein 
Talent  hervorgethan.  Aber  seine  Werke  und  noch  viel  mehr  die  seiner 
Zeitgenossen  und  Nachfolger,  der  Montchretien,  Du  Harael,  Heudon  und 
so  vieler  anderen  blieben  dem  Volke  fern.  Wie  hätte  das  anders  sein 
können,  da  sie,  von  fremdem  Geist  durchweht  und  in  fremdes  Gewand 
gehüllt,  sich  fast  ausschließlich  an  das  Publikum  der  gelehrten  Schulen 
wandten? 

Erst  wenn  das  Theater  in  lebendige  Berührung  mit  dem  Volk 
tritt,  wenn  es  ohne  Nebenrücksichten,  ohne  nach  dem  Ruf  der  Gelehr- 
samkeit zu  haschen,  seine  Aufgabe  darin  findet,  das  Volk,  das  große 
echte  Publikum,  durch  das  Bild  heroischen  Kampfes  und  tragischen 
Untergangs,  durch  die  Darstellung  der  menschlichen  Leidenschaften  zu 
erschüttern  oder  durch  die  Zeichnung  komischer  Verwicklungen,  sonder- 

1)  E.  Fournier,  Theätre  franfais  au  XVI  et  au  XVII  siecle,  p.  282  Dort 
ist  ein  Etat  de  gages  etc.  für  1641  mitgeteilt,  in  dem  die  königliche  Subvention 
mit  12000  Livres  verzeichnet  steht. 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratnr.  ^„ 


194 


barer  Charaktere  zu  erheitern,  erst  dann  betritt  es  die  Bahn,  welche  es 
zu  einer  volkstümlichen,  echt  nationalen  Schaubühne  führen  kann.  Es 
ist  dabei  nicht  nötig,  nationale  Stoffe  zu  behandeln;  die  Helden  der 
Dramen  mögen  einer  Zeit  oder  einem  Land  angehören,  welchem  sie 
wollen,  wenn  sie  nur  durch  die  Art,  wie  sie  der  Dichter  darstellt,  dem 
Volk  verständlich  werden. 

Diesen  wichtigen  Schritt  machte  die  französische  Bühne,  als  sich 
im  Hotel  de  Bourgogne  eine  Schauspielertruppe  niederließ  und  in  Alexandre 
Hardy  einen  Dichter  gewann,  der  es  Obernahm,  Stücke  zu  liefern,  welche 
das  große  Publikum  heranzuziehen  die  Kraft  hätten.  Die  Urteile  über 
Hardy  sind  bis  zum  heutigen  Tag  sehr  verschieden,  selbst  in  Frankreich ; 
während  die  einen  ihn  als  den  Begründer  des  modernen  französischen 
Theaters  ansehen,  erklären  ihn  andere  als  einen  unbedeutenden  Schreiber, 
einen  Fabrikanten  wertloser  Dramen.^)  Vielleicht  ergiebt  sich  das  richtige 
Urteil  aus  einer    unbefangenen  Würdigung  der  Verhältnisse. 

Alexandre  Hardy  war  zu  Paris  um  das  Jahr  1560  geboren.  Von 
seinen  Lebensschicksalen  wird  uns  sehr  wenig  berichtet.  Man  weiß  nur, 
daß  er  aus  einer  armen  Familie  stammte,  aber  seine  Werke  beweisen 
wieder,  daß  er  trotzdem  eine  mehr  oder  weniger  gelehrte  Erziehung  er- 
halten hat.  Gegen  das  Ende  des  Jahrhunderts  soll  er  sich  einer  Schaii- 
spielertruppe  angeschlossen  und  mit  ihr  als  Dramaturg  das  Land  durch- 
zogen haben.  Von  seiner  poetischen  Thätigkeit  aus  dieser  Zeit  wissen 
wir  jedoch  nichts  mehr.  Ums  Jahr  1600  kam  er  nach  Paris,  wo  ihn 
das  Theater  in  „Marals"  in  seine  Dienste  nahm.  Seine  Aufgabe  bestand 
darin,  entweder  selbst  die  nötigen  Stücke  zu  schreiben  oder  fremde  für 
die  Aufführung  einzurichten.  Den  Ansprüchen  des  damaligen  Pariser 
Publikums  zu  genügen,  war  zwar  leicht,  insofern  es  sich  um  den  inneren 
dramatischen  Wert  einer  Dichtung  nicht  kümmerte:  aber  dafür  verlangte 
es  fortwährend  neue  Stücke,  sollte  es  in  seiner  Teilnahme  nicht  ermatten. 
Die  Arbeit  wurde  zudem  schlecht  bezahlt.  Der  Verfasser  eines  Schau- 
spiels galt  in  den  Kreisen  des  Publikums  noch  für  so  wenig,  daß  die 
Schauspieler  es  nicht  für  nötig  hielten,  in  den  Ankündigungen  der 
Stücke  die  Dichter  zu  nennen.  Sie  waren  Arbeiter  gleich  den  anderen 
und  Hardy  erhielt  von  seiner  Gesellschaft  für  jedes  Stück,  das  er  lieferte, 
nicht  mehr  als  die  Summe  von  zwei  oder  drei  Ecus  (sechs  oder  neun 
Livres),  und  einen  kleinen  Anteil  an  der  Einnahme.^)  Die  Not  zwang 
ihn,  fabriksmäßig  zu  produzieren;  so  lernte  er.  talentvoll  und  gewandt. 


1)  Zu  den  ersteren  gehört  u.  a.  Guizot.  S.  dessen  „Corneille  et  son  temps", 
S.  131  ff.;  zu  den  letzteren  Sainte-Beuve  in  s.  Tableau  S.  236  If. 

-)  Man  machte  Corneille  später  wol  gar  einen  Vorwurf  daraus,  daß  er 
nicht  unter  gleichen  Bedingungen  arbeite,  und  daß  er  das  „Geschäft"  ver- 
teuert habe.  Die  Schauspielerin  Mlle.  de  Beaupre  klagte  z.  B.:  „Mr.  Corneille 
nous  a  fait  un  grand  tort.  Xous  avious  ci-devant  des  pieces  de  theätre  pour 
trois  ecus  que  Ton  nous  faisoit  en  une  nuit;  on  y  etoit  accoütume  et  nous 
gagnions  beaucoup  d'argent.  Presentement  les  pieces  de  M.  Corneille  nous  coütent 
bien  de  l'argent  et  nous  gagnons  peu  de  chose".  Die  gute  alte  Zeit  auch  hier! 
Vergl.  Parfaiet  V,  S.  29. 


195 


■bald  gewisse  Kunstgriffe,  die  ihm  seine  Aufgabe  erleichterten.  Zwei  bis 
drei  Tage  genügten  ihm,  um  eine  fünfaktige  Tragödie  zu  schreiben. 
Wenn  er  eine  Woche  darauf  verwandte,  war  es  schon  viel.  That  es 
not,  so  brachte  er  ein  Drama  wo!  auch  in  einer  einzigen  Nacht  zu  stände. 
Und  dabei  waren  alle  seine  Stücke  in  Versen.  Theophile  de  Viau  rühmt 
darum  in  einem  Gedicht  Hardys  Leichtigkeit,  dreitausend  Verse  in  einem 
Zug  niederzuschreiben.^)  Es  fehlte  nur  noch  das  Horazische  „stans  pede 
in  uno". 

Hardy  trat  mit  seinen  Dichtungen  in  bewußten  Gegensatz  gegen 
das  gelehrte  Drama.  Schon  die  Rücksicht  auf  das  Publikum  nötigte  ihn 
dazu.  Mit  der  engumgrenzten  Bühne  der  Römer  konnte  er  nichts  leisten, 
er  brauchte  die  Beweglichkeit  der  mittelalterlichen  Spiele.  Wie  nahe  er 
diesen  stand,  zeigt  uns  sein  erstes  dramatisches  Werk :  „Theagenes  und 
Chariklea"  („Les  chastes  et  loyales  amours  de  Theagene  et  Cariclee"), 
das  er  dem  Griechischen  des  Heliodor  nachbildete  und,  den  acht  Büchern 
des  Romans  entsprechend,  in  acht  „Tage"  oder  „Theater"  einteilte.  Die 
Erfahrung  führte  ihn  indessen  bald  auf  den  richtigen  Weg,  und  lehrte 
ihn,  die  Einteilung  in  Akte  aufzunehmen.  Innerhalb  derselben  aber  er- 
laubte er  sich  die  größte  Freiheit.  Die  strengen  Regeln,  welche  die 
klassische  Tragödie  beherrschten,  galten  ihm  nicht;  Zeit  und  Raum 
kamen  bei  ihm  nicht  in  Betracht.  Das  romantische  Schauspiel  „Felimene" 
spielt  bald  in  Spanien,  bald  in  Deutschland;  in  einem  Stück:  „Gesippe 
ou  les  deux  amis",  wird  man  nach  Rom  und  von  da  nach  Athen  ge- 
führt; in  der  .,Alcestis"  spielt  der  erste  Akt  am  Hof  des  Eurystheus, 
die  folgenden  bei  Admet,  der  vierte  in  der  Unterwelt,  während  der 
letzte  wieder  in  den  Palast  Admets  versetzt.  Ebenso  verlegt  Hardy  in 
seiner  „Gigantomachie"  die  Scene  bald  in  den  Himmel,  bald  auf  die 
Erde.  Ähnliche  Freiheiten  gestattet  er  sich  mit  der  Zeitfolge.  Allerdings 
erlaubt  er  sich  diese  Sprünge  zumeist  in  den  Schauspielen  romantischer 
Art,  aber  auch  im  historischen  Trauerspiel,  das  er  einfacher,  geregelter, 
strenger  behandelt ;  indem  er  den  Schausplatz  auf  eine  bestimmte  Gegend 
zu  beschränken,  die  Zeit  enger  zu  begrenzen  bemüht  ist,  finden  wir  ihn 
Iceineswegs  frei  von  jenen  Willkürlichkeiten,  die  dem  Wesen  der  antiken 
Bühne  widerstreben. 

Freilich,  der  französische  Charakter  tritt  trotzdem  auch  bei  Hardy 
deutlich  zu  Tage ;  er  zieht  Klarheit  und  Übersichtlichkeit  dem  packenden, 
aber  vielleicht  verwirrenden  Eindruck  der  Massen  vor.  Schlachtscenen, 
Volksmengen,  die  in  den  Shakespeare'schen  Dichtungen  so  mächtig  zum 
Gesamteindruck  beitragen,  sind  bei  ihm  nicht  zu  finden.  Selbst  die 
große  Götterschlacht   in    dem   vierten  Akt   der  „Gigantomachie"    scheint 

1)  Abgedruckt  in  der  Ausgabe  von  Hardys  „Theatre",  Paris  1626,  Quesnel. 
Dasselbe  beginnt: 


Coütumier  de  courre  une  plaine, 

Qui  s'etend  par  tout  l'Univers, 

J'entens  ä  composer  des  vers 

Trois  milliers  tout  d'une  haleyne  .  .  etc. 


196 

mehr  in  einer  Keihe  von  Einzelkämpfen  dargestellt  worden  zu  sein.  Er 
bedient  sich  bereits  der  ..Boten"  und  „Vertrauten",  jener  frostigen  Ge- 
stalten der  späteren  klassischen  Tragödie.  Wenn  auch  bei  ihm  der 
Selbstmord  auf  der  Bühne  noch  gestattet  ist,  so  läßt  er  doch  die  Kata- 
strophe meistens  nur  von  Augenzeugen  erzählen.  Ja,  wir  sehen  bereits 
den  Alexandriner  als  das  Versmaß  der  Tragödie  angewandt,  und  ihr 
damit  ein  gewisser  Grad  von  Gemessenheit  nach  schärfer  aufgedrückt. 

Dreißig  Jahre  lang  arbeitete  Hardy  für  die  Bühne;  er  starb  erst 
im  Jahr  1630  oder  bald  nachher.  So  ist  es  denn  nicht  zu  verwundern, 
wenn  man  ihm  700 — 800  Stücke  zuschreibt,  etwa  25  im  Jahr.  Nur  Lopo 
de  Vega  konnte  sich  ähnlicher  Fruchtbarkeit  rühmen.  Hardy  selbst  spricht 
einmal  von  500  Stücken,  die  er  verfaßt  habe,  aber  das  war  noch  einige 
Jahre  vor  seinem  Tod.^)  Um  so  viel  leisten  zu  können,  benutzte  er, 
was  ihm  nur  immer  vorkam  und  was  sich  halbwegs  dramatisieren  ließ. 
Die  griechische  und  römische  Litteratur  mußte  ihm  helfen  so  gut,  wie 
die  Werke  der  Spanier  und  Italiener.  Er  bearbeitete  die  Sagen  und  die 
Geschichte  der  alten  Welt;  eine  kleine  Anekdote  in  einem  Historiker, 
eine  Novelle,  alles  bot  ihm  Stoff  zu  einem  neuen  Werk.  Dabei  ver- 
schmähte er  keine  Gattung  der  ernsten  dramatischen  Poesie.  Außer 
Tragödien  und  Tragikomödien  schrieb  er  noch  Pastoraltragikomödien  und 
einfache  Schäferschauspiele.  Nur  von  dem  heiteren  Spiel  scheint  er  sich 
ferngehalten  zu  haben.  Denn  eine  Tragikomödie  war,  nebenbei  bemerkt, 
kein  Stück,  in  welchem  sich  tragische  und  komische  Elemente  ver- 
mischten; der  Name  bezeichnete  viel  eher  das  „Schauspiel"  im  Gegen- 
satz zum  Trauerspiel.  Doch  trifft  auch  diese  Erklärung  nicht  ganz  zu, 
da  manche  Tragikomödie  tragisch  endet.  Die  Grenze  zwischen  beiden 
war  offenbar  nicht  scharf  gezogen.  Das  eigentliche  Lustspiel  aber  kannte 
man  damals  nicht;  man  hatte  nur  scharf  geschieden  die  Tragödie  oder 
Tragikomödie  auf  der  einen  und  die  Posse  auf  der  andern  Seite.  Das 
Lustspiel  erhebt  sich  immer  erst  dann,  wenn  die  dramatische  Kunst  zu 
einer  höheren  Stufe  der  Entwicklung  aufgestiegen  ist.  Mit  besonderer 
Vorliebe  folgte  Hardy  den  Spaniern,  deren  „Degen-  und  Mantelstücke" 
vielfach  von  ihm  bearbeitet  wurden.  Auch  die  Erzählungen  des  Cer- 
vantes gaben  ihm  den  Stoff  zu  einigen  Stücken  (z.  B.  Cornelie  1609; 
la  belle  Egyptienne  1615).  Selbst  deutsche  Erzählungen  benutzte  er,  so 
die  Legende  vom  Grafen  von  Gleichen,  die  er  als  Tragikomödie  unter 
dem  Titel:   „Elmire  ou  l'heureuse  bigamie"    1615  dramatisierte. 

Hardy  war  kein  Übersetzer,  wie  Larivey;  er  bearbeitete  seine  Vor- 
bilder oder  schrieb  Originalstücke.  Deshalb  darf  man  bei  ihm  aber  noch 
keine  dramatische  Komposition,  keine  psychologische  Entwicklung,  auch 
keinen  kunstreichen  Stil  suchen.  Er  wußte  seine  Stücke  nicht  so  aufzu- 
bauen, daß  sich  das  Interesse  konzentrierte ;  er  hatte  keine  Ahnung  von 
dramatischer  Verwicklung  und  Steigerung,  von  der  Peripetie  und  der 
versöhnenden  Lösung.  Er  nahm  die  Geschichte,  die  er  bearbeiten  wollte, 
und  folgte  ihr  Punkt  für  Punkt. 


1)  S.  Hardys  Vorrede  zum  1.  Band  seiner  Tragödien.  Parfaict  IV,  S.  13. 


197 

In  der  Tragödie  „Panthee"  z.  B.  (1604),  deren  Fabel  er  Xenophon 
entlehnte/)  wird  im  ersten  Akt  Panthea,  die  gefangene  Gemahlin  des 
assyrischen  Helden  Abradatas,  vor  den  siegreichen  Cyrus  gebracht,  und 
dieser  begegnet  ihr  voll  Achtung  und  verspricht  ihr  völlige  Sicherheit. 
Er  übergiebt  sie  der  Obhut  seines  Vertrauten  Araspas.  Der  zweite  Akt 
zeigt  uns  diesen  von  wilder  Leidenschaft  hingerissen,  wie  er  um  Pantheas 
Liebe  wirbt  und,  da  sie  ihm  widersteht,  mit  Gewalt  droht.  Im  folgenden 
Aufzug  bringt  eine  alte  Dienerin  Pantheens  Klage  vor  König  Cyrus, 
der  nur  aus  besonderer  Rücksicht  Araspas  begnadigt,  dann  aber  Panthea 
ohne  Lösegeld  freiläßt.  Hingerissen  von  solcher  Großmut,  veranlaßt  diese 
ihren  Gemahl,  in  persische  Dienste  zu  treten,  da  das  Schicksal  Assyriens 
doch  entschieden  ist.  In  der  nächsten  Schlacht  aber  fällt  Abradatas,  in- 
dem er  das  persische  Heer  zum  Sieg  gegen  die  Lyder  führt,  und  der 
letzte  Akt  bringt  die  Leichenfeierlichkeit,  bei  welcher  sich  Panthea,  die 
an  ihres  Gatten  Tod  schuld  zu  sein  glaubt,  nach  rührendem  Abschied 
vom  Leben  selbst  den  Tod  giebt.  „Panthee"  gehört  noch  zu  den  best- 
komponierten Stücken  Hardys,  die  meisten  sind  weit  einfacher.  So  sein 
„Meleager"  (1604),  in  dessen  erstem  Akt  der  Held  nur  die  Klagen 
seines  Volkes  über  die  Verwüstungen  des  Riesenebers  anhört,  den  die 
erzürnte  Diana  gesendet  hat,  und  zu  dessen  Bekämpfung  er  ausziehen 
will.  Im  zweiten  erklärte  sich  die  kühne  Jägerin,  die  jungfräuliche 
Atalanta,  ebenfalls  bereit,  das  Untier  zu  jagen  und  auch  Theseus  mit 
seinen  Freunden  kommt  zu  Hilfe.  Im  dritten  Akt  hören  wir  durch  den 
Bericht  eines  Boten,  daß  Atalanta  den  Eber  zuerst  verwundet  und 
Meleager  ihn  dann  getötet  hat.  Atalanta  wird  darauf  feierlich  als 
Siegerin  verkündet  und  der  ausgesetzte  Preis  ihr  übergeben.  Darob  er- 
grimmen die  Oheime  des  Königs,  sie  entreißen  der  Jungfrau  den  Preis 
und  bedrohen  sie.  Meleager  aber  läßt  sie  zur  Strafe  töten  und  reicht 
Atalanten  seine  Hand.  Der  Schlußakt  zeigt  uns  dann  plötzlich  Althea, 
die  Mutter  Meleagers,  die,  über  den  Mord  ihrer  Brüder  erbittert,  das 
Holz,  an  dessen  Erhaltung  der  Sage  nach  Meleagers  Leben  geknüpft  ist, 
ergreift  und  in  die  Flamme  wirft.  In  den  Armen  seiner  Geliebten  stirbt 
darauf  der  König,  von  unsäglichem  inneren  Weh  gefoltert. 

In  dem  „Raub  der  Ariadne"  (Ariadne  ravie  1606)  schildert  Hardy 
vier  Akte  hindurch  das  verräterische  Benehmen  des  Theseus  und  die 
Liebe  Ariadnes.  Der  ganze  vierte  Aufzug  ist  ein  einziger  Monolog 
Ariadnes,  in  welchem  sie  überlegt,  welche  Todesart  sie  wählen  soll. 
Weder  Strick,  noch  Gift,  noch  Dolch  erscheinen  ihr  passend,  und  so 
beschließt  sie  endlich,  sich  ins  Meer  zu  stürzen.  Zum  Glück  erscheint  im 
letzten  Akt  Bacchus,  der  die  Verlassene  zu  seiner  Gemahlin  erwählt  und 
alles  zum  Guten  wendet. 

In  der  „Alceste"  (1606)  führt  uns  Hardy  mit  dem  riesigen  Her- 
kules sogar  in  die  Unterwelt,  und  zeigt  uns  den  Beherrscher  der  Ab- 
geschiedenen in  einer  keineswegs  hoheitsvollen  Erscheinung.  Um  den 
Höllenhund  Cerberus  an  die  Oberwelt  zu  bringen,  und  zugleich  die  Gattin 


1)  Cyropaedie,  6.  u.  7.  Buch. 


198 


des  Admet,  die  treue  Alcestis,  dem  Tod  zn  entreißen,  steigt  Herliules  in 
das  Reich  der  Schatten,  und  die  erschreckte  Parze  Atropos  eilt,  ihrem 
Gebieter  Pluto  die  Bändigung  des  Cerberus  anzukündigen.  VWährend  Pluto 
mit  Ehadamantus  überlegt,  was  zu  thun,  kommt  der  greise  Charon  in. 
Eile,  um  einen  Friedensvorschlag  des  Herkules  zu  überbringen.  Pluto 
soll  Alcestis  und  den  gefangenen  Theseus  freigeben,  und  gestatten,-  daß 
Herkules  den  Höllenhund  auf  kurze  Zeit  mit  sich  nehme.  In  diesem 
Fall  verspricht  er,  sich  ohne  jede  weitere  Gewaltthat  zurückzuziehen.  Pluto 
benimmt  sich  wie  ein  geängsteter  Despot  und  hört  gern  auf  den  Rat 
des  Rhadamantus ,  der  Milde  anempfiehlt ,  zumal  da  sich  unter  den 
Schatten  eine  bedeutende  Gährung  zeigt  und  ein  Aufstand  droht.  Pinto 
findet,  daß  Rhadamantus  Recht  hat,  und  daß  der  Klügere  nachgiebt. 
Demgemäß  erteilt  er  Charon  seine  Befehle,  jedoch  mit  dem  staatskliigen 
Auftrag,  sich  bei  der  Auslieferung  der  Alcestis  und  des  Theseus  den 
Anschein  zu  geben,  als  sei  hier  nur  ein  Austausch  von  Gefangenen  ver- 
abredet. So  wahrt  der  König  der  Unterwelt  seine  Würde/)  Der  ganze 
Akt  ist  durch  den  Ton,  der  darin  herrscht,  merkwürdig.  Wir  würden 
ihn  heute,  ohne  ein  Wort  zu  ändern,  als  Parodie  aufführen  können, 
aber  Hardy  sprach  in  vollem  Ernst. 

All  diese  Stücke  schließen  ohne  jede  tragische  Sühne.  Ein  auf- 
fallendes Beispiel  dafür  bietet  „Scedase,  ou  l'hospitalite  viole"  (1604), 
ein  Trauerspiel,  dessen  Stotf  dem  Leben  des  Pelopidas  von  Plutarch  ent- 
nommen ist.  Zwei  edle  Mädchen,  Töchter  des  Scedase  in  Leuktra,  werden 
in  Abwesenheit  des  Vaters  von  zwei  jungen  Leuten,  die  arglos  als  Gast- 
freunde  aufgenommen  wurden,  überwältigt  und  dann  getötet.  Die 
Mörder  überfallen  ihre  Opfer  auf  der  Bühne,  schleppen  sie  hinter  die 
Scene,  und  das  Publikum  hört  noch  eine  Weile  das  Jammergeschrei  der 
Mädchen.  Der  unglückliche  Vater  findet  bei  der  Heimkunft  die  Leichen 
seiner  Töchter  und  bringt  seine  Klage  vor  den  König.  Dieser  weist  ihn 
wegen  mangelnden  Beweises  ab  und  Scedase  tötet  sich  selbst.  An  seiner 
Leiche  hören  wir  zum  Schluß  die  Lehre,  daß  der  Mensch  wohl  daran 
thut,  seinen  Leiden  durch  Selbstmord  ein  Ende  zu  machen.^)  Und 
„Scedase"  war  ein  Stück,  das  gerühmt  wurde.  In  seinem  schon  oben  er- 
wähnten Gedicht   erhebt  Theophile    diese    Tragödie   als    ein  Meisterwerk, 


1)  AIceste,  IV,  sc.  1.  Am  Schluß: 

Charon,  va  luy  mener  ceste  ombre  demandee, 
Mais  fein  que  je  ne  Tay  qu'en  echange  aecordee 
Du  chien  qu'il  nous  detient;  si  tu  le  retirois, 
Et  ma  perte  et  mon  los  recouvrez  je  dirois. 

-)  Siehe  „Scedase",    am  Schluß   der  einzigen  Scene,    welche   den  V.  Akt 
bildet.  Dort  sagt  Evandre: 

Veuf,  Sans  aucun  soulas,  en  l'arriere  saison, 

L'ame  n'a  que  bien  fait  de  rompre  sa  prison, 

Depuis  que  le  malheur  etouffe  l'esperance, 

L'homme  doit  courageux  se  tirer  de  souffrance 

L'homme  doit  courageux,  malgre  l'inique  sort, 

Ce  qu'il  ne  peut  ici,  le  trouver  chez  la  mort  .  .  .  u.  s.  w. 


199 

das  alles  übertreffe.^)  Wie  beliebt  überhaupt  Hardy  bei  seinem  Publikum 
war,  geht  schon  aus  der  Zahl  seiner  Dramen  hervor.  Die  Schauspieler 
des  Marais  hätten  ihn  nicht  so  beschäftigt,  wenn  er  nicht  den  Geschmack 
der  Zuschauer  getroffen  hätte.  Da  er  seine  Dichtungen  anfangs  nur  zur 
Aufführung,  aber  nicht  zum  Druck  gab,  wußten  sich  die  Buchhändler 
auf  Umwegen  in  den  Besitz  mancher  Manuskripte  zu  setzen  und  ver- 
öffentlichten so  die  beliebtesten  Dramen  gegen  seinen  Willen.  Darum 
entschloß  er  sich  in  seinen  letzten  Jahren,  selbst  eine  Ausgabe  der- 
jenigen Stücke  zu  besorgen,  die  ihm  am  meisten  gelungen  schienen.  So 
veröffentlichte  er  eine  Sammlung  von  41  Tragödien,  Tragikomödien  und 
Pastoralen.^)  Er  widmete  sie  dem  Herzog  von  Montmorency,  und 
sagte  in  der  Zueignung,  er  verschmähe  den  Witz,  die  Spitzfindigkeit 
und  den  Bombast ;  er  sei  bestrebt,  seinen  Dichtungen  jene  männliche 
Ki-aft  zu  geben,  welche  der  tragische  Vers  verlange.  Mit  diesen  Worten 
meisterte  er  unter  seinen  Eivalen  jene,  die  den  Marinismus  auch  in  das 
Drama  verpflanzten  und  mit  Verachtung  auf  seine  Manier  als  eine  ver- 
altete und  rohe  herabsahen. 

Hardy  hatte  das  Bewußtsein  seiner  Kraft  und  seiner  Verdienste 
um  die  französische  Bühne.  In  einem  Schreiben  an  seinen  Gönner,  den 
Parhimentsrat  Payen  des  Landes,  sagt  er,  die  Welt  wisse  zu  beurteilen, 
was  er  dem  französischen  Theater  genützt.  Er  besitze  nicht  die  Eitel- 
keit, zu  behaupten,  daß  seinen  500  Stücken  gleicher  Wert  innewohne. 
Das  dulde  die  menschliche  Natur  nicht,  und  sei  zumal  ihm  unmöglich 
gewesen,  ihm,  dem  die  Armut  mit  ihren  Ketten  den  Geist  gefesselt  und 
am  Aufschwung  zum  Himmel  gehemmt  habe.  Allein  es  genüge,  wenn 
unter  der  unglaublichen  Anzahl  von  Stücken  das  Gute  überwiege. 

Das  Selbstgefühl,  mit  welchem  Hardy  sich  hier  äußert,  war  nicht 
ungerechtfertigt.  Wenn  er  in  seinem  Alter  zurücksah  auf  die  Verhält- 
nisse, in  denen  er  die  französische  Bühne  gefunden  hatte,  und  sie  mit 
dem  Stande  verglich,  zu  welchem  das  Theater  sich  im  Lauf  einiger 
Jahrzehnte  aufgeschwungen  hatte,  mußte  ihn  ein  freudiges  Gefühl  der 
Befriedigung  erfüllen.  Denn  er  konnte  sich  sagen,  daß  ihm  ein  Haupt- 
verdienst an  dieser  raschen  Entwicklung  gebühre.  Er  hatte  dem  franzö- 


1)  Theophile  au  sieur  Hardy,  str.  5: 

J'ayme  Renaut,  et  Theagene, 
J'en  ayme  encor  un  milion, 
Mais  plus  qu'un  livre  d'Ilion, 
Scedase  mort  dessus  ta  scene. 

2)  In  6  Bänden,  von  1623  bis  1628  bei  verschiedenen  Verlegern.  Der 
1.  1623,  der  2.  1624,  der  3.  und  4.  1625,  alle  vier  bei  Quesnel  zu  Paris.  Der 
5.  erschien  in  Rouen  1626  bei  Du  Petitval  und  der  6.  wieder  in  Paris  bei  Targa 
1628.  Ungeachtet  all  unserer  Bemühungen  ist  es  uns  hier  in  Wien  nicht  ge- 
lungen, mehr  als  den  2.  Band  dieser  Sammlung  aufzutreiben.  Darin  steht  vor 
den  Dramen  eine  Reihe  Gedichte  zu  Ehren  Hardys,  unter  anderen  von  Theo- 
phile, der  den  Dichter  den  „französischen  Apollo"  nennt,  und  von  Tristan,  der 
ihn  preist  als 

Un  grand  ocean  de  poesie 
Parmi  ces  murmurants  ruisseaux. 


200 


sischen  Drama  die  nötige  Beweglichkeit  gegeben  und  es  von  den  Fesseln 
der  gelehrten  Dichtnng  befreit.  Er  verstand  es  einerseits,  dem  Geschmack 
seiner  Landsleute  Rechnung  zu  tragen  und  anderseits  gewisse  Grenzen 
der  Verständigkeit  nicht  zu  überschreiten.  Seine  Dichtungen  waren  noch 
steif  und  ungelenk,  sie  waren  ohne  Sorgfalt  aufs  Papier  geworfen,  ihre 
Sprache  w^ar  rauh  und  und  nachlässig,  dennoch  barg  sich  in  ihnen 
bereits  der  Keim  der  künftigen  klassischen  Tragödie  in  ihrer  Größe  und 
mit  ihren  Schwächen.  Zudem  hatte  Hardy  zwei  Eigenschaften  bewahrt, 
die  ihn  vor  den  mattherzigen  Poeten  seiner  Zeit  auszeichneten ;  er  besaß 
Kraft  und  Natürlichkeit.  Nicht  ohne  poetische  Empfindung,  nahm  er 
seine  oft  treffenden  Bilder  aus  dem  Leben  der  Natur.  Ohne  in  Schwulst 
zu  verfallen,  erhob  er  sich  manchmal  zu  einem  kräftigen  Pathos  und 
erging  sich  gerne  in  Sentenzen  und  Weisheitsregeln.  Solche  allgemein 
giltigen  Sprüche  waren  schon  bei  den  früheren  Dramendichtern  beliebt 
und  wurden  durch  den  Druck  hervorgehoben,  da  sie  für  eine  Haupt- 
zierde der  Tragödie  galten.  Jedenfalls  .war  Hardy  eine  scharf  ausgeprägte 
Persönlichkeit  und  der  originellste  dramatische  Dichter  Frankreichs  vor 
Corneille.  Er  fesselte  sein  Publikum,  stellte  den  Künstlern  neue  und  an- 
ziehende Aufgaben,  und  weckte  das  Interesse  für  die  dramatische  Kunst 
auch  in  den  weiteren  Kreisen  des  Volkes,  das  bis  dahin  der  Litteratur 
ganz  fremd  gegenüber  gestanden  hatte.  Schon  um  deswillen  müßten  wir 
seiner  Thätigkeit  mit  Anerkennung  gedenken. 

Hardy  zog  keine  Schule  heran.  Dazu  war  er  selbst  zu  wenig 
systematischen  Geistes.  Aber  vielen  der  jüngeren  Dichter  diente  er 
zum  Vorbild,  indem  er  sie  zum  Schaffen  anregte.  Einer  derselben,  Jean 
Rotrou,  der  später  sogar  neben  Corneille  einen  ehrenvollen  Platz  be- 
hauptete, stand  ihm  in  Erfindung  und  Darstellung  gerade  in  seinen 
ersten  Versuchen  besonders  nahe.  Diese  Erstlingsarbeiten  sind  ganz  so 
willkürlich  komponiert,  wie  die  Stücke  Hardys.  Auf  Kosten  der  Charakter- 
schilderung legen  sie  das  Hauptgewicht  auf  die  Begebenheiten,  und 
suchen  durch  allerlei  Verwicklungen,  Verkleidungen,  Entführungen,  Zwei- 
kämpfe zu  interessieren.^)  Selbst  der  streitlustige  Scudery  erkannte  Hardys 
Verdienst  an  und  nannte  sich  seinen  Schüler ;  auch  Corneille  bekannte, 
daß  er  kein  anderes  Vorbild  als  Hardy  und  keinen  andern  Lehrer  als 
seinen  eigenen  natürlichen  Verstand  gehabt  habe.'^)  Sicher  boten  Hardys 
ungeregelte,  kräftige  Stücke  einem  jugendlichen  Dichter  mehr  Halt  und 
mehr  Förderung  als  jene  gezierten  Dramendichtungen,  die  sich  in  offenen 
Gegensatz  zu  ihm  stellten. 

Wenn  auch  eine  Zeit  lang  unbestritten,  mußte  Hardys  Ruhm  doch 
nach  kurzer  Dauer  erbleichen.  Gerade  der  rasche  Aufschwung  des  Theaters, 
zu  dem  er  mehr  als  jeder  andere  beigetragen  hatte,  ließ  sein  Verdienst 

*)  Über  Eotrou  wird  im  2.  Band  ausführlicher  gesprochen  werden. 

2)  Siehe  Corneille,  Examen  de  „Melite":  „Elle  fut  mon  coup  d'essai  et 
eile  u'a  garde  d'etre  dans  les  regles,  puisque  je  ue  savais  pas  alors  qu'il  y  en 
eüt.  Je  n'avais  pour  guide  qu'un  peu  de  sens  commun,  avec  les  exemples  de  feu 
Hardv  .    .    .• 


201 


bald  vergessen.  Er  vermochte  der  Entwicklung  der  dramatischen  Dichtung 
in  seinen  letzten  Jahren  nicht  mehr  zu  folgen.  Bald  gab  es  viele,  die 
ihn  für  veraltet  erklärten.  Er  überlebte  seinen  Ruhm  und  sah  mit  Bitter- 
keit am  Abend  seines  Lebens,  wie  sich  das  Publikum  mehr  und  mehr 
von  ihm  abwandte,  und  die  Werke  einer  jüngeren  und  verfeinerten 
Dichterschule  seinen  Stücken  vorzog.  Für  „Melite",  das  erste  Lustspiel 
Corneilles,  das  mit  großem  Beifall  aufgenommen  wurde  (1629),  soll  er 
nur  eine  verächtlich  mitleidige  Äußerung  gehabt  haben.')  Doch  darf  man 
solche  pikante  Geschichtchen  nicht  gleich  für  wahr  halten.  Die  franzö- 
sische Litteraturgeschichte  ist  reich  an  derlei  Traditionen,  die,  ohne 
historisch  richtig  zu  sein,  doch  manch  Körnlein  Wahrheit  enthalten.  So 
mag  man  auch  Hardy  das  angeführte  Wort  zugeschrieben  haben,  um 
die  Stellung  zu  kennzeichnen,  welche  er  seinen  jungen  Nebenbuhlern 
gegenüber  einnahm,  und,  so  aufgefaßt,  haben  auch  die  Legenden  ihre 
Berechtigung  in  der  Geschichte. 


Yordriiigen  des  Mariuisuius  auf  dem  Theater, 


Die  vornehme  Welt  ließ  das  Theater  eine  Zeit  lang  ziemlich  un- 
beachtet. Eine  Arbeit  für  das  große,  ungebildete  Publikum,  das  sich  in 
den  öffentlichen  Schauspielhäusern  drängte,  schien  den  höfischen  Dichtern 
nicht  anständig  oder  nicht  der  Mühe  wert.  Am  Hof  und  in  den  Palästen 
des  hohen  Adels  hielt  man  sich  bei  festlichen  Gelegenheiten  an  die 
gelehrten  Nachbildungen  des  antiken  Dramas,  oder  man  ergötzte  sich 
an  kleinen  Balletten,  symbolischen  Scenen  und  Tänzen,  die  von  den 
Mitgliedern  der  hohen  Gesellschaft  aufgeführt  wurden.  Ein  Besuch  der 
öfientlichen  Theater  war  für  die  gebildeten  Kreise  damals  nicht  gut 
möglich.  Die  Verhältnisse  änderten  sich  jedoch  schnell.  Bald  durfte,  wie 
schon  früher  in  Italien,  auch  in  Frankreich  kein  Fest  ohne  theatralische 
Aufführung  bleiben,  und  die  Großen  suchten  in  der  Pracht  der  von 
ihnen  gebotenen  scenischen  Spiele  miteinander  zu  wetteifern.  Die  Stücke 
genügten  bald  nicht  mehr,  und  die  vornehmeren  Dichter,  die  Gefährten 
und  Leibpoeten  der  einflußreichen  Herren,  fanden  hier  eine  neue  Aufgabe. 
Es  galt,  das  französische  Drama  hoffähig  zu  machen,  es  aus  seiner 
Rauheit  zu  ziehen  und  mit  dem  Geist  zu  erfüllen,  der  auf  den  anderen 
Gebieten  der  Litteratur  herrschte  und  dem  Geschmack  jener  Kreise  so 
sehr  entsprach.  So  drang  mit  der  größeren  Reinheit  der  Sprache,  mit 
dem  Streben  nach  Feinheit  auch  der  Ungeschmack,  die  Sucht  nach 
Pointen,  das  Haschen  nach  schöner  Rede  in  die  dramatische  Poesie  ein. 
Überladung  und  falsche  Sentimentalität  wurden  jetzt,  im  Gegensatz  zu 
Hardys  Dichtungen,  das  charakteristische  Zeichen  der  neuen  Schule. 
Wie  der  Marinismus  die  Lyrik  verdorben  hatte,  so  drohte  er  auch  jetzt 


^)  „Une  assez  jolie  farce",  siehe  Fontenelle  in  seinem  „Leben  Corneilles 


202 


sich  im  Drama  heimisch  zu  machen  und  eine  gesunde  Entwicklung  auf 
Jahre  hinaus  zu  vereiteln.  Eine  elegante,  schmachtende  Komödie  zu 
schreiben,  wurde  bald  ein  Mittel  der  Empfehlung,  der  sicherste  Weg  zur 
Gunst  eines  vornehmen  Herrn,  der  mit  dem  neuen  Poem  den  Glanz  eines 
Festes  erhöhen  konnte. 

Unter  den  lebensfrohen  Männern,  welche  der  jugendliche  Herzog 
Henri  von  Montmorency  damals  um  sich  versammelte,  hatte  auch  ein 
Dichter  aus  der  Guyenne,  Theophile  de  Viau,  seinen  Platz  gefunden. 
Seine  Aufgabe  war  es,  die  Verse  zu  den  Maskeraden  und  Balletten  zu 
verfassen,  welche  die  hohe  Gesellschaft  aufzuführen  beliebte.  Der  Gedanke 
lag  nahe,  Theophiles  Talent  auch  für  eine  größere  dramatische  Arbeit 
in  Anspruch  zu  nehmen. 

Mit  einer  solchen  sehen  wir  ihn  denn  auch  im  Jahr  1617  auf- 
treten. Sein  Drama  von  der  „tragischen  Liebe  des  Pyramus  und  der 
Thisbe",  welches  in  gewisser  Weise  Epoche  machte,  war  der  erste  Versuch, 
gegen  Hardys  Manier  sich  aufzulehnen.^)  Trotz  der  begeisterten  Verse, 
die  Theophile  dem  alternden  Meister  widmete,  stellte  er  sich  mit  „Pyramus 
und  Thisbe"  an  die  Spitze  der  Opposition.  Die  Tragödie  erntete  rau- 
schenden Beifall  und  bewahrte  lange  ihren  Ruf.  Das  entzückte  Publikum 
fand  in  ihr  eine  weiche,  süße  Sprache,  stärkere  Accente  der  Leidenschaft, 
als  es  bis  dahin  gewohnt  war,  ein  zierliches  Spiel  mit  Worten,  kurz 
alles,  was  damals  für  den  Inbegriff  der  Poesie  gehalten  wurde,  und  so 
sah  es  in  Theophiles  Dichtung  ein  unvergleichliches  Meisterwerk. 

Prüfen  wir  sie  heute,  so  finden  wir  in  ihr  den  Versuch  eines  An- 
fängers, dem  die  Anforderungen  der  Bühne  fremd  sind.  Mit  ermüdender 
Gleichförmigkeit  reiht  sich  Scene  an  Scene,  ohne  Verschlingung,  ohne 
eine  Idee  von  dramatischer  Komposition.  Der  alte  Praktiker  Hardy  er- 
weist sich  hier  ihm  überlegen,  wenigstens  in  seinen  besseren  Stücken. 
Theophile  behandelt  in  seiner  Tragödie  die  alte,  durch  Ovid  hinlänglich 
bekannte  Sage  der  beiden  Liebenden.  Es  ist  die  Geschichte  der  Mon- 
tecchi  und  Capuleti  in  der  antiken  Fassung.  Zwei  edle  Familien  leben 
seit  alter  Zeit  in  heftiger  Fehde  miteinander.  Trotzdem  haben  sich  die 
Herzen  ihrer  Kinder  gefunden.  Pyramus,  der  Sproß  des  einen  Geschlechts, 
liebt  Thisbe,  eine  Jungfrau  aus  dem  Haus  der  Feinde.  Jeder  offene 
Verkehr  ist  ihnen  unmöglich,  aber  die  Paläste  der  beiden  Familien  stehen 
Wand  an  Wand,  und  ein  Mauerspalt  erlaubt  den  Liebenden  ihre  Liebes- 
schwüre  auszutauschen.  Pyramus  ist  bescheidener  als  Eomeo,  vielleicht 
auch  weniger  feurig.  Er  begnügt  sich  mit  der  Unterhaltung  durch  den 
Spalt,  und  Theophiles  Stück  bietet  nichts,  was  an  die  reizende,  ewig 
schöne  Balkonscene  der  Shakespeare' sehen  Dichtung  nur  annähernd  er- 
innern könnte. 

Der  erste  Akt  beginnt  mit  einem  Monolog  Thisbes,  in  dem  sie 
ihr  Liebesleid,   „die  süße  Qual",  beklagt.  Sie  seufzt  nach  Pyramus,  den 


')  „Les  amours  tragiques  de  Pyrame  et  Thisbe".  Gedruckt  wurde  das 
Stück  erst  später.  Eine  andere  Tragödie,  „Pasiphae",  die  er  früher  verfaßt  haben 
soll,  wird  ihm  wol  nur  irrtümlich  zugesehrieben. 


203 


sie  „ihre  Seele"  nennt.  „Doch  nein",  unterbricht  sie  sich,  „die  Seele 
giebt  uns  das  Leben,  und  Du  giebst  mir  den  Tod.  Und  doch  ist  solcher 
Tod  ja  wahres  Leben  !"^)  Aus  dieser  Probe  ist  der  Geist  zu  ersehen, 
der  das  ganze  Stück  belebt.  Thisbe  äußert  schwere  Befürchtungen  über 
die  Zukunft,  doch  möchte  sie  von  ihrer  Liebe  nicht  geheilt  sein,  „denn 
eine  solche  Gesundheit  brächte  ihr  den  Tod".-)  In  ihren  Gedanken  wird 
sie  von  einer  alten  Duenna,  Bersiane,  unterbrochen.  Diese  ist  ihr  als 
Aufseherin  beigegeben,  und  versucht  vergebens,  den  Grund  von  Thisbes 
Melancholie  zu  erforschen.  Die  folgende  Scene  zeigt  uns  den  Vater  des 
Pyramus,  Narbal,  der  mit  Lidias,  einem  Freund  seines  Sohns,  hadert, 
weil  derselbe  des  Pyramus  Neigung  begünstige.  Nachdem  sich  die  beiden 
ausgesprochen,  verwandelt  sich  die  Scene  abermals.  Wie  vorher  Thisbe 
mit  ihrer  Duenna,  dann  Narbal  und  Lidias,  so  sehen  wir  nun  den 
König  und  seinen  Vertrauten  Syllar.  Der  König  gesteht  nun  seine  Liebe 
zu  Thisbe,  und  er  hofft  erhört  zu  werden,  wenn  nur  zuvor  Pyramus  aus 
dem  Weg  geräumt  wäre.  Er  fragt  Syllar,  ob  er  ihm  diesen  Dienst  er- 
weisen wolle,  und  entwickelt  dabei  die  weitgehendsten  Ansichten  über 
die  Freiheiten  und  Rechte  eines  Despoten.^)  Syllar  erklärt  sich  nacli 
kurzem  Bedenken  bereit,  den  Mord  zu  vollführen. 

Im  zweiten  Akt  trifft  die  Reihe  den  Pyramus,  sein  Herz  in  den 
Busen  eines  Vertrauten  auszuschütten,  worauf  er  sich  durch  den  Spalt 
in  der  Wand  mit  Thisbe  in  höchst  nüchterner  Weise  unterhält.  Es  ist 
schwer,  bei  solchen  Scenen  sich  der  Erinnerung  an  Shakespeares  „Romeo 
und  Julia"  zu  entschlagen,  und  ebenso  taucht  dem  Leser  nur  zu  leicht 
das  Bild  der  Handwerker  im  „ Sommernachtstraum "  auf,  welche  die 
„spaßhafte  Tragödie  vom  jungen  Pyramus  und  Thisbe,  seinem  Lieb" 
agieren.  Die  Scene  wechselt  abermals.  Syllar  überredet  seinen  Genossen 
Deuxis  zur  Teilnahme  am  Mordüberfall.  „Die  Götter  sind  die  Könige 
des  Himmels,  die  Könige  die  Götter  der  Erde",  also  müsse  man  ihnen 
gehorchen.  Deuxis  entschließt  sich  trotz  dieser  triftigen  Gründe  nur 
schwer,  Syllar  seinen  Arm  zu  leihen,  und  wird  auch  bei  dem  Überfall, 
der  alsbald  ausgeführt  wird,  von  Pyramus  tödlich  verwundet,  während 
Syllar  entflieht.  Bevor  Deuxis  verscheidet,  enthüllt  er  dem  entsetzten 
Pyramus  den  eigentlichen  Anstifter  der  That.  Und  nun  ist  für  diesen 
keine  Rettung  als  die  Flucht.  Die  Liebenden  beschließen  heimlich  zu 
entweichen,  und  verabredeten  sich,  in  der  folgenden  Nacht  am  Grabmal 
des  Ninus  zusammenzutreffen.  Die  Scene,  in  welcher  sie  den  Gedanken 
der  Flucht  fassen,  ist  die  einzige  Liebesscene  des  Stücks.  In    ihr   beteuert 


1)  Pyrame  et  Thisbe,  A.  I,  sc.  1,  v.  6-10: 

II  m'est  ici  permis  de  t'appeler  mon  arne; 
Mon  ame,  qu'ay-je  dit?  c'est  fort  mal  discourir, 
Car  l'ame  nous  fait  vivre  et  tu  me  fais  mourir. 
11  est  vray  que  la  mort  que  ton  amour  me  livre, 
Est  aussi  seulement  ce  que  j'appelle  vivre. 

2)  Pyrame  et  Thisbe,  I,  1.  38. 

3)  Pyrame  et  Thisbe,   I,  3.  28:    „La  justice  est  au-dessous   du  roy"  und 
I,  3.  42:  „Car  desplaire  ä  son  roy,  c'est  avoir  faict  un  crime". 


204 


Pyramus  seine  unwandelbare  Liebe,  die  ihn  eifersüchtig  macht  auf  alles, 
was  seine  Geliebte  berührt;  er  ist  eifersüchtig  auf  die  Luft,  die  sie 
atmet,  auf  die  Blumen,  die  unter  ihren  Füßen  sprossen,  auf  ihre  Augen, 
weil  sie  auf  ihren  Busen  niederblicken,  auf  ihre  Hände,  die  sie  be- 
rühren, ja  auf  ihren  Schatten,  der  ihr  zu  nahe  folgt.  Und  das  soll 
die  Sprache  der  Leidenschaft  sein !  ^)  Nachdem  noch  Thisbes  Mutter 
einen  schreckenden  Traum  erzählt  hat,  der  ihr  ein  nahes  Unheil  ver- 
kündet,^) werden  wir  an  das  Grabmal  des  Ninus  versetzt,  bei  dem  die 
Jungfrau  in  nächtlicher  Stunde  erscheint.  Ihr  Gebet,  das  sie  an  den 
Mond  und  an  die  Quelle  richtet,  ist  nicht  ohne  poetische  Stimmung, 
doch  wird  sie  bald  verwischt.  Während  Thisbe  ihres  Geliebten  harrt, 
sieht  sie  einen  grimmigen  Löwen  nahen,  und  entflieht  vor  ihm,  verliert 
jedoch  in  der  Eile  ihren  Schleier.  Darüber  fällt  der  Vorhang,  so  daß 
sich  der  Löwe  selbst  nicht  zu  zeigen  braucht.  Der  letzte  (fünfte)  Akt 
besteht  aus  zwei  großen  Monologen.  Pyramus  kommt  zum  Grabmal  des 
Ninus  und  findet  den  Schleier  seiner  Braut,  den  der  Löwe  mit  blutigem 
Maul  besudelt  hat.  Kein  Zweifel,  Thisbe  ist  dem  wilden  Tier  zur  Beute 
geworden  und  Pyramus  bricht  in  laute  Klagen  aus.  „Du  verdaust  bereits 
mein  Herz!"  ruft  er  jammernd  aus.  ,. Vollende  Dein  Mahl,  da  Du  mich 
doch  schon  halb  verzehrt  hast.  Das  wäre  grausamer,  aber  weniger  traurig. " 
Sein  Flehen  ist  umsonst.  Der  Löwe  kehrt  nicht  zurück.  Seitdem  er  Thisbe 
verschlungen,  meint  Pyramus,  ist  sein  Sinn  mild  geworden,  und  die 
Tierwelt,  Tiger,  Löwen,  Panther  und  Bären  mit  inbegriffen,  wird  hinfort 
nur  wahre  Engelsgeschöpfe  voll  Sanftmut  erzeugen.  Für  ihn  aber  ist 
jede  Hoffnung    auf  Glück   geschwunden  und   er  ersticht  sich.     Sterbend 


1)  Pyrame  et  Thisbe,  IV,  1,  v.  42  ff.: 

„Mais  je  me  sens  jaloux  de  tout  ce  qui  te  touche, 
„De  l'air  qui  si  souvent  entre  et  sort  par  ta  beuche; 
„Je  croy  qu'ä  ton  subject  le  soleil  fait  le  jour 
„Aveeques  des  flambeaux  et  d'euvie  et  d'amour. 
„Les  üeurs  que  sous  tes  pas  tous  les  chemins  produisent 
„Dans  l'honneur  qu'elles  ont  de  te  plaire,  me  nuisent. 
„Si  je  pouvois  complaire  ä  mon  jaioux  dessein, 
„J'empescherois  tes  yeux  de  regarder  ton  sein; 
„Ton  ombre  suit  ton  corps  de  trop  pres,  ce  me  semble, 
„Car  nous  deux  seulement  devons  aller  ensemble. 
„Bref,  un  sie  rare  object  m'est  si  doux  et  si  eher, 
„Que  ta  main  seulement  me  nuit  de  te  toucher." 

2)  Pyrame  et  Thisbe,  IV,  2,  v.  35  ff.: 

L'heure  oü  nos  Corps  charges  de  grossieres  vapeurs, 
Suscitent  en  nos  sens  des  mouvemens  trompeurs, 
Estoit  desjä  passee,  et  mon  cerveau  tranquile 
S'abbreuvoit  des  pavots  que  le  sommeil  distile, 
Sur  le  point  que  la  nuict  est  proche  de  finir 
Et  le  char  de  l'Aurore  est  encore  ä  venir  .    .    .  etc. 

Man  vergleiche  damit  die  berühmte  Stelle  in  Raciues  „Athalie"  (II,  5), 
wo  die  Königin  ihren  Traum  erzählt:  „C'etoit  pendant  l'horreur  d'une  profonde 
nuit"  etc. 


205 


ruft  er  die  freilich  tote  Tliisbe  an,  sie  mögo  in  die  Wunde  seines 
Herzens  blicken  und  erkennen,  wie  wahrhaft  sein  Schmerz  sei.') 

Kaum  ist  Pyramus  verschieden,  so  kehrt  Thisbe  zurück,  da  sie 
den  Löwen  ferne  weiß.  Sie  findet  die  Leiche  des  Geliebten  und  hebt 
nun  ihrerseits  zu  klagen  an.  „Selbst  dieser  Felsen  ist  vor  Schmerz  ge- 
borsten, um  Thränen  zu  vergießen.  Dieser  Bach  flieht  vor  mir,  weil  er 
meinen  Fehler  verabscheut,  ruhelos  irrt  er  dahin  und  seine  Ufer  sind 
kahl  geworden.  Aurora  hat  Thränen  vergossen,  statt  Tau  zu  spenden. 
Die  Bäume,  von  Verzweiflung  ergriffen,  haben  Blut  in  ihrem  Stamme 
gefunden,  der  Mond  ist  bleich  geworden  und  die  Erde  hat  Blut  geschwitzt !  "^ 
Auch  Thisbe  beschließt  zu  sterben.  Sie  sieht  den  „Dolch,  den  feigen, 
der  sich  mit  dem  Blut  seines  Herrn  befleckt  hat,  und  vor  Scham  darüber 
errötet'',  und  ihn  ergreifend,  bohrt  sie  sich  die  tödliche  Waffe  in  das 
Herz. 2)    Über  den  Leichen  der  beiden  Unglücklichen   fällt  der  Vorhang. 

Auch  in  dieser  Dichtung  konstatieren  wir  zunächst  die  Freiheit, 
mit  welcher  die  Scene  behandelt  ist.  Theophile  beachtet  die  Regel  von 
der  Einheit  des  Orts  noch  nicht.  Viel  näher  schon  lag  den  Dichtern 
der  Gedanke,  die  Einheit  der  Zeit  einigermaßen  zu  wahren.  In  der 
Sprache  zeigt  sich  ein  Fortschritt.  Theophile  hat  seine  Verse  jedenfalls 
sorgfältig  gearbeitet,  und  ihnen  jene  Eleganz  und  Feinheit  gegeben, 
welche  ihnen  die  besondere  Gunst  der  vornehmen  Gesellschaft  erwerben 
mußte.  Nur  ist  die  Sprache  ungleich,  und  neben  zarten  Stellen  finden 
sich  Härten,  ja  Roheiten  des  Ausdrucks.  Nennt  doch  Thisbe,  die  zarte 
Jungfrau,  ihre  lästige  Duenna  einmal  geradezu  „ein  altes  Knochen- 
gespenst ".^)  Es  zeigt  sich  klar,    daß  die  Sprache  noch  nicht  jene  Reife 

1)  Pyrame  et  Thisbe,  V,  1,  v.  97  ff.: 

En  toy,  Hon,  mon  ame  a  fait  ses  funerailles, 
Qui  digeres  desjä  mon  coeur  dans  tes  entrailles 
Reviens,  et  me  fais  voir  au  moins  mon  ennemi, 
Encores  tu  ne  m'as  devore  qu'ä  demi; 
Acheve  ton  repas;  tu  seras  moias  funeste 
Si  tu  m'es  plus  cruel  .    .    . 


Depuis  que  ce  beau  sang  passe  en  ta  nourriture, 
Tes  sens  ont  despouillö  leur  cruelle  nature. 
Je  croy  que  ton  humeur  change  de  qualite, 
Es  qu'elle  a  plus  d'amour  que  de  brutalite. 
Depuis  que  sa  belle  ame  est  icy  respandue, 
L'horreur  de  ces  forests  est  ä  Jamals  perdue; 
Les  tygres,  les  lions,  Ips  pantheres,  les  ours 
Ne  produirout  icy  que  de  petits  Amours. 

2)  Pyrame  et  Thisbe  V,  2,  v.  65: 

„Je  voy  que  ce  rocher  s'est  esclatte  de  dueil 
„Pour  respandre  des  pleurs,  pour  m'ouvrir  un  cercueil. 
„Ce  ruisseau  fuit  d'horreur  qu'il  a  de  mon  injure, 
„II  en  est  sans  repos,  ses  rives  sans  verdure. 

„Ha,  voicy  le  poignard  qui  du  sang  de  son  maistre 
„S'est  souille  laschement:  11  en  rouglt,  le  tralstre!" 

3)  „Vleux  spectre  d'ossemens",  Pyrame  et  Thisbe  I,  1,  v.  63. 


206 

erlangt  hatte,  welche  zum  dramatischen  Ausdruck  der  Empfindungen  in 
den  verschiedenen  Formen  notwendig  ist.  Theophile  selbst  besaß  nicht 
Kraft  genug  für  ein  größeres  Werk,  das  Leben  und  Schwung  verlangt, 
und  er  glaubte  diesen  Mangel  am  besten  dadurch  zu  verdecken,  daß  er 
die  „Concetti"  der  Italiener,  die  „Pointen'',  die  ganze  Unwahrheit  der 
lyrischen  Poesie  auf  die  Bühne  verpflanzte.  Für  den  Augenblick  erreichte 
er  sein  Ziel,  aber  er  gefährdete  auch  die  ganze  Entwicklung  des 
Theaters.  Er  brachte  den  Marinismus  im  Drama  zur  Herrschaft,  und 
dieser  nistete  sich  gleich  so  fest  ein,  daß  er  viele  Decennien  hindurch 
sich  darin  erhielt.  Es  bedurfte  geraumer  Zeit,  bevor  der  Geschmack  sich 
von  dieser  Verirrung  zurückzufinden  und  das  natürliche  Gefühl  wieder 
Geltung  erlangen  konnte.^)  Theophile  verzichtete  nach  dem  Erfolg  seiner 
Tragödie  auf  jede  weitere  Thätigkeit  für  die  Bühne.  Er  fühlte  sich,  wie 
er  selbst  sagt,  nicht  dafür  geschaffen,  und  der  Zwang,  den  er  sich  auf- 
erlegen mußte,  war  ihm  empfindlich.^)  Sein  Leben  sollte  bald  einen 
stürmischen  Verlauf  nehmen. 

Theophile  de  Viau  stammte  aus  einer  strenggläubigen  Hugenotten- 
familie. Sein  Großvater  war  Sekretär  der  Königin  Johanna  von  Navarra 
gewesen ,  sein  Vater  hatte  aus  Mißmut  über  den  Gang  der  Ereignisse 
dem  öffentlichen  Leben  entsagt  und  sich  in  eine  kleine  Besitzung  an 
den  Ufern  des  Lot  zurückgezogen.^)  Theophile  selbst  —  denn  so  wui'de 


1)  Wie  bekannt  Marini  in  Frankreich  war,  beweist  unter  anderem  Corneille, 
der  in  seiner  „Galerie  du  Palais"  I,  5,  v.  100  seiner  erwähnt: 
,.11  n'est  pas  mal  traduit  du  cavalier  Marin" 
heißt  es  dort   von   einem  neuen  Buch.    Auch  Boileau   klagte    später    über    die 
lange  Herrschaft  der  Pointen  in  jeder  Gattung  der  Litteratur.  Art  Poetique  I, 
V.  41  und  42: 

„Hs  croiraient  s'abaisser  dans  leurs  vers  monstrueux, 
„S'ils  pensaient  ce  qu'un  autre  a  pu  penser  comme  eux. 

Ganz  besonders  aber  II,  105  ff.: 

„Jadis  de  nos  auteurs  les  pointes  ignorees 
„Furent  de  l'Italie  en  nos  vers  attirees. 


„Le  madrigal  d'abord  en  fut  enveloppe. 
„Le  sonnet  orgueilleux  lui-meme  en  fut  frappe. 
„La  tragedie  en  fit  ses  plus  oberes  delices. 
„L'Elegie  en  orna  ses  douloureux  caprices. 
„Un  heros  snr  la  scene  eut  soin  de  s'en  parer; 
„Et  Sans  pointe  un  Amant  n'osa  plus  soupirer. 

2)  Siehe  Theophile,  Elegie  ä  une  dame  (Ausgabe  von  Alleaume  in  der 
Bibliotheque  Elzevirienne,  I,  S.  215),  v.  121: 

„Autresfois,  quand  mes  vers  ont  anime  la  sceine, 
„L'ordre  ou.  j'estois  contraint  m'a  bien  faict  de  la  peine. 
„Ce  travail  importun  m'a  longtemps  martyre, 
„Mais  enfin,  grace  aux  Dieux,  je  m'en  suis  retire. 

3)  Theophiles  Gegner  nannten  ihn  Viaud,  und  behaupteten,  er  sei  der 
Sohn  eines  Dorfwirts.  Er  splbst  aber  betont  seine  adelige  Abkunft  und  erwähnt 
auch  in  seineu  Gedichten  des  väterlichen  Landhauses,  in  dem  er  seine  Jugend 
verlebt  hatte. 


20^ 


er  gewöhnlich  kurzerhand  von  seinen  Zeitgenossen  genannt  —  war  im 
Jahr  1590  zu  Clairac  (Departement  Lot  et  Garonne)  geboren.  Zwanzig 
Jahre  alt,  kam  er  nach  Paris,  in  der  Hoffnung,  die  Gunst  Heinrichs  IV., 
des  einstigen  Führers  der  Hugenotten,  zu  erlangen.  Allein  er  kam  nur 
gerade  recht,  um  Zeuge  des  jähen  Wechsels  der  Verhältnisse  zu  sein, 
als  Heinrich  unter  dem  Mordstahl  Ravaillacs  endete.  Bald  machte  er  die 
Bekanntschaft  des  jungen  Balzac,  mit  dem  er,  wie  es  scheint,  ein  wildes 
Leben  führte.  Das  Jahr  1612  führte  die  beiden  Freunde  nach  Holland, 
aber  bald  darauf  finden  wir  sie  entzweit,  und  ihre  Wege  führten  sie 
seitdem  nicht  wieder  zusammen.  Theophile  trat  in  das  Haus  des  Herzogs 
Heinrich  von  Montmorency,  der,  ebenfalls  jung  und  lebenslustig,  Ge- 
sellen wie  Theophile  gern  um  sich  versammelte.  In  einer  Satire  schildert 
Theophile  sich  selbst  als  dem  Genuß  ergeben  und  der  Sünde  zugethan. 
Die  Stelle  wurde  später  in  der  Ausgabe  seiner  Gedichte  als  zu  gefähr- 
lich ausgemerzt.^)  Seine  antikirchliche,  besonders  jesuitenfeindliche  Hal- 
tung, seine  freie  Sprache  machten  ihn  bald  mißliebig.  Er  gehörte  nicht 
zu  jenen  Menschen,  welche,  voll  ethischer  Kraft,  sich  zur  sittlichen  Höhe 
emporschwingen  und  in  der  reinen  Lehre  der  Philosophie  ihre  Stütze 
finden.  Zu  schwach,  dem  sinnlichen  Taumel  zu  entsagen,  suchte  er  sich 
mit  der  Behauptung  von  der  Nichtigkeit  des  Daseins  zu  entschuldigen 
und  prahlte  gern  mit  seiner  nihilistischen  Lebensanschauung.  Theophile 
stieß  durch  sein  Leben  und  noch  mehr  durch  seine  Verse  an,  die  in 
den  Sammlungen  unzüchtiger  Gedichte  damals  kursierten.  Allein  diese 
Fehler  hätten  ihm  weniger  geschadet,  wenn  er  sich  nicht  Ausfälle  gegen 
die  Kirche  erlaubt  hätte.  Er  geriet  in  Lebensgefahr.  Im  Jahr  1618  waren 
zwei  Unglückliche,  Fran^ois  Sity  und  Etienne  Durand,  wegen  raajestäts- 
beleidigender  Schriften  zum  Rad  verurteilt  worden,  und  im  Jahr  1621 
verdammte  das  Gericht  Jean  Fontanier  zum  Feuertod,  weil  er  in  seinem 
Buch  Gott,  die  Jungfrau  Maria  und  die  Christenheit  beschimpft  habe. 
Theophile  hatte  es  also  wol  nur  der  mächtigen  Fürsprache  des  Herzogs 
von  Montmorency  zu  verdanken,  wenn  er  im  Jahr  1619  einfach  aus 
Paris  ausgewiesen  wurde.  Er  zog  sich  unter  lebhaften  Beteuerungen 
seiner  Unschuld  zu  seinem  Vater  auf  das  Land  zurück,  und  bald  mußte 
er  noch  weiter  wandern.  Eine  Menge  beißender  Spottgedichte  gegen 
Luynes,   den  Günstling  des  Königs,    welche  damals  cirkulierten,    wurden 


1)  Siehe  seine  zweite  Satire,  jetzt  abgedruckt  in  der  „Bibliotheque  Elze- 
virienne"  (I,  241).  Die  Satire  war 'in  dem  „Parnasse  Satirique"  (1625i  zuerst 
veröffentlicht  und  enthielt  die  später  gestrichene  Stelle.  Darin  heißt  es  u.  a. : 

„Qui  voudra  penitence  aux  deserts  se  consomme, 
„Qui  vive  tout  ainsi  que  s'il  n'estoit  plus  horame. 
„Ne  mange  que  du  foin,  ne  boive  que  de  l'eau, 
„Au  plus  fort  de  l'hyver  n'ait  robe  ny  manteau, 
„Se  fouette  tous  les  jours  et  d'une  vie  austere 
„Accomplisse  de  Christ  le  glorieux  mystere. 
„Moy  qui  suis  d'un  humeur  trop  enclin  ä  pecher, 
„D'un  fardeau  si  pesant  je  ne  puis  m'empescher. 
„Suy  ta  devotion,  et  ne  croy  point,  hermite, 
„Que  mon  ame  te  blasme,  et  moins  qu'elle  t'imite. 


208 


dem  verbannten  Dichter  zugeschrieben.  Er  sah  sich  nun  genötigt,  Frank- 
reich zu  verlassen,  und  begab  sich  nach  England.  Von  dort  wandte  er 
sich  in  einer  Ode  an  den  König  und  Itlagte,  daß  er  „fern  von  der  Seine 
und  der  süßen  Luft  des  Hofes"  traure,  daß  ihm  die  Sonne  kaum  noch 
zu  leuchten  scheine.  Wie  sehr  die  Übertreibung  an  der  Tagesordnung 
war,  zeigt  die  Strophe,  in  der  er  sagt,  er  habe  sich  in  eine  Wüste 
zurückgezogen,  wo  die  Schlangen  seine  Thränen  aufsögen.^)  Als  dieser 
Schmerzensruf  nicht  gehört  wurde,  ging  er  einen  Schritt  weiter,  trat  zur 
katholischen  Kirche  über  und  feierte  den  mächtigen  Luynes  in  seinen 
Gedichten.  Dies  Mittel  wirkte  und  er  durfte  zurückkehren.  Aufs  neue 
trat  er  in  Montmorencys  Dienst  und  verlebte  nun  eine  kurze  Zeit  des 
Friedens.  Mit  dem  Dichter  Jean  Mairet,  der  ebenfalls  in  Montmorency 
einen  Gönner  gefunden  hatte,  schloß  er  um  jene  Zeit  Freundschaft.  Doch 
die  Feinde  ließen  ihm  nicht  Euhe.  Im  Jahr  1622  wurde  der  Abdruck 
einer  schon  früher  erschienenen  Sammlung  schlüpfriger  Gedichte  (,,Le 
Parnasse  satirique")  ausgegeben.  Diese  zweite  Auflage  war  um  einige 
Stücke  vermehrt  worden,  welche  man  Theophile  und  Golletet  zuschrieb. 
Ja,  des  ersteren  Name  stand  sogar  auf  dem  Titel.  Theophile  protestierte 
gegen  diese  Fälschung  des  Herausgebers,  und  so  verstrich  fast  ein  Jahr, 
bis  er  auf  einmal  auf  Betrieb  der  Jesuiten  des  Atheismus,  der  Irreligio- 
sität und  der  Sittenlosigkeit  angeklagt,  in  Hast  von  einem  eigens  zu 
diesem  Behuf  eingesetzten  Richterkollegium  für  schuldig  befunden  und 
zum  Feuertod  verurteilt  wurde.  An  demselben  Tag  noch,  dem  19.  August 
1623,  wurde  der  Spruch  vollzogen ,  und  Theophile .  der  sich  in  Chan- 
tilly,  einer  Besitzung  Montmorencys,  verborgen  hielt,  in  effigie  verbrannt. 
Einige  Wochen  später  wurde  er  ergriffen  und  hatte  zwei  Jahre  lang  im 
Gefängnis  zu  schmachten .  bis  ein  Spruch  des  Parlaments  das  alte  Ur- 
teil kassierte,  Theophile  aber  doch  aus  Frankreich  verwies.  Montmorency 
war  mächtig  genug,  ihn  vor  weiterer  Verfolgung  zu  schützen  und  durch- 
zusetzen, daß  man  seinen  Aufenthalt  in  Paris  übersah.  Aber  der  Dichter 
war  ein  gebrochener  Mann.  Schon  im  folgenden  Jahr  starb  er  (25.  Sep- 
tember 1626)  im  Palais  des  Herzogs.  Theophile  war  um  100  Jahre  zu 
früh  gekommen,  die  Gesellschaft  zur  Zeit  Ludwigs  XIII.  vertrug  es  noch 
nicht,  daß  man  von  der  Naturkraft  als  von  der  einzigeu  Gottheit  sprach, 
oder  daß  man  fand,  das  erste  Menschenpaar  sei  wegen  einer  Kleinig- 
keit aus  dem  Paradies  gejagt  worden.  Solche  Ansichten  aber  hatte  Theo- 


1)  „Ode  au  Roy  sur  son  exil-*    (I,    S.  V6b   der  oben  erwähnten  Ausgabe). 
Darin  heißt  es: 

„Esloigne  des  bords  de  la  Seine 
„Et  du  doux  climat  de  la  Cour, 
„II  me  semble  que  l'oeil  du  jour. 
„Ne  me  luit  plus  qu'avecques  peine. 

„J'ay  choisi  loing  de  votre  empire 
„Un  vieux  desert  oü  des  serpens 
„Solvent  les  pleurs  qua  je  respans 
„Et  soufflent  l'air  que  je  respire. 


209 


phile  in  seinen  Gedichten  zu  äußern  gewagt.^)  Man  würde  ihn  als  Dichter 
und  als  Menschen  überschätzen,  wollte  man  in  ihm  einen  philosophischen 
Geist  erblicken;  seine  etwas  freigeistigen  Anschauungen  genügen  nicht, 
ihn  als  besonderen  Denker  auszuzeichnen.  Geschmack  findet  sich  in  seinen 
Gedichten,  sobald  sie  nach  der  üblichen  Schablone  verfaßt  sind,  ebenso- 
wenig wie  in  seinem  Trauerspiel.^)  Aber  das  poetische  Gefühl  bricht  sich 
doch  mitunter  Bahn,  und  einige  seiner  Liebeslieder  atmen  Frische  und 
Natürlichkeit.  Er  kennt  freilich  nur  die  sinnliche  Liebe,  aber  es  thut  in 
der  allgemeinen  Öde  wahrhaft  wohl,  auch  diese  einmal  kräftig  und  frisch 
ausgedrückt  zu  finden.^) 

1)  Noch  andere  Äußerungen  wurden  ihm  als  Ketzereien  und  Beweise  gott- 
losen Sinns  vorgeworfen,  so  z.  B. : 
Satire  Ire,  v.  85: 

J'approuve  qu'un  chacun  suive  eu  tout  la  nature ; 
Son  empire  est  plaisant  et  sa  loy  n'est  pas  dure. 
Consolation  k  Mlle.  de  L.  str.  15: 

Un  homme  de  bon  sens  se  mocque  des  malheurs; 
II  plaint  esgallement  sa  servante  et  sa  fiUe. 
Elegie  ä  une  Dame,  v.  15': 

Celuy  qui  dans  les  coeurs  met  le  mal  et  le  bien 
Laisse  faire  au  destin  sans  se  meslei  de  rien. 
2j  So  z.  B.  in  der  Ode  „Contre  rhyver" : 

„L'air  est  malade  d'un  eaterre, 
„Et  l'oeil  du  ciel,  noye  de  pleurs, 
„Ne  sfait  plus  regarder  la  terre. 
Weiter  unten  bittet  er  den  Winter,  er  möge  wenigstens  die  schöne  Cloris 
verschonen : 

„Espargne,  Hyver,  tant  de  beaute! 
„Eemets  sa  voix  en  liberte; 
„Fais  que  ceste  douleur  s'allege, 
„Et,  pleurant  de  ta  cruaute, 
„Fais  distiller  toute  la  neige. 
In  einer  Ode:  „Le  Matin",  sagt  er  von  den  Bossen  Auroras: 
„La  bouche  et  les  naseaux  ouverts 
„ßonflent  la  lumiere  du  monde. 
3)  Sehr  schön  und  sinnlich  wahr   sind  z.  B.   einzelne  Strophen  des   Ge- 
dichts „La  Solitude": 

„Dans  ce  val  solitaire  et  sombre, 
„Le  cerf  qui  brame  au  bruit  de  l'eau 
„Panchant  ses  yeux  dans  un  ruisseau, 
„S'amuse  ä  regarder  son  ombre. 


„Un  froid  et  tenebreux  silence 
„Dort  ä  l'ombre  de  ces  ormeaux, 
„Et  les  vents  battent  les  rameaux 
„D'une  amoureuse  violence. 

„Corine,  je  te  prie,  approche; 
„Couchons-nous  sur  le  tapis  vert, 
„Et  pour  estre  mieux  ä  couvert 
„Entrons  au  vieux  de  ceste  röche. 


Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratiir. 


210 

Nach  dieser  Abschweifung  kehren  wir  wieder  zum  Theater  zurück. 
Ein  Jahr  nach  der  ersten  Aufführung  von  „Pyramus  und  Thisbe",  im 
Jahr  1618,  trat  auch  Racan  mit  einem  dramatischen  Werk:  „Les  Ber- 
geries" oder  „Arthenice"  hervor.  Schäferspiele  waren  schon  vor  ihm  be- 
liebt gewesen,  denn  sie  wurden  schon  lange  in  Italien  mit  Vorliebe  ge- 
pflegt, und  die  „Asträa"  hatte  in  Frankreich  dem  Geschmack  für  diese 
besondere  Art  der  Idylle  doppelte  Stärke  geliehen.  Auch  Hardy  hatte 
Pastoraldramen  gedichtet,  doch  in  seiner  einfachen  Weise.  Jetzt  aber 
brüstete  sich  in  Racans  Werk  die  neue  Richtung,  die  schon  in  Theo- 
philes  .,Pyramus"  triumphiert  hatte.  Die  „Bergeries"  erwarben  dem 
Dichter  allerdings  großen  Ruhm,  allein  sie  konnten  nur  in  einer  Gesell- 
schaft gefallen,  die  wie  die  damalige  so  absolut  den  Ausdruck  der  Wahr- 
heit vermied.  Die  „Asträa"  hatte  eine  ganz  andere  Kraft.  Wir  können 
uns  heute  noch  vorstellen,  wie  man  in  einsamer  Stunde  sich  in  die  Lek- 
türe des  Romans  von  d'ürfe  vertiefen,  von  einer  schöneren  Welt  träumen 
und  sich  dabei  freiwillig  über  manche  Mängel  derselben  hinaussetzen 
konnte.  Aber  nicht  jedes  Phantasiebild,  das  ein  Augenblick  der  Schwär- 
merei vor  die  Seele  zaubert,  verträgt  eine  eingehende,  klare  Behandlung, 
wie  sie  die  Bühne  erheischt.  In  Racans  „Bergeries"  treten  die  Mängel 
dieser  Schäferwelt  ganz  besonders  stark  hervor.  Sie  führen  uns  Zauberer, 
Verleumder,  Übelthäter  vor,  und  malen  uns  eine  Welt,  die  zwar  phan- 
tastisch sein  mag,  aber  vor  der  Wirklichkeit  nichts  voraus  hat,  als  daß 
sie  noch  etwas  wirrer  und  schlechter  erscheint.  Ein  dramatisiertes  Märchen 
hat  seinen  Reiz,  und  Dichtungen  wie  Shakespeares  „Sturm"  und  „Sommer- 
nachtstraum" werden  immer  zu  den  schönsten  Blüten  der  Dichtung  ge- 
rechnet werden.  Wir  nehmen  dort  die  phantastische  Welt  mit  ihren 
Elfen  und  Kobolden  gerne  hin,  und  freuen  uns  der  heiteren  Laune,  die 
sie  geschaffen,  weil  wir  neben  ihr  jederzeit  wieder  die  menschliche  Natur 
in  aller  Wahrheit  und  Wärme  sehen.  Anders  aber  wirkt  ein  Werk  auf 
uns,  das  darauf  Anspruch  macht,  uns  eine  idyllische  Welt  zu  zeigen 
und  in  seinen  Personen  Kinder  einer  unverfälschten  Natur  vorzuführen, 
statt  dessen  aber  nur  die  Schwächen,  ja  die  Laster  einer  raffinierten 
Gesellschaft  in  übertriebener  Weise  darstellt. 


pNe  crains  rien,  la  forest  nous  garde, 
„Mon  petit  ange,  es-tu  pas  mien? 
„Ah,  je  vois  que  tu  m'aimes  bien, 
„Tu  rougis  quand  je  te  regarde...  etc. 

Theophile  Gautier  hat  in  seinen  „Grotesques"  (I.  S.  180)  aus  der  „Soli- 
tude"  ein  hübsches  Gedicht  zuwege  gebracht,  indem  er  ungefähr  zwei  Drittel 
der  Strophen  wegstrich.  Die  erste  Ausgabe  von  Theophiles  Dichtungen  erschien 
1621  zu  Paris  bei  J.  Quesnel,  zwei  weitere  folgten  sehr  rasch:  1622  und  1623. 
Die  letztere  trägt  schon  den  Titel:  „Oeuvres  revues,  corrigees  et  augmentees" 
(Paris,  P.  Billaire).  Von  den  späteren  Ausgaben  ist  noch  diejenige  zu  bemerken, 
welche  G.  de  Scudery  besorgte  (Rouen  1632,  J.  de  la  Marre),  denn  sie  diente 
den  folgenden  zahlreichen  Ausgaben  als  Grundlage.  Mairet  verötFentlichte  im 
Jahr  1641  noch  eine  Anzahl  französischer  und  lateinischer  Briefe  seines  Freundes. 
Vergl.  auch  Niceron,  Bd.  36.  Die  neueste  Ausgabe  ist,  von  Alleaume  in  zwei 
Bänden  bearbeitet,   in  der  „Bibliotheque  Elzevirienne"  (Daffis  1856)  erschienen. 


211 


Versuchen  wir  es,  den  Inhalt  der  „Bergeries"  in  Kürze  anzugeben. 
Das  Stück  spielt  in  der  Umgegend  von  Paris.  Zwei  Schäfer,  Alcidor 
und  Lucidas,  lieben  die  schöne  Artenice,  und  der  erstere  war  so  glücklich, 
ihre  Neigung  zu  erwerben.  Doch  die  Mutter  der  Jungfrau  ist  von  einem 
Traum  gewarnt  worden.  Diana  ist  ihr  erschienen  und  hat  ihr  mitge- 
teilt, daß  Artenice  sich  nur  mit  einem  Glied  der  Familie,  nur  mit  einem 
Sohn  desselben  Thals  vermählen  dürfe.  Alcidor  ist  aber  aus  einer 
benachbarten  Landschaft.  Darum  hat  Lucidas  noch  nicht  alle  Hoffnung 
aufgegeben.  Um  die  Liebenden  zu  entzweien,  nimmt  er  seine  Zuflucht 
zu  den  Künsten  eines  Zauberers,  und  dieser  zeigt  der  entsetzten  Artenice 
mit  Hilfe  eines  Zauberspiegels,  während  die  Erde  erbebt,  in  einem  Trug- 
bild, wie  sich  Alcidor  mit  einer  andern  Schäferin.  Ydalie,  vergeht.  Ob 
solcher  Untreue  ist  Artenice  außer  sich;  sie  nimmt  Abschied  von  den 
Schäfern  und  von  ihrer  Herde,  verzichtet  auf  ihre  Hoffnungen  und 
Vergnügen  und  will  bei  den  „Vestalinnen",  d.  h.  in  ein  Kloster  ein- 
treten. Ihr  Vater  versucht  es,  sie  von  diesem  Entschluß  abzubringen. 
Damoclee,  Ydaliens  Vater,  wohnt  der  Unterredung  bei,  und  im  Übermaß 
ihres  Schmerzes  entschlüpft  der  guten  Artenice  das  Geheimnis  ihres 
Kummers.  Sie  sagt  Damoclee,  was  sie  von  seiner  Tochter  wisse.  Dieser 
eilt  nach  Haus,  um  seine  Tochter  alsbald  dem  Gericht  zu  übergeben. 
Denn  in  diesem  schönen  Land  steht  auf  gewissen  Liebes  vergehen  der 
Feuertod.  Während  das  Strafgericht  vorbereitet  wird,  gelingt  es  dem 
verzweifelten  Alcidor,  der  sich  ganz  wie  Celadon  ins  Wasser  gestürzt 
hat,  ohne  ertrinken  zu  können,  Artenice  zu  versöhnen,  und  der  von 
solcher  Liebe  gerührte  Vater  setzt  sogleich  die  Hochzeit  fest. 

Drohender  gestaltet  sich  der  armen  Ydalie  Los.  Vergebens  sucht 
sie  der  junge  Schäfer  Tisimandre  mit  dem  Aufgebot  aller  seiner  Bered- 
samkeit zu  retten,  und  erbietet  sich  selbst,  an  ihrer  Statt  zu  sterben. 
Der  alte  Druide  Chindonax  ist  unerbittlich.  Der  Bericht  des  Lucidas 
über  den  Zauberspiegel  scheint  ihm  ein  genügender  Beweis  von  Ydaliens 
Schuld,  und  so  muß  die  Arme  sich  bereiten,  den  Holzstoß  zu  besteigen, 
als  ein  Bote  die  Nachricht  von  der  bevorstehenden  Vermählung  Artenicens 
mit  Alcidor  überbringt.  Lucidas  gerät  darüber  in  Wut,  und  verrät  sich 
durch  unbedachte  Äußerungen.  Ydalie  sieht  sich  gerettet  und  reicht  ihre 
Hand  dem  mutigen  Tisimandre,  den  sie  früher  verschmäht  hatte.  Im 
fünften  Akt  wird  Alcidor  als  ein  vor  Jahren  verlorener  Sohn  des  Da- 
moclee erkannt,  und  das  Stück  schließt  mit  einem  fröhlichen  Hoch- 
zeitslied. 

Dies  ist  der  Hauptinhalt  der  Fabel,  die  freilich  noch  mit  manchem 
Abenteuer  aufgeputzt  ist.  Allein  nirgends  findet  man  den  Versuch  einer 
Charakteristik;  die  Personen  der  „Asträa"  sind  bei  weitem  schärfer 
gezeichnet,  und  die  einzelnen  Figuren  der  Schäferdramen  weisen,  mit 
ihnen  verglichen,  sogar  einen  Kückschritt  auf.  Die  „Bergeries"  zeichnen 
sich  indessen,  wie  die  Gedichte  Racans,  durch  ihre  Sprache  aus;  freilich 
spreizen  sich  darin  auch  alle  die  „schönen  Gefühle"  der  höfischen 
Gesellschaft.     So  beklagt  einmal  die  einfache  Artenice,    daß  die  Gebote 


212 


der  Ehre  sich  dem  Naturgesetz  entgegenstellen.')  Die  Liebe  gilt  auch 
bei  den  Schäfern  für  eine  „schöne  Leidenschaft",  der  man  huldigen 
muß,  und  die  Hirten  reden  dieselbe  gezierte,  zugespitzte  Sprache  wie 
die  Helden  des  Salons.  Dazwischen  singt  ein  Chor  von  Hirten  gleich 
dem  Chor  der  antiken  Tragödie,  während  das  Stück  doch  vor  den  Thoren 
von  Paris  spielt,  einer  allerdings  sonderbaren  Stadt,  in  welcher,  nach 
der  Versicherung  des  alten  Damoclee,  jedes  Vergehen  gegen  die  Keuschheit 
mit  dem  Tod  bestraft  wird.  Sollte  diese  Idee  nicht  schon  damals  einen 
komischen  Eindruck  gemacht  haben?  Daß  die  „Bergeries"  viele  Stellen 
voll  Zartheit  und  Anmut  aufweisen,  kann  das  Urteil  über  das  Ganze 
nicht  ändern.  Es  handelt  sich  hier  um  die  Entwicklung  der  dramatischen 
Litteratur,  und  da  können  wir  nicht  finden,  daß  die  Übertragung  des 
lyrischen  Elements  in  das  Drama,  wie  ßacan  es  versucht  hat,  von  Nutzen 
gewesen  wäre. 

Aber  das  Schäferschauspiel  war  mit  der  Dichtung  Racans  definitiv 
angenommen  und  seitdem  eine  beliebte  Gattung  des  Dramas.  Unter  den 
Schauspieldichtungen  der  folgenden  Jahre  finden  sich  viele  „Pastoralen", 
die  meistens  der  „Asträa"  entnommen  sind.  AVir  nennen  hier  nur  die 
Pastoral-Tragikomödien  „Asträa  und  Celadon"  von  Raissiguier,  „Rosi- 
leons  Schicksale"  von  Pichou,  „Clorise"  von  Baro,  „Fillis  de  Scire" 
von  du  Gros,  die  „Iris"  von  Coignee  de  Bourron.  „La  Justice  d'Amour" 
von  Boree  etc.  Einer  besonderen  Erwähnung  bedürfen  nur  Mairets  „Sylvia" 
und  die   „Amaranthe"   von  Gombauld. 

Die  „Sylvie"'  erschien  im  Jahr  1621,  und  das  Werk  des  damals 
siebzehnjährigen  Dichters  riß  das  Publikum  zu  lauter  Bewunderung  hin. 
In  diesem  Beifall  waren  alle  Stände  einig,  das  Publikum  des  öffentlichen 
Theaters,  wie  der  aristokratischen  Privatbühnen.  In  der  That  war  ein 
großer  Fortschritt  ersichtlich.  Die  „Sylvie"  ist  zwar  ein  Schäferdrama, 
sie  führt  uns  jedoch  nicht  in  die  künstliche  Welt  der  gewöhnlichen 
Pastoralstücke,  sondern  versucht  es,  wirkliche  Menschen  zu  zeichnen. 
Sie  behandelt  die  Liebe  eines  Königssohns  zu  einer  Schäferin.  Thelame, 
Prinz  von  Sizilien,  hat  eine  tiefe  Neigung  zu  der  schönen  Schäferin 
Sylvie  gefaßt.  Er  verläßt  jeden  Tag  den  Hof  seines  Vaters  Agathokles 
und  verbringt,  als  Schäfer  verkleidet,  köstliche  Stunden  an  der  Seite 
seiner  Geliebten,  fern  vom  Gewühl  der  Menschen,  ungesehen  und  un- 
gestört. Die  Liebesworte,  die  er  ihr  zuflüstert,  verraten  allerdings  die 
galante  Sprache  des  Hofes,  aber  Sylvie  selbst  redet  in  einfacher  Weise. 
Mairet  will  ein  naives,  unschuldiges  Mädchen  zeichnen  und  an  manchen 
Stellen  trifft  er  den  Ton  in  trefflicher  Weise,  so  z.  B.  wenn  sie  ihre 
Angst  ausdrückt,  daß  ein  Lauscher  ihr  Geheimnis  entdecke.  -Ganz  frei 
von  gezierten  Wendungen  ist  sie  freilich  nicht;  Mairet  hätte  sein  Gedicht 


1)  Les  bergeries,  I,  sc.  3: 

„Honneur,  cruel  tyran  des  belies  passions, 
„Qui  traverse  Tespoir  de  nos  affections; 

„Et  dont  la  tyrannie  aux  amants  trop  cruelle 
„S'opposa  la  premiere  ä  la  loi  naturelle." 


213 


des  schönsten  Schmucks  zu  berauben  geglaubt,  wenn  er  auf  solche 
verzichtet  hätte. ^)  Im  Verlauf  des  Stücks  lernen  wir  Sylviens  Eltern 
kennen.  Die  Mutter  ist  von  der  hohen  Ehre,  die  der  Prinz  ihrer  Familie 
erweist,  geblendet,  während  der  Vater  vernünftiger  denkt,  die  Ehe  für 
unmöglich  erklärt  und  seine  Tochter  für  eine  bloße  Liebelei  zu  gut  hält. 
Wir  übergehen  die  einzelnen  Episoden  des  Stücks,  das  in  den  ersten 
drei  Aufzügen  eine  hübsch  komponierte  und  sinnig  ausgeführte  Liebes- 
idylle entrollt  und  an  das  „Wintermärchen"  von  Shakespeare  erinnert, 
in  dessen  viertem  Akt  Prinz  Florizel  um  seine  geliebte  Schäferin  Perdita 
wirbt.  Shakespeares  Personen  reden  in  solchen  Stücken  ebenfalls  oft  die 
gekünstelte  Sprache  ihrer  Zeit,  aber  sie  schlagen  daneben  immer  wieder 
die  Laute  der  Natur  und  des  echten  Gefühls  an.  Mairet  verdirbt  sich 
den  Schluß  seines  Stücks  durch  plumpe  Effekthascherei.  König  Agathokles 
läßt  die  Liebenden  ergreifen  und  unterwirft  sie  in  seinem  Zorn  einem 
Zauber,  der  sie  ihres  Verstandes  beraubt.  Von  Zeit  zu  Zeit  kommt  eines 
von  ihnen  zur  Besinnung  und  beklagt  dann  verzweifelnd  des  andern 
Schicksal.  Der  König  fühlt  Reue,  aber  die  Geister,  die  er  rief,  kann  er 
nicht  mehr  bannen.  In  seiner  Angst  läßt  er  überall  verkünden,  daß  die 
Hand  seiner  Tochter  Meliphile  dem  zu  teil  werden  solle,  der  den  Zauber 
zu  brechen  vermöge.  Zu  guter  Stunde  kommt  Prinz  Florestan  aus  Kandia, 
der,  von  der  Schönheit  der  Prinzessin  hingerissen,  seine  Insel  verlassen 
hatte,  um  sie  zu  gewinnen.  Er  versucht  den  Kampf.  Es  gelingt  ihm, 
eine  geheimnisvolle  Krystallschale,  die  an  der  Decke  hängt,  zu  zerschlagen. 
Ein  Höllenlärm  erhebt  sich,  Dämonen  und  furchtbare  Gespenster  toben 
um  ihn  her  und  überschütten  ihn  mit  ihren  Geschossen,  aber  er  bleibt 
fest  und  die  nächtliche  Rotte  entflieht.  Damit  ist  der  Bann  gelöst,  und 
die  Liebenden  erlangen  wieder  den  Gebrauch  ihrer  Sinne.  Der  König 
willigt  in  ihre  Vermählung  und  auch  Prinz  Florestan  erhält  die  Hand 
der  schönen  Meliphile  als  Lohn  seiner  Tapferkeit. 

Was  die  ersten  Aufzüge  der  „Sylvie"  bemerkenswert  macht,  ist 
die  größere  Sicherheit  in  der  Führung,  die  Einheit  in  der  Behandlung. 
Die  Sprache  ist  reiner  und  ruhiger,  als  in  den  bis  dahin  gekannten 
Dramen,  und  der  Ton  der  Rede  ist  wärmer  geworden.  Das  erklärt  den 
großen  Erfolg  des  Stücks,  der  sich  auch  in  den  zahlreichen  Ausgaben 
spiegelte,  welche  im  Lauf  weniger  Jahre  notwendig  wurden.  Selbst  in 
das  Ausland  drang  sein  Ruhm,  und  Jahre  nachher  konnte  sich  Mairet 
rühmen,  daß  seine  „Sylvie"  in  Deutschland  noch  in  höchster  Gunst 
stehe.  ^) 


1)  Siehe  „Sylvie",  A.  I,  sc.  3: 

J'ay  si  peur  que  quelqu'uu  ne  nous  voye, 

Que  j'en  sens  de  moitie  diminuer  ma  joye. 

Je  croy  que  ces  rochers  ne  sont  point  assez  sours 

Pour  n'avoir  pas  ouy  nos  folastres  discours.  etc 

(La  Sylvie  du  Sieur  Mairet.  Tragi-Comedie  Pastorale.  A  Paris  1628,  chez 
Fran9ois  Targa.j 

2)  Siehe   die    „Epitre  familiere  sur  la  Tragedie  du  Cid",   welche    Mairet 
im  litterarischen  Kampf  mit  Corneille  veröffentlichte.    Darin    sagte   er:    „Pour 


214 

Gombaulds  „Amaranthe"  (1625)  ist  eine  Nachfolgerin  der  „Sylvie". 
Auch  sie  erlangte  außerordentlichen  Beifall,  obwol  oder  vielleicht  weil 
ihr  Verfasser  dem  herrschenden  Ungeschmack  nach  Kräften  huldigte.  In 
ähnlich  manierierter  Weise  hatte  er  schon  seinen  Roman  „Endymion" 
geschrieben.  Auch  hier  handelt  es  sich  um  zwei  Liebende,  welche  durch 
die  äußeren  Verhältnisse  geschieden  werden.  Die  Schäferin  ist  reich,  der 
Schäfer  ist  arm.  Aber  zum  Schluß  entdeckt  man  doch,  daß  der  letztere 
aus  einer  edlen  Familie  stammt,  und  ihrem  Glück  steht  nun  nichts 
mehr  im  Weg.  Der  aristokratische  Charakter  der  Schäferdichtung  tritt 
hier  deutlich  zu  Tage.  Sie  wendet  sich  nicht  eigentlich  an  das  Volk, 
betont  nicht  etwa  die  Gleichheit  der  Menschen  in  einer  einfachen,  reinen 
Welt,  sondern  sie  ist  hauptsächlich  für  die  vornehme  Gesellschaft  be- 
stimmt, und  ihre  Schäfer  sind,  bis  zum  geringsten  herab,  nur  verkleidete 
Aristokraten,    wie  sich  dies  auch  schon   in  der   „Asträa"   gezeigt  hatte. 

Das  Schäferspiel  ist  überhaupt  ein  so  künstliches  Produkt,  eine 
Mischung  von  Drama  und  Lyrik,  es  weist  eine  solche  Vermengung  der 
Gattungen  auf,  daß  es  nur  in  Zeiten  eines  verirrten  Geschmacks  gedeihen 
kann.  Sich  gegen  die  Monotonie  zu  wahren,  wird  es  genötigt,  immer 
mehr  Elemente  des  eigentlichen  Dramas  aufzunehmen,  opfert  aber  damit 
seinen  Charakter.  Auch  in  Frankreich  zeigte  sich  dies  klar.  Kaum  war 
daselbst  die  wahre  Tragödie  gefunden ,  so  verlor  das  Schäferspiel  rasch 
an  Bedeutung.  Gegenüber  der  erschütternden  Wahrheit  der  tragischen,  rein 
menschlichen  Konflikte  verblaßte  die  gekünstelte  Welt  der  schönredenden 
und  hohlen  Schäfer.  Schon  Corneille  hat  kein  Pastoraldrama  mehr  gedichtet, 
und  seit  der  Erscheinung  des  „Cid"  schwand  die  ganze  Gattung  rasch 
dahin,  um  bald  ganz  vergessen  zu  werden. 


Bas  regelmäßige  Schauspiel. 

Nach  langer,  vorbereitender  Arbeit  und  mühsamen  Versuchen  kam 
der  Augenblick,  in  welchem  die  dramatische  Poesie  eine  bestimmte, 
dem  Charakter  der  Nation  und  der  Neigung  der  Zeit  entsprechende  Form 
finden  sollte. 

W^er  die  Entwicklung  der  französischen  Poesie  auch  in  den 
früheren  Jahrhunderten  prüft,  wird  sich  leicht  überzeugen,  daß  sie 
der  freien,  fessellos  schweifenden  Phantasie  von  jeher  wenig  Spielraum 
gewährte.  So  darf  man  sich  denn  nicht  wundern,  daß  auch  die  drama- 
tische Dichtung  sich  bald  den  Forderungen  eines  verständig  ordnenden 
Geschmacks  fügen  mußte.  Diese  Verständigkeit  auf  dem  Gebiet  der  Poesie 

ma  Sylvie  que  vous  nommez  les  saillies  d'un  jeune  ecolier  qui  craint  encore  le 
fouet,  on  ne  sfauroit  nier,  ni  vous  aussi,  qu'elle  n'ait  eu  quatre  ans  durant, 
toute  la  reputation  que  puisse  Jamals  pretendre  aucnne  piece  de  Theätre;  je 
n'en  exeepte  pas  meme  les  voitres...  II  est  encore  vrai  que  le  charme  de  ma 
Sylvie  a  dure  plus  longtemps  que  celui  du  Cid,  vü  qu'apres  douze  ä  treize  im- 
pressions,  eile  est  encore  aujourd'hui  le  Pastor  Fido  des  AUemands". 


215 

mag  manchen  als  Schwäche  erscheinen,  und  sicherlich  leistet  sie  einer 
gewissen  Armut,  Seichtigkeit  und  Oberflächlichkeit  oftmals  Vorschub; 
aber  anderseits  gewährt  sie  ihr  auch  Vorzüge  besonderer  Art  und  be- 
fördert die  Gabe  scharfer  Beobachtung,  klarer  Auffassung  und  Darlegung. 
Das  aber  sind  gerade  für  das  Drama  köstliche,  nicht  zu  unterschätzende 
Eigenschaften.  Das  Streben,  dem  Theater  ein  strengeres  Gefüge  zu  geben, 
durch  Zuhilfenahme  von  äußerlich  aufgefaßten  Regeln  eine  Einheit  des 
Stücks,  eine  größere  Wahrscheinlichkeit  und  Verständlichkeit  zu  erzielen, 
hat  der  französischen  Tragödie  des  17.  Jahrhunderts  zwar  jene  spröde 
Form  gegeben,  welche  sie  dem  Ausland,  besonders  dem  Nordländer,  so 
leicht  verleidet.  Diese  Richtung  aber  war  es  auch,  welche  dem  modernen 
französischen  Schauspiel  die  Herrschaft  über  die  Bühnen  aller  Völker 
hat  erwerben  helfen.  Wenn  der  moderne  französische  Dramatiker  ein  so 
getreues  Bild  der  Gesellschaft  entwirft,  wenn  er  so  scharf  zu  beobachten 
gelernt  hat,  wenn  er  in  so  hohem  Grad  Meister  der  Form  ist  und  die 
Sicherheit  des  dramatischen  Baues  besitzt,  so  ist  dies  nur  eine  andere 
Seite  desselben  Charakters  und  desselben  Talents.  Kurz,  wir  haben  es 
hier  mit  einer  eminent  nationalen  Eigenschaft  zu  thun. 

Je  mehr  das  Interesse  an  dem  Theater  wuchs,  desto  mehr  fand 
sich  der  verständige  Sinn  des  Publikums  von  der  Ungebundenheit,  die 
auf  der  Bühne  herrschte,  abgestoßen.  Der  wirre  Wechsel  der  Scenen, 
die  ungeordnete  Folge  der  Begebenheiten,  und  die  Rücksichtslosigkeit, 
mit  welcher  die  Dichter  den  Ort  und  die  Zeit  behandelten,  mißfielen  ihm. 
Man  verlangte,  daß  das  Theater  sich  bemühe,  seine  Vorstellungen  in 
jeder  Hinsicht  der  Wirklichkeit  entsprechend  zu  gestalten,  der  Phantasie 
der  Zuschauer  nicht  allzuviel  zuzumuten. 

So  drängte    alles    nach  größerer  Ordnung  und  stilgerechter  Form, 

Ein  Hauptvorkämpfer  dieser  von  so  vielen  Seiten  gewünschten 
Reform  war  der  Verfasser  der  „Sylvie". 

Jean  de  Mairet  stammte  aus  einer  strengkatholischen  Adelsfamilie 
Westfalens.  Sein  Großvater  hatte  um  seines  Glaubens  willen  seine  Heimat 
verlassen  und  sich  in  der  damals  noch  „freien  Stadt"  Besannen  nieder- 
gelassen. Die  Franche-Comte  gehörte  zu  jener  Zeit  noch  nicht  zu  Frank- 
reich. In  Besan^on  erblickte  Jean  de  Mairet  im  Jahr  1604  das  Licht 
der  Welt.  Frühzeitig  ^verwaist  und  ziemlich  mittellos,  kam  er  nach  Paris, 
um  seine  Studien  zu  vollenden.  Schon  im  16.  Jahr  trat  er  als  Dichter 
auf  und  fand  mit  seiner  Tragikomödie  „Chriseide  et  Arimand",  deren 
Stoff  der  „Asträa"  entnommen  war,  Beifall  und  Ermunterung.  Sie  ge- 
wann ihm  auch  die  Freundschaft  des  Herzogs  von  Montmorency,  der 
ihm  wie  Theophile  seinen  Schutz  gewährte.  Von  solchem  Erfolg  gehoben, 
gab  Mairet  das  Jahr  darauf  (1621)  seine  „Sylvie",  von  der  wir  schon 
gesprochen  haben. 

So  bekannt  ihn  diese  Dichtung  auch  machte ,  sollten  doch  seine 
folgenden  Stücke  für  die  Entwicklung  der  dramatischen  Litteratur  be- 
deutend wichtiger  werden.  In  der  Pastoral-Tragikomödie  „Silvanire  ou 
la  morte  vive",  die  abermals  einer  Erzählung  der  „Asträa"   nachgebildet 


216 


ist,  wurde  zum  erstenmal  wieder  der  Versuch  gemacht,  die  so  lang  ver- 
nachlässigten Lehren  von  den  dramatischen  Einheiten  zu  befolgen  (1625). 
Mairet  schickte  seiner  „Silvanire"  eine  ästhetische  Abhandlung 
voraus,  in  der  das  Streben  nach  dem  regelmäßigen  Drama  seinen  be- 
stimmten Ausdruck  fand.  Er  widmete  seine  Abhandlung  dem  Grafen 
Carmail,  und  erzählte,  wie  dieser  Edelmann  und  der  Kardinal  La  Valette 
ihn  schon  früher  aufgefordert  hätten,  ein  Stück  zu  dichten,  das  den  An- 
forderungen der  Kunst  entspreche  und  die  Kegelmäßigkeit  der  italieni- 
schen Schauspiele  bewahre.  Dieser  Wunsch  habe  ihn  dazu  geführt,  die 
dramatischen  Dichtungen  der  Italiener  genauer  zu  studieren,  und  diese 
wiederum  hätten  ihn  zu  den  Werken  der  alten  Griechen  und  Eömer,  als 
den  Vorbildern  aller  Poesie,  geleitet.  Nach  längerer  Auseinandersetzung 
über  die  verschiedenen  Arten  der  dramatischen  Poesie  und  die  Eintei- 
lung eines  Stücks  kommt  er  auf  den  Bau  und  die  Erfordernisse  eines 
guten  Dramas  zu  reden.  Er  beruft  sich  dabei  auf  Aristoteles  und  ver- 
langt, daß  das  Drama  einen  einheitlichen  Gegenstand  behandle,  und 
nicht  etwa  mehrere  Verwicklungen  sich  darin  neben-  und  durcheinander 
hinziehen.  Denn  das  könne  nur  verwirrend  auf  die  Zuschauer  wirken. 
Darauf  empfiehlt  er  die  Regeln  von  der  Einheit  des  Orts  und  der  Zeit. 
Er  stellt  dieselben  zwar  nicht  als  unerläßlich  dar,  aber  er  meint,  schon 
der  Wunsch,  dem  Schauspiel  größere  Wahrscheinlichkeit  zu  verleihen 
und  dadurch  seinen  Eindruck  zu  verstärken,  müsse  die  Beobachtung 
dieser  Regeln  wünschenswert  machen.  Unter  der  Lehre  von  der  „Einheit 
der  Zeit"  verstand  man  die  Beschränkung  des  Dramas  auf  den  Zeitraum 
von  24  Stunden,  innerhalb  welcher  Zeit  sich  alle  dargestellten  Begeben- 
heiten ereignen  mußten.  Mairet  giebt  zu,  daß  die  Beobachtung  dieser 
Regel  die  Aufgabe  des  Dichters  sehr  erschwere,  weil  sich  „die  schönen 
Effekte"  nur  mit  Mühe  in  einen  so  engen  Rahmen  fügen  lassen.  Das- 
selbe gilt  von  der  „Einheit  des  Orts",  welche  verlangt,  daß  in  dem 
Stück  der  Ort  der  Handlung  nicht  wechsle.  Über  die  Ausdehnung  dieses 
Begriffs  war  man  freilich  nie  recht  einig.  Manche  verstanden  darunter 
nur  die  Beibehaltung  derselben  Gegend,  und  gestatteten  den  Wechsel 
der  Scene;  andere  beschränkten  die  Grenze  auf  die  Stadt,  wieder  andere 
auf  den  Palast,  bis  endlich  auch  die  Scene  nicht  gewechselt  werden 
sollte  und  man  zu  einer  ideal  gestalteten  Halle  gelangte,  welche  gewisser- 
maßen jeden  Unterschied  des  Orts  aufhob.  Doch  diese  strenge  Beobach- 
tung der  Regeln  schien  erst  später  unerläßlich.  Mairet  wagt  sich  nicht 
weiter  als  bis  zu  ihrer  dringenden  Empfehlung  vor.  Er  meint,  man  solle 
Zeit  und  Mühe  nicht  scheuen,  denn  es  sei  besser,  ein  vollendetes  Stück  als 
zweihundert  mißlungene  zu  geben.  Mit  Bezug  auf  seine  „Silvanire"  hebt  er 
dann,  hervor,  daß  er  sich  bemüht  habe,  darin  allen  den  genannten  Forde- 
rungen gerecht  zu  werden,  denn  die  Begebenheiten  spielten  sich  innerhalb 
24  Stunden  ab,  die  Scene  wechsle  nicht  und  alle  Regeln  seien  beobachtet, 
welche  die  Gelehrten  aus  den  Werken  des  Terenz  geschöpft  hätten.  Ins- 
besondere rühmt  er,  daß  sein  Werk,  nach  dem  Vorbild  des  lateinischen 
Dichters,  die  vier  zu  einer  dramatischen  Dichtung  unerläßlichen  Teile :  den 
Prolog,  die  Prothesis,  die  Epitasis  und  die  Katastrophe,  richtig  enthalte. 


217 

So  enthüllt  es  sich  gleich  im  Beginn,  daß  nicht  allein  das  ästhe- 
tische Gefühl  diese  dramatische  Reform  verlangte,  sondern  daß  sich 
auch  leidige  philologische  Gelehrsamkeit  einmischte.  Mag  sie  auch  in  an- 
derer Hinsicht  wohlthätig  gewirkt  haben,  den  Geschmack  und  das  Ver- 
ständnis für  Schönheit  und  Poesie  hat  sie  kaum  jemals  gefördert.  Und 
so  werden  wir  auch  bei  dieser  Gelegenheit  sehen,  wie  die  von  einem 
Dichter  angeregte  Reform  von  einigen  Gelehrten  bald  zu  den  äußersten 
Konsequenzen  geführt  und  gefährdet  wurde. 

Die  Lehre  von  den  notwendigen  Einheiten  mußte  Chapelain  und 
seinen  Freunden  besonders  zusagen,  und  sie  traten  mit  ihrer  vollen 
Autorität  für  sie  ein.*)  Dennoch  war  der  Sieg  der  Regeln  nicht  so 
leicht.  Dichter  und  Schauspieler  wollten  von  dem  Gesetz,  das  sie  überall 
zu  hemmen  drohte,  nichts  wissen  und  stemmten  sich  noch  einige  Jahre 
dagegen ;  schließlich  aber  mußten  sie  nachgeben,  wie  die  Geschichte  Cor- 
neilles  am  deutlichsten  zeigt.  Immerhin  war  man  noch  weit  von  der 
pedantischen  und  albernen  Strenge  entfernt,  mit  welcher  der  Abbe 
d'Aubignac  40  Jahre  später  die  Einheit  der  Tragödie  gewahrt  wissen 
wollte. -j 

Den  Inhalt  der  „Silvanire"  brauchen  wir  nicht  weiter  zu  berühren, 
und  es  genügt  auch,  die  Tragikomödie  „Virginie",  welche  Mairet  im 
Jahr  1628  dichtete,  nur  vorübergehend  zu  erwähnen.  Er  behandelte 
darin  einen  frei  erfundenen  Stoff,  die  Schicksale  einer  Prinzessin  von 
Epirus.  Von  diesem  Stück  aber  bis  zur  wirklichen  Tragödie  war  nur 
noch  ein  Schritt,  und  diesen  that  Mairet  im  Jahr  1629  mit  seiner 
„Sophonisbe".^) 

Diese  Dichtung  ist  die  erste  im  Stil  der  späteren  klassischen 
Tragödie,  und  sie  ist  darum  für  die  Geschichte  der  dramatischen  Litte- 
ratur  von  Wichtigkeit.  Der  heroische  Tod  der  Sophonisbe  hat  die  Trauer- 
spieldichter zu  allen  Zeiten  gereizt.  Schon  lange  vor  Mairet  versuchten 
Trissino  in  Italien,  Nicolas  de  Montreux,  Montchretien  und  andere  fran- 
zösische Poeten,  die  numidische  Königin  als  Heldin  auf  die  Bühne  zu 
bringen ,  und  ebenso  oft  ist  sie  in  späterer  Zeit  dramatisch  behandelt 
worden.  Fast  immer  ohne  Erfolg.  Denn  Sophonisbe  ist  trotz  ihres  tragi- 

1)  Die  „Segraisiana"  (Haager  -  Ausgabe  1722,  p.  144)  erzählen:  „Ce  fut 
M.  Chapelain  qui  fut  cause  que  Ton  commeufa  ä  observer  la  regle  des  24  heures 
dans  les  pieces  de  theätre;  et  parce  qu'il  falloit  premierement  la  faire  agreer 
aux  comediens,  qui  imposoient  alors  la  loi  aux  auteurs,  sachaut  que  M.  le  comte 
de  Fiesque,  qui  avoit  infiniment  de  l'esprit,  avoit  du  credit  aupres  d'eux,  il  le 
prla  de  leur  en  parier  comme  il  fit.  II  communiqua  la  chose  ä  M.  Mairet,  qui 
tit  la  „Sophonisbe",  qui  est  la  premiere  piece  oii  cette  regle  est  observee".  Die 
Notiz  ist  nicht  ganz  richtig,  da  Mairet  schon  einige  Jahre  vor  seiner  „Sopho- 
nisbe" die  „Einheiten"  betonte.  Aber  daß  Chapelain  die  Neuerung-  befürwortete, 
unterliegt  keinem  Zweifel.  Vergl.  Abschnitt  IX,  S.  157. 

-)  Siehe  „La  Pratique  du  Theätre,  par  TA-bbe  d'Aubignac",  die  166!^  er- 
schien. Band  I,  2.  Buch,  Kapitel  3—7,  S.  72  —  115  (in  der  Amsterdamer  Aus- 
gabe 1715). 

3)  „La  Sophonisbe",  Tragedie  dediee  a  Monseigneur  le  garde  des  seeaux. 
Paris  1635,  chez  Pierre  Rocolet. 


218 

sehen  Untergaags  eigentlich  keine  dramatische  Figur.  Nach  der  Erzäh- 
lung des  Livius  bekriegte  Massinissa.  der  einen  Teil  von  Numidien  be- 
hen-schte,  im  Bund  mit  den  Kömern  König  Siphax,  den  Herrn  der  an- 
dern Hälfte  des  Landes,  drang  bis  Cirta,  der  Hauptstadt  seines  Feindes, 
vor,  schlug  diesen  und  nahm  ihn  gefangen.  In  Cirta  fand  er  Sophonisbe, 
die  Tochter  des  karthagischen  Feldherrn  Hasdrabal,  welche  dem  König 
Siphax  vermählt  war,  und  von  Leidenschaft  entflammt,  feierte  er  mit  ihr 
noch  an  dem  Tag  seines  Einzugs  in  Cirta  die  Hochzeit,  obwol  Siphax 
lebte.  Auf  die  Vorwürfe  der  Kömer  aber,  welche  den  feindlichen  Sinn 
Sophonisbens  kannten,  opferte  er  sie  wieder  auf,  und  die  Königin  gab 
sich  den  Tod. ')  Appian  berichtet  freilich  in  seiner  „Kömischen  Ge- 
schichte", daß  Sophonisbe  früher  dem  Massinissa  verlobt  gewesen  sei 
und  dann,  ein  Opfer  der  Politik,  ihre  Hand  dem  König  Siphax  habe 
reichen  müssen.')  Trotzdem  ist  diese  Doppelheirat,  sowie  die  Schwäche 
des  Massinissa  so  widerlich,  daß  jede  dramatische  Bearbeitung  dieser 
Geschichte  darunter  Not  leidet.  Mairet  begriff  dies  besser  als  seine  Vor- 
gänger, und  erlaubte  sich  von  der  geschichtlichen  Wahrheit  mehrfach 
abzuweichen.  Er  hält  sich  an  Appians  Erzählung  und  zeigt  uns  Sopho- 
nisbe der  früheren  Liebe  noch  eingedenk.  Dann  läßt  er  Siphax  in  der 
entscheidenden  Schlacht  fallen,  und  die  Königin  wird  dadurch  frei.  Die 
übereilte  Vermählung  wird  nun  auch  leichter  erklärlich,  da  es  sich  darum 
handelt,  Sophonisbe  den  Kömern  zu  entreißen  Den  Charakter  Massi- 
nissas  zu  heben,  änderte  Mairet  die  Überlieferung  dahin  ab,  daß  auch 
dieser  an  der  Leiche  seiner  Geliebten  sich  den  Tod  giebt,  nachdem  er 
sie  vergebens  zu  retten  gesucht  hat.  Mairets  Verständnis  für  die  Er- 
fordernisse einer  echten  Tragödie  leitete  ihn  richtig,  aber  ganz  konnte 
er  die  falsche  Situation  der  Hauptpersonen  nicht  bessern.  Massinissa 
bleibt  immer  der  Schwächling,  der  nur  leidenschaftliche  Worte,  aber 
keine  Thaten  kennt,  sowie  auch  Sophonisbe,  die  noch  zu  Lebzeiten  des 
Siphax  mit  Massinissa,  dem  Todfeind  ihres  Gemahls  und  dem  Gegner 
ihrer  Vaterstadt,  Briefe  wechselt,  kein  lebhaftes  Mitgefühl  erwecken  kann. 
Dennoch  war  Mairets  Tragödie  eine  für  jene  Zeit  sehr  bedeutende 
Leistung.  Zum  erstenmal  wurde  dem  Publikum  ein  wirklich  dramatisches 
Werk  geboten.  Wir  haben  es  in  der  „Sophonisbe"  mit  einer  ihres  Ziels 
bewußten  Komposition  zu  thun,  wir  hören  öfters  die  Sprache  wahrer 
Leidenschaft,  und  zum  erstenmal  finden  wir  den  Versuch  einer  wirklichen 
Charakterzeichnung  mit  ihren  Schattierungen  und  natürlichen  Übergängen. 
Der  Fortschritt  ist  unverkennbar,  obschon  das  Stück  sehr  ungleich  ist 
und  neben  schwungvollen  Stellen  ab  und  zu  durch  die  Roheit  des  Ge- 
dankens und  des  Ausdrucks  verletzt,  und  nach  echt  dramatischen  Scenen 
plötzlich  wieder   in  die  herkömmliche  Galanterie  und  Unnatur  verfällt.^) 


1)  Livius,  Buch  XXX,  Kap.  12-15. 

2)  Appian,  Pco^a'Cxi]  larogCa,  Bd.  X. 

^)  Der  erste  Akt  beginnt  mit  einer  Seene  zwischen  Siphax  und  Sopho- 
nisbe. Der  König  hat  ein  Schreiben  aufgefangen,  das  sie  an  Massinissa  gerichtet 
hat,  und  macht  ihr  Vorwürfe  darüber.  Dabei  fragt  er  sie: 


219 


Bemerkenswert  ist  besonders  die  Charakteristik  Scipios,  der  kein  Mittel 
der  Überredung  unbenutzt  läßt,  und  abwechselnd  Freundlichkeit  und 
Milde,  Ironie,  Strenge  und  selbst  Drohungen  anwendet,  um  Massinissas 
Sinn  zu  wenden.  Wie  später  Corneille  seinen  Eömern  eine  fast  über- 
menschliche Härte  und  barbarische  Große  verleiht,  so  will  auch  Mairet 
schon  in  seiner  „Sophonisbe"  das  Römertum  in  seiner  egoistischen  Politik, 
seiner  schonungslosen  Herrschbegier  und  Gewaltthätigkeit  schildern.  Un- 
willkürlich werden  wir  hier  an  Balzacs  Darstellung  der  römischen  Welt 
erinnert.^) 

Der  Erfolg,  den  Mairet  mit  seinem  Stück  errang,  war  überaus 
groß,  der  Beifall  des  Publikums  enthusiastisch,  und  wir  verstehen  recht 
gut,  warum.  „Sophonisbe"  war  nicht  allein  eine  Dichtung,  die  so  dra- 
matisch gefühlt  und  so  effektvoll  durchgeführt  war,  wie  keine  andere 
zuvor;  sie  trat  auch  in  einer  reineren,  höheren  Form  auf.  Die  Sprache 
war  markig  und  wohllautend,  und  die  ganze  Tragödie  schien  einer 
edleren  Gattung  anzugehören,  schien  den  großen  Dichtungen  des  Alter- 
tums sich  zu  nähern.  Indem  sie,  in  ihrer  Komposition  einfach,  die  Regeln 
der  drei  Einheiten:  der  Handlung,  des  Orts  und  der  Zeit,  beobachtete, 
genügte  sie  dem  gelehrten  Kreise;  indem  sie  sich  als  ein  Stück  voll  er- 
schütternder Wirkung  auf  der  Bühne  bewährte,  gewann  sie  das  große 
Publikum,  und  wie  schon  bei  „Sylvie"  stimmten  auch  jetzt  diese  so  ent- 
gegengesetzten Richter  im  Lob  des  neuen  Werks  überein. 

Die  Bahn,  die  zur  Höhe  führen  sollte,  war  nun  eröffnet.  In  dem- 
selben Jahr,  in  welchem  Mairet  seine  „Sophonisbe"  aufführen  ließ, 
brachte  ein  junger  Dichter  aus  Rouen,  Pierre  Corneille,  sein  erstes  Lust- 
spiel:   „Melite",  zur  Darstellung. 

„Sophonisbe"  hielt  sich  noch  viele  Jahre  in  der  Guust  des  Publi- 
kums, und  wurde  immer  wieder  mit  neuem  Beifall  gegeben.  Als  Corneille 
im  Jahr  1663  ebenfalls  eine  „Sophonisbe"  schrieb,  hielt  er  es  für  nötig, 
in  einem  Vorwort  zu  betonen,  daß  er  mit  der  Tragödie  Mairets  nicht 
zu  wetteifern  gedenke.  Seit  dreißig  Jahren,  sagte  er,  bewundere  man  auf 
der  Bühne  jenes  Dichters   „Sophonisbe"    und    sie  habe  immer  noch  Er- 


„Ne  pouvois-tu  trouver  oü  prendre  tes  plaisirs 
„Qu'en  cherchant  l'amitie  de  ce  prince  Numide? 

und  als  die  Ankunft  des  siegreichen  Massinissa  gemeldet  wird,  läßt  sich  Sopho- 
nisbe überreden,  ihm  in  koketter  Weise  entgegenzutreten  und  die  Macht  ihrer 
Eeize  zu  versuchen.  Hier  folgt  Mairet  ganz  dem  Zug  seiner  Zeit,  sowie  auch 
darin,  daß  Massinissa  am  Schluß  der  ersten  Unterredung,  in  der  er  schon  So- 
phonisbes  Versprechen  erhalten  hat,  zum  Pfand  „un  honnete  baiser"  verlangt. 
Fein  aber  ist  es,  daß  die  Königin  doch  ihres  Triumphes  nicht  froh  wird : 

„Phenice,  je  ne  sais  ce  qui  doit  m'arriver, 

„Mais  quelque  doux  present  que  le  bonheur  m'envoye, 

„Mon  coeur  ne  gouste  point  une  parfaicte  joye. 

,.Syphax  n'a  pas  encor  les  honneurs  du  tombeau 

„Et  d'un  second  hymen  s'allume  le  flambeau.     (III,  4.) 

1)  Siehe  Abschnitt  VII,  S.  107. 


220 


folg.^)    Und  in  der  That  gelang  es  Corneille  nicht,  das  ältere  Stück  in 
Schatten  zu  stellen. 

Aber  mit  dem  Triumph  der  „Sophonisbe"  hatte  Mairet  auch  den 
Höhepunkt  seines  Euhms  erreicht.  Die  folgenden  Trauerspiele:  „Mark 
Anton  oder  Kleopatra"  und  ..Soliman  oder  der  Tod  Mustaphas".  die 
beide  im  Jahr  1630  erschienen,  gingen  rasch  und  ziemlich  unbemerkt 
vorüber.^)  Zudem  änderten  sich  Mairets  persönliche  Verhältnisse.  Sein 
Gönner,  der  glänzende  Herzog  von  Montmorency,  ließ  sich  mit  Gaston 
d'Orleans  in  eine  Verschwörung  ein,  griff  zu  den  Waffen  und  wurde  in 
dem  Treffen  bei  Castelnaudary  1632  von  den  königlichen  Truppen  ge- 
schlagen und  gefangen  genommen.  Kardinal  Bichelieu  wollte  den  Großen 
die  Lust  zum  Widerstand  ein-  für  allemal  benehmen  und  ließ  ein  strenges 
Strafgericht  ergehen.  Montmorency  büßte  seinen  Versuch  auf  dem  Schaffot 
(3ü.  Oktober  1632).  Mairet  hat  seine  Anhänglichkeit  und  seine  Dank- 
barkeit nie  verleugnet  und  seinen  „Soliman"  der  verwitweten  Herzogin 
gewidmet,  wobei  er  ihres  hingeschiedenen  Gatten  in  den  wärmsten  Aus- 
drücken gedachte.  Einige  Jahre  hielt  er  sich  von  der  Bühne  fern.  Erst 
im  Jahr  1635  brachte  er  auf  das  Andringen  des  Grafen  Belin,  in  dessen 
Haus  er  getreten  war,  ein  neues  Drama,  den  „rasenden  Roland",  und 
eine  christliche  Tragikomödie:  „Athenais".  Aber  die  Zeit  seiner  Erfolge 
war  vorüber.  Nachdem  er  sein  Glück  noch  einmal  im  Jahr  1637  mit 
zwei  Stücken,  dem  „Coisaren"  („L'Illustre  Corsaire")  und  mit  „Sidonie", 
vergebens  versucht  hatte,  und  sich  durch  den  Euhm  Corneilles  ganz  in 
den  Schatten  gestellt  sah,  zog  er  sich  mißmutig  von  der  Bühne  zurück. 
In  dem  litterarischen  Streit  über  den  „Cid"  that  er  sich  unter  den  Geg- 
nern des  Dichters  durch  seine  Heftigkeit  hervor  und  schwieg  erst,  als 
ihm  Richelieu,  in  dessen  Sold  er  damals  stand,  Stille  auferlegte.  In  den 
nächsten  Jahren  war  es  ihm  gegeben,  für  sein  engeres  Vaterland,  die 
Franche-Comte.  zu  wirken.  Das  Ländchen  hatte  in  dem  Krieg  zwischen 
Frankreich  und  Spanien  schwer  gelitten,  und  Mairet  rettete  es  vor 
dem  gänzlichen  Ruin,  indem  er  als  Vertreter  der  Grafschaft  Burgund 
von  der  französischen  Regierung  eine  einstweilige  Anerkennung  ihrer 
Neutralität  erlangte  (1649  und  1651).  Er  blieb  seitdem  in  Paris  als 
Agent  der  Franche-Comte,  bis  er  durch  ein  rasches  Wort  den  Zorn  Ma- 
zarins  erregte,  und  dieser  ihn  kurzerhand  auswies  (1653).  Erst  nach 
dem  pyrenäischen  Frieden  durfte  er  nach  Paris  zurückkehren,  wo  er  von 
Anna  von  Österreich  freundlich  empfangen  und  für  ein  huldigendes  Sonett 
mit  einem  Geschenk  von  1000  Louisd'or  geehrt  wurde.  Doch  diese  Gunst 
konnte  ihn  nicht  dafür  entschädigen,  daß  er  seinen  Ruhm  als  dramati- 
scher Dichter  erblichen  fand.  Wie  einst  Hardy  sich  von  Mairet  über- 
flügelt sah,    so    empfand  jetzt   Mairet    die  Kränkung,    sich  überholt   zu 


1)  „Depuis  trente  ans  que  M.  Mairet  a  fait  admirer  sa  „Sophonisbe"  sur 
notre  theätre,  eile  y  dura  encore."  Voltaire  hat  1764  die  Mairet'sehe  Dichtung 
in  einer  Bearbeitung  für  die  Bühne  neu  zu  beleben  versucht,  doch  ohne  Erfolg. 

-1  „Marc-Antoine  ou  la  Cleopatre",  tragedie,  Paris  1637,  chez  Antoine 
de  Sommaville.  In  4'\  —  „Le  grand  et  dernier  Solyman  ou  la  Mort  de  Mu- 
stapha."  Paris  1635,  chez  Aug.  Courbe.   In  4". 


221 


.sehen.  Die  Zeiten  der  i-asclien  Entwicklungen  fordern  eben  ihre  Opfer, 
und  es  sind  oft  die  besten  Männer,    die  am  härtesten    betroffen    werden. 

Mairet  zog  sich  darum  bald  in  die  Stille  zurück.  Er  hatte  1647 
geheiratet,  sah  im  Jahr  1668  seinen  Adel  von  Kaiser  Leopold  erneuert, 
und    starb  zu  Besan9on    im  Alter  von  82  Jahren    (31.  Januar  1686).^) 

Langsame]-,  aber  doch  unverkennbar  entwickelte  sich  auch  das 
Lustspiel  in  der  gleichen  Eichtung  wie  die  Tragödie.  Von  der  ausge- 
lassenen italienischen  Commedia  dell'  Arte  ausgehend,  hatte  dieses  größere 
Schwierigkeiten  zu  überwinden,  um  zu  einer  litterarischen  Form  sich  zu 
erheben,  und  größere  Zurückhaltung  nötig,  um  zu  einem  anständigen 
Ton  zu  gelangen.  Geraume  Zeit  kannte  man  nur  das  volkstümliche 
Püssenspiel.  Es  ist  ja  nur  natürlich,  daß  neben  und  unter  der  gespreizten 
Litteratur.  welche  die  vornehmen  Kreise  entzückte,  noch  eine  andere  Be- 
wegung flutete.  Die  derbe  gallische  Fröhlichkeit,  der  rohe,  aber  treffende 
Humor  verlangten  ihr  Recht,  und  herrschten  im  Theater  des  Hotel  de 
Bourgogne  lange  Zeit  neben  der  Tragödie.  Dort  stand  ein  berühmtes 
Komiker-Trifolium :  Gaultier  Garguille,  Gros-Guillaume  und  Turlupin,  in 
der  höchsten  Gunst  des  Publikums.  An  ihre  Namen  knüpft  sich  eine 
ganze  Legende.  Als  Bäckergesellen,  heißt  es,  hätten  sie  zuerst  in  einem 
Winkeltheater  bei  der  Porte  St.  Jacques  ihre  Kunst  versucht,  und  sich, 
von  dem  Erfolg  ihres  Spiels  ermutigt,  bald  ganz  dem  Theater  gewidmet. 
Was  man  von  ihrem  Spiel  erzählt,  läßt  die  Einwirkung  der  italienischen 
Komödie  deutlich  erkennen.  Gaultier  Garguille  spielte  die  Doktoren,  die 
pedantischen  Schulmeister,  die  geprellten  Alten,  und  galt  als  der  Meister 
des  Couplets.  Gros-Guillaume  hatte  die  Rolle  der  witzigen  Lebemänner, 
der  unersättlichen  Zecher  und  Fresser,  während  Turlupin  den  Verschla- 
genen darstellte,  der  dumm  erscheint,  um  besser  betrügen  zu  können. 
Gewisse  niedrig- komische,  mit  plumpen  Wortspielen  gespickte  Possen 
wurden  nach  dem  letzteren  „Turlupinaden"  genannt.-)  Der  Ruf  dieser 
Drei  war  bald  so  groß,  daß  sie  selbst  an  den  Hof  gerufen  wurden. 
Heinrich  IV.  ergötzte  sich  zum  öfteren  an  ihrem  Humor,  und  auch  vor 
Ludwig  XIII.  und  Richelieu  sollen  sie  ihre  Kunst  gezeigt  haben.  Ohne 
scenische  Vorbereitung  spielten  sie  dann  in  einem  Alkoven,  der  als  Bühne 
diente,  oder  direkt  im  Saal  vor  den  Großen  des  Reichs.  Nach  den  Proben, 
die  uns  von  ihrer  Komik  erhalten  sind,  war  sie  über  die  Maßen  derb 
und  unflätig.  Aber  der  Geschmack  jener  Zeit  vertrug  in  dieser  Hin- 
sicht viel,  und  der  unverwüstliche  Humor,  das  natürliche  Spiel  und  die 


1)  Über  Mairet  vergl.  noch  die  Monographie  „Etüde  sur  la  vie  et  les 
Oeuvres  de  Jean  de  Mairet",  par  Gaston  Bizos.  Paris  1877,  Thorin. 

~)  Gaultier  hieß  eigentlich  Hugues  Gueru,  in  der  Tragödie  spielte  er 
unter  dem  Nameu  Flechelle  die  Könige  und  hohen  Herren.  Gros-Guillaume 
(Robert  Guerin)  nannte  sich  im  Schauspiel  Lafleur,  und  Turlupin  (Henri  Le- 
grand) trat  in  den  ernsten  Stücken  unter  dem  Namen  Belleville  auf.  —  Die 
Spaße  und  Lieder  Gaultiers  sind  in  der  „Bibliotheque  Elzevirienne"  neu  heraus- 
gegeben worden:  Chansons  de  Gaultier  Garguille,  avec  introduction  et  notes 
par  Ed.  Fournier  (Paris  1858,  P.  Jannet).  Vergl.  auch  Maurice  Sand,  Masques 
et  bouffons.  Parfaict  IV.  S.  241,  note. 


222 


Kunst  des  Gesicliterschneidens  sicherte  den  drei  Komikern  immer  den 
Beifall  ihrer  Zuschauer.  Gesunder  Menschenverstand  und  natürliches 
Gefühl  schienen  sich  manchmal  in  diese  Possen  wie  in  ein  Asyl  zu 
flüchten ;  ihre  Sprache  klang  mitunter  wie  ein  Protest  gegen  den  Un- 
geschmack  in  der  höfischen  Poesie,  wie  eine  Parodie  der  Kunstdichtung. 
Mußten  doch  die  Schauspieler  der  Posse  unter  anderem  Namen  die 
Tiraden  der  Tragödien  und  Tragikomödien  heruntersagen  und  in  den 
schmachtenden  Schäferdramen  ihre  Eollen  spielen.  Warum  sollten  sie 
sich  nicht  in  der  Posse  für  den  ihnen  auferlegten  Zwang  rächen?  Sie 
überboten  die  Pointen  und  gezierten  Einfälle  der  gelehrten  Dichtung, 
und  kämpften  in  ihrer  Weise  gegen  sie.^)  In  den  dreißiger  Jahren  raffte 
der  Tod  die  drei  Komiker  rasch  hintereinander  weg,  und  dieser  Umstand 
flocht  eine  neue  Legende  um  sie.  Gros-Guillaume  wagte  eines  Tags  einen 
hohen  Würdenträger  auf  der  Bühne  nachzuahmen,  und  wurde  infolge 
dieser  Keckheit  verhaftet.  Im  Gefängnis  aber  starb  er  vor  Aufregung 
und  Angst,  und  seine  Gefährten  Gaultier  Garguille  und  Turlupin  über- 
lebten ihn  nicht,  so  tief  war  ihre  Trauer  um  den  geschiedenen  Freund, 
den  unentbehrlichen  Genossen  ihrer  Scherze.  Das  lustige  Kleeblatt  hatte 
ein  warmes  Herz  unter  dem  Schellenkleid  bewahrt.  Also  will  es  die  Sage, 
welche  freilich  mit  der  geschichtlichen  Wahrheit  nicht  ganz  überein- 
stimmt. 

Mit  dem  Rücktritt  der  drei  genannten  Komiker  verschwand  wiederum 
ein  Stück  der  älteren  volkstümlichen  Posse.  Wol  hatte  auch  das  spätere 
Theater  seine  Vertreter  der  derben  Komik,  aber  alle  diese,  mochten  sie 
nun  Jodelet,  Scapin,  Joerisse  und  wie  immer  heißen,  waren  anders  ge- 
artet, da  ja  auch  die  Zeit  sich  geändert  hatte. '^j 


')  Siehe  z.  B.  die  Liebeserklärung  in  den  Strophen,  die  „Le  Desert  des 
Muses"  S.  39—41  mitteilt  (abgedruckt  in  Fourniers  Ausgabe  des  Gaultier  Gar- 
guille, S.  XGIV): 

„Si  le  vilbrequin  de  vos  yeux 

„N'eust  estocade,  furieux, 

„Le  vieux  paletot  de  mon  äme, 

„Le  serrurier  de  ma  douleur 

„Ne  vous  ouvriroit  pas,  Madame, 

„La  faucounerie  de  mon  coeur. 

2)  Die  Posse  machte  sich  nicht  allein  auf  den  Bühnen  der  großen  Gesell- 
schaften breit;  sie  herrschte  besonders  auf  den  freien  Plätzen,  und  zog  dort 
das  lachlustige  Volk  heran.  Die  Plätze  bei  dem  Pont-Neuf,  der  von  Heinrich  IV. 
erbauten  Brücke,  und  vor  den  Markthallen  waren  die  richtigen  Operationsfelder 
für  Abenteurer  jeder  Gattung.  Operateure  und  Charlatane  trieben  dort  ihr 
Wesen,  und  nicht  selten  hatten  sie  wandernde  Komödianten  in  ihrem 
Dienst,  um  das  Publikum  besser  anzulocken.  So  berichtet  man  von  dem  Ope- 
rateur Braquette,  der  im  Jahr  IGil  eine  italienische  Truppe  engagiert  hatte. 
Am  bekanntesten  von  diesen  Leuten  war  um  jene  Zeit  der  Mailänder  Mondor 
mit  seinem  Gefährten  Tabarin.  Dieser  letztere  ergötzte  das  Volk  durch  den 
komischen  Dialog  mit  seinem  Meister  und  durch  kleine,  possenhafte  Seenen. 
Die  „Caquets  de  l'accouchee"  sprechen  öfters  von  ihm,  z.  B.  Seite  9  und  262. 
Auch  Tabarins  Scherze  wurden  gedruckt  und  haben  selbst  neuerdings  ihren 
Herausgeber  gefunden.  „Oeuvres  completes  de  Tabarin,  avec  les  rencontres, 
fantaisies   et  cop-ä-l'äne   facetieux   du   baron    de  Gratelard.     Le   tout   precede 


223 


Solche  Verhältnisse  erschwerten  immerhin  die  Entwicklung  des 
wirklichen  Lustspiels.  Mairet,  der  für  die  größere  Würde  und  Reinheit 
der  Tragödie  so  eifrig  gewirkt  hatte,  erlaubte  sich  in  einem  Lustspiel, 
das  er  1627  aufführen  ließ,  in  den  „Galanteries  du  duc  d'Ossonne", 
die  größte  Freiheit.  Die  Ungebundenheit  der  italienischen  Commedia 
deir  Arte  in  Wort  und  Spiel  konnte  kaum  weiter  gehen  als  in  diesem 
Stück.  Der  Herzog  von  Ossunna,  der  von  Mairet  auf  die  Bühne  gebracht 
wurde,  war  als  spanischer  Vicekönig  von  Neapel  erst  im  Jahr  1624 
gestorben,  und  wurde  nun  schon  als  Held  sonderbarer  Liebesintriguen 
dargestellt.  In  der  Kürze  läßt  sich  der  Inhalt  des  Lustspiels  schwer 
erzählen,  da  es  überaus  verwickelt  ist,  und  zudem  jedem  Gefühl  des 
Anstands  und  der  Moral  Hohn  spricht.  Die  Liebhaber  wechseln  ihre 
Geliebten  im  Handumdrehen,  Gift  und  Dolch  spielen  eine  Hauptrolle, 
und  die  Sprache  kennt  keine  Scheu.  Mairet  scheint  nicht  an  die  Not- 
wendigkeit zu  denken,  die  Regel  von  den  Einheiten  auch  auf  das  Lust- 
spiel anzuwenden,  denn  er  erlaubt  sich  fortwährenden  Scenenwechsel. 
Nichtsdestoweniger  kann  man  auch  auf  dem  Gebiet  des  Lustspiels  die 
Arbeit  und  das  Ringen  nach  dem  Besseren  wahrnehmen,  und  der  Fort- 
schritt ist  unverkennbar.  Junge  Dichter,  die  sich  in  der  Komödie  ver- 
suchen, vor  allen  Jean  de  Rotrou  und  Pierre  Corneille,  bemühen  sich, 
ihr  eine  höhere  Richtung  zu  geben.  Corneille  besonders  hält  sich 
nicht  an  die  ängstliche  Nachahmung  der  fremden  Stücke,  die  dem  fran- 
zösischen Publikum  eine  unverständliche  Welt  vorführen.  Er  versucht 
es,  ein  Bild  der  französischen  Gesellschaft  zu  geben  und  läßt  seine 
Personen  reden,  wie  er  sie  in  seinem  Kreise  wirklich  sich  unterhalten 
hörte.  Er  verschmäht  die  Hilfe  des  Hanswursts  und  des  Capitans,  und 
so  derb  uns  heute  auch  die  Sprache  seiner  ersten  Lustspiele  erscheinen 
mag.  so  zeigt  sie  doch  einen  für  jene  Zeit  beträchtlichen  Fortschritt  in 
der  Decenz.  Auch  bemüht  er  sich,  seinen  Personen  das  schattenhafte 
Wesen  zu  nehmen,  sie  durch  leichte  Charakterzeichnung  zu  unterscheiden 
und  ihnen  dadurch  mehr  Leben  einzuhauchen. 

So  wuchs  das  Ansehen  der  Dichter  und  des  Theaters.  Richelieu 
hatte  für  das  letztere  eine  große  Vorliebe,  und  seine  Gunst  erwies  sich 
als  eine  mächtige  Stütze.  Dramatische  Aufführungen  waren  seine  Freude, 
und  bildeten  seine  hauptsächlichste  Erholung  von  den  Mühen  der  Staats- 
geschäfte. Er  unterstützte  die  Schauspielgesellschaften  durch  Geldspenden, 
oder  er  ließ  ihnen  zur  besseren  Inscenierung  neuer  Stücke  glänzende 
Kostüme  fertigen.  In  seinem  eigenen  Palast  baute  er  einen  großen 
Theatersaal,  und  veranstaltete  darin  dramatische  Aufführungen  mit  dem 
Aufgebot  aller  Pracht;  sie  dienten  ihm  zur  Verschönerung  seiner  Feste, 
zu  welchen  er  den  Hof  und  die  höchste  Gesellschaft  einlud.  Die  Dichter, 
die  er  um  sich  versammelte,  ermutigte  er,  sich  der  dramatischen  Poesie 
zu  widmen,    und   man    konnte   sich    ihm  nie  angenehmer  erweisen,    als 


d'une  Introduction  et  d'une  Bibliographie  Tabarinique  par  Gustave  Aventin." 
•2  Bände.  Paris  1858,  Jannet  (Bibliotheque  Elzevirienne).  Tabarin  starb  1634. 
Ihm  ähnlich  war  Cabotin,  der  einer  ganzen  Klasse  fahrender  Schauspieler  einen 
Namen  gab. 


224 


wenn  man  seiner  Xeiguiig  für  das  Tlieater  huldigte.  Richelieu  selbst 
hielt  sich  für  einen  Kenner  der  dramatischen  Poesie,  und  in  schwachen 
Stunden  sogar  für  einen  Dichter.  Seine  Ideen  ausführen  zu  lassen  und 
so  schnell  als  möglich  in  den  Besitz  einiger  Meisterwerke  zu  gelangen, 
geriet  er  auf  den  sonderbaren  Gedanken,  mehrere  Dichter  zu  gemein- 
samer Arbeit  zu  vereinigen.  Er  gewann  zu  diesem  Behuf  außer  Bois- 
robert,  CoUetet,  L'Estoile  auch  noch  Rotrou  und  Pierre  Corneille.  Die 
Art,  wie  Richelieu  die  Gemeinsamkeit  der  Arbeit  verstand,  zeigt,  wie 
äußerlich  er  die  Arbeit  des  Dramatikers  auffaßte.  Er  teilte  den  fünf 
Dichtern  den  Plan  des  auszuarbeitenden  Stücks  mit,  und  trug  dann 
jedem  von  ihnen  die  Abfassung  eines  Akts  auf.  Bei  solcher  Art  der 
Arbeit  kann  von  Stil,  von  Charakteristik,  von  konsequenter  Führung 
keine  Rede  sein.  Wenn  es  sich  um  eine  Reihenfolge  leichter,  von  über- 
mütiger Laune  eingegebener  Abenteuer  und  Verwicklungen  in  einer 
Posse  handelt,  welche  auf  die  genannten  Eigenschaften  leichter  ver- 
zichten kann,  so  mag  solche  Art  der  gemeinsamen  Arbeit  am  Platze 
sein,  und  ist  auch  bis  in  die  neueste  Zeit  angewandt  worden.  Allein  für 
ein  Kunstwerk,  eine  wirklich  dramatische  Dichtung  ist  sie  unmöglich. 
Neben  den  fünf  Dichtern  mußte  auch  Chapelain  mit  seinem  Rat  helfen, 
und  einmal  sogar  seinen  Namen  leihen.  Man  bezeichnete  die  so  ent- 
standenen Stücke  als  die  Dichtungen  der  „fünf  Autoren",  und  diese 
Bezeichnung  blieb  ihnen,  auch  nachdem  sich  Corneille  zurückgezogen 
hatte.  Dieser  arbeitete  nämlich  nur  an  dem  ersten  Stück  mit,  dem 
Lustspiel:  ,.La  comedie  des  Tuileries",  das  Richelieu  am  4.  März  16o5. 
bei  Gelegenheit  eines  großen  Festes  zu  Ehren  der  Königin,  im  Arsenal 
aufführen  ließ.  Die  Tradition  schreibt  den  zweiten  Akt  dem  Dichter 
L'Estoile,  den  dritten  aber  Corneille  zu.^)  Der  Prolog  war  von  CoUetet. 
Der  Plan  des  Stücks  rührte  von  Richelieu  her,  und  ist  herzlich  unbe- 
deutend. Die  ganze  Verwicklung  beruht  einzig  und  allein  auf  dem 
verbrauchten  Kunstgriff  einer  Verwechslung.  Aglante.  ein  junger  Edel- 
mann, der  Neffe  des  reichen  Arbaze.  kommt  nach  Paris,  wo  er  sich, 
dem  Wunsch  seines  Oheims  gemäß,  mit  einer  jungen  Dame,  Cleonice, 
vermählen  soll.  In  Paris  angekommen,  begiebt  er  sich  in  einen  ..Tempel" 
und  erblickt  dort  seine  Zukünftige,  die  er  noch  nicht  kennt,  Ihr  Anblick 
entzückt  ihn  und  erweckt  in  ihm  so  heiße  Liebe,  daß  er  auf  die  ihm 
bestimmte  Braut  verzichten  will.  Er  fragt  die  schöne  Unbekannte,  wie 
sie  heiße,  und  diese  giebt  einen  falschen  Namen  an.  Sie  nennt  sich 
Megate.  und  auch  Aglante  hält  es  für  vorsichtiger,  sich  ihr  unter  einem 
erborgten  Namen  als  Philene  vorzustellen.  Darauf  beruht  das  ganze 
Stück.  Während  die  beiden  Liebenden  dem  Willen  ihrer  Familien  wider- 
stehen und  sich  als  Cleonice  und  Aglante  nicht  heiraten  wollen,  schwören 
sie  sich  als  Megate  und  Philene  ewige  Liebe.  Cleonice  flieht  als  Schäferin 


1)  Voltaire  erzählt  in  der  Vorrede  zu  seinem  Commentar  des  „Cid%  daß 
er  die  Mitteilung  von  Corneilles  Mitarbeiterschaft  dem  Herzog  von  Vendöme 
verdanke,  dem  Enkel  Cäsars  von  Vendome,  welcher  der  Aufführung  selbst  bei- 
gewohnt hatte.  Auch  innere  Gründe  sprechen  dafür.  Gedruckt  wurde  das  Stück 
erst  1638  (Paris,  chez  Augustin  Courbe). 


225 

aus  dem  väterlichen  Haus  und  stürzt  sich  endlich  in  ihrer  Verzweiflung 
in  den  Teich  des  Tuileriengartens.  In  der  Seine  hätte  sie  ihren  Zweck 
leichter  erreicht,  aber  die  Rücksicht  auf  die  „Einheit  des  Orts"  ließ 
sie  offenbar  diese  Wahl  treffen.  Zum  Glück  wird  sie  gerettet,  und  auch 
Aglante,  der  sich  lebensüberdrüssig  in  den  Löwenzwinger  geworfen  hat, 
ist,  ein  zweiter  Daniel,  von  den  furchtbaren  Tiei-en  verschont  worden. 
So  kann  sich  schließlich  noch  alles  zum   Guten  wenden. 

Richelieu  beaufsichtigte  die  ganze  Arbeit.  Wir  haben  schon  ge- 
sehen, wie  reichlich  er  Colletet  für  seine  Verse  lohnte,  dafür  aber  auch 
mancherlei  Änderungen  vorschlug.^)  So  konnte  er  mit  Corneille  nicht 
zufrieden  sein,  der  sich  erlaubt  hatte,  in  seinem  dritten  Akt  von  dem 
vorgezeichneten  Plan  abzuweichen,  und  dem  der  Kardinal  deshalb  vorwarf, 
daß  er  keinen  „esprit  de  suite"  habe.  Wir  wissen  nicht,  welcher  Art 
die  Änderung  war,  welche  Corneille  vorgenommen  hatte.  Störte  sie  den 
Gang  des  Stücks,  so  war  Eichelieus  Bemerkung  richtig.  Aber  sie  be- 
weist dann  nur  umsomehr,  wie  wenig  solche  Fabriksarbeit  für  einen 
selbständigen  Dichter  geeignet  ist.  Unter  dem  Vorwand ,  daß  ihn 
Familiengeschäfte  in  ßouen  fesselten,  zog  sich  Corneille  von  der  Ge- 
meinschaft zurück.  Nicht  lange  darauf  veröffentlichte  er  seinen  „Cid", 
und  die  eben  erwähnten  Reibereien  trugen  nicht  dazu  bei,  den  Kardinal 
für  die  Kühnheit  des  neuen   Dramas  günstiger  zu  stimmen. 

Die  „fünf  Autoren"  mußten  nun  ohne  Corneille  arbeiten.  Der  Er- 
folg ihres  ersten  Werks  muß  sehr  mäßig  gewesen  sein,  denn  es  ver- 
strich geraume  Zeit,  bis  sie  einen  neuen  Versuch  wagten.  Die  Tragi- 
komödie „L'aveugle  de  Smyrne"  wurde  erst  im  Jahr  1638  aufgeführt 
und  auch  gedruckt.  Eine  dritte  Arbeit,  an  der  Richelieu  großen  Anteil 
nahm  und  selbst  eifrig  mitgearbeitet  haben  soll,  „La  grande  Pastorale", 
wurde  vor  der  Veröffentlichung  Chapelain  zur  Begutachtung  vorgelegt, 
und  dieser  sprach  sich  bei  aller  Vorsicht  in  der  Wahl  seiner  Ausdrücke 
sehr  ungünstig  darüber  aus.  Der  Kardinal  war  anfangs  über  die  strenge 
Kritik  des  Gelehrten  erbittert,  fügte  sich  aber  nach  einigem  Bedenken 
und  gab  die  Idee  auf,  mit  der  „Pastorale"  auch  litterarischen  Ruhm  zu 
erwerben.  Sei  es,  daß  er  kein  Vertrauen  mehr  in  die  gemeinschaftliche 
Arbeit  setzte,  oder  daß  ihn  die  Staatsgeschäfte  zu  sehr  in  Anspruch 
nahmen,  während  seine  Gesundheit  stets  mehr  verfiel;  jedenfalls  ver- 
schonte er  seit  diesem  letzten  Versuch  seine  vier  Leibpoeten  mit  wei- 
teren Aufträgen.  Doch  verfolgte  er  die  Entwicklung  des  Theaters  stets 
mit  Interesse,  drängte  auch  andere,  ihm  vertraute  Dichter'  fortwährend 
zur  Thätigkeit  auf  dramatischem  Gebiet. 

So  hat  er  u.  a.  Jean  Desmarets  geradezu  genötigt,  für  das  Theater 
zu  dichten.  Desmarets  (1595 — 1676)  war  in  Paris  geboren  und  hatte 
ein  wichtiges  Amt  in  der  Marineverwaltung.-)  Der  Kardinal  sah  ihn  gern 
und  schätzte  ihn  als  Dichter.    Desmarets   hatte  schon   lyrische  Gedichte 


1)  Siehe  Abschnitt  IX,  S.  157. 

2)  Er  war   „Controleur  General  de  l'Extraordinaire  des  guerres  et  Secre- 
taire  general  de  la  Marine  de  Levant". 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  -ir. 


226 


veröffentlicht  und  arbeitete  an  einem  nationalen  Heldengedicht,  gleich 
seinem  Freund  Chapelain.  Seine  Absicht  war,  den  Frankenkönig  Chlodwig 
zu  besingen.  Richelieu  war  indessen  damit  nicht  einverstanden ;  er  bat 
ihn  zunächst  um  einige  Entwürfe  zu  Dramen,  die  er  ausarbeiten  lassen 
wolle,  und  als  sie  Desmarets  vorlegte,  meinte  Richelieu  weiter,  daß 
nur  derjenige  Dichter  die  Entwürfe  mit  Erfolg  ausführen  könne,  der 
sie  ersonnen  habe.  So  mußte  sich  Desmarets  fügen,  und  er  schrieb  1636 
sein  Drama  „Aspasia".  Andere  Stücke  folgten  bald;  denn  vergebens  ent- 
schuldigte sich  der  Dichter  mit  seinem  „Clovis",  in  dem  er  den  Ruhm 
des  Kardinals  verkünden  werde.  Richelieu  meinte,  er  sei  zu  krank,  um 
den  Triumph  dieses  Epos  noch  zu  erleben,  und  ziehe  den  Genuß  eines 
guten  Schauspiels  vor.  Ja  es  scheint,  daß  er  sein  Vertrauen,  das  die 
„fünf  Autoren"  nicht  ganz  gerechtfertigt  hatten,  nun  auf  Desmarets 
übertrug.  Der  despotische  Minister  wähnte  wol,  wie  in  der  Politik  auch 
in  der  Poesie  seinen  Willen  diktieren  zu  können.  Im  Jahr  1639  wurde 
auf  der  Bühne  des  Palais  -  Cardinal  Desmarets  Tragikomödie  „Mirame" 
aufgeführt,  und  es  hieß,  daß  Richelieu  einen  bedeutenden  Teil  derselben 
selbst  verfaßt  habe.  Trotz  der  Pracht  der  Ausstattung  und  trotz  mannig- 
facher Vorsichtsmaßregeln,  wie  z.  B.  der  Einführung  einer  Claque,  ge- 
fiel das  Stück  doch  nicht.  Unter  den  weiteren  dramatischen  Dichtungen 
Desmarets  sind  noch  die  „Visionnaires"  anzuführen,  welche  gegen  die 
Precieusen  gerichtet  waren.  Kaum  aber  hatte  Richelieu  die  Augen  ge- 
schlossen, als  Desmarets  seine  dramatischen  Dichtungen  aufgab,  um  sich 
seinen  anderen  poetischen  Arbeiten  zu  widmen.')  Selbst  zwei  begonnene 
Dramen  ließ  er  unvollendet  liegen.  Desmarets  gehört  übrigens  wie  auch 
die  anderen  Dichter,  welche  Richelieu  beschäftigte,  schon  zu  einer  spä- 
teren Generation.  Rotrou  besonders,  dessen  Dichtungen  sich  auch  in  der 
folgenden  Epoche  neben  den  Dramen  Corneilles  auf  der  Bühne  behaup- 
teten, wird  uns  in  dem  zweiten  Teil  dieses  Werks  noch  besonders  be- 
schäftigen. Rotrous  Mitarbeiter  Boisrobert  haben  wir  bereits  öfter  er- 
wähnt, und  die  zwei  letzten  der  „fünf  Autoren",  L'Estoile  und  CoUetet, 
waren  ohne  jede  Bedeutung.  Es  sei  darum  hier  nur  noch  kurz  erwähnt, 
daß  Claude  de  L'Estoile,  Sieur  de  Saussay,")  der  Sohn  jenes  Pierre  de 
L'Estoile  war,  welcher  durch  seine  Memoiren  über  die  Zeit  Heinrichs  UI. 
und  Heinrichs  IV.  für  ihre  Kenntnis  sehr  wichtig  geworden  ist.^)  Ge- 
boren im  Jahr  1602,  nach  anderen  schon  fünf  Jahre  früher,  war  er 
der  Liebling  des  Kardinals  und  einer  der  Ersten,  welche  in  die  Aka- 
demie aufgenommen  wurden.  Von  seinen  lyrischen  Gedichten  sind  nur 
jene  erhalten,  welche  in  den  Anthologien  der  Zeit  abgedruckt  sind.  Die 
meisten  waren  noch  nicht  veröffentlicht,   als  L'Estoile  1652  starb,   und 


1)  Die  „Oeuvres  poetiques  du  sieur  Desmarets"  (Paris  1642,  chez  Henry 
le  Gras)  enthalten  seine  Dramen :  „Roxane",  „Scipion",  „Les  Visionnaires", 
„Aspasie"  und  eine  Reihe  Gedichte. 

2)  Siehe  Goujet,  Bd.  XVI,  S.  153. 

^)  „Journal  des  choses  advenues  durant  le  regne  de  Henri  III"  und 
„Journal  de  Henri  IV".  Mitgeteilt  in  der  Sammlung  von  Memoiren  zur  fran- 
zösischen Geschichte,  herausgegeben  von  Monmerque. 


227 

ein  strenggläubiger  Freund,  dem  er  sie  anvertraute,  opferte  sie  den 
Flammen.  An  selbständig  gearbeiteten  dramatischen  Werken  erschien  von 
ihm  noch  eine  Tragikomödie:  „La  belle  Esclave"  (1643),  und  ein  Lust- 
spiel: „La  comedie  des  filous"  (1647),  beide  ohne  Wert,  trotz  der  großen 
Sorgfalt,  mit  welcher  L'Estoile  an  ihnen  feilte. 

Guillaume  Colletet  (1598 — 1659)  war  Advokat  in  Paris,  aber  ohne 
Praxis.  Außer  den  dramatischen  Arbeiten,  die  er  auf  Geheiß  Richelieus 
lieferte,  hat  er  nichts  für  die  Bühne  gearbeitet.  Dagegen  war  er  Lyriker, 
und  als  solcher  nicht  besser  und  nicht  schlechter  als  viele  andere.  Früher 
wohlhabend,  geriet  er  allmählich  durch  seine  Sorglosigkeit  in  große 
Armut,  die  er  jedoch  mit  philosophischer  Resignation  ertrug.  Auch  als 
Gelehrter  und  Ästhetiker  trat  er  auf.  Seine  Aufsätze  über  verschiedene 
litterarische  Fragen  wurden  1658  in  einem  Band,  unter  dem  Titel  „Art 
Poetique"  vereinigt,  herausgegeben.  Sein  Sohn,  Fran9ois  Colletet,  der 
sich  ebenfalls  als  Dichter  versuchte,  lebte  in  sehr  ärmlichen  Verhältnissen, 
was  ihm  Boileau  in  wenig  großmütiger  Weise  vorhielt.^) 

Das  Gesagte  wird  erkennen  lassen,  welcher  Art  Richelieus  Einfluß 
auf  die  Entwicklung  des  Theaters  war.  Er  förderte  sie  wie  ein  begei- 
sterter Dilettant,  dem  große  Mittel  zu  Gebote  stehen.  Seine  ästhetischen 
Ansichten  suchte  er  ein  einziges  Mal  zur  Geltung  zu  bringen,  als  er  gegen 
den  „Cid"  auftrat,  und  gerade  in  diesem  Fall  hätten  die  Gegner  Cor- 
neilles  auch  ohne  den  Schutz  des  mächtigen  Kardinals  Lärm  genug  ge- 
macht. Im  übrigen  zeigt  sich  nirgends,  daß  Richelieu  besondere  Ideen 
über  die  dramatische  Poesie  gehabt,  hätte.  Die  Stücke,  die  unter  seinem 
Schutz  verfaßt  wurden,  hatten  keinen  Charakter;  sie  scheiterten  trotz 
ihres  Gönners  und  gingen  spurlos  unter.  In  einem  Punkt  aber  hat 
Richelieus  Vorliebe  für  das  Theater  Dichtern  und  Künstlern  genützt.  Es 
ist  unverkennbar,  wie  sehr  die  allgemeine  Ansicht  von  der  Bedeutung 
des  Theaters  sich  damals  im  Lauf  weniger  Jahre  änderte.  Je  mehr  sich 
das  gebildete  Publikum  für  das  Theater  interessierte,  umsomehr  strebte 
dieses,  sich  solcher  Gunst  würdig  zu  erweisen,  und  diese  fortschreitende 
Veredlung  gewann  ihm  wiederum  die  Achtung  weiterer  Kreise.  Und  so 
gestaltete  sich  nicht  allein  die  sociale  Stellung  der  Dichter,  sondern  auch 
die  der  Schauspieler  um  vieles  besser.  Das  Beispiel  Richelieus  mußte 
hier  mächtig  wirken.  Schon  Corneille  durfte  in  seinem  Lustspiel  „L'IUu- 
sion"  (1636)  von  der  Bewunderung  reden,  die  man  dem  Theater  zolle. 
Was  man  noch  jüngst  verachtet  habe,  sei  jetzt  allen  Gebildeten  teuer.-) 


1)  Boileau,  Sat.  I,  v.  77: 

Tandis  que  Colletet,  crotte  jusqu'ä  l'echine, 
S'en  va  chercher  son  pain  de  cuisine  en  cuisine, 
Savant  en  ce  metier  si  eher  aux  beaux  Esprits, 
Dont  Monmaur  autrefoit  fit  le9on  dans  Paris. 

2)  Corneille,  L'Illusion  comique,  Acte  V,  sc.  5,  v.  57  ff.  Clindor  ist  nach 
vielen  Abenteuern  Schauspieler  geworden,  und  ein  Magier,  Alcandre,  tröstet 
darüber  Clindors  Vater: 

Cessez  de  vous  en  plaindre.  A  present  le  theätre 
Est  en  un  point  si  haut  que  chacun  ridolätre, 

15* 


228 

Ähnlich  sagte  Mairet  in  der  Vorrede  zu  seinen  „Galanteries  du  duc 
d'Ossonne",  das  Lustspiel  sei  so  rein  geworden,  daß  jede  anständige 
Frau  das  Theater  des  Hotel  de  Bourgogne  ohne  Skrupel  besuchen  könne, 
eine  Behauptung,  die  sich  in  dem  Vorwort  gerade  zu  dem  genannten 
Stück  allerdings  sehr  sonderbar  ausnimmt.^)  Die  Thatsache  war  indessen 
im  ganzen  richtig,  und  wenn  die  besten  Lustspiele  jener  Zeit  stellenweise 
noch  eine  Sprache  führen,  die  uns  über  die  Maßen  derb  erscheint,  so 
muß  man  dabei  berücksichtigen,  daß  selbst  die  feinste  Gesellschaft  da- 
mals eine  Freiheit  des  Ausdrucks  gestattete,  welche  die  ängstlichere 
moderne  Gesellschaft  entsetzen  würde. 

Einige  Jahre  später  verfügte  eine  Verordnung  Ludwigs  XIIL,  daß 
der  Beruf  eines  Schauspielers  fortan  nicht  mehr  als  ehrlos  betrachtet  werden 
dürfe.-)  Freilich  vermag  keine  einfache  Verordnung,  selbst  eine  könig- 
liche nicht,  die  Anschauungen  eines  ganzen  Volkes  zu  ändern  und  dessen 
Vorurteile  zu  verbannen.  Auch  Ludwig  XIIL  konnte  dem  Schauspieler- 
stand nicht  ohneweiters  eine  geachtete  Stellung  in  der  Gesellschaft  an- 
weisen. Die  Mehrzahl  der  Künstler  hatte  ein  sehr  bewegtes  Leben  hinter 
sich,  und  daß  die  Welt  des  Bürgertums  sich  ihnen  gegenüber  argwöh- 
nisch zurückhielt,  ist  erklärlich.    Diese   Verachtung  konnte  nur  langsam. 


Et  ce  que  votre  temps  voyoit  avec  mepris 
Est  aujourd'hui  Tamour  de  tous  les  bons  esprits, 
L'entretien  de  Paris,  le  souhait  des  provinces, 
Le  divertissement  le  plus  doux  de  dos  princes, 
Les  delices  du  peuples,  et  le  plaisir  des  grands: 
II  tient  le  premier  rang  parmi  leurs  passe-temps 
Et  ceux  dont  nous  voyons  la  sagesse  profonde 
Par  ses  illustres  soins  eonserver  tout  le  monde, 
Trouvent  daus  les  douceurs  d'un  spectacle  si  beau 
De  quoi  se  delasser  d'un  si  pesant  fardeau. 

C'est  lä  que  le  Parnasse  etale  ses  merveilles; 
Les  plus  rares  esprits  lui  consacrent  leurs  veilles ; 
Et  tous  ceux  qu'Apollon  voit  d'un  meilleur  regard 
De  leurs  doctes  travaus  lui  donnent  quelque  part. 

Ähnlich  sagt  Tristan  L'Hermite  in  einem  Gedicht  an  Mlle.  D.  D. ,  um 
sie  zu  ermutigen,  daß  sie  sich  dem  Theater  widme: 

Fuy-tu  cette  profession 
Comme  suspecte  d'infamieV 
Aujourd'hui  c'est  une  action 
Dont  la  gloire  se  rend  amie. 

Cette  crainte  est  le  sentiment 
D'une  raison  qui  n'est  pas  saine, 
Depuis  que  nostre  grand  Armand 
Daigne  prendre  sein  de  la  scene. 

1)  Die  „Galanteries"  erschienen  1631  im  Druck.  In  der  Vorrede  heißt  es: 
.,Les  plus  honnetes  femmes  frequentent  maintenant  l'Hötel  de  Bourgogne  avec 
aussi  peu  de  scrupule  qu'elles  feroient  celui  du  Luxembourg". 

-)  „Que  leur  profession  ne  füt  plus  imputee  ä  bläme  aux  comediens  et 
ne  prejudiciät  pas  ä  leur  reputation  dans  le  commerce  public."  Vergl.  Moland,. 
Ausgabe  von  Molieres  Werken,  Bd.  I,  S.  XXXIII. 


229 


schwinden.  Versagte  man  doch  Moliere  noch  ein  christliches  Begräbnis, 
und  selbst  im  vorigen  Jahrhundert  verweigerte  man  der  bekannten  Schau- 
spielerin Adrienne  Lecouvreur  eine  Ruhestätte  auf  dein  Friedhof.  Aber 
jene  Verordnung  Ludwigs  war  ein  Symptom  des  Umschlags  in  der  Stim- 
mung; sie  brach  die  Bahn  und  bezeichnet  eine  bedeutsame  Wendung  in 
•der  äußeien  Geschichte  des  Theaters. 

Auch  diese  Bedingung  mußte  erst  erfüllt  sein,  bevor  sich  ein  wahr- 
haftes Drama  erheben  konnte.  Wie  aber  im  Frühling  nach  einem  weichen, 
warmen  Regen  die  Blätterknospen  sich  überraschend  schnell  öffnen  und, 
von  der  belebenden  Sonne  durchdrungen,  der  Wald  mit  einem  Mal  in 
seinem  herrlichsten  Laubschmuck  prangt,  so  erging  es  auch  hier.  Das 
Drama  hatte  sich  so  weit  entwickelt,  daß  es  nur  eines  Sonnenstrahls  in 
ein  echtes  Dichtergemüt  bedurfte,   um  es  zur  schönsten  Blüte  zu  entfalten. 


Bibliographische  Notiz.  Zum  Schluß  verweisen  wir  noch  zur 
Vergleichung  auf  Demogeot,  Tableau  de  la  litterature  fran9aise  au  17™® 
siecle  avant  Corneille  et  Descartes  (Paris  1859,  Hachette  &  Cie.);  Tivier, 
Histoire  de  la  litterature  dramatique  en  France  depuis  ses  origines  jus- 
qu'au  Cid  (Paris  1873,  Thorin)  und  auf  Kreyßig,  Geschichte  der  fran- 
zösischen Nationallitteratur  (Berlin  1873,  Nicolai),  4.  Auflage. 


XI. 

S  chlußb  etr  achtung . 

Wir  haben  die  litterarische  Bewegung  in  Frankreich  während  des 
ersten  Drittels  des  17.  Jahrhunderts  mit  Aufmerksamkeit  verfolgt  und 
uns  mit  den  Ideen,  den  Bestrebungen,  den  Arbeiten  jener  Zeit  vertraut 
zu  machen  gesucht.  Wir  wünschten,  uns  den  geistigen  und  socialen 
Zustand  des  Volkes  in  einem  klaren  Bild  zu  vergegenwärtigen,  um  die 
weitere  Entwicklung  der  Litteratur  besser  verstehen  zu  können.  In  dem 
lebendigen  Treiben,  dem  eifrigen  und  geräuschvollen  Thun  der  ganzen 
Epoche,  die  wir  nun  rückschauend  mit  einem  Blick  übersehen  können, 
fanden  wir  zwar  eigentümliche  Menschen,  merkwürdige  Kämpfe,  folgen- 
schwere politische  und  gesellschaftliche  Wandlungen,  allein  es  war  uns 
nicht  vergönnt,  unser  Herz  an  wahrhaft  großen,  das  Gemüt  erhebenden 
Erscheinungen  zu  erfreuen.  Der  Wanderer,  der  einen  anstrengenden 
Weg  zurückzulegen  hat,  fühlt  sich  oft  durch  die  Erhabenheit  der  Natur- 
schönheiten, die  sich  seinem  Auge  in  reizvoller  Abwechslung  bieten,  für 
die  weitere  Reise  gestärkt  und  ermutigt.  Nicht  ganz  so  ist  es  uns  bis 
jetzt  auf  unserer  Wanderung  ergangen.  Wir  hatten  keine  Geistesthaten, 
welche  Marksteine  in  der  Geschichte  der  Menschheit  bilden,  zu  ver- 
zeichnen; keine  Werke  unvergänglicher  Poesie  ließen  den  Glanz  jugend- 
licher Schönheit  verklärend  auf  die  ganze  Zeit  fallen.  Im  Gegenteil,  unser 
Pfad  führte  uns  oft  durch  dürre  Gegenden',  welche  nur  selten  einen 
erfrischenden  Ruhepunkt  boten. 

Und  dennoch  bilden  diese  dreißig  Jahre  eine  wichtige  Zeit  für  die 
Geschichte  der  französischen  Litteratur.  Denn  während  derselben  wurde 
der  Grund  für  den  späteren  Ausbau  gelegt;  der  ganze  Charakter  der 
klassischen  Epoche  findet  sich  in  der  vorhergehenden  Zeit  schon  bedingt 
und  in  seinen  Hauptzügen  angedeutet.  Ein  Verständnis  der  großen 
Litteraturentwicklung  von  Corneille  bis  zu  Labruyere  und  Fenelon  ist 
ohne  eine  genaue  Kenntnis  dieser  vorbereitenden  Arbeit  unmöglich. 

Wir  hatten  darum  zunächst  zu  zeigen,  welche  tiefe  Kluft  das 
17.  Jahrhundert  von  seinem  Vorgänger  schied.  Der  Umschwung  in  den 
politischen  Machtverhältnissen  des  Königtums  und  der  verschiedenen 
Gesellschaftsklassen,  welchen  die  Bürgerkriege  zur  Folge  hatten,  die 
Wandlung  in  den  Ansichten,  den  Gefühlen,  dem  Geschmack,  die  bei  der 
Wende  des  Jahrhunderts  statthatte,  bezeichnen  eine  Revolution,  die  in 
vieler  Hinsicht  tiefer  griff,  als  die  sogenannte  erste  Revolution  zwei 
Jahrhunderte  später.  Wir  sahen,  wie  alles  neu  zu  begründen  war,  und 
■wie  es  lange  Jahre  des  Tastens  und  Suchens  bedurfte,  bevor  man  sich 


231 


wieder  zurecht  fand  und  eine  neue,  feste  Organisation  schaffen  konnte. 
Nicht  minder  mühsam  war  in  der  Litteratur  der  Weg  von  Ronsard  bis 
Corneille,  und  die  Änderung  nicht  minder  bedeutend.  Das  Ideal,  das 
Ronsards  Zeitgenossen  vorgeschwebt  hatte,  die  Ausbildung  einer  klassi- 
schen nationalen  Sprache  und  Litteratur,  sollte  erst  sechzig  Jahre  später 
von  Corneille  verwirklicht  werden.  Allein  da  die  Verhältnisse  sich  ge- 
ändert hatten,  trug  die  Litteratur,  die  nun  erwuchs,  andere  Blüten,  und 
zeitigte  andere  Früchte,  als  sie  getragen  hätte,  wenn  sie  sich  in  dem 
Jahrhundert  zuvor,  von  einem  aufstrebenden  Bürgertum  gepflegt,  hätte 
entfalten  können.  So  aber  hatten  wir  in  den  einleitenden  Abschnitten 
nachzuweisen,  wie  der  dritte  Stand  durch  eine  gewaltsame  Reaktion  ge- 
schwächt wurde,  und  sich  an  dem  Aufbau  der  Litteratur  nur  in  geringem 
Maß  beteiligen  konnte. 

Bei  der  Betrachtung  der  Verhältnisse  in  den  ersten  drei  Decennien 
des  Jahrhunderts  fanden  wir  mehrere  Erscheinungen,  deren  Zusammen- 
treffen bewirkte,  daß  das  Geistesleben  des  französischen  Volkes  die 
Richtung  annahm,  welche  es  so  lange  konsequent  verfolgte.  Es  war 
zunächst  der  Einfluß,  den  der  Adel  fast  ausschließlich  auf  die  Litteratur 
ausübte,  sodann  die  Einseitigkeit  der  Ideale  jener  Zeit  und  die  Ai'mut 
ihrer  Gedankenwelt,  sowie  endlich  das  dadurch  hervorgerufene  Über- 
gewicht der  äußeren  Form  über  den  geistigen  Gehalt  in  den  Schöpfungen 
der  ganzen  Epoche. 

Nur  die  hohe  Gesellschaft  hatte  zu  jener  Zeit  die  Bildung,  die 
Mittel  und  die  nötige  Muße,  um  sich  für  die  Litteratur  zu  interessieren 
und  sie  durch  ihre  Teilnahme  und  freigebige  Unterstützung  zu  kräftigen. 
Der  politischen  Macht  beraubt,  mehr  und  mehr  an  den  Hof  gefesselt 
und  ohne  ernste  Aufgabe,  suchte  der  Adel  sein  Genüge  in  einem  bald 
gröberen,  bald  edleren  Lebensgenuß.  Die  Dichtkunst  schien  ihm  dazu 
eine  passende  Hilfe;  sie  galt  ihm  eben  auch  nur  als  ein  Zeitvertreib, 
als  ein  Schmuck  des  geselligen  Lebens.  Aber  indem  die  vornehme  Ge- 
sellschaft ihrem  Geschmack  an  den  Worten  der  Dichtkunst  Raum  gab, 
gewann  sie  dadurch  einen  maßgebenden  Einfluß  auf  dieselbe.  Sie 
bestärkte  die  Litteratur  in  ihrem  Streben  nach  Feinheit,  Eleganz,  Klar- 
heit, wie  sie  ihrerseits  durch  das  rege  Interesse  für  die  Werke  des 
Geistes  sich  selbst  hob  und  jene  Bildung  erlangte,  welche  sie  vor  der 
Aristokratie  anderer  Länder  so  vorteilhaft  auszeichnete.  Diese  über- 
mächtige Einwirkung  der  hohen  Gesellschaft  auf  die  Entwicklung  der 
Litteratur  hatte  indessen  auch  ihre  großen  Nachteile.  Wenn  auch  die 
Mittelklassen  schon  zur  Zeit  Ludwigs  XIV.  einen  stetig  wachsenden 
Anteil  an  der  Litteratur  nahmen  und  ihr  einen  neuen  Geist  ein- 
hauchten, so  hat  doch  die  französische  Dichtung  des  17.  und  18.  Jahr- 
hunderts niemals  verleugnen  können,  daß  sie  sich  aus  einer  höfischen 
Litteratur  entwickelte.  Man  sehe,  wie  sich  ein  Jahrhundert  später,  unter 
den  ungünstigsten  Verhältnissen,  aber  frei  aus  dem  Volksgeist  erwachsend, 
die  klassische  Litteratur  in  Deutschland  entfaltete,  und  man  wird  den 
Unterschied  verstehen,  der  durch  diesen  entgegengesetzten  Gang  der 
Entwicklung  hervorgerufen  wurde. 


232 

Der  zweite  Faktor,  den  wir  betonea  mußten,  war  die  geistige 
Armut  der  damaligen  Zeit,  und  ihr  Mangel  an  Schwung.  Die  Polgen 
der  verderblichen  Bürgerkriege,  die  den  Kern  des  Volkes  am  schwersten 
betroffen  hatten,  machten  sich  immer  noch  schmerzlich  fahlbar.  Die 
Nation  sehnte  sich  nach  Ruhe,  sie  suchte  neue  Kräfte  zu  sammeln  und 
war  jedem  Kampf,  besonders  jedem  Kampf  um  höhere  geistige  Güter 
auf  längere  Zeit  abgeneigt.  Nirgends  verspürte  mau  den  Hauch  eines 
erhebenden,  das  Gemüt  läuternden  Strebens  nach  Humanität,  nach  Frei- 
heit, nach  Wahrheit.  Selbst  die  Philosophie  wagte  nur  schüchtern  einige 
Schritte  von  dem  betretenen  Weg  abzuweichen.  So  sprach  aus  der  Litte- 
ratur  der  damaligen  Zeit  kein  mächtiger  Volksgeist.  Die  französische 
Litteratur  kümmerte  sich  noch  nicht  um  das  Volk  und  konnte  folglich 
anch  nicht  zu  ihm  reden.  Sie  konnte  nur  die  Anschauungen,  und  Ideale 
der  aristokratischen  Gesellschaft,  eines  engbegrenzten  Kreises,  zur  Geltung 
bringen.  Diese  Ideale  aber  hatten  keinen  hohen  Flug;  sie  waren  mehr 
eine  Sache  der  Konvention  und  künstlich  zur  Geltung  gebracht.  Nur 
in  der  damals  so  eigentümlich  gekünstelten  vornehmen  Welt  der  roma- 
nischen Länder  konnten  sie  ihre  Entstehung  finden  und  sich  längere 
Zeit  erhalten.  Liebe  und  Ehre  galten  als  die  beiden  Leitsterne,  welche 
die  edlen  Menschen  führen  sollten;  Liebe  und  Ehre  erschienen  als  die 
einzigen  Güter,  um  welche  ein  ritterlicher  Sinn  sich  mühen  solle,  deren 
Besitz  allein  dem  Leben  einen  Wert  zu  geben  vermöge.  Und  selbst  diese 
beiden  Begriffe  waren  sonderbar  entstellt.  Wir  haben  gesehen,  wie  das 
Gefühl  der  Liebe  jeder  wahren  Eegung  entfremdet  und,  durch  spitzfindig 
ersonnene  Begriffe  gefälscht,  zur  frostigen  Galanterie  wurde ;  und  in 
ähnlicher  Weise  beschränkte  sich  die  Idee  der  Ehre  auf  eine  von  klein- 
lichem Geist  geregelte  Standesehre,  deren  Gebote  dem  größeren  Publikum 
niemals  verständlich   werden  konnten. 

Wir  werden  die  Ideale  des  17.  Jahrhunderts  und  deren  Einfluß 
auf  die  klassische  Litteratur  Frankreichs  in  unserem  zweiten  Teil 
genauer  besprechen.  Hier  wollen  wir  nur  darauf  hindeuten,  daß  man  im 
Beginn  des  17.  Jahrhunderts  umso  größeres  Gewicht  auf  die  äußere 
Form  legte,  je  geringer  damals  die  Kraft  des  geistigen  Lebens  war. 
Nach  so  schweren  Stürmen  wollte  man  das  Leben  genießen;  aber  man 
begann,  den  Genuß  in  feinerer  Form  zu  wünschen.  Man  centralisierte, 
oreinete,  vereinfachte,  wie  in  der  Politik,  so  in  der  Litteratur;  man 
klärte,  feilte,  regelte  die  Beziehungen  des  geselligen  Lebens  nicht  minder 
wie  die  Sprache  und  die  Erzeugnisse  der  Dichtung.  Eine  verständige 
Nüchternheit  gab  auf  allen  Gebieten  den  Ton  an. 

Trotz  dieser  entschiedenen  Betonung  der  Form  kam  man  über 
eine  enggezogene  Grenze  nicht  hinaus.  Es  fehlte  die  Harmonie,  das 
Feuer  der  Begeisterung  im  Leben  wie  in  der  Litteratur.  Die  Arbeit  der 
ganzen  Epoche  war  mehr  vorbereitender  Natur,  und  eine  geraume  Zeit 
mußte  verstreichen,  bevor  die  Sprache  die  ersehnte  Ausbildung  erlangte. 
Aber  mit  diesem  formalen  Gewinn  war  nicht  viel  erreicht,  wenn  nicht 
gleichzeitig  das  Volk  in  seinem  areistigen  Leben  erstarkte. 


233 


Eine  Litteratur ,  die  nur  für  eine  kleine  Schichte  des  Volkes  be- 
stimmt scheint,  muß  einseitig  werden  und  verarmen.  Auf  diesem  Weg 
war  die  französische  Dichtung  trotz  aller  ihrer  reformatorischen  Be- 
mühungen. Sollte  sie  wirklich  Großes  leisten,  so  mußte  zuvor  der  Bann, 
der  sie  lähmte,  gebrochen  und  das  Volk  selbst  zur  Teilnahme  gerufen 
werden.  Diese  Aufgabe  übernahm  die  Bühne,  die  ohne  die  Teilnahme 
weiterer  Kreise  nicht  bestehen  kann.  Darum  sehen  wir  die  dramatische 
Dichtung  in  so  rascher  Entwicklung,  sobald  nur  einmal  die  Aufmerk- 
samkeit des  Volkes  für  sie  gewonnen  ist.  Während  auf  den  anderen  Ge- 
bieten der  Poesie :  in  der  Lyrik,  im  Epos,  im  Roman,  die  alte  Manier 
noch  lange  vorherrscht,  erhebt  sich  das  Drama  im  Lauf  weniger  Jahre 
zur  Höhe  einer  nationalen  klassischen  Dichtung.  Die  dramatische  Poesie 
eröffnete  die  Epoche  der  großen  französischen  Litteratur  und  wußte  auch 
später  den  klassischen  Charakter  am  reinsten  und  entschiedensten  dar- 
zustellen. 

.  In  den  dreißiger  Jahren  des  17.  Jahrhunderts  erhoben  sich  zwei 
Männer,  welche  den  Geist  des  französischen  Volkes  vorzüglich  zum  Aus- 
druck brachten  und  auf  ihre  Landsleute  den  mächtigsten  und  nachhal- 
tigsten Einfluß  ausübten,  Corneille  und  Descartes.  Wie  Corneille  durch 
sein  Sprachgefühl,  seine  stürmische  Beredsamkeit,  den  Schwung  und  die 
Kraft  seiner  dramatischen  Dichtungen  der  französischen  Litteratur  eine 
neue  Richtung  gab,  die  sie  lange  Zeit  bewahren  sollte,  wie  er  der  poe- 
tischen Sprache  seines  Volkes  eine  bis  dahin  ungekannte  Schönheit  und 
Macht  verlieh,  so  förderte  Descartes  fast  gleichzeitig  durch  seine  philo- 
sophischen Arbeiten  die  seit  lange  begonnene  Ausbildung  der  Prosa,  und 
sicherte  der  rationalistischen  Denkweise,  die  schon  vor  ihm  zur  Geltung 
gelangt  war,  die  dauernde  Herrschaft  in  Frankreich.  Er  brachte  den 
Charakter  der  Nation  in  seinem  „Discours  de  la  methode"  so  wunderbar 
zum  Ausdruck,  daß  dieses  Werk  bis  heute  noch  als  die  wichtigste  philo- 
sophische Leistung  Frankreichs  anzusehen  ist. 

Corneille  und  Descartes  sind  die  zwei  mächtigen  Geister,  welche 
die  französische  Litteratur  zur  Höhe  führen  und  ihr  den  Stempel  ihres 
Geistes  .aufdrücken.  Ihnen  wird  daher  der  folgende  Teil  unseres  Werks 
vorzugsweise  gewidmet  sein. 


II.    Theil 


Die  Litteratur 

unter  dem  Einfluß  der  aristokratischen  Gesellschaft. 

1636—1653. 


Einleitung. 

Auf  seinen  Wanderungen  durch  fremdes  Land  gelangt  der  Rei- 
sende wol  manchmal  auf  eine  Höhe,  wo  sich  ihm  unerwartet  eine  neue 
weite  Aussicht  öffnet.  Sein  überraschtes  Auge  schweift  über  eine  frucht- 
bare Ebene,  die  von  einem  mächtigen  Gebirge  begrenzt  wird.  Wie  eine 
glatte,  blaue  Wand  steigt  es  am  Horizont  empor,  aber  obwol  noch 
meilenweit  entfernt,  läßt  es  schon  deutlich  seinen  Charakter  erkennen. 
Denn  die  Höhen  heben  sich  entweder  in  schön  geschwungenen,  harmo- 
nischen Linien  von  dem  Himmel  ab  oder  sie  zeigen  in  der  unregel- 
mäßigen Folge  jäh  aufsteigender  Spitzen  und  tief  eingeschnittener  Thäler 
das  Bild  der  Rauheit  und  wilden  Laune.  Was  aber  in  der  Ferne  tot 
und  eintönig  erschien ,  gewinnt  mannigfaltige  Form  und  individuellen 
Charakter,  sobald  man  sich  nähert,  bis  sich  zuletzt  ein  zauberhaftes 
Bild  landschaftlicher  Schönheit  entfaltet.  Wo  der  Wanderer  früher  nur 
eine  gleichförmige  Gebirgsmasse  gesehen  hat,  entdeckt  er  jetzt  vorsprin- 
gende Hügel  und  sanfte  Thäler,  ein  reizendes  Farbenspiel  von  Licht 
und  Schatten;  bemerkt  er,  weiter  vorschreitend,  den  Wechsel  von  Wald 
und  Wiesen,  nacktem  Gestein  und  fruchtbarem  Feld,  findet"  er  überall 
Leben  und  Kultur.  Wie  anders  wirkt  dieses  Einzelbild  in  seiner  Mannig- 
faltigkeit auf  ihn  ein,  und  doch  wird  es  das  erste  allgemeine  Urteil 
über  die  Natur  des  ganzen  Gebirgszugs  nur  bestätigen. 

Ähnlich  ergeht  es  uns  mit  der  Geschichte  der  Nationen.  Über- 
sichtlich betrachtet,  zeigt  jedes  Volk  einen  eigentümlichen  Charakter, 
dessen  Bild  uns  unverwischt  erhalten  bleibt,  auch  wenn  uns  bei  genauerer 
Erforschung  seines  Wesens  eine  Fülle  eigenartiger  Gestalten  und  ver- 
schiedenster Typen  entgegentritt.  —  Nicht  anders  verhält  es  sich  mit 
i-em  Urteil  über  die  einzelnen  Jahrhunderte.  Ein  jedes  erscheint  uns  . 


238 

zuerst  wie  von  einem  Streben,  von  einem  Willen  beseelt,  demselben 
Geschmack  huldigend,  wie  ein  selbständiges,  sein  eigenes  Leben  füh- 
rendes Individuum.  Geht  man  jedoch  näher  in  seine  Geschichte  ein,  so 
erkennt  man  bald  auch  hier,  wie  bei  dem  Gebirge  am  Horizont,  lebens- 
volle Verschiedenheit  und  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinung.  Was  uns 
einheitliches  Streben  schien,  zeigt  sich  nun  vor  unserem  Blick  als  auf- 
und  abwogender  Kampf,  als  Sieg,  Aufschwung  und  Niedergang. 

Die  einleitenden  Seiten  unseres  ersten  Teils  haben  die  Arbeit  des 
17.  Jahrhunderts  als  eine  den  Reformideen  der  früheren  Zeit  entgegen- 
gesetzte Thätigkeit  bezeichnet.  Als  charakteristisch  erschien  uns  sein 
Streben  nach  Ordnung  und  Klarheit,  mit  dem  sich  ein  feiner  Sinn  für 
die  Schönheit  der  Form  verband.  Wir  sahen,  wie  diese  Tendenzen  in 
der  Politik  zur  Centralisation  und  straffen  Organisation ,  zur  Stärkung 
der  königlichen  Macht  führten;  wie  sie  im  geselligen  Leben  der  oberen 
Klassen  einen  oft  künstlichen,  im  ganzen  aber  geistig  angeregten  Ver- 
kehr begründeten ,  wie  sie  in  der  Litteratur  den  Weg  zur  klassischen 
Höhe  zeigten. 

Dieser  Eindruck  bleibt  uns,  auch  wenn  wir  die  einzelnen  Ereig- 
nisse schärfer  ins  Auge  fassen.  Die  Menschen  jener  Zeit  lassen  alle  den 
fördernden  oder  mäßigenden  Einfluß  dieses  Grundzugs  erkennen,  mögen 
sie  sonst  auch  ihrem  Charakter  nach  völlig  verschieden  sein.  Das  Frank- 
reich des  17.  Jahrhunderts  schlug  keine  jener  großen  geistigen  Schlachten, 
die  oft  das  Schicksal  ganzer  Erdteile  bestimmen ;- es  bebte  nicht  unter  den 
Zuckungen  innerer  Leiden,  schwerer  Seelenkämpfe,  die  in  den  glühenden 
Worten  einzelner  ihren  Ausdruck  finden:  es  hatte  keinen  Dante,  keinen 
Eousseau.  Es  kannte  nicht  jene  Unruhe  der  Seele,  nicht  den  dunklen 
Drang,  den  verzehrenden  dämonischen  Durst  nach  Wissen  und  Genießen, 
und  so  schuf  es  auch  kein  Gedicht,  in  dem  sich,  wie  im  „Faust'-,  das 
bedrängte  Gemüt  einer  ganzen  Generation  offenbart. 

Gerade  im  Gegenteil.  Das  17.  Jahrhundert  brachte  für  Frankreich 
eine  Zeit  der  Sammlung,  der  harmonischen  Übereinstimmung  zwischen 
Sinnen  und  Handeln,  Wollen  und  Vollbringen,  zwischen  den  Gedanken 
und  ihrem  Ausdruck,  der  Sprache.  Nach  den  furchtbaren  dreißigjährigen 
Religionskriegen  ist  es  geradezu  wunderbar,  das  Volk  nicht  etwa  in  arm- 
seligem Dahinsiechen  zu  erblicken,  sondern  eine  Nation  zu  finden,  welche 
den  Eindruck  jugendlicher  Ki'aft  macht  und  im  entschiedenen  Aufschwung 
begriffen  ist.  Freilich  war  das  Bürgertum,  das  in  früherer  Zeit  republi- 
kanische Gesinnung  gehegt  und  seinen  Anteil  an  der  Regierungsgewalt 
verlangt  hatte,  zurückgeschlagen  worden.  Es  hatte  die  Kraft  und  den 
Mut  verloren,  sein  Recht  aufs  neue  direkt  zu  fordern.  Aber  es  gab  seine 
Ansprüche  nicht  auf;  es  wählte  nur  den  sicheren  Weg  statt  des  gefähr- 
lichen Pfads,  indem  es  in  langsamer  Arbeit  erst  seine  Kräfte  sammelte 
und  darauf  bedacht  war,  das  Nächstliegende  zu  erreichen,  um  sich  wieder 
eine  feste  Stellung  zu  schaffen.  So  war  der  Kampf  um  die  Herrschaft, 
den  man  im  16.  Jahrhundert  geführt  hatte,  noch  keineswegs  ausgerungen ; 
er  war  nur  auf  ein  friedliches  Feld  übergeleitet  und  man  focht  mit  an- 


239 


deren  Waffen.  Ja  selbst  der  religiöse  Streit,  der  mit  Heinrichs  IV.  Be- 
kehrung geschlichtet  schien,  währte  im  stillen  noch  fort.  Von  Zeit  zu 
Zeit  züngelten  die  Flammen  unter  der  dichten  Aschendecke  hervor,  und 
bewiesen,  daß  die  Lohe  noch  keineswegs  erloschen  war. 

Dem  17.  Jahrhundert  seinen  Charakter  noch  deutlicher  aufzuprägen, 
vereinten  sich  drei  Factoren :  die  überwältigende  Macht  des  neu  auf- 
lebenden Altertums,  der  Einfluß  Spaniens  und  Italiens,  sowie  das  Bündnis, 
das  seit  kurzem  Königtum  und  Papsttum  miteinander  geschlossen  hatten. 

Wir  haben  bereits  in  dem  ersten  Teil  dieses  Werks  die  Einwir- 
kung des  alten  Rom  nachgewiesen.  Sie  machte  sich  nicht  aHein  in  der 
Litteratur  geltend,  sondern  formte  auch  die  politischen  Anschauungen 
des  französischen  Volkes  um.  Aber  nicht  das  republikanische  Rom,  son- 
dern die  Stadt  der  ersten  Cäsaren  mit  ihrer  Theorie  des  unumschränkten 
Herrschertums  und  ihrer  höfischen  und  rhetorischen  Litteratur  wurde  für 
das  17.  Jahrhundert  maßgebend. 

Nicht  minder  anregend  war  das  Vorbild  der  spanischen  und  itali- 
schen Nachbarländer;  dasselbe  wirkte  sogar  noch  stärker,  weil  es  nahe 
und  lebendig  war.  In  der  Vorrede  zu  „Persiles  und  Sigismunde"  konnte 
Cervantes  behaupten,  daß  jedermann  in  Frankreich  sich  mit  der  spani- 
schen Sprache  beschäftige.^)  Wie  die  Schauspiele,  die  Romane,  wie  die 
Sitten-  und  Lebensanschauungen  von  jenseits  der  Pyrenäen  und  der  Alpen 
nach  Frankreich  gebracht  wurden,  haben  wir  schon  geschildert.  Doch 
hat  man  vielleicht  noch  nicht  genugsam  beachtet,  daß  auch  die  Theorie 
von  der  königlichen  Machtvollkommenheit  aus  Spanien  kam,  wo  die 
Könige  früher  als  anderswo  jede  hemmende  Fessel  abgestreift  und  be- 
sonders die  Cortes  der  einzelnen  Provinzen  ihrer  politischen  Bedeutung 
beraubt  hatten.  Ludwig  XIV.,  der  seine  Autorität  so  unumschränkt  ge- 
staltete, hat  auch  hierin,  bewußt  oder  unbewußt,  nur  das  Vorbild  der 
spanischen  Habsburger  nachgeahmt.  Selbst  die  Kirche  hatte  sich  vor 
den  Königen  von  Spanien  beugen  müssen.  Schon  Ferdinand  der  Katho- 
lische hatte  für  sich  und  seine  Nachfolger  dem  Papst  gegenüber  das 
Recht  behauptet,  die  geistlichen  Stellen  in  seinem  Land  nach  eigenem 
Gutdünken  zu  besetzen. 

Frankreich  in  der  einmal  eingeschlagenen  Richtung  festzuhalten, 
half  noch  ein  dritter  Umstand:  das  Bündnis  des  Königtums  mit  der 
Kirche.  Während  sich  die  Hierarchie  in  den  früheren  Jahrhunderten 
grundsätzlich  der  fürstlichen  Gewalt  widersetzt  hatte,  um  sie  nicht  selbst- 
ständig und  übermächtig  werden  zu  lassen,  hatte  Papst  Pius  IL  zuerst 
diese  Tendenz  mit  Bewußtsein  aufgegeben,  und  seit  dem  Schluß  des  Tri- 
dentiner  Konzils  (1563)  ging  das  Papsttum  Hand  in  Hand  mit  dem 
Königtum.^)  Geistliche  und  weltliche  Macht  versöhnten  sich,  um  die  ge- 
fährlichen Neuerer,    welche    Staat  und  Kirche  reformieren  wollten,     ge- 


1)  Darüber,  wie  überhaupt  über  den  Einfluß  Spaniens  und  Italiens  auf 
Frankreich  siehe  I.  Teil,  S.  18,  dieses  Werks,  sowie  E.  Baret,  Espagne  et  Pro- 
vence, Clermont-Ferrand,  1857,  p.  214. 

2)  Siehe  Leopold  v.  Ranke,  Geschichte  der  Päpste,  I,  S.  351  (4.  Aufl.  1854). 


240 


meinsam  zu  bekämpfen.  Wie  sich  nun  nach  der  Beendigung  der  Huge- 
nottenkriege Frankreich  in  seinem  staatlichen  Leben  überraschend  schnell 
erholte,  so  zeigte  auch  die  katholische  Kirche,  die  schwer  gelitten  hatte, 
das  Bemühen,  sich  in  den  Gemütern  des  Volkes  neu  zu  befestigen.  Der 
Klerus  wurde  reformiert,  die  in  Prankreich  ansässigen  Mönchsorden  der 
Benediktiner,  Cistercienser,  Augustiner  einer  strengen  Disciplin  unter- 
worfen, fremde  Orden  neu  nach  Frankreich  verpflanzt.  Im  Jahr  1604 
wurde  das  erste  Kloster  der  Karmeliterinnen ,  die  aus  Spanien  kamen, 
in  Frankreich  begründet,  und  nach  25  Jahren  zählte  man  deren  schon 
vierzig. 

Jeanne  de  Rabutin-Chantal,  die  Großmutter  der  Sevigne,  vernach- 
lässigte zwar  die  Erziehung  ihres  Sohns,  gründete  aber  mit  Fran^ois 
de  Sales  den  Orden  der  „Visitandines"  oder  Salesianerinnen  und  errichtete 
für  denselben  über  achtzig  Klöster.  Der  Freund  Descartes',  Kardinal 
Berulle,  stiftete  1613  den  Orden  „de  rOratoire'%  dessen  Mitglieder  sich 
der  Ausbildung  der  Geistlichen  widmeten.  Vincenz  de  Paula  reformierte 
die  Armen-  und  Krankenpflege,  und  suchte  mit  der  Hingebung  eines 
opferfreudigen  Gemüts  das  unsägliche  Elend,  das  er  überall  fand,  zu 
lindern.  Besondere  Aufmerksamkeit  aber  schenkte  die  Kirche  der  Er- 
ziehung des  Volkes.  Unter  Heinrich  IV.  kamen  die  Jesuiten  zurück 
und  übernahmen  einen  größeren  Teil  des  Unterrichts.  Im  Jahre  1606 
erneuerte  Heinrich  ein  altes  Edikt,  das  den  Volksschullehrern  auferlegte, 
sich  von  den  Geistlichen  hinsichtlich  ihrer  Fähigkeit  prüfen  zu  lassen, 
und  die  Bischöfe  beförderten  eifrig  die  Verbreitung  der  öffentlichen 
Schulen.  Ihr  Zustand  war  freilich  jämmerlich  genug. ^) 

In  der  ersten  Zeit  des  Jahrhunderts  war  man  sich  des  Ziels  noch 
nicht  klar  bewußt.  Wir  haben  gesehen,  wie  die  innere  Politik  nach  dem 
Tode  Heinrichs  IV.  hin  und  her  schwankte,  wie  der  Geschmack  unent- 
schieden war,  wie  man  gewissermaßen  tastend  seinen  Weg  suchte.  Die 
Politik  fand  zuerst  eine  bestimmte  Richtung,  die  ernsten  Ereignisse  in 
den  Nachbarländern  gaben  den  französischen  Staatsmännern  einen  deut- 
lichen Wink.  In  Deutschland  entbrannte  der  furchtbare  Krieg,  der 
ebensowol  um  die  Religion,  als  um  die  kaiserliche  Macht  geführt  wurde ; 
in  England  geriet  der  König  mit  dem  Parlament  in  Fehde  und  der 
Ausbruch  des  Bürgerkriegs  drohte  auch  dort.  Umso  entschiedener 
arbeitete  Richelieu  darauf  hin,  in  Frankreich  die  Wiederkehr  ähnlicher 
Zustände  zu  verhüten.  Während  in  Deutschland  die  Reichsfürsten  sich 
jeder  Verpflichtung  gegen  den  Kaiser  zu  entziehen  suchten,  demütigte 
Richelieu  die  stolzen  Vasallen  seines  Königs  und  duldete  keinen  Wider- 
stand gegen  den  Willen  des  Monarchen. 

Fast  gleichzeitig  mit  dieser  Stärkung  der  königlichen  Autorität 
arbeitete  sich  auch  die  französische  Litteratur  aus  dem  Ungeschmack 
und  der  überfeinen  Zierlichkeit  zur  Klarheit  und  klassischen  Schönheit 
empor.  Der  „Cid"   bezeichnete  den  Anbruch  einer  neuen  großen  Zeit. 

1)  Vergleiche  Albert  Babeau,  Le  village  sous  l'ancien  regime.  Paris  1879, 
Didier  &  Cie.  2.  edit.  livre  V,  eh.  1  („l'ecole"),  p.  283. 


241 


Allein  noch  war  weder  die  königliche  Macht  auf  die  Dauer  ge- 
sichert, noch  auch  die  Litteratur  ihres  Erfolgs  gewiß.  Noch  war  manche 
Krise  zu  bestehen,  bevor  beide  ihr  Ziel  erreichten,  und  die  politischen 
Schwankungen  blieben  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  litterarische  Entwick- 
lung. Auch  hier  zeigt  es  sich  wieder,  daß  Politik  und  Litteratur  in 
engster  Wechselbeziehung  zu  einander  stehen. 

Auf  die  Periode  des  Umschwungs  während  der  ersten  Decennien 
des  IG.  Jahrhunderts  folgte  naturgemäß  eine  Zeit  des  Rückschlags. 
Zunächst  in  der  Politik.  Die  Aristokratie,  welche  sich  ihres  Einflusses 
beraubt  sah,  versuchte  es,  die  verlorene  Position  wieder  zu  gewinnen. 
Sie  erhob  sich  noch  einmal  zum  Ansturm  gegen,  die  Macht  des  Königtums. 
Dieses  letzte  Aufraffen  des  Adels  fällt  in  die  späteren  Jahre  der  Regie- 
rung Ludwigs  Xin.  und  in  die  Zeit  der  Regentschaft.  Es  war  ein 
wichtiger  Zeitraum,  wenn  er  auch  nur  wenige  Jahre  umfaßte  (1636  bis 
1653).  Erst  nach  heftigem  Kampf  errang  das  Königtum  im  Krieg  der 
Fronde  den  entscheidenden  Sieg,  der  seine  Macht  150  Jahre  begründete 
und  das  Princip  der  absoluten  Herrschergewalt  des  Monarchen  zur 
Geltung  brachte.  Daß  Ludwig  XIV.  anfangs  noch  Mazarin  für  sich 
regieren  ließ,  und  erst  später  selbständig  auftrat,  ändert  nichts  in  der 
Thatsache. 

Betrachten  wir  in  raschem  Überblick  die  politische  Geschichte  jener 
Jahre. 

Richelieu,  der  Mann  mit  dem  eisernen  Geist  in  dem  schwachen 
Körper,  hielt  Prankreich  fest  unter  seiner  Herrschaft.  Wer  sich  gegen 
ihn  erhob,  büßte  mit  seinem  Blut.  Die  Aufstände  des  Volkes  in  den 
einzelnen  Provinzen  wurden  ohne  Erbarmen  niedergeschlagen,  die  revol- 
tierenden Großen  nicht  minder  streng  behandelt.  Montmorency  legte 
sein  Haupt  auf  den  Block,  obwol  er  mit  der  königlichen  Familie  ver- 
wandt war;  Cinq-Mars,  des  Königs  Liebling,  mußte  sterben,  als  er  sich 
in  verräterische  Verbindungen  mit  dem  Ausland  einließ.  Dachte  doch 
Richelieu  ernstlich  daran,  sogar  den  Bruder  des  Königs,  Gaston  von  Or- 
leans, den  ewigen  Unruhestifter,  vor  Gericht  zu  stellen;  und  nur  dessen 
demütige  Unterwerfung  konnte  ihn  zur  Nachsicht  bewegen.  Ja  er  ging 
noch  weiter  und  erkühnte  sich,  die  Königin  in  Untersuchung  zu  ziehen 
und  auf  ihre  Papiere  Beschlag  zu  legen.  Dennoch  hat  auch  Richelieu 
nicht  vermocht,  den  widerspänstigen  Geist  der  großen  Vasallen  ganz  zu 
bändigen.  Nocl^  im  Jahr  1641  verbündete  sich  der  Herzog  von  Bouillon 
mit  einem  Prinzen  aus  königlichem  Geblüt,  dem  Grafen  von  Soissons, 
sowie  mit  dem  Herzog  von  Guise,  und  rief  kaiserliche  Truppen  unter 
Lamboi  ins  Land.  Der  Aufstand  mißlang;  Soissons  fiel  in  einem  Gefecht 
und  Bouillon  mußte  auf  die  Souverainetät,  die  er  bis  dahin  über  Sedan 
besessen  hatte,  verzichten. 

So  erklärt  es  sich,  wie  die  Hoffnungen  der  stolzen  Herzoge  und 
Pairs,  welche  die  Herrschaft  Richelieus  nur  zähneknirschend  ertragen 
hatten,  wieder  auflebten,  als  der  verhaßte  Minister  1642  das  Zeitliche 
segnete  und  sein  König,  Ludwig  XIIL,  ihm  schon  das  Jahr  darauf 
folgte. 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  ig 


242 


Eine  schwache  Kegentschaft  konnte  den  Ehrgeizigen  Gelegenheit 
bieten,  die  alte  Machtstellung  wieder  zu  erlangen.  Alles  kam  darauf  an, 
welche  Haltung  Anna  von  Österreich  annahm.  Sie  war  eine  Feindin 
Eichelieus  gewesen;  so  konnte  mau  hoffen,  daß  sie  seine  Politik  über 
Bord  werfen ,  sich  mit  der  Partei  des  hohen  Adels  verbünden  werde. 
Ihr  erster  Schritt  kündigte  eine  solche  Wendung  an.  Mit  Hilfe  der 
Großen  stieß  sie  zunächst  das  Testament  des  verstorbenen  Königs  um 
und  bemächtigte  sich  der  vollen  Regierungsgewalt.  Dazu  bedurfte  sie 
der  Einwilligung  des  Pariser  Parlaments,  das  von  Richelieu  schwer  ge- 
kränkt worden  war,  jetzt  aber  sich  wieder  in  seiner  Bedeutung  und 
Machtstellung  anerkannt  sah.  Auch  hier  erwachten  Tendenzen  früherer 
Zeit,  und  die  Lehre  von  der  Hoheit  des  Parlaments  war  im  Xu  wieder 
lobendig. 

So  begann  die  Zeit  der  Regentschaft  unter  schwierigen  Verhält- 
nissen. Wider  Erwarten  aber  ging  die  Königin  auf  die  ihr  zugedachte 
Rolle  nicht  ein.  Nnn  sie  alleinige  Regentin  war,  ernannte  sie  den  Ge- 
nossen Richelieus.  den  Kardinal  Mazarin.  zu  ihrem  ersten  Minister  und 
erklärte  damit,  die  Wege,  welche  die  Regierung  bis  dahin  gewandelt 
war,  nicht  verlassen  zu  wollen.  Da  wurde  es  klar,  daß  über  kurz  oder 
lang  ein  Zusammenstoß  unvermeidlich  Avar.  Denn  Mazarin,  der  die 
Schlauheit  und  eine  gefährliche  Schaukelpolitik  als  Regierungssystem  an 
Stelle  der  rücksichtslosen  Strenge  Richelieus  setzte,  war  nicht  kräftig 
genug,  um  die  Parteien  zu  zügeln,  und  auch  die  Regentin  war  ihrer 
schweren  Aufgabe  nicht  gewachsen.  Die  früheren  Gegner  Richelieus. 
die  sich  als  Opfer  einer  ungerechten  Politik  hinstellten,  wurden  immer 
ungestümer  in  ihren  Forderungen.  Man  hieß  sie  „die  Iraportants".  da 
sie  sich  so  wichtig  machten.  In  ihren  Reihen  fand  man  die  Herzoge 
von  Guise,  Epernon.  Beaufort.  letzterer  ein  Sohn  Vendömes  und  Enkel 
Heinrichs  lY.;  ferner  den  Prinzen  Marsillac,  der  sich  nach  seines  Vaters 
Tod  als  Herzog  von  Larochefoucauld  bekannt  machte;  Paul  de  Gondi. 
später  Kardinal  von  Retz,  eine  verschlagene,  ehrgeizige  Natur.  Die 
Regentin  hoffte  sie  durch  halbe  Nachgiebigkeit  zu  gewinnen.  Es  regnete 
Gnadenakte,  riesige  Geldgeschenke. 

Die  einen  erhielten  als  Statthalter  die  Regierung  wichtiger  Pro- 
vinzen, andere  wurden  mit  festen  Städten  abgefunden;  wieder  andere 
wurden  in  ihrem  Rang  erhöht  und  sonnten  sich  im  Glanz  ihrer  neuen 
Würde.  Ein  Zeitgenosse,  La  Feuillade,  bemerkte  einmal,  die  französische 
Sprache  kenne  nur  noch  ein  paar  Wörtchen:  „die  Königin  ist  so  gut."  ^ 
Ja,  sie  war  so  gut,  daß  sie  nicht  begriff,  wie  der  Ehrgeiz  der  Großen 
durch  solche  Konzessionen  nicht  befriedigt,  sondern  nur  noch  mehr  ge- 
reizt wurde.  Warum  sollten  die  Statthalter  sich  nicht  allmählich  zu  erb- 
lichen Fürsten  umwandeln  können,  wie  dies  in  Deutschland  geglückt 
war?  So  schien  man  nun  doch  zu  dem  Feudalsystem  der  früheren  Zeit 
zurückzukehren. 


')  Retz,  Memoires,  t.  I,  gegen  das  Ende. 


243 


Das  dauerte,  so  lang  es  eben  dauern  konnte.  Einige  Jahre  ver- 
strichen noch  in  friedlicher  Weise.  So  lang  die  Eegentin  die  Mittel 
besaß,  die  Habsucht  der  Großen  zu  beschwichtigen,  konnte  sie  den  Aus- 
bruch der  Unruhen  beschwören.  Dabei  operierte  Mazarin  sehr  schlau. 
Die  Häuser  Orleans  und  Conde,  beide  von  königlichem  Stamm,  standen 
einander  eifersüchtig  gegenüber,  und  der  Minister  benützte  diesen  Um- 
stand, um  die  Partei  des  einen  durch  die  des  andern  in  Schach  zu 
halten.  Die  Staatskunst  sank  zur  Fertigkeit  in  kleinlichem  Intriguenspiel 
herab.  Aber  niemals  schien  das  Land  ruhiger,  glücklicher.  Glänzende 
Feste,  rauschende  Gesellschaften  jagten  einander,  täuschten  den  Blick 
und  ließen  die  Gefahr  der  Lage  nicht  erkennen.  Die  vornehme  Gesell- 
schaft freute  sich  ihres  neuen  Glanzes  und  des  wieder  errungenen  Ein- 
flusses. Sie  förderte  die  Kunst  und  die  Poesie.  Daneben  gab  es  roman- 
tische Liebesgeschichten,  spannende  politische  Kabalen.  So  unterhielt  sich 
diese  Welt  köstlich. 

Aber  das  niedere  Volk  litt  unsäglich,  die  Mittelklassen  murrten, 
und  an  der  Grenze  tobte  der  Krieg  mit  Spanien  und  Deutschland.  Wie 
so  oft,  führte  auch  diesmal  die  Finanznot  zur  Eevolution. 

Im  Jahr  1648,  als  in  ^England  die  königliche  Macht  stürzte,  und 
der  westfälische  Friede  die  deutschen  Reichsfürsten  fast  selbständig  hin- 
stellte, entbrannte  auch  in  Frankreich  der  Krieg  der  Fronde.  Wenn  der 
Kampf  hier  nicht  die  großen  Verhältnisse  annahm,  wie  er  sie  in  Deutsch- 
land und  England  gezeigt  hatte,  so  lag  der  Grund  darin,  daß  in  jenem 
Land  die  Gewissensfreiheit,  in  diesem  die  Volksrechte  den  Einsatz  bil- 
deten, und  Begeisterung,  ja  Fanatismus  in  den  Herzen  der  streitenden 
Parteien  weckten.  Frankreich  aber  war  kaum  aus  einem  solchen  Krieg 
hervorgegangen,  und  sp  schnell  können  sich  Krisen  dieser  Art  nicht 
wiederholen.  Der  Krieg  der  Fronde  bot  darum  nicht  das  tragische  Inter- 
esse der  Religionskriege  des  l(j.  Jahrhunderts;  er  war  nur  ein  Nach- 
spiel, der  endliche  Abschluß  einer  langen  geschichtlichen  Periode;  er 
sollte  gleichsam  bestätigen,  daß  die  französische  Aristokratie  ihre  alte 
Stellung  verloren  hatte. 

Ein  allgemeines  Interesse  kam  hierbei  kaum  ins  Spiel;  es  handelte 
sich  nur  um  den  Vorteil  kleiner  Kreise  oder  gar  nur  einzelner  Personen. 
Es  war  ein  Kampf  der  privilegierten  Klassen  gegen  das  Königtum, 
wobei  jeder  Gedanke  an  das  Wohl  des  Staates  fern  lag.  Darum  verhielt 
sich  auch  die  Masse  des  französischen  Volkes  gleichgiltig  gegenüber  den 
hadernden  Aristokraten,  und  so  kam  es  zwar  zu  Zuckungen.  Unruhen, 
selbst  blutigen  Kämpfen,  aber  es  entwickelte  sich  kein  großer  Krieg 
daraus.  Die  Verheerungen,  welche  die  Fronde  in  ihrem  Gefolge  hatte, 
waren  freilich  schrecklich  und  das  Volk  mußte  die  Leiden  des  Kriegs 
umso  schwerer  ertragen,  als  es  in  dem  Kampf  mehr  Turnier  vornehmer 
Herren,  als  ein  ernsthaftes  Unternehmen  sah. 

Die  erste  Veranlassung  zu  den  Unruhen  gaben  einige  neue 
Steuergesetze,  welche  das  Parlament  in  seine  Register  einzutragen  ver- 
weigerte.   Ein  Lit  de  Justice  sollte  den  Widerstand  brechen,  aber  auch 

16* 


244 


protestierte  das  Parlament.  Mazarin  zeigte  sich  ilem  energischen 
Vorgehen  dieser  Körperschaft  gegenüber  schwankend,  und  erhöhte  damit 
den  Mut  seiner  Gegner.  Schon  hörte  man  wieder  die  Theorie  aufstellen, 
daß  das  Pariser  Parlament  die  letzte  Entscheidung  in  allen  Finanzfragen 
habe,  ja  daß  ihm  überhaupt  das  letzte  Wort  in  der  Verwaltung  des 
Landes  zukomme.  Seine  Stellung  zu  verstärken,  arbeitete  es  an  einem 
Bund  aller  Parlamente,  wobei  es  sich  jedoch  die  eigentliche  Macht  vor- 
behalten wollte. 

Die  Analogie  mit  dem  Kampf  des  englischen  Parlaments  ist  nur 
scheinbar,  in  der  Londoner  Versammlung  saßen  Abgeordnete  des  Volkes 
und  stritten  für  die  Eechte  des  Volkes.  Das  Pariser  Parlament  war  ein 
Gerichtshof,  dessen  Mitgliedei-  ihre  Sitze  vererbten.  Es  erstrebte  somit 
die  Herrschaft  für  wenige  privilegierte  Familien.  Mazarin  war  indessen 
so  unpopulär,  besonders  in  der  Hauptstadt,  daß  die  Pariser  sich  ohne 
Zögern  auf  die  Seite  des  Parlaments  stellten,  und  als  drei  der  entschie- 
densten Parlamentsräte  verhaftet  wurden,  ihre  Freilassung  durch  den 
Bau  von  Barrikaden  erzwangen. 

Die  Königin  verlegte  darauf  ihre  Residenz  nach  Saint-Germain, 
Conde  führte  ihr  Truppen  aus  Deutschland  zu,  und  bald  begannen  die 
Feindseligkeiten  vor  Paris.  Sehr  ernsthaft  wurde  der  Krieg  freilich  nicht 
geführt,  und  die  Pariser  kümmerten  sich  nicht  viel  darum.  Der  Dekan 
der  Pariser  medizinischen  Facultät.  Guy  Patin,  konnte  einem  Freund 
schreiben,  es  sei  kein  Mensch,  nicht  einmal  ein  Bettler,  während  der 
Belagerung  verhungert,  in  der  Stadt  habe  Ordnung  geherrscht,  keine 
Mordthat  sei  während  fünf  Monaten  vorgefallen,  niemand  gehängt  oder 
gepeitscht  worden.')  Wir  würden  gar  nicht  von  diesem  kleinen  Krieg 
reden,  wenn  nicht  andere  wichtige  Vorgänge  die  Aufmerksamkeit  auf 
ihn  lenkten.  Wir  finden  nämlich,  daß  das  Parlament  eine  Art  Diktatur 
in  Paris  einrichtete,  und  daß  ein  bedeutender  Teil  des  Adels  sich  den 
Aufständischen  anschloß.  Den  rebellierenden  Herren  lag  weder  die  Sache 
des  Parlaments  noch  die  des  Volkes  irgendwie  am  Herzen,  sie  hofften 
einfach  durch  ihren  Abfall  die  Regentin  zu  weitgehenden  Bewilligungen 
zu  zwingen.  Dazu  kamen  noch  andere  Beweggründe.  Die  Lust  am  Ro- 
mantischen und  Abenteuerlichen  beherrschte  diese  Menschen  wie  ein 
geheimer  Zauber,  und  riß  sie  oft  zu  gewagtem  Thun  hin.  Unter  den 
Unzufriedenen  befand  sich,  wie  schon  gesagt,  auch  Marsillac  (La  Roche- 
foucauld). Ihn  fesselte  die  reizende  Schwester  Condes,  Anne  Genevieve 
de  Bourbon,  die  mit  dem  um  viele  Jahre  älteren  Herzog  von  Longueville 
vermählt  war.  Den  Ehrgeiz  ihres  Geliebten  zu  befriedigen,  begann  die 
Herzogin  den  Kampf.  Voll  Feuer,  Opfermut  und  kühn  über  jede  Rück- 
sicht sich  hinaussetzend,  war  sie  die  erste,  welche  offen  zur  Partei  des 


1)  Lettres  choisies  de  feu  Mr.  Guy  Patin,  docteur  en  medecine  de  la  fa- 
culte  de  Paris  et  professeur  au  College  de  France.  Paris.  Ausgabe  vom  Jahr 
1692,  t.  I,  S.  49.  Brief  v.  18.  Juni  1649:  U  n'est  mort  personne  de  faim  daus 
Paris,  pas  meme  aucun  mendiant.  Pas  un  hemme  n'y  a  ete  tue.  Cinq  raois 
djarant  personne  n'y  a  ete  pendu  ni  fouette . . .  •* 


245 


Parlaments  übertrat,  und  ihr  Beispiel  riß  viele  mit  sich  fort,  selbst 
ihi'en  zweiten  Bruder  Conti.  Longueville  wollte  sich  als  Statthalter  der 
Normandie  in  seiner  Stellung  befestigen,  schloß  sich  der  Bewegung  an, 
und  verpflanzte  den  Aufruhr  in  den  Westen.  Die  Herzoge  von  Beaufort, 
Bouillon  und  viele  andere  verstärkten  die  Reihen  der  Pariser.  Eine 
Hauptrolle  in  diesem  tollen  Unternehmen  spielten  die  Damen;  neben 
der  Herzogin  von  Longueville  nannte  man  besonders  die  ränkesüchtige 
Herzogin  von  Chevreuse,  von  der  Saint-Evremond  sagt,  daß  sie  Hunderte 
von  Intriguen  in  Frankreich  und  im  Ausland  gesponnen  habe.^)  In  einer 
Zeit,  wo  das  Publikum  im  Theater  pathetische  Dramen  bewunderte,  in 
welchen  Helden  und  edle  Frauen,  von  egoistischer  Liebe  hingerissen, 
ihr  Land  in  Krieg  und  Elend  stürzen;  in  einer  Zeit,  in  der  die  Romane 
lehrten,  daß  die  Ritter  nur  auf  der  Welt  seien,  um  schönen  Damen  zu 
huldigen,  in  einer  solchen  Zeit  darf'  uns  ein  Aufruhr,  wie  es  die  Fronde 
war,  nicht  Wunder  nehmen.  Die  Litteratur  spiegelte  den  Sinn  der  vor- 
nehmen Welt  ab,  und  diese  begeisterte  sich  wiederum  an  den  Werken, 
die  ihren  eigenen  Anschauungen  so  trefflichen  Ausdruck  gaben.  „Die 
Frauen  sind  gewöhnlich  die  erste  Ursache,  daß  die  Staaten  zusammen- 
brechen, und  länderverwüstende  Kriege  werden  fast  immer  durch  die 
Schönheit  oder  die  Bosheit  der  Damen  veranlaßt."  So  sagt,  klagend, 
aber  nicht  verwundert,  in  ihren  Memoiren  Madame  de  Motteville,  die 
Kammerlrau  der  Königin  Anna.-)  Und  der  Wahlspruch  La  Rochefou- 
caulds : 

Pour  obtenir  un  bien  si  grand,  si  precieux, 

J'ai  fait  la  guerre  aux  reis,  je  l'eusse  falte  aux  DIeux, 

—  Verse,  die  er  der  „Alcyonee"  des  Dichters  Du  Ryer  entnommen 
hatte  und  auf  seine  Freundin,  Madame  de  Longueville,  bezog,  —  be- 
kundet ähnlichen  Sinn.'") 

Der  Friede  von  Ruel  machte  im  März  1649  dem  tragikomischen 
Krieg  ein  Ende.  Das  Parlament  erhielt  die  Bestätigung  seiner  bis- 
herigen Rechte,  aber  seine  weiteren  Ansprüche  blieben  unberücksichtigt ; 
die  rebellischen  Herzoge  wurden  durch  die  Gewährung  eines  kleinen 
Teils  ihrer  Forderungen  für  den  Augenblick  befriedigt.  Im  ganzen  hatte 
also  die  königliche  Autorität  den  Sieg  davongetragen ;  allein  die  Schwäche, 
welche  die  Regierung  an  den  Tag  gelegt  hatte,  wurde  nicht  vergessen. 
Es  zeigte  sich  bald,  daß  diese  ersten  Kämpfe  nur  das  Voi-spiel  größerer 
Unruhen  und  gefährlicher  Verwirrungen  waren.  Die  Intriguen  und  Ri- 
valitäten, die  schon  früher  den  Hof  gespalten  hatten,  lebten  in  alter 
Kraft  wieder  auf.  Conde,  den  der  Stolz  auf  seine  kriegerischen  Erfolge 
und  der  Glaube  an  seine  Unentbehrlichkeit  aufblähten,    beleidigte  durch 


1)  Saint-Evremoiid.  Oeuvres  III,  186  (Amsterdam  1706),  in  den  Discours 
sur  las  historiens  franpis. 

2)  Mme.  de  Motteville,  Memoires  pour  servir   ä  l'histoire   d'Anne   d"Au- 
triche,  t.  I,  p.  176  (Amsterdam  1723). 

3)  Alcyonee  III,  3.  Zuerst  aufgeführt  IGoH. 


24() 


sein  anmaßendes  Benehmen  die  Königin,  die  ihn  im  Jänner  1650  nebst 
seinem  Bruder  Conti  und  seinem  Schwager  Longueville  verhaften  ließ. 
Auf  die  Kunde  hievon  eilte  die  Herzogin  von  Longueville  in  die  Nor- 
mandie,  um  einen  abermaligen  Aufstand  zu  organisieren.  Ähnliche 
Versuche  wurden  von  den  Anhängern  der  gefangenen  Prinzen  auch  in 
andern  Provinzen  gemacht.  Allein  sie  mißlangen  überall.  Die  Herzogin 
flüchtete  unter  Mühen  und  Gefahren  nach  Holland  und  eilte  von  dort 
zu  Turenne,  der  sich  in  Stenay  aufhielt.  Turenne,  aus  dem  alten  Haus 
der  Latour  d'Auvergne,  gehörte  zu  den  Frondeurs,  da  man  seinen  Bruder, 
den  Herzog  von  Bouillon,  der  Souverainetätsrechte  über  Sedan  beraubt 
hatte.  Schon  während  des  ersten  Kriegs  der  Fronde  hatte  er  den  Pa- 
risern zu  Hilfe  kommen  wollen,  war  aber  von  seinen  Soldaten  im  Stich 
gelassen  worden.  Xun  kostete  es  der  schönen  und  beredten  Frau  nicht 
viel  Mühe,  ihn  zur  Schilderhebung  zu  bewegen.  Bouillon  schloß  sich 
an,  und  Stenay  wurde  das  Hauptquartier  der  Frondeurs.  Von  allen  Seiten 
strömten  die  Unzufriedenen  und  Ehrgeizigen  unter  die  Fahnen  des  be- 
rühmten Feldherrn.  Allein  nicht  zufrieden  damit,  den  Bürgerkrieg  zu 
entfachen,  schlössen  die  Aufständischen  auch  ein  Bündnis  mit  Spanien, 
und  riefen  selbst  fremde  Truppen  ins  Land.  Zwar  wurde  Turenne  bei 
Kethel  geschlagen,  aber  dafür  flammte  der  Aufstand  im  Süden  auf,  wo 
die  Herzogin  von  Conde,  unterstützt  von  Bouillon  und  La  Eochefoucauld, 
die  Bewegung  leitete.  Die  Königin  zog  selbst,  von  dem  jungen  König 
und  Mazarin  begleitet,  in  die  Guj^enne,  beruhigte  die  Provinz,  konnte 
aber  den  Widerstand  der  Stadt  Bordeaux  nicht  brechen.  Und  während 
sie  noch  dort  im  Süden  stand,  kamen  schlimme  Nachrichten  aus  Paris. 
Die  Gefahr  war  groß. 

Der  kühl  denkende,  aber  patriotisch  gesinnte  Gu}'  Patin  spricht 
sich  in  seinen  Briefen  oft  bitter  über  die  Zustände  seines  Vaterlands 
aus.  „Mazarin  a  mange  la  France,  los  Fran^ois  le  mangeront",  heißt 
es  in  einer  Nachschrift  zu  seinem  Brief  vom  20.  Juli  1649.  Kurze  Zeit 
zuvor  hatte  er  die  nichtswürdigen  Allianzen  der  Prinzen  verwünscht  und 
die  hohen  Herren  als  feig  und  dem  Dienst  des  goldenen  Kalbs  ergeben 
geschildert.  (Brief  vom  28.  Mai  1649.)  Frankreich  schien  in  Gefahr,  um 
100  Jahre  in  seiner  Entwicklung  zurückgeworfen  zu  werden.  In  Paris 
hatten  sich  die  verschiedensten  Parteien  zu  gemeinsamen  Handeln  gegen 
die  Regierung  geeinigt,  jede  freilich  in  der  Absicht,  die  anderen  um  die 
Früchte  des  Siegs  zu  bringen.  Die  alte  Fronde  war  wieder  zum  Leben 
erwacht;  die  störrischen  Barone  revoltierten  aufs  neue,  das  Parlament 
sprach  wieder  von  seinen  Privilegien,  und  diesmal  hatte  sich  auch  die 
mächtige  „Partei  der  Prinzen"  oder  ,.die  kleine  Fronde"  dem  Aufstand 
angeschlossen.  Der  Herzog  von  Orleans  mischte  sich  ebenfalls  in  die 
Händel.  Er  strebte  nach  der  Vermittlerrolle,  weil  er  auf  diese  Weise  am 
leichtesten  zur  Macht  zu  gelangen  hoffte.  Gondi  setzte  seine  gewohnte 
Minierarbeit  mit  der  alten  Geschicklichkeit  fort,  weil  die  Königin  seine 
Hoffnungen  auf  den  Kardinalshut  nicht  verwirklicht  hatte.  Und  daß  es 
in  dem  Durcheinander  auch  an  den  Intriguen  einer  Frau  nicht  fehle, 
beteiligte  sich  die  Pfalzgräfin  Anna  Gonzague.  die  Tochter  des  Herzogs 


247 

von  Nevers,  mit  besonderem  Eifer  an  dem  Unternehmen.  Sie  war  ihres 
romanhaften  Lebens  und  ihrer  politischen  Umtriebe  halber  ebenso  be- 
rühmt wie  wegen  ihrer  Schönheit,  und  ihrem  Einfluß  hatte  man  es  nicht 
zum  geringsten  Teil  zu  verdanken,  daß  die  in  ihrem  Wesen  und  ihren 
Zielen  so  entgegengesetzten  Parteien  eine  Zeit  lang  einig  blieben  und 
im   gemeinsamen  Haß   sich  verbunden  fühlten.') 

Diesem  Sturm  gegenüber  gab  Mazarin  den  Kampf  auf.  Er  zog  sich 
nach  Köln  zurück,  und  die  drei  Prinzen  Conde,  Conti  und  Longueville 
wurden  in  Freiheit  gesetzt.  Aber  die  Sieger  gerieten  sehr  bald  in  Un- 
einigkeit. Gondi  operierte,  um  der  Regentin  zu  gefallen,  so  fein  gegen 
Conde,  daß  eine  Spaltung  zwischen  der  alten  Fronde  und  der  Partei  der 
Prinzen  eintrat,  und  das  Parlament  sich  gegen  die  letzteren  erklärte. 
Wie  in  einer  Camera  obscura  wechseln  die  Bilder  in  dieser  traurigen 
Geschichte  der  Fronde.  Mit  einem  Mal  stand  die  Regentin  und  die  Fronde 
gegen  Conde.  Dieser  sah  sich  aufs  neue  bedroht,  eilte  in  die  Guyenne 
und  schloß  ein  Bündnis  mit  den  Spaniern.  Bald  war  der  Süden  bis  an 
die  Loire  in  seiner  Gewalt.  Turenne  blieb  dafür  diesmal  der  Königin 
getreu,  und  in  dem  Krieg,  der  nun  mit  wechselndem  Glück  geführt  wurde, 
standen  sich  die  zwei  tüchtigsten  Feldherren  Frankreichs  feindlich  gegen- 
über. Mazarin  kehrte  an  die  Seile  der  Königin  zurück,  und  alsbaM  reizte 
Gondi  das  Pariser  Volk  wieder  gegen  die   Regierung  auf. 

Es  würde  uns  zu  weit  führen,  wollten  wir  den  Gang  des  Kriegs 
im  einzelnen  verfolgen.  Uns  gilt  es  ja  nur,  den  Charakter  der  Epoche 
zu  verstehen.  So  genügt  es,  zu  sagen,  daß  Conde  nach  einiger  Zeit  auf 
Paris  rückte.  Da  ihm  das  königliche  Heer  folgte,  verschloß  die  Stadt 
beiden  Armeen  ihre  Thore.  Es  kam  zwischen  Conde  und  den  Königlichen 
in  der  Vorstadt  Saint- Antoine  zu  einem  hitzigen  Treffen.  Conde  wäre 
verloren  gewesen  ohne  die  Entschlossenheit  der  Prinzessin  von  Mont- 
pensier,  des  armseligen  Gaston  von  Orleans  heroischer  Tochter.  Auf  die 
Kunde  von  der  Gefahr,  in  welcher  Conde  und  sein  Heer  schwebten,  eilte 
sie  an  der  Spitze  einer  Schar  handfester  Leute  auf  das  Rathaus  und 
erzwang  vom  Gouverneur  den  Befehl,  der  flüchtenden  Armee  die  Thore 
zu  öffnen.  Eine  wilde  Anarchie  brach  darauf  in  Paris  aus,  Blut  floß  in 
Strömen;  wer  des  „Mazarinismus"  beschuldigt  wurde,  sah  sich  in  Todes- 
gefahr, denn  der  Pöbel  war  losgelassen  und  herrschte.  Aber  gerade  diese 
Zustände  entfremdeten  dem  Prinzen  Conde  die  Herzen  der  Bevölkerung 
aufs  neue;  man  beschuldigte  ihn,  die  Ursache  alles  Elends  zu  sein.  Nur 
Mazarin  stand  einer  Aussöhnung  der  Stadt  mit  dem  König  und  der 
Regentin  im  Weg.  p]r  verließ  daher  zum  zweitenmal  das  Land,  und 
während  Conde  sich  nun  ganz  den  Spaniern  in  die  Arme  warf,  hielt 
Ludwig  XIV.  seinen  triumphierenden  Einzug  in  der  Hauptstadt,  wo  Gondi 
die  Gemüter  für  ihn  gestimmt  und  sich  damit  endlich  den  Kardinalshut 
errungen  hatte. 

Einmal  im  Besitz  von  Paris,  wechselte  die  Regentin,  die  auch  aus 
der  Ferne  von  Mazarin  geleitet  wurde,  aufs  neue  ihre  Politik.   Der  Herzog 

1)  Über  Anna  Gonzague  siehe  noch  den  nächstfolgenden  Abschnitt. 


248 


von  Orleans  wurde  verbannt,  der  Kardinal  von  Retz  (Gondi)  verhaftet, 
Conde  selbst  zum  Tod  verurteilt.  Damit  war  die  Fronde  unterdrückt. 
Mazarin  kehrte  1653  nach  Paris  zurück  und  leitete  mächtiger  als  je 
zuvor  die  Regierung  des  Landes. 

Wol  dauerte  der  Krieg  mit  Spanien  noch  fort.  Allein  er  war  auf 
die  innere  Gestaltung  und  Entwicklung  des  Landes  von  keinem  Einfluß. 
Conde  war  zum  einfachen  Parteigänger  herabgesunken.  Der  Pyrenäische 
Fi-iede  (1659),  der  auch  ihn  nach  Frankreich  zurückführte,  schloß  die 
lange  Kriegszeit  zwischen  Spanien  und  Frankreich  definitiv  ab;  aber 
wenn  Ludwig  XIV.  auch  erst  1661  nach  seines  mächtigen  Ministers 
Tod  die  Zügel  der  Regierung  mit  eigener  Hand  ergriff,  das  Princip  war 
seit  1653  entschieden.  Nach  der  definitiven  Unterdrückung  der  Fronde 
gab  es  in  Frankreich  keinen  andern  Willen  mehr  als  den  des 
Königs.') 

Der  Abschluß  der  Fronde  bezeichnet  in  der  Geschichte  Frankreichs 
eine  wahrhafte  Revolution.  Zwischen  der  Zeit  Ludwigs  XIIL  und  der 
seines  Sohns  liegt  eine  tiefe  Kluft.  Staatsleben,  Gesellschaft,  Sitten  und 
Anschauungen  weisen  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  eine  tief- 
greifende Veränderung  auf. 

Die  Zeit  von  1630  bis  1650  ist  in  vieler  Hinsicht  merkwürdig. 
Sie  gefällt  sich  in  Gegensätzen  und  Widersprüchen,  mischt  Großes  und 
Niedriges,  Kraft  und  Schwäche.  Die  Menschen  einer  solchen  Epoche 
tragen  andern  Sinn  in  sich,  als  die  Kinder  einer  Zeit  ruhiger,  regel- 
mäßiger Entwicklung.  Xeben  Frivolität  und  Leichtsinn  glänzt  dort  ritter- 
liche Galanterie  und  Herzenswärme,  neben  Unzuverlässigkeit  und  Wankel- 
mut finden  wir  Opferfreudigkeit  und  Hingebung.  Noch  einmal  erscheint 
der  Adel  als  tonangebend  und  zeigt  sich  mit  seinen  Tugenden  und  Feh- 
lern als  die  Blüte  der  Nation.  Glänzend,  prunkliebend,  leichtgesinnt  und 
mühelosem  Lebensgenuß  nacheilend,  ist  er  zugleich  kühn,  empfanglich 
für  alles,  was  schön  ist,  und  voll  Achtung  vor  jeder  geistigen  Kraft. 
Das  Leben  pulsiert  rasch  in  diesen  Menschen,  die  schnell  zur  That  ent- 
schlossen sind,  aber  auch  ebenso  rasch  das  begonnene  Werk  aufgeben. 
Ein  solches  Geschlecht  mag  viel  Liebenswürdiges  haben.  Großes  wird  es 
nicht  erreichen ,  und  Herrscher  darüber  wird  derjenige  sein ,  der  Aus- 
dauer besitzt  und  nach  festem  Plan  vorgeht.  Als  der  französische  Adel 
den  letzten  Kampf  für  seine  Machtstellung  wagte,  war  ein  dauernder 
Sieg  für  ihn  kaum  vorauszusehen.  Es  mangelten  ihm  die  Eigenschaften, 
die  im  Staatsleben  zum  Ziel  führen;  denn  er  erwies  sich  ohne  Verständnis 
für  die  Forderungen  der  Zeit,  ohne  umfassenden,  auch  auf  die  Zukunft 
gerichteten  Blick,  ohne  Plan  im  Handeln,  ohne  Einigkeit. 


')  Über  die  Geschichte  der  Regentschaft  und  der  Fronde  vergleiche  außer 
H.  Martin,  Histoire  de  France,  Paris,  Fiirne,  t.  XII;  Bazin,  Histoire  de  France 
sous  Louis  XIIL  et  sous  le  ministere  du  cardinal  Mazarin,  Paris  1846,  Cba- 
meröt,  4  vols.  (2.  ed.);  Casimir  GaiUardin,  Histoire  du  regne  de  Louis  XIV, 
6  Bände,  Paris  1874—1876,  Lecoffre,  und  A.  Cheruel,  Histoire  de  France  pen- 
dant  la  minorite  de  Louis  XIV,  Paris  1879,  Hachette,  4  Bände. 


249 


Die  Zeit  hatte  etwas  Jugendliches,  Frisches,  Stürmisches,  ja  sogar 
ßauhes  in  sich.  Ihre  Geschichte  gewinnt  nicht  selten  einen  Anstrich 
von  Romantik,  und  manchmal  macht  sie  uns  den  Eindruck,  als  läsen 
wir  ein  Märchen  von  verzauberten  Prinzen  oder  eine  alte  Heldensage. 
Denn  wie  der  Charakter  jener  Menschen  die  grellsten  Gegensätze  zeigte, 
so  unterlag  ihr  Leben  oft  den  größten  Wechselfällen.  Mächtige  Herzoge 
sahen  sich  plötzlich  in  den  Kerker  geworfen  und  mußten  ihr  Haupt  auf 
den  Block  legen,  oder  sie  wurden  zu  Empörern  und  zogen  abenteuernd 
im  Land  umher,  während  edle  Frauen  sich  in  den  Kampf  der  Parteien 
mischten.  Von  Liebe  oder  Ehrgeiz  getrieben,  stürzte  sich  die  eine  in 
das  Gewühl  der  aufgeregten  Menge,  um  sie  zu  gewinnen;  zog  die  an- 
dere an  der  Spitze  einer  Reiterschar  durch  das  Land  und  freute  sich 
ihres  modernen  Heldentums.  Eine  königliche  Prinzessin  wurde  wie  ein 
scheues  Wild  gejagt  und  flüchtete  von  Versteck  zu  Versteck,  bis  ein 
rettendes  Schiff  sie  aufnahm.  Wer  war  noch  sicher,  wenn  selbst  Köni- 
ginnen in  die  Verbannung  geschickt  oder  strengem  Verhör  unterworfen 
und  bedroht  wurden?  Wenn  der  König  des  Landes,  noch  zu  jung,  nm 
das  Scepter  selbst  zu  führen,  vor  seinen  empörten  Vasallen  fliehen 
mußte?  Selbst  Richelieu,  der  in  vielem  so  ganz  modern  und  nüchtern 
erscheint,  wurde  zeitweise  von  einem  romantischen  Streiflicht  getroffen. 
Man  munkelte  schaudernd  von  den  geheimnisvollen  Besuchen  der  „grauen 
Excellenz",  des  Paters  Josef,  und  die  geistige  Kraft,  mit  welcher  der 
Kardinal  seinen  kranken  Körper  beherrschte,  hatte  für  viele  etwas  Dä- 
monisches. 

Mit  der  Fronde  und  der  Unterwerfung  des  Adels  schloß  der  erste 
Akt  in  dem  Schauspiel  der  modernen  französischen  Geschichte.  Von  den 
fünfziger  Jahren  an  wurde  es  still  und  stiller  in  der  Politik.  Jede 
Opposition  galt  bald  für  ein  Verbrechen.  Das  Theater,  ein  Barometer 
der  öffentlichen  Stimmung,  behandelte  seitdem  kaum  noch  ein  politisches 
Thema;  es  widmete  sich  der  Schildennig  der  Herzensleidenschaften,  der 
Liebe  und  ihrer  Stürme.  Corneille  allein,  der  Zeuge  vergangener  Zeiten, 
redete  manchmal  noch  die  Sprache  politischen  Lebens.  Aber  er  hatte 
schon  etwas  Altertümliches  an  sich. 

Auf  einem  andern  Gebiet  versuchten  es  die  Jansenisten ,  selb- 
ständig zu  sein  und  auf  ihre  Weise  selig  zu  werden.  Aber  der  Staat 
Ludwigs  XIV.  duldete  solche  Unabhängigkeit  nicht.  Die  Jansenisten 
wurden  auseinander  gesprengt,  die  Protestanten  vertrieben.  Der  einst 
so  stolze  Adel  sank  zum  Hofadel  herab,  und  der  Monarch- hatte  seine 
Freude  daran,  wenn  seine  Edelleute  auf  der  Bühne  von  Moliere  lächer- 
lich gemacht  wurden.  Und  leider  verdienten  sie  den  Spott! 

Mit  dem  Zusammenbruch  der  Fronde  schwand  auch  der  große 
Einfluß,  welchen  der  Adel  bis  dahin  auf  die  Litteratur  ausgeübt  hatte. 
Li  der  letzten  Hälfte  des  Jahrhunderts  richtete  sich  diese  nach  dem 
Geschmack  des  Königs  oder  sie  empfing,  oft  ohne  es  zu  wissen,  ihre 
Richtung  von  dem  Bürgertum.  Denn  soweit  war  dieses  bereits  er- 
starkt, daß  es  mehr  und  mehr  zum  Träger  der  Bildung  wurde.  Langsam, 
aber  sicher  errang  es    selbst   unter  Ludwig  XIV.  die  Herrschaft  in  der 


250 


Litteratur.  Anders  aber  war  das  Verhältnis  vor  dem  Anfstand  der  Fronde. 
Damals  stand  die  Litteratur  noch  völlig  unter  dem  Einfluß  der  Aristokratie, 
deren  Geschmack  die  Dichter  huldigten,  und  bei  der  sie  Schutz  und 
Unterstützung  fanden.  Zu  einer  Zeit,  wo  von  der  Teilnahme  der  eigent- 
liciien  Xation.  also  von  einem  größeren  Publikum  für  eine  Dichtung 
kaum  die  Rede  war,  wo  der  größte  litterarische  Erfolg  nicht  genügte, 
dem  Dichter  ein  unabhängiges  Leben  zu  sichern,  mußte  man  es  den 
großen  Familien  danken,  wenn  sie  schützend  und  fördernd  eintraten. 
Weder  König  Ludwig  XIIL  noch  seine  Gemahlin,  die  Königin-Regentin, 
kümmerten  sich  viel  um  die  schönen  Künste.  Denn,  daß  ersterer  etwas 
Musik  trieb,  letztere  das  Schauspiel  liebte,  kommt  doch  nicht  in  Be- 
tracht. Die  Mäcene  jener  Zeit  gingen  alle  aus  dem  Kreis  des  hohen 
Adels  hervor.  Wir  sahen  Richelieu  mit  seinem  Stab  von  Dichtern,  Schön- 
geistern und  getreuen  Akademikern.  Mairet,  Theophile  de  Viau  fanden 
an  dem  jugendlichen  Heinrich  von  Montmorency  einen  warmen  Gönner. 
Lougueville  gewährte  dem  gelehrten  Chapelain  ein  hohes  jährliches  Gehalt, 
um  ihm  die  nötige  Muße  zur  Vollendung  des  mit  Spannung  erwarteten 
Epos  zu  sichern.  Noch  viele  andere  wären  hier  zu  nennen;  so  «ier 
Graf  Belin,  der  sich  Mairets  annahm,  als  Montmorency  traurig  geendet 
hatte;  der  Herzog  von  Guise,  in  dessen  Palast  Corneille  gewohnt  haben 
soll,  so  oft  er  von  Rouen  nach  Paris  kam.  Selbst  die  schwülstigen 
Dedikationen,  ohne  welche  sich  damals  kaum  ein  Druckwerk  an  die 
Öffentlichkeit  wagte,  liefern  den  Beweis  für  die  Teilnahme  des  Adels. 
So  unangenehm  uns  diese  Lobhudeleien  auch  heute  berühren  mögen,  so 
zeigen  sie  doch,  wie  hoch  die  Gönner  solche  Huldigungen  schätzten  und 
wie  reich  sie  sie  belohnten.  Andernfalls  wäre  die  Sitte  der  Widmungen 
nicht  so  allgemein  geworden. 

Außerordentlich  in  jeder  Hinsicht  war  der  Aufschwung  des  fran- 
zösischen Geistes  in  den  Jahren,  die  uns  jetzt  beschäftigen.  Einer  Epoche, 
welche  Männer  wie  Corneille  und  Descartes  hervorbrachte,  wird  man 
den  Ruhm  der  Größe  und  Kraft  nicht  streitig  machen,  zumal  wenn 
man  erkennt,  wie  bedeutend  ihr  Einfluß  auch  auf  die  litterarische  Ent- 
wicklung der  folgenden  Zeit  gewesen  ist.  Moliere,  Boileau,  Lafontaine, 
Pascal,  La  Rochefoucauld,  Retz,  die  Sevigne,  die  großen  Redner,  sie  alle 
haben  ihre  Jugend  und  zum  Teil  auch  ihre  ersten  Mannesjahre  unter 
dem  Einfluß  der  aristokratischen  Gesellschaft,  wie  sie  vor  der  Fronde 
lebte,  verbracht  und  ihre  Bildung  in  der  belebten  Zeit  erworben,  die  wir 
jetzt  genauer  betrachten  wollen. 

Haben  wir  aber  erkannt,  daß  die  hohe  Aristokratie  damals  den 
Ton  in  der  Litteratur  angab,  so  muß  es  zunächst  unsere  Aufgabe  sein, 
ihr  Leben  zu  schildern  und  ihren  Bildungsstand  zu  erforschen.  Wir 
werden  nach  den  Liealen  fragen,  für  welche  sich  die  vornehme  Ge- 
sellschaft jener  Zeit  zu  begeistern  vermochte,  und  wollen  versuchen, 
uns  ihre  Lebensanschauungen  klar  zu  machen.  Damit  werden  wir  für 
das  Verständnis  und  die  richtige  Würdigung  der  litterarischen  Werke 
viel  gewonnen  haben.  Unsere  Aufmerksamkeit  kann  sich  dann  auf  das 
Theater  richten,  das  die  wesentlichste  poetische  Thätigkeit  der  Epoche  in 


251 


sich  faßte,  und  besonders  auf  Corneille,  der  die  französische  Bühne  lange 
beherrschte.  Als  eine  andere  große  Figur  der  Zeit  erscheint  Descartes, 
dessen  Einfluß  auf  sein  Jahrhundert  außerordentlich  war.  Wol  wären 
noch  einzelne  minder  wichtige,  aber  immerhin  charakteristische  Erschei- 
nungen in  der  Litteratur  und  in  der  Gesellschaft  zu  verzeichnen,  die 
noch  zum  Teil  unter  der  Herrschaft  des  aristokratischen  Geschmacks 
standen,  wie  die  Eomane  der  Scudery,  die  zahlreichen  Epen,  die  Affek- 
tation  der  „Precieusen".  Allein  in  ihnen  machte  sich  doch  schon  deut- 
lich der  Hauch  der  neuen  Zeit  fühlbar,  und  da  die  junge  Schule,  an 
deren  Spitze  Boileau  und  Moliere  standen,  gerade  gegen  sie  besonders 
ankämpfte,  schien  es  uns  ratsam,  sie  erst  im  Zusammenhang  mit  der 
Darstellung  der  späteren  Epoche  zu  besprechen. 


Leben  und  BilduBg  der  vornehmen  Gesellschaft. 

Ein  so  glänzendes  und  bewegtes  Leben,  wie  es  sich  in  den  Jahren 
1630 — 1650  in  Frankreich  entfaltete,  war  dort  seit  Menschengedenken 
nicht  gesehen  worden.  Man  mußte  schon  bis  zu  den  Tagen  des  kunst- 
und  prachtliebenden  Königs  Franz  I.  zurückgehen,  wollte  man  einen  ähn- 
lichen Aufschwung  finden.  Damals  hatte  die  Renaissance  ihre  tiefgreifende 
Kevolution  auch  in  Frankreich  begonnen.  Gewaltig  war  die  Bewegung 
der  Geister  gewesen.  Eine  neue  Weltanschauung  hatte  sich  verbreitet, 
die  Wissenschaft  hatte  einen  ungeahnten  Aufschwung  genommen,  die 
Kunst  war  den  Vornehmen  und  Eeicheu  lieb  geworden  und  hatte  am 
Hof  des  Königs  wie  in  den  Schlössern  des  Adels  gastliche  Aufnahme 
und  Schutz  gefunden.  Leonardo  da  Vinci,  Primaticcio,  Benvenuto  Gellini 
und  viele  andere  waren  aus  Italien  nach  Frankreich  gewandert,  um  ihre 
Kunst  daselbst  zu  pflegen.  Den  gesteigerten  Anforderungen  gemäß  hatte 
sich  das  sociale  Leben  der  vornehmen  Gesellschaft  allmählich  umgewan- 
delt; man  begann  nach  veredeltem  Lebensgenuß  zu  streben  und  mildere 
Formen  zu  suchen.  Die  alten  Feudalburgen,  die  in  früheren  Zeiten  der 
Schutz  und  oft  auch  der  Schrecken  der  Provinzen  gewesen  waren,  än- 
derten allmählich  ihren  Charakter,  um  dem  Geist  der  neuen  Zeit  besser 
zu  entsprechen.  Wo  früher  festungsartig  gebaute  Schlösser  mit  Mauern 
und  finsterblickenden  Thürmen  hinter  sumpfigen  Gräben  in  das  Land 
hineinschauten,  entstanden  durch  allmähliche  Umbauten  anmutige  Herren- 
sitze mit  schattigen  Gärten,  die  zu  gastlichem  Besuch  einluden.  Groß- 
artige Paläste  erhoben  sich  in  allen  Teilen  des  Landes,  und  wenn  auch 
seitdem  viele  davon  in  den  Stürmen  der  Jahrhunderte  in  Ruinen  ge- 
sunken sind,  stehen  ihrer  doch  auch  heute  noch  genug,  um  in  der  hei- 
teren Mannigfaltigkeit  ihrer  Formen,  in  der  poesiereichen  Unregelmäßig- 
keit der  Anlage  und  der  romantischen  Schönheit  ihres  Stils  ein  beredtes 
Zeugnis  von  dem  Leben  der  vergangenen  Zeit  abzulegen.  Und  wie  die 
Kunst  waren  auch  Sprache  und  Litteratur  von  der  gewaltigen  Strömung 
der  Zeit  erfaßt  worden  und  hatten  die  Bahn  neuer  Entwicklung  betreten. 

Als  das  16.  Jahrhundert  zur  Neige  ging,  stand  man  auch  vor 
dem  Abschluß  dieser  wichtigen  Kulturepoche.  Eine  neue  Zeit  brach  herein 
mit  neuen  Gestaltungen  und  Lebensformen,  welche  ihre  Schatten  bereits 
vorauswarfen.  Noch  einmal  raffte  die  herrschende  Klasse  ihre  Kraft  zu- 
sammen, als  wollte  sie  im  letzten  Aufleuchten  die  Schönheit  und  Kunst 
ihres  Lebensgenusses,  ihre  Bedeutung  für  die  geistige  Entwicklung  des 
Volkes  recht  klar  erkennen  lassen. 


253 

Solange  Eichelieu  mit  fester  Hand  die  Regierung  führte  und  wäh- 
rend der  ersten  Jahre  der  Kegentschaft  erfreute  sich  Frankreich  des  in- 
neren Friedens ;  in  den  Nachbarländern  aber  führten  seine  Heere  unter 
bewährten  Führern  einen  Krieg,  dessen  Erfolge  der  Ausgangspunkt  für 
die  neue  Machtstellung  der  Monarchie  wurden.  Diese  Verhältnisse  blieben 
nicht  ohne  Einwirkung  auf  die  Stimmung  der  Nation  und  besonders  des 
Adels.  Noch  war  dieser  reich,  mächtig,  seiner  Kraft  bewußt  und  thaten- 
durstig.  Standen  die  vornehmen  Herren  nicht  im  Feld ,  so  führten  sie 
ein  sorgloses,  oft  tolles  Leben  in  der  Heimat.  Eine  glänzende,  anmutige 
Geselligkeit  entwickelte  sich  in  den  Palästen  der  Großen,  auf  den  Schlös- 
sern des  Adels.  Man  freute  sich  des  Aufwands,  stürzte  sich  mit  Lust 
in  die  Vergnügungen  des  galanten  Lebens,  und  genoß,  was  Kunst  und 
Litteratur  zur  Verschönerung  desselben  bieten  konnten. 

"Welche  Anregung  die  Litteratur  bot,  haben  wir  schon  zum  Teil 
gesehen,  zum  Teil  sollen  es  die  nachfolgenden  Seiten  noch  genauer  schil- 
dern. Neben  den  großen  Werken,  die  sich  bis  heute  erhalten  haben,  gab 
es  andere,  die  der  entzückten  Mitwelt  gleichen  Wert  zu  haben  schienen, 
und  die  wenigstens  das  Verdienst  hatten,  die  Aufmerksamkeit  der  Ge- 
bildeten zu  fesseln,  und  durch  den  Streit,  den  sie  erweckten,  den  Ge- 
schmack zu  klären.  In  dem  Bemühen,  die  Eoheit  des  Ausdrucks  zu  be- 
kämpfen, verfiel  man  zwar  in  den  entgegengesetzten  Fehler,  der  allzu 
gesuchten  zierlichen  Rede.  Aber  in  dem  auf-  und  abwogenden  Kampf 
der  verschiedenen  Geschmacksrichtungen  bildete  sich  endlich  der  maß- 
volle klassische  Stil  und  die  Feinheit  der  Sprache,  schuf  der  belebte  ge- 
sellige Verkehr  die  echte  Höflichkeit  und  Urbanität.  Ein  Hauch  jugend- 
licher Begeisterung  ging  durch  die  Litteratur;  man  hatte  das  Bewußt- 
sein der  Kraft,  die  Hoffnung  des  Erfolgs. 

Eine  ähnliche  Entwicklung  beobachten  wir  auf  dem  Gebiet  der 
Kunst,  besonders  der  Malerei.  Während  in  der  Architektur  die  Formen 
allmählich  schwerer  wurden  und  die  Baumeister  mehr  auf  malerischen, 
dem  innersten  Wesen  ihrer  Kunst  widersprechenden  Eindruck  ausgingen, 
eröffnete  sich  mit  dem  17.  Jahrhundert  für  die  Malerei  in  Frankreich 
eine  Epoche  des  Aufschwungs  und  der  größeren  Selbständigkeit.  Wie 
die  Dichterwerke,  zeigen  auch  die  Gemälde  aus  jener  Zeit  den  Charakter 
kräftiger  Jugend  und  heroischen  Sinn ;  auch  in  ihnen  verrät  sich  neben 
der  Vorliebe  für  große  Linien  das  Streben  nach  harmonischer  Ordnung. 
Neben  Simon  Vouet  (1582 — 1641)  begründeten  hauptsächlich  Nicolas 
Poussin  (1594—1665)  und  Claude  Lorrain  (1600 — 1682),  den  Ruhm 
der  französischen  Kunst.  Neben  ihnen,  welche  die  Hoheit,  üen  Ernst 
und  die  Gemessenheit  der  großen  Malerei  vertraten,  stand  Jacques  Callot 
(1592  —  1635),  ein  Lothringer,  als  der  Repräsentant  des  beweglicheren 
französischen  Geistes.  Seine  Arbeiten,  meistens  Kupferstiche,  sind  voll 
Originalität  und  Frische,  dramatisch  ergreifend,  wie  seine  Blätter:  „Les 
miseres  de  la  guerre",  oder  humoristisch,  voll  blühender  Phantasie  in 
seinen  kleinen  Genrebildern.  Wie  Callot,  war  auch  Eustache  Le  Sueur 
ganz  ein  Sohn  der  Epoche,  die  uns  jetzt  beschäftigt.  Obschon  er  nie  in 
Rom  war,  erscheint  er  wie  ein  Schüler  und  Nachfolger  Rafaels,    dessen 


254 


reine  Schönheit  er  als  Vorbild  gewählt  hatte.  Leider  raffte  ihn  ein  früher 
Tod  hinweg  (1617 — 1655).  Mignard  und  Lebrun,  wie  Le  Sueur.  Schüler 
Vouets,  gehören  schon  mehr  in  die  spätere  Epoche. 

Eine  Gesellschaft,  die  sich  für  solche  Arbeit  erwärmt,  welche  die 
Künstler  beschäftigt,  die  Dichter  ehrt  und  schützt,  welche  den  geistigen 
Bestrebungen  jeglicher  Art  einen  offenen  Sinn  entgegenbringt,  hat  An- 
spruch auf  Beachtung.  Schon  der  Ernst,  mit  dem  man  im  Gegensatz  zu 
der  früheren  Zeit  in  den  vornehmen  Familien  auf  die  geistige  Ausbil- 
dung der  Kinder  sah,  ist  bezeichnend  für  die  Wandlung.  Es  war  noch 
nicht  lange  her.  daß  der  Adel  auf  die  Kunst  des  Lesens  und  Schrei- 
bens verächtlich  herabsah.  Selbst  zur  Zeit  Heinrichs  IV.  konnte  ein 
Mann  wie  Montmorency  weder  lesen,  noch  schreiben. •")  Und  doch  hatte 
er  als  Connetable  von  Frankreich  nach  dem  König  die  höchste  militä- 
rische Würde  des  Landes.  Zu  seiner  Zeit  forderte  man  von  dem  Adel 
hauptsächlich  körperliche  Gewandtheit.  Für  den  Baron,  der  nach  der 
mittelalterlichen  Anschauung  seinen  Beruf  im  Kriegsdienst  für  den  könig- 
lichen Lehnsherrn  fand,  genügten  Künste,  wie  Eeiten,  Fechten  und  Tanzen. 
Auch  im  17.  Jahrhundert  legte  man  großes  Gewicht  auf  diese  Fertig- 
keiten, und  mit  vollem  Recht.  Aber  man  verlangte  noch  etwas  mehr. 
Heinrich  von  Montmorency.  des  Connetable  Sohn,  hatte  bereits  seine 
Lehrer  und  lernte  jedenfalls  so  viel,  daß  er  Talent  und  Geist  zu  schätzen 
wußte  und  später  als  Freund  und  Beschützer  der  Dichter  auftreten  konnte. 

Zur  Ausbildung  der  jungen  Edelleute,  die  sich  der  militärischen 
Laufbahn  widmen  wollten,  bestand  in  Paris  eine  Art  Kriegsschule.  ,,die 
Akademie",  in  welcher  die  Schüler  nur  nach  vollendeten  klassischen 
Studien  aufgenommen  werden  sollten ,  und  Heinrich  IV.  hatte  zu  La 
Fleche  an  der  Loire  ein  Kollegium  für  Söhne  des  Adels  errichtet,  das 
nach  dem  Zeugnis  eines  kompetenten  Richters,  Descartes,  der  dort  seine 
Studien  machte,  ganz  Vorzügliches  bot. 

Die  Überzeugung  von  der  Macht  des  Wissens  brach  sich  in  immer 
weiteren  Kreisen  Bahn. 

Heinrich  von  Conde,  der  sich  1609  mit  Charlotte  von  Montmorency 
vermählte,  überwachte  selbst  die  Ausbildung  seiner  drei  Kinder.  Anne 
Genevieve  de  Bourbon,  Louis  de  Bourbon,  der  als  Herzog  von  Enghien 
und  später  als  Prinz  Conde  so  großen  Feldherrnruhm  erwarb,  und  Ar- 
mand de  Bourbon,  Prinz  von  Conti.  Der  ältere  besuchte  das  öffentliche 
Lyceum  in  Bourges,  wo  sein  Vater  längere  Zeit  lebte,  und  studierte  noch 
unter  der  Leitung  des  gelehrten  Edmond  Merille  die  Rechtswissenschaft, 
bevor  er  in  die  „Akademie'"  eintrat.  Conti  war  Schüler  des  „College  de 
Clermont"  zu  Paris,  in  dem  auch  Moliere  unterrichtet  wurde.  Pierre 
Lenet,  der  dem  Prinzen  Conde  später  als  vertrauter  Rat  zur  Seite  stand, 
und  wichtige  Memoiren  über  ihn  und  über  die  Begebenheiten  der 
Fronde  geschrieben  hat,  ruft  begeistert  aus,  man  habe  noch  nie  einen 
königlichen  Prinzen   auf  so   populäre  Weise   erziehen   sehen;    aber  man 

1)  Siehe  Saint-Evremond,  I.  Teil,  S.  118  (Amsterdamer  Ausgabe  von  170öj: 
„Lettre  ä  M.  le  comte  d'OIonne". 


255 


habe  auch  noch  keinen  gefunden .  der  in  so  kurzer  Zeit  und  so  jung, 
einen  solchen  Schatz  von  Kenntnissen  erworben  habe  und  dabei  körper- 
lich so  gewandt  gewesen  sei.')  Es  wird  erzählt,  daß  Conde  neben  den 
herkömmlichen  Studien  sich  noch  mit  Geschichte,  Mathematik  und  deu 
modernen  Sprachen  beschäftigt  habe.  Außerdem  wurde  geritten,  gefochten, 
getanzt,  gejagt,  Ball  gespielt;  das  Leben  und  die  Gesellschaft  im  Palast 
der  Eltern,  dei'  Verkehr  im  Hotel  de  Rambouillet,  wo  der  junge  Herzog 
ein  gern  und  häufig  gesehener  Gast  war,  lehrten  ihn  feines  Benohmen 
und  galante  Kede.  Als  er  später  in  sein  Gouvernement,  nach  Burgund, 
geschickt  wurde  und  sich  dort  in  der  Führung  von  Truppen  übte,  be- 
hielt er  seine  Lebensweise  bei  und  erwies  sich  als  unermüdlich. 

Die  Urteile  über  Conde  gehen  weit  auseinander.'-^)  Jedenfalls  zeigte 
er  sich  als  hochfahrend,  grob,  oft  heftig,  und  sein  sarkastischer  Witz 
verletzte  viele.  Aber  neben  diesen  Fehlern  hatte  er  auch  große  Eigen- 
schaften. Er  war  ein  begabter,  unterrichteter  und  geistig  bedeutender 
Mann.  Seine  Zeitgenossen  sahen  in  ihm  das  Ideal  eines  Helden  verkör- 
pert. Wenn  Madeleine  de  Scudery  dem  Helden  ihres  großen  Romans 
„Cyrus"'  die  Züge  Condes  lieh,  so  war  das  nicht  bloß  höfische  Schmei- 
chelei. Der  Prinz  war  nach  dem  Urteil  der  Kriegserfahrenen  der  genialste 
Feldherr,  dessen  sich  Frankreich  im  17.  Jahrhundert  rühmen  konnte. 
Furchtlos  stürzte  er  sich  in  das  Gewühl  des  Kampfes,  aber  ebenso  un- 
bedacht ließ  er  sich,  nur  seiner  Eingebung  folgend,  in  abenteuerliche 
Unternehmungen  ein.  Dieser  Zug  von  Romantik  zieht  dem  Prinzen  heute 
den  Vorwurf  mangelnder  politischer  Einsicht  zu,  damals  erwarb  er  ihm 
die  Bewunderung  vieler.  Zudem  bewies  Conde  litterarischen  Geschmack. 
Er  war  einer  der  eifrigsten  Bewunderer  des  heroischen  Corneille,  uud 
gewährte  später  Boileau  und  Racine  seinen  mächtigen  Schutz,  als  sich 
diese  von  einer  niedrigen  Kabale  verfolgt  und  in  ihrer  Sicherheit  be- 
droht sahen.  Die  Studien  seines  Sohns  zu  überwachen,  ließ  er  sich  dessen 
schriftliche  Arbeiten  ms  Feld  nachschicken,  um  sie  zu  prüfen  ;  und  von 
diesem  Sohn,  Henri  Jules  de  Bourbon,  Prinzen  von  Conde,  sagt  selbst 
der  verbitterte  Saint-Simon,  daß  ihm  niemand  an  Geist  und  nur  wenige 
an  Wissen  gleichgekommen  wären. ^) 


1)  Memoire«  de  P.  Lenet  (Collection  Petitot  et  Moiimerque),  Paris  1826, 
11.  Bd.  S.  16(5  u.  172.  Von  Conti  sagt  Bussy  ßabutin:  „II  avoic  etudie  avec  un 
progres  admirable.  II  avoit  l'esprit  vif,  net,  gai,  enclin  ä  la  raillerie ;  11  avoit 
un  courage  invincible."  Memoires  du  Messire  Roger  de  Rabutin  comte  de  Bussy. 
Paris  1696,  J.  Anisson  (2  Bände,  t.  I,  S.  492). 

-)  Bussy  Rabutin  schildert  ihn  in  seinen  Memoiren  folgeiiderraaßen : 
„M.  le  prince  avoit  les  yeux  vifs,  les  joues  creuses  et  decharnces,  la  forme  du 
visage  longue,  la  physionomie  d'un  aigle,  les  cheveux  frises,  les  dents  mal  ran- 
gees  et  malpropres,  l'air  neglige,  peu  de  sein  de  sa  personne  et  la  taille  belle. 
II  avoit  du  feu  dans  Tesprit,  mais  il  ne  l'avoit  pas  juste.  II  rioit  beaucoup  et 
desagreablement ;  il  avoit  le  genie  admirable  pour  la  guerre,  surtout  pour  les 
batailles. .  .  le  jour  du  combat  il  etoit  doux  aux  amis,  her  aux  ermemis.  II  etoit 
ne  fourbe,  mais  il  avoit  et  de  la  foi  et  de  la  probite  aux  gnuides  occasions.  11 
etoit  ne  insolent  et  sans  egards,  mais  l'adversite  lui  avoit  appris  ä  vivre." 

3)  Saint-Simon,  Memoires,  II,  S.  124,  in  der  Londoner  Ausgabe  1787. 


256 


Lberrascbender  noch  ist  die  Bildung,  welche  sich  viele  hohe  Damen 
der  damaligen  Zeit  erwarben.  Wenn  wir  auch  annehmen  dürfen,  daß  die 
ilehrzahl  der  adeligen  Mädchen  in  den  vornehmen  Klosterschulen  mit 
sehr  oberflächlichem  Wissen  ausgestattet  wurden  und  daß  es  dort  haupt- 
sächlich darauf  ankam,  den  Zöglingen  einige  Gewandtheit  des  Beneh- 
mens zu  geben,  so  wissen  wir  doch  anderseijts  von  vielen  Frauen,  die 
eine  sorgfältige  Erziehung  genossen  hatten  und  deren  Geist  durch  hohe 
Bildung  glänzte. 

Marie  de  Ealutin-Chantal,  die  spätere  Marquise  de  Sevigne,  ver- 
lebte ihre  Jugend  bei  ihrem  Oheim  Coulanges,  der  für  die  besten  Lehrer 
sorgte.  Chapelain  und  Menage  hatten  sie  im  Stil  und  in  der  Litteratur 
zu  unterrichten.  Daneben  lernte  sie  lateinisch,  wenn  sie  auch  später 
nicht  viel  mehr  davon  wußte  und  sich  mit  Übersetzungen  behalf.  Aber 
sie  verstand  vortrefflich  italienisch,  war  mit  der  heimischen  Litteratur 
vertraut  und  las  mit  Vorliebe  Werke  über  Moralphilosophie  oder  histo- 
rische Bücher,  deren  trockene  W^eise  heute  wol  alle  Frauen  abschrecken 
würde.  Frau  von  Sevigne  war  aber  keineswegs  eine  Ausnahme,  sie  ragte 
durchaus  nicht  über  die  gebildeten  Damen  ihrer  Zeit  hinaus.  Viele  ihrer 
Freundinnen  und  Bekannten  konnten  sich  einer  ähnlichen  Bildung  rüh- 
men. So  erwähnt  Bossuet  die  Kenntnisse  der  Pfalzgräfin  Anna  Gonzague 
und  den  Eeiz  ihrer  Unterhaltung.^)  Die  Marquise  de  Sabliere  scheute 
vor  den  schwersten  Studien  nicht  zurück.  Sie  trieb  Mathematik  und  ließ 
sich  von  Bernier  ein  großes  Werk  über  die  Philosophie  Gassendis 
schreiben.  Diesen  selbst  nahm  sie  bei  sich  auf,  wie  sie  später  Lafon- 
taine und  dem  Orientalisten  d'Herbelot  Asyl  gab.-)  Ähnliche  Nachrichten 
sind  uns  aus  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  über  das  Wissen 
vieler  deutschen,  englischen  und  italienischen  Damen  erhalten.  Die  Kennt- 
nis der  klassischen  wie  der  modernen  Sprachen  war  bei  ihnen  sehr  ver- 
breitet. So  wurde  z.  B.  der  kleine  Hof  von  Köthen  auch  von  Fremden 
wegen  seines  feinen  Sinns,  seiner  Bildung  und  humanen  Richtung  ge- 
rühmt. Die  Fürstin  Amoena  Amalia,  eine  Tochter  des  Grafen  Arnold  von 
Bentheim  und  Teckienburg,  galt  als  kundig  des  Hebräischen,  Italienischen 
und  Französischen.  Juliane  von  Nassau,  welche  1603  dem  Landgrafen 
Moriz  von  Hessen  die  Hand  reichte,  war  im  Hebräischen  sowol  bewan- 
dert wie  in  der  griechischen  und  lateinischen  Sprache.-')  Und  dabei 
rühmte  man  nicht  minder  die  Anmut  und  Liebenswürdigkeit  dieser 
Frauen.    Saint -Evremond,    der  geistvollste  Kritiker  seines  Jahrhunderts, 


J)  Bossuet,  Oraisuü  funebre  d'Anne  de  Gonzague  de  Cleves,  princes=5e 
palatine:  „Jamals  plante  ne  fut  cultivee  avec  plus  de  sein,  ni  ne  se  vit  plutöt 
courounee  de  fleurs  et  de  fruits  que  la  princesse  Anue . . .  On  lui  avoit  appri.s 
la  langue  latine,  parce  ([ne  c'etoit  celle  de  l'eglise...  La  cour  ne  vit  jamais 
rien  de  plus  engageant;  et  saus  parier  de  sa  penetration  ni  de  la  fertilite  in- 
finie  de  ses  expediens,  tout  eedoit  au  charme  secret  de  ses  entretiens". 

-)  Vergl.  Walkenaer,  Memoires  touchant  la  vie  et  les  ecrits  de  la  mar- 
quise de  Sevigue.  ■2"ie  editioa.  Paris  1856,  Firmin  Didot  freres.  t.  IV,  p.  108. 

3)  Vergl.  Barthold,  Geschichte  der  fruchtbringenden  Gesellschaft.  Berlin 
1848,  A.  Duncker.  S.  37  u.  44. 


257 


schwärmte  von  der  guten  alten  Zeit  der  Regentschaft  und  rühmte  in 
einem  Gedicht  an  Ninon  de  Lenclos  die  Frauen,  die  Bildung  besessen 
hätten,  ohne  sich  mit  ihrer  Gelehrsamkeit  zu  brüsten.  In  ihrem  Kreise 
würde  Meliere  vergebens  nach  „lächerlichen  Precieusen"  gesucht  haben. ^) 

Für  den  verhältnismäßig  kleinen,  aber  glänzenden  und  tonange- 
benden Kreis  des  französischen  Adels  brachten  die  letzten  Jahre  Lud- 
wigs XIII.  und  die  Regentschaft  eine  bewegte,  heitere  Geselligkeit.  Mochte 
die  Zeit  in  politischer  Hinsicht  düster  und  unerfreulicli  sein,  mochte  man 
auch  eine  dunkle  Ahnung  haben,  daß  die  Geschicke  Frankreichs  an  einem 
Wendepunkt  angelangt  seien,  der  gesellige  Verkehr  litt  darunter  nicht. 
Wenn  wir  sehen,  wie  sich  unter  der  Regentschaft  der  Königin  Anna 
glänzende  Feste  einander  drängten,  und  die  vornehmen  Familien  in  Ent- 
faltung von  blendender  Pracht  miteinander  wetteiferten,  kommt  uns 
manchmal  der  Gedanke,  man  habe  in  diesem  Aufwand  und  Lärmen, 
dieser  oft  betäubenden  Geselligkeit  ein  Hilfsmittel  der  Politik  gesucht. 
Nie  war  das  Leben  in  Paris  glänzender  als  in  den  Jahren,  da  der  hohe 
Adel  die  königliche  Macht  zu  zerpflücken  plante. 

Aus  den  Provinzen,  in  welchen  sie  als  Statthalter  residierten,  von 
ihren  Schlössern  und  Gütern  waren  die  stolzen  Herren  nach  der  Haupt- 
stadt gekommen ,  um  bei  der  bevorstehenden  Teilung  der  Beute  nicht 
leer  auszugehen.  Aber  man  verbarg  diese  Wünsche  unter  dem  Schein 
der  Loyalität.  Alle  Welt  schien  zufrieden.  „Nie  gab  es  so  viele  Bälle 
als  dieses  Jahr",  schreibt  Mlle.  de  Montpensier,  „...fortwährend  und 
überall  vergnügte  man  sich;  fast  kein  Tag  verging,  an  dem  nicht  in 
den  Tuilerien  oder  auf  der  Place  Royale  Serenaden  gebracht  wurden.^) 
Das  war  im  Jahr  1643,  wenige  Monate,  nachdem  König  Ludwig  die 
Augen  geschlossen  hatte  (14.  Mai  1643);  und  dieselbe  Chronistin  be- 
richtet uns,  wie  heiter  es  einige  Zeit  später  am  Hoflager  in  Fontaine- 
bleau  zuging,  wo  man  fast  täglich  Konzert  oder  Schauspiel  hatte.') 


1)  Saint-Evremond,  Oeuvres,  III,  p.  123  (Amsterdam  1706j.  A.  Mlle.  de 
l'Enclos : 

Femmes  savoient,  sans  faire  les  savantes, 

Meliere  en  vain  eüt  cherche  dans  la  Cour 
Ses  ridicules  affectees. 
Daß  die  BegriflFe  von  dem,  was  zur  Bildung  gehört,  mit  den  Zeiten  wech- 
seln, ist  wol  hier  nicht  zu  betonen.  Vor  200  Jahren  legte  man  auf  Orthographie, 
Punktuation  und  derlei  Kleinigkeiten  kein  Gewicht.  Ein  noch  erhaltener  Brief 
der  Herzogin  von  Chatillon  schließt:  „Sy  Mr.  de  CoUigny  est  avecque  vous 
faitte  luy  mes  compliment  et  ä  tout  seuse  de  ma  connessance".  Von  ihr  und 
vielen  anderen  galt,  was  Segrais  von  Mme.  de  Choisy  sagte:  „II  n'y  avoit  point 
d'orthographe  dans  ses  lettres;  mais  quand  on  avoit  attrape  ceUe  qui  lui  etoit 
naturelle,  ou  y  trouvoit  des  traits  admirables  et  une  grande  vivacite"  (Segrais, 
Oeuvres  diverses.  Amsterdam  1723,  t.  I,  p.  37). 

2)  Mlle.  de  Montpensier,  Memoires,  I,  S.  63  u.  81. 

3)  Ibid.  (Jahr  1646)  I,  S.  129.  Der  Pfarrer  von  Saint-Germain  hielt  sich 
1647  für  verpflichtet,  der  Königin  Vorhalt  über  ihre  Freude  am  Schauspiel  zu 
machen.  Die  Fürstin  wandte  sich  deshalb  an  die  Bischöfe,  und  diese  beruhigten 
sie  mit  der  Erklärung,  die  meisten  Stücke  behandelten  doch  einen  ernsten  Stoff 
und  könnten  nicht  schaden.  Auch  sei  diese  Art  der  Unterhaltung  geeignet,  die 

Lotheißen.  Gesch.  d.  franz.  Litteratnr.  j'j 


258 


Dem  Beispiel  des  Hofes  folgte  der  hohe  Adel.  Große  Summen  wurden 
verschwendet,  und  belebten  Handel  und  Industrie.  Paris  schwamm  im 
Überfluß,  und  auch  der  Bürgerstand  fand  Gefallen  an  Luxus  und  feinem 
Leben.  Welches  bunte  Treiben  entwickelte  sich  gegen  Abend  auf  dem 
„Cours  de  la  Reine",  dem  Tummelplatz  der  eleganten  Welt.  Dorthin 
kamen,  nach  beendeter  Theatervorstellung,  etwa  um  sechs  Uhr,  die  Damen 
in  kleinen  offenen  Wagen,  in  reicher  Toilette,  um  die  Huldigungen  der 
Herren  entgegenzunehmen,  die  sich  zu  Pferde  umhertrieben. 

Der  Glanz  der  farbenreichen  Tracht,  die  Anmut  der  Damen,  das 
jugendliche  Feuer  der  Kavaliere  verliehen  dem  Bild  ein  besonderes 
Leben.  Die  Blüte  des  französischen  Adels  fand  sich  da  zusammen.  Und 
nicht  allein  aus  Frankreich  strömte  die  vergnügungslustige  Jugend  nach 
Paris.  Schon  zogen  auch  die  Fremden,  die  jungen  Adeligen  aus  den 
anderen  Ländern  Europas,  nach  der  französischen  Hauptstadt,  um  dort 
die  Welt  kennen  zu  lernen  und  feinen  Ton  und  gute  Sitte  zu  erwerben. 
Schon  damals  war  Paris  zum  Mittelpunkt  des  modernen  Völkerlebens 
geworden. 

Wie  erfolgreich  das  Haus  Rambouillet  sich  bestrebt  hat,  die  gei- 
stigen Interessen  zu  fördern,  eine  feinere  Geselligkeit  in  der  gebildeten 
Klasse  zu  begründen,  ist  schon  ausführlich  erzählt  worden.^)  Die  Schil- 
derung des  Kreises,  in  welchem  die  Marquise  waltete,  bildet  in  der 
Geschichte  jener  Zeit  ein  anmutiges  Kapitel.  Allerdings  hatte  das  Haus 
Rambouillet  eine  hervorragende  Stellung  in  der  Gesellschaft;  aber  es 
stand  doch  nicht  allein.  Sein  Beispiel  hatte  Nachahmung  gefunden,  und 
auch  in  anderen  hochgestellten  Familien  fand  man  jene  höhere,  geistig 
anregende  Geselligkeit,  wie  die  Marquise  de  Rambouillet  sie  in  ihrem 
Kreise  geschaffen  hatte.  Die  Kunst  der  gefälligen,  leichten  und  doch 
nicht  hohlen  Unterhaltung  wurde  damals  mit  Vorliebe  gepflegt.-)  So 
hatte  Richelieu  anfangs  in  seinem  Haus  auf  der  „Place  Royale",  dann 
im  „Palais  Cardinal"  eine  auserwählte  Gesellschaft  versammelt,  und  seine 
Nichte,  Mme.  de  Combalet,  hatte  ihm  dabei  zur  Seite  gestanden.  Ähnlich 
war  es  in  dem  Hotel  de  Longueville  und  de  Guise;  ganz  besonders  aber 
im  Hotel  de  Conde,  das  auf  dem  linken  Ufer  der  Seine  in  der  Gegend 
lag,  wo  heute  das  Odeontheater  sich  erhebt.  Nicht  so  geräuschvoll,  aber 
umso  angenehmer  entwickelte  sich  das  Leben  während  der  schönen 
Jahreszeit  in  Chantilly,  dem  prachtvollen  Besitz  der  Conde.  Paris  war 
schon    damals    von    einem    Kranz   schöner  Landhäuser   und    freundlicher 


Herren  vom  Hof  von  Schlimmerem  abzuhalten.  Auch  die  Sorbonne  entschied 
mit  einer  Mehrheit  von  10  gegen  7  Stimmen  zu  gunsten  des  Theaters. 

1)  Siehe  I.  Teil  dieses  Werks,  Abschnitt  VI,  S.  98  ff. 

-)  Vergl.  Pascal,  Pensees,  art.  IX,  n"  18:  Les  honnetes  gens  ne  veulent 
point  d'enseignes  et  ne  mettent  guere  de  difference  entre  le  metier  de  poete  et 
celui  de  brodcur.  11  ne  sont  point  appeles  ni  poetes  ni  geometres,  mais  ils 
jugent  de  tout  cela.  On  ne  les  devine  point;  ils  parleront  des  choses  dont  on 
parloit  quand  ils  sont  entres  ...  II  est  egalement  de  ce  caractere  qu'on 
ne  dise  point  d'eux  qu'ils  parlent  bien  lorsqu'il  n'est  pas  question  de  langage, 
et  qu'on  dise  d'eux  qu'ils  parlent  bien  quand  il  en  est  question." 


259 


Gärten  umgeben.  Aber  unter  allen  Herrschaftssitzen  der  ganzen  Um- 
gegend war  keiner  so  schön,  wie  Chantilly,  das  etwa  zehn  Meilen  nördlich 
von  Paris  in  waldreicher  Gegend  liegt.  Chantilly  war  früher  im  Besitz 
der  Montmorency  gewesen,  und  bei  der  Hinrichtung  des  Herzogs  Heinrich 
von  Montmorency  mit  seinen  anderen  Gütern  konfisziert  worden.  Den 
größten  Teil  der  Besitzungen  gab  der  König  den  Schwestern  des  Her- 
zogs zurück ,  Chantilly  aber  behielt  er,  und  erst  die  Regentin  schenkte 
es  wieder  an  Conde,  den  Schwager  Montmorencys,  gleichsam  als  Be- 
lohnung für  den  glänzenden  Sieg,  den  sein  Sohn  Enghien  bei  Rocroi 
(1G44)  erfochten  hatte.  Die  Conde  verschönerten  die  Besitzung  nach 
Kräften  und  schufen  aus  Chantilly  einen  nach  dem  Geschmack  der  Zeit 
vollendeten  Landsitz.  Inmitten  eines  kleinen  Sees  erhoben  sich  zwei 
Burgen,  die  mit  ihren  Türmen  und  Vorsprüngen,  ihren  Fallbrücken, 
ihrer  launenhaften  Unregelmäßigkeit  an  die  Schlösser  der  ßitterzeit  er- 
innerten, aber  durch  Zubauten  und  Veränderungen  zu  einem  modernen, 
bequemen  und  prächtigen  Fürstenwohnsitz  umgewandelt  waren.  Rings 
um  das  Schloß  prangten  Gärten,  weite  Parkanlagen  und  Wiesen,  die 
durch  Springbrunnen  und  Kanäle  malerisch  belebt  waren,  und  weiter 
hinaus  dehnte  sich  der  große  Wald  von  Chantilly.  Du  Cerceau,  der  eine 
Autorität  im  Fach  der  Architektur  war,  erklärte  Chantilly  für  einen  der 
schönsten  Plätze  von  Frankreich.^)  ,.Dort  fand  man  alles,  was  den  Land- 
aufenthalt angenehm  machen  kann :  eine  herrliche  Gegend,  Jagd,  Spiel, 
Konzert,  Schauspiel,  völlig  zwanglose  Spaziergänge  .  .  .  Eine  Unterhal- 
tung leitete  unmerklich  zu  einer  andern  über."  So  sagte  ein  Zeitgenosse,^) 
und  Lenet  erzählt  Ähnliches  von  dem  Leben  in  Chantilly  während  der 
Gefangenschaft  Condes.  Die  verwitwete  Prinzessin  Conde  hatte  sich  mit 
ihrer  Schwiegertochter  nach  Chantilly  zurückgezogen.  „Die  Abende  waren 
in  Chantilly  nicht  minder  angenehm  als  die  Spaziergänge",  sagt  Lenet, 


1)  Jacques -Androuet  du  Cerceau,  „Las  plus  excellents  bastiments  de 
France",  das  in  trefflicher  Weise  Ansichten  und  Pläne  einiger  der  hauptsäch- 
lichsten Schlösser  nebst  erklärendem  Text  bringt.  Eine  neue  Ausgabe  des  inter- 
essanten Werks  ist  1868  bei  A.  Levy  in  Paris  in  2  Bänden  kl.  Fol.  erschienen. 
Du  Cerceau  sagt  von  Chantilly:  „Ce  lieu  est  tenu  pour  une  plus  belies  places 
de  France". 

-)  Siehe  „Memoires  inedits,  par  un  auteur  anonyme",  auf  der  Pariser 
Nationalbibliothek  mss.  Suppl.  fr.  n*'  925.  Vergleiche  Cheruel,  Ausgabe  der  Me- 
moiren der  Mlle.  de  Montpensier.  I,  S.  109.  Man  vergleiche  ferner  das  Gedicht, 
das  Sarrazin  im  Auftrag  der  Prinzessin  Conde  an  Mme.  de  Montausier  richtete 
und  in  dem  er  das  Leben  in  Chantilly  beschrieb  (1648).  Er  meldet  zunächst, 
wie  trefflich  sich  die  Gesellschaft  auf  der  Jagd,  mit  Musik  und  Turnier  unterhält, 
und  sagt  dann: 

Dirai-je  qu'  Ablancourt,  Calprenede  et  Corneille, 

C'est  ä  dire  vulgairement 

Les  vers,  l'histoire,  le  romant 

Nous  divertissent  ä  merveille. 
Et  que  nos  entretiens  n'ont  rien  que  de  charmant? 

(Ablancourt  widmete  Enghien  seine  Übersetzung  der  Feldzüge  Alexanders  von 
Arrian,  der  Kommentarien  Cäsars,  und  veröffentlichte  noch  andere  historische 
Arbeiten.) 

17* 


260 

„denn  nach  dem  Gebet  in  der  Kapelle  zogen  sich  alle  Damen  in  die 
Gemächer  der  Prinzessin-Mutter  zurück,  wo  man  sich  mit  verschiedenen 
Spielen  unterhielt.  Öfters  wurde  gesungen  und  die  Unterhaltung  war  immer 
belebt".') 

Noch  später  wurde  Chantilly  von  Boileau  als  Sitz  des  feinen  Ge- 
schmacks gefeiert,  und  Bossuet  erinnerte  in  der  Grabrede,  die  er  dem 
Prinzen  hielt,  und  in  der  allerdings  die  volle  Wahrheit  der  Geschichte 
nicht  zugelassen  war,  an  den  schönen  Ort,  wo  der  Verstorbene  so  gern 
geweilt'  hatte.  „Ohne  Neid,  ohne  Falsch,  ohne  Prunk,  immer  gleich 
groß  in  der  Thätigkeit  wie  in  der  Ruhe,  so  war  er  in  Chantilly  wie 
an  der  Spitze  der  Truppen.  Mochte  er  diese  prächtige  und  reizvolle 
Wohnung  verschönern  oder  im  feindlichen  Land  ein  festes  Lager  schlagen; 
mochte  er  an  der  Spitze  eines  Heers  den  Gefahren  trotzen,  oder  seine 
Freunde  in  den  herrlichen  Laubgängen  umherführen,  wo  man  Tag  und 
Nacht  die  zahllosen  Springbrunnen  plätschern  hört  —  immer  war  es 
derselbe  Mann  und  sein  Euhm  folgte  ihm  überall  nach".^) 

Auch  die  Nichte  Richelieus,  Mme.  de  Combalet,  die  von  Ludwig  XIII. 
zur  Herzogin  von  Aiguillon  erhoben  wurde,  sah  oft  eine  auserwählte 
Gesellschaft  bei  sich.  Ihr  Landhaus  lag  inmitten  prachtvoller  Garten- 
anlagen und  eines  großen  Parks  bei  Ruel  am  westlichen  Abhang  des 
Mont-Valerien.  Solange  Richelieu  lebte,  war  Ruel  durch  den  Glanz  seiner 
Feste  und  Lustbarkeiten  berühmt.  Der  Kardinal  hatte  dort  sein  beson- 
deres Theater,  wo  er  große  Vorstellungen  geben  ließ.  Die  Herzogin,  die 
von  Natur  ernst  und  rauschender  Geselligkeit  abgeneigt  war,  richtete 
ihr  Leben  in  späterer  Zeit  fast  mönchisch  einfach  ein.  Aber  zur  Zeit 
der  Regentschaft  konnte  Mme.  d' Aiguillon  sich  noch  nicht  zurückziehen, 
wie  sie  wünschte.  Die  Königin,  die  ihr  zugethan  war,  kam  öfters,  ein- 
mal sogar  auf  mehrere  Wochen,  zu  ihr  nach  Ruel  zu  Besuch.  Anna 
liebte  die  Zerstreuungen;  aber  solange  Ludwig  XIII.  lebte,  war  es  ziem- 
lich still  bei  Hof.  Der  König  freute  sich  nur  an  der  Musik  und  ver- 
anstaltete häufig  Konzerte,  wobei  man  gewöhnlich  Lieder  seiner  Kom- 
position vortrug.^)  Erst  nach  seinem  Tod  gab  es  bei  der  Regentin 
auch  Bälle,  Theatervorstellungen  und  als  neueste  Unterhaltung  Opern. 
Mazarin  hatte  sie  aus  Italien  nach  Paris  verpflanzt.  Im  Karneval  des 
Jahrs  1647  ließ  er  zu  Ehren  der  Königin  einen  „Orfeo"  von  Monte- 
verte  aufführen.  Die  Sänger  und  Sängerinnen,  selbst  die  Musiker  waren 
dazu  aus  Italien  verschrieben  worden,  und  der  berühmte  italienische 
Maschinist  Torelli  hatte  die  scenische  Einrichtung  besorgt.  Die  Vor- 
stellung kostete  an  400.000  Livres. 

Neben  den  dramatischen  Aufführungen  war  besonders  das  Ballett 
beliebt.    Es    glich    allerdings    dem    heutigen    Ballett    nur    wenig.     Zwar 


1)  Leuet,  Memoires.  Bd.  I,  S.  142  (Jahr  1650). 

-)  Boileau,  epitre  VII,  v.  94.  Bossuet,  Oraison  funebre  de  Louis  de  Bour- 
bon,  prince  de  Conde  (1687).  Vergl.  auch  V.  Cousin,  La  jeunesse  de  Mme.  de 
Longueville,  p.  159. 

3)  Montpensier,  Mem.  I,  40. 


261 


bestand  es  auch  damals  schon  aus  Pantomimen,  heiteren,  oft  possen- 
haften Scenen  oder  allegorischen  Darstellungen.  Auch  wechselten  die 
Tänze  wol  mit  Gesang  und  Deklamation.  Aber  in  den  Ballettvorstellungen 
der  damaligen  Zeit  wirkten  die  Mitglieder  der  hohen  Gesellschaft  mit; 
selbst  Ludwig  XIII.  und  später  Ludwig  XIV.  verschmähten  es  nicht,  in 
solchen  Aufführungen  mitzutanzen.  So  trat  z.  B.  im  Jahr  1632  Lud- 
wig XIII.  in  dem  Ballett  „Bicetre"  auf.^)  Ein  andermal  ließ  Gaston  d'Or- 
leans  seine  siebenjährige  Tochter  in  einem  Kinderballett  tanzen.  Eine 
große  Anzahl  Kinder,  Prinzessinnen  und  Töchter  der  vornehmsten  Fami- 
lien hatten  mit  ebenso  viel  Edelknaben  darin  mitzuwirken.  Eine  Scene 
machte  besonderen  Effekt.  Die  Tanzenden  brachten  Vögel  in  schönen 
Käfigen  mit  und  ließen  auf  ein  gegebenes  Zeichen  die  Tierchen  im 
Saal  frei.  Es  ereignete  sich  dabei  freilich,  daß  ein  Vogel  in  der  Hals- 
krause des  jungen  Fräuleins  de  Breze,  der  nachmaligen  Prinzessin  Conde, 
sich  verwickelte  und  das  erschreckte  Kind  zum  Ergötzen  der  Gesellschaft 
jämmerlich  zu  schreien  anhob.  Ein  Fest  ohne  Ballett  schien  kaum  voll- 
ständig; selbst  bei  Hochzeiten  und  auf  Bällen  wurde  es  nur  ungern  ver- 
mißt.^) Nur  darf  man  weder  bei  dem  Ball,  noch  bei  dem  Ballett  des 
17.  Jahrhunderts  an  das  Durcheinander,  an  das  Wirbeln  und  Stürmen 
des  modernen  Tanzes  denken.  Es  war  die  Zeit,  da  die  Gavotte  und  die 
Sarabande,  die  Pavane,  die  Chaconne  und  das  Menuett  herrschten,  Tänze, 
bei  welchen  man  in  langsam  feierlicher  Bewegung  würdevolle  Anmut  zeigen 
konnte.  Auch  hier  stand  man  unter  dem  Gesetz  der  Gemessenheit  und 
Ordnung.  Bei  dem  Glanz  der  Lichter,  in  dem  bunten  Gewühl  der  kost- 
baren Toiletten  und  malerischen  Kostüme  tanzten  nur  wenige  Paare,  zum 
Schauspiel  für  die  übrige  Gesellschaft,  die  ringsum  an  den  Wänden  ihre 
Sitze  hatte,  und  für  welche  oft  an  einem  Eade  des  Saals  ein  Amphi- 
theater errichtet  war.^) 

Wir  wollen  in  die  Einzelheiten  nicht  weiter  eingehen.  Was  wir 
gesagt,  genügt  wol,  den  Charakter  der  Gesellschaft  und  die  Art  ihres 
Lebens  erkennen  zu  lassen.  Nur  darauf  müssen  wir  noch  hinweisen, 
daß  in  dem  Verkehr  der  Geschlechter  eine  große  Leichtigkeit  und  Frei- 


1)  Die  „Gazette  de  France"  vom  12.  März  1632  giebt  eine  ausführliche 
Beschreibung  des  Festes:  „Le  ballet  que  le  comte  de  Soissous  donna  dimanche 
dernier  au  Louvre,  ä  l'arsenal  et  en  la  maison  de  ville,  avec  une  teile  affluence 
de  peuple  que  dans  le  Louvre  seul  11  n'y  avoit  guere  moins  de  quatre  miUe 
spectateurs,  la  plupart  personnes  de  remarque".  Das  Schauspiel  scheint  also 
ötfentlich  gewesen  und  an  mehreren  Orten  wiederholt  worden  zu  ^ein.  Das  alte 
Schloß  Bicetre  war  sehr  verfallen,  galt  als  ein  Tummelplatz  für  Gespenster  und 
sollte  abgetragen  werden.  Das  Ballett  zeigte  anfangs  das  Schloß  bei  Tag,  darauf 
bei  Nacht,  wo  dann  allerlei  Gespenster,  Magier,  Falschmünzer,  Wächter  und 
Richter  ihre  Spaße  trieben.  Das  Fest  währte  von  8  Uhr  abends  bis  zum  Morgen 
des  andern  Tags,  und  wurde  durch  ein  Frühstück  im  Hotel  de  Ville  um  8  Uhr 
in  der  Früh  beschlossen.  Vergleiche  Corneille,  edition  Marty-Laveaux,  Band  X, 
S.  58  und  341. 

2)  Über  das  Ballett  bei  der  Hochzeit  Enghiens  siehe  Mlle.  de  Montpensier, 
Memoires,  I,  S.  50  (Jahr  1641). 

3)  Montpensier,  I,  138. 


262 

heit  bestand.  Kein  steifer  Ton  und  keine  prüde  Ängstlichkeit  hemmten 
die  Unterhaltung.  Die  Gesellschaft  fühlte  sich  jung  und  kräftig,  und 
freute  sich  mit  leichtem  Sinn  der  Gegenwart.  Selbst  in  der  Tracht  drückte 
sich  noch  die  Vorliebe  für  Ungezwungenheit  aus.  Während  später  unter 
Ludwig  XIV.  die  Kleidung  steif  und  ängstlich  wurde,  die  Allonge -Pe- 
rücke zur  Herrschaft  gelangte  und  der  adelige  Herr  in  der  Hoftracht 
etwas  Weibisches  hatte,  bewahrte  die  Tracht  zur  Zeit  der  Regentschaft 
noch  den  Charakter  größerer  Kraft  und  eine  gewisse  Leichtigkeit.  Sie 
vereinte  guten  Geschmack  und  Ernst.  Leicht  und  voll  fielen  die  gelockten 
Haare  dem  Mann  bis  auf  die  Schulter  herab,  während  ein  Federhut  mit 
breitem,  an  einer  Seite  aufgeschlagenem  Rand  das  Haupt  bedeckte.  Die 
Damen  trugen  auf  der  Straße,  in  der  Kirche  und  besonders  auf  Reisen 
Masken,  später  nur  Halbmasken.  Diese  Sitte  erleichterte  manches  Aben- 
teuer. Zudem  war  es  Brauch ,  daß  die  Herren  in  der  Wohnung  der 
Damen,  die  sie  ehren  wollten,  ein  Fest  gaben,  d.  h.  die  Mühe  der  An- 
ordnungen übernahmen  und  die  Kosten  trugen.^) 

Ist  es  nicht  bezeichnend,  daß  in  den  Jahren  vor  der  Fronde  die 
Mode  der  großen  Perücken  nicht  aufkommen  konnte,  trotzdem  die  Stutzer 
sie  bereits  trugen  ?  Erst  unter  der  Regierung  Ludwigs  XIV.  wurde  ihr 
Gebrauch  allgemein.  Ludwig  selbst  legte  sie  erst  in  den  siebziger  Jahren 
an,  und  im  Vorübergehen  sei  schon  hier  bemerkt,  daß  die  Zeit  der  litte- 
rarischen Blüte  vor  die  Herrschaft  der  Allonge-Perücke  fällt.^) 

Wie  weit  die  Freiheit  des  Ausdrucks  auch  unter  den  gebildeten 
und  anständigen  Leuten  gehen  konnte,  zeigt  ein  Brief  Rogers  de  Bussy- 
Rabutin,  der  seiner  Cousine  Frau  v.  Sevigne  bald  nach  dem  Tod  ihres 
Mannes  den  Rat  gab,  nicht  so  spröde  zu  sein,  und  entweder  den  Prinzen 
von  Conti  oder  Fouquet,  den  Minister,  zu  erhören.^)  In  einem  andern 
Schreiben  erzählt  ihr  derselbe  Bussy,  wie  er  die  letzte  Nacht  vor  seiner 
Abreise  in  das  Lager  mit  seiner  Geliebten  verbracht  habe.^)  Daß  Frau 
V.  Sevigne  selbst,  die  ihr  Leben  von  jedem  Vorwurf  rein  erhielt,  eine 
große  Freiheit  der  Sprache  aus  ihrer  Jugendzeit  bewahrte,  ist  aus  ihren 
Briefen  ersichtlich.  Das  könnte  uns  zu  einem  schiefen  Urteil  verleiten. 
Und  doch  vertrug  sich  dieser  ungebundene  Ton  der  Rede  mit  der  ritter- 
lichen Huldigung,  die  man  den  Damen  zollte.  Die  Galanterie  beherrschte 
die  vornehme  Gesellschaft  und  beeinflußte  deren  ganzes  Leben.  Es  ging 


1)  Vergl.  Corneille,  La  Place  Royale,  III,  2,  v.  5. 

Doraste : 

Et  qu'au  sortir  du  bal,  que  je  donne  chez  eile, 
Demain  un  sacre  noeud  m'unit  ä  cette  belle... 

und  ibid.  III,  4,  v.  6: 

II  Tepouse  demain,  lui  donne  bal  ce  soir. 

2)  Siehe  J.  v.  Falke,  Deutsches  Leben,  Bd.  I:  „Die  deutsche  Trachten- 
und  Modewelt".  Leipzig  1858,  Kap.  4,  S.  212  ff.  —  J.  Quicherat,  Histoire  du 
costume  en  France.  Paris  1877,  Hachette.  Chap.  XXII  (Epoque  de  Richelieu, 
1624—1643),  S.  465  ff. 

2)  Bussy  an  Frau  v.  Sevigne,  Brief  vom  16.  Juni  1654. 

^)  Graf  Roger  de  Bussy-Rabutin  an  Frau  v.  Sevigne,  Brief  v.  3.  Juli  1655. 


263 


durch  das  Verhältnis  der  beiden  Geschlechter  zu  einander  häufig  ein 
romantischer  Zug.  Conde  selbst  war  jahrelang  der  ehrerbietige  Ritter 
des  Fräuleins  du  Vigean,  und  sein  ganzes  Streben  riclitete  sich  darauf, 
seine  Ehe  für  nngiltig  erklärt  zu  sehen,  um  seine  Geliebte  zum  Altar 
zu  führen.  Als  sich  diese  Hoffnung  trügerisch  erwies,  trat  das  schöne, 
gebildete  Mädchen  in  ihrem  25.  Jahr  in  ein  Kloster')  (1647).  Mehr 
als  romantisch  freilich  war  das  Abenteuer  der  Prinzessin  Anna  de  Gon- 
zague,  der  Schwester  der  Königin  Marie  von  Polen  und  Tochter  des  Her- 
zogs von  Nevers.  Herzog  Heinrich  von  Guise  bewarb  sich  um  deren 
Liebe,  obwol  er  Erzbischof  von  Rheims  war.  Er  that  dies  in  ganz  außer- 
gewöhnlicher Weise,  „wie  man  es  in  den  Romanen  liest",  sagt  Mlle. 
de  Montpensier.^)  Es  gelang  ihm,  Befreiung  von  seinen  Gelübden  zu  er- 
halten; er  trat  in  den  weltlichen  Stand  zurück,  versprach  Anna  Gon- 
zague  in  einer  feierlichen  Urkunde  seine  Hand,  und  soll  sich  auch  heim- 
lich mit  ihr  vermählt  haben.  Einige  Zeit  darauf  sah  er  sich  veranlaßt, 
nach  Sedan  und  von  da  nach  Brüssel  zu  gehen.  Auf  seinen  Wunsch 
folgte  ihm  später  Anna  in  Männerkleidung;  nachdem  sie  mancherlei 
Abenteuer  bestanden  hatte,  hörte  sie  unterwegs,  daß  Guise  in  Brüssel 
eine  andere  Dame  geheiratet  habe."'')  Daraufhin  kehrte  sie  nach  Paris 
zurück,  protestierte  gegen  die  Ehe  des  Herzogs  und  lebte  im  übrigen, 
als  sei  nichts  vorgefallen.  Später  heiratete  sie  den  Prinzen  Eduard,  den 
Sohn  des  vertriebenen  Pfalzgrafen  Friedrich. 

Wenn  aber  auch  dieser  und  mancher  andere  Vorfall  eine  grobe 
Mißachtung  der  Sittlichkeit  und  des  Anstands  bekundete,  so  kann  man 
die  Gesellschaft  jener  Zeit  durchaus  nicht  der  nichtsnutzigen,  verderbten 
Welt  vergleichen,  die  sich  80  Jahre  später  unter  der  Regentschaft  des 
Herzogs  von  Orleans  breit  machte. 

Die  Erinnerung  an  die  gute  alte  Zeit  entlockte  Saint-Evremond 
noch  in  seinem  Alter  sehnsüchtige  Seufzer  und  er  schrieb  in  der  Ver- 
bannung die  nachstehenden   Verse : 

J'ai  vu  ie  temps  de  la  bonne  regence, 
Temps  oü  regnoit  une  heureuse  abondance; 


1)  Vergl.  V.  Cousin,  La  jeunesse  de  Mme.  de  Longueville.  3.  Aufl.  Paris 
1855,  Didier.  S.  439  ff.  —  Cousin  weist  nach ,  daß  Mlle.  du  Vigean  wenigstens 
damals  um  Aufnahme  in  das  Kloster  bat,  wenn  auch  diese  selbst  noch  etwas 
verzögert  wurde. 

-)  Mlle.  Montpensier,  Memoires,  Jahr  1650,  I,  S.  283. 

3)  Auch  diese  verließ  Guise,  nachdem  er  ihr  in  kurzer  Zeit  50.000  Ecus 
durchgebracht  hatte.  Vergl.  Motteville,  I,  207.  —  Heinrich  IL,  der  fünfte  und 
letzte  Herzog  von  Guise,  war  überhaupt  ein  sonderbarer  Mann.  Tapfer  bis  zur 
Tollkühnheit,  stolz,  zeitweise  ritterlich  in  seinem  Benehmen  und  dann  wieder 
gemein,  wortbrüchig,  ein  gewöhnlicher  Abenteurer.  Wie  ein  Held  aus  den  roman- 
tischen Epen  des  Mittelalters,  wollte  er  sich  eine  Krone  erobern,  eilte  nach 
Neapel,  das  sich  unter  Masaniello  gegen  die  Spanier  empört  hatte,  verteidigte 
die  Stadt  heldenmütig,  fiel  aber  zuletzt  in  die  Hände  der  Spanier.  Auf  Ver- 
wendung Condes  in  Freiheit  gesetzt,  starb  er  als  Kammerherr  Ludwigs  XIV. ! 
Vergl.  Forneron,  Les  ducs  de  Guise  (Paris  1877,  Plön),  2  Bde.,  und  V.  Cousin, 
La  jeunesse  de  Mme.  de  Longueville,  S.  219  ff. 


264 

Temps  oü  la  ville  aussi  bien  que  la  Cour 
Ne  respiroient  que  les  jeux  et  l'amour. 

Une  politique  indulgente 

De  notre  natura  innocente 

Favorisoit  tous  les  desirs; 

Tout  goüt  paroissoit  legitime, 

La  douce  erreur  ne  s'appeloit  point  crime, 

Les  vices  delicats  se  nommoient  des  plaisirs. 

Und  um  gleichsam  diesen  Charakter  der  guten  alten  Zeit  in  dem 
Gedicht  selbst  festzuhalten,  richtete  Saint-Evremond  sein  Gedicht  an 
Ninon  de  Lenclos,  die  bekannteste  Buhlerin  ihres  Jahrhunderts,  die 
Aspasia  Frankreichs.  Dies  führt  uns  nun  auch  dazu,  die  Kehrseite  des 
Bilds  zu  betrachten.  Die  vornehme  Gesellschaft  jener  Tage  strebte 
nach  Bildung,  wie  wir  gesehen  haben,  aber  sie  war  weit  davon  ent- 
fernt, in  diesem  Streben  einig  zu  sein.  Hier  begegnen  wir  schroffen 
Gegensätzen. 

Wir  dürfen  getrost  annehmen,  daß  die  Gebildeten  des  17.  Jahr- 
hunderts sich  in  ihrem  Wissen  und  inneren  Wesen  nicht  gar  so  sehr 
von  den  Gebildeten  unserer  Zeit  unterschieden  haben.  Ihr  Geist  war  in 
derselben  Weise  geschult  worden,  und  die  Grundlage  ihrer  Bildung  war, 
wie  heute  noch,  das  Studium  des  klassischen  Altertums.  Die  modernen 
Anschauungen  haben  sich  in  vielen  Punkten  geändert,  die  exakten 
Wissenschaften  haben  die  Welt  erobert,  aber  ein  Mann  mit  der  echten 
Bildung,  wie  sie  das  17.  Jahrhundert  geben  konnte,  hätte  keine  große 
Mühe,  sich  in  die  Gedankenwelt  des  19.  Jahrhunderts  einzuleben. 

Der  Unterschied  zwischen  heute  und  damals  liegt  vielmehr  in  der 
Verbreitung  dieser  Bildung.  In  unserer  Zeit  wird  durch  die  Organisation 
des  Schulwesens  eine  gleichmäßige  Bildung  in  die  weitesten  Kreise  ge- 
tragen ;  der  Buchhandel  und  die  Tagespresse  arbeiten  unermüdlich  daran, 
jede  neue,  packende  Idee  —  ob  richtig  oder  falsch,  kommt  hier  nicht 
in  Betracht  —  in  fliegender  Eile  dem  Volk  mitzuteilen,  und  somit  die 
Menschen  in  ihren  Anschauungen  einander  näher  zu  bringen.  Vor  260 
Jahren  aber  war  die  Zahl  der  Gebildeten  noch  verhältnismäßig  sehr  klein. 
Selbst  die  Gelehrten  konnte  man  nur  ausnahmsweise  zu  ihnen  rechnen, 
und  auch  in  der  Klasse  der  Vornehmen  und  Eeichen  hatten  die  Gebil- 
deten schwerlich  die  Majorität. 

In  dieser  Welt  des  17.  Jahrhunderts  mischte  sich  seltsam  ver- 
bunden Romantik  mit  Nüchternheit,  Bildung  mit  Koheit,  leichtes  Blut 
und  Lebenslust  mit  ernstem  Streben,  Glanz  mit  Elend,  hohe  Gesinnung 
mit  nichtigem  Wesen.  In  derselben  aristokratischen  Gesellschaft  fanden 
sich  neben  geistig  hochstehenden  Menschen  Leute,  die  jedes  Wissen  und 
jede  feine  Lebensart  verachteten.  Man  braucht  nur  die  Memoiren  der 
Zeit  in  die  Hand  zu  nehmen,  um  über  den  Ton,  in  dem  sich  viele  der 
vornehmsten  Edelleute  gefielen,  ins  klare  zu  kommen. 

Saint-Evremond  wird  uns  auch  jetzt  wieder  manchen  wertvollen 
Beitrag  zur  Kenntnis  seiner  Zeit  liefern.  Da  er  selbst  zu  der  adeligen 
Welt  gehörte;  kannte  er  sie  genau.    Er  war  ein  Mann  von  feinem  litte- 


265 


rarischen  Geschmack  und  frei  von  jeder  Pedanterie.  Seine  Schriften,  die 
mannigfaltiger  Natur  sind,  enthalten  einige  Satiren  von  hohem  Interesse. 
In  einer  derselben  berichtet  er  von  der  Unterhaltung  zweier  Edelleute 
über  den  Wert  und  Unwert  der  Bildung.  Er  verlegt  dieses  Gespräch 
in  das  Jahr  1656  und  will  ihm  beigewohnt  haben.  Es  mag  sein, 
daß  er  die  einzelnen  Sätze  drastischer  zusammengefaßt  hat,  im  ganzen 
trägt  seine  Schilderung  den  Stempel  der  Wahrheit.  Die  Herren  sprechen 
von  der  Königin  Christine  von  Schweden,  die  sich  damals  in  Paris 
aufhielt;  und  der  eine  von  ihnen,  der  Commandeur  de  Jars,  aus  dem 
altadeligon  Haus  der  ßochechouart,  erhebt  sich  im  Eifer  des  Gesprächs, 
lüftet  seinen  Hut  und  bittet  zu  bemerken,  daß  die  Königin  ihren  Thron 
nur  verloren  habe,  weil  sie  französisch  gelernt  und  sich  französische 
Manieren  angeeignet  habe.  Hätte  sie  nichts  gekannt  als  ihr  schwedisches 
Land,  so  wäre  sie  noch  regierende  Königin.  Folglich  sei  es  klar,  welch 
gefährliche  Wirkung  Wissenschaft  und  Bildung  haben.^) 

In  einem  andern  Sittenbild  macht  uns  Saint-Evremond  mit  einem 
rohen,  durch  das  Kriegsleben  verwilderten  Gesellen,  dem  Marschall  d'Ho- 
quincourt,  bekannt  und  schildert  uns,  wie  derselbe  eines  Tags  mit  dem 
Jesuitenpater  Canaye  bei  Tisch  gescherzt  habe. 

Der  Marschall  erzählt  zunächst  von  dem  Verkehr,  den  er  früher 
mit  Freigeistern  gepflogen  habe.  Einer  seiner  Freunde,  La  Prette,  ein 
Erzspötter  und  Hauptduellant  dazu,  habe  einst  todkrank  am  Fieber 
daniedergelegen,  und  um  ihn  nicht  so  elend  sterben  zu  lassen,  habe 
er,  d'Hoquincourt,  beschlossen,  ihn  mit  einem  Pistolenschuß  zu  töten. 
In  dem  Augenblick,  da  er  seinem  Freund  die  Pistole  an  den  Kopf  ge- 
halten habe,  sei  ein  verfl  —  Jesuit  in  das  Zimmer  getreten  und  habe 
den  Schuß  abgewendet.  Darum  seien  ihm  die  Jesuiten  zuwider  geworden 
und  er  habe  die  Partei  der  Jansenisten  ergriffen.  Der  Pater  bemerkt 
darauf  salbungsvoll,  daß  der  Teufel  immer  auf  der  Lauer  sei ;  der  Mar- 
schall aber  fährt  in  seinen  Erinnerungen  fort  und  gesteht,  daß  er  den 
Krieg  über  alles  geliebt  habe,  an  zweiter  Stelle  aber  sei  ihm  Mme.  de 
Montbazon,^)  und  nach  dieser  die  Philosophie  teuer  gewesen.  Pater 
Canaye  begeht  die  Unvorsichtigkeit,  des  Marschalls  Liebe  zu  Mme.  de 
Montbazon  als  unschuldige  Freundschaft  zu  bezeichnen,  und  weckt  damit 
die  wilde  Natur  des  Kriegsmanns.  Er  sei  keiner  von  den  schwachen 
Leuten,  die  nur  seufzen  gelernt  hätten,  schreit  er,  und  greift  nach 
einem  scharfen  Messer.  „Wenn  mir  Mme.  de  Montbazon  befohlen  hätte, 
Euch  zu  töten,  so  hätte  ich  Euch  das  Messer  in  das  Herz  gestoßen!" 
Bei  diesen  Worten  fährt  er  dem  erschrockenen  Jesuiten  mit  der  Klinge 


1)  Siehe  Saint-Evremond,  Oeuvres  Tl.  I,  S.  118  :  .Lettre  ä  M.  le  comte 
d'Olonne".  Man  vergleiche  ferner  das  Buch  von  Faret :  „L'honneste  homme  ou 
l'Art  de  plaire  ä  la  Cour  (Paris  1630).  Darin  heißt  es:  „II  est  certain  que  le 
nombre  n'est  pas  petit  dans  la  Cour  de  ces  esprits  malfaits  qui,  par  un  senti- 
ment  de  stupidite  brutale,  ne  peuvent  se  figurer  qu'un  gentilhomme  puisse  estre 
savant  et  soldat  ensemble"  (S.  30  der  Ausgabe  v.  Yverdon,  1649). 

2)  Die  Herzogin  von  Montbazon  war  eine  der  Hauptintriguantinnen  der 
Fronde. 


vor  dem  Gesicht  herum,  so  daß  dieser  unmerklich  auf  die  Seite  rückt, 
um  sich  zu  retten.  Aber  der  Marschall  folgt  ihm  und  bedroht  ihn,  bis 
endlich  Saint-Evremond  für  gut  findet,  durch  eine  Wendung  des  Ge- 
sprächs dem  Scherz  ein  Ende  zu  machen.  Denn  es  war  nur  ein  Scherz, 
den  sich  d'Hoquincourt  erlaubt  hatte,  aber  bei  Leuten  seines  Schlags 
konnte  man    nie  wissen,    wie  weit  sie    einen  Scherz  treiben  mochten.^) 

Daß  die  Satire  Saint-Evremonds  keine  Übertreibung  enthält,  lehrt 
die  Geschichte  an  anderen  Beispielen.  Einer  der  Hauptführer  der  Fronde, 
der  Herzog  von  Beaufort,  scheute  nicht  davor  zurück,  gegen  Mazarin 
ein  Mordattentat  zu  organisieren.-)  Seine  Mutter  war  eine  Guise  ans 
dem  fürstlichen  Haus  Lothringeu  und  ihrer  derben  Manieren  wegen 
bekannt.  Ihr  Sohn  Beaufort  aber  war  als  Ausbund  von  Roheit  geradezu 
berüchtigt.  Er  gefiel  sich  in  der  gemeinsten  Sprache,  und  trug  den 
Ehrentitel  eines  „Königs  der  Hallen",  wie  er  denn  auch  der  Abgott  der 
Marktweiber  war.^)  Daß  er  durch  sein  Wesen  auffiel,  beweist  allerdings 
der  Umstand,  daß  man  darüber  spottete.  Aber  man  forsche  nur  weiter, 
und  es  wird  an  ähnlichen  Figuren  nicht  fehlen. 

Erzählt  man  uns  doch  selbst  von  der  Prinzessin  Conde  sonderbare 
Nachricht.  Conde,  der  Sieger  von  Rocroi,  von  dessen  hoher  Bildung 
wir  schon  gesprochen,  mußte  als  Herzog  von  Enghien  aus  Familien- 
rücksichten im  Jahr  1642  der  Nichte  Richelieus  die  Hand  reichen. 
Das  Fräulein  Claire-Clemence  de  Maille-Breze  war  weder  schön  noch 
anziehend,  und  der  einundzwanzigjährige  Herzog  hatte  sich  lange  gegen 
diese  Verbindung  gesträubt.  Aber  vergebens,  sein  Vater  hatte  darauf 
bestanden,  da  er  den  Haß  des  Kardinals  fürchtete.  Die  Herzogin  war 
so  kindischen  Sinns  und  so  jung,  daß  sie  zwei  Jahre  nach  ihrer  Hoch- 
zeit mit  Puppen  spielte  und  nicht  einmal  lesen  und  schreiben  konnte. 
W'ährend  einer  längeren  Abwesenheit  ihres  Gemahls  schickte  man  sie, 
heißt  es,  in  ein  Kloster,  um  diese  Lücke  in  ihrem  Wissen  auszufüllen. 
Wie  weit  ihr  diese  nachträglichen  Studien  glückten,  wird  uns  nicht 
berichtet."*)  Die  arme  junge  Frau  hatte  eine  schwere  Stellung  in  ihrer 
neuen  Familie.  Conde  empfand  die  Demütigung,  die  man  ihm  auferlegte, 
aufs  peinlichste.  Er  wurde  krank,  weigerte  sich  lange,  mit  seiner  Frau 
zu  leben,  und  versuchte,    wenn  auch  vergebens,    eine  Scheidung  herbei- 


1)  Saint-Evremond,  Oeuvres  II,  S.  33  :  „Conversation  du  marechal  d'Ho- 
quincourt avec  le  Pere  Canaye". 

2)  Mme.  de  Motteville,  I,  187. 

3)  Saint-Evremond,  -Apologie  du  duc  de  Beaufort".  Oeuvres  Band  VI, 
S.  5.  In  dieser  Satire  heißt  es:"„M.  de  Beaufort  fait  gloire  d'ignorer  des 
termes  trop  delicats  et  capables  d"amoUir  les  courages,  comme  d'affaiblir  les 
esprits".  Er  verwechselt  die  Wörter,  spricht  von  den  accidents  der  Prozesse, 
statt  von  den  ineidents,  nennt  etwas  lubrique.  was  er  als  lugubre  bezeichnen 
will,  und  sagt,  daü  Laval  infolge  einer  „confusion  ä  la  tete"  (contusionj  ge- 
storben sei. 

*)  Mlle.  de  Montpensier,  Memoires,  I,  S.  51  (Jahr  1642).  Vielleicht  hat 
„la  Grande  Demoiselle"  etwas  übertrieben;  doch  kann  man  nicht  zweifeln,  daß 
die  Herzogin  sehr  ungebildet  war. 


267 

zuführen.  Die  Herzogin  suchte  manchmal  Trost  bei  Mademoiselle 
de  Montpensier,    die  aus  Mitleid  ihre  Besuche  über  sich  ergehen  ließ.^) 

Aber  „Mademoiselle"  selbst,  die  in  den  ruhigeren  Jahren  der 
Kegierung  Ludwigs  XIV.  eine  belebte,  litterarisch  gebildete  Gesellschaft 
um  sich  vereinigte,  zeigte  manchmal  merkwürdigen  Geschmack.  Daß  sie 
in  ihrem  Heroismus  an  der  Spitze  einer  ßeiterschar  das  Land  durch- 
streifte, ganz  allein  dem  König  die  Stadt  Orleans  streitig  machte  und 
durch  einen  kecken  Streich  auch  für  die  Fronde  gewann,  ist  ein  Beweis 
für  ihren  energischen  und  dem  Eomantischen  zugeneigten  Sinn.  Schwer 
verständlich  aber  ist  es,  daß  sie  bei  einem  Besuch  in  der  Abtei  Fonte- 
vrault  stundenlang  dem  Toben  einer  in  einer  Zelle  eingesperrten,  nackten, 
in  Wahnsinn  verfallenen  Nonne  zusehen  und  dies  Schauspiel  als  eine 
gute  Unterhaltung  betrachten  konnte.^)  Solche  Beispiele  zeigen  doch 
wieder,  daß  man  in  früherer  Zeit  wol  stärkere  Nerven  hatte,  aber  von 
wahrer  Humanität  noch  weiter  entfernt  war  als  heute.  Überhaupt  brach 
die  Wildheit  häufig  durch  alle  Schranken,  die  ihr  Sitte  und  Gesetz  zogen. 
So  geriet  Beaufort  während  der  Fronde  in  heftigen  Streit  mit  seinem 
Schwager,  dem  Herzog  von  Nemours.  In  Gegenwart  der  Prinzessin  von 
Montpensier  kam  es  zwischen  beiden  zu  Thätlichkeiten,  und  diese  führten 
zum  Duell.  Beaufort,  der  an  seine  Schwester  dachte,  bat  vor  Beginn 
des  Kampfes  um  Versöhnung,  allein  Nemours  wollte  von  nichts  wissen 
und  drang  unter  wildem  Fluchen  mit  Pistole  und  Degen  auf  Beaufort 
ein.  Dieser  setzte  sich  zur  Wehre  und  streckte  seinen  Schwager  mit 
drei  Schüssen  nieder.  Von  den  Sekundanten  wurden  ebenfalls  drei  ge- 
tötet.^) Denn  die  Sitte  der  Zeit  verlangte,  daß  man  mit  mehreren 
Freunden  auf  dem  Kampfplatz  erschien,  und  daß  diese  ihre  Klingen  mit 
den  Sekundanten  des  Gegners  kreuzten,  gleichsam  um  ihre  Waffen- 
brüderschaft zu  bethätigen. 

Man  bedenke  ferner,  welche  Kolle  noch  der  Stock  in  dem  Leben 
jener  Zeit  spielt,  und  wie  oft  berichtet  wird,  daß  es  Prügel  setzte! 
Wagt  der  Dichter  Benserade  ein  etwas  unehrerbietiges  Gedicht  auf 
Madame  de  Chatillon  zu  zeigen,  so  stellt  ihm  der  Herzog  von  Chatillon 
flugs  hundert  Stockstreiche  in  freundliche  Aussicht.  Die  Lustspiele 
bringen  nicht  ohne  Grund  so  viele  Scenen,  in  welchen  der  Stock  das 
letzte  Wort  spricht.  Ebenso  stößt  man  in  Scarrons  „Roman  comique", 
der  ein  Bild  des  Lebens  in  der  Provinz  giebt,  fast  in  jedem  Kapitel 
auf  Geschichten  von  Duellen    und  Rauf  handeln.     Die  hohen  Herren  ar- 


1)  Mlle.  de  Montpensier,  I,  S.  51:  „Je  vous  avoue  qu'elle  me  faisoit  pitie 
et  que  cette  seule  consideration  me  faisoit  m'accomoder  ä  ses  visites :  quant  ä 
moi,  je  n'en  recevois  aucun  divertissement". 

2)  Mlle.  de  Montpensier,  Memoires  I,  S.  29  (Jahr  1637).  Sie  erzählt,  daß 
ihre  beiden  Hofdamen  schreckliches  Geschrei  hörten.  „Elles  trouverent  une  folle 
enfermee  dans  un  cachot,  oü  il  y  avoit  une  fenetre  d'oü  l'on  ne  pouvoit  voir 
que  la  tete.  Cette  pauvre  creature  etoit  toute  nue,  et  apres  qu'elles  eurent  eu 
quelque  temps  le  plaisir  de  son  extravagance,  pour  me  divertir,  elles  viarent 
m'avertir;  je  laissai  l'entretien  de  madame  l'abbesse ;  je  pris  ma  course  vers  ce 
cachot  et  n'en  sortis  que  pour  souper." 

3)  Mlle.  de  Montpensier,  II,  S.  13  (Jahr  1652). 


beiteten  freilich  nur  selten  eigenhändig  mit  dem  Stock;  gewöhnlich 
gaben  sie  ihren  Dienern  den  Auftrag,  Leute,  die  im  Rang  tiefer  standen 
und  ihnen  unbequem  waren,  zu  überfallen  und  durchzuprügeln.  Selbst 
Voltaire  sollte,  ein  Jahrhundert  später,  seine  Erfahrungen  darüber 
machen.  Die  Barone  griffen,  wie  wir  gesehen  haben,  zum  Degen,  wenn 
sie  einen  Streit  mit  einem  Standesgenossen  auszufechten  hatten,  wol 
aucli  zur  Pistole,  die  sie  geladen  bei  sich  trugen.^)  In  den  Straßen  von 
Paris  kam  es  oft  genug  zum  Blutvergießen.  Die  großen  Herren  erschienen 
selten  ohne  zahlreiches  Gefolge,  und  so  kam  es  zwischen  den  Leuten 
zweier  auf  einander  erbitterten  Familien  häufig  zum  offenen  Gefecht.^) 
Selbst  im  Parterre  des  Theaters  entspannen  sich  nicht  selten  Streitig- 
keiten, die  zu  blutigen  Händeln  ausarteten.  Bis  zur  Mitte  des  Jahr- 
hunderts war  es  gefährlich,  sich  bei  Nachtzeit  auf  die  Straßen  der  Haupt- 
stadt zu  wagen,  und  man  hatte  nicht  allein  Diebe  und  raublustige  Strolche 
zu  fürchten. 

Bei  der  Geschichte  Voitures  haben  wir  schon  gesehen,  welch  derben 
Scherz  man  sich  manchmal  in  den  feinsten  Kreisen,  sogar  im  Hotel 
Rambouillet  erlaubte.  Der  selbstgefällige  Schöngeist  hatte  den  Übermut 
der  jungen  Damen  kosten  müssen.  Und  doch  standen  in  dem  Haus  der 
edlen  Marquise  die  Dichter  und  Gelehrten  geachtet  und  den  vornehmen 
Gästen  gleichberechtigt  zur  Seite.  Aber  nicht  in  allen  Palästen,  in 
welchen  man  Mäcenatentum  anstrebte,  fand  sich  ähnliche  Billigkeit.  In 
der  Gesellschaft  der  stolzen  Herren  ging  es  oft  toll  her,  und  als  Ziel- 
scheibe der  Scherze  diente  nur-  zu  oft  der  unglückliche  Poet,  der  aus 
Mitleid  in  das  Haus  aufgenommen  worden  war;  der  arme  Schöngeist, 
der,  von  Hunger  getrieben  oder  von  falscher  Eitelkeit  verleitet,  in  dem 
Dienst  des  Hauses  ein  Amt  gefunden  hatte. 

Die  hervorragenden  Dichter  und  Schriftsteller  waren  freilich  vor 
solcher  Behandlung  sicher.  Sie  traf  zunächst  die  litterarischen  Vagabunden, 
welche  Mathurin  Regnier  so  trefflich  schildert,  die  Parasiten,  welche  für 
ein  Stück  Braten  sich  jegliche  Unbill  gefallen  ließen,  und  die  sich  ge- 
übt hatten,  auf  Verlangen  auch  ein  paar  Gelegenheitsgedichte  zu  schmieden. 
Koch  in  späteren  Zeiten,  unter  Ludwig  XIV..  mußte  sich  Jean  de  San- 
teul,  ein  zumeist  durch  seine  lateinischen  Gedichte  bekannter  Schöngeist, 
im  Hause  Condes  (des  „großen"  Conde  Enkel)  gefallen  lassen,  daß  ihm 
die  Herzogin  eine  derbe  Ohrfeige  gab.     Als  er  darüber  erschrocken  zu- 


1)  Vergl.  Corneille,  Le  Menteur  II,  5,  v.  93: 

mais,  voyez  ma  disgräce, 

Avec  mon  pistoletle  cordon  s'embarrasse, 
Fait  marcher  le  declin;  le  feu  prend,  le  coup  port. 
-}  Beaufort  hielt  sich  z.  B.  eines  Tags  von  einem  andern  Edelmann, 
Mr.  de  Janze,  für  beleidigt.  Dafür  überfiel  er  ihn  mit  seinen  Freunden  in 
dem  „Jardin  Regnard",  der  an  die  Tuilerienterrasse  grenzte,  und  stieß  den 
Tisch  um,  an  dem  dieser  saß;  von  beiden  Seiten  zog  man  die  Degen,  und  mit 
Mühe  wurde  Blutvergießen  verhütet.  In  ähnlicher  Weise  boten  die  beiden  Herren 
und  deren  Freunde  auf  dem  „Cours  de  la  Reine"  einander  Trotz,  bis  der  Herzog 
von  Orleans  vermittelte.  Vergl.  MUe.  de  Montpensier,  Memoires  I,  S.  222 
(Jahr  1644). 


269 


sammenfuhr,  hatte  die  Fürstin  die  Gnade,  ihm  ein  Glas  Wasser  ins 
Gesicht  zu  schütten,  indem  sie  witzig  und  unter  dem  Beifall  der  anderen 
Gäste  bemerkte,  daß  nach  dem  Donner  der  Regen  käme.  Da  Santeul 
nach  einer  solchen  Behandlung  nicht  fortlief,  so  scheint  er  fast  solche 
Behandlung  verdient  zu  haben,  und  eine  andere,  wenn  auch  nicht  ver- 
bürgte Überlieferung  von  der  Ursache  seines  Tods  stimmt  ganz  zu  der 
Behandlung,  von  der  die  eben  erwähnte  Geschichte  spricht.  Es  heißt 
nämlich,  der  junge  Herzog  (Condes  Enkel)  habe  Schnupftabak  in  ein 
Glas  Wein  geschüttet  und  Santeul  gezwungen,  die  Brühe  zu  trinken. 
Der  Unglückliche  sei  aber  an  den  Folgen  dieses  „Scherzes"  nach  hef- 
tigen Leiden  gestorben.^)  Jeder  Entschuldigung  entbehrte  auch  Armand 
de  Conti,  der  Bruder  Condes,  des  Feldherrn,  als  er  Sarrazin  erschlug.  Wozu 
auch  Entschuldigungen?  Jean  Fran^ois  Sarrazin  stand  als  Sekretär  in 
Contis  Dienst.  Er  hatte  mehrere  historische  Schriften  verfaßt,  auch  in 
Voitures  Art  leichte  galante  Verse  gedichtet,  ohne  an  deren  Veröffentlichung 
zu  denken,  und  war  als  witziger  Gesellschafter  gerühmt.  In  einem  Anfall 
von  Wut  schlug  ihm  sein  Herr  mit  einer  Feuerzange  auf  den  Kopf,  so 
daß  er  drei  Tage  nachher  an  einer  Gehirnkrankheit  starb  (1654).  Conti  bot 
damals,  wie  eine  unverbürgte  Überlieferung  erzählt,  dem  jungen  Moliere, 
der  an  der  Spitze  einer  Schauspielergesellschaft  in  der  Provinz  umherzog, 
das  Amt  Sarrazins  an,  aber  zum  Glück  für  sich  und  die  dramatische 
Poesie  lehnte  der  Dichter  die  gefährliche  Ehre  dankend  ab. 

Die  Fabel  von  dem  Kettenhund  und  dem  Wolf  kommt  uns  bei 
solchen  Geschichten  leicht  in  den  Sinn.  Tristan  l'Hermite,  der  gefeierte 
Dichter  der  ..Marianne",  war  als  Kammerherr  in  den  Dienst  Gastons 
von  Orleans  getreten,  und  starb  1656^  infolge  eines  Lungenleidens. 
Wir  wissen,  daß  man  ihn  schätzte,  daß  sein  Gönner,  der  Herzog  von 
Saint  Aignan.  ihm  mehrmals  durch  reiche  Geldspenden  aus  der  Not  half, 
in  die  er  sich  durch  seine  Spielwut  gestürzt  hatte.  Und  doch!  Welche 
Erfahrungen  muß  er  gemacht  haben,  wenn  er  am  Schluß  seines  Lebens 
mit  Bitterkeit  auf  die  Vergangenheit  zurücksah  und  sich  mit  einem  Hund 
verglich,  der  seinem  Herrn  schön  thut.  Das  Epithaph,  das  er  sich  dichtete, 
lautet  in  der  Übersetzung: 

Verlockt  von  trügerischem  Hoffaungsstern, 

Geblendet  von  dem  Glänze  äußerer  Pracht, 

Folgt'  wie  ein  Jagdhund  ich  dem  Ruf  des  Herrn  ! 

Ich  wollte  glänzen,  und  blieb  stets  in  Nacht. 

Ich  hofft'  auf  Glück,  und  lebte  stets  nur  schlecht, 

Und  hart  gebettet  starb  ich  als  ein  Knecht.^) 

1)  Ausführlicheres  über  die  Prinzen  Conde  enthält  das  nachgelassene 
Buch  von  Lotheißen,  Zur  Kulturgeschichte  Frankreichs  im  17.  und  18.  Jahr- 
hundert (Wien  1889),  S.  135  ff.,  wo  der  Verfasser  anläßlich  der  „Histoire  des 
princes  de  Conde"  vom  Herzog  von  Anmale  (Paris  1863  —  1886,  4  Bände)  und 
ferner  von  Etienne  AUaire,  La  Bruyere  dans  la  maison  de  Conde  (Paris  1886) 
die  Condes  schildert. 

2)  Tristan  l'Hermite  (Parfaict  V,  S.  200). 

Ebloui  de  l'eclat  de  la  splendeur  mondaine, 
Je  me  flattai  toujours  de  l'esperance  vaine, 
Faisant  le  chien  couchant  aupres  d'un  grand  seigneur. 


270 

Und  so  begreifen  wir  Eotrous  Widerwillen ,  in  dem  Haus  eines 
Aristokraten  Schutz  gegen  Armut  und  Elend  zu  finden.  Der  Wolf  zog 
die  Freiheit  seines  Waldes,  den  Stolz  seiner  Unabhängigkeit  dem  Glanz 
der  Knechtschaft  vor.  Allerdings  stand  Rotrou  in  freundschaftlichem 
Verhältnis  zu  den  Familien  Soissons  und  Longueville,  welchen  er  seine 
Arbeiten  vorlas.  Aber  weder  die  Spazierfahrten  auf  dem  „Cours  de  la 
Reine",  noch  die  Besuche  bei  Hof,  in  Vincennes  und  im  Louvre  hatten 
Eeiz  für  ihn.  Er  mochte  nicht  zu  den  edlen  Herren  in  den  Wagen 
steigen,  so  freundlich  sie  ihn  auch  oft  dazu  einluden;  denn  er  litt 
darunter,  wenn  er,  wie  andere,  sich  abquälen  sollte,  ein  Witzwort  zu 
finden,  um  sich  angenehm  zu  machen.^)  Auch  Corneille  zog  in  seinem 
geraden  Sinn  bürgerliche  Unabhängigkeit  dem  Glanz  vor,  mochte  ihm 
auch  manche  Gönnerschaft  darob  entgehen. 

Wir  mußten  diese  immer  wieder  hervorbrechende  Roheit  in  dem 
Charakter  der  Zeit  hervorheben,  um  das  Bild  der  damaligen  Gesellschaft 
wahrheitsgetreu  zu  zeichnen.  Aber  man  darf  deshalb  nicht  zu  streng 
über  sie  urteilen.  In  einer  aufstrebenden  Nation,  einem  rasch  sich  ent- 
wickelnden Staatsleben  wird  die  Feinheit  der  Sitten,  weltmännischer 
Takt  erst  allmählich  zu  einem  Gemeingut  größerer  Kreise ;  wahre  Hu- 
manität aber  ist  ein  Gut,  das  erst  nach  langer  civilisatorischer  Arbeit 
von  einem  Volk  errungen  wird.  Eine  Gesellschaft  jedoch,  welche  sich 
an  Romanen  wie  „Asträa"  und  später  an  dem  „großen  Cyrus"  des 
Fräulein  von  Scudery  begeistern,  die  darin  enthaltenen  langatmigen, 
gezierten  Unterhaltungen  genießen  konnte,  hatte  gewiß  den  Wunsch,  die 
gute  Sitte  zur  Herrschaft  zu  bringen  und  der  geistigen  Kraft  ihr  Recht 
widerfahren  zu  lassen.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  die  Epoche,  die  uns  jetzt 
beschäftigt,  lebhaften  Sinn  für  Schönheit  und  Größe  hatte;  daß  sie  den 
Grund  legte,  auf  der  die  nachfolgenden  Generationen  das  stolze  Gebäude 
errichten  konnten,  das  so  lang  als  mustergiltig  in  Europa  bewundert  ward. 

Wir  haben  indessen  bisher  nur  die  aristokratische  Gesellschaft 
der  Hauptstadt    betrachtet,    nur  die  Kreise,    welche  in  Verbindung   mit 


Je  me  vis  toujours  pauvre,  et  tächai  de  paraitre. 

Je  vecus  dans  la  peine  attendant  le  bonheur, 

Et  mourus  sur  un  coffre  en  attendant  mon  maitre. 

ij  Rotrou,  A  son  ami  M.  (qui  veut  partir  pour  Dreux).    7.  Strophe,    am 
Schluß,  und  Str.  8: 

Ni  le  Cours,  ni  la  Cour  n'ont  rien  de  captivant, 
Et  quoique  mon  oeil  y  decouvre, 
Je  sors  de  Vincennes  et  du  Louvre 
Aussi  froid  que  j'etois  devant. 

En  l'humeur,  oü  je  suis,  qui  veut  bien  m'affliger, 

N'a  qu'ä  m'entretenir  de  ballets,  de  nöces. 

Et  quoique  des  seigneurs  me  pensent  obliger, 

Je  hals  d'entrer  en  leurs  carrosses. 

Je  n'y  puis  imiter  ni  Clinchant  ni  Gillot, 

Jamals  mon  esprit  ne  s'y  ronge, 

Et  je  soulfre  trop,  quand  j'y  songe, 

Au  moyen  de  dire  un  bon  mot. 


271 


dem  Hof  standen,  oder  die  Männer,  welche  als  regierende  Herren  ia  den 
einzelnen  Provinzen  selbst  wieder  Hof  hielten.  Sie  haben  allerdings, 
wie  schon  bemerkt  worden  ist,  damals  den  Ton  angegeben.  Um  aber 
den  französischen  Adel  richtig  zu  beurteilen,  muß  man  auch  den  kleinen 
Adel,  der  in  der  Provinz  auf  dem  von  den  Vätern  geerbten  Grundbesitz 
lebte,  kennen  lernen.  In  ihm  lag  doch  der  eigentliche  Kern  des  fran- 
zösischen Adels,  und  in  ihm  fand  sich  auch  noch  im  17.  Jahrhundert 
die  alte  Einfachheit  und  feste  Art. 

Wer  sich  von  Adel  nennt,  und  lügt  wie  Du, 

Der  lügt,  wenn  er  es  sagt,  und  war  es  nie!-i) 

sagt  der  greise  Geronte  in  Corneilles   „Menteur". 

Ein  solcher  Mann  hat  keine  Ahnung  von  den  Vorschriften  der 
Mode,  den  Gesetzen  der  neumodischen  Galanterie.  Aber  er  ist  fest  und 
treu,  eine  Stütze  der  Familie  wie  des  Staats.  Er  i.st  Eoyalist,  und  wie 
er  seinem  König  gehorcht,  so  verlangt  er  in  seiner  Familie  volle  Auto- 
rität. Frau  und  Kinder  sind  ihm  unterthan.  Er  bestimmt  den  Lebens- 
weg der  letzteren,  verfügt  über  ihre  Hand  nach  seinem  Gutdünken.  In 
allen  Dramen  und  Lustspielen  wird  dieser  väterlichen  Autorität  als 
einer  fest  in  den  Gesetzen  begründeten  Macht  Erwähnung  gethan.  Am 
schärfsten  drückt  Pauline  in  Corneilles  „Polyeucte"  diese  unbedingte 
Unterwerfung  der  Kinder  unter  den  Willen  des  Vaters  oder,  nach  dessen 
Tod,  des  Bruders  aus.  Pauline  sagt  zu  Sever,  den  sie  früher  geliebt 
und  von  dem  sie  durch  die  Ehe  mit  Polyeucte  getrennt  worden  ist: 

Doch  welchen  Gatten  auch  der  Vater  mir 
Bestimmt  —  und  hättet  ihr  mit  einer  Krone 
Den  eignen  Wert  erhöht,  und  hätt'  ich  Euch 
Damals  geseh'n,  und  hätt'  ich  ihn  gehaßt  — 
Ich  hätte  drob  geweint,  jedoch  gehorcht.-) 

Das  Leben  auf  dem  Land  verstrich  in  ziemlicher  Einförmigkeit. 
Die  Verwaltung  der  Güter  und  die  Ausübung  der  Herrschaftsrechte  lagen 
gewöhnlich  in  der  Hand  einiger  Beamten,  und  der  Schloßherr  selbst 
ergötzte  sich  hauptsächlich  an  der  Jagd,  am  erfrischenden  Ritt  oder  er 
gab  sich  den  Freuden  einer  wohlbesetzten  Tafel  hin.  In  seinem  Thal 
war  er  ein  kleiner  König,  der  über  seine  Mannen  gebot,  den  man  ver- 
ehrte oder  fürchtete,  der  das  Schicksal  seiner  Leute  in  der  Hand  hatte. 
War  er  von  den  meisten  Abgaben  und  Steuern  befreit,  die  das  arme 
Volk  drückten,  so  zahlte  er  doch  die  Blutsteuer.  Denn  der  Kriegsdienst 
war  seine  Pflicht,  aber  auch  sein  Eecht.  In  dem  französischen  Adel 
lebte  ein  kriegerischer  Geist,  und  er  hieß  einen  Kriegszug  oft  als  Ab- 
wechslung   in  seinem    eintönigen  Leben  willkommen.     Dann  ging  es  in 


1)  Corneille,  Le  Menteur  V,  3,  v.  19  u.  20. 

^)  Corneille,  Polyeucte  II,  1.  v.  82  ff.: 

De  quelque  amant  pour  moi  que  mon  pere  eüt  fait  choix, 
Quand  ä  ce  grand  pouvoir  que  la  valeur  vous  donne, 
Vous  auriez  ajoutö  l'eclat  d'une  couronne, 
Quand  je  vous  aurois  vu,  quand  je  l'aurois  hai, 
J'en  aurois  soupire,  mais  j'aurois  obei. 


272 

die  Fremde,  an  der  Spitze  einiger  getreuen  Diener  und  Gutsmannen, 
die  ihm  folgten.  In  Friedenszeiten  aber  zog  er  wol  manchmal  an  das 
Hoflager  seines  Königs,  diesem  zu  huldigen  oder  etwas  von  ihm  zu 
erbitten.  Auf  dem  glatten  Boden  der  königlichen  Vorsäle  konnte  er 
sich  freilich  nicht  heimisch  fühlen.  In  der  dumpfen  Luft,  die  dort 
herrschte,  fühlte  er  sein  Herz  beengt,  und  gerne  kehrte  er  wieder  in 
die  Heimat  zurück,  wo  er  selbst  noch  etwas  galt,  wo  er  als  Vertreter 
des  Königs  schaltete,  die  Handhabung  der  Gesetze  überwachte,  die 
Steuern  erheben  ließ,  die  Miliz  berief  und  musterte,  für  die  Armen 
sorgte.-^)  Freilich  nicht  mehr  lange.  Denn  die  Centralisation  machte 
in  der  Verwaltung  immer  größere  Fortschritte,  und  die  Herrschaft  in 
der  Provinz  gehörte  bald  dem  Vertrauensmann  des  Ministers,  dem  Inten- 
danten und  dessen  Unterbeamten.  Dazu  kam  noch  später  der  Wille 
König  Ludwig  XIV.,  der  den  unabhängigen  Adel  an  seinen  Hof  berief, 
wo  er  geistig  und  moralisch  verflachte,  während  er  sich  materiell  ruinierte. 

In  der  Zeit  vor  der  Fronde  war  das  noch  anders.  Der  erbgesessene 
Adel  stand  noch  aufrecht  und  gab  dem  Leben  in  der  Provinz  seinen 
Charakter.  Freilich  gab  es  lange  Stunden  in  den  Herrensitzen;  die  Frau 
und  die  Töchter  hatten  wol  ihre  Beschäftigung  im  Haus,  und  in  freien 
Stunden  freuten  sie  sich  doppelt  an  einem  ßoman,  der  von  wunderbaren 
Helden  erzählte,  oder  an  einer  neuen  Tragödie,  die  ihnen  auf  einigen 
Bogen  in  Quart  gedruckt  und  mit  Vignetten  geziert  aus  der  Haupt- 
stadt geschickt  worden  war.  Oder  sie  wußten  die  Laute  zu  spielen  und 
ihi-e  bald  neckischen,  bald  traurigen  Lieder  zu  singen.  Aber  den  Herrn 
des  Hauses  drückte  schon  öfters  die  Langweile,  und  freudig  ergriff  er 
die  Gelegenheit,  mit  seinesgleichen  zusammenzukommen,  gemeinsam 
zu  tafeln,  sich  auszuplaudern,  die  alten  Bekanntschaften  zu  erneuern. 
Eine  solche  Gelegenheit  boten,  in  einigen  Provinzen  wenigstens,  die 
Ständeversammlungen.  Alle  zwei  Jahre  kamen  sie  auf  mehrere  Wochen 
zusammen,  um  die  Provinzialangelegenheiten  zu  ordnen,  und  nach  den 
Sitzungen  gab  es  Bankette  von  solch  solider  Pracht,  daß  die  Tische 
sich  schier  unter  der  Last  der  Speisen  und  Getränke  bogen,  gab  es 
Bälle  —  denn  auch  die  Damen  fanden  sich  oft  bei  den  Landtagen 
ein  —  hohes  Spiel,  und  gewöhnlich  war  auch  durch  das  Engagement 
einer  Schauspieltruppe  für  weitere  Unterhaltung  gesorgt.-)  Eine  solche 
Versammlung  der  Stände  kostete  dem  einzelnen  oft  schweres  Geld,  aber 
die  Gelegenheit  kam  ja  nicht  oft.  In  der  Zwischenzeit  konnte  man,  wenn 
nötig,  wieder  sparen. 

Auch  die  Nachbarn  in  der  Runde  luden  sich  zu  ihren  Festen, 
Jagden  und  Gesellschaften  ein.  Es  war  doch  ein  gesundes,  kräftiges 
Leben. 


')  A.  de  TocqueviUe,  L'ancien  regime  et  la  revolution,  p.  60. 

-j  Dassoucy  in  einem  Liedchen: 

Et  quoi  qu'on  chante  et  quoi  qu'on  die 
De  ces  beaux  messieurs  des  etats, 
Qui  tous  les  jours  ont  six  ducats, 
La  musique  et  la  comedie. 


273 

Und  wie  Jahrhunderte  zuvor  die  Troubadours  von  Schloß  zu  Schloß 
gezogen  waren,  ihre  Lieder  zu  singen  und  sonstige  Künste  zu  zeigen, 
so  sorgten  jetzt  auch  noch  wandernde  Virtuosen  —  Karikaturen  der 
Troubadours  —  für  die  Unterhaltung  und  Bildung  der  Provinz.  Einer 
dieser  Leute,  Dassoucy,  hat  sich  auch  als  Dichter  vorgewagt  und  nicht 
geringe  Meinung  von  sich  gehabt.^)  Über  die  Erlebnisse  auf  seinen  Wan- 
derungen durch  Frankreich  und  Italien  hat  er  selbst  berichtet,  und  wenn 
er  auch  viele  Vorfälle,  die  dunkel  genug  waren,  in  schönem  Licht  sah, 
so  trägt  doch  sein  Bericht  im  ganzen  den  Stempel  der  Wahrhaftigkeit.^) 
Dassoucy  erzählt  unter  anderm ,  wie  er  zur  Zeit  der  Eegentschaft  eine 
Kunstreise  —  wie  seine  modernen  Nachfolger  sagen  würden  —  durch 
das  südwestliche  Frankreich  unternahm.  Von  zwei  Pagen  begleitet,  wan- 
derte er  zu  Fuß  durch  das  Land,  obwol  er  die  Mittel  hatte,  einen  Wagen 
zu  nehmen  und  seine  Begleiter  beritten  zu  machen.  Aber  eine  Fuß- 
wanderung war  ihm  ein  Genuß,  und  er  singt  ein  wahres  Loblied  über 
die  Freuden  einer  solchen.  Sein  Aufzug  war  sonderbar  genug.  Voran 
schritt  ein  Esel,  der  das  Gepäck  der  Reisenden,  einen  Koffer  mit  Lie- 
dern und  Gedichten  trug,  und  mit  Theorben  und  Lauten  behängt  war. 
Hinter  ihm  schritten  die  zwei  Musikpagen;  so  nennt  Dassoucy  zwei 
Knaben,  die  ihn  mit  ihren  jugendlichen  Stimmen  in  seinen  Konzerten 
unterstützen  mußten.  Diese  trugen  phantastisches  Gewand,  lange  an- 
schließende Röcke  mit  schmalen  Silberborten.  In  ähnlicher  Tracht  folgte 
dann  der  Herold  des  Zugs,  Dassoucy  selbst,  ein  „Phebus  incognito". 
Doch  ließ  er  immer  50  Schritte  Distanz  zwischen  sich  und  seinen  Be- 
gleitern. Er  that  dies,  nicht  weil  ihn  die  Jahre  drückten  oder  seine  tief- 
sinnigen Gedanken  ihn  aufhielten,  sondern  aus  kluger  Vorsicht.  Denn 
in  jener  Zeit  waren  die  Wege  nicht  sicher,  und  da  ein  räuberischer 
Überfall  sich  voraussichtlich  zuerst  gegen  den  Esel  richtete,  so  hoffte 
Dassoucy  Zeit  zu  finden,  unbemerkt  seine  wohl  gefüllte  Börse  in  ein  Ge- 
büsch am  Weg  zu  werfen  oder  sie  hinter  einem  Stein  zu  verbergen. 

Als  er  nun  in  dieser  Weise  vorsichtig  und  wohlgemut  Burgund 
durchwanderte,  sah  er  eines  Tags  in  der  Ferne  vier  bis  fünf  bewatfnete 
Reiter  auf  den  Feldern  sich  tummeln.  Da  sie  auch  Hunde  bei  sich  hatten, 
hielt  er  sie  für  Jäger.  Plötzlich  aber  sprengten  sie  im  Galopp  auf  ihn 
zu  und  hatten  ihn  erreicht,  bevor  er  sich  seine  Lage  klargemacht  hatte. 
Die  vermeintlichen  Jäger  erschienen  ihm  nun  als  Straßenräuber.  Der 
Führer  fragte  ihn  nach  seinem  Namen  und  Stand,  und  als  Dassoucy 
ihm  von  seiner  Kunst  redete,  ließ  er  sich  den  Koffer  öffnen  und  die 
Bücher  vorzeigen.  Dassoucy  wies  ihm  drei  verschiedene  Bände  vor,  welche 
schön  gebunden  und  mit  Goldschnitt  versehen,  die  Erzeugnisse  seiner 
Muse  enthielten.  Als  sich  der  Fremde  überzeugt  hatte,  daß  er  den  be- 
rühmten Dichter  und  Virtuosen  in  Person  vor  sich  hatte,  sagte  er:    „Ich 


1)  Das  Weitere  über  ihn   s.  Abschnitt  „Gegenströmungen"  dieses  Bands. 

-)  Dassoucy,  Aventiires  burlesques.  Neue  Ausgabe  von  Emile  Colombey. 
Paris  1858,  S.  45  ff.  Die  erste  Ausgabe  dieses  Buchs  erschien  1677.  Es  war 
Dassoucys  vorletztes  Werk. 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  jg 


274 


kann  nicht  gestatten,  daß  Sie  so  vorüberziehen.  Ich  lade  Sie  für  heute 
zu  mir  ein,  und  da  mir  das  Glück  Ihrer  Begegnung  zu  teil  wird, 
möchte  ich  Ihre  Gedichte  kennen  lernen,  und  dann  wollen  wir  zusammen 
trinken".  Darauf  zeigte  er  auf  die  Türme  eines  Schlosses,  das  sich  in 
der  Nähe  erhob,  und  beauftragte  einen  seiner  Leute,  Dassoucy  dahin  zu 
geleiten.  Er  selbst  werde  in  einer  Stunde  ihm  zu  Diensten  sein.  Der 
vermeintliche  Räuberhauptmann  war  ein  Marquis,  einer  der  angesehensten 
und  reichsten  Adeligen  der  ganzen  Provinz.  Auf  dem  Schloß  begann  für 
Dassoucy  ein  flottes  Leben.  Er  wurde  geehrt  und  gefeiert,  wie  es  einem 
großen  Dichter  geziemt.  Er  erzählt  uns  wenigstens,  daß  die  junge  Ge- 
mahlin des  Marquis  ihm  zum  Gruß  die  Wange  geboten  und  die  beiden 
Pagen  geküßt  habe;  daß  er  dann  von  dem  Ehepaar  zur  Tafel  geführt 
worden  sei  und  den  Ehrensitz  eingenommen  habe.  „So  pflegen  die  wahr- 
haft Großen  das  Talent  in  armen  Dichtern  zu  ehren."  Dann  begann 
Dassoucy  mit  seinen  Pagen  zu  singen,  seine  Gedichte  vorzulesen  und  er 
entzückte  die  Schloßbewohner  so  sehr,  daß  sie  ihm  das  Versprechen  ab- 
nötigten, er  wolle  wenigstens  acht  Tage  bei  ihnen  bleiben.  Diese  Woche 
verstrich  ihm,  wie  in  einem  verzauberten  Schloß.  Er  lehrte  die  Dame, 
die  eine  hübsche  Stimme  hatte,  einige  seiner  Lieder  und  lebte  in  Herr- 
lichkeit, als  ob  alle  Tage  Hochzeit  wäre.  Bald  aber  sehnte  er  sich  nach 
seiner  Freiheit  zurück.  Der  Appetit  fehlte  ihm,  er  mußte  trinken,  wenn 
er  gerade  keine  Lust  dazu  hatte,  und  wenn  er  Durst  fühlte,  hatte  er 
nichts;  er  konnte  nur  aus  kleinen  Weingläsern  trinken,  da  er  doch  ge- 
wöhnt war,  den  Wein  schoppenweise  zu  sich  zu  nehmen,  und  dabei  bot 
man  ihm  soviel  Wasser  an,  als  ob  er  Fieber  hätte.  Überhaupt  fand  er 
die  Mahlzeiten  bei  Vornehmen  seiner  Natur  zuwider;  man  sitze  zu  eng, 
meint  er,  dürfe  sich  nicht  rühren,  nicht  singen  und  spaßen,  dürfe  seine 
Gedanken  nicht  offen  sagen,  sondern  müsse  zuhören  und  alles  loben, 
selbst  die  Einfälle  eines  frechen  Parasiten.  Auch  Dassoucy  weiß ,  daß 
die  Schöngeister,  die  zu  der  Tafel  der  hohen  Herren  zugelassen  werden, 
nicht  Zeit  haben,  sich  der  saftigen  Braten  zu  erfreuen,  sondern  ihre 
Phantasie  anstrengen  und  den  Geist  spannen  müssen  wie  eine  Armbrust, 
um  sich  gefällig  zu  erweisen  und  witzige  Bemerkungen  zu  finden.') 

So  freute  er  sich  denn  von  Herzen,  als  er  wieder  nach  alter  Art 
durchs  Land  ziehen  konnte. 

War  schon  ein  wandernder  Virtuos  einer  freundlichen  Aufnahme 
in  den  Herrensitzen  der  Provinz  gewärtig,  so  wurden  reisende  Schau- 
spielertruppen gewöhnlich  mit  noch  größerem  Vergnügen  begrüßt.  Deren 
gab  es  schon  eine  beträchtliche  Anzahl,  denn  die  Vorliebe  für  drama- 
tische Aufführungen  hatte  sich  sehr  schnell  über  Frankreich  verbreitet. 
Kein  Fest  durfte  so  leicht  ohne  ein  oder  mehrere  Schauspiele  vorüber- 
gehen. In  den  größeren  Städten  eiferten  oft  verschiedene  Gesellschaften 
um  die  Gunst  des  Publikums,  und  kleinere  Banden  suchten  ihre  Triumphe 
in  den  Ortschaften,  auf  den  Schlössern  und  Edelsitzen.  Als  die  Prin- 
zessin von  Montpensier   nach  Beendigung  der  Fronde   in  Ungnade    sich 


1)  Dassoucy,  eh.  V,  edition  Colombey,  S.  51. 


275 

nach  Schloß  Saint-Fargeau  zurückzog,  hatte  sie  während  eines  ganzen 
Winters  eine  Schauspielertruppe  in  ihrem  Dienst.  Im  Frühjahr  begab 
sie  sich  nach  Tours,  fand  dort  die  Gesellschaft  wieder  und  beehrte  sie 
auch  sofort  mit  ihrem  Besuch.') 

Berühmt  war  das  Fest,  das  der  Marquis  de  Sourdeac  auf  seinem 
Schloß  in  der  Normandie  gab,  um  den  Abschluß  des  Pyrenäischen  Frie- 
dens und  die  Vermählung  des  jungen  Königs  zu  feiern.  Sourdeac  war 
ein  Original ;  man  erzählte  von  ihm,  er  sei  ein  vorzüglicher  Schlosser, 
und  böse  Zungen  behaupteten,  er  lasse  sich  von  Zeit  zu  Zeit  von  seinen 
Bauern  gleich  einem  Hirsch  durch  die  Wälder  jagen,  um  sich  eine  ge- 
sunde Bewegung  zu  machen.^)  Diesmal  aber  hatte  er  Großes  vor.  Der 
ganze  Adel  der  Umgegend  war  geladen  und  die  Familien  kamen  selbst 
aus  weiter  Entfernung  nach  Neubourg,  dem  stattlichen  Schloß  des  Mar- 
quis. Das  Fest  währte  acht  Tage,  während  welcher  die  Geladenen  im 
Schloß  wohnten.  Bankette,  Bälle.  Jagden,  Spiele,  Konzerte  —  nichts 
fehlte.  Der  Marquis  hatte  sogar  von  Paris  die  Gesellschaft  des  Marais- 
Theaters  berufen,  um  seine  Gäste  durch  die  Darstellung  der  schönsten 
und  neuesten  Werke  zu  erfreuen.  Den  Glanzpunkt  des  Festes  bildete  die 
Aufführung  einer  neuen  Dichtung  Corneilles,  des  „Goldenen  Vließes" 
(„La  toison  d'or-').  Der  Marquis  hatte  das  Stück  bei  dem  Dichter  eigens 
bestellt  und  mit  2000  Livres  honoriert.  Er  hatte  dann  bei  der  Aus- 
stattung des  Zauberstücks  keinen  Aufwand  gescheut  und  alle  scenischen 
Hilfsmittel,  die  man  damals  besaß,  benützen  lassen,  um  den  Eindruck 
zu  erhöhen.  Nach  Beendigung  des  Festes  aber  schenkte  er  die  ganze 
Ausstattung  des  Stücks  den  Schauspielern,  welche  während  des  folgenden 
Winters  damit  in  Paris  Aufsehen  machten. 

Wenn  nun  auch  diese  dramatische  Aufführung  eine  Ausnahme  bil- 
dete, so  ist  doch  gewiß,  daß  die  Teilnahme  am  Theater  in  der  adeligen 
Gesellschaft,  wie  in  den  bürgerlichen  Kreisen  auch  in  der  Provinz  stetig 
wuchs.  Wie  während  des  mehrwöchentlichen  Aufenthalts,  den  Ludwig  XIIL 
und  seine  Gemahlin  in  dem  Kur-  und  Badeort  Forges  nahmen,  das  Schau- 
spiel nicht  fehlen  durfte,  wird  später  noch  erzählt  werden.^)  Der  Dichter 
Scarron  berichtet  Ähnliches  aus  Bourbon,  wohin  man  ihn  geschickt  hatte, 
um  die  Bäder  zu  benützen.  Dort  sorgte  der  Herzog  von  Longueville  für 
eine  würdige  Ausstattung.'*)    Derselbe  Scarron    schildert  in  einem  inter- 

1)  Mlle    de  Montpensier,  Memoires  (Jahr  1655),  II,  S.  275. 

2)  Tallemant,  Historiettes,  VII,  S.  370  (ed.  P.  Paris). 

3)  Siehe  den  IV.  Abschnitt  dieses  Bands:  „Corneilles  Jugendzeit". 

*)  Scarron,  Poesies  diverses.  Darin:  „La  legende  de  Bourbon"  (1641), 
V.  49  ff. 

La,  Monseigneur  de  Longueville 
Petit,  mais  droit  comme  une  quille 
Vaillant  courtols  et  liberal, 
Magnanime,  franc  et  loyal, 
Nous  donna  force  comedies. 


II  lul  coüta  deux  mille  livres 
En  argent,  veteraent  et  vivres, 

18* 


276 


essanten  Eoman  das  Leben  und  Treiben  dieser  fahrenden  Komödianten.^) 
Darin  lesen  wir  von  dem  Besuch,  den  die  Schauspieler  von  einer  Land- 
junkerfamilie erhalten.  „Die  Ankunft  einer  Karosse,  die  mit  Landadel 
gefüllt  war,  unterbrach  sie.  Es  war  ein  Landedelmann,  der  sich  Herr 
de  la  Fresnaye  nannte.  Er  stand  im  Begriff,  seine  einzige  Tochter  zu 
verheiraten,  und  kam  nun,  die  Schauspieler  zu  bitten,  am  Tag  der  Hoch- 
zeit, bei  ihm  eine  Vorstellung  zu  geben.  Die  Tochter,  die  nicht  gerade 
zu  den  Geistvollen  dieser  Welt  gehörte,  drückte  ihnen  den  Wunsch  aus, 
sie  möchten  die  „Silvia"  von  Mairet  aufführen.  Die  Schauspielerinnen 
unterdrückten  mit  Mühe  das  Lachen  und  sagten,  sie  hätten  kein  Exem- 
plar mehr  und  man  müßte  ihnen  eines  auftreiben.-)  Das  Fräulein  ent- 
gegnete, daß  sie  ihnen  ein  Exemplar  geben  könne,  und  fügte  hinzu,  daß 
sie  alle  Schäferdichtungen  besitze,  die  „Bergeries"  von  Racan,  die  „Belle 
pecheuse",  „Le  Contraire  en  amour",  „Ploncidon",  „Le  Mercier"  und 
noch  viele  andere,  deren  Titel  ich  vergessen  habe.  ,Denn',  sagte  sie, 
.sie  passen  besonders  für  Leute,  die,  wie  wir,  auf  dem  Land  wohnen, 
auch  kosten  die  Kostüme  nicht  viel;  man  braucht  keine  kostbaren  G-e- 
wänder  dabei,  so  wie  man  sie  etwa  bei  der  Aufführung  des  „Pompejus", 
des  „Cinna",  des  „Heraclius"  oder  der  „Rodogune"  nötig  hat.  Auch 
sind  die  Verse  in  diesen  Schäferstücken  nicht  so  bombastisch  wie  in 
den  ernsten  Schauspielen,  und  die  ganze  Gattung  der  Schäferpoesie  ent- 
spricht mehr  der  Einfachheit  unserer  ersten  Eltern,  welche  selbst  nach 
dem  Sündenfall  nur  mit  Feigenblättern  bekleidet  waren.'  Die  Eltern  des 
Mädchens  hörten  dieser  Rede  bewundernd  zu,  überzeugt,  daß  die  besten 
Redner  des  Reichs  weder  so  gedankenreich,  noch  in  so  gewählten  Aus- 
drücken reden  könnten.  Die  Schauspieler  aber  verlangten  Zeit  zur  Vor- 
bereitung, und  man  gewährte  ihnen  acht  Tage."^) 

Diese  und  andere  ähnliche  Schilderungen  zeigen  uns,  wie  die  wan- 
dernden Komödianten  die  neuen  dramatischen  Werke  durch  das  Land 
trugen  und  zur  Verbreitung  des  litterarischen  Interesses  beitrugen, 
mochten  sie  auch  manchmal  haarsträubende  Leistungen  bieten.  Viele 
dieser  Truppen  hatten  gewiß  schon  ein  ganz  annehmbares  Spiel,  wie  ja 
auch  Molieres  Gesellschaft  jahrelang  in  der  Provinz  umherzog.  Frau 
von  Sevigne  berichtet  später  einmal  humoristisch  über  eine  Vorstellung 
der  Racine'schen  „Andromaque"  in  Vitre  und  sagt:  „Elle  me  fit  pleurer 
plus  de  six  larmes".^)    In   der   sarkastischen  Skizze   des   Landfräuleins, 


Dont  les  pauvres  comediens, 

Gueux  comme  des  bohemiens, 

Devinrent  gras  comme  des  meines 

Et  glorieux  comme  des  chanoines; 

Dont  j'eus  grand'  consolation, 

Car  j'aime  cette  nation. 
1)  Scarron,  Le  roman  comique.  Siehe  weiter  unten  den  Abschnitt:  „Gegen- 
strömungen". 

^)  Der  dritte  Teil   des   „Roman  comique"    erschien    nach    Scarrons  Tod 
und  war  von  einem  andern  Verfasser.  Die  „Silvia"  galt  damals  für  ganz  veraltet. 
3)  Siehe  Scarron,  Roman  comique,  3me  partie,  eh.  9. 
•*)  Mme.  de  Sevigne,  Brief  vom  12.  August  1671. 


277 


das  seine  litterarischen  Kenntnisse  zeigen  möchte,  offenbart  Scarron 
bereits  den  Hochmut  des  Parisers,  der  schon  damals  auf  die  Provinz 
herabsah;  aber  wir  sehen  doch,  wie  verbreitet  das  Interesse  an  der 
Dichtung  in  den  Kreisen  des  Landadels  war.  Man  hielt  mit  der  Haupt- 
stadt nicht  immer  gleichen  Schritt,  aber  man  folgte.  Was  lag  daran, 
ob  man  einige  Jahre  zurück  war  und  noch  bewunderte,  was  man  in 
Paris  schon  seit  einiger  Zeit  vergessen  hatte  oder  gar  belächelte?  Die 
Hauptsache  war,  daß  man  überhaupt  las,  und  wer  größere  Verbindungen 
hatte,  konnte  sich  leicht  auch  in  der  Provinz  auf  dem  Laufenden  er- 
halten. Wir  werden  noch  hören,  wie  gut  Frau  von  Sevigne  20  Jahre 
später  ihre  Tochter,  die  in  der  fernen  Provence  lebte,  mit  den  wichtig- 
sten der  neuen  Erscheinungen  auf  dem  Büchermarkt  versah. 


II. 
Die  Ideale  der  Zeit. 

Wie  in  dem  Strom  der  Zeit,  den  Wellen  gleich,  die  Geschlechter 
der  Menschen  auftauchen  und  vergehen,  so  wechseln  mit  ihnen  in  steter 
Wandlung  die  Ideale. 

Gewisse  Begriffe,  wie  Tugend,  Ehre,  Liebe,  Freiheit,  wurzeln  aller- 
dings so  tief  in  der  Seele  des  Menschen,  sie  sind  ihm  so  vertraut,  und 
der  Besitz  dieser  Güter  gilt  so  allgemein  als  der  Endzweck  alles 
menschlichen  Strebens,  daß  jeder  Zweifel  darüber  ausgeschlossen  und 
kein  Schwanken  in  ihrer  Auffassung  möglich  erscheint.  Die  Dichter 
aller  Zeiten  und  aller  Völker  haben  das  Glück  der  Liebe  und  den  Segen 
der  Freiheit  gepriesen;  man  sollte  denken,  es  berge  sich  in  diesen  Be- 
griffen ein  Ideal,  das  allen  Völkern  gemeinsam  sei  und  die  Herzen  aller 
Menschen  höher  schlagen  lasse.  Prüft  man  aber  die  Anschauungen  der 
einzelnen  Nationen  genauer,  so  wird  man  die  Wandlungen  erkennen, 
welche  sich  auch  in  ihnen  ununterbrochen  vollziehen.  Mit  dem  Wechsel 
der  Bildung  ändern  sich  die  Begriffe,  selbst  wenn  die  Bezeichnungen 
dieselben  bleiben.  Der  heidnische  Philosoph  und  der  christliche  Märtyrer 
strebten  beide  nach  Tugend  und  moralischer  Vollkommenheit.  Aber  wie 
entgegengesetzt,  wie  geradezu  einander  feindlich  waren  die  Begriffe,  die 
sich  beide  von  der  Tugend  gebildet  hatten.  Dem  Wilden  ist  die  Freiheit 
etwas  anderes  als  dem  '  Bürger  eines  civilisierten  Staats;  und  wie 
sonderbar  gestaltet  sich  oft  der  Begriff  der  Ehre  nicht  allein  bei  den 
verschiedenen,  höher  oder  niedriger  stehenden  Rassen,  sondern  selbst 
innerhalb  eines  und  desselben  Volkes. 

So  ist  die  Frage  nach  den  Idealen,  die  in  den  einzelnen  Ge- 
schichtsepochen und  bei  den  tonangebenden  Nationen  vorherrschen, 
keineswegs  müßig.  Sie  vor  allem  prägen  den  Jahrhunderten  ihren  eigen- 
tümlichen Charakter  auf.  Erst  wenn  wir  die  Ideale  kennen,  für  welche 
eine  Zeit  geschwärmt  hat,  werden  wir  diese  letztere  selbst  verstehen. 
Das  geistige  und  ethische  Leben  eines  Volkes  prägt  sich  in  ihnen  am 
deutlichsten  aus. 

Die  größten  Männer  können  sich  dem  Einfluß  ihrer  Zeit  nicht 
entziehen.  Selbst  die  Dichter,  die  doch  am  freiesten  im  Reich  der  Phan- 
tasie zu  walten  scheinen ;  selbst  die  Philosophen,  welche  sich  in  einer 
abstrakten  Welt  bewegen,  können  sich  dieser  Einwirkung  mit  nichten 
erwehren.  Hervorragende  Geister  reißen  oft  eine  Nation  mit  sich  fort 
auf  den  Bahnen,  die  sie  eingeschlagen  haben,  und  die  Geschichte  kennt 
Männer,    wie    Alexander,    Luther,    Kant,    welche    die    Entwicklung    des 


279 


Menschengeschlechts  in  entschiedener  Weise  beeinflußt  haben,  von  den 
Eeligionsstiftern  gar  nicht  zu  reden.  Aber  selbst  diese  Männer,  welche 
scheinbar  frei  und  nur  von  ihrer  innersten  Natur  geleitet,  neue  Bahnen 
einschlugen,  hatten  die  geistige  Richtung  doch  von  ihrer  Zeit  erhalten. 
Geheime  Strömungen,  dem  Auge  des  gewöhnlichen  Beobachters  verborgen, 
bilden  sich  oft  in  dem  Leben  eines  Volkes  und  wirken  umso  zwingender, 
je  weniger  sie  sichtbar  sind.  Auch  in  dem,  was  einer  Nation  zeitweilig 
als  Ideal  vorschwebt,  sehen  wir  nur  den  Ausdruck  ihres  innersten  Geistes- 
und Gemütslebens. 

Eine  jede  Zeit,  ein  jedes  Volk  bildet  sich  sein  besonderes  Ideal, 
das  nur  ihm  gehört,  an  dem  es  mit  dem  Feuer  einer  ersten  Liebe  hängt, 
und  das  mit  seinem  geistigen  Leben  aufs  innigste  verwachsen  ist.  Was 
einem  Volk  fehlt,  was  es  mit  Schmerz  in  seinem  nationalen  und  sitt- 
lichen Leben  vermißt,  und  darum  mit  dem  Aufgebot  aller  seiner  Kräfte 
zu  erlangen  trachtet,  das  verklärt  sich  ihm  zum  Inbegriff  des  höchsten 
Guts,  das  wird  ihm  zum  Ideal.  Ist  dieses  Gut  aber  nur  halbwegs  er- 
rungen, und  das  oft  dunkle  Streben  einer  Zeit  nur  einigermaßen  be- 
friedigt, so  wird  sich  das  fieberhafte  Verlangen  stillen,  das  Ideal  wird 
verblassen.  Was  man  besitzt,  gilt  ja  selten  so  viel  als  das,  was  man 
wünscht.  Aber  Ruhe  findet  das  Volk  deshalb  nicht,  denn  in  neuen  Ver- 
hältnissen erwachsen  ihm  auch  neue  Aufgaben. 

Die  Ideale  eines  Volkes  lassen  sich  am  deutlichsten  in  den  Haupt- 
werken seiner  Litteratur  erkennen.  Wir  ersehen  aus  ihnen,  was  die 
Menschen  in  einer  bestimmten  Zeit  vorzugsweise  beschäftigte,  und  ziehen 
ebenso  unsere  Schlüsse,  wenn  wir  manche  uns  vertraute  Regungen  dort 
wenig  oder  nicht  betont  finden.  Nur  solche  Werke,  welche  dem  Ge- 
schmack und  der  Sinnesrichtung  ihres  Volkes  entsprechen,  gelangen  zur 
dauernden  Anerkennung.  Sie  können  sich  nur  erhalten,  wenn  sie  im 
Herzen  der  Menschen  eine  Saite  berühren,  welche  stark  nachklingt, 
wenn  sie  das  Ideal  der  Zeit  im  Zauber  poetischer  Darstellung  verklären. 

Daß  wir  es  bei  der  Betrachtung  der  Ideale,  welche  die  erste  Hälfte 
des  17.  Jahrhunderts  beschäftigten,  fast  nur  mit  der  Gedankenwelt  des 
gebildeten  Adels,  einer  sich  abschließenden,  aber  einflußreichen  Gesell- 
schaft zu  thun  haben,  ist  schon  früher  bemerkt  worden. 

Da  fällt  uns  nun  zunächst  auf,  wie  sehr  der  Begriff  des  Vater- 
lands in  diesem  Kreis  an  begeisternder  Kraft  eingebüßt  hatte. 

Allerdings  hatte  der  französische  Adel  seit  den  Tagen  Franz  I. 
wechselnde  Schicksale  erlebt.  In  den  Kriegen  der  Liga  stand  er  unter 
den  Waffen,  um  bald  für,  bald  gegen  seinen  König  zu  ~  kämpfen.  In 
jenen  schweren  Jahren  verlor  sich  das  Bewußtsein  der  Zusammengehörig- 
keit, des  gemeinsamen  Vaterlands  mehr  und  mehr.  Eine  ähnliche  Er- 
scheinung hatte  sich  in  Italien  schon  früher  gezeigt.  Dort  haderten  seit 
dem  15.  Jahrhundert  kleine  Fürsten,  Städte  und  Parteien  miteinander 
in  ewigem  Krieg  und  zerstörten  auf  lange  Zeit  hinaus  jedes  Gefühl 
nationaler  Einheit.  Nicht  ganz  so  schlimm,  aber  bedauerlich  genug, 
hatten  sich  in  der  letzten  Zeit  der  Religionskriege  die  Verhältnisse  in 
Frankreich  gestaltet.  An  die  Stelle  gesunden  Patriotismus  war  fanatischer 


280 


Eeligionseifer  getreten;  die  Begeisterung  für  das  große  gemeinsame 
Vaterland  schwand  bei  vielen,  die  nur  nocli  die  Liebe  zur  engeren  Heimat 
kannten ;  und  wo  der  Sinn  für  die  nationale  Ehre  sich  abschwächte, 
wurde  die  Standesehre  umsomehr  betont.  D'Aubigne  machte  hierin  eine 
ehrenvolle  Ausnahme.  Seine  „Tragiques"  klagten  in  ergreifenden  Worten 
über  das  Unglück  Frankreichs,  aber  die  anderen  Dichter,  zumal  jene, 
die  in  dem  ersten  Drittel  des  17.  Jahrhunderts  auftraten,  haben  die 
patriotische  Saite  nie  erklingen  lassen,  wenn  sie  auch  schreiend  ihres 
Königs  Siege  feiei'ten. 

Noch  in  späteren  Jahren  war  es  nicht  viel  besser,  wie  die  Fronde 
bewies.  Mademoiselle  de  Montpensier  erzählt,  wie  sie  sich  über  einen 
politischen  Fehler  der  Regentin  freute  und  auf  die  aus  ihm  ent- 
stehende Bedrängnis  zählte.^)  Ein  andermal  gesteht  sie  ruhig  ein,  daß 
die  Nachricht  von  dem  Sieg  Condes  bei  Lens  ihr  Kummer  bereitete,  da 
sie  weniger  für  die  Franzosen  als  für  die  Feinde  gewesen  sei.^)  Die 
Idee,  daß  der  Mann  nicht  als  Kriegsknecht  die  Welt  durchstreifen  und 
aus  Freude  am  Gemetzel  sich  in  den  Kampf  stürzen  soll,  sondern  daß 
er  nur  zum  Schutz  seines  Vaterlands  das  Schwert  ziehen  darf,  war 
natürlich  noch  völlig  unbekannt.^) 

Woher  sollte  auch  für  die  große  Mehrheit  der  Franzosen  das  Ge- 
fühl der  Zusammengehörigkeit,  das  Bewußtsein  der  alle  einigenden 
Nationalität  kommen?  Der  größte  Theil  des  Volkes  war  jeder  Teilnahme 
am  staatlichen  Leben  beraubt,  die  unteren  Klassen  arm  und  unwissend, 
zumeist  in  tiefem  Elend.  Die  einzelnen  Provinzen  besaßen  noch  eine  ge- 
wisse Selbständigkeit;  sie  hatten  verschiedene  Verfassungen,  besonderes 
Eeclit,  besonderes  Geld.  Sie  waren  durch  Zollschranken  und  Hemmungen 
mancherlei  Art  voneinander  getrennt,  und  manche  Stämme,  wie  die 
Bretonen  und  Proven9alen,  sprachen  nicht  einmal  französisch.  Mehr 
aber  als  durch  alle  diese  Verschiedenheiten  wurde  das  Volk  durch  den 
Gegensatz  der  Religion  in  feindliche  Parteien  geschieden  und  einander 
entfremdet. 


^)  MUe.  de  Montpensier,  I,  S.  195  (Jahr  1649):  „Au  moment  que  M.  de 
Comminges  me  park,  j'etois  toute  troublee  de  joie  de  voir  qu'ils  alloieat  faire 
une  faute  et  d'etre  spectatrice  des  miseres  qu'elle  leur  causeroit.  Cela  me  ven- 
geoit  uu  peu  des  persecutions  que  j'avois  souffertes". 

-)  Mlle.  de  Montpensier,  I,  S.  175  (Jahr  1648):  „Je  le  lus  avec  beaucoup 
d'etonnement  et  de  douleur.  Comme  je  ne  devois  pas  meler  mon  aversion  ä  un 
si  grand  avantage  pour  l'Etat,  je  ne  savois  comraent  demeler  Tun  de  l'autre; 
dans  cette  rencoutre  je  me  trouvois  moins  bonne  Franyoise  qu'ennemie;  je  me 
sauvai  et  je  couvris  mes  pleurs  par  des  plaintes  que  je  fis  de  quelques  officiers 
de  ma  connoissance  qui  avoient  ete  tues.  . . .  Je  ue  sais  comraent  je  pouvois  etre 
sensible  aux  victoires  de  M.  le  Prince:  il  en  gagnoit  si  souvent  que  je  devois 
m'y  accoutumer;  mais  l'on  ne  s'accoutume  pas  ä  ce  qui  deplait. 

3)  So  heißt  es  in  Corneilles  „Don  Sanche"  1,  1,  79  flF.  von  Carlos,  er 
werde  nach  Besiegung  der  Mauren  Kastilien  verlassen  und  in  einem  andern 
Land  neue  Kämpfe  aufsuchen.  An  anderer  Stelle  wird  gefragt: 

..S'en  ira-t-il  soudain  aux  climats  etrangers 
Chercher  tout  de  nouveau  la  gloire  et  ies  dangers?" 


281 

So  war  denn  das  Königtum  trotz  allem  das  einzige  Band,  welches 
die  widerstrebenden  Teile  der  Monarchie  zu  einem  Ganzen  zusammen- 
hielt, und  darin  liegt  der  Grund,  warum  die  königliche  Gewalt  aus  dem 
gefährlichen  Kampf  gestärkt  hervorging.  Eatgegen  dem  republikanischen 
Geist  des  16.  Jahrhunderts  entwickelte  sich  der  monarchische  Kultus  in 
überraschender  Schnelligkeit,  sobald  Heinrich  IV.  die  allgemeinen  Ver- 
hältnisse notdürftig  geordnet  hatte.  Und  wie  einmal  diese  Bahn  einge- 
schlagen war,  drängte  alles  in  derselben  Richtung  weiter. 

Auch  in  der  Dichtung  spiegelten  sich  diese  Stimmungen.  Von 
der  Macht  und  Majestät  der  Fürsten  ist  dort  viel,  vom  Vaterland  und 
den  Pflichten  dagegen  sehr  wenig  die  Rede.  Die  ganze  erste  Hälfte 
des  Jahrhunderts  weiß  es  nicht  besser.  Nur  Corneille,  der  kräftigste  und 
politisch  reifste  Dichter  der  klassischen  Epoche,  kennt  auch  die  Liebe 
zum  Vaterland  und  verherrlicht  die  römischen  Helden,  die  sich  für  die 
Größe  ihres  Volkes  aufgeopfert  haben.  Die  Worte  des  glühenden  Patriotis- 
mus, welche  er  seinem  „Horace"  in  den  Mund  legt,  machten  sicherlich 
den  tiefsten  Eindruck  auf  die  Zuhörer.^)  Denn  wir  behaupten  keineswegs, 
daß  das  französische  Volk  damals  nichts  mehr  von  Frankreich  gewußt 
hätte,  sowie  allerdings  nach  dem  dreißigjährigen  Krieg  die  einzelnen 
deutschen  Stämme  fast  vergaßen,  daß  sie  zu  einem  großen  Reich  ge- 
hörten. Heinrich  IV.,  Richelieu^  Mazarin  haben  gewiß  in  bewußter  Weise 
an  der  Ausdehnung  und  nationalen  Kräftigung  Frankreichs  gearbeitet. 
Aber  einmal  besteht  doch  ein  großer  Unterschied  zwischen  Eroberungs- 
lust und  Vaterlandsliebe,  und  ferner  war,  was  jenen  als  Ziel  vorschwebte, 
darum  noch  nicht  das  Ideal  der  Nation,  besonders  nicht  der  frondierenden, 
nach  Selbständigkeit  strebenden  Aristokratie. 

Diese  hatte  sich  eine  andere,  besondere  Welt  geschaffen.  Sie 
schwärmte  für  ein  ritterliches  Heldentum,  dem  die  drei  Sterne:  Liebe, 
Ehre  und  Ruhm,  vorleuchten  sollten.  Dieses  Ideal  der  vornehmen  Gesell- 
schaft war  aus  mittelalterlichen  romantischen  Reuiiniscenzen  erwachsen 
und  mit  modernen  Anschauungen  gar  sonderbar  verquickt.  Vorbild  und 
Anregung  hatte  Spanien  gegeben,  wo  sich  die  Achtung  des  Germanen 
vor  der  Frau  und  der  ritterliche  Sinn  des  Mauren  in  eigentümlicher 
Weise  verbunden  hatten.  Von  dort  war  das  Evangelium  des  neuen  Ritter- 
tums nach  Italien  gebracht  worden.  Hier  verlor  es,  was  es  in  Spanien 
noch  Herbes  gehabt  hatte,  und  es  entwickelte  sich  an  den  glänzenden 
Höfen  der  apenninischen  Halbinsel  die  feine,  vorsichtige,  einem  Kunst- 
werk gleich  behandelte  Sitte  und  Lebensart.  Diese  gab  man  auch  den 
Helden  der  Dichtung.  Und  was  unter  der  Tyrannei  der  kleinen  Fürsten 
sich   in   der  Wirklichkeit    nicht    finden    konnte,    Hoheit    und   Adel    des 


1)  Vergl.  z.  B.  Corneille,  Horace  II,  1,  52: 

Vouz  me  pleureriez,  mourant  pour  mou  paysi 
Pour  un  coeur  genereux  ce  trepas  a  des  charmes. 
oder  ibid.,  II,  3,  19: 

Mourir  pour  le  pays  est  un  si  digne  sort, 
Qu'on  brigueroit  en  foule  une  si  belle  mort. 


282 


Geistes,  das  übertrug  man  umso  williger  auf  die  Kinder  der  Phantasie, 
damit  stattete  man  umso  verschwenderischer  die  Helden  und  Frauen- 
gestalten der  Dichtung  aus.  So  schuf  Tasso  sein  „Befreites  Jerusalem". 
Er  führte  seine  Leser  in  eine  ideale  Welt,  denn  seine  Christen  sind  so 
wenig  wie  seine  Mohammedaner  der  Wirklichkeit  entnommen,  und  wenn 
er  seine  Heroinen  auch  mit  allem  Duft  der  Poesie  schmückt,  so  sehen 
wir  in  ihnen  doch  keine  wirklichen  Frauenbilder,  keine  Gestalten  aus 
dem  warmen,  vollen  Leben.  Und  doch  hat  man  mit  Recht  gesagt,  daß 
Tassos  Personen  trotz  alledem,  trotz  ihrer  inneren  Unmöglichkeit  voll- 
kommen wahr  sind,  weil  sie  besser  als  irgend  ein  anderes  Werk  dem 
Ideal  ihrer  Zeit  entsprachen  und  die  damals  herrschenden  Vorstellungen 
von  Rittertum  und  Frauenwürde  in  sich  zum  vollendeten  Ausdruck 
brachten. 

Aus  Italien  war  nun  diese  Anschauung  von  Heldentum  nach 
Frankreich  gedrungen,  war  daselbst  bereitwillig  aufgenommen  worden, 
und  hatte  sich  mit  den  alten  Traditionen  von  den  Pflichten  eines  voll- 
kommenen Ritters  verschmolzen.  So  hatte  auch  der  französische  Adel 
sein  Ideal  gefunden.  Freilich  paßte  es  nicht  recht  in  die  modernen  Ver- 
hältnisse, allein  nur  umso  heiliger  wurde  es  gehalten.  Wie  es  zu  gehen 
pflegt,  je  mehr  die  aristokratische  Gesellschaft  sich  in  ihrem  Bestand 
bedroht  fühlte,  umso  eifriger  versenkte  sie  sich  in  den  schwärmerischen, 
fast  religiösen  Kultus  der  gefährdeten  ritterlichen  Ideen. 

Die  Wirklichkeit  entspricht  freilich  selten  dem  Ideal.  Das  letztere 
verlangte  von  einem  echten  Ritter  unbezähmbare  Tapferkeit,  makellose 
Reinheit,  edlen  Sinn,  hingebende  Liebe.  Im  rauhen  Leben  fanden  sich 
diese  Eigenschaften  nicht  so  leicht  zusammen.  Aber  man  strebte  doch 
nach  ihnen,  und  in  den  Träumen  von  einer  vollkommenen  Welt,  in  den 
heroischen  Dichtungen,    herrschte  dieses  ideale  Rittertum  unumschränkt. 

Schon  in  der  .,Asträa"  wird  gelehrt,  daß  nur  der  Adelige  wahr- 
haft lieben  kann,  und  da  es  ferner  heißt,  daß  nur  der  wahrhaft  Liebende 
zu  jeder  großen  That  fähig  sei,  so  ist  es  klar,  daß  man  nur  dem  Edel- 
geborenen  den  Preis  des  Lebens  geben  konnte.^)  Diese  Idee  erhielt  sich 
auch  später  in  Kraft;  die  Dichtungen  huldigten  derselben  Anschauung, 
und  wählten  ihre  Helden  nur  aus  der  vornehmen  Welt.  Selbst  Corneille 
stand  unter  der  Herrschaft  dieser  Tradition.  So  läßt  er  den  Heraclius 
in  dem  Stück  gleichen  Namens  betonen,  daß  der  edle  Sinn  ein  Erbteil 
edler  Geburt  sei;^)  so  sagt  Kleopatra  in  „Pompee",  daß  die  Fürsten 
stets  den  Pfad  des  Ruhmes  schreiten,  wenn  sie  sich  selbst  vertrauen, 
und  daß  sie  nur  fehlen,  wenn  sie  sich  von  anderen  Ratgebern  beein- 
flussen Jassen.^)  Xur  der  Adel  kann  sich  eines  „hohen  Sinns"  und  einer 


1)  Siehe  I.  Teil,  5.  Abschn.  S.  87  ff.  dieses  Werks.    Ebenso  läßt    Du  Eyer 
in  seinem  Lustspiel  „Les  vendanges  de  Surenes''  (1635)  sagen: 
„ —     —     —     —     —     Amour  m'a  fait  connaitre 
Qu'un  veritable  amant  est  tout  ce  qu'il  veut  etre." 

-)  Corneille,  Heraclius  V,  2,  v.  49 :  La  generosite  suit  la  belle  naissance. 

3)  Corneille,  Pompee  II,  1,  14: 


283 


„schönen  Seele"  rühmen.  Bei  diesen  Worten  darf  man  freilich  nicht  an 
die  „schöne  Seele"  in  Goethes  „Wilhelm  Meister"  denken;  die  feine 
Gesellschaft  verstand  darunter  den  ritterlich-romantischen  Sinn,  wie  er 
in  den  Komanen  und  den  Schauspielen  der  Zeit  verherrlicht  wurde. 
Noch  Frau  von  Sevigne  freute  sich  der  schönen  Seelen,  die  sie  in  La 
Calprenedes  Eoman  „Kleopatra"  fand,  wenn  sie  es  auch  nicht  Wort 
haben  wollte. \)  Mit  welcher  Verachtung  spricht  man  dagegen  überall 
vom  gemeinen  Volk.  Der  greise  Horaz  will  bei  Corneille  das  „dumme 
Volk"  nicht  als  Eichter  über  den  Ruhm  anerkennen.-)  Im  „Ödipus"  des- 
selben Dichters  verschmäht  Dirce,  die  das  nächste  Anrecht  auf  den 
Thron  von  Theben  hat  und  beim  Volk  beliebt  ist,  mit  dessen  Hilfe  zu 
siegen.^)  Carlos,  der  vermeintliche  Sohn  des  armen  Landmanns  in  ,.Don 
Sanche",  rühmt  sich,  daß  er  das  gemeine  Blut  seiner  Eltern  im  Krieg 
völlig  verloren  habe;*) 

Die  Regeln  des  Rittertums  verlangten,  daß  jeder,  der  adeligen 
Sinnes  sein  wollte,  sich  eine  Dame  erküren,  ihr  huldigen,  sie  vertei- 
digen sollte,  und  daß  er  sich  bemühte,  sie  durch  aufopfernde  Hingabe 
zu  gewinnen.  Unter  den  zehn  Geboten,  welche  sich  im  Asträatempel 
finden,  besagt  das  siebente,  daß  der  Liebende  seine  Wünsche  nicht  ge- 
stehen dürfe,  selbst  wenn  ihn  die  Sehnsucht  an  den  Rand  des  Grabes 
brächte.")     Die   Dame   selbst   schuldet   dem  Mann,    der   ihr    sein    Leben 


Les  princes  ont  cela  de  leur  haute  naissance: 

Tout  est  illustre  en  eux  quand  ils  daignent  se  croire. 

Et  si  le  peuple  y  voit  quelque  döreglements, 

C'est  quand  l'avis  d'autrui  corrompt  leurs  sentiments. 

^j  Mme.  de  Sevigne,  Lettre  ä  Mme.  de  Grignau,  15  juillet  1671.  „Cleo- 
patre  va  son  train,  sans  empressement  toutefois,  c'est  aux  heures  perdues.  C'est 
ordinairement  sur  cette  lecture  que  je  m'eudors:  le  caractere  m'en  plait  beau- 
coup  plus  que  le  style.  Pour  les  sentiments,  j'avoue  qu'ils  me  plaisent  aussi, 
et  qu'ils  sont  d'une  perfection  qui  remplit  mon  idee  sur  les  belies  ämes.  Vous 
savez  aussi  que  je  ne  hais  pas  les  grands  coups  d'epee,  tellement  que  voilä  qui 
va  bien,  pourvu  qu'on  m'en  garde  le  seci-et." 
2)  Corneille,  Horace  V,  3,  117  ff. 

Horace,  ne  crois  pas  que  le  peupl«  stupide 
Seit  le  maitre  absolu  d'un  renom  bien  solide. 
Sa  voix  tumultueuse  assez  souvent  fait  bruit, 
Mais  un  moment  l'eleve,  un  moment  le  detruit. 
Et  ce  qu'il  contribue  ä  notre  renommee 
Toujours  en  moins  de  rien  se  dissipe  en  fumee. 
C'est  aux  reis,  c'est  aux  grands,  c'est  aux  esprits  bien  faits 
A  voir  la  vertu  pleine  en  ses  moindres  effets. 
2)  Corneille,  Ödipe  V,  1,  45.  I.  König  Ödipus  sagt  dort  von  Dirce: 
Pour  Dirce.  son  orgueil  dedaiguera  sans  deute 
L'appui  tumultueux  que  ton  zele  redoute. 
*)  Corneille,  Don  Sanche  II,  3,  25: 

—     —     —    la  guerre  a  consume 
Tout  cet  indigne  sang  dont  tu  m'avais  forme. 
•'')  S.  Astree,    t.  II,  eh.  5.    Das    siebente    Gebot   lautet:    „Qu'il    soupire, 
qu'il  languisse  entre  la  vie  et  la  mort,  et  toutefois  qu'il  ne  dise  point  ce  qu'il 


284 

widmet,  keinen  Dank.  Sie  darf  es  sogar  nicht  einmal  gestehen,  wenn 
sie  seine  Gefühle  erwidert;  sie  muß  im  Gegentheil  spröde  thun  und 
ihn  höchstens  von  Zeit  zu  Zeit  mit  einem  freundlichen  Blick  belohnen. 
Hervorragende  Damen  gehen  in  ihrem  Heroismus  noch  weiter.  So  lesen 
wir  in  „Asträa"  von  Diana,  Asträens  Freundin,  die  von  dem  edlen 
Silvandre  geliebt  wird.  Sie  liebt  ihn  wieder;  aber  gerade  darum  ent- 
schließt sie  sich,  seine  Huldigungen  nur  so  lang  zu  gestatten,  als  sie 
ihre  Gefühle  verbergen  kann.  Sollte  sie  ihre  Neigung  nicht  mehr  be- 
meistern  können,  dann  —  dann  wird  sie,  denken  wir,  den  Geliebten 
endlich  beglücken?  Im  Gegenteil.  Dann  wird  sie  ihn  so  hart  behandeln, 
daß  er  sicher  an  der  Erhörung  seiner  Wünsche  verzweifeln  und  die 
Liebe  aus  seinem  Herzen  bannen  wird.^)  Der  echte  Liebhaber  muß  sein 
Glück  in  der  Liebesqual  finden,  und  wenn  er  bei  seiner  Schönen  in  Un- 
gnade föllt,  muß  er  bereit  sein,  sich  das  Leben  zu  nehmen.-) 


veut".  Man  vergleiche  damit  die  Stelle  bei  Saint-Amant:  „La  metamorphose  de 
Lyrian  et  de  Sylvia",  v.  41  (Bd.  I  der  Ausgabe  von  Livet  in  der  „Bibliotheque 
Elzevirienne",  1854). 

0  Dieux!  combien  de  temps  fut-il  ä  se  resoudre, 

Bien  qu'il  vit  que  son  coeur  s'alloit  reduire  en  poudre, 

A  decouvrir  sa  peiue  aux  yeux  qu'il  adoroit. 

Tant  la  discretion  en  ses  moeurs  operoit! 

Et  quoi  qu'il  püt  souffrir,  je  erois  que  le  silenee 

Auroit  de  son  ardeur  eteint  la  violence 

Par  le  coup  desire  d'une  subite  mort, 

Avant  qu'ä  son  respect  il  eüt  fait  tel  effort. 

1)  Astree,  t.  II,  eh.  6.  Man  vergleiche  damit  die  Charakteristik  der  Mar- 
quise  de  Sable  in  den  Memoiren  der  Mme.  de  Motteville  (I,  S.  13).  Es  heißt 
dort  von  dem  Herzog  von  Montmorency:  „Son  coeur  avoit  ete  occupe  d'une 
forte  inclinaison  pour  la  marquise  de  Sable  qui  etoit  une  de  Celles  dont  la 
beaute  faisoit  le  plus  de  bruit  quand  la  reine  vint  en  France ;  mais  si  eile  etoit 
aimable,  eile  desiroit  encore  plus  de  le  paraitre;  l'amour  que  cette  darae  avoit 
pour  eile  meme  la  rendit  un  peu  trop  sensible  ä  celui  que  les  hommes  lui  te- 
moignoient  ....  On  trouvoit  une  si  grande  delicatesse  dans  les  comedies  nou- 
velles  et  tous  les  autres  ouvrages  en  vers  et  en  prose  qui  venoient  de  Madrid, 
qu'elle  avoit  con9u  une  haute  Idee  de  la  galanterie  que  les  Espagnols  avoient 
apprise  des  Mores.  Elle  etoit  persuadee  que  les  hommes  pouvoient  sans  crime 
avoir  des  sentiments  tendres  pour  les  femmes,  que  le  desir  de  leur  plaire  les 
portoit  aux  plus  grandes  et  aux  plus  belies  actions,  leur  donnoit  de  l'esprit  et 
leur  inspiroit  de  la  liberalite  et  toutes  sortes  de  vertus;  mais  que  d'un  autre 
cöte  les  femmes  qui  etoient  l'ornement  du  monde  et  etoient  faites  pour  etre  ser- 
vies  et  adorees  des  hommes,  ne  devoient  souffrir  que  leurs  respects." 

2)  Corneille,  Pertharite  II,  l,  v.  92  ff.: 

L'amant  est  trop  paye,  quand  son  service  oblige; 
Et  quiconque  en  aimant  aspire  k  d'autres  prix 
N'a  qu'un  amour  servile  et  digne  de  mepris. 
Le  veritable  amour  Jamals  n'est  mercenaire, 
II  n'est  Jamals  souille  de  l'espoir  du  salaire. 

In  Du  Eyers  „Scevole"  beklagt  Junia  den  vermeintlichen  Tod  Scävolas. 
Sie  hat  ihn  geliebt,  aber  sich  wol  gehütet,  ihm  je  ihre  Neigung  zu  verraten. 
Sie  sagt  II,  1,  16  ff.: 

Si  j'ai  par  mes  froideurs  ton  amour  combattu, 


285 


Es  versteht  sich  ferner,  daß  der  echte  Ritter  niemals  unter  seinem 
Stand  liebt.  In  Corneilles  „Medea"  heißt  es  rühmend  von  Jason,  daß 
seine  hohe  Geburt  ihn  lehre,  nur  um  Fürstinnen  zu  werben,  und  daß  er 
sich  verachten  müsse,  wenn  er  seine  Liebe  anderen  als  Königstöchtern 
geschenkt  hätte/) 

Dafür  sollen  anderseits  alle  .Vergehen,  ja  selbst  Verbrechen,  die 
aus  Liebe  begangen  werden,  mit  Nachsicht  beurteilt  werden.  Sie  ent- 
ehren nicht.  In  Corneilles  „Clitandre"  (1632)  lockt  Dorise,  eine  Hof- 
dame, ihre  Nebenbuhlerin  in  einen  öden  Wald  und  versucht  sie  dort  zu 
ermorden.  Am  Schluß  des  Stücks  wird  sie  wieder  in  Gnaden  aufgenommen 
und  mit  einem  braven  Mann  verheiratet.  Du  Ryer  schildert  in  seinem 
„Alcionee"  (1639)  die  Empörung  eben  dieses  Alcionee  gegen  seinen 
König,  den  Beherrscher  von  Lydien,  der  ihm  die  Hand  seiner  Tochter 
Lydia  versagt  hat.  Der  König  wird  besiegt  und  muß  nachgeben.  Aber 
Lydia  ist  zu  stolz.  Sie  liebt  zwar  den  Helden,  weigert  sich  indessen. 
ihm  ihre  Hand  zu  reichen,    und  dieser  ersticht  sich  aus  Verzweiflung.-) 

Noch  nachdrücklicher  vertritt  Scudery  die  Lehre,  daß  ein  Ver- 
brechen, zu  dem  die  Liebe  getrieben  hat,  verziehen  werden  muß.  In 
seinem  Stück  „L'amour  tyrannique"  überzieht  Tiridate,  König  von  Pontus, 
aus  Liebe  zu  seiner  Schwägerin,  der  schönen  Polyxene,  seinen  eigenen 
Schwiegervater  und  seinen  Schwager  mit  Krieg,  besiegt  sie  und  stürzt 
sie  ins  Unglück.  Er  erscheint  als  ein  rücksichtsloser  Tyrann.  Aber  am 
Schluß  geht  er  in  sich,  bekehrt  sich  und  beschließt,  künftighin  statt 
der  tyrannischen  Liebe  die  vernünftige  Liebe,  d.  h.  die  Liebe  zu  seiner 
Frau,  vorwalten  zu  lassen.  Und  damit  ist  alles  wieder  gut. 

In  den  Lustspielen  herrschte  größere  Freiheit.  Dort  durfte,  wie  in 
der  „Suivante"  des  Corneille,  eine  hochgestellte  Dame  sogar  einen  Be- 
werber erhören,  der  ihr  im  Rang  nicht  ganz  gleich  stand;  sie  durfte 
betonen,  daß  ihr  Geliebter  durch  seine  trefflichen  Eigenschaften  hervor- 
leuchtet, und  daß  Vermögensrücksichten  nur  niedere  Seelen  bestimmen 
können.  Ein  ähnliches  Verhältnis  findet  sich  in  dem  Lustspiel  „La  veuve" 
von  Corneille.  Aber  in  beiden  Fällen  sind  die  erkorenen  Herren  doch 
von  Adel.  Corneille  versuchte  in  seinen  Lustspielen  den  Geist  der  feinen 


Si  jamais  cet  amour  qu'emporte  ta  belle  äme, 
Ne  tira  de  ma  beuche  un  aveu  de  ma  flamme, 
Je  crois  te  satisfaire  apres  tant  de  douleurs 
Lorsqu'entre  Eome  et  toi  je  partage  mes  pleurs. 
3)  Corneille,  Medee,  I,  1,  2  ff. 

Jason  ne  fit  Jamals  de  communes  maitresses : 
II  est  ne  seulement  pour  charmer  des  princesses, 
Et  hairoit  l'amour,  s'il  avoit  sous  sa  loi 
Range  de  moindres  coeurs  que  des  Alles  de  roi. 
^)  Alcionee  entschuldigt  seine  Empörung,   indem   er    der  Prinzessin  zu- 
ruft (III,  3): 

„Mais  helas!  s'il  est  vrais  que  tout  amour  extreme 
Des  crimes  qu'il  commet  est  l'excuse  lui-menie, 
Combien  doit  ma  princesse  excuser  mes  _  forfaits, 
S'ils  partent  d'un  amour  qu'on  n'egala  jamais!" 


286 

Gesellschaft  seiner  Zeit  zur  Darstellung  zu  bringen,  und  so  finden  wir 
in  ihnen  ebenfalls  den  romantisch -ritterlichen  Sinn  vorherrschend.  Die 
geliebte  Dame  darf  auch  bei  ihm  nicht  so  schnell  ihre  Gefühle  gestehen, 
sie  muß  sich  kalt  zeigen,  den  Liebenden  durch  erheuchelten  Zorn  auf 
die  Probe  stellen  und  ihm  in  jeder  Weise  den  Sieg  erschweren ,  um 
dessen  Wert  zu  erhöhen. 

In  der  Wirklichkeit  gestalteten  sich  die  Verhältnisse  freilich  zu- 
meist ganz  anders.  Der  Geist  ritterlicher  Galanterie  herrschte  allerdings 
in  den  Beziehungen  der  beiden  Geschlechter  zu  einander,  und  die  Chronik 
der  heiteren,  von  Festen  und  Vergnügungen  belebten  Zeit  der  Regent- 
schaft hat  viel  von  galanten  Abenteuern  und  ernsten  Werbungen,  von 
platonischen  Freundschaftsbündnissen  und  sehr  reellen  Liebesverhältnissen 
zu  berichten.  Aber  immerhin  belehren  uns  die  Schauspiele  und  Romane, 
wie  man  zu  sein  wünschte;  die  Memoiren  und  Lustspiele,  wie  man  war. 
Der  Unterschied  ist  oft  groß.  Wenn  Frau  von  Sevigne  noch  in  späterer 
Zeit  für  das  ritterliche  Ideal  ihrer  Jugend  schwärmte,  so  konnte  sie 
es  weder  in  der  Erinnerung  an  ihren  Gemahl,  noch  in  dem  Treiben  ihres 
Sohns  verwirklicht  finden. 

Höher  noch  als  die  Pflicht  der  Liebe  stand  dem  Edlen  das  Gebot 
der  Ehre  und  des  Ruhms. 

Auch  hier  muß  man  bemerken,  daß  der  Begriflf  der  Ehre  von  der 
vornehmen  Welt  jener  Zeit  anders  aufgefaßt  wurde,  und  sich  wesent- 
lich von  der  Idee  unterschied,  welche  man  sich  etwa  heute  davon  macht. 
Wie  das  Ideal  des  17.  Jahrhunderts  die  Liebe  in  besonderer  Weise  ver- 
stand, so  hatte  es  auch  für  die  Ehre  nicht  minder  strenge  und  spitz- 
findig ausgesonnene  Gesetze. 

Zu  ihrem  Verständnis  dient  ein  Blick  auf  Corneilles  „Cid",  der 
die  Ideale  des  Jahrhunderts  am  deutlichsten  zum  Ausdruck  gebracht  hat. 
Chimene  hat  ihren  Vater  durch  das  Schwert  Rodrigos  verloren.  Dieser 
durfte  den  Zweikampf  nicht  vermeiden,  wollte  er  nicht  von  Chimene  ver- 
achtet werden.    Er  sagt  ihr: 

Die  Du  mich  liebtest,  da  ich  edel  war, 

Du  könntest  mich,  war'  ich  entehrt,  nur  hassen. 

Und  Chimene  bestätigt  dies: 

Wahr  ist's,  Rodrigo,  bin  ich  Dir  auch  Feindin  — 
Daß  Du  die  Schande  flohst,  kann  ich  nicht  tadeln.^) 

So  weit  versteht  man  auch  heute  noch  vollkommen  das  Benehmen 
der  beiden  Verlobten.  Chimene  aber  geht  weiter.  Ihre  Ehre  erheischt, 
daß  sie  sich  räche,  daß  sie  den  Geliebten  mit  Todfeindschaft  verfolge. 
Hat  sie  ihr  Ziel  erreicht,  ist  Rodrigo  gefallen,  dann  mag  sie  selbst  den 
Tod  als  einen  willkommenen  Freund  suchen. 


1)  Corneille,  Le  Cid,  III,  4,  v.  42 : 

Qui  m'aima  genereux,  me  hairoit  infame . . . 

ibid.  III,  4,  V.  57: 

Ah,  ßodrigue,  il  est  vrai,  quoique  ton  ennemie. 
Je  ne  te  puis  puis  blämer  d'avoir  fui  l'infamie. 


287 


„Ich  muß  mich  rächen,  meine  Ehre  heischt  es! 

Die  Ehre  rein  zu  halten,  und  mein  Leid 
Zu  enden,  will  ich  ihn  verfolgen,  töten. 
Und  selbst  dann  sterben,  i) 

Das  Gesetz  der  Blutrache  tritt  hier  im  Gewand  höfischer  Sitte  zu 
Tage ;  es  ist  die  alte  barbarische  Forderung  der  Wiedervergeltung,  welche 
hier  als  Ehrenpflicht  erscheint.  Wie  nun  Rodrigo  sich  dem  Rachedurst 
Chimenes  gegenüber  verhält,  wie  spitzfindig  beide  in  der  Ausübung  ihrer 
vermeintlichen  Pflichten  sind,  werden  wir  an  anderer  Stelle  sehen. 

Noch  ängstlicher  ausgeklügelt  zeigen  sich  die  Gebote  des  Ehr- 
gefühls in  Corneilles  ,.Don  Sanche".  Carlos,  ein  ausgezeichneter  Ritter, 
dessen  Herkunft  aber  in  Dunkel  gehüllt  ist,  liebt  die  Königin  Isabella 
von  Kastilien.  Doch  hegt  er  keine  thörichten  Hoffnungen.  Ja,  er  sagt 
ihr,  daß  er  sie  weniger  achten  und  nicht  mehr  lieben  könnte,  wenn  sie 
sich  unbegreiflicherweise  herablassen  sollte,  ihn  mit  ihrer  Neigung  zu 
beglücken.")  Natürlich  stellt  sich  am  Schluß  des  Stücks  heraus,  daß 
Carlos  ein  Königssohn  ist  —  denn  woher  wäre  ihm  sonst  solcher  Adel 
der  Gesinnung  gekommen? 

Im  „Pompee"  geht  die  Königin  Kleopatra  noch  weiter.  Sie  liebt 
Cäsar,  den  Helden,  aber  ihre  Ehre  verlangt,  daß  Ägypten  die  Partei  des 
Pompejus  ergreife  und  gegen  Cäsar  kämpfe.  Aus  reiner  Liebe  zu  Cäsar, 
und  um  sich  dessen  würdig  zu  erweisen,  reizt  sie  zum  Krieg  gegen  ihn.^) 
Daß  eine  solche  Denkart  dem  französischen  Volk  unverständlich  bleiben 
mußte,  ist  klar.  Solche  Verirrungen  sind  nur  in  einer  Gesellschaft  mög- 
lich, die  mit  den  Gefühlen  zu  spielen  liebt,  und  darüber  oft  die  Natür- 
lichkeit einbüßt.    Zum  Glück  besaß   Corneille  nicht  allein  die  Gabe,    der 


1)  Corneille,  Le  Cid,  III,  3,  v.  50  und  56: 

II  j  va  de  ma  gloire,  il  faut  que  je  me  venge. 

Pour  conserver  ma  gloire  et  finir  mon  ennui, 
Le  poursuivre,  le  perdre  et  mourir  apres  lui. 

2)  Corneille,  Don  Sanche,  II,  2,  70: 

Si  par  quelque  malheur  que  je  ne  puls  comprendre. 
Du  tröne  jusqu'ä  moi  je  la  voyois  descendre, 
Commen^ant  aussitöt  ä  vous  moins  estimer. 
Je  eesserois  sans  doute  aussi  de  vous  aimer. 

3)  Corneille,  Pompee,  II,  1,  v.  3  ff.: 

Cleopatre : 
Et  toujours  ma  vertu  retrace  dans  mon  coeur 
Ce  qu'il  doit  au  vaincu,  brülant  pour  le  vainqueur. 

Charmion : 

Quoi!  vous  aimez  Cesar!  et  si  vous  etiez  crue, 
L'Egypte  pour  Pompee  armeroit  ä  sa  vue, 
En  prendroit  la  defense,  et,  par  un  prompt  secours. 
Du  destin  de  Pharsale  arreteroit  le  cours! 
L'amour,  certes,  sur  vous  a  bien  peu  de  puissanee. 


288 


feinen  Welt  zu  gefallen ;    er  hatte  auch  das  Geheimnis ,    die  einfachsten 
i!faturen,  sein  ganzes  Volk  zu  begeistern  und  mit  sich  fortzureißen. 

Fast  gleichbedeutend  mit  der  Ehre  und  unauflöslich  mit  ihr  ver- 
knüpft erscheint  in  dem  Ideal  der  Zeit  der  Begriff  des  Ruhms.  Das  Wort 
..ginire"  bezeichnet  oft  die  beiden  Güter.  Aber  die  Rücksicht  auf  den 
Ruhm  fälscht  nicht  selten  die  besten  Thaten  jener  Helden.  Wenn  sie 
nur  für  den  Ruhm  arbeiten  und  insofern  nur  die  Befriedigung  ihrer 
Eitelkeit  erstreben,  so  haben  sie  ihren  Lohn  dahin.  Wenn  Augustus  (in 
„Cinna")  den  Verschwörern  verzeiht,  so  thut  er  es  nicht  allein,  wie 
man  glauben  möchte,  aus  Milde.  Denn  er  ruft  mit  Emphase  aus : 

Jahrhunderte!  Geschichte! 

Bewahre  meines  letzten  Siegs  Gedächtnis. i) 

Hätte  Corneille  den  Kaiser  als  eitel  und  ruhmbegierig  hinstellen 
wollen,  so  hätte  er  ihm  keine  besseren  Worte  in  den  Mund  legen  können. 
Aber  er  wollte  ihn.  den  Anschauungen  der  Zeit  entsprechend,  ein  edles 
Gefühl  ausdrücken  lassen,  und  gerade  weil  wir  ein  solches  heute  nicht 
mehr  in  diesem  Ausspruch  erkennen,  mißfällt  er  uns.  In  dem  „Ödipe" 
hören  wir,  daß  die  Götter  den  Tod  der  Prinzessin  Dirce  verlangen.  Nur 
unter  dieser  Bedingung  soll  die  Pest,  welche  Theben  heimsucht,  ver- 
schwinden. Dirce  erklärt  sich  freudig  zum  Tod  bereit.  Aber  sie  ist  nicht 
aus  Menschenliebe  so  willig,  zu  sterben,  sondern  aus  Ruhmsucht,  und 
dieser  Zug  ist  weder  natürlich,  noch  schön.-) 

So  wird  denn  ganz  natürlich  der  Ehrgeiz  zur  Tugend  gestempelt 
und  darf  in  dem  Charakterbild  des  Helden  nicht  fehlen.  Er  wird  für 
die  einzige  Leidenschaft  erklärt,  die  eines  großen  Geistes,  eines  echten 
Edelmanns  würdig  sei.  Der  Mensch  gilt  nicht  für  wahrhaft  groß,  dem 
nicht  im  Herzen  hoher  Ehrgeiz  glüht. -^l  Selbst  die  Frau  muß  nach  Macht 
streben,  wenn  sie  vom  Schimmer  des  Ruhms  umstrahlt  sein  will.  Einen 
Thron  zu  erwerben,  schien  das  höchste  Ziel  jedes  edlen  Gemüts. 


1)  Corneille,  Cinna,  V,  3,  35: 

0  siecles!  o  memoire! 

Conservez  ä  Jamals  ma  derniere  victoire! 

2)  Corneille,  Oedipe,  III,  1,  v.  1  ff.  (Dirces  Monolog): 

Inexorable  soif  de  gloire, 

Dont  l'aveugle  et  noble  transport 

Me  fait  precipiter  ma  mort, 

Pour  faire  vivre  ma  memoire. 
2)  Corneille,  Pompee,  II,  l,  v.  74  ff.   Kleopatra  sagt  dort: 
J'ai  de  l'ambition,  et,  soit  vice  ou  vertu, 
Mon  coeur  sous  son  fardeau  veut  bien  etre  abattu; 
J'en  aime  la  chaleur,  et  la  nomme  sans  cesse 
La  seule  passion  digne  d'une  princesse. 
Ähnlich  heißt  es  auch  bei  Quiuault,  Stratonice,  II,  sc.  1.  Philippe  warnt 
dort  seine  Nichte  Stratonice: 

Songez  qu'ü  faut  regner  et  que  l'ambitiou 
Doit  etre  des  grands  coeurs  l'unique  passion, 
Qu'il  ne  faut  rieu  ha'ir  que  ce  qui  peut  vous  uuire 
Qu'il  ne  faut  rien  aimer  ä  moins  que  d'un  empire. 


289 


Solche  Lehren  konnten  gefährlich  werden,  wenn  man  sie  in  der 
Wirklichkeit  anwenden  wollte,  und  die  Geschichte  der  Fronde  hat  uns 
bewiesen,  daß  man  dies  in  der  That  auch  versuchte.  Wir  haben  gesehen, 
wie  sich  die  vornehmen  Herren  zur  Zeit  der  Regentschaft,  den  Helden 
der  Romane  und  des  Theaters  gleich,  blindlings  in  Abenteuer  stürzten, 
weil  ihr  „großer  Sinn"  ihnen  keine  Ruhe  ließ.  Die  adeligen  Frondeurs 
erinnern  an  die  Verschwörer  in  Corneilles  „Cinna",  an  die  römischen 
Aristokraten  in  desselben  Dichters  „Sertorins".  Die  Heroinen  der  Fronde 
ließen  sich  wie  die  Frauen  der  Dichtung  von  Ehrgeiz  und  Liebe  in  die 
gewagtesten  Unternehmungen  mit  fortreißen.^) 

Unter  Ludwig  XIV.,  vor  dessen  Willen  sich  der  Adel  beugte, 
mußte  diese  Richtung  verschwinden  und  die  bis  dahin  giltigen  Ideale 
sich  ändern.  Ludwig  hatte  in  seiner  Jugend  zu  sehr  von  der  unruhigen 
und  ehrgeizigen  Aristokratie  gelitten,  als  daß  er  ihr  hätte  je  verzeihen 
können.  In  seinem  Reich  gab  es  fürderhin  keinen  Raum  mehr  für  hoch- 
fliegenden  Ehrgeiz ;  der  Herrscher,  der  allmächtig  über  allen  stand,  dul- 
dete bei  anderen  keine  stolzen  Pläne.  Schon  als  Corneille  im  Jahr  1670 
in  seinem  Schauspiel  „Titus  und  Berenice"  der  Geliebten  des  Domitian 
die  ehrgeizigen  Worte  in  den  Mund  legte,  die  Herrschaft  sei  das  einzige 
eines  großen  Geistes  würdige  Ziel,  war  er  mit  seiner  Zeit  nicht  mehr 
in  vollem  Einklang.-) 

Wenn  wir  uns  die  Ideale  vergegenwärtigen,  welche  während  eines 
großen  Teils  des  17.  Jahrhunderts  die  Menschen  begeisterten,  so  ge- 
denken wir  unwillkürlich  anderer  Zeiten,  die  unter  der  Herrschaft  an- 
derer Anschauungen  standen.  Wir  staunen  ob  der  Verschiedenheit  des 
Heldenideals  in  den  einzelnen  Epochen  der  Geschichte  und  bei  den  Haupfc- 
völkern  Europas.  Welche  Kluft  trennt  einen  Helden  wie  den  Cid  von 
Achill,  der  in  der  Feldschlacht  seiner  Mordlust  freien  Lauf  läßt,  am  ge- 
fallenen Feind  unwürdige  Rache  ausübt,  aber  mit  heißen  Thränen  seinen 
toten  Freund  beweint.  Diomedes  und  Odysseus  dringen  nächtlich  in  das 
Lager  der  Troer  und  stechen  die  Krieger  im  Schlaf  nieder.  Was  dem 
Griechen  natürlich  dünkte,  wäre  dem  ritterlichen  Kämpfer  des  17.  Jahr- 
hunderts ein  Greuel  gewesen,  und  was  dieser  als  höchste  Zierde  eines 
edlen  Mannes  erachtete,  die  Feinfühligkeit  der  Liebe,  die  schwärmerische 
Verehrung  des  Weibes,  wäre  jenem  unverständlich  gewesen.  Auch  die 
Griechen  des  Homer  kannten  feines  höfisches  Leben  in  den  Palästen 
ihrer  Könige;    ja,    wie  W.  Jordan    in  der  Einleitung  zu  seiner  Homer- 


ij  Der  Chevalier  de  Charny  sagt  in  einer  Charakteristik,  die  er  von  sieh 
auf  Wunsch  der  Prinzessin  von  Montpensier  schrieb:  „II  me  semble  que  de- 
vant  de  me  hasarder  ä  la  galanterie,  je  dois  m'etre  fort  hasarde  ä  la  guerre,  et 
qu'il  faut  avoir  fait  plusieurs  campagnes  ä  l'armee,  premier  que  de  faire  un 
quartier  d'hiver  ä  la  Cour".  Mlle.  de  Montpensier,  Portraits,  ed.  1659,  in  4",  S.  340. 
2)  Corneille,  Tite  et  Berenice,  I,  2,  v.  63  if.  Domitia  sagt  dort  zu  Do- 
mitian : 

Et  je  n'ai  point  une  dme  ä  se  laisser  charmer 
Du  ridicule  honneur  de  savoir  bleu  aimer, 
La  passion  du  tröne  est  seule  toujours  belle, 
Seule  ä  qui  l'äme  doive  une  ardeur  immortelle. 
Lotheißen,  (Jescli.  i.  franz.  Litteratur.  i,, 


290 

Übersetzung  richtig  hervorhebt,  die  letzte  Redaktion  der  homerischen 
Gesänge  fiel  sogar  in  eine  Zeit  strenger  aristokratischer  Eichtung,  aber 
das  glückliche  Volk  wußte  sich  in  allen  Verhältnissen  die  Wahrheit  der 
Empfindung  zu  erhalten. 

Die  Helden  der  Äneide  stehen  dem  Ideal  des  17.  Jahrhunderts 
schon  näher.  Die  Verhältnisse  des  römischen  Staats  hatten  unter  Augustus 
mancherlei  Ähnlichkeit  mit  dem  Frankreich  Ludwigs  XIII.  Hier  wie  dort 
entwickelte  sich  nach  langen  inneren  Wirreu  eine  starke  Monarchie, 
und  es  bildete  sich  eine  aristokratische  Gesellschaft,  die  in  ausgesuchtem 
Lebensgenuß  und  in  der  Beschäftigung  mit  Kunst  und  Litteratur  einen 
Ersatz  für  die  verlorene  politische  Machtstellung  suchte. 

Wie  anders  gestaltete  sich  hingegen  das  Heldenideal  der  nor- 
dischen germanischen  Völker.  Die  Recken  der  Xibelunge  sind  düster 
und  gewaltig.  Der  Himmel,  der  sich  viele  Monate  des  Jahrs  hindurch 
grau  und  finster  auf  die  weiten  Wälder  Germaniens  und  Skandinaviens 
senkte,  die  Natur  der  nordischen  Länder  überhaupt,  mußte  der  Phantasie 
des  Volkes  einen  ernsten  Charakter  verleihen.  Bei  den  einfachen  Söhnen 
des  Xordens  galt  vor  allem  die  köi-perliche  Stärke;  der  gehörnte  Sieg- 
fried war  ihr  Ideal.  Neben  der  Tapferkeit  war  die  Mannentreue  der 
größte  Schmuck  des  germanischen  Helden.  Der  grimme  Hagen  ist  ein 
Charakter,  wie  er  sich  nirgends  sonst  wieder  findet.  Auch  Siegfrieds 
offener,  vertrauender  Sinn  ist  charakteristisch,  und  in  dem  Fiedler  von 
Alzey  verkörpert  sich  des  Volkes  inniges,  schwärmerisches  Gemüt. 

So  unterscheidet  sich  die  romanische  Welt  von  der  antiken  wie 
von  der  germanischen.  Die  Heldenfiguren  des  16.  und  17.  Jahrhunderts 
können  sich  allerdings  mit  den  aus  dem  Volksgeist  erwachsenen  und 
von  der  volkstümlichen  Sage  getragenen  Helden  nicht  messen;  nicht 
einmal  Tassos  poetische  Gebilde,  sein  Rinaldo,  sein  Tancred,  seine  Ar- 
mida. Wenn  der  Cid  zu  einer  Figur  geworden  ist,  die  gleich  den  Rittern 
von  der  Tafelrunde,  gleich  dem  Roland  der  Karlssage,  in  ewiger  Jugend- 
schönheit strahlt  und  in  der  ganzen  Welt  populär  geworden  ist,  so  ver- 
dankt er  das  vielleicht  weniger  Corneille,  als  den  spanischen  Romanzen, 
<iie  in  der  Volkspoesie  wurzeln. 

Wir  dürfen  diese  Einschränkung  machen,  ohne  gegen  die  Poesie 
<ies  17.  Jahrhunderts  ungerecht  zu  werden.  Aber  wir  müssen  uns  doch 
hüten,  über  das  geistige  Leben  jener  Epoche  voreilig  abzusprechen. 

Unsere  Zeit  steht  noch  ungefähr  auf  dem  Boden,  welchen  das 
vorige  Jahrhundert  einnahm.  Die  Ideen,  welche  die  Gebildeten  des 
18.  Jahrhunderts  begeisterten,  sind  auch  uns  noch  lieb  und  teuer.  Wir 
verstehen  den  Kampf  für  die  Herrschaft  der  Toleranz,  für  den  Sieg  der 
Humanität,  für  die  Befreiung  des  Volkes  von  drückenden  Lasten.  Denn 
dieser  Kampf,  den  man  vor  hundert  Jahren  führte,  ist  auch  heute  noch 
nicht  ausgetragen.  Die  Ideale  des  letztvergangenen  Jahrhunderts  sind 
nicht  mehr  die  unseren,  aber  wir  können  sie  noch  begreifen,  noch 
schätzen,  wir  können  die  Begeisterung,  welche  die  Herzen  unserer  Groß- 
eltern erfüllte,  noch  nachfühlen  und  eine  Zeit  mit  solchen  Idealen  be- 
wundern. 


291 


Anders  aber  stellt  es  sich,  wenn  wir  uns  in  die  Anschauungen 
des  17.  Jahrhunderts  versetzen  wollen.  Wir  stoßen  dabei  auf  eine  Rich- 
tung, die  jener  der  folgenden  Zeit  völlig  entgegengesetzt  war;  wir  finden 
andern  Geschmack,  andere  Ziele,  Ideen,  die  uns  zum  Teil  fremd  und 
unverständlich  sind.  Darum  wird  es  uns  heute  oft  so  schwer,  dem 
17.  Jahrhundert  und  seinen  Werken  gerecht  zu  werden.  Gerade  deshalb 
aber  ist  es  unerläßlicb,  sich  in  die  Empfludungen  und  in  die  Gedanken- 
welt jener  Epoche  zu  versetzen,  bevor  man  sich  über  die  einzelnen  Er- 
scheinungen derselben  ein  Urteil  erlaubt. 

„Und  der  Lebende  hat  Recht",  sagt  Schiller.  So  fällt  denn  die 
heutige  Zeit  oft  ein  wegwerfendes  Urteil  über  eine  Epoche,  die  ihr  so 
fremdartig  gegenübersteht.  Es  ist  wahr,  kein  gewaltiger  Sturm  durch- 
braust jene  Welt  und  wühlt  das  Menschentum  auf,  daß  es  erbebt,  daß 
alle  Fibern  des  Herzens  zucken  und  der  Geist  in  wunderbarer  Spannung 
aller  Kräfte  die  tiefsten  Geheimnisse  des  Seins  zu  ergründen  sich  ver- 
mißt. Das  17.  Jahrhundert  bietet  nicht  das  Schauspiel  titanenhaften 
Ringens,  verzweifelter  Auflehnung,  gewaltigen  Siegs  oder  jähen  Unter- 
gangs; kein  Gedanke  von  allumfassender,  die  ganze  Welt  umspannender 
Liebe  bewegt  jene  Zeit;  sie  erscheint  gar  oft  egoistisch  und  einseitig. 
Aber  in  ihrer  vielleicht  weisen  Beschränkung  erlangt  sie  eine  harmonische 
Ausbildung,  wie  sie  selten  erreicht  wird,  und  die  ihr  genügt. 

Muß  denn  eine  Epoche  in  der  Geschichte  als  klein  und  armselig 
verurteilt  werden,  nur  weil  sie  den  heutigen  Menschen  nicht  sympathisch 
ist?  Eine  Zeit,  die  eine  Litteratur  von  solcher  Größe  und  Bedeutung 
schuf,  kann  nicht  selbst  kleinlich  gewesen  sein.  Die  Litteratur  des 
17.  Jahrhunderts  bildet  doch  noch  immer  den  Höhepunkt  der  gesamten 
litterarischen  Arbeit  in  Frankreich,  und  in  langer,  unbestrittener  Welt- 
herrschaft hat  sie  ihre  Kraft  deutlich  genug  bewiesen. 

Vergleichen  wir  das  Heldenideal  des  17.  Jahrhunderts  mit  dem, 
was  die  erbittersten  Gegner  der  klassischen  Litteratur,  die  Romantiker, 
als  Ideal  betrachteten,  so  ist  der  Unterschied  zwar  groß  in  der  Art  der 
Behandlung,  keineswegs  aber  in  der  Auffassung  selbst.  Die  Helden  der 
neuromantischen  Schule  sind  ebensogut  Gebilde  der  Konvention,  wie 
die  Helden  der  klassischen  Tragödie,  dabei  aber  in  ihrer  Zeichnung  oft 
weniger  wahr  und  natürlich  als  diese.  Nehmen  wir  nur  als  Beispiel 
zwei  romantische  Dramen,  die  bei  ihrem  Erscheinen  außerordentliches 
Aufsehen  machten  und  von  welchen  das  eine  noch  heute  berühmt  ist, 
„Hernani"  von  Victor  Hugo  und  „Antony"  von  Alexandre  Dumas  dem 
älteren.  Eine  so  unwahrscheinliche  Figur,  wie  die  Hernanis,  hat  das 
Theater  des  17.  Jahrhunderts  nirgends  aufzuweisen.  Hernani  ist  der 
Sohn  eines  vom  spanischen  König  zum  Tod  verurteilten,  seiner  Güter 
beraubten  Granden;  er  wächst  arm  in  der  Wildnis  auf,  die  er  barfuß 
durchzieht.  Er  hat  vom  Himmel  nichts  als  Luft,  Licht  und  Wasser  er- 
halten, Gaben,  die  niemandem  versagt  sind.  Er  wird  zum  Räuber  und 
sieht  sich  bald  an  der  Spitze  einer  blutgierigen  Schar  von  einigen 
tausend  Geächteten.  Aber  er  stammt  von  einem  adeligen  Geschlecht,  und 
die  edelsten  Gefühle  sind   ihm  nicht   fremd.    Er  ist  ein  eleganter,    poe- 


292 


tischer  Käuber.  Nicht  anders  glaubte  auch  das  17.  Jahrhundert,  wie 
wir  gesehen  haben,  an  die  Macht  der  edlen  Abstammung.  Die  Helden 
der  romantischen  Litteratur  müssen  etwas  Düsteres,  Melancholisches 
haben,  etwas  Byron'schen  Weltschmerz,  und  Hernani  nennt  sich  selbst 
einen  ,.fou  furieux",  einen  „sombre  insense".  Antony  hat  denselben 
Charakter,  ohne  die  Poesie,  die  uns  mit  Hernani  versöhnt.  Antony  ist 
ein  Mann,  der  seine  Eltern  nicht  kennt,  und  darüber  in  die  tiefste 
Schwermut  verfällt.  Er  wagt  seine  Liebe  nicht  zu  gestehen,  weil  er 
sich  scheut,  den  Makel  seiner  Geburt  zu  enthüllen.  Aber  er  ist  ein 
„Held".  Er  wirft  sich  den  Pferden  entgegen,  die,  scheu  geworden,  den 
Wagen  seiner  Geliebten  in  rasendem  Lauf  mit  sich  fortreißen  und  diese 
selbst  mit  einem  schrecklichen  Tod  bedrohen.  Bei  allem  „Heldentum" 
mangelt  ihm  indessen  jegliche  moralische  Kraft.  Er  jammert,  geberdet 
sich  wie  wahnsinnig  und  legt  der  von  ihm  geliebten  Frau,  die  einem 
andern  angehört  und  die  ihn  flieht,  mit  teuflischer  Kunst  eine  Schlinge. 
Er  gewinnt  sie.  raubt  ihr  die  Ruhe  und  das  Glück,  und  ersticht  sie 
zuletzt,  als  ihr  Gatte  sie  überrascht.  „Sie  war  mir  nicht  zu  Willen,  so 
hab'  ich  sie  gemordet!"  ruft  Antony  dem  eindringenden  Mann  entgegen. 
Damit  liefert  er  sich  dem  Henker  aus,  aber  er  hat  den  Ruf  der  Ge- 
liebten gerettet! 

Das  ist  kein  Heldentum  mehr,  sondern  das  Gegenteil  davon,  und 
eine  solche  Verirrung  in  der  Auffassung  der  männlichen  Größe  hat  sich 
das  17.  Jahrhundert  nicht  zu  Schulden  kommen  lassen.  „Antony"  ist 
freilich  heute  so  gut  wie  vergessen,  aber  noch  leben  die  Dramen  Victor 
Hugos.  Ihre  etwas  rhetorische  Kraft,  ihre  schöne,  poesievolle  Sprache, 
ihr  dramatisch  effektvoller  Bau  gewinnen  uns,  und  gern  übersehen  wir 
die  UnWahrscheinlichkeit,  ja  Unmöglichkeit  der  Charaktere  und  das 
unserem  Geschmack  nach  recht  armselige  Heldenideal,  das  sich  in  ihnen 
verkörpert.  Wenn  wir  dies  aber  bei  den  Dichtungen  der  neueren  Zeit 
thun,  warum  sollen  wir  nicht  auch  den  herrschenden  Auschauungen 
einer   früheren,    unzweifelhaft  großen  Epoche   billige   Rechnung   tragen? 

Der  Mensch  sucht  in  der  Poesie  nicht  bloß  das  Abbild  des  ge- 
wöhnlichen Lebens;  im  Gegenteil,  er  will  sich  mit  ihrer  Hilfe  den 
Fesseln  der  Alltäglichkeit  auf  Augenblicke  entziehen  und  in  seiner  Brust 
höheren,  edleren  Gefühlen  Raum  geben.  Wenn  ihn  dann  der  Dichter  mit 
sich  führt  in  das  Reich  der  Phantasie,  was  liegt  ihm  daran,  daß  nicht 
alles  der  Wirklichkeit  entspricht,  was  er  dort  findet?  Wol  aber  trifft  er 
dort  Menschen,  deren  Gefühle  und  Anschauungen  den  seinen  verwandt 
sind,  nur  daß  sie  ihm  in  veredelter,  verklärter  Form  entgegentreten. 
Versteht  er  ihren  Wert  und  ihre  Schönheit,  so  wird  er  gehobenen  Sinns 
von  dem  Werk  scheiden,  das  ihm  eine  Stunde  reinster  Weihe  geboten 
hat.  Er  wird  den  Segen  der  Poesie  empfinden,  mag  er  nun  als  Kind 
des  17.  Jahrhunderts  für  die  Ideale  Corneilles  oder  als  Romantiker  des 
19.  Jahrhunderts  für  diejenigen  Victor  Hugos  geschwärmt  haben. 


m. 
Die  Rivalen  Corneiiles. 

Wol  in  keiner  Litteratur  nimmt  die  dramatische  Poesie  eine  so 
hervorragende  Stelle  ein,  wie  in  der  französischen.  Kaum  hatte  sich  die 
Bühne  aus  den  ersten  Anfängen  heraus  zu  einer  gewissen  litterarischen 
Bedeutung  entwickelt,  als  sie  auch  die  Gunst  des  Volkes  gewann,  und 
die  besten  Talente  sich  ihr  widmeten.  Die  dramatische  Dichtung  ist  seit 
ihrer  ersten  Blüte  bis  zur  neuesten  Zeit  die  populärste  Gattung  der 
Litteratur  in  Frankreich  geblieben. 

Das  Jahr  1629  war  für  die  Geschichte  des  französischen  Theaters 
von  hoher  Wichtigkeit. 

Sei  es  uns  gestattet,  noch  einmal  daran  zu  erinnern,  daß  in  diesem 
Jahr  Jean  Mairet  mit  seiner  „Sophonisbe"  das  regelmäßige  Drama  be- 
gründete, und  der  tragischen  Poesie  den  Weg  zeigte,  auf  dem  sie 
fernerhin  wandeln  sollte.  Er  rühmte  sich  nicht  ohne  Grund  des  Ein- 
flusses, den  er  auf  die  anderen  Dichter  seiner  Zeit  ausgeübt  habe.^) 

Ein  jugendlicher  Feuereifer  erfüllte  die  Dichter,  welche  für  die 
neugestaltete  Bühne  zu  arbeiten  unternahmen.  Eine  neue  Generation  mit 
anderen  Ideen,  anderm  Geschmack,  anderm  Charakter  folgte  auf  Hardy. 
In  demselben  Jahr,  in  welchem  „Sophonisbe"  erschien,  traten  mehrere 
junge  Dichter  mit  ihren  Erstlingswerken  vor  das  Publikum:  Georges  de 
Scudery  ließ  eine  Tragikomödie,  „Lygdamon",  und  ein  Schäferschauspiel, 
„Les  aventures  de  Rosileon",  aufführen;  Pichou  verfaßte  eine  Tragi- 
komödie, „Les  folies  de  Cardenio",  und  Pierre  Corneille  aus  ßouen 
machte  sich  durch  ein  Lustspiel,  „Melite",  bekannt.  Schon  im  Jahr  zuvor 
hatte  ein  noch  nicht  zwanzigjähriger  Dichter,  Jean  de  Eotrou,  zwei 
Lustspiele  („L'hypocondriaque  ou  le  mort  amoureux"  und  „La  bague  de 
l'oubli")  zur  Darstellung  gebracht,  und  im  Jahr  1630  traten  Pierre  du 
Ryer  mit  einer  Tragikomödie,  „Argenis  et  Poliarque",  Antoine  Marechal 
mit  einer  Pastorale,   „L'inconstance  d'Hylas",  hervor. 

Alle  diese  Männer,  die  sich  fast  zu  gleicher  Zeit  erhoben,  und 
durch  ihre  Arbeiten  dazu  beitrugen,   das  Interesse  an  dem  Theater  und 

1)  In  seiner  Epitre  dedicatoire  vor  den  „Galanteries  du  duc  d'Ossonne" 
sagt  Mairet  mit  einer  Bescheidenheit,  die  vielleicht  nicht  ganz  aufrichtig  war: 
„II  est  tres-vrai,  que  si  mes  premiers  ouvrages  ne  furent  guere  bons,  au  moins 
ne  peut-on  nier  qu'ils  n'aient  ete  l'heureuse  semence  de  beaucoup  d'autres  meil- 
leurs,  produits  par  les  fecondes  plumes  de  Messieurs  de  ßotrou,  de  Scudery,' 
Corneille  et  du  Ryer,  que  je  nomme  ici  suivant  I'ordre  du  temps  qu'ils  ont  com- 
menee  d'öcrire  apres  moi."  Vergl.  I.  Teil  dieses  Werks,  S.  215  ff. 


294 


der  dramatischen  Poesie  zu  beleben,  erwarben  sich  bei  ihren  Zeitgenossen 
Hohe  Anerkennung,  und  mehreren  unter  ihnen  gelang  es,  dauernden 
Ruhm  zu  gewinnen.  Rotrou,  du  Ryer,  ja  auch  Scudery,  behaupten  ihren 
Platz  in  der  französischen  Litteraturgeschichte,  und  weit  über  alle  empor 
schwang  sich  Corneille  durch  seine  späteren  dramatischen  Werke.  Aber 
selbst  wenn  dieser  den  unverwelklichen  Ehrenkranz,  den  ihm  seine 
klassischen  Schauspiele  ei warben,  nicht  errungen  hätte,  wenn  er  in 
seiner  ersten  Manier  geblieben  wäre,  verdiente  er  doch  schon  wegen 
seiner  Erstlingsdichtungen  unsere  besondere  Aufmerksamkeit.  Denn  ein 
feiner  Kopf  blickt  uns  aus  ihnen  entgegen,  und  wir  fühlen  in  diesen 
frühesten  Arbeiten  des  Dichters  den  Hauch  eines  eigen  gearteten,  selb- 
ständigen Geistes. 

Wir  haben  darüber  bald  ausführlicher  zu  reden,  und  auch  die 
anderen  oben  erwähnten  Dichter  werden  uns  noch  beschäftigen.  Einige 
von  ihnen  wirkten  nur  kurze  Zeit  und  blieben  ohne  dauernden  Einfluß; 
andere  waren  noch  viele  Jahre  lang  neben  Corneille  thätig  und  wurden, 
wie  Rotrou,  mit  Recht  gerühmt.  Wieder  andere,  wie  Scudery,  galten  nur 
bei  ihren  Zeitgenossen  als  bedeutende  Dichter,  zumal  sie  das  Talent 
besaßen,  durch  Bramarbasieren  und  Lärmen  besondere  Aufmerksamkeit 
zu  erregen,  und  in  ihrem  glücklichen  Selbstbewußtsein  jede  Gattung  der 
Litteratur  mit  ihren  Werken  bereichern  wollten.  Es  gilt  uns  hier  vor 
allem,  zu  zeigen,  in  welcher  Umgebung  sich  Corneille  zuerst  befand  und 
mit  welchen  Rivalen  er  in  seiner  Jugend  zu  ringen  hatte. 

Bevor  wir  jedoch  die  verschiedenen  Dichter,  die  mit  dem  jugend- 
lichen Corneille  gleichzeitig  für  die  Bühne  arbeiteten,  genauer  betrachten, 
wird  es  angemessen  sein,  noch  einmal  an  den  allgemeinen  Charakter 
der  dramatischen  Poesie  in  jener  Zeit  zu  erinnern.  In  den  Perioden  des 
Aufschwungs  ist  die  Entwicklung  oft  außerordentlich  rasch  und  durch- 
läuft in  kurzer  Frist  die  verschiedensten  Stadien,  wogegen  eine  Kunst, 
die  einmal  zu  einer  bestimmten  Höhe  gelangt  ist,  viele  Generationen 
hindurch  unverändert  bleiben  und  auch  im  Absterben  noch  jeder  Neu- 
gestaltung die  größten  Hemmnisse  in  den  Weg  legen  kann. 

Die  Manier  des  alten  Alexandre  Hardy  galt  um  das  Jahr  1630 
bereits  nicht  mehr  als  richtig;  auch  die  gespreizte  Redeweise,  mit 
welcher  Theophile  de  Viau  in  „Pyramus  und  Thisbe"  die  vornehme  Ge- 
sellschaft in  Entzücken  versetzt  hatte,  konnte  nicht  als  dauerndes  Muster 
gelten.  Mairet  hatte  das  historische  Schauspiel  um  einen  großen  Schritt 
weitergeführt,  und  das  Theater  nahm  einen  neuen  Charakter  an.  Wir 
haben  schon  gesehen,  wie  alles  nach  regelmäßiger  Gestaltung  des  Dramas 
drängte.  Freilich  fehlte  noch  viel,  bis  man  zur  ängstlichen  Beobachtung 
der  sogenannten  Einheiten  gelangte.  Noch  herrschte,  besonders  in  den 
mehr  romantischen  Dichtungen,  die  größte  Freiheit  in  Bezug  auf  den 
Wechsel  des  Orts  und  der  Zeit;  der  Dichter  erlaubte  sich,  die  Zuschauer 
von  einem  Land  in  das  andere  zu  versetzen,  und  zwischen  den  einzelnen 
Akten  lange  Zeiträume  als  verstrichen  anzunehmen. 

Noch  verlangte  ein  großer  Teil  des  Publikums  vor  allem  Ab- 
wechslung   auf   der  Bühne;    und   die    meisten  Zuschauer    kannten    keine 


295 


andere  Freude  im  Theater,  als  die  Befriedigung  ihrer  naiven  Neugierde; 
die  Ereignisse  selbst,  die  auf  der  Bühne  sich  abspielten,  fesselten  ihre 
Aufmerksamkeit,  und  von  den  Forderungen  der  Poesie  und  Kunst  hatten 
sie  keine  Ahnung.  So  sagt  auch  der  Dichter  Rayssiguier  in  der  Vorrede 
zu  seinem  „Aminte"  (1631),  daß  die  Mehrzahl  derer,  die  ihr  Geld  in 
das  Hotel  de  Bourgogne  trügen,  einen  steten  Wechsel  von  Abenteuern 
auf  der  Bühne  zu  sehen  wünsche.  Deshalb  dürften  jene  Dichter,  welche 
im  Interesse  der  Schauspieler  schreiben  wollten,  sich  an  keine  Regel 
binden.^) 

Rayssiguier  sprach  damit  die  Meinung  der  dramatischen  Dichter 
aus,  die  mit  dem  momentanen  Beifall  zufrieden  sind,  und  deren  Zahl 
ist  immer  groß.  Trotzdem  erkennt  man  deutlich,  wie  schon  damals  das 
Drama  einer  strengeren  Gestaltung  zustrebte.  Dies  ergiebt  sich  nicht 
allein  aus  den  ersten  Stücken  Corneilles,  sondern  ebenso  deutlich  aus 
den  Werken  der  Dramatiker,  die,  gleichen  Alters,  in  jenen  ersten  Jahren 
mit  ihm  um  den  Preis  in  der  dramatischen  Dichtung  rangen. 

Es  ist  schon  früher  hervorgehoben  worden  und  darf  auch  hier 
nicht  außer  acht  gelassen  werden,  daß  die  Dichtung  jener  Zeit  wesent- 
lich aristokratischen  Charakter  trug.  Selbst  das  Schauspiel,  das  sich 
doch  an  das  große  Publikum  wandte,  verleugnete  diesen  Charakter  nicht. 
Wenn  auch  das  Volk  im  Schauspielhaus  seinen  Platz  fand,  so  besaß  es 
noch  zu  wenig  Erfahrung  und  war  noch  zu  sehr  jeder  ästhetischen 
Bildung  bar,  um  nicht  alles,  was  ihm  geboten  wurde,  mit  gleichem  Sinn 
hinzunehmen.  Freilich  ging  die  ästhetische  Erziehung  rasch,  wie  die 
Geschichte  des  „Cid"  beweist,  allein  in  den  letzten  Jahren  Hardys  und 
zur  Zeit  der  ersten  Versuche  Corneilles  und  seiner  Genossen  hatte  das 
große  Publikum  auf  die  Haltung  und  die  Richtung  der  dramatischen 
Poesie  kaum  einen  nennenswerten  Einfluß.  Die  Dichtungen  schilderten  — 
wenn  sie  nicht  gerade  Possen  waren  —  nur  eine  vornehme  Welt,  zumeist 
Fürsten,  Könige  und  deren  Hof.  Für  die  hohen  Kreise  allein  wurden 
die  Dramen  gedruckt,  ihnen  wurden  sie  gewidmet.  Sie  allein  besaßen 
die  Mittel,  die  Dichter  zu  belohnen. 

Die  dramatischen  Werke  zeigen  zwar  durch  ihre  Haltung,  ihre 
Sprache,  ihre  Gedanken  den  Geist  der  Gesellschaft,  für  die  sie  gedichtet 
sind  und  aus  der  sie  hervorgingen.  Doch  kann  man  nicht  sagen,  selbst 
nicht  von  den  Lustspielen,  daß  sie  ein  Bild  der  zeitgenössischen  Ge- 
sellschaft zu  geben  versuchen.  Noch  hält  man  sich  zu  viel  an  die 
alte  stereotype  Welt  der  italienischen  Stegreifspiele;  es  siad  nur  die  Be- 
gebenheiten, welche  interessieren,  nicht  die  Art,  wie  sie  geschildert 
werden.    Noch  kennt  man  nicht  die  Kunst  der  Charakteristik,    und  die 


1)  S.  Rayssiguier,  Vorrede  zu:  „L'Aminte  du  Tasse",  tragicomedie  (1631): 
„La  plus  grande  part  de  ceux  qui  portent  le  testen  ä  I'hötel  de  Bourgogne, 
veulent  que  l'on  contente  leurs  yeux  par  la  diversite  et  changement  de  la  scene 
du  theätre  et  que  le  grand  nombre  des  accidens  et  aventures  extraordinaires 
leur  Stent  la  connoissance  du  sujet.  Ainsi  ceux  qui  veulent  faire  le  protit  et 
l'avantage  des  Messieurs  qui  rendent  leurs  vers,  sont  obliges  d'ecrire  saus  ob- 
server  aucune  regle". 


296 


auftretenden  Personen  verraten  stets  die  Schablone.  Selbst  in  den  histo- 
rischen Stücken  ist  von  dem  Streben  nach  geschichtlicher  Wahrheit 
kaum  die  Kede.  La  Calprenede  läßt  in  seiner  Tragödie:  „La  mort  de 
Mithridate"  (1637)  den  König  von  Pontus  in  zierlichen  Stanzen  von  der 
Last  der  Krone  reden,  und  jede  Strophe  mit  einem  eleganten  Refrain 
schließen.^) 

Scudery  anderseits  zeigt  in  seinem  „Mort  de  Cesar"  einen  Brutus, 
der  von  der  Unverletzlichkeit  der  legitimen  Herrscher  schwärmt.^) 

In  den  Tragikomödien,  den  mehr  romantischen  Dramen,  den  Pastoral- 
und  Eitterdichtungen ,  ist  natürlich  jede  Rücksicht  auf  historische  und 
geographische  Wahrheit  geschwunden.  Dies  war  freilich  an  sich  keine 
Sünde  gegen  die  Poesie;  es  konnte  sogar  ein  Vorteil  daraus  erwachsen, 
insofern  die  Phantasie  des  Dichters  sich  nicht  beengt  fühlte.  So  wie 
Shakespeare  das  Böhmerland  vom  Meer  umspült  sein  ließ,  so  verlegten 
auch  die  französischen  Dramatiker  den  Schauplatz  ihrer  Stücke  nach 
Sizilien,  Griechenland  oder  einem  andern  fremden  Land,  ohne  sich  weiter 
um  dessen  Natur  und  Einrichtungen  zu  kümmern.  So  wenig  in  diesen 
Dramen  eine  Zeitangabe  bestimmt  war,  so  wenig  fanden  sich  auch  die 
Orte  charakterisiert.  Es  genügte,  wenn  das  Land  fremdartig  genug  er- 
schien, um  als  Schauplatz  für  mancherlei  seltsame  Begebenheiten  zu 
dienen,  und  doch  durfte  es  auch  nicht  so  entlegen  und  barbarisch  sein, 
daß  es  die  Entfaltung  modernen  höfischen  Lebens  unmöglich  gemacht 
hätte.  Mit  einem  -  Wort,  es  fehlte  den  Stücken  jener  Zeit  die  Individua- 
lität. Spitzfindiger  Witz  vertrat  die  dramatische  Leidenschaft.  Alles  war 
verschwommen    und    nur  ein  starker  Geist  mit  selbständiger  Auffassung 


1)  La   Calprenede,    Mort   de  Mithridate  V,  1.     Eine   Strophe  genügt   als 
Beispiel : 

„Gloire,  grandeurs,  seeptre,  victoire, 

Vous  fütes  mes  honneurs  passes. 

Et  de  ces  tristes  passes 

Je  n'ai  garde  que  la  memoire. 

Tout  mon  bonheur  s'evanouit, 

Mais  le  perfide  qui  jouit 

Du  bien  que  son  crime  lui  donne, 

Un  jour  avoüra  comme  moi 

Que  s'il  connoissoit  la  couronne 

Un  berger  craindroit  d'etre  roi." 

Der  letzte  Vers  bildet  die  Pointe  jeder  Strophe  und  den  Refrain. 

So  schließt  eine  andere  Strophe: 

Mais  si  tous  avoient  comme  moi 
Senti  le  poids  d'une  couronne 
Un  berger  craindrait  d'etre  roi. 

2)  Scudery,  La  mort  de  Cesar,  I,  1,  v.  25  ff.: 

Les  peuples  que  le  sort  a  soumis  ä  des  rois, 
En  doivent  reverer  la  personne  et  les  lois, 
C'est  lä  mon  sentiment,  et  je  tiens  que  sans  crime 
Or  ne  peut  renverser  un  tröne  legitime. 
Mais  Cesar  est  injuste.*. .. 


297 


und  eigentümlichem  Charakter  konnte  der  noch  toten  Form  wahres  Leben 
einhauchen.  Diese  Aufgabe  fiel  bald  Pierre  Corneille  zu. 

Wie  seit  dem  Erlöschen  der  Religionskriege  und  der  völligen  Nieder- 
werfung der  Hugenotten  der  kirchliche  Eifer  sich  in  weiten  Kreisen  ab- 
gekühlt hatte,  wie  man  sich  den  Dogmen  gegenüber  ruhig  und  fast 
skeptisch  verhielt,  wie  ein  rationalistischer  Zug  durch  das  kirchliche 
Leben  ging,  das  offenbarte  sich  mittelbar  auch  in  dem  Drama  jener  Tage. 
Man  glaubte  nicht  mehr  so  ernstlich  an  Wunder  und  Zeichen,  und  die 
Geistlichkeit  wurde  oft  scharf  mitgenommen.  Von  jeher  hatte  diese  der 
Satire  in  Frankreich  als  Zielscheibe  gedient,  und  besonders  die  Mönche 
sind  stets  die  Helden  oft  sehr  derber  Erzählungen  und  SpäßQ  gewesen, 
aber  an  die  Lehren  der  Kirche  hatte  sich  der  spöttische  Geist  nur  selten 
gewagt.  Nun  aber  erklangen  öfters  Worte  entschiedenen  Zweifels,  und 
da  sich  solche  Äußerungen  nur  in  Form  einer  Kritik  der  alten  Götter- 
welt vorwagten,  immer  nur  von  Göttern  und  Opferern  die  Rede  war, 
konnte  man  den  Dichtern  ob  solcher  Stellen  nichts  anhaben,  mochten 
sie  auch  noch  so  deutliche  Anspielungen  enthalten.  Es  fallen  manchmal 
Reden,  so  herb  und  ungläubig,  als  seien  sie  von  den  skeptischen  Dich- 
tern des  18.  Jahrhunderts  zugeflüstert.  So  wird  bei  Rotrou,  trotzdem  er 
später  eine  Märtyrer-Tragödie  verfaßte,  in  seiner  Tragikomödie  „Ange- 
liqiie'-  ein  Liebhaber,  der  Hilfe  von  dem  Himmel  erfleht,  von  seinem 
Freund  verspottet.  Die  Götter  könnten  sich  mit  dem  Los  der  Menschen 
nicht  weiter  befassen.  Sie  hätten  genug  damit  zu  thun,  den  Gang  der 
Himmelskörper  in  Ordnung  zu  halten,  den  Widerstreit  der  Elemente  zu 
regeln,  zu  donnern,  zu  belohnen  und  zu  strafen,  aber  um  die  Bedürf- 
nisse der  einzelnen  Menschen  könnten  sie  sich  nicht  kümmern  und  noch 
weniger  auf  die  Gebete  eines  Thoren  achten.')  Auffallender  noch  sind 
die  Worte,  welche  Scudery  in  seinem  „Tod  Cäsars"  dem  Cassius  in  den 
Mund  legt.  Porcia.  die  Frau  des  Brutus,  ist  von  einer  finsteren  Vor- 
bedeutung beim  Opfer  erschreckt  worden  und  das  Unternehmen,  das  ihr 
Gatte  gegen  Cäsar  plant,  ängstigt  sie.  Cassius  versucht,  ihr  Mut  einzu- 
flößen, indem  er  ihren  Glauben  für  irrig,  die  Götter  für  ein  Gebilde  der 
menschlichen  Furcht  erklärt  und  offen  sagt,  daß  er  nur  den  blinden  Zu- 
fall als  den  Herrn  der  Welt  anerkenne. 

1)  Rotrou,  Angelique  ou  La  pelerine  amoureuse,  tragicoraedie.  A  Paris, 
chez  A.  de  Sommaville  sans  date.  Acheve  d'imprimer  le  20  fevr.  1637.  I,  1,  15. 
Dort  sagt  Lucidor  von  den  Göttern: 

Ils  donnent  aux  mortels  avecque  la  elarte 

Un  pouvoir  absolu  dessus  leur  volonte: 

Tout  ce  qu'ils  ont  cree  sur  la  terra  oü  nous  sommes, 

Tout  ce  qu'ils  ont  soumis  ä  l'appetit  des  hommes, 

N'est  plus  considere  de  leurs  divinites. 

C'est  ä  nous  de  pourvoir  ä  nos  necessites. 

Voir  les  biens  et  les  maux,  se  servir  du  tonnerre, 

Faire  mouvoir  les  cieux  et  soutenir  la  terre, 

Entretenir  la  guerre  entre  les  Clements 

Et  disposer  des  prix  comme  des  chätiments, 

C'est  le  noble  exercice  oii  leur  pouvoir  s'applique. 

Et  non  pas  de  regir  les  voeux  d'un  frenetique. 


298 

„Wie  seltsam  ist  die  Blindheit  uns'rer  Zeit, 

Wie  schwach  und  thöricht  ist  der  Geist  des  Mensehen, 

Zu  glauben,  daß  sf^in  Glück  so  wie  sein  Weh 

In  eines  Tieres  Lunge  sei  geschrieben. 

Und  daß  gewisser  Götter  gier'ge  Schar 

Zu  den  Altären  niedersteige,  um 

Am  Kauch  der  Opfer  sich  zu  mästen:  Opfer, 

Orakel,  VogelHug,  Augurium, 

Des  Himmels  und  der  Erde  Götter  —  alles 

Ist  nichts  als  menschliche  Erfindung  —  so  schön 

Als  falsch!  Was  bleibt  uns  da  zu  fürchten? 

Mag  auch  die  Wahrheit  dicht  verschleiert  sein, 

Ich  weiß,  daß  nur  der  Zufall  unsre  Welt 

Eegiert.i) 

Die  dichterische  Sprache  der  Franzosen  in  dem  ersten  Drittel  des 
17.  Jahrhunderts  ist  schon  bei  früherer  Gelegenheit  charakterisiert  worden. 
Wir  haben  bei  der  Betrachtung  der  Lyrik  gesehen,  wie  hohl  und  ober- 
flächlich die  Gedichte,  wie  gespreizt  und  gesucht  der  Gedanke,  wie 
geschmacklos  oft  der  Ausdruck  in  ihnen  war.  Die  Sprache  gewann 
durch  sie  an  Beweglichkeit  und  Leichtigkeit,  aber  die  Poesie  schwand. 
Fehler,  die  in  der  Lyrik  zu  Tage  traten,  konnten  in  der  dramatischen 
Dichtung  nicht  fern  bleiben.  Auch  hier  machte  sich  jene  Mischung  von 
Koheit  und  Ziererei  nur  zu  oft  geltend ;  neben  dem  derben,  unverhüllten 
Wort,  das  sich  darin  gefällt,  keusche  Gemüter  zu  erschrecken,  fand  sich 
die  gesuchteste  Afifektation  des  Gedankens  und  Ausdrucks.  Entweder  ver- 
fiel man  in  grobe  Trivialität  oder  man  geriet  in  den  Marinismus,  in 
die  Sucht  nach  Pointen  und  geistreichen  Wendungen,  in  falsche  Senti- 
mentalität.^) Nur  äußerst  selten  zeigt  sich  ein  Hauch  wahrer  Poesie, 
die  platte  Nüchternheit  herrscht  überall.  Die  Armut  des  Geistes,  der 
poesielose  und  doch  schafFenslustige  Sinn  sucht  sich  dabei  durch  Künste- 
leien zu  helfen,  und  die  dramatische  Litteratur  der  von  uns  behandelten 

J)  Scudery,  La  Mort  de  Cesar,  II,  4,  16: 

Etrange  aveuglement  de  ce  siecle  oü  nous  sommes! 
0  faiblesse  d'esprit!  stupidite  des  hommes, 
De  croire  follement,  que  leur  bien  et  leur  mal 
Est  ecrit  au  poumon  d'un  chetif  animal; 
Et  que  de  certains  dieux  les  troupes  aifamees 
Viennent  dessus  l'autel  se  paitre  de  fumees. 
Oracle,  saerifice,  augure,  vol  d'oiseaux, 
Dieux  du  eiel,  de  l'enfer,  de  la  terre  et  des  eaux, 
Invention  humaine,  aussi  belle  que  feinte, 
Vous  ne  donnez  point  de  sentiment  de  crainte. 
Je  penetre  le  volle  et  decouvre  ä  travers, 
Que  rien  que  le  hasard  ne  conduit  l'uuivers. 
Jugez  aprez  cela  de  votre  prophetie. 
-)  Die  Pastoralsehauspiele   zeigen   denselben  Geist  der  Künstelei.    In  La 
Calprenedes  „Clarionte",    Du  Eyers  „Vendange  de  Sureue"    findet  man,    wie  in 
den  Schäferromanen,  die  Aufgabe  des  Menschen  in  den  Liebesseufzern.    In  den 
„Vendanges"  wandeln  die  Personen  mit  Eomanen  in  der  Landschaft  umher  und 
reden  in  Pointen.  I,  3,  48,  sagt  Polydor,  seine  Geliebte  habe  ihm  ihr  Bild  ge- 
schenkt, und  auf  näheres  Befragen  sagt  er:  „Sur  mon  coeur  amoureux  ses  yeux 
Tont  crayonne". 


299 

Epoche  erinnert  nicht  selten  an  so  viele  unbedeutende  und  jedes  poeti- 
schen Reizes  entbehrende  Dramen  des  vorigen  Jahrhunderts.  Ja,  hin  und 
wieder  findet  man  schon  bei  Rotrou  und  seinen  Gefährten,  was  uns  in 
den  Dichtungen  des  18.  Jahrhunderts  so  oft  stört,  die  Scheu,  die  Dinge 
beim  rechten  Namen  zu  nennen ;  auch  damals  schon  glaubte  man  durch 
Umschreibung  eines  einfachen  Ausdrucks  der  Würde  des  dramatischen 
Stils  in  höherem  Grad  gerecht  zu  werden.  So  läßt  Rotrou  in  seinem 
Stück  „ Doristee "  seine  Heldin,  die  diesen  Namen  trägt,  berichten,  wie 
sie  sich  durch  eine  Ohrfeige  der  Zudringlichkeit  eines  vornehmen  Herrn 
erwehrt  hat,  und  sie  sagt: 

„Gereizt  von  solchem  Schimpf,  drückt  meine  Hand 
Auf  seinem  Antlitz  ihre  Formen  ab."') 

Überblickt  man  nun  die  beträchtliche  Anzahl  von  Dichtern,  welche 
damals  für  die  Bühne  arbeiteten,  so  erkennt  man  aus  der  langen  Reihe 
von  Namen,  daß  sich  das  Theater  der  besonderen  Gunst  des  großen 
Publikums  wie  der  hohen  Kreise  erfreut  haben  muß.  Aber  nur  wenige 
dieser  Dramatiker  weisen  selbständige  Kraft  und  Originalität  in  ihren 
Werken  auf;  nur  selten  geben  sie  uns  etwas  zu  denken.  Da  finden  wir 
unter  anderen  Balthasar  Baro,  der  in  seiner  Jugend  Sekretär  bei  Honore 
d'Urfe  gewesen  war  und  nach  dessen  Tod  den  Schlußband  der  „Asträa" 
nach  den  handschriftlichen  Aufzeichnungen  des  Verstorbenen  vollendet 
haben  soll.  Später  trat  er  in  den  Dienst  der  Prinzessin  von  Montpensier, 
und  starb  um  das  Jahr  1649  als  hoher  Finanzbeamter  (Tresorier  de 
France)  zu  Montpellier.  Seine  Dramen  und  Schäferschauspiele,  von  welch 
letzteren  wir  schon  gesprochen  haben,  waren  zahlreich  und  wurden  oft 
aufgeführt,  haben  aber  für  uns  keine  weitere  Bedeucung.^) 

Da  war  ferner  der  Dichter  Pichou  aus  Dijon,  der  jedoch  in  seinen 
besten  Jahren  1631  unter  dem  Dolch  eines  Mörders  fiel.  Schöpferischen 
Geistes  scheint  er  nicht  gewesen  zu  sein,  denn  die  vier  dramatischen 
Werke,  die  er  zur  Aufführung  brachte,  stützen  sich  auf  fremde  Vor- 
bilder. Am  bekanntesten  waren  seine  beiden  Stücke  „Les  folies  de  Car- 
denio"  und  „La  Filis  de  Scire".  Das  erstere,  ein  Lustspiel,  ist  die 
dramatische  Bearbeitung  einer  Episode  des  „Don  Quixote"  (T.  I,  Ka- 
pitel 23,  24,  27),  und  der  edle  Ritter  von  La  Mancha  mußte  darin 
die  Rolle  des  Matamore  spielen  (1629).  Das  zweite  Stück  ist  dagegen 
nach  dem,  in  Italien  dem  ,.Pastor  fido"  gleich  geschätzten,  Schäfer- 
schauspiel „La  Filii  di  Sciro"  von  Guidobaldo  Bonarelli  (1563  —  1608) 
gearbeitet.     Auch  nach  Pichous  Tod  standen  seine  Stücke  noch  längere 


1)  Rotrou,  Doristee,  I,  3,  97: 

II  s'approche,  et  ma  main,  sensible  ä  cette  injure, 
Sur  sa  joue  aussitöt  imprime  sa  figure. 
Ähnlich  ibid.  II,  5,  35: 

A  ce  mot  il  s'avance  et  d'un  coup  inhumain. 
Sur  ma  joue  innocente  il  imprime  sa  main. 

2)  Vergl.  Les  freres  Parfaict  V,  148.  Titon  du  Tillet,  Le  Parnasse  fran- 
5ais,  p.  234,  u.  I.  Teil  dieses  Werks,  S.  212. 


300 


Zeit  auf  dem  Repertoire  der  französischen  Schauspieltruppen,  wie  uns 
Scudery  in  einem  Lustspiel  mitteilt.^)  Ihre  Sprache  ist  jedoch  schwer- 
fällig, oft  unklar  und  unverständlich,  und  wirkt  durch  die  Jagd  nach 
Pointen  doppelt  ermüdend.-)  Der  Held  des  erstgenannten  Lustspiels, 
Cardenio,  ist  während  zweier  Akte  wahnsinnig  und  behandelt  die  Men- 
schen, die  ihm  in  der  Wildnis  begegnen,  unter  anderen  Sancho  Pansa, 
sehr  unglimpflich.  Der  Wahnsinn  war  damals  ein  beliebtes  Auskunfts- 
mittel der  Dramendichter;  die  Helden  der  Stücke  verfielen  mit  der  größten 
Leichtigkeit  in  diese  Krankheit,  in  der  sie  dann  meist  allerlei  erheiterndes 
Unheil  stifteten,  wurden  aber,  sobald  es  galt,  mit  nicht  minderer 
Schnelligkeit  wieder  geheilt.  Wir  werden  der  Tollheit  als  Lustspielmotiv 
noch  öfter  begegnen. 

Auch  der  Advokat  am  Pariser  Parlament,  Antoine  Marechal,  reihte 
sich  unter  die  Theaterdichter,  doch  datieren  nur  zwei  seiner  Stücke, 
„L'inconstance  d'Hylas"  (1630)  und  „La  soeur  valeureuse"  (1633)  aus 
der  Zeit  vor  dem  „Cid";  seine  meisten  Arbeiten  und  darunter  seine 
besseren  Werke,  wie  „Le  railleur",  erschienen  später  und  weisen  schon 
den  Einfluß  Corneilles  auf.^) 

Bekannter  war  Gautier  de  Costes,  sieur  de  La  Calprenede^) 
(1610 — 1663).  Er  war  auf  dem  Schloß  Toulgon  in  der  Nähe  der  Stadt 
Sarlat  in  der  Dordogne  geboren.  Er  selbst  nannte  sich  gern  einen 
Gascogner,  und  scheint  in  seinem  Charakter  auch  viele  Züge  dieses 
Stamms  gehabt  zu  haben.  Als  adeliger  Junker  kam  er  nach  Paris,  wo 
er  in  die  Leibgarde  des  Königs  trat  und  bald  durch  seine  flinke  Zunge 
und  die  Kunst,  schnurrige  Anekdoten  zu  erzählen,  sich  die  Gunst  der 
Hofdamen  und  der  Königin  erwarb.  Seine  Bildung  hatte  er,  wie  er  in 
der  Widmung  seiner  ersten  Tragödie  erzählt,  hauptsächlich  dem  Amadis 
zu  verdanken,  und  mit  diesem  leichten  ästhetischen  Wissen  ausgerüstet, 
wagte  er  sich  im  Jahr  1635  mit  einem  historischen  Trauerspiel  hervor, 
„La  mort  de  Mithridate".'')  Mithridates  spricht  darin  wie  ein  Capitan 
der  Komödie,  aber  Beweise  von  seiner  Thatkraft  giebt  er  nicht.  Sein 
Sohn  Pharnaces  fällt  von  ihm  ab  und  kämpft  auf  Seiten  der  Römer. 
Das  Stück  läßt  trotz  aller  Schwächen  einiges  Talent  erkennen.  Die 
beiden  Frauenrollen,  die  sich  darin  finden,  erregten  Bewunderung.  La 
Calprenede  zeichnete  die  eine,  Hypsicratee,  die  Gemahlin  des  Mithridates, 
als  eine    Amazone,  die  sich  mutig  in  den  Kampf  stürzt  und  die  Feinde 


1)  Scuderj,  La  comedie  des  comediens.  16.34,  2.  Act. 
^)  Man  sehe  z.  B.  Les  folies  de  Cardenio  I,  3,  5,  wo  Cardenio  in  eil 
Monolog  sagt: 

Que  mon  impatience  eprouvera  d'ennuis 

Et  qu'en  si  peu  de  jours  je  souffrirai  de  nuits! 
oder  als  Beispiel  der  verworrenen  Constructionen :  I,  3,  63: 

Sa  haine  ne  sera  qu'une  heureuse  matiere 

A  la  fidelite  que  je  vous  garde  entiere. 
3)  Parfaict  IV,  496. 
*)  Das  s  in  Costes  ist  auszusprechen. 
^)  Gedruckt  1637  zu  Paris  bei  A.  de  Sommaville. 


301 


in  die  Flucht  schlägt;  die  zweite,  Berenice,  ist  die  sanfte  und  bei  aller 
Milde  doch  feste  Frau  des  Pharnaces.  Trotz  ihrer  Liebe  zu  diesem  folgt 
sie  ihm  nicht.  Sie  bleibt  bei  Mitbridates,  der  in  Sinope  belagert  wird, 
und  die  Unterredung,  die  sie  mit  ihrem  Gatten  hat,  und  in  der  sie  ihn 
von  seinem  verderblichen  Weg  zurückzurufen  trachtet,  galt  als  der  Glanz- 
punkt des  Stücks.  Und  es  liegt  allerdings  eine  gewisse  dramatische 
Kraft  in  ihren  Worten,  wenn  sie  auch  rauh  und  ungelenk  sind. 

„Dir,  meinem  Gatten,  bin  ich  Treue  schuldig, 
Doch  hab'  ich  königlichen  Sinn,  Du  weißts. 


Zieh  hin  bis  in  die  fernsten  Länder,  wo 

Der  Strahl  der  Sonne  kaum  den  Menschen  leuchtet; 

Verbreite  Schrecken  bis  ans  End'  der  Welt, 

Wo  nur  der  Himmel  Deine  Schritte  hemmt; 

Erhebe  Dich  zum  Kampfe  mit  dem  Schicksal, 

Und  siehst  Du  mich  nicht  stets  an  Deiner  Seite, 

Dann  magst  Du  glauben,  daß  ich  Dich  nicht  liebe! 

Doch  wenn  Du  gegen  Deinen  Vater  Dich 

Mit  Rom  verbündest,  nach  dem  Throne  strebst, 

Den  töten  willst,  der  Dir  das  Leben  gab  — 

Soll  ich  auch  dann  dein  Beispiel  noch  befolgen? 

—     —     —     —     —     Ich  flehe 

Für  Deine  Schwestern,  Deinen  Vater,  mich  — 

Doch  mehr  als  für  uns  alle,  flehe  ich 

Für  Dich!"i) 

Pharnaces  kann  nicht  mehr  zurück,  er  ist  in  der  Hand  der  Römer, 
und  so  fällt  der  König  von  Pontus.  Sinope  wird  von  den  Feinden  er- 
stürmt. In  seinem  Thronsaal  zeigt  sich  Mitbridates  im  letzten  Akt,  umgeben 
von  seiner  ganzen  Familie.  Seine  Frau  und  seine  Töchter  flehen  ihn  um 
Gift  an,  das  er  ihnen  auch  endlich  giebt,  und  an  dem  sie  nach  schwerem 
Todeskampf  auf  der  Bühne  sterben.  Auch  Berenice  folgt  ihnen  und 
nimmt  Gift.  Mitbridates  selbst  besteigt  dann  seinen  Thron,  und  läßt 
sich  von  einem  getreuen  Diener  in  dem  Augenblick  durchbohren,  da 
Pharnaces  auf  der  Schwelle  erscheint.  Natürlich  wirkt  dieser  Anblick  er- 
schütternd auf  den  Empörer  und  auch  dieser  will  sich  umbringen,  wird 
aber  noch  rechtzeitig  zurückgehalten,  und  damit  endet  das  Stück. 


^)  La  Calprenede,  La  mort  de  Mithridate  III,  3 : 
Berenice : 
Je  sais  ce  que  je  dois  ä  la  foi  conjugale, 
Mais  Sache  que  mon  äme  est  une  äme  royale. 

Va  porter  la  terreur  aux  lieux  plus  retires 
Que  le  flambeau  du  jour  ait  eneor  eclaires. 
Rends  des  cieux  seulement  tes  conquetes  bornees, 
Arme-toi,  si  tu  veux,  contre  les  destinees : 
Et  si  tu  ne  me  vois  compagne  de  tes  pas, 
Publie  hardiment  que  je  ne  t'aime  pas. 
Mais  servir  les  Romains  contre  ton  propre  pere 
Usurper  par  sa  mort  un  tröne  hereditaire. 


302 

Ermutigt  von  dem  Erfolg  seines  ersten  Versuchs,  verfaßte  La 
Oalprenede  im  Jahr  1636  —  dem  Jahr  des  „Cid"  —  eine  Tragikomödie: 
„Bradamante",  die  überaus  schwach  war,  und  im  nächsten  Jahr  ein 
nicht  minder  trauriges  Schäferdrama  voll  Affektion  und  hohler  Phraseo- 
logie: „Clarionte".  Prinz  Fidamant  von  Majorka  bemerkt  in  einem 
wilden  Wald  Inschriften  auf  einem  Felsen,  und  weiterhin,  in  Baumrinden 
eingeschnitten,  Verse,  in  welchen  eine  unglückliche  Seele  den  Wanderer 
bittet,  er  möge  sie  nicht  beunruhigen.  Solange  eine  unglückliche  Seele 
noch  zierliche  Verse  in  Baumrinden  schneidet,  sollte  man  denken,  daß 
sie  ihr  Weh  zu  tragen  weiß.  Fidamant  wird  jedoch  von  der  beredten 
Bitte  gerührt,  umsomehr,  als  er  noch  ein  Grabdenkmal  findet  mit  der 
Inschrift : 

Un  Corps  erre  dans  les  deserts 
Dont  l'äme  est  ici  renfermee. 

Das  klingt  wie  ein  Neckrätsel,  aber  die  Aufklärung  wird  bald 
gegeben.  Die  Prinzessin  Rosimene  von  Sardinien  hat  mit  ihrem  Bräutigam, 
dem  Prinzen  Clarionte  von  Corsica,  auf  der  Reise  nach  dessen  Heimat 
Schiffbruch  an  der  Küste  von  Majorka  erlitten.  Auf  dieser  Insel  herrscht 
der  grausame  Brauch,  jedes  Jahr  die  schönsten  Menschen  den  Göttern 
in  feierlichem  Opfer  darzubringen.  Clarionte  ist  ergriffen  worden,  und 
Rosimene,  die  sich  hat  retten  können,  hat  dem  Opfertod  ihres  Geliebten 
aus  der  Ferne  beigewohnt.  Ihm  gilt  das  Denkmal.  In  einem  Monolog 
giebt  Rosimene  ihrem  Kummer  Ausdruck,  und  wendet  sich  an  ihre 
Augen : 

Ihr,  meines  grausen  Unglücks  erster  Anstoß, 

Vergießt  ihr  Augen,  all  mein  Herzenbliit! 

Und  wenn  mein  Blut  euch  nicht  genügen  kann. 

Gebt  noch  mein  Herz  —  doch  nein,  ihr  könnt  es  nicht'). 

In  diesem  Ton  geht  es  fort,  bis  der  fünfte  Akt  zu  einem  glück- 
lichen Ende  führt ;  denn  Clarionte,  der  heiß  beweinte,  ist  nicht  geopfert 
worden,  sondern  findet  nach  mancherlei  Abenteuern  seine  Rosimene 
wieder.  Von  den  anderen  Dramen  La  Calprenedes  ist  noch  der  „Comte 
4'Essex"  zu  nennen,  der  1639  aufgeführt  wurde  ,  und  als  des  Dichters 
beste  Arbeit  galt.  Mit  ihm  aber  stehen  wir  schon  in  der  folgenden 
Periode,  in  der  Corneille  unbestritten  die  Führerschaft  hat.  Wir  werden 
von  Calprenede  noch  zu  reden  haben,  da  er  sich  später  vom  Theater 
abwandte  und  durch  mehrere  Romane  hohen  Ruhm  bei  seinen  Zeitgenossen 
erwarb. 


Tenir  le  jour  de  lui,  le  lui  vouloir  öter, 
Juges-tu  qu'en  cela  je  te  doive  imiter? 

Je  parle  pour  tes  soeurs,  pour  ton  pere  et  pour  moi, 
Et  bien  plus  que  pour  nous,  je  deraande  pour  toi. 
1)  La  Calprenede,  Clarionte  I,  2. 

Vous,  les  Premiers  auteurs  de  ma  perte  funeste, 
Versez,  mes  yeux,  versez  tout  le  sang  qui  me  reste. 
Et  si  memo  mon  sang  ne  le  contente  pas, 
Donnez  encor  mon  coeur,  mais  vous  ne  pouvez  pas. 


303 

Größere  Aufmerksamkeit  als  die  eben  Genannten  verdienen  Du  Ryer 
und  Rotrou ,  welche  neben  Corneille  auch  später  mit  Erfolg  ihre  Dich- 
tungen aufführen  ließen.  Besonders  Rotrou  war  mit  Corneille  befreundet. 
Anfangs  arbeitete  er  in  der  gewöhnlichen,  bereits  geschilderten  Weise, 
bald  aber  beugte  er  sich  willig  vor  der  Größe  seines  Freundes  und  suchte 
ihm  zu  folgen.  Du  Ryer  und  Rotrou  werden  wir  noch  später  begegnen. 
Hier,  wo  es  zunächst  gilt,  den  Zustand  des  Theaters  und  den  Charakter 
der  dramatischen  Dichtung  vor  dem  Erscheinen  des  „Cid"  zu  schildern, 
müssen  wir  uns  vor  allem  mit  Scudery  und  Tristan  l'Hermite  be- 
schäftigen. 

Scudery  hat  es  verstanden,  die  Aufmerksamkeit  seiner  Zeitgenossen 
zu  erzwingen.  Obwol  er  weniger  poetische  Begabung  hatte,  als  mancher, 
der  vor  ihm  zurückstehen  mußte,  verstand  er  es  doch,  sich  geltend  zu 
machen ,  und  sich  sogar  ein  Plätzchen  in  der  Litteraturgeschichte  zu 
sichern.  Er  machte  zu  rechter  Zeit  so  gewaltigen  Lärm,  dass  man  ihn 
weithin  hören  mußte. 

Scudery  stammte  aus  einer  adeligen  Familie,  die  in  dem  Städtchen 
Abt  in  der  Provence  ihren  Sitz  hatte.  Der  Vater  war  Soldat  im  Dienst 
des  Königs,  und  sein  Beruf  führte  ihn  nach  Le  Hävre  in  der  Normandie, 
wo  er  sich  mit  einem  Fräulein  aus  wohlhabender  Familie ,  der  Tochter 
eines  Herrn  de  Brilly,  vermählte.  Dort  wurde  ihm  auch  das  Geschwister- 
paar geboren,  das  die  Litteratur  des  17.  Jahrhunderts  mit  mannigfachen 
Werken  bereichern  sollte  und  lange  Zeit  sich  im  Glanz  des  Ruhms  und 
der  Popularität  sonnen  durfte. 

Georges  de  Scudery,  der  ältere,  erblickte  das  Licht  der  Welt  im 
Jahr  1601  und  lebte  bis  1667;  seine  um  sechs  Jahre  jüngere  Schwester 
Madeleine  sah  noch  den  Beginn  des  folgenden  Jahrhunderts  (1607 — 1701). 
Georges,  mit  dem  wir  es  hier  zunächst  zu  thun  haben,  war  trotz  seiner 
Geburt  auf  normannischem  Boden  ein  echter  Südländer :  sanguinisch, 
schlagfertig  und  schnellen  Geistes.  Das  rege  Treiben  der  Handelswelt, 
der  Blick  auf  die  weite  See ,  die  wechselnden  Scenen  im  Hafen  seiner 
Geburtsstadt  mögen  bei  ihm  den  Hang  zum  Abenteuerlichen  und  Roman- 
tischen,  der  ihn  charakterisiert,  noch  besonders  verstärkt  haben.  In 
seinem  Auftreten  erinnerte  er  gelegentlich  wol  an  den  Capitan  der  Komödie. 

Dem  Beispiel  seines  Vaters  folgend,  nahm  er  in  seiner  Jugend 
Kriegsdienste  und  trat  in  die  königliche  Garde  ein.  Von  seinen  Kriegs- 
thaten  wissen  wir  nicht  viel ;  Scudery  spricht  zwar  gern  und  oft  von 
ihnen  in  seinen  Schriften,  doch  hält  er  sich  in  Allgemeinheiten,  um  der 
Phantasie  seiner  Freunde  keinen  Zwang  aufzuerlegen.  Jedenfalls  ver- 
zichtete er  frühzeitig  auf  militärischen  Ruhm,  denn  er  verließ  den 
Dienst  schon  im  Jahr  1630,  um  sich  ausschließlich  der  Dichtkunst  zu 
widmen.  Mit  wahrem  Heldenmut  stürzte  er  sich  auf  das  Drama,  und 
verfertigte  im  Lauf  von  acht  Jahren  (1629 — 1636)  zehn  Tragödien, 
Komödien  und  Schäferschauspiele.  Bald  stand  er  in  der  ersten  Reihe 
der  Dichter,  die  um  jene  Zeit  für  die  Bühne  arbeiteten.  Als  er  sein 
Lustspiel   „Le  trompeur  puni"   im  Druck  herausgab,  zierte  er  das  Buch- 


304 


lein  mit   seinem  Bildnis  ,    um  welches  die    bescheidenen  Worte   zu  lesen 
waren : 

Et  poete  et  guerrier 

II  aura  du  kurier,  i) 

Zwar  bemühte  er  sich,  auf  den  litterarischen  Ruhm,  den  er  erwarb, 
geringschätzend  herabzublicken ;  denn  als  ritterlicher  Herr  hielt  er  es 
für  seine  Pflicht,  jegliche  Gelehrsamkeit  zu  verachten,  und  umsomehr 
auf  seine  Kriegsthaten  zu  pochen.  Ein  rechtschaffen  gesinnter  Junker 
durfte  nicht  viel  gelernt  haben,  und  wenn  dies  ausnahmsweise  doch 
einmal  der  Fall  war,  mußte  er  sein  Wissen  wenigstens  zu  verbergen 
suchen.  So  rühmt  sich  denn  auch  Scudery  in  der  Vorrede  zu  „Lygdamon" 
seiner  Unwissenheit  und  prahlt,  er  habe  mehr  Lunten  als  Kerzen  ver- 
verbrannt.-) Die  Großsprecherei  war  ein  Hauptzug  in  seinem  Charakter. 
Darum  betonte  er  auch  in  der  erwähnten  Vorrede,  daß  er  sein  Werk 
dem  Buchhändler  überlassen,  aber  nicht  verkauft  habe.  Ein  solcher 
Handel  schien  in  jenen  Kreisen  unwürdig .  während  es  für  anständig 
galt,  für  die  Widmung  eines  Gedichts  von  einem  hohen  Herrn  ein 
huldvolles  Geschenk  anzunehmen. 

Wie  Scudery  als  Raufbold  gegen  Corneille  auftrat,  als  er  sich  durch 
den  Erfolg  des  „Cid"  in  seinem  Ruhm  bedroht  hielt,  wird  noch  aus- 
führlich berichtet  werden.  Die  anfängliche  Freundschaft  der  beiden  Männer 
verwandelte  sich  in  unversöhnliche  Abneigung.  Wir  haben  indessen 
keinen  Grund ,  neben  der  Eifersucht  noch  gemeine  Beweggründe  für 
diese  Kampfeslust  bei  Scudery  vorauszusetzen .  und  etwa  zu  glauben, 
daß  er  sich  die  Gunst  Richelieus  habe  erwerben  wollen.  Was  man 
sonst  vom  Charakter  Scuderys  weiß,  berechtigt  nicht  zu  solcher  Hypo- 
these. Er  war  einer  der  wenigen,  welche  Theophile  de  Viau  in  seinem 
Unglück  nicht  verließen  und  sich  nicht  scheuten,  ihre  Freundschaft 
für  ihn  offen  zu  zeigen.  Wenige  Jahre  nach  dem  Tod  des  unglücklichen 
Dichters  besorgte  er  eine  Ausgabe  seiner  Werke,  mit  einem  von  ihm 
verfaßten  Gedicht,  ,,Le  tombeau  de  Theophile",  als  Einleitung.^)  Ebenso 
erzählt  man  von  seinem  uneigennützigen  und  charakterfesten  Verhalten 
gegenüber  der  Königin  Christine  von  Schweden,  die  ihn  durch  das  Ver- 
sprechen eines  hohen  Geschenks  veranlassen  wollte,  den  Namen  eines 
ihi-  mißliebig  gewordenen  Grafen  de  la  Gardie  aus  seinem  Epos  „Alaric" 
zu  streichen.     Scudery  antwortete  auf    diese  Mitteilung   in    seiner  hoch- 

')  Le  trompeur  puni  ou  rhistoire  septentrionale.  Tragicomedie  par  Mr. 
de  Scudery.  A  Paris  1635,  chez  Antoine  de  Sommaville  in  4". 

^)  Preface  zu  „Lygdamon":  „...  La  profession  que  je  fais,  etant  toute 
pleine  de  franchise,  m'oblige  ä  porter  le  coeur  sur  les  levres  et  ä  t'avertir  que 
dans  la  musique  des  sciences  je  ne  chante  que  par  natura."  Vergl.  oben  S  264  ff. 
Cyrano  Bergerac  läßt  in  seinem  „Pedant  joue"  (I,  1)  den  renommistischen  Junker 
Chateaufort  ausrufen:  „Des  lettres!  Ah,  que  me  dites-vous?  des  ämes  de  terre 
et  de  boue  pourroient  s'amuser  ä  ces  vetilles,  mais  pour  moi  je  n'ecris  que  sur 
les  Corps  humains". 

3)  Über  Theophile  s.  Teil  I,  S.  201.  Die  von  Scudery  besorgte  Ausgabe  der 
Werke  Theophiles  erschien  1632  zu  Eouen. 


305 


trabenden  Manier,  daß  er  den  Altar,  auf  dem  er  einmal  geopfert  habe, 
nicht  zerstören  könne.  Aber  von  dem  Pathos  abgesehen ,  muß  der  Zug 
bei  Scudery  umsomehr  gefallen,  als  der  Dichter  durchaus  nicht  in 
glänzenden  Verhältnissen  gelebt  zu  haben  scheint.') 

Mit  seiner  thörichten  Feindschaft  gegen.  Corneille  hat  sich  Scudery 
selbst  sehr  geschadet,  und  eine  vorurteilsfreie  Prüfung  seiner  Leistungen 
erschwert.  Als  Corneilles  Ruhm  einmal  feststand,  sah  man  in  Scudery 
nicht  mehr  einen  litterarischen  Gegner,  sondern  nur  noch  einen  klein- 
lichen Xeider.  und  die  neue  litterarische  Schule,  die  von  Boileau  geführt 
wurde,  sah  in  ihm  den  Sündenbock,  an  dem  sie  ihren  Mut  kühlen 
konnte,  und  der  für  alle  Kollegen  büßen  mußte.  Scudery  war  nicht 
besser  und  nicht  schlechter,  als  mancher  andere  Dichter  jener  Zeit,  der 
unangefeindet  blieb.  Aber  freilich,  niemand  wußte  auch,  so  wie  Scudery. 
durch  sein  Auftreten  den  Spott  zu  wecken  und  die  Kritik  zu  reizen, 
Einer  der  Getreuen  des  Hauses  Rambouillet,  in  dem  seine  Schwester 
Madeleine  besonders  gern  gesehen  war,  erhielt  er  auf  Verwendung  der 
Marquise  im  Jahr  164o  von  der  Königin-Regentin  den  Posten  eines 
Gouverneurs  von  Notre-Dame  de  la  Garde  bei  Marseille.  Das  brachte 
ihm  wol  nur  eine  kleine  Besoldung,  aber  statt  so  wenig  als  möglich 
davon  zu  reden,  erlaubte  er  sich,  gelegentlich  eine  übertriebene  Schilde- 
rung des  genannten  Forts  zu  geben;  dafür  brachten  nun  ein  paar  gute 
Freunde,  Chapelle  und  Bachaumont,  in  ihrem  witzigen  Reisebericht  aus 
dem  Süden  von  Frankreich  eine  boshafte  Beschreibung  dieses  wichtigen 
Postens.  Auf  der  Anhöhe,  die  sich  südlich  von  Marseille  erhebt,  und 
von  der  sich  ein  bezaubernder  Rundblick  auf  die  alte,  geschäftseifrige 
Phokäerstadt  und  das  blaue  Mittelmeer  eröffnet,  steht  heute  eine  präch- 
tige Kirche,  welche  den  proveu9alischen  Schiffern  von  weitem  schon  als 
Wahrzeichen  und  hoffnungskündender  Gruß  der  Heimat  erscheint.  Damals 
erhob  sich  dort  ein  von  Franz  I.  erbautes  Fort,  welches  eine  alte,  aus 
dem  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  stammende  Kapelle  umschloß.  Das 
Fort  mag  verfallen  gewesen  sein,  aber  die  beiden  Reisenden  übertreiben 
absichtlich,  wenn  sie  auf  der  Höhe  nur  einen  verfallenen  Turm  ge- 
funden haben  wollen,  dessen  Bewachung  einem,  wie  sie  behaupten,  auf 
die  Thür  gemalten  Soldaten  übergeben  gewesen  wäre.  Auch  berichten 
sie  von  der  Inschrift,  die  sie  gelesen  haben  wollen: 

„Portion  de  gouvernement 
A  louer  presentement."^) 


1)  Vergl.  Parfaict,  Eist,  du  th.  fran.;ais,  IV,  439. 

-)  S.  Chapelle  et  Bachaumont,  Oeuvres.  Nouvelle  edition,  precedee  d'une 
notice  par  M.  Tenant  de  Latour.  Paris  1854,  chez  P.  Jannet.  (Bibliotheque 
elzevh-iennej,  p.  89: 

G'est  Notre-Dame  de  la  Garde, 
Gouvernement  commode  et  beau, 
A  qui  suffit,  pour  toute  garde, 
Un  Suisse  avee  sa  hallebarde, 
Peint  sur  la  porte  du  ehäteau. 


Gesch.  d.  franz.  Litteratu 


306 


Doch  stammt  diese  Satire  erst  aus  späterer  Zeit  (1656),  uiid 
Scuderys  Ruf  als  Dichter  blieb  lange  unangetastet.  Noch  im  Jahr  1650 
wurde  ihm  die  Ehre  zu  Teil,  in  die  Akademie  berufen  zu  werden.  Um 
diese  Zeit  fällt  aber  auch  ein  Wendepunkt  in  seinem  Leben.  In  den 
Unruhen  der  Fronde  stellte  er  sich  auf  die  Seite  des  revoltierenden 
Adels,  und  wurde  dafür  nach  dem  Sieg  der  königlichen  Partei  auf  einige 
Jahre  in  die  Normandie  verwiesen.  Er  hatte  gerade  ein  Epos,  „Alaric", 
veröffentlicht,  mit  dem  er  neue  Lorbeeren  zu  gewinnen  hoffte  und  mußte 
nun  seinen  Gegnern  den  Platz  räumen.  Als  er  nach  einigen  Jahren 
(1661)  die  Erlaubnis  erhielt,  nach  Paris  zurückzukehren,  fand  er  die 
Verhältnisse  sehr  zu  seinen  Ungunsten  geändert.  Der  König  bewilligte 
ihm  zwar  eine  Pension,  aber  die  Anerkennung,  die  ihm  früher  nie  ge- 
fehlt hatte,  fand  sich  nicht  wieder  ein.  Das  Eeich  der  Precieusen  war 
bedroht;  der  Geschmack  stand  im  Begriff,  eine  entschiedene  Wandlung 
zu  machen.  Eine  neue  Schule  erhob  in  der  Litteratur  ihr  Haupt,  und 
man  sprach  von  kecken  jungen  Männern,  von  Boileau,  Moliere  und 
anderen,  die  es  wagten,  Autoritäten  wie  Chapelain  und  Scudery  zu  ver- 
spotten.^) 

Uns  gilt  es  hier  zunächst,  Scudery  als  dramatischen  Dichter 
kennen  zu  lernen,  und  zwar  wollen  wir  die  Schauspiele  prüfen,  die  er 
in  seiner  Jugend  im  Wettstreit  mit  Corneille  vor  dessen  ,.Cid"  ver- 
faßte. 2) 


Aussi  voyons-nous  que  nos  reis, 
En  connoissant  bien  rimportance, 
Pour  le  confier  ont  fait  choix 
Toujours  de  gens  de  eonsequence, 
De  gens  pour  qui,  dans  les  alarmes, 
Le  danger  auroit  eu  des  charmes, 
De  gens  prets  ä  tout  hasarder, 
Qu'on  eüt  vu  longtemps  Commander, 
Et  dont  le  poil  poudreux  eüt  blanchi  sous  les  armes. 

Nach  diesen  beißenden  Versen  fahren  die  Eeisenden  in  Prosa  weiter 
fort:  „Une  description  magnifique,  qu'on  a  faite  aut.refois  de  cette  place,  nous 
donna  la  curiosite  de  Taller  voir.  Nous  grimpames  plus  d'une  heure  avant  que 
d'arriver  ä  l'extremite  de  cette  montagne,  oii  l'on  est  bien  surpris  de  ne  trouver 
qu'une  mechante  masure  tremblante,  prete  ä  tomber  au  premier  vent.  Nous 
frappämes  ä  la  porte,  mais  doucement  de  peur  de  la  jeter  par  terre,  et  apres 
avoir  heurte  longtemps,  sans  entendre  meme  un  chien  aboyer  sur  la  tour, 

Des  gens  qui '  travaillaient  lä  proche 
Nous  dirent:  Messieurs,  lä  dedans 
On  n'eutre  plus  depuis  longtemps. 
Le  gouverneur  de  cette  röche, 
Retournant  en  cour  par  le  coche, 
A  depuis  ehviron  quinze  ans 
Empörte  la  cle  dans  sa  poche." 

1)  Man  vergl.  noch  Parfaict  IV,  430.  Niberon,  Memoires,  t.  XV. 

2)  Folgendes  ist  die  Liste  dieser  Dramen:  1629:  Lygdamon  et  Lydias 
ou  la  ressemblance,  tragicomedie ;  1631:  Le  trompeur  puni  ou  l'histoire  septen- 
trionale,  tragicomedie;  1632:  Le  vassal  genereux,  tragicomedie;  1634:  La  comedie 
des  comediens,  poeme  de  nouvelle  invention;  1835:  Orante,  tragicomedie;  Le  fils 


307 

Sein  erstes  Stück  war  „Lygdamon".  Er  dramatisierte  darin  eine 
Episode  der  „Asträa",  und  in  dem  Vorwort,  mit  welchem  er  es  be- 
gleitete, als  es  im  Druck  erschien,  brüstete  er  sich  mit  dem  großen 
Erfolg,  den  seine  Dichtung  bei  Hof  und  bei  den  öffentlichen  Vorstel- 
lungen gefunden  hätte.  Sein  nnchstes  Stück,  „Le  trompeur  puni",  hat 
er  gar  aus  zwei  verschiedenen  Erzählungen  zusammengesetzt.  Er  be- 
nutzte abermals  eine  Erzählung  in  „Asträa"  und  erweiterte  sie,  indem 
er  eine  Geschichte  aus  „Polexandre'",  einem  Roman  Gombervilles,  mit 
einflocht.  ^)  Doch  gelang  es  ihm  nicht,  diese  beiden  Teile  zu  einem  wirk- 
lichen Ganzen  zu  verschmelzen.  Die  Manier  des  ..Lygdamon"  und  des 
„Trompeur"  ist  dieselbe;  sie  erinnert  noch  an  die  Hardy'sche  Weise, 
obwol  sich  Scudery  auch  öfters  in  geziertem  Wesen  gefiel,  und  man  ihm 
Marinismus  vorwarf.")  Da  Scudery  aber  auch  noch  später  auf  das  zweite 
der  genannten  Stücke  als  eine  ganz  besonders  gelungene  und  beliebte 
Dichtung  pochte,  so  wollen  wir  es  etwas  eingehender  betrachten.  Die 
Vergleichung  der  Jugendwerke  Corneilles  mit  den  Stücken  der  gleich- 
zeitigen Dichter  wird  dadurch  wesentlich  gefördert. 

Der   „Trompeur"    spielt    in    den   ersten    drei   Akten    am  Hof   des 
Königs  von  England.     Eine  edle  Dame,    Neree,    und    der  nicht    minder 
edle  Arsidor  sind  durch  innige  Liebe  miteinander  verbunden.    Doch  ein 
anderer  Ritter,    Cleonte,    giebt   deshalb   die  Hoffnung   nicht   auf,    Neree 
für   sich    zu    gewinnen,    und   sollte   er    auch    falsche   Mittel    anwenden. 
Einsam    irrt  er  in  dem  Wald  umher,    ein   klagender  Celadon:    er  weint 
und  denkt  dabei  an  die  Überraschung  der  Göttin  Thetis,  wenn  sie  das 
Wasser  des  Bachs,  an  dessen  Ufern  er  wandelt,  mit  einem  Mal  salziger 
finde    als   die  Woge   des  Meers.     Zu   seiner  Freude    sieht   er    die  Dame 
seines  Herzens  mit  ihrer  Vertrauten,   Glarine,  nahen.    Es  entspinnt  sich 
zwischen    ihnen    ein    scharfes   Wortgefecht.     jSTeree    weist   Cleonte    ent- 
schieden ab,    und  dieser  beschließt  nun,    sich  des  edlen  Wilds  mit  List 
zu  bemächtigen.  Darauf  kommt  Arsidor,  der  in  süßem  Liebesflehen  sich 
an    seine   Dame    wendet,    während    Cleonte    bescheiden    mit    der   Gesell- 
schafterin zur  Seite  tritt.     Arsidors  Schweichelworte   sollen  Neree  sehn- 
süchtig stimmen  und  sie  seinen  Wünschen  willfährig  machen: 
„Komm,  schöne  Göttin,  blick  in  diese  Quelle, 
Wo  sich  der  Bäume  zarte  Linien  spiegeln; 
Gestatte,  daß  in  dieses  Baches  Silber 
Mit  eras'ger  Sorge  reines  Gold  ich  mische, 
Netzt  hochbeglückt  die  Woge  Deine  Locken, 
Glänzt  sie  dem  Sand  gleich,  den  der  Tajo  führt."^) 


suppose,    comedie;    Le  prince  deguise,    tragicomedie;    1G36:    La  mort  de  Cesar, 
tragedie;  Didon,  tragedie;  L'amant  liberal,  tragicomedie. 
ij  Über  Gomberville  s.  I.  Teil,  S.  148. 

-)  Siehe  „Lettre  du  desinteresse  au  sieur  Mairet"  in  dem  Streit  über  den 
„Cid".  Der  Verfasser  sagt  in  jener  Schrift:  „je  ne  bläme  pas  Mr.  de  Scudery 
de  savoir  si  bien  son  cavalier  Marin". 

3)  Le  trompeur  puni,  I,  3,  19  ff.: 

Viens,  ma  belle  deesse,  et  vois  dans  cette  fontaine, 
Ces  arbres  d'alentour  tracer  leur  ombre  vaino; 

20* 


308 


Neree  widersteht,  aber  Arsidor  wird  dadurch  umso  wärmer.  Er 
will  sie  in  eine  verschwiegene  Grotte  geleiten: 

Sieh  alle  Tiere,  die  im  Walde  leben, 
Die  in  der  Luft,  die  in  dem  Meere  wohnen, 
Kurz  alles,  was  sich  regt  auf  dieser  Welt, 
Und  sei  es  wilder,  finst'rer  als  das  Meer  — 
Zur  Liebe  zwingt  sie  alle  die  Natur! 
Blick  hin  auf  diesen  Stein,  den  liebevoll 
Mit  hundert  Armen  jetzt  der  Epheu  hält. 
Sieh  diesen  Weinstoek,  dessen  Zweige  zittern. 
Weil  er  die  Trennung  von  den  Ulmen  fürchtet,  i) 

Trotz  dieses  Aufgebots  rhetorischer  Kunst  erlangt  Arsidor  nichts, 
und  Neree  verabschiedet  sich  von  ihm.  Cleonte  aber  beginnt  nun  sein 
trugvolles  "Werk.  Er  tritt  zu  Arsidor  heran,  lächelt  mitleidig  über  dessen 
Liebeswerbuug  und  rühmt  sich  endlich  der  Gunst,  mit  der  ihn  Neree 
beglücke.  Sie  habe  ihm  sogar  versprochen,  ihn  die  nächste  Nacht  in  ihr 
Haus  einzulassen,  und  er  lädt  seinen  bestürzten  Freund  ein,  sich  zur 
bestimmten  Stunde  von  der  Wahrheit  dieser  Mitteilung  zu  überzeugen; 
er  werde  sehen,  wie  das  Thor  sich  ihm  öffne.  Eine  kleine  Zwischen- 
scene  führt  darauf  an  den  Hof  des  Königs  von  Dänemark,  der  seinen 
Willen  kund  thut,  eine  Botschaft  nacli  England  zu  senden  und  für  Al- 
candre,  den  er  vor  allen  seinen  Eittern  liebt  und  der  solche  Zuneigung 
verdient,  bei  seinem  königlichen  Bruder  um  die  Hand  ISTerees  zu  bitten. 
Dann  aber  führt  die  Handlung  gleich  wieder  nach  England  zurück,  in 
die  Wohnung  Nerees,  die  sich  rüstet,  zum  Schloß  des  Königs  zu  fahren, 
wo  sie  erwartet  wird.^)    Der  Schluß   des  Akts    zeigt   dann    Cleonte  und 


SoufFre  qu'en  ce  ruisseau.  par  un  soin  diligeut 
Je  fasse  parmi  l'or  distiller  de  Targent, 
Que  lavant  tes  cheveux,  cette  onde  ait  l'avantage 
De  prendre  la  couleur  du  beau  sable  de  Tage. 
Die  Verse  machen  einen  doppelt  peinlichen  Eindruck,    weil  ein  gezierter 

Gedanke  in  unbeholfener  Sprache  ausgedrückt  ist. 
1)  Le  trompeur  puni,  I,  3: 

Vois  tous  les  animaux  qui  vivent  dans  les  bois, 
Ceux  qui  volent  en  l'air,  ceux  qui  nageut  en  l'onde, 
Bref,  tous  les  habitants  qui  demeurent  au  monde, 
Fussent-ils  plus  cruels  et  plus  sourds  que  la  mer, 
La  nature  les  pousse  et  les  force  d'aimer. 
Tourne,  tourne  les  yeux,  regarde  cette  pierre, 
Qu'etreint  avec  cent  bras  uu  amoureux  lierre; 
Vois  cette  vigne  ici,  dont  les  faibles  rameaux 
Tremblent,  de  peur  qu'elle  a  de  quitter  ses  ormeaux. 
-)  Le  trompeur  puni,  I,  6.    Scudery  bemüht  sich,    die  Scene  zu  beleben 

und  den  Dialog  der  Unterhaltung  des  wirklichen  Lebens  zu  nähern.  Die  Scene 

schließt  mit  den  Versen: 

Clarine: 
„Oyez,  que  le  cocher,  pratiquant  sa  seience, 
Fait  preuve  ä  coup  de  fouet  de  son  impatience, 
Craignons  de  le  fächer,  ces  gueux  sont  arrogants." 

N  e  r  e  e : 
„^'a,  ma  coiffe,  raon  masque,  un  mouchoir  et  des  gants."* 


309 


Arsidnr  auf  der  Straße  vor  dem  Haus  der  Neree.  Es  ist  dunkel,  und 
Arsidor  muß  sich  in  gebührender  Entfernung  halten.  Cleonte  giebt  ein 
Zeichen  und  tritt  dann  unter  das  Thor,  aber  nur  um  sich  im  Schatten 
der  Nacht  unbemerkt  davon  zu  schleichen.  Arsidor,  leichtgläubig,  wie 
die  Liebhaber  dei'  damaligen  Komödie  nun  einmal  sein  müssen,  ist  von 
dem  Leichtsinn  und  der  Untreue  der  Geliebten  überzeugt  und  flucht  ihr 
in  absonderlicher  Weise.') 

Alle  diese  Vorgänge  finden  sich  in  dem  ersten  Akt  zusammen- 
gedrängt. Der  folgende  enthält  zunächst  nur  Liebesklagen.  Zuerst  hören 
wir  Neree,  die  sich  das  Benehmen  Arsidors  nicht  erklären  kann.  Sie 
begreift  nicht,  warum  er  sie  vermeidet,  und  in  ihrer  Bekümmernis  er- 
geht sie  sich  in  den  landläufigen  schwärmerischen  Redensarten  von  dem 
Bach,  den  sie  mit  ihren  Thränen  schwellen  machen  wird,  daß  er  schneller 
fließe.  Ja,  sie  bedroht  das  arme  Wasser  mit  dem  Tod  durch  das  Feuer 
ihrer  Liebe.^)  Nicht  minder  geziert  und  für  uns  ergötzlich  ist  ein  Monolog 
Arsidors,  der  in  bewegten  Stanzen  erklärt,  daß  er  Neree  nicht  mehr 
lieben  will  und  doch  fühlt,  daß  er  nicht  von  ihr  lassen  kann.  „Du  un- 
beherztes Herz!"  ruft  er  aus,  „Du  bist  so  schwacli,  daß  ich  vergebens 
Dich  zu  heilen  suche.  So  verlaß  mich  denn,  zieh  hin,  eile  ihr  nacb,  der 
Undankbaren,  die  Dich  verwundet  hat!'-^)  Wie  weit  scheinen  wir  hier 
noch  von  dem  wahren  Drama  entfernt  zu  sein! 

Bis  dahin  ist  nur  Arsidor  durch  die  Kunst  Cleontes  umgarnt 
worden;  jetzt  soll  auch  Neree  an  die  Untreue  ihres  Geliebten  glauben. 
Cleonte  erzählt  seinem  Freund,  der  König  wünsche  einer  ihm  teueren 
Dame  zu  schreiben  und  ihr  zu  danken  für  alle  Liebe  und  Güte,  die  sie 
ihm  bewiesen  habe.  Diesen  Brief  zu  verfassen,  habe  er  Auftrag  erhalten 
und  er  wisse  sich  nicht  zu  helfen.  Arsidor.  der  ein  guter  Stilist  zu  sein 

^)  Le  trompeur  puni,  I,  7,  am  Schhili: 

Et  conjure  le  ciel  de  chätier  tes  ruses, 
Et  qu'au  bout  de  ueuf  mois  toi-meme  tu  t'accuses. 
-)  Le  trompeur  puni,  II,  1,  ;^1  ff.: 

Ruisseau  qui  murmurez,  si  c'est  de  mon  audace, 
Gardez  d'en  gazouiller  quand  mon  Arsidor  passe, 
Et  si  tu  fuis  d'ici  de  peur  d'en  discourir. 
Je  verserai  des  pleurs  pour  t'aider  ä  courir: 
Mais  si  ton  tiot  ne  coule  et  ne  se  precipite, 
Que  pour  voir  mon  amant  en  son  humeur  depite. 
Je  jure  qu'aussitöt  comme  tu  l'auras  dit, 
Si  le  feu  dessus  Teau  peut  avoir  du  credit, 
Que  celui  dont  je  sens  la  force  souveraine 
Briilera  tes  poissons  jusqu'au  fond  de  l'arene. 
Nach  solchen  Reden  fallen  Ausdrücke  wie  der  folgende  (II,  1,  4)  in  dem 
Mund  Nerees  umso  stärker  auf: 

Je  ne  saurais  trouver  quelle  mouche  le  pique. 
•■j  Le  trompeur  puni,  II,  3,  fünfte  Strophe: 

Coeur  Sans  coeur,  rempli  de  faiblesse, 
Que  je  täche  en  vain  de  guerir, 
Sors,  quitte-moi,  va-t-en  courir 
Apres  ringrate  qui  te  blesse. 


310 


scheint,  schreibt  ihm  den  gewünschten  Brief,  welcher,  wie  man  gleich 
ahnt,  in  einer  der  nächsten  Scenen  bei  Xeree  als  Beweismittel  gegen 
den  Schreiber  dient.  So  ist  die  Erbitterung  endlich  gegenseitig.  Im 
dritten  Akt  erscheint  Neree  sehr  leidend.  Bei  Arsidor  siegt  das  Mitleid 
über  den  Unwillen;  er  besucht  die  Kranke,  die  er  einst  so  heiß  geliebt, 
und  die  Mißverständnisse  klären  sich  schnell  auf.  Arsidor  fordert  nun 
den  falschen  Freund  zum  Zweikampf  und  ersticht  ihn.  Der  Betrüger  ist 
bestraft  und  das  Stück  könnte  somit  schließen.  Eine  neue  Geschichte 
reiht  sich  aber  in  den  folgenden  Akten  an ,  welche  die  ferneren  Prü- 
fungen des  Liebespaars  schildern.  Denn  während  Arsidor  wegen  seines 
Duells  nach  Dänemark  flüchtet,  wird  Neree  trotz  ihres  Sträubens  auf 
Befehl  des  Königs  dem  dänischen  Gesandten  als  Braut  für  Alcandre  mit- 
gegeben. Arsidor  hat  bei  einem  armen  Wirt  Unterkunft  gefunden.  Er 
ergeht  sich  beim  Beginn  des  vierten  Akts  in  einem  Wald  und  hängt 
seinen  düsteren  Gedanken  nach,  die  er  in  einem  Monolog  mitteilt.  Er 
hat  von  dem  Verlöbnis  Nerees  gehört  und  plant  den  Tod  seines  Eivalen. 
Sein  Sinnen  wird  durch  eine  Kampfscene  unterbrochen;  Arsidor  bemerkt 
einen  Eitter,  der,  von  Bewaffneten  überfallen,  nahe  daran  ist,  zu  unter- 
liegen, eilt  ihm  zu  Hilfe  und  rettet  ihn.  Der  fremde  Ritter  bittet  um 
die  Freundschaft  seines  Retters,  verspricht  ihm  jegliche  Unterstützung 
seiner  Pläne  und  ersucht  ihn  gelegentlich  um  einen  Besuch  in  der 
Stadt.  Zugleich  schenkt  er  ihm  sein  Bildnis,  damit  sie  sich  leichter 
wieder  erkennen.  Von  dem  Wirt,  dem  er  gleich  darauf  das  Bild  zeigt, 
vernimmt  Arsidor  mit  Schrecken,  daß  er  Alcandre  gerettet  hat.  So  ent- 
spinnt sich  ein  neuer  Konflikt.  Soll  Arsidor  auf  seinen  Mordplänen  be- 
harren? Soll  die  neue  Freundschaft  siegen?  Er  begiebt  sich  in  die  Stadt, 
ohne  einen  festen  Entschluß  gefaßt  zu  haben.  Dort  erwarten  ihn  die 
größten  Ehren,  und  es  kommt  endlich  zu  einer  offenen  Erklärung 
zwischen  den  beiden  Männern.  Alcandre  und  Arsidor  sind  Muster  von 
Edelsinn  und  Ritterlichkeit.  Ein  Wettstreit  entsteht  zwischen  ihnen,  wer 
von  ihnen  sterben  soll,  um  den  andern  glücklich  zu  machen.  Der  natür- 
liche Gedanke,  das  Mädchen  entscheiden  zu  lassen,  kommt  ihnen  nicht. 
Alcandre  hat  die  ihm  bestimmte  Braut  noch  nicht  einmal  gesehen;  an 
ihm  wäre  es  zunächst,  das  Liebesglück  seines  Freundes  nicht  zu  stören. 
Aber  warum  er  deshalb  sterben  will,  das  konnten  nur  die  empfindsamen 
Seelen  jener  Zeit,  die  schwärmerischen  Leser  und  Leserionen  der  Ritter- 
und Schäferromane  des  17.  Jahrhunderts  begreifen.  Genug,  die  beiden 
Freunde  kommen  endlich  überein,  daß  das  Schwert  zwischen  ihnen  ent- 
scheiden soll.  Sie  umarmen  sich  tief  gerührt.  „Adorable  ennemi!"  seufzt 
Arsidor,  und  Alcandre  antwortet  entzückt:  .Rival  que  je  cheris!"  Ja, 
Arsidor  erhebt  sich  zu  dem  Wunsch : 

„Könnt'  eine  Frau  zwei  Gatten  sich  vermählen! 

Das  ist  kein  wahrhaft  Gut,  was  man  allein 

Besitzt."  1) 


^)  Le  trompeur  puni,  V,  3: 

„Que  ne  peut  une  Alle  epouser  deux  maris! 

Le  bien  n'est  pas  vrai  bien  qui  ne  se  communique! 


311 

Alcandre  erwirkt  bei  dem  König  die  Erlaubnis  für  Arsidor,  einen 
ernsten  Zwist  mit  einem  Unbekannten  im  Zweikampf  ausfechten  zu 
dürfen.  In  feierlicher  Versammlung,  welche  der  Herrscher  selbst  mit 
seiner  Gegenwart  beehrt,  erscheinen  zwei  Ritter  mit  herabgelassenem 
Visier.  Der  Kampf  beginnt;  da  strauchelt  der  eine  Kämpfer  und  fällt  zu 
Boden.  Der  andere  will  dem  Zufall  nicht  den  Sieg  verdanken,  er  hält 
inne  und  reicht  seinem  Gegner  das  Schwert  zur  Fortsetzung  des  Kampfes. 
Allein  ein  so  großmütiges  Anerbieten  wird  nicht  angenommen.  Der 
Ritter,  der  zu  Boden  gestürzt  ist,  erklärt  sich  für  überwunden  und 
schlägt  sein  Visier  zurück :  der  König  erkennt  zu  seinem  Schrecken 
Alcandre.  In  diesem  Augenblick  meldet  man  die  Ankunft  Nerees,  die 
man  unterwegs  nur  mit  Mühe  abgehalten  hat,  den  Tod  in  den  Fluten 
zu  suchen.  Der  König  gebietet  Arsidor,  für  einige  Augenblicke  das 
Visier  wieder  zu  schließen,  und  empfängt  Neree  mit  der  Nachricht,  ihr 
Arsidor  sei  im  Kampf  gegen  den  mit  geschlossenem  Visier  dastehenden 
Ritter  gefallen.  Eine  ähnliche  Täuschung  erlaubt  sich  der  König  Don 
Fernand  in  Corneilles  .,Cid".  In  solchen  Scenen,  die  man  aus  den 
Romanen  herübernahm,  fand  man  ein  gutes  Mittel,  noch  vor  dem  Schluß 
des  Stücks  einen  starken  Effekt  anzubringen.  Im  „Cid"  hat  der  König 
indessen  doch  einen  Grund ,  warum  er  sich  den  grausamen  Scherz 
gestattet,  in  dem  Stück  Scuderys  aber  liegt  nicht  der  mindeste  Anlaß 
dazu  vor.  Neree  erklärt  dem  fremden  Ritter  sogleich,  daß  er  ein  Tiger 
sei,  dem  sie  die  Augen  ausreißen  werde,  und  ihre  Überraschung  ist 
groß ,  als  gleich  darauf  Arsidor  sich  zu  erkennen  giebt.  Der  dänische 
König  erklärt,  bei  seinem  „Bruder  von  England"  eine  Fürbitte  für  das 
schwergeprüfte  Paar  einlegen  zu  wollen,  und  für  den  unwahrscheinlichen 
Fall,  daß  die  erbetene  Gnade  nicht  gewährt  werde,  sichert  er  ihm  schon 
jetzt  eine  neue  Heimat  in  seinem  Land  zu.  Er  schließt  mit  den  Worten : 

Et  soyez  un  exemple  a  la  posterite 

De  traverses  d'amour  et  de  prosperite. 

Die  kurze  Inhaltsangabe  des  Stücks  genügt,  die  Manier  Scuderys 
kenntlich  zu  machen.  Wie  der  „Trompeur  puni"  in  seiner  Komposition 
schwach  ist,  so  sind  es  auch  die  anderen  dramatischen  Werke  Scuderys. 
Sie  gefielen  aber  durch  mehrere  Eigenschaften,  die  sie  ihren  Zeitgenossen 
besonders  empfahlen.  Das  große  Publikum  reizten  sie  durch  die  rasche 
Folge  von  überraschenden  Abenteuern  und  spannenden  Ereignissen.  Die 
Energie ,  mit  welcher  der  Verfasser  seine  Stücke  führte ,  wäre  jederzeit 
anzuerkennen,  mußte  aber  damals  doppelte  Wirkung  machen.  Den  Beifall 
der  Gebildeten  erwarb  er  anderseits  durch  seine  oft  gekünstelte  Sprache, 
und  den  Versuch  ,  in  seinen  Hauptpersonen  die  Anschauungen  der  Zeit 
über  Liebe  und  Rittertum  zur  Anschauung  zu  bringen.  Seine  Helden 
sind  Männer  von  makelloser  Tapferkeit  und  Treue ,  von  großartigem 
Edelmut,  von  weichem  Gemüt.  Sie  schwärmen  für  ein  Idol,  und  die 
Dame  ihres  Herzens  hat  nicht  minderen  Adel  der  Gesinnung,  als  sie. 
So  ist  sein  „Lygdamon",  so  der  Prinz  Clearque  in  seinem  „Prince 
deguise".  Unerkannt,  als  einfacher  Ritter,  kommt  Clearque  nach  Sizilien, 
kämpft  dort  für  die  schöne  Prinzessin  Argenie    und  erwirbt  ihre  Liebe. 


312 

Welche  Begeisterung  mußte  eine  solche  Geschichte  in  einer  Zeit  erwecken, 
welche  die  höchste  Poesie  in  der  gekünstelten  Welt  der  Schäfer  uud 
Ritter  suchte!  Selbst  die  Bösewichter  fehlen  bei  Scudery  meist  nur  aus 
Liebe.  Cleonte  im  „Trompeur  piini"  hat  keine  andere  Veranlassung  zu 
seinem  falschen  Thun.  In  dem  „Vassal  genereux"  verfolgt  ein  Franken- 
könig Lucidan  aus  Eifersucht  seinen  Vasallen  Theandre,  weil  dieser  die 
Liebe  der  schönen  Rosiclee  erworben  hat.  Theandre  wäre  verloren,  wenn 
nicht  das  Volk  rechtzeitig  sich  gegen  seinen  Tyrannen  empörte.  Lucidan 
wird  entthront  und  die  Großen  des  Reichs  erwählen  Theandre  zum  König. 
Dieser  heischt  von  seinen  neuen  Unterthanen  den  Eid,  daß  sie  seinem 
ersten  Gebot  unweigerlich  nachkommen  werden,  und  als  alle  geschworen, 
läßt  er  einen  Vorhang  wegziehen,  und  man  erblickt  Lucidan,  den  der 
getreue  Vasall  als  Herrscher  proklamiert  und  für  den  er  Gehorsam 
fordert.  Lucidan  ist  tief  gerührt,  bessert  sich,  und  willigt  nun  in  die  Ehe 
Theandres  mit  Rosiclee. 

Wenn  sich  Scudery  in  seinen  Tragikomödien  und  Lustspielen  um 
die  Regeln  von  den  Einheiten,  von  welchen  schon  viel  gesprochen 
wurde ,  nicht  kümmerte ,  so  strebte  er  in  den  zwei  historischen  Trauer- 
spielen, die  er  1636  spielen  ließ,  „La  mort  de  Cösar"  und  „Didon". 
nach  Regelmäßigkeit  in  der  Anlage  und  nach  gewählter  Sprache.  Mairets 
„Sophonisbe"  diente  noch  immer  als  Vorbild.  In  dem  Vorwort  zu  seinem 
„Cesar",  den  er  dem  Kardinal  Richelieu  widmete,  betont  Scudery  diese 
strengere  Haltung;  er  macht  darauf  aufmerksam,  daß  er  die  Einheit 
der  Handlung  bewahrt  habe,  lobt  sich  wegen  der  Einteilung  und  Be- 
handlung und  findet,  daß  die  Gedanken  und  die  Sprache  des  Stücks  der 
Größe  des  dramatischen  Gedankens  entsprechen.  Noch  wechselt  zwar  in 
dem  „Tod  Cäsars"  die  Scene  öfters,  aber  ein  einheitlicheres  Zusammen- 
fassen ist  allerdings  ersichtlich.  Dafür  fehlt  aber  auch  der  rasche  Gang 
der  Entwicklung,  und  das  Stück  wird  lahm  aus  Mangel  an  belebenden 
Episoden.  Der  erste  Akt  wird  durch  Gespräche  zwischen  Brutus,  Cassius 
und  Porcia  ausgefüllt.  Die  letztere  weiß  zwar  nur  im  allgemeinen,  daß 
ihr  Gatte  auf  eine  große  That  sinnt;  aber  sie  spornt  ihn  nichtsdesto- 
weniger an  und  erklärt  sich  selbst  für  furchtlos  und  stark. ^)  Der  zweite 
Akt  zeigt  Cäsar  und  seine  Umgebung.  Antonius  und  Lepidus  äußern  ihr 
Mißtrauen  gegen  Brutus;  Calpurnia,  die  von  bösen  Träumen  erschreckt 
ist,  bittet  Cäsar  dringend,  nicht  in  die  Senatssitzung  zu  gehen.  Darauf 
folgt  wieder  ein  Zwiegespräch  zwischen  Cassius  und  Brutus.  Der  letztere 
preist  den  Mut  der  Verschworenen,  welche  den  Tod  als  das  höchste  Gut 


1)  In  „La  mort  de  Cesar",  I,  2,  v.  65,  ruft  Brutus  ihr  bewundernd  zu: 

0  d'un  pere  excellente  heritiere! 
On  voit  qu'il  t'a  laisse  sa  vertu  toute  entiere: 
(Vertu  que  dans  sa  fin  l'univers  admira) 
Et  qu'il  te  fit  sortir  de  ce  qu'il  dechira. 

Der  letzte  Vers  ist  in  seiner  gesuchten  Manier  so  unverständlich,  daß 
der  Dichter  es  für  gut  hielt,  im  Druck  die  erklärende  Bemerkung  beizufügen, 
man  habe  an  die  „entrailles"  des  Cato  zu  denken. 


313 


betrachten.^)  Der  dritte  Akt  bringt  die  Beratung  Cäsars  mit  seinen 
Freunden  über  die  Annahme  der  Königskrone,  und  als  Gegenstück  dazu 
in  einer  folgenden  Scone  die  Versammlung  der  Verschworenen,  in  welcher 
Brutus  seine  Genossen  durch  eine  Rede  entflammt,  und  ihnen  selbst  für 
den  Fall  des  Mißglückens  ewigen  Ruhm  verheißt.-)  Nur  ein  einziger 
Verschwoi'ener  erschrickt  im  letzten  Moment,  und  beschließt,  Cäsar  zu 
warnen.  Dieser  aber  wird  im  vierten  Akt  doch  von  Brutus  beredet,  in 
die  Sitzung  zu  gehen,  und  dort,  in  der  Halle  des  Senats,  verfällt  er 
seinem  Geschick.  Scudery  ordnet  dabei  an,  daß  nach  der  Mordscene  ein 
Vorhang  den  Senatsaal  verhülle,  „damit  die  Bühne  nicht  gegen  die 
Regel  mit  Blut  befleckt  werde''.  Der  fünfte  Akt  beliandelt  die  Entstehung 
des  Triumvirats  und  schließt  mit  der  Leichenfeier  für  Cäsar.  Die  be- 
rühmte Rede  des  Antonius  verliert  bei  Scudery  jede  Kraft, ^)  und  das 
Volk  verhält  sich  sehr  anständig  dabei.  Ein  einziger  Bürger  antwortet 
auf  die  Rede  des  Antonius  und  fordert  die  Menge  auf,  die  Häuser  der 
Mörder  zu  verbrennen.  Bevor  diese  fortstürmen  kann,  kommt  ein  anderer 
Bürger  und  erzählt  staunend ,  daß  er  den  Geist  des  großen  Cäsar  habe 
zum  Himmel  aufsteigen  sehen ,  worauf  dem  Antrag  des  Antonius  ent- 
sprechend beschlossen  wird,  den  Toten  als  Gott  zu  verehren  und  ihm 
einen  Tempel  zu  errichten. 

In  ganz  ähnlicher  Weise  ist  Scuderys  „Didon"  behandelt.  Das 
Stück  hält  sich  genau  an  Virgil,  und  selbst  die  Erzählung  von  der  Zer- 
störung Trojas  wird  nicht  ausgelassen.  Äneas  berichtet  darüber  in 
200  Versen  (I,  5).'')  Der  trojanische  Held  erscheint  als  das  Muster  der 
Galanterie  und  verläßt  Karthago  nur    auf  das  Gebot    der  Götter.'')    Die 


^)  La  mort  de  Cesar,  IL  2,  17: 

Tous  regardent  la  mort  comrae  un  souverain  bien. 
-)  -La  mort  de  Cesar,  III,  2, 16:  C'est  vivre  que  mourir  pour  le  pays  natal. 
3)  Antonius  beginnt  folgendermaßen: 

Le  grand  Cesar  est  mort:  ee  second  Alexandre 

(Helas,  qui  le  croira!)  n'est  plus  qu'un  peu  de  cendre. 

Et  cette  urue  contient  (ü  triste  souvenir!) 

Ce  que  l'univers  ne  pouvoit  conteuir. 

^)  In  „Didon",  I,  5  beginnt  Aneas  seine  Erzählung  in  freier  Bearbeitung 
des  Virgil'schen  „Infandum,  regina,  jubes  renovare  dolorem'-. 
„Belle  reine,  en  parlant  de  nos  derniers  malheurs, 
Vous  voulez  reveiller  d'excessives  douleurs. 
Vous  voulez  que  je  conte  en  quelle  sorte  Troie 
Vit  mettre  par  les  Grecs  ses  richesses  en  proie..." 

5)  Als  Beispiel  der  galanten  Reden  des  Äneas  diene  die  Stelle  des  zweiten 
Akts,  wo  Äneas  und  Dido  im  ^Yald,  auf  der  Jagd  vom  Gewitter  überrascht, 
Zuflucht  in  einer  Grotte  suchen: 

Ha,  Madame, 
Que  ne  m'est-il  permis  de  vous  ouvrir  mon  äme! 
Que  n'a  mis  la  nature  un  cristal  ä  ce  coeur, 
Pour  moütrer  a  travers  le  portrait  du  vainqueuri 
Ha,  que  vous  y  verriez  un  visage  adorable! 
Etant  comme  le  vötre,  il  est  incomparable, 


314 


beiden  Tragödien  sind  hauptsächlich  wegen  der  Zeit  ihrer  Entstehung 
bemerkenswert;  sie  stammen  aus  demselben  Jahr,  in  welchem  Corneille 
seinen  „Cid"  dichtete,  und  sie  lassen  bereits  die  künftige  Form  der 
klassischen  Tragödie  erkennen. 

Schon  das  Jahr  zuvor  hatte  Scuderj-  ein  Lustspiel,  „Le  Als  sup- 
pose",  zur  Aufführung  gebracht.  Eine  Analyse  davon  ist  nicht  nötig, 
da  es  nach  althergebrachter  Weise  eine  Reihe  von  absonderlichen  Aben- 
teuern, Verkleidungen  und  Verwechslungen  aller  Art  enthält.  Im  Dialog 
aber  zeigt  sich  bereits  der  Einfluß  der  Corneille' sehen  Lustspiele,  inso- 
fern auch  Scudtny  hier  und  da  den  Ton  der  Gesellschaft  seiner  Zeit  zu 
treffen  trachtet.^) 

Ein  anderes  Lustspiel,  „La  comedie  des  comediens"  (1635),  wäre 
als  zu  unbedeutend  nicht  weiter  zu  besprechen,  wenn  es  nicht  für  uns 
ein  historisches  Interesse  gewänne.  Scudery  führt  darin  eine  reisende 
Schauspielergesellschaft  ein,  und  bezeichnet  sein  Stück  selbst  als  ein 
„poeme  de  nouvelle  inveution'".-)  Es  ist  in  Prosa  geschrieben,  und  ist 
in  seiner  Komposition  mehr  als  einfach.  Ein  Mr.  de  Blandimare  reist 
im  Land  umher,  um  seinen  Neffen  aufzusuchen.  Dieser  hat  einige  Zeit 
zuvor  die  Heimat  verlassen  und  seitdem  kein  Lebenszeichen  mehr  von 
sich  gegeben.  Auf  seinen  Kreuz-  und  Querfahrten  kommt  Blandimare 
nach  Lyon,  und  da  er  sich  langweilt,  beschließt  er  ins  Theater  zu  gehen. 
Damit  beginnt  das  Stück.  Eine  wandei-nde  Truppe  hat  sich  seit  kurzem 
in  dem  Haus  neben  dem  Gasthof  niedergelassen,  macht  aber  schlechte 
Geschäfte.  Die  Künstler  sind,  wie  einer  der  Schauspieler  klagt,  wol 
viermal  schon  unter  Trommelschlag  durch  alle  Straßen  der  Stadt  ge- 
zogen, aber  noch  ist  es  ihnen  nicht  gelangen,  das  Publikum  anzulocken. 
Auf  ihren  Anschlagzetteln  bezeichnen  sie  sich  als  „comediens  du  roi". 
Aber  Blandimare  spottet  darüber;  die  Titel  „Hofschauspieler"  und 
„königlicher  Kammerherr"  seien  jetzt  wolfeil  zu  haben,  meint  er.  Er 
fragt  dann  nach  dem  Eintrittspreis  und  erfährt,  daß  man  acht  Sous  zu 
bezahlen  hat.  Aber  er  bleibt  auch  der  einzige,  der  Lust  bezeugt,  sich 
etwas  vorspielen  zu   lassen,    und    da   er   plötzlich    in   einem    der  Schau- 


Et  c'est  lä  seulemeut  que  ce  divin  soleil, 

Y  portant  ses  rayons,  peut  trouver  son  pareil. 

1)  Merkwürdig  ist  II,  1  der  Monolog  der  Luciane,  einer  der  Hauptper- 
sonen des  Stücks.  Sie  schwankt,  ob  sie  dem  Vater,  der  sie  zu  einer  Heirat 
nötigen  will,  gehorchen,  oder  ob  sie  dem  Geliebten  treu  bleiben  soll.  Die  Verse 
erinnern  in  ihrem  Bau,  in  ihrer  Haltung,  in  den  Antithesen  sehr  an  die  Strophen 
ßodrigos  am  Schluß  des  ersten  Akts  im  „Cid".  Es  heißt  in  der  dritten  Strophe: 

Dures  extremites  qui  partagent  mon  dme! 
Lequel  dois-je  desobliger  ? 
De  tous  les  deux  cötes  je  trouve  ä  m'affliger. 
De  Tun  je  tiens  le  jour,  et  de  l'autre  la  flamme. 

Sie  entscheidet  sich  zuletzt  für  den  Geliebten: 

Le  nom  de  fille  cede  ä  celui  de  maitresse. 

-)  La  comedie  des  comediens,  poeme  de  nouvelle  invention  par  Mr.  de 
Scudery.  Paris  1635,  chez  Aug.  Courbe. 


315 

Spieler,  der  sich  den  stolzen  Namen  Belle-Ombre  beigelegt  hat,  seinen 
leichtsinnigen  Neffen  erkennt,  so  lädt  er  die  ganze  Gesellschaft  zum 
Abendessen  in  seinen  Gasthof  ein.  So  weit  führt  der  erste  Akt.  Der 
zweite  zeigt  uns  die  Herren  und  Damen  der  Truppe  als  Gäste  Blandi- 
mares.  Doch  erwarte  man  keine  lebensvolle,  übermütige  Scene,  nicht 
das  bunte  Treiben  und  die  Einfälle  einer  vagabundierenden  Schar. 
Blandimare  unterhält  sich  in  ernstem  Gespräch  mit  den  Schauspielern 
und  befragte  sie  um  ihre  Verhältnisse.  Er  entschuldigt  sich,  daß  er  die 
Namen  seiner  Gäste  nicht  behalten  könne,  da  sie  alle  ähnlich  lauten, 
und  die  Künstler  Namen  lieben  wie:  Bellerose,  Belleville,  Belleroche, 
Beaulieu,  Beaupre,  Bellefleur,  Belle-Epiue,  Beau-Sejour.  Beau-Soleil,  Belle- 
Ombre  u.  a.  m.  Natürlich  sind  das  nur  angenommene  Namen,  da  man 
die  wirklichen  Familiennamen  zu  entehren  fürchtet.  Blandimare  erklärt, 
er  denke  von  Komödien  und  Versen  wie  von  Melonen  und  Freunden: 
wenn  sie  nicht  vorzüglich  seien,  taugen  sie  gar  nichts.  Scudery  durfte 
dieses  Wort  schon  einer  seiner  Personen  in  den  Mund  legen,  da  er  ja 
seine  Verse  für  vorzüglich  hielt.  Blandimare  zählt  die  Anforderungen 
auf,  die  er  an  einen  guten  Schauspieler  stellt,  und  fragt  zuletzt  nach 
dem  Eepertoire  der  Gesellschaft.  Der  Schauspieler  Bellefleur  nennt  ihm 
darauf  die  Hauptstücke,  die  sie  spielen.  Nach  einem  begeisterten  Lob 
des  verstorbenen  Hardy,  dessen  Werke  noch  oft  gegeben  würden,  nennt 
Bellefleur  den  „Pyramus"  des  Theophile,  die  „Silvio"  Mairets,  sowie  die 
bekanntesten  Stücke  Rotrous,  Pichous,  auch  Corneilles.  Natürlich  werden 
auch  Scuderys  Stücke  erwähnt.  Blandimare  lobt  den  letzteren  besonders 
und  nennt  ihn  den  besten  Schriftsteller  unter  den  degentragenden  Edel- 
leuten.  Die  Schauspieler  wollen  schließlich  eine  Pastoral-Tragikomödie 
von  Scudery:  „L'amour  cache  par  l'amour"  zur  Aufführung  bringen. 
Dieselbe  füllt  die  letzten  drei  Akte;  Blandimare  spielt  selbst  mit  und 
findet  solchen  Gefallen  an  der  Kunst,  daß  er  in  einer  kleinen  Schluß- 
scene  bittet,  in  die  Truppe  als  Mitglied  aufgenommen  zu  werden. 

Fassen  wir  unser  Urteil  über  Scudery  als  dramatischen  Dichter 
zusammen,  so  ergiebt  sich  aus  der  Betrachtung  dieser  Reihe  von  Werken, 
daß  er,  ohne  Phantasie  und  Schwung  des  Gedankens,  sich  stets  an 
fremde  Vorbilder  anlehnen  mußte.  Seine  Stoffe  waren  der  Mehrzahl  nach, 
wenn  nicht  alle,  fremden  Autoren  entlehnt.  Aber  er  hatte  die  Gabe,  das 
Publikum,  das  noch  nicht  wählerisch  war,  zu  fesseln  und  das  nicht 
minder  wichtige  Talent,  seine  kleine  Kraft  nach  jeder  Richtung  hin  gel- 
tend zu  machen.  Deutlich  aber  ersieht  man  in  seinen  Stücken  den  Ver- 
such, zu  einer  größeren  Regelmäßigkeit  zu  gelangen.  Im  übrigen  blicke 
man  nicht  zu  verächtlich  auf  Leute  seines  Schlags  herab.  Auch  ihre 
Arbeit  ist  nötig  und  nutzbringend.  Sie  sind  nur  Handwerker  und  be- 
treiben ihr  Geschäft  demgemäß.  Aber  nur  so  bildet  sich  eine  gewisse 
Routine  aus;  nur  durch  sie  und  mit  ihnen  lernt  man  allmählich  die 
Gesetze  des  Dramas  kennen,  und  aus  ihren  Reihen  erhebt  sich  dann  mit 
einem  Mal  der  große  dramatische  Dichter. 

Unter  allen  Werken,  welche  dem  ;,Cid"  vorangingen,  errang  keines 
so    großen    Erfolg,    wie    das    Erstlingswerk,    das    ein    junger    Dichter, 


316 

Tristan  THermite.  ebenfalls  im  Jahr  1636,  nicht  lange  vor  Corneilles 
Drama,  aufführen  ließ.  Das  Publikum  war  umsomehr  von  diesem  neuen 
Werk  überrascht,  als  es  den  Namen  des  Verfassers  in  der  Reihe  der 
dramatischen  Dichter  noch  nicht  hatte  nennen  hören.  Der  große  Erfolg 
eines  ersten  Werks  hat  etwas  besonders  Blendendes  und  erregt  Hoff- 
nungen, die  nicht  immer  erfüllt  werden.  So  ging  es  auch  hier.  Tristan 
l'Hermite  erzielte  mit  seinem  Tiauerspiel  „Mariamne"  solchen  Eindruck, 
daß  man  in  ihm.  dem  neu  auftretenden  Dramatiker,  eine  ganz  außer- 
ordentliche Kraft  begrüßte.  So  wild  hatte  noch  keiner  die  Leidenschaft 
eines  Tyi-annen,  so  rührend  noch  niemand  die  letzten  Stunden  einer 
edlen  Frau  gezeichnet.  Wir  haben  in  ,. Mariamne"  eines  der  ersten  Rühr- 
stücke, und  können  uns  vorstellen,  welche  Thränen  es  den  Zuschauern 
entlockte.  „Mariamne"  erhielt  sich  auch  neben  dem  „Cid"  aufrecht  und 
machte  ihm  den  Rang  streitig.  Lange  freilich  nicht,  denn  es  ist  seltsam, 
welch  sicheres  Urteil  das  Publikum ,  selbst  das  ungebildete,  entwickelt. 
In  der  ersten  Zeit  vielleicht  unsicher,  befangen,  geblendet,  schenkt  es 
seine  Vorliebe  auf  die  Dauer  nur  den  wahrhaft  großen  Schöpfungen.  Der 
Dichter  der   ..Mariamne"   sollte  dies  auch  an  sich  erfahren. 

Francois  Tristan  l'Hermite  war  ein  Altersgenosse  Corneilles,  denn 
er  war  im  Jahr  1601  zu  Souliers  in  der  Provinz  La  Marche  geboren 
und  rühmte  sich,  altadeliger  Herkunft  zu  sein.  Er  beanspruchte  die 
zweifelhafte  Ehre,  von  dem  blutdürstigen  Minister  Ludwigs  XI.,  Tristan 
l'Hermite ,  abzustammen .  und  führte  seinen  Stammbaum  sogar  bis  zu 
Peter  dem  Einsiedler,  dem  ersten  Kreuzzugsprediger,  hinauf.  Als  Edel- 
page  kam  er  schon  in  seinen  Knabenjahren  nach  Paris  und  wurde  dem 
natürlichen  Sohn  König  Heinrichs,  dem  Marquis  de  Verneuil,  als  Ge- 
spiele beigesellt.  Wie  man  in  diesen  Kreisen  lebte,  wie  frühreif  Tristan 
wenigstens  war,  ahnt  man,  wenn  man  hört,  daß  derselbe  mit  13  Jahren 
ein  Duell  hatte  und  darin  seinen  Gegner  tötete.  Der  Strafe  zu  entgehen, 
flüchtete  er  nach  England  und  trieb  sich  dort  einige  Jahre  herum,  soll 
auch  nach  Schottland  und  Korwegen  gekommen  sein :  doch  wissen  wir 
das  alles  nur  aus  einem,  viele  Jahre  später  erschienenen  Roman  Tristans : 
,.Le  page  disgracie'',  in  dem  er  seine  Erlebnisse  schilderte.  Wie  weit  er 
sich  darin  poetische  Ausschmückungen  gestattete,  ist  nicht  zu  bestimmen. 
In  den  Hauptzügen  mag  er  sich  an  die  Wahrheit  gehalten  haben.  Gewiß 
ist,  daß  er  auf  einer  Reise  nach  Spanien  Frankreich  wieder  zu  betreten 
wagte  und  durch  Geldmangel  sich  an  der  Weiterreise  gehemmt  sah. 
Unter  fremdem  Namen  trat  er  deshalb  in  die  Dienste  des  hochverdienten, 
durch  seine  lateinischen  Gedichte  bekannten  Gaacher  (Scaevola)  de  Sainte- 
Marthe  in  Loudun,  kam  dann  sogar  1620  an  den  Hof,  wo  er  erkannt, 
aber  vom  König  begnadigt  wurde.  So  weit  führt  der  Roman  und  so  weit 
reichen  unsere  Kenntnisse  von  des  Dichters  Leben.  Tristan  hat  zu  den 
zwei  Bänden,  die  er  1643  veröffentlichte,  noch  zwei  weitere  fügen  wollen, 
allein  sein  Versprechen  nicht  erfüllt.  Wahrscheinlich  boten  die  folgenden 
Jahre  nicht  mehr  eine  solche  Reibe  von  Erlebnissen,  wie  sie  im  Roman 
jener  Zeit  erwünscht  waren.  Man  weiß  nur,  daß  Tristan  in  den  Dienst 
Gastons  von  Orleans  trat,  daß  er  ein  wilder  Spieler  war  und  in  Armut 


317 


im  Jahr  1655  infolge  eines  Lungenleidens  starb.  Außer  drei  Bänden 
lyrischer  Gedichte,  die  in  der  Weise  jener  Zeit  abgefaßt  sind  und  darum 
für  uns  kein  Interesse  bieten,  und  neben  dem  schon  erwähnten  Roman 
schrieb  Tristan  eine  Reihe  dramatischer  Werke,  die  fast  alle  mit  Erfolg 
aufgeführt  wurden  und  deren  erstes  jene  oben  erwähnte  „Mariamne"  war.^) 
Aber  nur  mit  dieser  letzteren  haben  wir  uns  hier  zu  beschäftigen.^) 
„Mariamne"  behandelt  die  bekannte  Episode  aus  dem  Leben  des 
Herodes,  den  seine  Schmeichler  den  Großen  nannten.  Eine  seiner  Frauen, 
Mariamne,  stammte  aus  dem  Geschlecht  der  Makkabäer,  und  Herodes  war 
ihr  mit  besonderer  Liebe  zugethan.  Nichtsdestoweniger  hatte  er  ihre 
ganze  Familie,  die  letzten  Sprossen  des  berühmten  Heldengeschlechts, 
ermorden  lassen.  Auch  Mariamne  schwebte  in  Lebensgefahr,  als  der 
Tyrann  von  Augustus  vorgeladen  wurde,  um  sich  zu  rechtfertigen.  In 
seiner  wilden  Eifersucht  hinterließ  er  einem  seiner  Vertrauten  den  Befehl, 
Mariamne  zu  töten,  im  Fall  man  von  seinem  Sturz  Nachricht  erhalte. 
Mariamne  hörte  von  diesem  geheimen  Auftrag,  und  ihr  Haß  gegen 
Herodes  wuchs  immer  höher.  Darum  mußte  auch  sie  endlich  auf  Befehl 
des  Herodes  sterben,  der  nach  ihrem  Tod,  wie  es  in  dem  dritten  Buch 
der  Makkabäer  heißt,  von  einem  schlimmen  Geist  erfaßt,  sich  zu  den 
wildesten  Blutthaten  hinreißen  ließ. 

Im  ersten  Akt  der  Tristan' sehen  Tragödie  sieht  man  Herodes  von 
einem  schweren  Traum  bedrängt.  Das  Gespenst  des  Aristobulus,  den  er 
in  einem  Sumpf  hat  ertränken  lassen,  schreckt  ihn  aus  seinem  Schlaf. 
Sein  Bruder  Pherore  und  seine  Schwester  Salome  sprechen  ihm  Mut 
ein,  und  versuchen  gleichzeitig,  ihn  gegen  Mariamne  aufzureizen.  Salome 
vergleicht  sie  mit  einem  Felsen ,  weil  ihr  Herz  so  kalt  sei .  aber  sie 
erreicht  mit  diesem  Tadel  ihren  Zweck  nicht,  denn  Herodes  gerät  darüber 
in  weiche,  lyrische  Stimmung.  Wenn  Mariamne  ein  Felsen  sei,  so  sei 
sie  ein  Felsen  von  Alabaster ,  ihre  Lippen  überträfen  den  Rubin  an 
Farbe,  ihre  Augen  seien  Diamanten;^)  und  von  Sehnsucht  ergriffen, 
schickt  er  einen  Boten,  sie  zu  rufen.  Im  zweiten  Akt  enthüllt  zunächst 


1)  Tristans  Gedichte  sind  in  drei  Bänden  gesammelt:  1.  „Les  amours" 
(1638).  2.  „La  Lyre*"  (1641).  3.  „Vers  heroiques"  (1648).  Dazu  noch  „L'oflice 
de  la  Sainte-Vierge",  geistliche  Gedichte.  —  Auf  die  „Mariamne"  folgte  1639 
„Panthee",  tragedie ;  1645:  „La  folie  du  Sage",  tragicomedie,  „La  mort  de  Se- 
neque",  tragedie,  „La  mort  de  Crispe",  tragedie;  1653:  „Amarillis",  Pastorale, 
nach  der  „Celimeiie"  des  Rotrou  bearbeitet;  1654:  „Le  parasite", -comedie.  Nach 
des  Dichters  Tod  erschien  „La  mort  du  grand  Osman"  (1656).  —  Über  Tristan 
l'Hermite  vergl.  Titon  du  Tillet,  Le  Parnasse  fran^ais  (S.  247);  Pellisou  und 
d'Olivet,  Histoire  de  l'Academie  fran^aise. 

2)  Es  liegt  mir  nur  die  zweite  Ausgabe  (revue  et  corrigee  Paris  1637 
chez  Aug.  Courbe),  vor.  Eine  Vergleichung  .mit  der  ersten  Ausgabe  wäre  von 
besonderem  Wert,  da  die  Dichter  oft  große  Änderungen  vornahmen. 

•^)  Tristan  l'Hermite,  La  Mariamne,  I,  3: 

Si  le  divin  objet  dont  je  suis  idolätre, 
Passe  pour  un  rocher,  c'est  un  rocher  d'albätre, 
Un  ecueil  agreable,  oii  l'on  voit  eclater, 
Tout  ce  que  la  nature  a  fait  pour  me  tenter. 


318 

beseelt.  Salome  belauscM  sie  und  reizt  sie  noch  mehr  auf;  dann  aber, 
sobald  die  Fürstin,  dem  erhaltenen  Euf  gohorchend,  sich  entfernt  hat,  um 
vor  Herodes  zu  erscheinen,  enthüllt  sie  in  einem  Monolog  ihre  schwarze 
Seele.  Durch  Versprechungen  und  Lockungen  aller  Art  weiß  sie  einen 
königlichen  Mundschenk  zu  falschem  Zeugnis  zu  gewinnen.  Derselbe 
soll  die  Königin  beschuldigen,  sie  habe  durch  ihn  den  König  vergiften 
wollen.  Mariamne  war  unterdessen  bei  Herodes  und  muß  ihm  ihre  Ge- 
sinnung offen  gezeigt  haben,  denn  eine  neue  Scene  beginnt  damit ,  daß 
der  König  in  höchster  Wut  Mariamnen  die  Thür  weist.  „Sors  vite  de 
ma  chambre  et  n'y  rentre  jamais!"  herrscht  er  sie  in  unköniglicher 
Weise  an.  Diese  Stimmung  darf  nicht  unbenutzt  bleiben.  Der  Mund- 
schenk bringt  seine  Klage  vor,  und  Herodes  befiehlt,  seine  Gemahlin  zu 
verhaften.  Der  dritte  Akt  bringt  die  Gerichtsscene.  Herodes  geberdet 
sich  wie  ein  Wütender,  während  Mariamne  ihre  Würde  und  Hoheit 
bewahrt.  Die  Richter  sprechen  auf  die  einfache  Aussage  des  Anklägers 
ihr  Schuldig  aus,  und  verdammen  die  Königin  zum  Tod.  Mariamne 
erklärt,  daß  der  Tod  ihr  nur  willkommen  sei,  sie  gehe  durch  ihn  zur 
Unsterblichkeit  ein,  und  ihr  Haupt,  das  auf  den  Wink  des  Herodes 
falle,  werde  geraden  Wegs  zum  Himmel  aufsteigen.^)  Ihr  Trotz  schwindet 
indessen,  da  sie  ihrer  Kinder  gedenkt;  sie  weint,  und  der  Anblick  ihrer 
Thränen  stimmt  den  Tyrannen  um.  Seine  Liebe  siegt,  und  er  will  die 
Fürstin  begnadigen.  Aber  Mariamne  spottet  einer  Liebe,  die  sie  mit  dem 
Tod  bedroht,  und  sie  erinnert  Herodes  an  den  geheimen  Befehl,  den 
er  bei  seiner  Reise  nach  Rhodus  gegeben  hatte.  Wütend  darüber,  daß 
man  ihn  verraten  hat,  schickt  der  König  seinen  Minister  Soesme  und 
einen  der  Enuchen ,  die  einzigen,  die  von  diesem  Befehl  wußten,  zum 
Tod.  Doch  ist  damit  der  Sühne  noch  nicht  genug.  Der  finstere  Tyrann 
fragt  sich,  durch  welche  Mittel  Mariamne  sich  in  den  Besitz  des  Ge- 
heimnisses gebracht  habe,  und  er  kann  sich  nur  denken,  daß  sie 
Soesme  mit  ihrer  Liebe  bezaubert  habe.  So  erfüllt  ihn  die  wildeste 
Eifersucht  und  gleichzeitig  die  Furcht  vor  einem  Mordanschlag  von 
Seite  Mariamnes.  Diese  harrt  unterdessen  im  Kerker  der  Entscheidung 
über  ihr  Schicksal.  Sie  weiß,  daß  sie  dem  Tod  nicht  entrinnen  wird. 
Bald  kommt  auch  der  Kerkermeister  thränenden  Auges.  Ihr  Tod  ist 
entschieden,  und  unter  allgemeiner  Rührung  wird  die  hohe,  in  ihr 
Schicksal  ergebene,  mutige  Frau  von  den  Garden  des  Herodes  zum 
Schafott    geführt.     Der   fünfte   Akt    ist    eigentlich    nur    ein    Nachspiel. 


H  n'est  point  de  rubis  vermeils  comme  sa  beuche, 
Qui  mele  un  esprit  d'ambre  ä  tout  ce  qu'elle  touche, 
Et  Teclat  de  ses  yeux  veut  que  mes  sentiments 
Les  mettent  pour  le  moins  au  rang  des  diamants. 
')  Mariamne,  III,  1:  Mariamne  zum  König: 

Poursuis,  poursuis  barbare  et  sois  inexorable, 
Tu  me  rends  uu  devoir  qui  m'est  fort  agreable. 

Car  je  vais  de  la  mort  ä  rimmortalite, 

Ma  tete  bondissant  du  coup  que  tu  lui  donnes, 

S'en  va  dedans  le  ciel  se  chargeant  de  couronnes. 


319 


Herodes  widerruft  den  Blutbefehl,  den  er  gegeben,  allein  es  ist  zu  spät. 
Seine  Schergen  waren  allzu  gehorsam.  Xarbal,  ein  Vertrauter  des  Königs, 
kommt  und  meldet  in  ausführlicher  Weise  den  Tod  der  Königin.  Außer 
sich  über  den  Verlu.st,  wütet  Herodes  gegen  sich  selbst,  gegen  seine 
Geschwister.  Er  verfällt  in  Wahnsinn,  sieht  Mariamne  zum  Himmel 
steigen  und  stürzt  endlich  erschöpft  und  sinnlos  zu  Boden.  Narbal  aber 
schließt  das  Stück  mit  dem  Gemeinplatz,  daß  auch  die  Besten  irren  und 
die  Könige  oft  Sklaven  ihrer  selbst  sind.^) 

Mondory,  der  Direktor  und  Hauptdarsteller  des  Theaters  im  Marais- 
viertel,  spielte  die  Rolle  des  Herodes  und  entzückte  das  Publikum.  Er 
arbeitete  dabei,  wie  man  erzählt,  so  gewaltig,  daß  ihn  bei  einer  der  Vor- 
stellungen der  Schlag  traf  und  er  der  Bühne  entsagen  mußte.  Seine 
Gönner,  an  deren  Spitze  Richelieu  stand,  statteten  ihn  dafür  so  reichlich 
mit  Pensionen  aus.  daß  er  sich  jährlich  auf  8000 — 10.000  Livres  ge- 
standen haben  soll.-) 

Die  Mariamne  ist  eine  der  wenigen  Tragödien  aus  der  Zeit  vor 
dem  „Cid",  in  welchen  ein  Versuch  von  Charakterschilderung  gemacht 
wird.  Der  Dichter  hatte  eine  Ahnung  davon,  daß  es  bei  einem  drama- 
tischen Werk  nicht  allein  auf  die  Menge  der  Begebenheiten  ankommt. 
Aber  die  Kunst  der  Charakterzeichnung  war  doch  noch  sehr  gering. 
Herodes  erscheint  bei  Tristan  noch  als  einer  jener  haarbuschigen  Ge- 
sellen, von  welchen  Hamlet  spricht,  die  den  Tyrannen  Übertyrannen. 
Er  ist  ohne  Größe,  ohne  Kraft,  ohne  irgend  einen  Zug,  der  die  Auf- 
merksamkeit auf  sich  lenken  könnte.  Auch  Mariamne  ist  kein  lebendiges, 
warmes  Frauenbild,  und  wenn  sie  rührt,  so  geschieht  dies  in  einer  jener 
Abschieds-  und  Jammerscenen ,  in  welchen  ein  zum  Tod  verurteilter 
Held  oder  gar  eine  Heldin  so  mächtig  auf  die  Thränendrüsen  wirken 
kann.  Eine  eigentliche  dramatische  Verwicklung,  eine  Steigerung,  die 
bis  zur  entscheidenden  Krisis  in  Spannung  hält,  findet  sich  in  dem 
Stück  nicht.  Zudem  ist  die  Sprache  nachlässig  gehandhabt ,  oft  geziert 
oder  trivial.  Wie  weit  ist  es  von  dieser  „Mariamne"  zu  der  dramatischen, 
künstlerischen  Komposition  des  .,Cid",  wie  weit  von  Tristans  Sprache 
bis  zu  dem  genialen  Schwung,  den  Corneille  seiner  Rede  zu  geben  weiß. 
Neben  den  heldenhaften  Figuren  einer  Chimene .  einer  Kamilla  verblaßt 
das  Bild  der  Mariamne. 

Aufs  neue  bestätigt  es  sich  hier,  daß  die  großen  litterarischen 
Erscheinungen  zwar  alle  in  langsamer  Arbeit  vorbereitet  werden ,  und 
von  verschiedenen  Seiten  alles  nach  dem  einen  Ziele  hindrängt,  daß 
aber  doch  nur  das  Genie  den  entscheidenden  Schritt  zu  thun  vermag, 
mit  dem  das  Ziel  erreicht  wird.  Wie  nahe  bei  Corneille  stehen  die 
mitstrebenden,  ihm  befreundeten  Dichter,  wie  deutlich  spricht  sich  in 
ihnen  allen  die  Ahnung  der  gleichen  Aufgabe  aus .  und  wie  weit  ist 
doch  die  Kluft,  die  ihn,  den  wahren,  großen  Dichter,  von  jenen  trennt. 


1)  Mariamne,  V,  letzte  Scene: 

Mais  les  meilleur  esprits  fönt  des  fautes  extremes, 
Et  les  reis  bien  souvent  sont  esclaves  d'eux-memes. 

-)  Über  Mondory  siehe  den  folgenden  Abschnitt. 


ly. 
Corneilles  Jugend. 

(Iü0t3— 1636.) 

Pierre  Corneille  stammte  aus  Eouen,  der  Hauptstadt  der  Xormandie. 
und  der  Charakter  des  zähen,  arbeitsamen  Menschenschlags,  der  in  diesem 
Lande  wohnt,  hat  sich  auch  in  seinem  größten  Sohn  deutlich  aus- 
geprägt. Der  Boden  der  Xormandie  ist  mannigfaltig  geformt;  leichte 
Höhen  wechseln  mit  breiten  Thälern,  eine  üppige  Fruchtbarkeit  giebt 
dem  Bewohner  das  Gefühl  der  Sicherheit  und  der  Kraft.  Getreide  und 
Obst  gedeihen  im  Überfluß  und  weisen  den  Normannen  auf  den  Land- 
bau hin.  Fette  Weiden  begünstigen  die  Viehzucht.  Die  Luft,  welche  bei 
der  Nähe  des  Meers  feucht  und  schwer  ist,  giebt  dem  Volk  ein  derbes 
Gepräge.  Aber  der  Blick  auf  den  Atlantischen  Ocean.  der  an  den  steilen 
Küsten  des  Landes  anbraust,  richtet  den  Sinn  des  Mannes  in  die  Ferne, 
ermuntert  ihn  zu  kühner  That  und  giebt  seinem  Geist  den  Schwung, 
der  ihn  über  die  Scholle  hinweghebt.  Es  ist  ein  festes,  männliches  Ge- 
schlecht, das  in  seinen  Adern  noch  einige  Tropfen  des  alten  Wikinger- 
bluts verspürt. 

So  zeigt  es  sich  in  der  Geschichte  seit  der  Okkupation  durch  die 
Normannen  und  seit  den  Tagen  des  Herzogs  Wilhelm,  der  sein  Kriegs- 
volk zur  Eroberung  der  britischen  Nachbarinsel  über  den  Kanal  führte. 
Ein  echter  Normanne  war  jener  Taillefer,  der  sich  vor  der  Schlacht  bei 
Hastings  vom  Herzog  als  Gunst  die  Erlaubnis  erbat,  den  ersten  Schlag 
auf  den  Feind  führen  zu  dürfen.  Vor  dem  Heer  herziehend,  sang  er  so 
herrlich  vom  großen  Karl,  von  Roland  und  manchem  frommen  Held, 
daß  die  Paniere  wallten  und  die  Herzen  schwollen ,  und  Ritter  und 
Mannen  in  hohem  Mut  entbrannten.  Singend  schleuderte  er  sein  Schwert 
in  die  Luft  und  fing  es  wieder  auf;  dann  stürmte  er,  den  anderen  voran, 
auf  die  Gegner  los.^) 

Diese  Freude  an  Gesang  und  Poesie  zeigte  sich  immer  wieder.  Mit 
einer  heiteren  Erzählung,  einem  Gedicht  fand  man  überall  gern  Auf- 
nahme.-) Der  franko-normännische  Dialekt  war  lange  Zeit  die  herrschende 


1)  Aug.  Thierry,  Histoire  de  la  conquete  de  l'Augleterre,  1.  Teil,  3.  Buch, 
S.  341,  und  die  dort  angeführten  Quellen. 

2)  Vergl.  Lenient,  La  satire  en  Frauce  au  moj-en-age,  S.  72:  „L'usage  de 
payer  son  ecot  ä  la  gaiete  commune  par  un  couplet  on  un  conte  se  repandit 
de  bonne  heure  en  Normandie.  Jean  Le  Chapelain  nous  l'atte.?te  dans  son  dit 
du  sacristain  de  Cluny: 


321 

Sprache  auf  beiden  Seiten  des  Kanals,  und  eine  große  Reihe  von  Poeten 
dichtete  in  diesem  Idiom.  Der  bekannteste  von  ihnen  war  Robert  Wace, 
der  im  12.  Jahrhundert  lebte  und  dem  man  die  zwei  epischen  Gedichte : 
„Le  Roman  du  Brut"  und  „Le  Roman  de  Rou"  zuschreibt.  Auch  die 
Vaux  de  Vire,  aus  welchen  das  moderne  Vaudeville  entstanden  sein  soll, 
stammen  aus  der  Normandie.  Olivier  Basselin  und  Jean  Le  Houx,  die 
Sänger  des  Weins  und  des  sorglosen  Lebens,  waren  echte  Kinder  der 
Normandie.  Bei  seiner  Vorliebe  für  Werke  der  Dichtung  kam  es  dem 
Lande  zu  statten,  daß  es  nicht  weit  von  Paris  entfernt  war.  Das 
geistige  Leben  der  Hauptstadt  warf  seine  Wellen  bis  in  die  Normandie 
hinein.  Caen  wurde  als  normannisches  Athen  gerühmt,  und  der  Anteil, 
den  gerade  diese  Provinz  an  der  Entwicklung  der  Litteratur  nahm,  war 
sehr  bedeutend.  Malherbe  stammte  aus  Caen,  sowie  Berthaut  und  Bois- 
robert;  George  Scudery  war  zu  Le  Hävre  geboren;  auch  Sarrazin  und 
Mezeray  waren  Normannen.  Mit  Corneilles  Ruhm  aber  sollte  das  litte- 
rarische Ansehen  der  Normandie  bald  aufs  höchste  steigen, \)  und  be- 
sonders die  dramatische  Poesie  schien  dort  ihre  Heimat  zu  haben.") 

So  verschiedenartig  auch  die  Werke  der  zwei  bekanntesten  nor- 
mannischen Dichter:  Malherbe  und  Corneille,  sein  mögen,  so  weisen  sie 
doch  eine  gewisse  Verwandtschaft  auf.  Beide  Männer  haben  die  Gabe 
des  kräftigen  Pathos,  der  klaren  Rede,  und  es  verbindet  sich  in  ihnen, 
wie  im  Charakter  des  normannischen  Volks,  Verständigkeit  und  Schwung 
in  merkwürdiger  Weise. 

Die  Familie  Corneille  war  seit  lange  in  Ronen  ansässig  und  er- 
freute sich  allgemeiner  Achtung.  Es  war  wie  eine  Tradition,  daß  sich 
die  ältesten  Söhne  dem  Advokatenstand  widmeten.  Schon  der  Großvater 
erscheint  in  einigen  Urkunden  als  Advokat;  der  Vater  bekleidete  zwar 
ein  anderes  wichtiges  Amt,  war  aber  daneben  in  die  Liste  der  Advo- 
katen eingetragen,  und  dessen  Sohn,  der  Dichter,  wählte  den  gleichen 
Beruf.  ^)    Pierre  Corneille,    der  Vater,    war   um  das  Jahr  1572    geboren 


Usages  est  en  Normandie 

Que  qui  hebergiez  est,  qu'il  die 

Fabel  ou  chanfon  ä  son  oste." 

1)  Ein  sonst  wenig  bedeutender  Dichter,  der  „Sieur  de  la  Pineliere"  aus 
Angers,  sagt  in  dem  Vorwort  zu  seiner  Tragödie  „Hyppolite"  (1635),  viele  er- 
fahrene Leute  hätten  ihm  geraten,  nicht  zu  verraten,  woher  er  stamme.  „Pour 
etre  estime  autrefois  poli  dans  la  Grece ,  il  ne  fallait  que  se  dire  d'Athenes  : 
pour  avoir  la  leputation  de  vaillant,  il  fallait  etre  de  Lacedemone,  et  mainte- 
nant  pour  se  faire  croire  excellent  poete,  il  faut  etre  ne  dans  la  Normandie." 
Siehe  Corneille,  ed.  Marty-Laveaux  (in  der  Sammlung  der  „Grands  ecrivains  de 
la  France"),  II,  p.  4. 

~)  In  Corneilles  Lustspiel:  „La  galerie  du  Palais"  (L  7,  6,)  begegnen  sich 
zwei  Edelleute,  Lysandre  und  Dorimant,  im  Laden  eines  Buchhändlers  und  be- 
sprechen sich  über  die  neuesten  litterarischen  Erscheinungen  : 

Lysandre:  Beaucoup  fönt  bien  des  vers,  et  peu  la  comedie. 

Dorimant:  Ton  goüt,  je  m'en  assure,  est  pour  la  Normandie... 
d.  h.  hier  soviel  als:  Du  ziehst  die  dramatische  Poesie  vor. 

3)  Vergl.  Taschereau,  Vie  de  Corneille,  2.  Aufl.  Paris  1853,  Jannet,  S.  2. 
Gosselins  Schrift:  G.  Corneille  (le  pere),  Rouen  1864,  S.  16. 

Lotheißeii,  Gesch.  d    franz.  Litteratur.  9^ 


322 

und  hatte  die  Stelle  eines  Forstmeisters  in  der  Grafschaft  Eouen  („Maltre 
des  eaux  et  forets").  In  jenen  Zeiten  war  ein  solches  Amt  sehr  schwierig, 
denn  mit  seiner  Ausübung  war  oft  persönliche  Gefahr  verbunden,  und 
es  erheischte  Festigkeit  und  Mut.^) 

Die  Normandie  hatte  in  den  Zeiten  der  Religionski-iege  furchtbar 
gelitten.  Ihr  Wohlstand  war  schwer  geschädigt  und  auch  die  bessernde 
Hand  Heinrichs  IV.  konnte  den  tief  eingewurzelten  Übelständen  nicht 
immer  abhelfen.  Der  Zustand  des  Landvolks  war  vor  allem  beklagens- 
wert. Damals  bedeckten  noch  große  Waldungen  einen  Teil  der  Provinz, 
und  die  Rechtsansprüche  auf  sie  gaben  zu  häufigen  und  erbitterten 
Streitigkeiten  zwischen  den  Gemeinden  und  dem  Staat  oder  den  ein- 
zelnen Gutsherren  Anlaß.  Die  Weidgerechtigkeit  und  das  Recht  des  Holz- 
fällens waren  seit  den  ersten  Feudalzeiten  fortwährend  Veranlassung  zu 
Haß  und  Kampf.  Die  Aufsicht  über  die  Wälder  war  sehr  gering,  und 
die  königlichen  Beamten  begünstigten  die  Unordnung,  bei  der  sie  sich 
bereichern  konnten.  So  nahmen  die  Wälder  überraschend  schnell  ab,  da 
ihre  Verwüstung  keine  Grenze  hatte.  Als  König  Heinrich  IV.  den  Staat 
aufs  neue  einrichtete,  ließ  er  im  Jahr  1591  alle  Forstbeamten  des  Be- 
zirks Ronen  verhaften  und  ihnen  wegen  schlechter  Amtsführung  und 
Bestechlichkeit  den  Prozeß  machen.  Sie  verloren  ihre  Stellen,  und  einer 
der  Männer,  welche  an  ihrer  Statt  ernannt  wurden,  war  Pierre  Corneille 
der  Vater  (1599).')  Die  neue  Forstverwaltung  sollte  die  Interessen  des 
Staats  wahren,  und  sah  sich  deshalb  bald  in  Konflikt  mit  den  Gemeinden, 
die  auf  die  Vorteile  nicht  verzichten  wollten,  welche  die  Waldungen  ihnen 
bis  dahin  geboten  hatten. 

Die  Zeit  war  schwer,  das  Elend  unter  dem  von  Krieg  und  Pest 
heimgesuchten  Volk  außerordentlich.  Die  Xormandie  übertraf  zudem  die 
anderen  Provinzen  durch  die  große  Zahl  ihrer  Adelsgeschlechter.  Sie 
zählte  noch  zu  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  10.000  Edelleute,  10  Herzog- 
tümer, mehr  als  40  Grafschaften,  50  Marquisate  und  entsprechend  viel 
Baronien.^)  Je  mehr  Privilegierte  in  dem  Land  lebten,  desto  schwerer 
mußten  die  Lasten  der  Abgaben  auf  das  niedere  Volk  drücken,  und 
ganz  besonders  litt  die  Landbevölkerung  unter  diesen  Zuständen.  Von 
den  Forderungen  des  Staats  trotz  aller  Edikte  Heinrichs  IV.  erdrückt 
und  zur  Verzweiflung  gebracht,  erhob  sie  sich  mehr  als  einmal  in  wil- 
dem Aufruhr.  Besonders  gereizt  mußten  sich  die  Bauern  fühlen,  wenn 
sie  mit  den  Ihrigen  hungerten  und  froren,  während  sie  ringsum  die 
Waldungen  mit  dem  reichen  Wildstand  für  das  Vergnügen  der  großen 
Herren  und  zu  deren  ausschließlichen  Nutzen  bewacht  sahen.  Wald-  und 
Jagdfrevel  waren  da  unausbleiblich.  Die  Soldaten  der  aufgelösten  Armeen, 
die  an  das  zuchtlose  Treiben  des  Lagers  gewöhnt  waren  und  sich  nicht 


1)  Vergl.  Guizot,  Corneille  et  son  temps.    2.  Aufl.    Paris  1855,    Didier  & 
Cie.  S.  143  und  283. 

2)  Vergl.  E.  Gosselin,  P.  Corneille  (le  pere),  S.  16. 

3)  Siehe  „Etat  geographique  de  la  proviiice  de  Normandie",  par  le  sieur 
de  Masseville.  Ronen  1722,  chez  J.  Besongne  le  Als.  2  Bände.  Bd.  I,  S.  18. 


32^ 


so  leicht  in  das  regelmäßige  Leben  und  die  Arbeit  finden  konnten,  durch- 
zogen zudem  das  Land,  machten  die  Straßen  unsicher  und  flüchteten 
nach  ihren  Räubereien  in  die  Wälder,  die  bei  dem  Zustand  der  Verwil- 
derung, in  dem  sie  sich  befanden,  eine  sichere  Zuflucht  boten.  Andere 
dieser  gewaltthätigen  Menschen  hetzten  die  Bauern  zum  Widerstand  auf. 
Oft  sah  man  ganze  Banden  verzweifelter  und  erbitterter  Bauern  aus  den 
Dörfern  ausziehen  und  in  die  Wälder  einfallen,  um  zu  jagen  und  Holz 
zu  fällen.  Ihnen  gegenüber  hatten  die  Behörden  einen  schweren  Stand. 
Zwischen  den  Aufsehern,  die  an  Zahl  sehr  gering  waren,  und  den  Land- 
leuten kam  es  oft  zu  blutigem  Kampf.  Die  Akten  des  Parlaments  von 
Eouen  sind  voll  von  Klagen  über  solche  Vorfälle.  So  wird  berichtet,  daß 
im  Jahr  1612  bewaffnete  Bauern  zu  wiederholten  Malen  in  den  Wald 
von  ßoumare  drangen,  der  sich  auf  dem  rechten  Ufer  der  Seine  fast 
bis  zu  den  Thoren  von  Rouen  erstreckte.  Corneille  gebot  damals  nur 
über  vier  Aufseher ;  als  er  aber  eines  Tags  die  Meldung  von  einem  neuen 
Raubzug  der  Bauern  erhielt,  ritt  er,  von  seinen  vier  Leuten  und  einem 
Gerichtsbeamten  begleitet,  ohne  Zögern  hinaus,  um  seinen  Wald  zu 
schützen.  Bald  stieß  er  auf  einige  Hunderfc  Leute ,  welche  mit  Beilen 
und  Messern  bewaffnet  waren  und  eifrigst  Holz  fällten.  Corneille  sprengte 
auf  sie  los,  entriß  einigen  von  ihnen  die  Instrumente  und  hieß  alle  den 
Wald  verlassen.  Die  Bauern  weigerten  sich  dessen ;  ihre  Haltung  wurde 
immer  drohender,  sie  riefen  ihm  zu,  daß  sie  Hunger  und  Frost  litten, 
und  mißhandelten  seine  Begleiter,  so  daß  er  sich  bald  genötigt  sah,  um- 
zukehren. Auf  seinen  Bericht  hin  verfügte  das  Parlament  strenge  Maß- 
regeln ,  um  die  Wiederkehr  solcher  Scenen  zu  verhüten ,  und  bei  der 
harten  Justiz  jener  Zeit  kann  man  sich  vorstellen,  welcher  Art  diese 
Maßregeln  waren.  Der  Reisende,  der  zu  jener  Zeit  das  Land  durchzog, 
mußte  starke  Nerven  haben,  denn  die  zahlreichen  Galgen  an  den  Land- 
straßen oder  in  deren  Ermanglung  auch  die  Bäume  trugen  nur  zu  viele 
und  zu  deutliche  Beweise  für  die  Strenge  der  Gesetze.') 

Daß  solche  Strafgerichte  die  Stimmung  der  armen  Leute  nicht  ver- 
besserten, auch  die  Wiederholung  von  Gewaltthätigkeiten  und  offener  Auf- 
lehnung nicht  verhinderten,  braucht  kaum  gesagt  zu  werden.  Im  Gegen- 
teil, die  Lage  verschlimmerte  sich  immer  mehr,  und  der  Aufstand  der 
Va-nu-pieds  im  Jahr  1640  zeigte,  wie  hoch  das  Elend  gestiegen  war. 
Der  Steuerdruck  war  unerträglich,  umso  unerträglicher,  als  die  „Taille", 
die  drückendste  Auflage,    nur  von  den  Gemeinden,  und  zwar  solidarisch 


1)  Vergl.  Floquet,  Memoire  lu  a  l'Academie  de  Ronen,  janv.  1837,  mit- 
geteilt von  Guizot  (S.  283).  Scarrou  erzählt  in  seinem  „Roman  comique"  im 
9.  Kapitel,  wie  der  Advokat  Ragotin  mit  einem  Kaufmann  an  einem  Galgen 
vorüberkommt,  an  dem  nicht  weniger  als  14  Leichen  hängen.  Der  Anblick 
schreckt  sie  so  wenig,  daß  sie  sich  mit  einem  der  Körper  einen  rohen  Scherz 
erlauben.  —  Vergl.  auch  Sevigne,  Brief  vom  11.  September  1675  aus  Orleans: 
„Nous  avons  trouve  ce  matin  deux  grands  vilains  pendus  a  des  arbres  sur  le 
grand  chemin;  nous  n'avons  pas  compris  pourquoi  des  pendus;  car  le  bei  air 
des  grands  chemins,  il  me  semble  que  ce  sont  des  roues:  nous  avons  ete  occupes 
ä  deviner  cette  nouveaute;  ils  faisoient  une  fort  mauvaise  mine,  et  j'ai  jure  que 
je  vous  le  manderois." 


324 


gezahlt  werden  mußte.  Je  mehr  Gemeindemitglieder  verarmten,  desto 
schwerer  drückte  die  Steuer  auf  jene,  die  noch  etwas  besaßen,  und  führte 
auch  sie  einem  schnellen  Ruin  entgegen.  Im  Jahr  1638  hatte  das  Parla- 
ment von  Eouen  in  einer  Eingabe  den  Zustand  des  Landes  mit  den 
schwärzesten  Farben  geschildert,  und  geklagt,  daß  wegen  des  Steuer- 
drucks ganze  Dörfer  verödet  ständen  und  die  Bauern  sich  in  die  Wälder 
flüchteten,  um  dem  Gefängnis  zu  entgehen.  Die  Antwort  auf  diese  Be- 
schwerden war  eine  Erhöhung  der  Salzsteuer.  Da  brach  der  Grimm  des 
Volkes  in  wilden  Flammen  aus,  die  ganze  aSTormandie  geriet  in  Aufruhr; 
bewaffnete  Banden  durchstreiften  das  Land,  um  Rache  zu  nehmen  an 
allen  Leuten,  die  mit  der  Eintreibung  der  Steuern  irgendwie  zu  thun 
hatten ;  die  Steuerbureaux  wurden  verwüstet,  die  verhaßten  Dränger  ei-- 
schlagen.  Die  „Va-nu-pieds"  gehorchten  den  Befehlen  eines  geheimnis- 
vollen Führers,  und  selbst  Ronen  fiel  in  ihre  Gewalt.  Aber  Richelieu 
war  nicht  der  Mann ,  solchen  Trotz  zu  dulden.  Einige  Regimenter  ge- 
übter Truppen  unter  einem  unbarmherzigen  Führer  zerstreuten  die  schlecht 
bewaffneten  Banden,  und  der  Aufruhr  ward  im  Blut  erstickt;  das  Schaffot, 
der  Galgen  und  die  Galeeren  thaten  das  Übrige,  künftighin  jeden  Ge- 
danken an  Widerstand  zu  unterdrücken.  Das  Volk  sank  in  sein  Elend 
zurück,  stumm  und  gebrochen.^) 

Ähnlich  ging  es  in  anderen  Provinzen  auch  noch  unter  Ludwig  XIV. 
Man  schaudert,  wenn  man  die  Briefe  von  Frau  von  Sevigne  über  das 
Wüten  der  Soldateska  nach  einem  Aufstand  in  der  Bretagne  liest,  und 
so  mag  die  furchtbare  Schilderung,  welche  La  Bruyere  am  Schluß  des 
Jahrhunderts  von  dem  Bauer  giebt,  kaum  übertrieben  sein.  Er  spricht 
dort  von  gewissen  scheuen  Tieren.  Männchen  und  Weibchen,  die  schwarz 
und  von  der  Sonne  verbrannt  sich  auf  dem  Land  in  großer  Anzahl 
finden,  die  den  Boden  mit  unermüdlichem  Fleiß  umwühlen,  die  eine 
menschliche  Stimme  haben,  und  wenn  sie  sich  aufrichten,  ein  mensch- 
liches Antlitz  aufweisen,  ja  die  wirklich  Menschen  sind.^) 

Mit  den  Schilderungen  der  Frau  v.  Sevigne  und  La  Bruyeres  sind 
wir  freilich  schon  in  eine  spätere  Periode  geraten.  Allein  jene  Äuße- 
rungen beweisen  nur  umsomehr,  wie  groß  die  Leiden  des  Volkes  waren. 
und  wie  schwer  anderseits  die  Aufgabe  der  Männer  war,  welche  die  Ver- 
ordnungen der  Regierung  gegenüber  den  Ansprüchen  der  zürnenden  Masse 
zu  verteidigen  hatten.  Die  Forstbeamten  trugen  nebst  den  Steuererhebern 


1)  In  seinem  „Pompee"  lätt  Corneille  Photin,  den  elenden  Minister  des 
Königs  Ptolemäus,  sagen  (I,  1,  104  ff.) : 

La  justice  n'est  pas  une  vertu  d'Etat. 

Le  droit  des  reis  consiste  ä  ne  rien  epargner. 
La  timide  equite  detruit  l'art  de  regner. 

2)  Vergl.  H.  Martin,  Histoire  de  France,  Band  11,  S.  505  ff.  —  Mme. 
de  Sevignes  Brief  an  ihre  Tochter,  datiert  .,La  Silleraye,  -24  sept.  1675"  und 
andere  ihrer  Briefe  aus  jenem  Jahr  über  die  Schlächtereien  in  der  Bretagne. 
La  Bruyere,  Caracteres,  chap.  de  rhomme,  n'^  128  (Ausgabe  von  Servois  in  der 
Sammlung  der  „Grands  Ecrivains-*,  II,  S.  61). 


325 


einen  Hauptteil  des  Hasses,  und  sahen  sich  oft  genötigt,  für  ihr  Leben 
zu  kämpfen,  Pierre  Corneille,  der  Vater,  muß  ein  Mann  von  Energie 
gewesen  sein,  denn  er  versah  seinen  Dienst  gewissenhaft  viele  Jahre, 
bis  er  sich  1620  zurückzog,  obwol  er  nicht  alt  war.  Zwanzig  Jahre 
steten  Kampfes  können  einen  Mann  schon  ermüden;  doch  scheint  ein 
langer  Prozeß,  in  welchen  ihn  seine  Gegner  verwickelten  und  der  schließ- 
lich zu  seinen  Ungunsten  entschieden  wurde,  ihn  in  seinem  Entschluß 
bestärkt  zu  haben. ^)  Als  viele  Jahre  später  sein  Sohn  durch  den  „Cid" 
die  Aufmerksamkeit  der  weitesten  Kreise  auf  sich  zog  und  besonders 
die  Königin  Anna  dem  Dichter  ihre  Huld  zuwendete,  weil  er  einen  spa- 
nischen Helden  gefeiert  hatte,  da  gedachte  man  auch  der  guten  Dienste 
des  Vaters  wieder,  und  König  Ludwig  lohnte  ihn  durch  die  Erhebung 
in  den  Adelsland  (1637). 

Pierre  Corneille  der  ältere  vermählte  sich  am  9.  Juni  1602  mit 
Marthe  Le  Pesant,  der  Tochter  eines  Advukaten  in  Ronen.  Eine  be- 
scheidene Wohlhabenheit  gewährte  ihm  ein  angenehmes  Leben.  Von  seinem 
Vater  hatte  er  ein  Wohnhaus  in  der  Stadt  geerbt  und  später,  im  Jahr 
1608,  kaufte  er  ein  größeres  Bauernhaus  beim  Dorf  Petit-Couronne,  am 
Saum  des  großen  Walds  auf  dem  linken  Seine-Ufer.-)  Dort,  in  der  wür- 
zigen Landluft,  verbrachte  die  Familie  jedes  Jahr  einen  großen  Teil  des 
Sommers.  Corneilles  Ehe  war  mit  Kindern  reich  gesegnet;  seine  Frau 
gebar  ihm  drei  Knaben  und  vier  Mädchen.  Das  älteste  Kind  war  Pierre 


1)  Der  Prozeß  drehte  sich  um  eine  Mauer,  welche  Corneille  auf  fremdem 
Grund  errichtet  haben  sollte,  und  währte  von  1614  bis  1618.  Siehe  Gosselin, 
S.  32  fif. 

2)  Das  Haus  in  der  Stadt.  Rue  de  la  pie  (dessen  Nachbarhaus  der  Vater 
Corneille,  wie  man  glaubt,  gekauft  hat  und  in  welchem  Thomas  Corneille,  der 
jüngste  Bruder  Pierres,  zur  Welt  kam),  steht  heute  nicht  mehr.  Es  war  ein 
zweistöckiges  Haus  mit  drei  Fenstern  in  der  Front  und  war  von  einem  mäch- 
tigen Giebel  überragt.  Jouy,  der  Verfasser  des  „Hermite  de  la  Chaussee  d' An- 
tin", sah  es  noch  im  Anfang  des  Jahrhunderts  und  berichtete  darüber  in  einem 
Artikel  seines  „Hermite  de  Province":  „Maintenant",  me  dit  Eugene,  en  m'en- 
trainant  dans  ies  detours  sinueux  de  rues  etroites ,  „je  vais  vous  couduire  de- 
vant  le  monument  le  plus  honorable  et  le  plus  glorieux  pour  la  ville  de  Ronen. 
Regardez",  continua-t-il  en  me  pla^ant  devant  une  maison  de  fort  mediocre 
apparence,  et  dont  le  rez-de-chaussee  est  oceupe  par  la  boutique  d'un  serrurier. . , 
J'ai  vu  la  chambre  oü  retentirent  Ies  premiers  vagissements  de  cet  homme  qui 
devait  faire  eutendre  sur  la  scene  fran(;aise  de  si  mäles  et  de  si  nobles  aecents. 
La  cheminee,  Ies  croisees,  Ies  portes,  tout  a  ete  religieusemeut  conserve.  Seule- 
ment  on  remarque  9a  et  lä  quelques  legeres  traces  des  enlevements  (|ue  des 
pelerins  enthousiastes  ont  fait  aux  lieux  qui  ont  vu  naitre  Corneille."  —  Petit- 
Couronne  liegt  ungefähr  eine  Stunde  von  Rouen  entfernt  an  der  Seine.  Ein 
Weg,  der  von  Weidenbäumen  beschattet  wird,  führt  zu  dem  Dorf,  in  dem  man, 
nachdem  man  die  Kii-che  hat  rechts  liegen  lassen,  nach  etwa  10  Minuten  zu 
Corneilles  Haus  gelangt.  Der  „Conseil  general"  des  Departements  hat  dasselbe 
gekauft  und  läßt  es  zu  einem  Corneille-Museum  herrichten.  Das  Häuschen  war 
sehr  vernachlässigt,  und  soll  jetzt  im  alten  Stil  wieder  restauriert  werden,  d.  h. 
man  hat  das  Getäfel  neu  gemalt,  die  Kamine  hergestellt  u.  s.  w.  Zu  ebener 
Erde  und  im  ersten  Stock  sind  je  drei  Zimmer,  ein  Garten  findet  sich  neben 
dem  Haus,  und  das  Ganze  ist  von  einer  Mauer  eingeschlossen. 


326 

Corneille,  der  am  6.  Juni  1606  zu  Ronen  das  Licht  der  Welt  erblickte 
und  später  seinen  Xamen  so  berühmt  machen  sollte.^) 

Das  Leben  einer  gut  bürgerlichen  Familie  war  damals  noch  sehr 
einfach.  Antoine  Corneille,  der  Bruder  Pierres,  wurde  im  Jahr  1644 
zum  Pfarrer  von  Freville  ernannt.  Zu  seiner  Ausstattung  lieh  ihm  seine 
Mutter  einige  Hausgeräte,  zwölf  Teller  und  sechs  Schüsseln  aus  feinem 
Zinn,  drei  Dutzend  Handtücher  und  ähnliches  mehr,  dazu  einen  schwarzen 
Tuchrock  aus  dem  Nachlaß  des  Vaters,  und  Antoine  stellte  dafür  einen 
Schein  aus,  in  welchem  er  dieses  Darlehen  anerkannte.-) 

Pierre  Corneille  erhielt  seine  Bildung  zu  Ronen  in  einer  von  Je- 
suiten geleiteten  Anstalt,  in  der  er  sich  vorteilhaft  auszeichnete,  wie  die 
Preise  bezeugen,  die  er  durch  seinen  Fleiß  errang.  Auch  bewahrte  er 
seinen  Lehrern  immer  ein  freundliches  Andenken  und  richtete  noch  in 
seinem  Alter  an  einen  seiner  ehemaligen  Professoren  ein  Gedicht,  in 
welchem  er  sich  mit  Anerkennung  und  Dankbarkeit  als  dessen  Schüler 
erklärte.  ^) 

Nach  vollendeten  klassischen  Studien  widmete  sich  Corneille  der 
Rechtswissenschaft.  Wenn  sein  Vater  eine  Zeit  laug  daran  gedacht  hatte, 

1)  Der  Stammbaum  Corneilles  ist  durch  genaue  Forschungen  so  weit  als 
möglich  festgestellt.  Ein  Pierre  Corneille  wird  schon  1542  erwähnt.  Dessen  Sohn 
Pierre,  „conseiUer  referendaire ,  advocat",  dann  „commis  au  greife  du  Parle- 
ment",  hatte  acht  Kinder,  von  welchen  das  zweite  (der  älteste  Knabe),  Pierre 
Corneille,  der  Vater  des  Dichters  wurde.  Dieser  Pierre  Corneille  hatte  wieder 
sieben  Kinder,  wie  die  nachstehende  Tabelle  zeigt: 
I  Pierre  Corneille 
I  Marthe  Le  Pesant 

^  -  . 

Marthe  Thomas  Mag- 

geb.  1623,  verm.  geb.  1625,  als dra-      delaine 
mit  M.  de  Fönte-  matischer    Dich-     „gy,     jg29^ 
nelle  nnd  Mutter  ter  neben  seinem       i  1635. 
des  in  der  Litte-  Bruder  späterbe-       ' 
ratnrgescbichte  kannt. 

bekannten  Fonte- 
neUe. 

-)  Siehe  Marty-Laveaux.  Corneille,  t.  I,  Notice  biographique,  p.  XXXIII, 
und  Pieces  justificatives,  n^  LXXVI.  Aus  der  Rechnungsablage  für  1651—1652, 
die  Corneille  als  Kirchenrechner  seiner  Gemeinde  schrieb,  ersehen  wir  den  Wert 
des  Gelds  zu  jener  Zeit.  Ein  ^procureur  au  parlament",  Mr.  Ch.  Lefebvre,  zahlte 
für  ein  ganzes  Haus  an  die  Kirehenkasse  50  Livres  jährlicher  Miete.  Die  jähr- 
liche Besoldung  der  Priester  betrug  20—27  Livres,  wozu  allerdings  noch  Neben- 
einkünfte kamen.  Ein  Begräbnis  kostete  von  20  Sous  bis  zu  3  Livres,  und  wenn 
die  große  Glocke  dazu  geläutet  wurde,  6  Livres  mehr. 

3)  Ode  an  den  R.  P.  Delidel,   De  la  compaguie  de  Jesus,  sur  son  traite 
de  la  theologie  des  saints  (1668).    Darin  heißt  es  in  der  letzten  Strophe: 
Je  fus  ton  disciple,  et  peut-etre 
Que  l'heureux  eclat  de  mes  vers 
Eblouit  assez  l'univers 
Pour  faire  peu  de  honte  au  maitre. 
Als    Nachschrift    standen  —    mit    leichter  Änderung    eines   Horazischen 
Verses  —  die  Worte: 

„Quod  scribo  et  placeo,  si  placeo,  omne  tuum  est. 


Pi( 

1                     1                          1 
;rre          Marie         Antoine 

Mag- 

ffeb. 

1606.   geb.  1609,  verm.  geb.  1611, 

delaim 

mit  einem   Sieur  trat  in  den 

geb.  161 

Ballain.          geistlichen 

Stand. 

327 


sein  Amt  auf  den  Sohn  übertragen  zu  lassen,  wie  das  ja  üblich  war, 
so  hatte  er  diesen  Plan  jedenfalls  bald  aufgegeben,  da  er  von  seiner 
Stelle  zu  einer  Zeit  zurücktrat,  als  Pierre,  sein  Sohn,  erst  14  Jahre 
zählte.  Dieser  wurde  1624  unter  die  Zahl  der  Advokaten  aufgenommen. 
In  den  scharfen  Reden  und  Gegenreden  der  dramatischen  Helden,  welche 
der  Dichter  später  auf  die  Bühne  brachte,  will  man  den  Einflaß  seiner 
juristischen  Studien  erkennen.  Eine  solche  Einwirkung  ist  wol  denkbar, 
wenn  man  auch  die  logische  Strenge  seiner  Ausführungen  und  die  Starr- 
heit, welche  seine  Reden  dadurch  bisweilen  erlangen,  mehr  noch  auf 
eine  angeborene  Eigenheit  seines  Charakters  zurückführen  muß.  Übrigens 
scheint  Corneille  in  den  ersten  Jahren  seiner  Advokatur  sich  kaum  mit 
den  Geschäften  befaßt  zu  haben,  denn  in  den  späteren  Dokumenten  aus 
seinem  Leben  wird  dieser  ersten  Würde  gar  nicht  gedacht.  Erst  zu  Be- 
ginn des  Jahrs  1629  machte  er  einen  ernstlichen  Schritt,  um  eine  feste 
Stellung  zu  erlangen.  Er  kaufte  zu  jener  Zeit  von  einem  Herrn  Pierre 
de  Morgerets  zwei  Ämter,  nämlich  die  Stelle  eines  „Advocat  du  Roy  au 
siege  des  eaux  et  forets"  und  daneben  die  des  „Premier  avocat  du  Roi 
en  l'amiraute  de  France  au  siege  general  de  la  table  de  marbre  du  Pa- 
lais". Die  erste  trug  ihm  ein  jährliches  Gehalt  von  170  Livres,  und 
die  zweite  150  Livres,  zusammen  320  Livres  ein.  Doch  waren  noch 
viele  Nebeneinkünfte  mit  diesen  Ämtern  verbunden,  und  man  hat  an- 
näherungsweise sein  jährliches  Einkommen  auf  1200  Livres  geschätzt, 
eine  Summe,  die  für  jene  Zeit  nicht  unbeträchtlich  war.^)  Die  „Table 
de  marbre  du  Palais"  war  ein  Senat,  der  über  Fischerei-  und  Jagdfrevel 
in  zweiter  Instanz,  über  Schiffahrtsstreitigkeiten  in  erster  Instanz  zu 
urteilen  hatte.  Wir  haben  leider  nicht  viel  bestimmte  Nachrichten  über 
die  Jahre,  welche  Corneille  als  junger  Mann  in  Rouen  verlebte.  Wir 
dürfen  aber  annehmen,  daß  er  sich  mit  Eifer  seinem  neuen  Beruf  wid- 
mete. Die  Akten  der  Untergerichte  sind  nicht  mehr  erhalten.  Doch  hat 
man  vor  nicht  langer  Zeit  ein  Manuskript  in  Rouen  gefunden,  das  die 
Sitzungsprotokolle  der  .,Amiraute"  in  den  Jahren  1643  bis  1645  ent- 
hält. Corneilles  Name  findet  sich  häufig  in  denselben,  und  wir  ersehen 
aus  ihnen,  daß  er  sein  Amt  gewissenhaft  verwaltete.  Der  Rückschluß 
ist  bei  einem  Mann  von  Corneilles  Charakter  wol  erlaubt,  daß  er  auch 
schon  früher  in  ähnlicher  Weise  gearbeitet  hat.  Er  selbst  hat  sich  nur 
selten  über  seine  Jugendjahre  geäußert,  und  die  wenigen  Gedichte,  die 
von  ihm  aus  dieser  Zeit  erhalten  sind,  erlauben  keine  weiteren  Schlüsse. 
Corneille  war  keiner  jener  Lyriker,  die,  von  überquellendem  Gefühl  und 
jugendlicher  Begeisterung  fortgerissen,  in  ihren  Liedern  aussprechen 
müssen,    was    sie   bedrängt.    Ist  doch  das  Bewußtsein    seiner  poetischen 


')  Vergl.  „Particularites  de  la  vie  judiciaire  de  Pierre  Corneille",  par 
E.  Gosselin,  greffier  archiviste  ä  la  Cour  imperiale  de  Rouen.  (Extrait  de  la 
Eevue  de  la  Normandie,  juillet  1865.)  Rouen  18G5.  Gosselia  konnte  eine  Reihe 
neuer  Aktenstücke  benutzen.  Die  Dokumente  über  die  Cession  der  beiden  Ämter 
an  Corneille  sind  vom  31.  Dezember  1628  und  vom  10.  Januar  1629  datiert. 
Entgegen  dem  Gebrauch  wird  darin  der  .\dvokatur  Corneilles  keine  Erwähnung 
gethan. 


328 

Kraft  erst  spät  in  ihm  erwacht.  Nach  allem,  was  wir  wissen,  dürfen 
wir  uns  Corneille  als  einen  jungen  Mann  vorstellen,  der  in  sorgenfreier 
Stellung  sein  Leben  nach  Art  der  jungen  Leute  seines  Stands  verbrachte, 
frisch  und  voll  Interesse  auch  für  geistige  Arbeit,  besonders  für  die 
Werke  der  Litteratur.  Wenn  ihn  der  Winter  an  die  Stadt  fesselte ,  so 
verlebte  er  die  Sommermonate  in  Petit-Couronne  oder  er  wanderte  zu 
seinem  Freund,  dem  Abbe  Legendre,  nach  dem  schönen,  hochgelegenen 
Henouville,  auf  dem  rechten  Seine-Ufer,  von  wo  aus  der  Blick  das  weite 
Plußthal  umfaßt. 

Auch  von  Liebesgeschichten  weiß  er  zu  melden,  aber  er  redet  ohne 
Begeisterung  von  ihnen.  Vielmehr  spottet  er  in  kühlem  Vers  über  seine 
jugendliche  Leidenschaftlichkeit. 

„Einstens  war  ich  auch  so  dumm, 

Gingen  mir  die  Schönen  im  Kopf  herum"  — 

sagt  er  in  einem  seiner  ersten  Gedichte  an  einen  Freund,  den  er,  wie 
es  scheint,  in  seinem  Liebeskummer  trösten  wollte.  Auch  er  sei  einst 
so  ein  verliebter  Thor  gewesen,  fügt  er  hinzu, 

„Aufrecht  oder  knieend,  das  Haupt  entblößt, 
Heiter  gestimmt,  in  Wehmut  gelöst, 
Verloren  in  der  Träume  Welt, 
Oder  von  Eifersucht  gequält." 

Das  ganze  Kauderwelsch  und  die  Eeimkunst  der  Verliebten  sei  ihm 
geläufig  gewesen. 

„Doch  blieb  ich  immer  derselbe  Thor, 

Ob  ich  in  Prosa  oder  in  Versen  schwor."  i) 

Doch  spricht  er  auch  einmal  von  einer  ernsteren  Neigung.  In 
seinem   Gedicht   „Excuse  ä  Ariste",  das  zu  Anfang  des  Jahrs  1637   ge- 


1)  Siehe  Corneilles  Gedicht:  „A  Monsieur  D.  L.  T."  (Bd.,X,  S.  25)  der 
Ausgabe  von  Marty-Laveaux  in  der  Sammlung  der  „Grand  Ecrivains  de  la 
France",  die  wir  bei  allen  Citaten  aus  Corneille  benutzen  werden. 

V.  39.   J'ai  fait  autrefois  de  la  bete, 
J'avois  des  Philis  ä  la  tete . . . 


Je  me  mettois  ä  tout  usage, 
Debout,  tete  nue,  ä  genoux, 
Triste,  gaillard,  reveur,  jaloux; 
Je  courois,  je  faissais  la  grue 
Tout  un  jour  au  bout  d'une  rue. 

V.  51.    Tout  ce  petit  meuble  de  bouche 
Dont  un  amoureux  s'escarmouche. 
Je  savois  bien  m'en  escrimer. 
Par  lä  je  m'appris  ä  rimer; 
Par  lä  je  iis  sans  autre  chose 
Un  sot  en  vers  d'un  sot  en  prose. 
Et  Dieu  sait  alors  si  les  feux, 
Les  üammes,  les  soupirs,  les  voeux, 
Et  tout  ce  menu  badinage 
Servoit  de  rime  et  de  remplage. 


329 


druckt  wurde,  aber  nach  des  Dichters  Versicherung  schon  einige  Jahre 
vorher  verfaßt  war,   sagt  er  mit  wehmütig  dankbarer  Erinnerung: 

„Stets  denk'  ich  gerne  an  die  Zeit  zurück, 
Da  ich  erkannt  der  wahren  Liebe  Wert; 
Als  ich  mein  Herz  verlor,  begann  mein  Glück, 
Die  Liebe  nur  hat  dichten  mich  gelehrt"  — 

und  er  versichert,  daß  seitdem  keine  andere  je  von  ihm  geliebt  und  be- 
sungen worden  sei.')  Den  Gedanken,  daß  nur  der  ein  guter  Dichter  sein 
könne,  der  wahrhaft  liebe,  finden  wir  auch  an  anderer  Stelle  von  ihm 
ausgedrückt.-) 

Wir  wissen  nichts  Genaueres  über  diese  Geliebte.  Es  mag  dieselbe 
gewesen  sein ,  die  uns  ein  anderes  Gedicht  unter  dem  Namen  Caliste 
in  traulichem  Liebesgeflüster  mit  Tirsis  zeigt.  Tirsis  (Corneille)  drückt 
sein  Bangen  und  seinen  Zweifel  aus,  ob  er  auch  der  Geliebten  würdig 
sei,  sie  aber  beruhigt  ibn  mit  dem  schalkhaft-innigen,  öfters  wieder- 
holten „Tu  peux  t'en  assurer. " ^'')  Das  ist  so  ziemlich  alles,  was  wir 
von  Corneilles  Jugendliebe  wissen.  Aber  um  diese  unbestimmte  Über- 
lieferung hat  sich  allmählich  eine  anmutige  Legende  gebildet.  Ein 
Freund  Corneilles.  so  heißt  es.  führte  diesen  im  Hause  seiner  Geliebten 
ein  und  erntete  dafür  Undank.  Denn  Corneille  gewann  die  Neigung  des 
Mädchens  für  sich.  In  dem  Geschichtchen  liegt  ein  kleines  Lustspiel, 
und  die  Liebenden  mögen  oft  über  den  getäuschten  Freund  gelacht 
haben.  Die  Idee  lag  nahe,  den  Vorfall  für  die  Bühne  zu  bearbeiten, 
denn  Ronen,  die  große,  belebte  Stadt,  folgte  der  Mode,  wie  Paris  sie 
angab.  Wie  dort  der  Geschmack  an  dramatischen  Aufführungen  in  stetem 
Zunehmen  war,  so  auch  in  Rouen,  das  von  den  wandernden  Schau- 
spielern häufig  berührt  wurde.  Wir  mögen  uns  den  jungen  Advokaten 
als  eifrigen  Besucher  des  Theaters  vorstellen,  und  so  konnte  ihm  der 
Gedanke  erwachsen,  das  kleine  Liebesabenteuer  dramatisch  zu  verwerten . 
Auf  diese  Weise   entstand  vielleicht  sein  erstes  Lustspiel   „Melite". 

Eraste  und  Tircis,  zwei  Freunde,  gebildete  junge  Männer  aus  guter 
Familie,  begegnen  sich  auf  der  Straße  und  plaudern  über  ihre  gesell- 
schaftlichen Beziehungen  und  persönlichen  Absichten.  Eraste  klagt  über 
die  Sprödigkeit  eines  von  ihm  geliebten  Fräuleins,  Melite,    welchem  von 

1)  „Excuse  ä  Ariste",  v.  58  ff.  Bd.  X,  S.  77: 

J'ai  brüle  fort  longtemps  d'une  amour  assez  grande, 
Et  que  jusqu'au  tombeau  je  dois  bien  estimer, 
Puisque  ce  fut  par  lä  que  j'appris  ä  rimer. 
Mon  bonheur  commen9a  quand  mon  äme  fut  prise. 


Elle  eut  mes  premiers  vers,  eile  eut  mes  derniers  feux. 

Aussi  n'aimai-je  plus,  et  nul  objet  vainqueur 
N'a  possede  depuis  ma  veine  ni  mon  coeur. 

2)  Vergl.  z.  B.  sein  Lustspiel  „La  Galerie  du  Palais",  I,  7,  v. 

Un  bon  poete  ne  vient  que  d'un  amant  parfait. 

3)  Corueille,  Bd.  X,  S.  50. 


330 

seiner  Werbung  nichts  hören  will,  obwol  er  ihm  nun  schon  seit  zwei 
Jahren  seine  Huldigungen  darbringt.  Tircis  spottet  über  die  Leidenschaft 
seines  Freundes.  Nach  seiner  Ansicht  ist  der  Umgang  mit  schönen 
Damen  allerdings  recht  angenehm,  und  der  Anfänger  kann  bei  ihnen 
vieles  lernen.  Aber  wenn  es  an  das  Heiraten  gehen  soll,  gilt  es  positiv 
zu  sein  und  auf  Keichtum,  nicht  auf  Schönheit  zu  sehen.  Solche  Reden 
reizen  Eraste,  und  da  er  Melite  an  der  Thür  ihres  Hauses  erscheinen 
sieht,  gerät  er  auf  den  Gedanken,  ihr  Tircis  vorzustellen,  damit  sich 
dieser  von  der  Schönheit  und  dem  Liebreiz  des  Mädchens  überzeuge.  Der 
Einfall  ist  unklug  und  hat  bittere  Polgen  für  Eraste.  Denn  in  einem 
Augenblick  gewinnt  Tircis.  was  Eraste  so  lange  vergeblich  zu  erwerben 
sich  bemüht  hat,  die  Xeigung  Melitens.  Wenige  Worte  und  Blicke 
genügen.  Tircis  vergißt  die  skeptischen  Lehren,  die  er  kurz  zuvor  ge- 
predigt hat,  und  giebt  sich  ganz  seiner  jungen  Leidenschaft  hin.  Ob 
dieses  Verrats  sich  zu  rächen,  entwirft  Eraste  einen  Plan,  der  ihm 
doppelte  Genugthuung  bringen  soll.  Er  will  nicht  allein  Tircis  und  Melite 
entzweien,  er  will  auch  Cloris,  des  Tircis  Schwester,  ihres  Bräutigams 
Philandre  berauben.  Die  Intrigue,  die  er  deshalb  anzettelt,  ist  freilich 
schwach,  und  Corneille  verrät  dabei  die  Unbeholfenheit  des  Anfängers. 
Eraste  läßt  einige  Briefe  fälschen,  in  welchen  Melite  sicli  an  Philandre 
wendet,  ihm  ihre  glühende  Liebe  gesteht,  und  sich  über  Tircis  verächt- 
lich äußert.  Philandre  erhält  diese  Briefe  und  geht  blindlings  in  die 
plumpe  Falle.  Er  bricht  ohne  Zögern  mit  Cloris,  seiner  Verlobten,  und 
zeigt  Tircis  triumphierend,  was  Melite  geschrieben.  Erschüttert,  entsetzt  be- 
schließt dieser,  seinem  Leben  ein  Ende  zu  machen,  und  enteilt,  ohne  weiter 
zu  prüfen,  ohne  nur  Melite  ein  Wort  zu  sagen.  Bald  erhält  diese  durch 
einen  Freund  die  Kunde  von  Tircis'  Tod  und  bricht  besinnungslos  zu- 
sammen. Ein  solches  Ergebnis  hatte  Eraste  nicht  erwartet;  als  er  kommt, 
um  Zeuge  seines  Siegs  zu  sein,  und  die  Nachricht  von  dem  Tod  der 
beiden  Liebenden  erhält,  umflort  sich  sein  Geist.  Wahnsinnig  irrt  er 
umher  und  peinigt  sich  selbst  mit  den  schwersten  Anklagen.  Er  wähnt, 
die  Erde  habe  ihn  verschlungen,  und  er  sieht  in  jedem,  der  ihm  be- 
gegnet, einen  der  Unterirdischen,  mit  welchen  er  kämpfen  müsse.  Solche 
Wahnsinnscenen  waren ,  wie  schon  bemerkt  wurde ,  ein  beliebtes  Aus- 
kunftsmittel der  damaligen  Dichter  und  müssen  dem  Publikum  besonders 
gefallen  haben.')  Unter  anderen  trifft  Eraste  auch  Philandre,  den  er  für 
Minos,  den  Richter  der  Toten,  hält,  und  dem  er  reuig  seine  That  ge- 
steht. Damit  ist  schon  viel  gewonnen,  zumal  sich  herausstellt,  daß 
Tircis  noch  nicht  Hand  an  sich  gelegt,  und  daß  auch  Melite  sich  wieder 
erholt  hat.  So  hat  der  fünfte  Akt  nur  noch  die  Vereinigung  der 
Liebenden  zu  zeigen,    welche  dem  von  seinem   Wahnsinn    geheilten  reu- 


^)  Vergl.  Abschnitt  III,  S.  96,  wo  von  ähnlichen  Scenen  in  Rotrous 
„Hjpocondriaque"  und  Pichons  „Les,  folies  de  Cardenio"  die  Rede  ist.  In 
Retrous  „La  bague  de  roubli",  einer  Übersetzung  aus  dem  Spanischen  des  Lope 
de  Vega,  verliert  der  König  Alfons  von  Sizilien  sein  Gedächtnis  durch  den  Ein- 
fluß eines  magischen  Rings,  und  so  ließe  sich  noch  manches  Stück  aus  jener 
Zeit  anführen,  in  dem  der  Wahnsinn  eine  Rolle  spielt. 


331 


mutigen  Eraste  verzeihen.  Die  kecke  Cloris  hat  zwar  ihren  Liebhaber 
verloren  ,  allein  in  ihrem  leichten  Sinn  tröstet  sie  sich ,  ja  sie  spottet 
des  Getäuschten,  und  weist  die  Geschwister  wenigstens  nicht  entschieden 
ab,  als  diese  ihr  in  Eraste  einen  andern  Bräutigam  empfehlen.  So  ist 
es  nur  der  charakterlose  Philandre,   der  zu  büßen  hat. 

Im  Jahr  1629  gab  eine  Schauspielertruppe  in  Rouen  ihre  Vor- 
stellungen. Der  Direktor  derselben,  Mondory,  war  ein  einsichtiger  Mann, 
der  auch  als  Schauspieler  glänzte.  Ihm  brachte  Corneille  sein  Lustspiel, 
und  sah  es  auch  zur  Aufführung  angenommen.  Mondory  rüstete  sich 
gerade ,  nach  Paris  überzusiedeln ,  um  das  Theater  in  Marais  zu  über- 
nehmen. Das  Wagnis  war  groß;  die  Gesellschaft,  welche  bis  dahin  in 
Marais  gespielt  hatte,  war  zu  Grunde  gegangen.  Aber  Mondorys  Truppe 
war  gut,  und  er  selbst  sollte  bald  als  der  erste  dramatische  Künstler 
in  Paris  angesehen  werden.  Er  beschloß,  Corneilles  Lustspiel  zuerst  in 
der  Hauptstadt  aufzuführen,  ein  Beweis,  daß  er  sich  viel  davon  versprach. 
Die  erste  Vorstellung  fiel  höchst  wahrscheinlich  in  das  Jahr  1629.^) 
Der  Erfolg  entsprach  indessen  anfangs  den  Erwartungen  Mondorys  nicht. 
Die  Kritik  fand  das  Stück  nicht  effektvoll  genug ,  und  das  größere 
Publikum  vermißte  die  Würze,  an  die  es  gewöhnt  war.-)  „Melite"  führte 
ihm  eine  Welt  vor,  die  es  kannte,  denn  es  war  die  eigene  Welt.  Aber 
ging  man  deshalb  ins  Theater?  Wo  blieben  die  Possenreißer,  die  Meister 
der  Fratze,  die  mehr  als  plumpen  Spaße,  die  Handgreiflichkeiten  und 
all  die  herkömmliche  Ungeschlachtheit,  welche  den  Hauptreiz  der  bis 
dahin  besonders  geschätzten  Possen  bildeten ,  und  das  unauslöschliche 
Gelächter  des  Publikums  hervorriefen?  Erst  nach  einigen  Vorstellungen 
fand  „Melite"  wärmere  Aufnahme.  Vielleicht  daß  die  Nachricht  von  der 
anders  gearteten  Komödie  erst  ein  feineres  Publikum  heranziehen  mußte. 
Denn  wen  hätte  die  erste  Ankündigung  eines  neuen  Stücks,  dessen  Ver- 
fasser nicht  einmal  genannt  wurde,  anlocken  können?^)  Die  Schauspieler 
nannten  die  Dichter  der  aufzuführenden  Stücke  nur,  wenn  sie  auf  die 
Anziehungskraft  eines  bekannten  Namens  rechneten,  und  auch  das  war 
noch  nicht  lange  üblich.  Zieht  man  die  Verhältnisse  in  Betracht,  so 
kann  man  sich  über  den  anfänglich  schwachen  Beifall  nicht  wundern ; 
es  könnte  eher  auffallen,  daß  Corneille  mit  seinem  Lustspiel  so  schnell 
durchdrang.  Denn  schon  nach  einigen  Vorstellungen  würdigte  man  den 
Fortschritt,  den  die   „Melite"  aufwies,  und  begrüßte  die  neue  Richtung 

1)  Vergl.  Parfaict  IV,  460,  Taschereau,  Vie  de  Corneille, 'p.  7.  Martj'- 
Laveaux  I,  129. 

2j  jn  dem  Vorwort  zu  ,.Clitandre"  spricht  Corneille  von  den  Kritikern 
„qui  ont  bläme  l'autre  de  peu  d'eifets",  und  in  dem  „Examen"  desselben  Stücks 
sagt  er:  „J'entendis  que  ceux  du  metier  la  blämaient  de  peu  d'effets  et  de  ce 
que  le  style  en  etoit  trop  familier". 

3)  Corneille  sagt  in  der  Widmung  der  „Melite"  an  Mr.  de  Liancour: 
„ . . .  quand  je  considere  le  peu  de  bruit  qu'elle  fit  ä  son  arrive  ä  Paris,  venant 
d'un  hemme  qui  ne  pouvoit  sentir  que  la  rudesse  de  son  pays,  et  tellement 
inconnu  qu'il  etoit  avantageux  d'en  taire  le  nom;  quand  je  me  souviens,  dis-je, 
que  ses  trois  premieres  representations  ensemble  n'eurent  point  tant  d'afflueuce 
que  la  moindre  de  Celles  qui  les  suivirent  dans  le  meme  hiver  etc." 


332 

mit  Wärme. ^)  Damit  war  Corneilles  Ruf  begründet;  er  fand  niclit  allein 
Zutritt  in  den  litterarischen  Kreisen,  er  wurde  auch  in  die  aristokratische 
Welt  eingeführt,  soweit  sich  dieselbe  für  Litteratur  interessierte.  Gleich 
das  folgende  Drama,  „Clitandre",  durfte  Corneille  dem  Freund  der 
Dichter,  dem  Herzog  Heinrich  von  Longueville,  widmen,  und  aus  der 
Zueignung  erfahren  wir,  daß  er  ihm  einzelne  Akte  schon  vor  der  Auf- 
führung vorgelesen  hatte. 

„Melite"'.  das  Lustspiel,  das  Corneille  dem  Pariser  Publikum  bot, 
mußte  in  der  That  einen  eigentümlichen  Reiz  für  die  Gebildeten  haben. 
Noch  hatte  niemand  das  moderne  wirkliche  Leben  so  auf  der  Bühne 
wiederzugeben  versucht.  Zum  erstenmal  sah  man  ein  Bild  der  feinen 
Gesellschaft  jener  Tage  an  sich  vorüberziehen;  man  vernahm  auf  den 
Brettern  die  raffinierte  Sprache  der  Stutzer  und  Schöngeister,  wie  sie  in 
den  Salons  zu  hören  war,  und  das  ganze  Stück  hatte  einen  Ausdruck 
der  Wahrheit,  der  doppelt  merkwürdig  berühren  mußte  zu  einer  Zeit, 
wo  man  gerade  auf  diese  Eigenschaft  im  Lustspiel  am  wenigsten  achtete. 
Man  höre  z.  B.,  wie  Eraste  seine  Liebe  schildert: 

Mit  meinem  ganzen  Sein  gehör'  ich  ihr; 
Nur  wenn  sie  fern,  beklag'  ich  diese  Herrschaft. 
Vergebens  such'  ich  Rettung  in  der  Flucht, 
Und  strebe  meine  Freiheit  mir  zu  sichern. 
Ein  Blick  genügt,  der  Zauber  ihres  Auges 
Wirft  mich  zurück  in  meine  frühern  Fesseln. 
So  sehr  verblendet  mich  der  süße  Reiz, 
Daß  ich  die  Heilung  Hiebe,  um  zu  leiden. 

Auf  diese  und  ähnliche  Redensarten  der  herkömmlichen  Galanterie  ent- 
gegnet Tircis  mit  spöttischem  Wort: 

.Mein  Freund,  bewundernswert  ist  Deine  Laune, 
Du  stellst  Dich  elend,  um  beredt  zu  sein."^) 

Tircis  erklärt  dieses  ganze  Gebaren,  dieses  Haschen  nach  schönen 
Worten  für  Sache  der  Mode,  für  eitel  Wind. 


1)  Examen  de  Melite:  _Le  .^ueces  en  fut  surprenant:  il  etablit  une  nou- 
velle  troupe  de  comediens  ä  Paris,  malgre  le  merite  de  celle  qui  etoit  en  pos- 
session  de  s'y  voir  l'unique;  il  egala  tout  ee  qui  s'etoit  fait  de  plus  beau  jus- 
qu'alors,  et  me  fit  connoitre  a  la  cour." 

2)  Meute  I,  1,  V.  5  ff. 

Elle  a  sur  tous  mes  sens  une  entiere  puissance; 
Si  j'ose  en  murmurer,  ce  n'est  qu'en  son  absence, 
Et  je  menage  en  vain  dans  un  eloignement 
ün  peu  de  liberte  pour  raon  ressentiment: 
ü'un  seul  de  ses  regards  Tadorable  contrainte 
Me  rend  tous  mes  liens,  en  resserre  l'etreinte, 
Et  par  un  si  doux  charme  aveugle  ma  raison, 
Que  je  cherche  mon  mal  et  fuis  ma  guerison. 

und  Tircis  Antwort,  ebendaselbst,  v.  21: 

Qiie  je  te  trouve,  ami,  d'une  humeur  admirable. 
Pour  paroitre  eloquet,  tu  te  feins  miserable 


333 


„Ein  hübsch  Gesicht  verlangt  ein  schmeichelnd  Wort : 
Der  Neuling  mag  in  dieser  Kunst  sich  üben. 
Auch  ich  kann  bei  den  Schönen  feurig  reden, 
Da  es  die  Mode  also  von  uns  heischt. 
Und  solche  Worte,  wie  das  Buch  sie  lehrt, 
Sind  dort  an  ihrem  Platz.  Da  gilts  vor  allem, 
Erdichtet  Leid  z\i  klagen,  und  zu  flehen 
.  Um  Heilung,  schwülst'gen  Unsinn  auch  zu  schwatzen, 
Von  künft'ger  Wundert  hat  zu  faseln,  und 
Zu  schwören,  daß  kein  Hindernis  zu  groß; 
Doch  alles  das  ist  Wind  und  nichts  als  Wind."') 

Wir  haben  hier  eine  der  ersten  Protestationen  gegen  die  falsche 
Manier  des  Ausdrucks  und  die  hohle  Galanterie.  Wenn  Tircis  gleich 
darauf  Melite  zum  erstenmal  gegenübersteht,  gebraucht  er  natürlich 
selbst  die  gerade  erst  von  ihm  getadelten  Redensarten.  „Seid  nicht  so 
eisig  gegen  Liebesglut",  sagt  er  im  Stil  der  Precieusen.  Allein,  sobald 
er  wirkliche  Leidenschaft  für  Melite  empfindet,  wird  seine  Sprache 
einfacher  und  ruhiger,  und  durch  die  ersten  Liebesscenen  klingt  es,  als 
ob  der  Dichter  schöner  Stunden  seines  eigenen  Lebens  gedächte.  Das 
Streben  nach  Wahrheit  und  richtiger  Zeichnung,  welches  durch  die 
ganze  Dichtung  geht,  bildet  dessen  Hauptverdienst.  In  dieser  Richtung 
zeigte  sich  am  klarsten  der  Fortschritt,  den  das  Lustspiel  unter  dem 
Einfluß  Corneilles  machte.  Er  möchte  die  Schwächen  seiner  Zeit  geißeln, 
und  versucht;  Menschen  aus  der  ihm  bekannten  Welt  zu  schildera. 
Trotzdem  kann  „Melite"  nicht  als  das  erste  wirkliche  Lustspiel  der 
französischen  Litteratur  angesehen  werden,  denn  noch  sind  die  einzelnen 
Personen  des  Stücks  schattenhaft.  Allerdings  waren  sie  nicht  mehr 
Kopien  der  Lustspielpersonen  des  Altertums  oder  der  italienischen  Posse, 
Figuren,  welche  auf  der  französischen  Bühne  ohne  Halt  und  ohne  Zu- 
sammenhang mit  dem  wirklichen  Leben  erschienen ;  Corneilles  Menschen 
standen  schon  auf  dem  realen  Boden  der  französischen  Gesellschaft, 
aber  das  war  auch  ihr  ganzes  Verdienst.  Der  Dichter  läßt  zwar  viel 
von  der  bezaubernden  Persönlichkeit  Melitens  reden,  aber  er  versteht 
es  nicht,  sie  uns  deutlich  zu  machen.  In  keinem  Wort  beweist  Melite  ihre 
geistige  Überlegenheit  über  die  anderen.  Zwischen  Tircis  und  Eraste 
ist  der  Unterschied  kaum  angedeutet,  während  Philandre  schon  etwas 
plumper  geschildert  wird.  Cloris  erscheint  zwar  als  ein  Mädchen  von 
heiterem  Gemüt  und  voll  schalkhafter  Laune,  aber  auch  bei  ihr  geht 
die  Charakteristik  nicht  über  leichte  Andeutuno-en  hinaus. 


3)  Ibid.,  V.  59: 

Ces  visages  d'eclat  sont  bons  ä  cajoler; 

C'est  lä  qu'un  jeune  oiseau  doit  s'instruire  a  parier ; 

J'aime  ä  remplir  de  feux  ma  bouche  en  leur  presence, 

La  mode  nous  oblige  ä  cette  complaisance; 

Tous  ces  discours  de  livre  alors  sont  de  saison: 

II  faut  feindre  des  maux,  demander  guerison, 

Donner  sur  le  phebus,  promettre  des  miracles; 

Jurer  qu'on  brisera  toute  sorte  d'obstacles; 

Mais  du  vent  et  cela  doivent  etre  tout  un. 


334 

Erst  nach  einer  Reihe  vön  Jahren  und  nach  der  Begründung  der 
klassischen  Tragödie  sollte  Corneille  auch  den  Ruhm  erwerben,  in  seinem 
„Menteur"   das  erste  französische  Lustspiel  geschaffen  zu  haben. 

Man  hat  sich  vielfach  bemüht,  über  das  Urbild  der  Melite  etwas 
Genaueres  zu  finden.  Allein  außer  Corneilles  Wort,  daß  die  Liebe  ihm 
die  erste  Anregung  zu  seiner  Dichtung  gegeben  habe,  besitzen  wir  keine 
sichere  Angabe.  Viele  Jahre  verstrichen  nach  der  Aufführung  der 
„Melite",  bevor  nur  ein  Wort  über  die  Geliebte  des  Dichters  verlautete. 
Erst  in  einem  Nekrolog  Corneilles  aus  dem  Jahr  1685  findet  sich  die 
Bemerkung,  daß  der  Dichter  den  Plan  zu  seiner  „Melite"  nach  einem 
persönlichen  Abenteuer  entworfen  habe.^)  Ähnliches  berichtete  Thomas 
Corneille  in  seinem  geographischen  Wörterbuch  gelegentlich  eines  Artikels 
über  Ronen  (1708).  Eine  ausführlichere  Erzählung  gab  erst  Fontenelle 
in  seinem  „Leben  Corneilles".^)  Fontenelle  war  allerdings  der  Neffe  des 
Dichters ,  aber  sehr  viel  jünger  als  dieser ,  und  seine  Schrift  erschien 
über  hundert  Jahre  nach  der  ,,Melite".  Auch  andere  seiner  Angaben 
haben  sich  als  irrig  erwiesen,  wie  z.  B.  die  Notiz,  daß  „Melite"  schon 
1625  aufgeführt  worden  sei.  Übrigens  nennt  Fontenelle  die  Geliebte 
nicht,  sondern  erzählt  nur,  man  habe  in  Rouen  lange  Zeit  eine  Dame 
mit  dem  Namen  Melite  bezeichnet.  Erst  später  glaubte  man  auch  den 
■wirklichen  Namen  zu  wissen.  In  einem  Manuskript  der  Bibliothek  zu 
Caen  wird  zuerst  gesagt,  der  Familienname  des  von  Corneille  geliebten 
Mädchens  sei  Milet  gewesen.^)  Die  Kirchenbücher  und  Register  von 
Rouen  konnten  nicht  zu  Rate  gezogen  werden,  da  sie  große  Lücken 
aufweisen.  So  bleibt  die  Frage,  die  an  sich  geringfügig  ist,  unerledigt. 
Aber  wir  können  uns  des  Eindrucks  nicht  erwehren,  als  liege  hier  eine 
Legende  vor.  Man  kann  fast  mit  dem  Blick  verfolgen,  wie  die  anmutige 
Fabel  entsteht ,  wächst,  an  Form  gewinnt,  und  wie  schließlich  aus  dem 
Namen  der  Dichtung  auch  der  Familienname  des  von  Corneille  mit  seiner 
Liebe  beglückten  Mädchens  gebildet  wird. 

Im  Druck  erschien  „Älelite"  erst  1633.  ■*)  Diese  Verzögerung  darf 
uns  nicht  Wunder  nehmen,  denn  mit  dem  Druck  entsagte  der  Dichter 
jedem  Anspruch  auf  Honorar.     So  lang  ein  Stück  nur  Manuskript    war, 


1)  Siehe  „Les  nouvelles  de  la  republique  des  lettres",  janvier  1685. 

^)  Zuerst  mitgeteilt  1729  von  d'Olivet  nach  Pellissons  Histoire  de  l'Aca- 
demie  francaise,  dann  1742  von  Fontenelle  selbst  in  seiner  Histoire  du  theätre. 
(Ausgabe  von  1767,  t.  IH,  S.  82.) 

3)  Das  Manuskript  nr.  55  der  Bibliothek  zu  Caen  „Athenae  Normannorum 
veteres  ac  recentes"  aus  dem  Jahre  1720  sagt  nur:  „Melita,  nomen  foeminae 
cujusdam  nobilis  rothomagae".  Das  Manuskript  nr.  57 :  „Le  Moreri  des  Normands", 
par  Jos.  Andre  Guiot  de  Rouen  (2  B.),  giebt  den  Namen  Milet.  Das  Manuskript 
aber,  das  kein  Datum  trägt,  stammt  nach  der  Ansicht  des  Oberbibliothekars  von 
Caen,  Herrn  Travers,  aus  der  Zeit  von  1784—1790  und  hat  in  diesem  Punkt 
keine  Autorität.  Ich  verdanke  diese  Mitteilungen  der  Gute  des  Herrn  Professors 
A.  Büchner  zu  Caen. 

*)  Melite  ou  Les  fausses  lettres.  Piece  comique.  A  Paris  1633,  chez  Fran- 
9ois  Targa.  Der  zweite  Titel  verschwand  in  der  Ausgabe  von  1644,  welche  über- 
haupt für  alle  Stücke  nur  den  Haupttitel  beibehielt. 


335 


mußten  es  die  Theater  ihm  abkaufen;  war  es  einmal  gedruckt,  galt  es 
als  Gemeingut. 

Eine  geraume  Zeit  verstrich,  bevor  Corneille  mit  einem  zweiten 
Stück  sein  Glück  versuchte.  Hatte  ihn  die  Kritik  der  „Meiite"  irre  ge- 
macht ,  arbeitete  er  so  langsam ,  oder  hielten  ihn  seine  Berufsgeschäfte 
von  der  dichterischen  Thätigkeit  ab?  Nach  der  wahrscheinlichsten  An- 
gabe ließ  er  erst  im  Jahr  1632  ein  neues  Werk  aufführen,  und  zwar 
war  es  diesmal  eine  Tragikomödie,  „Clitandre".  Wir  dürfen  annehmen, 
daß  wiederum  Mondory  das  Stück  für  seine  Truppe  erworben  hatte. 
Über  dessen  äußeren  Erfolg  liegen  uns  keine  besonderen  Nachrichten 
vor,  aber  da  Corneille  es  noch  in  demselben  Jahr  1632  drucken  ließ, 
dürfen  wir  annehmen,  daß  der  Beifall  nur  mäßig  war.') 

„Clitandre"  ist  eine  gründlich  verfehlte  Arbeit.  Aber  sie  ist  dadurch 
interessant,  daß  sie  uns  einen  Blick  in  die  innere  Arbeit  Corneilles 
gestattet.  Noch  war  er  sich  über  seine  Aufgabe  nicht  klar,  und 
tastend  suchte  er  seinen  Weg.  Er  empfand,  daß  das  französische  Drama 
in  der  Form,  die  es  angenommen  hatte,  nicht  genügen  konnte,  und  er 
bemühte  sich,  ihm  eine  neue,  entsprechende  Gestalt  zu  geben.  Sein 
,,Clitandre"  sollte  die  Forderungen  der  Gelehrten  in  Hinsicht  auf  die 
Einheit  des  Orts  und  der  Zeit  mit  der  Freiheit  und  Beweglichkeit  der 
Bühne,  mit  Hardys  Manier,  versöhnen.  Ja,  Corneille  versuchte  sogar 
weiter  zu  gehen  als  Hardy,  und  erlaubte  sich,  Begebenheiten  auf  der 
Scene  zu  zeigen,  welche  Hardy  nur  hätte  erzählen  lassen.  In  der  Vor- 
rede zu  der  ersten  Ausgabe  seines  „Clitandre"  rühmt  er  sich  dieser 
Kühnheit.  Aber  sie  barg  keinen  Fortschritt  in  sich ;  die  Freiheit  der 
Bühne,  wie  Corneille  sie  in  dieser  Dichtung  auffaßte,  hätte  das  fran- 
zösische Drama  um  30  Jahre  zurückgeworfen.  Der  Inhalt  des  „Clitandre" 
ist  in  der  Kürze  kaum  anzugeben.  Das  Stück  spielt  in  dem  Schloß 
eines  Königs  von  Schottland  und  dem  einsamen  Wald,  der  es  um- 
giebt.  So  meint  der  Dichter  die  Einheit  des  Orts  doch  zu  bewahren. 
Die  schöne  Caliste,  ein  Edelfräulein  vom  Hof,  wird  von  Eosidor  und 
Clitandre,  zwei  vornehmen  Herren,  umworben,  und  der  erstere  sieht  seine 
Liebe  erwidert.  Aber  gleichzeitig  hat  ßosidor  in  dem  Herzen  einer 
andern  Dame.  Dorise,  eine  glühende  Leidenschaft  erweckt,  und  da  er 
sie  nicht  beachtet,  faßt  sie  einen  teuflischen  Plan.  Von  Eifersucht  ge- 
trieben, lockt  Dorise  ihre  glückliche  Nebenbuhlerin  unter  einem  falschen 
Vorwand  an  eine  einsame  Stelle  des  Waldes,  um  sie  dort  zu  töten.  Zu- 
fällig hegt  der  Bösewicht  des  Stücks,  der  verräterische  Pymante  ,  eben- 
falls einen  Mordanschlag  gegen  Eosidor,  weil  er  nur  nach  "dessen  Tod 
hoffen  kann ,  die  Liebe  der  Dorise  zu  erwerben.  Um  seinen  Plan  aus- 
zuführen ,  hat  er  zwei  Leute  Clitandres  bestochen ;  der  eine  derselben 
hat  die  Handschrift  seines  Herrn  nachgeahmt,  eine  Herausforderung  an 
Eosidor  geschrieben,  und  ihm  als  Ort  des  Stelldicheins  gerade  jenen 
Platz  im  Wald  angegeben,  an  welchen  Dorise  ihre  ahnungslose  Freundin 


1)  Clitandre  ou  L'innocence  deiivree,    tragicomedie.    A  Paris  1632,    chez 
Franfois  Targa. 


336 


führt.  Dort  erwartet  ihn  Pj-mante  mit  seinen  zwei  Spießgesellen ,  ver- 
larvt  und  durch  Bauerntracht  unkenntlich  gemacht.  In  einer  Reihe  rascher 
Scenen  entwickelt  sich  nun  das  Stück.  Dorise  will  Caliste  ermorden; 
in  demselben  Augenblick  bricht  Eosidor  verwundet  und  von  drei  Mord- 
gesellen verfolgt,  aus  dem  Gebüsch  hervor.  Sein  Schwert  zerbricht  ihm 
im  Kampf,  aber  er  entreißt  der  finsteren  Dorise,  die  ihre  Hand  zum  töd- 
lichen Streich  erhoben  hat,  die  Waffe,  erschlägt  zwei  seiner  Angreifer  und 
zwingt  den  dritten.  Pymante,  zur  Flucht.  Durch  diese  glückliche  Gegen- 
wehr ist  auch  Caliste  gerettet,  und  sie  geleitet  den  vom  Blutverlust 
ermatteten  Eosidor  zum  nächsten  Dorf,  um  Hilfe  zu  finden.  Dorise,  die 
sich  verloren  sieht,  entschließt  sich  zur  Flucht;  sie  legt  die  Kleidung 
eines  der  Gefallenen  an,  gerät  aber  in  die  Hand  Pymantes,  dessen 
frecher  Lüsternheit  sie  sich  nur  dadurch  erwehren  kann ,  daß  sie  ihm 
mit  einer  Haarnadel  ein  Auge  aussticht.')  Alles  dies  und  mehr  noch 
geht  auf  der  Bühne  vor  sich.  Unterdessen  hat  man  die  beiden  Leichen 
als  die  der  Leute  Clitandres  erkannt,  und  da  die  Herausforderung 
Eosidors  als  von  Clitandre  geschrieben  gilt,  ist  jeder  Zweifel  unzulässig. 
Clitandre  wird  auf  Befehl  des  Königs  in  den  Kerker  geworfen  und  soll 
sterben.  Doch  er  hat  einen  warmen  Freund  in  dem  königlichen  Prinzen, 
der  sich  seiner  annimmt,  und  da  man  bald  auch  Dorise  und  Pymante 
ergreift,  letzterer  seine  schwarze  That  eingesteht  und  seinen  Eichtern 
sogar  höhnisch  entgegentritt,  so  wird  Clitandres  Unschuld  noch  zur 
rechten  Zeit  erkannt.  Der  fünfte  Akt  bringt  dann,  ähnlich  wie  in 
„Melite",  das  Bild  des  glücklichen  Brautpaars  Eosidor  und  Caliste,  und 
läßt  den  Zuschauer  hoffen,  daß  sich  auch  Clitandre  und  Dorise  zusammen- 
finden werden.  Diese  hat  ja  nur  aus  Liebesleidenschaft  gefehlt,  und  hat 
zudem  Anspruch  auf  Verzeihung  erworben,  da  sie  den  Prinzen  in  einem 
Kampf  mit  dem  wütenden  Pymante  gerettet  hat. 

Dies  ist  ungefähr  der  Lihalt  der  Tragikomödie,  wenn  mau  alles 
Nebensächliche  wegnimmt.  Aber  dies  letztere  überwuchert  so  sehr,  daß 
Corneille  in  seiner  Vorrede  zugesteht,  es  sei  für  den  Zuschauer  schwer, 
das  Stück  zu  verstehen,  wenn  er  es  nicht  öfters  sehe.  Es  erinnert  uns 
in  mancher  Hinsicht  an  Shakespeares  „Titus  und  Andronicus".  Nur  ist 
das  englische  Stück  in  dem  Maß  ungebundener  und  tumultuarischer,  als 
die  englische  Bühne    die   französische    an  Freiheit   der  Bewegung   über- 


1)  Nachdem  Pymante  auf  die  genannte  Weise  sein  Auge  verloren  hat 
und  Dorise  ihm  entschlüpft  ist,  redet  der  Schwerverletzte  die  Nadel,  die  ihm 
in  der  Htind  geblieben  ist,  folgendermaßen  an  (IV,  2,  v.  19  ff.): 

0  toi  qui,  secoudant  son  courage  inhumain, 

LoLn  d'orner  ses  cheveux,  deshonores  sa  main, 

Execrable  instrument  de  sa  brutale  rage. 

Tu  devois  pour  le  moins  respecter  son  Image: 

Ce  Portrait  accompli  d'uu  chef-d'oeuvre  des  cieux, 

Imprime  dans  mon  coeur,  exprime  dans  mes  yeux, 

Quoi  que  te  commandät  une  äme  si  cruelle, 

Devoit  etre  adore  de  ta  pointe  cruelle. 
Damit  war  man  zu  den  Pointen  der  Theophile'schen  galanten  Dramendichtung 
zurücliS'ekommen. 


337 

traf.  Selbst  in  dieser  unregelmäßig-sten  aller  französischen  Tragödien  ist 
-doch  noch  eine  gewisse  Ordnung  gewahrt,  sind  die  Massen  von  der 
Bühne  ferngehalten  und  herrscht  der  Alexandriner.  Später  fühlte  sich 
der  Dichter  so  unangenehm  von  seiner  Jugendarbeit  berührt,  daß  er  ver- 
suchte, sie  als  das  Ergebnis  eines  schlechten  Scherzes  hinzustellen.  Als 
er  gelegentlich  einer  Aufführung  der  „Melite"  nach  Paris  gerei.'-t  sei, 
habe  man  ihm  vorgeworfen,  daß  er  in  seinem  Stück  die  Eegel  von  der 
Einheit  der  Zeit  nicht  befolgt  habe.  Darum  habe  er  es  unternommen, 
ein  Stück  zu  schreiben,  das  alle  Regeln  beachte  und  doch  nichts  tauge. 
Die  UnWahrscheinlichkeit  dieser  Erklärung  springt  in  die  Augen.  Ein 
junger  Dichter  spielt  nicht  so  mit  seinem  Euf.  Es  erscheint  uns  viel 
natürlicher,  anzunehmen,  daß  Corneille  auch  mit  diesem  Stück  den  Ver- 
such einer  Neuerung  machte.  In  diesem  unverkennbaren  Streben  nach 
Reformen  verrät  sich  seine  dramatische  Begabung.  Er  war  mit  der  her- 
kömmlichen Form  nicht  zufrieden,  und  von  seinem  ersten  Lustspiel  an 
enthüllt  er  immer  wieder  diesen  Wunsch,  dem  Theater  neue  Gebiete  zu 
erschließen,  dem  Drama  reichere  und  bessere  Formen  zu  geben.  Wie  er 
es  in  ..Melite"  mit  einem  neuen  Stil  versuchte  und  in  „Clitandre"'  von 
dem  Herkommen  abzuweichen  sich  unterfing,  so  werden  wir  auch  in  den 
folgenden  Dichtungen  immer  wieder  dem  mutigen,  auf  Reformen  gerich- 
teten Sinn  Corneilles  begegnen. 

Der  Zauber,  den  die  Bühnenwelt  auf  alle  ausübt,  die  ihr  näher 
treten,  fesselte  auch  Corneille,  und  mit  Feuereifer  widmete  er  sich  nun 
der  dramatischen  Arbeit.  Die  Vorbereitung  und  Aufführung  seiner  Stücke 
führte  ihn  öfters  von  Ronen  nach  Paris,  veranlaßte  ihn  auch  wol  zu 
längerem  Aufenthalt  daselbst.  Corneille  glaubte  an  sein  Talent  und  hatte 
dessen  kein  Hehl,^)  aber  seine  Dichtungen  zeigen  auch,  daß  er  es  mit 
seiner  Aufgabe  ernst  nahm,  und  daß  er  fortwährend  bemüht  war,  seine 
Kunst  auszubilden  und  zu  entwickeln. 

In  den  Jahren  1632  und  1633  dichtete  er  vier  Lustspiele,  die 
sich  in  der  Manier  der  Behandlung  ziemlich  gleichen:  „La  veuve",  „La 
galerie  du  Palais",  „La  suivante"  und  „La  Place  Royale".  Über  die 
Zeit  der  Aufführung  ist  man  nicht  ganz  sicher.  Während  man  die  zwei 
letztgenannten  Stücke  früher  in  das  Jahr  1634  verlegte,  scheint  es  jetzt 
mehr  als  wahrscheinlich,  daß  auch  sie  schon  im  Jahr  zuvor  aufgeführt 
wurden.  Die  Thätigkeit  des  Dichters  erschiene  dann  umso  größer.-) 

Corneille  hat  auch  in  seinen  späteren  Dramen  die  Schwierigkeiten, 
welche  Anlage  und  Plan  bieten,  nie  ganz  überwunden.  Au«h  in  diesen 
ersten  Lustspielen  ist  die  Handlung  sehr  einfach,  die  Intrigue  mehr  als 

1)  Dies  geht  aus  späteren  hämischen  Bemerkungen  seiner  Gegner  hervor. 
So  heißt  es  z.  B.  in  der  „Lettre  du  sieur  Claveret"  an  Corneilie  bei  Gelegen- 
heit des  „Cid":  „Ce  ne  sera  pas  un  petit  plaisir  pour  le  monde,  si  vous  conti- 
nuez  ä  vous  persuader  d'etre  si  grand  poete;  il  est  vrai  que  des  le  premier 
voyage  que  vous  fites  en  cette  ville,  les  judicieux  reconnurent  en  vous  cette 
humein-." 

2)  Gedruckt  erschien  die  „Veuve"  im  Jahr  1634,  die  anderen  erst  im 
Jahr  1637,  zugleich  mit  dem  „Cid". 

Lotheißep,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  oo 


338 

schwach.  In  dem  erstgenannten  Stück  („La  veuve")  handelt  es  sich  um 
die  Liebe  zweier  jungen  Leute  zu  Ciarice,  einer  schönen  Witwe  aus  vor- 
nehmem Geschlecht.  Einer  dieser  Liebhaber,  Philiste,  ein  ehrlicher,  treuer 
Mann,  ist  zu  schüchtern,  um  Ciarice  seine  Gefühle  zu  enthüllen.  Er  ist 
zufrieden,  wenn  er  nur  zunächst  ihre  Freundschaft  erwerben  kann.  Das 
Auge  einer  Frau  sieht  jedoch  zu  scharf,  um  einen  selbst  stummen  Ver- 
ehrer nicht  zu  durchschauen,  und  so  hat  auch  Ciarice  ihres  Freundes 
wahre  Gesinnung  längst  erkannt,  ja,  sie  erwidert  im  stillen  seine  Nei- 
gung. Ein  Freund  Philistes,  Alcidon.  liebt  imlessen  Ciarice  gleichfalls, 
und  ist  nicht  so  ängstlich  in  der  Wahl  seiner  Mittel,  wenn  es  gilt,  zum 
Ziel  zu  gelangen.  Auch  er  erklärt  sich  nicht,  aber  nur  um  zuvor  desto 
sicherer  Philiste  bei  der  Geliebten  zu  verderben.  Er  schmeichelt  sich  in 
das  Vertrauen  seines  Nebenbuhlers  ein  und  heuchelt  warme  Liebe  zu 
Doris,  der  Schwester  Philistes.  Gleichzeitig  aber  besticht  er  die  alte  Die- 
nerin der  Ciarice,  und  als  die  letztere  sich  eines  Abends  im  Garten  er- 
geht, wird  er  durch  eine  Nebenthür  eingelassen,  überfällt  die  jange  Frau 
und  raubt  sie  mit  Hilfe  einiger  Gefährten.  Er  bringt  sie  in  ein  unweit 
der  Stadt  gelegenes  Landhaus,  das  ihm  sein  Freund  Celidan  zu  dem 
Behuf  überlassen  hat.  Aber  Celidan  hat  die  böse  That  nur  scheinbar 
unterstützt.  Kaum  ist  Ciarice  in  seinem  Landhaus  geborgen,  so  thut  er 
die  nötigen  Schritte  zu  ihrer  Eettung.  Alcidons  Tücke  wird  erkannt, 
und  der  Elende  verliert  nicht  nur  jede  Hoffnung  auf  die  Hand  Clari- 
cens,  sondern  auch,  wie  natürlich,  jeden  Anspruch  auf  Doris.  Da  ein 
Lustspiel  nach  der  damaligen  Sitte  aber  mit  einer  ganzen  Reihe  von 
Heiraten  schließen  muß,  verspricht  Doris  dem  braven  Celidan  ihre  Hand, 
während  Ciarice  ihren  scheuen  Freund  Philiste  beglückt. 

Wie  die  Anlage  des  Stücks,  ist  auch  die  Zeichnung  der  einzelnen 
Charaktere  noch  schwach,  und  übertrifft  kaum  die  Kunst  in  „Melite". 
Allerdings  ist  die  Exposition  im  ersten  Akt  klar  gegeben,  und  der  Dichter 
versucht  die  Schüchternheit  Philistes  deutlich  zu  zeichnen.  Ciarice  muß 
ihm  selbst  ihre  Liebe  gestehen,  damit  er  nur  an  sein  Glück  glaubt. 
Aber  keine  Person  erregt  wirkliches  Literesse.  Philiste  erinnert  stark 
an  die  bleichen  Schäfergestalten  des  Lignon.  Selbst  bei  der  Nachricht 
von  dem  Raub  seiner  Braut  zeigt  er  keine  Thatkraft.  Statt  alle  Mittel 
aufzubieten,  Ciarice  zu  retten,  redet  er  lieber  davon,  sich  zu  töten.  Das 
ist  bequemer,  zumal  er  mit  den  Vorbereitungen  zu  dem  Selbstmord  so 
viel  Zeit  braucht,  daß  die  Freunde  ihm  die  Geliebte  gerettet  zurück- 
führen, bevor  er  Hand  an  sich  gelegt  hat.  Der  Fortschritt  Corneilles 
offenbart  sich  aber  deutlich  in  der  feineren  Führung  des  Gesprächs. 
Vergleicht  man  in  dieser  Hinsicht  die  „Veuve"  mit  der  „Melite",  die 
doch  auch  schon  bemüht  war,  den  modernen  Ton  der  Unterhaltung  zu 
treffen,  so  sieht  man  die  rasche  Entwicklung.  Besonders  sind  es  die 
beiden  ersten  Akte,  welche  diesen  Vorzug  aufweisen,  und  gleich  die  erste 
Scene  des  ersten  Akts  ist  bemerkenswert.  Alcidon,  der  falsche  Freund, 
will  Philiste  über  sein  Verhältnis  zu  Ciarice  ausforschen ;  er  rät  ihm, 
sich  der  Geliebten  zu  erklären,  in  der  Hoftnuag,  daß  diese  ihu  zurück- 
weise und  für  immer  aus  ihrem  Haus  verbanne.  Er  sagt  ihm  spöttisch: 


339 


Zwar  bist  Du  ihr  zu  dienen  sehr  beflissen, 
Doch  scheu'st  Du  Dich,  ein  Liebeswort  zu  sagen. 
Soll  sie  vielleicht  zuerst  den  Hof  Dir  machen  V 

worauf  Philiste  entgegnet: 

Mit  nichten.  Doch  sie  könnte  mich  erraten...^) 
und   er   setzt   dem  Freund   dann,  seine  Theorie    auseinander.    Er  findet, 
daß  die  Liebhaber  gewöhnlich  sehr  thöricht  zu  Werke  gehen,    wenn  sie 
mit  der  Thür  ins  Haus  fallen    und    die  Geliebte  mit  ihren  leidenschaft- 
lichen Beteuerungen  erschrecken : 

Kaum  sind  in  ihren  Banden  wir  verstrickt, 

ISo  haben  wir  nichts  Besseres  zu  thun. 

Als  ihr  mit  stürm'schem  Wort  zu  huldigen. 

Auf  die  Gefalir  hin  schimpflicher  Begegnung. 

Ein  jeder  Tölpel  weiß  sich  so  zu  geben. 

Statt  seiner  Liebe  zeigt  er  seine  Thorheit, 

Um  mit  Verachtung  nur  belohnt  zu  werden. 

Nein,  Nein!  Erst  gilt's,  die  Liebe  zu  gewinnen, 

Bevor  man  sich  erklärt.  Gleich  zum  Beginn 

Sich  ihren  Sklaven  nennen,  macht  sie  stolz  nur. 

Und  sprichst  Du  gar  von  ihrer  Herrschermacht, 

Eeichst  Du  ihr  eine  Waff"e  gegen  Dich. 

Ein  bess'res  Mittel,  scheint  mir,  führt  zum  Ziele: 

Wir  dienen  der  Geliebten,  ohne  Phrasen, 

Wir  richten  uns  nach  ihrem  Wohlgefallen 

Und  fügen  alles,  wie  es  ihr  beliebt. 

Und  so,  vertraut,  in  freundlichem  Verkehr, 

Gewinnen  wir  allmählich  ihre  Neigung. 

So  stellen  wir  den  Schönen  uns're  Netze, 

Die  sie  nicht  seh'n,  und  somit  nicht  vermeiden.^) 

^)  „La  veuve",  I,  1,  v.  9  ff. : 

Alcidon  : 
Aupres  d'elle  assidu,  sans  lui  parier  d'amour, 
Veux-tu  qu'elle  commence  ä  te  faire  la  cour? 

Philiste: 
Non  pas;  mais  pour  le  moins,  je  veux  qu'elle  devine. 

2)  „La  veuve",  I,  1,  v.  23: 

Aussitöt  qu'une  dame  en  ses  rets  nous  a  pris. 
Offrir  notre  Service  au  hasard  d'un  mepris, 
Et  vous  laissant  conduire  ä  nos  brusques  saillies, 
Au  Heu  de  notre  araour  lui  montrer  nos  folies, 
Qu'un  süperbe  dedain  punisse  au  meme  instant, 
II  n'est  si  maladroit  qui  n'en  flt  bien  autant. 
II  faut  s'en  faire  aimer  avant  qu'on  se  declare. 
Notre  Submission  ä  l'orgueil  la  prepare. 
Lui  dire  incontinent  son  pouvoir  souverain, 
C'est  mettre  ä  sa  rigueur  les  armes  ä  la  main. 
Usons,  pour  etre  airaes,  d'un  meilleur  artifice. 
Sans  en  rien  protester,  rendons-lui  du  Service. 
Kegions  sur  son  humeur  toutes  nos  actions. 
Ajustons  nos  desseins  ä  ses  inteutions, 
Tant  que  par  la  douceur  d'une  longue  hantise 
Comme  insensiblenient  eile  se  trouve  prise. 
C'est  par  lä  que  Ton  seme  aux  dames  des  appas, 
Qu'elles  n'evitent  point,  ne  les  prevoyant  pas. 


340 


Über  dieses  vorsichtige  Benehmen  spottet  Alcidon: 

Ein  and'rer  möge  diesem  Beispiel  folgen. 

Die  Liebe  haß  ich,  die  ich  nicht  gestehen  darf. 

\'on  Lieb'  nicht  reden  I  Deine  Weisheit  lehrt 

Gar  närr'sche  Regeln,  denen  ich  nicht  traue. 

Das  i^t  nicht  meine  Art.  Bei  einer  Dame 

Vom  schönen  Wetter  plaudern,  ihr  erzählen, 

Daß  die  Pariser  Straßen  schmutzig  sind, 

Wo  man  den  besten  Wohlgerueh  jetzt  kauft. 

Und  welche  Junker  miteinander  grollen; 

Daß  man  im  Schauspiel  gute  Verse  hört. 

Und  der  mit  jener  sieh  verloben  wird! 

Welch  schöner  Zeitvertreib  I  Nein,  blöder  Freund, 

Fang  mutig  mit  dem  Hauptkapitel  an. 

Sag,  was  Dir  fehlt,  und  opf're  nicht  die  Zeit, 

Fruchtlos  zu  schwatzen  und  Dich  abzumüh'n.i) 

Der  Hauptreiz,  welchen  die  Jugendarbeiten  Corneilles  für  uns  noch 
haben,  liegt  eben  in  der  Art.  wie  er  seine  Personen  miteinander  ver- 
kehren läßt.  Wer  sich  genauer  mit  dem  Dichter  bekannt  machen  will, 
freut  sich,  hier  seine  Entwicklung  verfolgen  und  sehen  zu  können,  wie 
er  bemüht  ist,  das  Lustspiel  des  possenhaften  Charakters  zu  entkleiden 
und  es  zum  Spiegelbild  seiner  Zeit  zu  gestalten.  Corneille  war  sich  dieses 
Strebens  wol  bewußt,  und  in  dem  Vorwort  zu  der  „Veuve"  sagt  er,  das 
Hauptverdienst  seines  Lustspiels  liege  in  dessen  „Xaivetät",  womit  er 
eben  die  Einfachheit  und  größere  Feinheit  des  Stils  bezeichnen  will. 

Der  Ruhm  des  jungen  Dichters  aus  der  Xormandie  wurde  durch 
den  Erfolg  der  „Veuve"  sehr  erhöht.  ISTicht  weniger  als  26  Huldigungs- 
gedichte, zum  Teil  namhafter  Poeten  und  selbst  rivalisierender  Drama- 
tiker, wie  Mairet,  Scudery,  Rotrou,  Du  ßyer,  Boisrobert,  finden  sich  der 
ersten  Ausgabe  des  Stücks  vorgedruckt.  Allerdings  war  es  damals  Sitte 
bei  den  Dichtern,  sich  gegenseitig  in  den  Himmel  zu  erheben,  und  solche 
Lobgedichte  sind  meistens  nur  als  Hnflichkeitsbeweise  zu  betrachten. 
Auch  von  Corneille  haben  wir  ein  Madrigal  zu  Ehren  Scuderys  und 
dessen  Tragikomödie   „Le  trompeur  puny"   (1633).-)   Solche  Komplimente 


1)  Ibid. 

Suive  qui  le  voudra,  ce  nouveau  procede. 

Mon  feu  me  deplairoit  cache  sous  ce  rideau. 

Xe  parier  point  d'amouri  Pour  moi,  je  me  defie 

Des  fantasques  raisons  de  ta  philosophie: 

Ce  ü'est  pas  lä  mon  jeu.  Le  joli  passe-teraps 

D'etre  aupres  d'une  dame  et  causer  du  beau  temps, 

Lui  jurer  que  Paris  est  toujours  plein  de  fange, 

Qu'un  certain  parfumeur  vend  de  fort  bonne  eau  d'ange, 

Qu'un  cavaUer  regarde  un  autre  de  travers, 

Que  dans  la  comedie  on  dit  d'assez  bons  vers, 

Qu'un  tel  dedans  le  mois  d'une  teile  s'accorde! 

Touche,  pauvre  abuse,  touche  la  grosse  corde. 

Conte  06  qui  te  mene  et  ne  t'amuse  pas 

A  perdre  sottement  tes  discours  et  tes  pas. 

-)  Corneille,  Bd.  X,   S.  61.  —    Daß  diese  Huldigungsgedichte  von  vielen 
nur  als  ein  Mittel,  Geld  zu  verdienen,  angesehen  wurden,  ist  gewiß.  Jean  Rou, 


341 

schlössen  eifersüchtige  Regungen  nicht  aus,  und  die  Liebe  der  meisten 
oben  genannten  Herren  verwandelte  sich  in  Haß,  als  sie  sahen,  daß  der 
von  ihnen  gepriesene  Corneille  sie  mit  seinem  „Cid'  weit  überholte. 
Aber  die  Zahl  der  Huldigungsgedichte,  welche  Corneille  mit  der  „Veuve" 
erntete,  beweist  doch,  daß  ein  wirklicher  Erfolg  vorlag,  und  die  An- 
erkennung, welche  ein  so  charaktervoller  Mann  wie  Rotrou  spendete,  ist 
nicht  zu  unterschätzen.  Rotrou  aber,  der  auch  in  der  Folgezeit  ein 
Freund  Corneilles  blieb,  zögerte  nicht,  schon  damals  dessen  Überlegen- 
heit anzuerkennen.  Er  sagte,  freilich  in  dem  herkömmlichen  faden  Stil : 

Nichts  kann  an  Schönheit  je  Claricens  Bild  erreichen, 
Was  immer  auch  ich  schuf,  es  muß  vor  ihr  erbleichen. 
Du  gabst  ihr  solchen  Reiz,  daß  sie  im  Witwenkleid 
Durch  ihre  Schönheit  noch  beschämt  die  schönste  Maid.^) 

Die  Lustspiele,  welche  Corneille  auf  die  „Veuve"  folgen  ließ,  sind 
in  ähnlicher  Manier  verfaßt.  Doch  versuchte  der  Dichter  abermals  eine 
Neuerung,  die  vielen  Beifall  fand.  Im  Bestreben,  die  Gesellschaft  seiner 
Zeit  zur  Darstellung  zu  bringen,  geriet  er  auf  die  Idee,  dem  Pariser 
Publikum  ein  Bild  der  eigenen  Stadt  zu  geben.  So  fügte  er  in  dem 
nächsten  Lustspiel  einige  Scenen  ein,  welche  in  der  großen  Gallerie  des 
Justizpalastes  spielten.  Dort  fanden  sich  viele  Verkaufslokale,  vor  welchen 
sich  ein  reges  Treiben  entfaltete.  Dieses  Leben  auf  die  Bühne  zu  bringen, 
i-eizte  Corneille;  er  zeigte  es  in  einer  bewegten  Scene,  in  der  sich  die 
Xäufer  vor  den  Kaufläden  schwatzend  und  im  Verkehr  mit  den  Ver- 
käufern herumtreiben.  Besonders  lebhaft  geht  es  vor  dem  Tisch  einer 
Modistin  und  der  Auslage  eines  Buchhändlers  zu.  In  die  eifrige  Unter- 
haltung der  Kunden  über  die  aufliegenden  Bücher  mischt  der  Dichter 
Anspielungen  auf  die  neuesten  Werke  der  Litteratur.  Diese  Scenen 
standen  zwar  nur  in  losem  Zusammenhans:  mit  dem  eigentlichen  Stück, 


Advokat  zu  Paris  unter  der  Regierung  Ludwig  XiV.,  erzählt  in  seinen  Me- 
moiren, daß  er  mit  Claude  Le  Petit  bekannt  gewesen  sei.  Le  Petit  wurde  1664 
wegen  gotteslästerlicher  Schriften  und  obscöner  Gedichte  verbrannt.  Rou  erzählt 
von  dem  Elend,  in  dem  derselbe  lebte.  „Qu'est-ce  que  mon  coeur  a  ä  demeler 
avec  ma  bourse  qui  est  plus  plate  qu'une  punaise,  et  mes  dents  longues  comme 
un  jour  Sans  pain,  et  sous  lesquelles  je  n'ai  pas  ä  mettre  une  croüte?"  sagte 
Le  Petit  zu  Rou,  um  sich  zu  entschuldigen,  daß  er  sein  satirisches  Gedicht: 
„Paris  ridicule"  einem  Verleger  zum  heimlichen  Druck  verkauft  hatte,  und  Rou 
fügt  in  einer  Note  hinzu:  „La  verite  est,  en  effet,  que  le  pauvre  Petit  ne  vi- 
voit  que  de  livrets  et  d'eloges  d'auteurs,  ä  la  douzaine,  propres  a  etre  mis  en 
forme  de  sonnet  ou  d'epigramme  et  raadrigal,  ä  la  tete  de  leurs  ouvrages  taut 
bons  que  mauvais".  Siehe  Rous  Memoiren,  nach  dem  Manuskript  des  Haager 
Archivs  herausgegeben  von  Francis  Waddington  (Paris  1857,  2.  Bd.).  VergL 
auch  „Paris  ridicule  et  burlesque  au  IT^e  siecle".  eine  Sammlung  verschiedener 
satirischer  Gedichte,  herausojegeben  von  P.  L.  Jacob,  bibliophile  (Paris  1878, 
Oarnier),  S.  IX. 

1)         Tel  on  me  voit  partout  adorer  ta  Ciarice, 

Aussi  rien  n'est  egal  a  ses  moindres  attraits; 
Tout  ce  que  j'ai  produit  cede  ä  ses  moindres  traits; 
Toute  veuve  qu'elle  est,  de  quoi  que  tu  Thabilles, 
Elle  ternit  Teclat  de  nos  plus  heiles  filles. 


342 


gefielen  aber  außerordentlich  und  gaben  dem  Lustspiel  den  Namen  „La 
galerie  du  Palais".-*)  Seinen  Hauptinhalt  bildet  jedoch  die  Geschichte 
eines  Liebespaars,  das  durch  die  Einflüsterungen  einer  eifersüchtigen 
Freundin  irre  gemacht  wird. 

Corneille  scheint  sich  dabei  eine  psychologische  Studie  als  Auf- 
gabe gestellt  zu  haben,  allein  noch  war  er  nicht  so  weit  vorgeschritten, 
sie  klar  erfassen  und  mit  Verständnis  durchführen  zu  können.  Zudem 
täuschte  ihn  das  Glück,  das  sein  Stück  durch  die  ebenerwähnte  Neuerung 
machte,  und  ließ  ihn  das  dramatische  Interesse  nicht  in  der  inneren 
Kraft  der  Dichtung,  sondern  in  Äußerlichkeiten  suchen. 

Das  nächstfolgende  Stück:  ,.La  Snivante".  ist  das  schwächste  unter 
den  Lustspielen  Corneilles.  Daphnis.  ein  Fräulein  aus  vornehmer  Familie, 
wird  von  zwei  jungen  Adeligen,  Clarimond  und  Florame  geliebt.  Beide 
suchen  sich  ihrer  Dame  auf  sonderbare  Weise  zu  nähern.  Sie  huldigen 
scheinbar  der  Gesellschafterin  des  Fräuleins.  Beide  erlangen  so  Zutritt 
in  das  Haus,  und  einmal  so  weit,  will  nun  jeder  dem  andern  seine 
Rechte  auf  Amarante,  die  Gesellschafterin,  abtreten.  Sie  stellen  sich, 
großmütig,  sprechen  von  dem  Opfer,  das  sie  ihrer  Freundschaft  bringen, 
und  haben  keinen  sehnlicheren  Wunsch,  als  von  Amarante  verworfen  zu: 
werden.  Diese  benutzt  ihre  Stellung  um  gegen  ihre  Herrin  zu  intriguieren, 
zumal  als  sie  entdeckt,  daß  Florame  von  Daphnis  geliebt  wird.  Die 
Verwicklung  der  letzten  Akte  beruht  einzig  auf  der  unnatürlichen  Ver- 
schweigung eines  Namens.  Daphnis  erlangt  ihres  Vaters  Zustimmung  zu 
ihrer  Liebe;  nur  hält  der  Vater  nicht  Florame,  sondern  einen  andern 
für  den  von  seiner  Tochter  begünstigten  Bewerber.  xVuf  einmal  aber 
ändert  er,  von  selbstsüchtigen  Absichten  geleitet,  seinen  Entschluß;  er 
will  jetzt  nur  Florame  zum  Schwiegersohn  und  erklärt  seiner  Tochter, 
sie  müsse  ihrer  Neigung  entsagen.  Wieder  wird  kein  Name  genannt, 
und  erst  nach  vielem  Hin-  und  Herzerren  findet  sich  die  allen  erwünschte- 
Lösung  des  Mißverständnisses.  Die  „Suivante"  ist  im  allgemeinen  ein 
recht  frivoles  Stück,  und  Daphnis  selbst  übt  die  beste  Kritik  an  ihm. 
wenn  sie  (V.  8,  v.  37)  ausruft:  „Qu'un  nom,  tu  par  hasard,  nous  a 
donne  de  peine!" 

Die  „Suivante"'  hatte  wenig  Erfolg,  und  Corneille  nahm  deshalb 
in  seinem  nächsten  Lustspiel :  „La  Place  Royale",  seine  Zuflucht  zu  dem 
Mittel,  das  sich  schon  einmal  als  wirksam  erwiesen  hatte;  er  verlegte 
sein  Stück  nach  Paris.  Der  größte  Theil  desselben  spielt  auf  der  Place 
Royale,  der  belebtesten  Promenade  des  damaligen  Paris  und  einem  der 
vornehmsten  Stadtteile.  Weitere  Beziehung  zu  dem  Inhalt  hat  die  Wahl 
dieses  Platzes  nicht.  Die  Anlage  des  Lustspiels  ist  verwickelter  als 
bei  den  früheren ,  und  seine  ganze  Haltung  ist  gekünstelt.  Corneille 
möchte  wieder  einen  besonderen  Charakter  zeichnen,  aber  der  Versuch 
mißlingt  ihm.  Er  will  einen  Sonderling,  einen  Philosophen  ganz  seltsamer 
Art  schildern.  Alidor,  so  heißt  der  Held  des  Stücks,  liebt  und  wird 
wieder  geliebt,  aber  gerade  dieses  Liebesglück  wird  ihm  bedenklich,  denn 


^)  La  galerie  du  Palais  ou  l'amie  rivale. 


343 

er  fürchtet  die  Knechtschaft  in  der  EheJ)  Seine  Ansichten  über  die 
Liebe  sind  sophistisch  ausgeklügelt,  und  da  er  fühlt,  daß  er  seine  Braut 
Angelique  zu  sehr  liebt,  und  somit  seine  Freiheit  gefährdet  ist,  so  ent- 
schließt er  sich,  mit  ihr  zn  brechen!  „Puisqu'elle  me  plait  trop,  il  me 
faut  lui  deplaire",  sagt  er  (I,  4,  v.  6i)),  und  um  dies  Ziel,  der  Geliebten 
zu  mißfallen,  schnell  zu  erreichen,  beleidigt  er  sie  auf  die  gröblichste 
Weise.  Er  spielt  ihr  einen  Brief  in  die  Hand,  den  er  an  eine  andere 
Dame  geschrieben  hat,  und  in  dem  er  über  Angelique  verächtlich  spricht 
und  über  ihre  Häßlichkeit  spottet.  Von  ihr  zur  Rede  gesetzt,  hält  er 
ihr  den  Spiegel  vor,  den  sie  der  Sitte  der  Zeit  gemäß  am  Gürtel  trägt, 
und  sagt  ihr: 

„Cassez;  ceci  vous  dit  encor  pis  que  ma  lettre."  (II,  2,  52.) 
Als  er  dann  aber  hört,  daß  Angelique  von  seinem  Freund  Cleandre  ge- 
liebt wird,  ändert  er  sein  Benehmen.  Er  will  diesem  behilflich  sein,  das 
Mädchen  zu  entführen.  Zu  dem  Ende  versöhnt  er  sich  wieder  mit  An- 
gelique,  was  ihm  nicht  schwer  fällt,  da  diese  ihn  wirklich  liebt,  und 
beredet  sie ,  mit  ihm  zu  fliehen ,  da  sie  zur  Heirat  mit  einem  andern 
gezwungen  werden  soll.  Um  sie  ganz  sicher  zu  machen,  giebt  er  ihr  ein 
Eheversprechen  —  das  aber  von  Cleandre  ausgestellt  ist.  Angelique 
merkt  den  Betrug  nicht,  und  sie  wäre  verloren,  w'enn  nicht  zu  der  be- 
stimmten Nachtstunde  ihre  Freundin  Philis  zufällig  vor  ihr  an  den  Ort 
der  Zusammenkunft  käme  und  von  Cleandre  und  dessen  Spießgesellen 
geraubt  würde.  Jetzt  erst  erkennt  Angelique  die  Falle,  in  die  sie  hatte 
gelockt  werden  sollen,  und  im  tiefsten  Herzen  verletzt,  sehnt  sie  sich 
nach  der  Stille  des  Klosters.  Dafür  wird  aus  dem  Entführer  und  seinem 
Opfer  ein  Paar,  während  Alidor  sich  glücklich  preist,  seine  Freiheit  ge- 
rettet zu  haben.  Man  ist  manchmal  versucht,  diesen  Junker  für  eine 
parodistische  Gestalt  zu  nehmen ,  obwohl  Corneille  eine  solche  Absicht 
gewiß  nicht  gehabt  hat. 

Überblicken  wir  noch  einmal  die   ganze  Gruppe   der   dramatischen 
Dichtungen  Corneilles  aus  den  Jahren  1629 — 1634,  so  drängt  sich  uns 


^)  La  Place  Eoyale  ou  L'amoreux  extravagant.  Das  Stück  gehört  wahr- 
scheinlich noch  in  den  Beginn  des  Jahrs  1633,  da  das  lateinische  Gedicht  Cor- 
neilles au  Richelieu  (Bd.  X,  Seite  G4)  desselben  schon  Erwähnung  thut.  Darhi 
heißt  es  v.  29: 

Nee  minus  Augelicae  dolor  et  suspiria  spretae 
Quam  placuere  tui,  Phylli  jocosa,  sales. 
Dieses  Gedicht    datiert  aber  aus    dem  Jahr   1633,    und  wurde  zuerst  ge- 
druckt im  Sommer  1634. 

Vergl.  z.  B.  die  Ideen  Alidors,  die  er  I,  4,  26  ff.  auseinandersetzt: 
Je  veux  qu'ou  seit  libre  au  milieu  de  ses  fers. 
II  ne  faut  point  nourrir  d'amour  qui  ne  nous  cede. 
Je  le  hais,  s'il  me  force;  et  quand  j'aime,  je  veux 
Que  de  ma  volonte  dependent  tous  mes  voeux; 
Que  mon  feu  m'obeisse  au  Heu  de  me  contraindre, 
Que  jepuisse  ä  mon  gni  l'augmenter  et  l'etraindre, 
Et  toujours  en  etat  de  disposer  de  moi, 
Donner  'luand  il  me  plait  et  retirer  ma  foi. 


344 

zunächst  die  Bemerkung  auf,  daß  der  Dichter  mit  Eifer  nach  neuen 
Formen  für  die  noch  ungefüge  dramatische  Poesie  seines  Volkes  suchte. 
Er  strebte  danach,  den  Eahmen  des  Lustspiels  zu  erweitern  und  es 
dem  Geist  seiner  eigenen  Zeit  anzupassen;  er  sah  im  Geist  ein  feines 
Charakterlustspiel  als  Ziel,  das  zu  erreichen  freilich  erst  einem  Spä- 
teren gegeben  war.  Er  versuchte  die  Reste  der  alten  Komödie  abzu- 
streifen. Die  kupplerische  Alte  (die  „nourrice"),  die  aus  dem  Drama  der 
Griechen  und  Römer  zu  den  Italienern  gekommen  war,  die  man  bei 
Shakespeare  findet,  und  die  auch  in  den  früheren  französischen  Bühnen- 
dichtungen nicht  fehlen  durfte,  machte  bei  Corneille  der  vertrauten 
Dienerin  (der  „Suivante")  Platz,  aus  der  sich  dann  bald  die  kecke 
Kammerzofe  entwickelte,  welche  in  dem  Lustspiel  der  folgenden  Zeit 
eine  so  große  Rolle  spielen  sollte.') 

Eine  ähnliche  Arbeit  zeigte  sich  in  der  Behandlung  der  Sprache. 
Wir  können  den  Weg  verfolgen,  den  Corneille  einschlug,  um  seine  Sprache 
auszubilden,  zu  verfeinern  und  geschmeidiger  zu  machen.  In  diesem  Streben 
konnte  er  der  unbedingten  Zustimmung  seiner  Zeitgenossen  sicher  sein. 
Will  man  die  Entwicklung  ermessen,  welche  Corneilles  Sprache  binnen 
weniger  Jahre,  von  der  „Melite"  bis  zum  „Cid",  durchlaufen  hat,  so  muß 
man  seine  Lustspiele  nicht  in  der  stark  veränderten  Form  betrachten, 
welche  der  Dichter  ihnen  in  den  späteren  Ausgaben  verlieh,  sondern  in 
der  Gestalt,  in  welcher  sie  zum  erstenmal  gedruckt  wurden.  Dann  wird 
man  den  jungen  Corneille  schon  eher  kennen  lernen  und  die  Mühe  ahnen, 
welche  er  auf  seine  Arbeit  verwendete.  Nur  durch  stete  Arbeit,  durch 
fortgesetztes  Feilen,  durch  unablässiges  Ringen  mit  der  noch  spröden 
Sprache  gelangte  Corneille  zur  Meisterschaft,  die  er  im   „Cid"   enthüllte. 

Trotz  des  Strebens  nach  feiner  Sprache,  das  sich  in  der  „Melite" 
bemerkbar  macht,  sind  die  beiden  ersten  Stücke  doch  mit  plumpen  Aus- 
drücken gefüllt,  und  Corneille  glaubt  noch,  gleich  den  anderen  Dichtern, 
daß  ein  Lustspiel  ohne  freche  Worte  nicht  gefallen  könne.  Immerhin 
zeichnen  sich  selbst  seine  früheren  Werke  durch  ihre  Zurückhaltung 
aus,  und  sind  weit  entfernt  von  der  Roheit,  die  z.  B.  Mairet  in  seinem 
„Duc  d'Ossonne"  noch  aufweist. 

Die  Besuche  in  der  Hauptstadt,  die  Aufnahme,  die  Corneille  dort 
in  den  litterarisch  gebildeten  Kreisen  fand,  der  Umgang  mit  den  Damen 
der  feinen  Gesellschaft  mögen  ihn  eines  Besseren  belehrt  und  seinen  Ge- 
schmack   verfeinert    haben.-)    Schon    in   dem   zweiten  Lustspiel,    in   der 


^J  Die  Suivante  erscheint  zum   erstenmal  in  der  „Galerie  du  Palais'-- 
-)  Einige  Beispiele  mögen  das  Gesagte  bekräftigen.  „Melite",  III,  3,  v.  49, 
lautete  in  der  Ausgabe  von  1633: 

,.Oui,  j'enrage,  je  creve,  et  tous  raes  sens  troubles 
D'un  exces  de  douleur  se  trouvent  accables!" 
In    den    sjjäteren   Ausgaben   ist   das  Wort   „je  creve"    durch    „je  meurs" 
ersetzt.  In  „Melite"^  I,  5,  triift  Tircis   seine  Schwester  im  Gespräch    mit  ihrem 
Verlobten  und  sagt  ihnen  folgende  Impertinenz  (v.  5,  Ausgabe  1(333): 
„Je  pense  ne  pouvoir  vous  etre  qu'importun, 
Vous  feriez  mieux  un  tiers  que  d'en  accepter  uu." 


345 


„Veuve",  ist  der  Fortschritt  ersichtlich.  Man  findet  dort  wol  noch  nie- 
dere, familiäre  Ausdrücke,  aber  keine  Gemeinheiten  mehr,  und  auch  die 
späteren  Stücke  sind  fast  ganz  rein.')  Allerdings  sind  diese  letzteren 
erst  mit  dem  „Cid"  im  Druck  erschienen,  und  Corneille  hatte  somit 
Gelegenheit,  schon  in  der  ersten  Ausgabe  viel  zu   verbessern.^) 

Bemerken  wir  einesteils  in  der  Sprache  des  Dichters  eine  fort- 
schreitende Entwicklung,  so  finden  wir  andernteils  in  seinen  frühesten 
Stücken  schon  einige  charakteristische  Eigentümlichkeiten  seiner  späteren 
Diktion.  Vom  Beginn  an  liebt  Corneille  einen  gewissen  Parallelismus  in 
der  Eede,  ein  Abwägen  der  Perioden ,  und  verbindet  damit  die  Freude 
an  starken  Antithesen.")  Daß  seine  Sprache  auch  die  Pointen  kennt  und 


Die  nächste  Ausgabe  schon  hat  dafür: 

„De  moins  sorcier  que  moi  pourroient  bien  deviner, 
Qu"un  troisieme  ne  fait  que  vous  importuner." 
Siehe   ferner    „Melite",  V,  1,  19.    Dort    ruft    Cliton,    ein    betrügerischer 
Schreiber  (Ausgaben  1633—1657): 

„Adieu,  soüle  ä  ton  dam  ton  curieux  desir", 
Avofür  Corneille  später  setzte: 

„Contente  ä  tes  perils  ton  curieux  desir." 
Ähnliche  Steilen  könnte  man  noch  genug  anführen,  besonders  aus  „Cli- 
tandre".  So  sagt  dort  z.  B.  Pymante  am  Schluß  eines  Monologs  (IV,  2,  68,  Aus- 
gabe 1632): 

„Satisfait  par  sa  mort,  mon  esprit  se  modere. 
Et  va  sur  sa  charogne  achever  sa  colere." 
In  den  Au.sgaben  von  1644—1657  heißt  es  dafür: 
„Et  va  sur  ce  spectacle  assouvir  sa  colere." 
Später   änderte   Corneille   die  Verse   gänzlich.    In  der  letzten  Eedaktion 
lauten  sie : 

„Destins,  soyez  enfin  de  mon  intelligence, 
Et  vengez  mon  affront  ou  souffrez  ma  vengeance." 
In  „Clitandre",  V,  3,  liegt  Eosidor  verwundet  im  Bett,    seine  Braut  Ca- 
liste  besucht  ihn,  und  Eosidor  klagt  (Ausgabe  1632): 

„Que  le  sort  a  pour  moi  de  subtiles  malices! 
Ce  lit  doit  etre  un  jour  le  champ  de  mes  delices, 
Et  recule  lui  seul  ce  qu'il  doit  terminer." 
Die  ganze  Scene  wurde  später  sehr  gekürzt  und  umgeändert.    Auch  eine 
Menge  populärer  Ausdrücke,    wie:    tirer  pays  („Suivante",  IV,  5,  15);    pipeur 
{„Place  Eoyale",  II,  1,  25);  mettre  en  piqu'e  {=  fncher,  „PI.  Eoyale",  II,  5,  6) 
u.  a.  m.  finden  sich  nur  in  den  frühesten  Ausgaben. 

^)  Eine  Ausnahme  bildet  die  „Suivante",  I,  3,  20  (Ausgabe '1637— 1657). 
-)  Vielleicht  kann   man   auch    einen  Teil  der  größeren   Feinheit  in  der 
Sprache,  durch  welchen  die  „Melite"  sich  vor  „Clitandre"  auszeichnet,  dem  Um- 
stand zusehreiben,    daß  erstere  später  veröffentlicht  wurde   und   Corneille    also 
schon  mehr  corrigieren  konnte. 

2)  Man  vergleiche  z.  B.  „La  veuve",  IV,  1,  63: 

Ton  deplaisir  lui  plait,  et  tous  autres  tourments 
Lui  sembleroient  pour  toi  de  legers  chatiments. 
Elle  en  rit  maintenant,  cette  belle  iuhumaine; 
Elle  se  päme  d'aise  au  recit  de  ta  peine. 


346 

nicht  selten  schwülstig  und  geziert  ist,    erscheint    bei   der  Geschmacks- 
richtung der  Zeit  nur  natürlich.^) 

Das  Ziel,  auf  das  Corneille  hinarbeitete,  war,  wie  gesagt,  die 
Schöpfung  eines  Lustspiels,  welches  das  Leben  und  die  Sitten  seiner  Zeit 
zur  Anschauung  brächte.  Er  wollte  ein  Bild  des  behaglichen  Lebens  im 
Kreis  der  vornehmen  Familien  und  des  reichen  Bürgertums  geben.  Frei- 
lich ist  seine  Zeichnung  noch  vielfach  unbeholfen  und  ungenau;  es  fehlte 
ihm  eben  noch  gar  viel,    so  besonders  das  Verständnis  der  Perspektive, 


Apres  tant  de  serments  de  n'aimer  rieu  que  toi, 

Tu  la  veux  faire  heureuse  aux  depens  de  sa  foi; 

Tu  veux  seul  avoir  part  ä  la  douleur  commune; 

Tu  veux  seul  te  eharger  de  toute  Tinfortune. 
Oder  „La  veuve",  H,  1,  v.  1  ff.: 

Secrets  tyrans  de  ma  pensee, 
Eespeet,  amour,  de  qui  les  lois 
D'un  juste  et  fächeux  contre-poids 
La  tiennent  toujours  balancee. 


Que  Fun  m'offre  d'espoir!  que  l'autre  a  de  rigeur! 
Et  tandis  que  tous  deux  tächent  ä  me  seduire, 
Que  leur  combat  est  rüde  au  milieu  de  mon  coeur. 
Unwillkürlich  gedenkt  man   bei  dieser  Strophe  an  die  Verse  Don  Rodri- 
guos  („Le  Cid",  I,  7,  zweite  Strophe): 

Que  je  sens  de  rüdes  combats! 
Contre  mon  propre  honneur  mon  amour  s'interesse. 
II  faut  venger  un  pere,  et  perdre  une  maitresse. 
Liin  m'anime  le  coeur,  l'autre  retient  mon  bras. 
Reduit  au  triste  choix  ou  de  trahir  ma  flamme 

Ou  de  vivi-e  en  infame. 
Des  deux  cötes  mon  mal  est  infini. 

1)  In  jeuer  schon  erwähnten  Scene  der  „Place  Royale"  (II,  2),  in  welcher 
Alidor  seiner  Braut  den  Spiegel  vorhält,  damit  sie  sehe,  wie  häßlich  sie  sei,, 
antwortet  Angelique  mit  tolgender  Pointe: 

S'il  me  dit  mes  defauts  autant  ou  plus  que  toi, 
Deloyal,  pour  le  moins  il  n'en  dit  rien  qu'ä  moi: 
C'est  dedans  son  cristal  que  je  les  etudie; 
Mais  apres  il  s'en  tait  et  moi  j'y  remedie; 
II  m'en  donne  un  avis,  saus  me  les  reprocher. 
Et  me  les  deeouvrant,  il  m'aide  ä  les  cacher. 

Alidor  antwortet  ihr:  „Vous  etes  en  colere  et  vous  dites  des  pointes".  In 
dieser  höhnischen  Antwort  liegt  auch  eine  Verurteilung  des  Dichters,  welcher 
der  leidenschaftlich  erregten  Angelique  eine  einfache  Sprache  geben  mußte.  — 
Vergl.  auch  „Melite",  I,  4,  v.  62.  Philandre  sagt  dort  zu  seiner  Braut,  sie  solle 
in  sein  Auge  blicken: 

Tu  n'y  vois  que  mon  coeur  qui  n"a  plus  un  seul  trait 
Que  ceux  qu'il  a  re9us  de  ton  charmant  portrait, 
Et  qui  tout  aussitot  que  tu  t'es  fait  paraitre, 
Afin  de  te  mieux  voir,  s'est  mis  k  la  fenetre... 

oder  „Clitandre",  IV,  3,  21,   Monolog  des  Prinzen  Floridan  während  eines  Ge- 
witters : 

Tes  eclairs,  indignes  d'etre  eteints  par  les  eaux, 

En  out  tari  la  source  et  seche  les  ruisseaux. 


347 


welche  auch  in  der  dramatischen  Anordnung  gewahrt  sein  will ;  es  fehlte 
die  Gabe  der  Beobachtung,  das  Talent  der  Charakteristik  und  der  Reich- 
tum an  Ideen,  welche  das  Lustspiel  beleben  müssen.  Noch  konnte  er 
sich  dem  Einfluß  der  italienischen  Posse  nicht  genug  entziehen ;  wie 
dort,  so  versteckt  man  sich  auch  bei  ihm,  belauscht  man  die  anderen, 
die  ihre  Geheimnisse  auf  offener  Straße  auskramen,  und  seine  Personen 
müssen  jede,  auch  die  plumpste  Täuschung  gläubig  hinnehmen,  damit 
das  Spiel  gelinge.  Die  Wahrscheinlichkeit  der  Verwicklungen  kam  weniger 
in  Betracht  als  die  Heiterkeit  der  einzelnen  Scenen.  Aber  es  war  schon 
genug,  daß  er  versuchte,  die  Physiognomie  seiner  galanten  Herren  und 
Damen  zeitweilig  zu  beleben ,  und  daß  er  die  Notwendigkeit  erkannte, 
das  Lustspiel  zu  verfeinern  und  es  dem  Publikum  näher  zu  bringen.-') 
Dieses  Streben  beweg  ihn  auch  zur  Vereinfachung  des  Plans.  Wenn  wir 
von  „Melite"  absehen,  finden  wir  in  jedem  seiner  Lustspiele  eine  einzige 
Verwicklung,  die  mit  ihren  verschiedenen  Krisen  und  der  endlichen 
Lösung  den  Inhalt  der  Dichtung  bildet.  Corneilles  eigene  Richtung  traf 
hier  wieder  mit  dem  nationalen  Geschmack  zusammen.  Die  französische 
Bühne  hatte  bereits  einige  festgezogene  Grenzen .  die  zu  überschreiten 
schwer  war.  Das  Streben  nach  Übersichtlichkeit  und  Klarheit  wirkte  auch 
im  Lustspiel  bestimmend  auf  die  Anlage  und  ließ  einen  größeren  Reich- 
tum von  Verwicklungen  und  Begebenheiten  nicht  zu.  Der  Klassizismus 
mit  seiner  einheitlichen  Komposition  und  seiner  Formenstrenge  kündigte 
sich  bereits  deutlich  an.  Wenn  diese  Beschränkung  des  Lustspiels  auch 
eine  Verfeinerung  seines  Charakters  im  Gefolge  hatte,  so  raubte  sie  ihm 
doch  ein  gut  Teil  frischen  Lebens  und  nötigte  den  noch  ungewandten 
Dichter  zu  Längen,  die  schwer  empfunden  werden.  Zudem  fürchtete  man 
bei  vielen  Zuschauern  durch  eine  allzu  getreue  Wiedergabe  der  Zeit- 
verhältnisse Anstoß  zu  erregen.  Besonders  ängstlich  vermied  man  jede 
Erwähnung  der  christlichen  Kirche  und  ihrer  Einrichtungen.  Man  be- 
greift aber,  wie  fremdartig  es  auf  die  Zuschauer  wirken  mußte,  wenn 
in  der  „Melite",  einem  modernen  Zeitbild,  von  den  Göttern  und  der 
Unterwelt  die  Rede  war,  wenn  in  „Clitandre"  ein  Mädchen  erklärte,  es 
wolle  zu  den  „Vestalinnen"  flüchten.  So  war  allerdings  schon  die  Sprache 


^)  Lysandre  sagt  in  der  „Galerie  du  Palais",  I,  7,  33: 

„0  pauvre  comedie,  objet  de  tant  de  veines, 
Si  tu  n'es  qu'un  portrait  des  actions  humaines, 
On  te  tire  souvent  sur  un  original, 
A  qui,  pour  dire  vrai,  tu  ressembles  fort  mal" 

und  in  der  Epitre,  die  als  Vorwort  zur  „Suivante"  dient,  heißt  es:  „La  comedie 
n'est  qu'un  portrait  de  nos  actions  et  de  nos  discours,  et  la  perfection  des  por- 
traits  consiste  en  la  ressemblance.  Sur  cette  maxime  je  täche  de  ne  mettre  en 
la  bouche  de  mes  acteurs  que  ce  que  diroient  vraiseniblablement  en  leur  place 
ceux  qu'ils  representent,  et  de  les  faire  discourir  en  honnetes  gens,  et  nou  pas 
en  auteurs."  Ebenda  sagt  Corneille:  „Je  ne  me  suis  jatnais  imagine  avoir  mis 
rien  au  jour  de  parfait,  je  n'espere  pas  meme  y  pouvoir  Jamals  arriver;  je  fais 
neans-moins  mon  possible  pour  en  approeher,  et  les  plus  beaux  succes  des  autres 
ne  produisent  en  moi  quune  vertueuse  emulation  qui  me  fait  redoubler  mes 
efforts  pour  en  avoir  de  pareils." 


348 

der  „Asträa"  gewesen,  und  auch  Racan  hatte  in  seinen  ,. Bergeries "  so 
geredet.  Wiederum  wagte  Corneille,  hier  weiter  zu  gehen.  Er  streifte 
diese  Vorsicht  in  seinen  späteren  Lustspielen  mehr  und  mehr  ab.  Je  an- 
ständiger und  feiner  seine  Sprache  wurde,  umso  größere  Freiheit  konnte 
er  in  der  Darstellung  moderner  Verhältnisse  walten  lassen.^)  Die  ersten 
Corneille'schen  Stücke  sind  alle  etwas  farblos.  Der  Humor  des  Dichters 
ging  nicht  auf  derben  Effekt  aus,  und  selten  erhob  er  sich  zu  leiden- 
schaftlicher Sprache.  Nichts  ließ  in  ihm  die  dramatische  Kraft  ahnen, 
welche  er  später  enthüllte.  Seine  Lustspiele  enthalten  immer  dieselbe 
Liebeskomödie.  In  jedem  Stück  finden  wir  einen  mehr  oder  weniger 
sonderbaren  Gesellen,  der  mit  sich  zu  Rate  geht,  ob  er  lieben  soll  oder 
nicht,  und  der  in  einem  Freund  einen  gefährlichen  Rivalen  findet.  Die 
Liebhaber  selbst  verfallen  häufig  noch  in  Unnatur,  und  wenn  sie  sich 
bei  ihrer  Geliebten  in  Ungnade  sehen,  so  reden  sie  im  Stil  der  Asträa 
gleich  von  Selbstmord.  Man  könnte  Lessings  Wort  von  den  Helden  der 
sogenannten  Märtyrer -Tragödie  auf  sie  anwenden:  „Sie  reden,  als  ob 
Sterben  und  ein  Glas  Wasser  trinken  eins  und  dasselbe  sei".-) 

Wie  hoch  Corneille  damals  als  Lustspieldichter  geachtet  wurde, 
ersehen  wir  aus  verschiedenen  Zeugnissen  seiner  Zeitgenossen. 

So  rechnet  Scudery  in  seinem  Lustspiel  „La  comedie  des  Comediens", 
das  1634  zum  erstenmal  aufgeführt  wurde,  die  Werke  Corneilles  bereits 
zu  den  beliebtesten  Repertoire-Stücken  der  wandernden  Truppen.  Eine 
andere  Schrift  aus  derselben  Epoche  spottet  über  das  Benehmen  gewisser 
unbedeutender  Poeten,  die  im  Theater  eine  Stunde  lang  die  Köpfe  in  die 
Höhe  recken,  um  von  einem  der  berühmten  Dichter  bemerkt  zu  werden 
und  ihn  grüßen  zu  können.  „Dort  sitzt  Rotrou,  oder  Du  Ryer!"  ruft 
der  eine.  „Er  hat  mein  Stück,  das  ihm  ein  Freund  neulich  vorlegte, 
recht  gelobt."  Dann  wird  das  ergötzliche  Treiben  eines  andern  geschil- 
dert, der  sich  eine  Weile  entfernt  und  sich  später  entschuldigt,  daß  er 
die  Gesellschaft  verlassen  habe.  Aber  er  habe  Herrn  Corneille  begrüßen 
müssen,  der  tags  zuvor   von  Rouen   angekommen  sei,  und   der   ihn   am 


1)  In  der  „Place  Eojale",  V,  7,  74,  sagt  Angelique: 

Un  cloitre  est  desormais  l'objet  de  mes  desirs: 
L'äme  ne  goüte  point  ailleurs  de  vrais  plaisirs. 
Und  wie  hätte  ein  solches  Wort  verletzen  können?  In  der  „Comedie  des  Tui- 
leries",  an  der  Corneille  später  für  Richelieu  mitarbeitete,  ist  allerdings  in  dem 
ihm  zugeschriebenen  dritten  Akt  wieder  die  Rede  von  den  Göttern,  aber  viel- 
leicht war  dies  eine  Bedingung  des  Kardinals,  der  freilieh  gegen  den  kühnen 
Vers  (III,  2,  42j: 

„Au  retour  d'Italie  ötre  encor  scrupuleux" 
nichts  einzuwenden  hatte. 

2)  Dramaturgie,   3.  Stück.    Schon  zu  Corneilles  Zeit  spottet  Mareehal  in 
seinem  „Railleur"  über  diese  Manie  (III,  3,  30): 

—  —  le  mal  est  bien  divers, 
De  mourir  en  effet  et  de  mourir  en  vers ; 
Les  poetes,  les  amans,  quand  l'ardeur  les  couvie, 
Meurent  tous,  et  Jamals  ils  ne  perdent  la  vie. 


349 


nächsten  Morgen  zu  Mairet  führen  und  ihm  ein  neues  dramatisches  Werk 
zeigen  wolle.-') 

Es  war  eine  Zeit  befriedigenden  Schaffens  für  Corneille,  und  er 
mag  später,  nachdem  er  seinen  Ruhm  fest  begründet  hatte,  oft  mit  Sehn- 
sucht auf  die  Epoche  seines  jugendlichen  Strebens  und  unverkümmerten 
Hoffens  zurückgeblickt  haben. 

Damals  fühlte  er  in  sich  bereits  das  beglückende  Bewußtsein  der 
Kraft;  er  wußte  sich  auf  dem  Weg  zur  Höhe  und  sah  sich  schon  als 
Dichter  anerkannt.  Noch  konnte  er  sich  seines  jungen  Ruhms  erfreuen, 
ohne  die  Angriffe  seiner  Gegner  fürchten  zu  müssen. 

Wir  wissen  nicht,  ob  der  Dichter  während  des  längeren  Aufent- 
halts, den  er  öfters  in  Paris  zu  nehmen  hatte,  dem  Kardinal  Richelieu 
vorgestellt  wurde.  Bei  der  bekannten  Vorliebe  des  Kardinals  für  alles, 
was  auf  das  Theater  Bezug  hatte,  wäre  es  fast  zu  verwundern,  wenn  er 
sich  Corneille  nicht  schon  nach  dessen  ersten  Erfolgen  hätte  rufen  lassen. 
Indessen  liegen  uns  keinerlei  Nachrichten  darüber  vor.  Ebenso  walirschein- 
lich  ist  eine  weitere  Begegnung  der  beiden  Männer  im  Sommer  des 
Jahrs  1633.  Damals  begab  sich  König  Ludwig  XIII.  mit  seiner  Gemalin, 
Anna  von  Österreich,  zum  Gebrauch  der  Bäder  nach  Forges  in  der  Nor- 
mandie.  Die  eisenhaltigen  Quellen  sollten  die  Königin  stärken.  Der  kleine 
Ort  wurde  für  einige  Wochen  der  Sitz  geräuschvollen,  glänzenden  Lebens. 
Der  ganze  Hof  begleitete  das  Herrscherpaar,  und  auch  Richelieu  befand 
sich  in  seinem  Gefolge.  Die  Festlichkeiten  drängten  sich.  Selbst  ein 
Theater  durfte  nicht  fehlen.  Von  Seiten  der  Provinz  wurde  alles  auf- 
geboten, den  hohen  Besuch  zu  ehren,  und  der  Erzbischof  von  Ronen,  Fran- 
cois  de  Harlay  de  Champvallon,  ersuchte  in  diesem  Sinn  auch  Corneille 
um  ein  Begrüßungs-  und  Huldigungsgedicht.  Der  Dichter  kam  dem  Auf- 
trag nach,  indem  er  ihn  scheinbar  ablehnte.  In  einem  lateinischen  Gedicht 
wandte  er  sich  an  den  Erzbischof  und  bat  ihn,  von  seinem  Wunsch 
abzustehen.  Die  Thaten  der  Helden  zu  besingen  sei  die  Aufgabe  eines 
Virgil.  Er  aber  habe  sich  ein  bescheideneres  Ziel  gesetzt,  da  seine  geringen 
Kräfte  ihm  nicht  erlaubten,  so  hoch  zu  streben.  Das  Lustspiel  sei 
sein  Feld,  und  darin  habe  er  den  Beifall  aller,  sowol  des  Hofes  und  der 
Gelehrten,  als  auch  des  großen  Publikums  erworben.  Allerdings  erhebe 
er   sich    in    seinen  Dichtungen   manchmal    auch   zur   höheren   tragischen 


^)  La  Pineliere,  „La  Parnasse  ou  la  Critique  des  poetes"  (1635),  S.  60 
bis  62.  Dort  heißt  es  von  jenen  Dichtern:  „Ils  tächent  par  toutes  sortes  de 
moyens  de  voir  tous  ceux  qui  ecrivent.  Ils  auront  la  tete  leve'e  une  heure  en- 
tiere  ä  l'hütel  de  ßourgogne  pour  attendre  que  quelque  poete  de  reputation 
qu'ils  voient  dans  une  löge  regarde  de  leur  cöte,  afin  d'avoir  roccasion  de  leur 
faire  la  reverence.  Ils  le  montrent  ä  ceux  de  leur  compagnie  et  leur  disent: 
„Voilä  M.  de  Rotrou,  ou  M.  du  Ryer,  il  a  bien  parle  de  ma  piece  qu'un  de 
mes  amis  lui  a  depuis  peu  montree".  Tantot  ils  s'eloigneront  un  peu  d'eux,  et 
revieudront  iucontinent  leur  dire :  „Messieurs,  je  vous  demande  pardon  de  mon 
incivilite;  je  viens  de  saluer  M.  Corneille  qui  arriva  hier  de  Rouen.  II  m'a 
prorais  que  demain  nous  irons  voir  ensemble  M.  Mairet,  et  qu'il  me  fera  voir 
des  vers  d'une  excellente  piece  de  theatre  qu'il  a  commencee".  S.  Corneille,  ed. 
Martj-Laveaux,  11,  330. 


350 


Sprache,  allein  dann  unterstütze  ihn  die  Bühne  mit  ihrer  Illusion,  und 
Roscius-Mondory  wisse  die  Schwäche  seiner  Verse  zu  verbergen,  indem 
er  ihnen  Feuer  und  Anmut  verleihe.  Aber  Triumphe,  wie  die  des  Königs 
Ludwig,  wolle  er  mit  seinem  Lied  nicht  entweihen,  und  Richelieus  Ehre 
dürfe  er  nicht  dadurch  schmälern,  daß  er  ihn  feiere.  Er  vergleicht  dabei 
jenen  mit  Achill,  diesen  mit  Nestor,  und  sagt,  Thaten,  wie  die  Besiegung 
der  Hugenotten  und  die  Kämpfe  mit  Spanien,  zu  verherrlichen,  müsse  er 
anderen  überlassen  —  einem  Godeau  oder  Chapelain,  denen  er  es  mit 
seinem  schwachen  Gesang  nicht  gleichthun  könne.  ■^) 

Das  Gedicht  ist  für  uns  hauptsächlich  wegen  der  Äußerungen  Cor- 
neilles  über  sich  und  seine  Kunst  von  Wert. 

„Alles  Gekünstelte  fliehen,  erscheint  mir  die  wirkliche  Kunst  erst-j 
sagt  er  darin  und  betont  sein  Streben,    im  Lustspiel    nur  das  Bild  des 
wirklichen,  den  Dichter  umflutenden  Lebens  zu  geben.    Das  Theater  sei 
das  Gebiet,  auf  dem  allein  er  zu  arbeiten  berufen  sei : 

„Heische  nicht  mehr  von  mir;  hier  ist  die  Grenze  des  Geistes. 
Wer  mir  die  Bühne  verschheßt,  schließt  meiner  Muse  den  Mund.S) 

Umso  entschiedener  betont  er  sein  Verdienst  um  die  dramatische 
Poesie.  Mit  hohem  Selbstgefühl  sagt  er  von  sich: 

Siegreich  steh'  ich  hier;  es  beseelt  mich  die  Muse  des  Dramas, 

Und  es  schmückt  mich  der  Kranz,  der  um  die  Stirne  sich  schlingt. 

Wenige  kamen  mir  gleich,  doch  übertraf  mich  noch  keiner, 
Und  mir  nahe  zu  stehen,  ist  schon  des  Paihmes  genug.  *) 

Das  stolze  Wort,  das  Corneille  damals  sprach,  hat  er  durch  seine 
«päteren  Werke  gerechtfertigt.  Übrigens  scheint  es,  daß  er  sein  Gedicht 
nicht  während  des  Hoflagers  in  Forges  überreichte.  Denn  der  Vers  54 
erwähnt  die  Übergabe  der  Stadt  Nancy,  welche  erst  am  24.  September  1635 
erfolgte.  Immerhin  könnte  Corneille  das  darauf  bezügliche  Distichon  nach- 
träglich eingefügt  haben,  da  das  Gedicht  erst  im  Jahr  1634  zum  Druck 
gebracht  ward. 


1)  P.  Cornelii  Eothomagensis  ad  illustrissimi  Francisci  archiepiscopi, 
Normaniae  primatis,  invitationem,  qua  gloriosissimum  regem,  eminentissimum- 
que  cardinalem-ducem  versibus  ceiebrare  jussus  est,  excusatio.  S.  Corneille 
Oeuvres  X,  64. 

2)  V.  19: 

Ars  artem  fugisse  mihi  est. 

3)  V.  39  und  40: 

Hie  mihi  sunt  fines,  nee  me  quaesiveris  extra: 
Carminibus  ponent  clausa  theatra  modum. 

*)  Hos  gestit  versare  modos;  hie  nescia  vinci 

Nostro  coronato  vertice  laurus  ovat : 
Me  pauci  hie  fecere  pareni,  nuUusque  secundum, 
Nee  spernenda  fuit  gloria  pone  sequi. 
Man  vergleiche  damit  ein  ähnlich  selbstbewußtes  Wort,  das  er  in  einem  späteren 
•Gedicht,  „Excuse  ä  Ariste",  v.  36  sagt: 

„Je  sais  ce  que  je  vaux  et  crois  ce  qu'on  m'en  dit." 


351 


Da  man  ein  Schauspiel  in  Forges  hatte,  und  in  dem  Eepertoire 
Corneilles  Lustspiele  gewiß  nicht  fehlten ,  lag  es  nahe  für  den  Dichter, 
sich  auch  daselbst  einzufinden.  Forges  liegt  nur  etwa  40  Kilometei'  nord- 
östlich von  Eouen,  und  die  Reise  war  somit  nicht  allzu  beschwerlich. 
Während  dieses  Aufenthalts  mag  Corneille  dem  Kardinal  näher  getreten 
sein;  vielleicht  erregte  er  auch  schon  damals  die  Aufmerksamkeit  der 
Königin  Anna.  Jedenfalls  erfolgte  bald  nach  dem  Aufenthalt  in  Forges 
Oorneilles  Eintritt  in  die  Gesellschaft  der  dramatischen  Dichter,  die  für 
Richelieu  arbeiteten.  Wahrscheinlich  bezog  er  seitdem  ein  jährliches  Ge- 
halt von  fünfhundert  Ecus.  Am  4.  März  1635  wurde  das  erste  Stück, 
das  man  den  „fünf  Autoren"  verdankte,  die  „Comedie  des  Tiiileries", 
vor  der  Königin  aufgeführt.^)  Der  dritte  Akt  dieses  Lustspiels  wird  Cor- 
neille zugeschrieben.  Einzelue  Wendungen  und  Ideen,  die  darin  vorkommen, 
und  die  man  auch  in  anderen  Dichtungen  Corneilles  findet,  scheinen 
diese  Tradition  zu  bekräftigen.  Doch  währte  die  Beteiligung  Corneilles 
an  den  dramatischen  Spielereien  Eichelieus  nicht  lang.  Man  weiß,  daß 
der  Kardinal  ihm  wegen  seines  wenig  fügsamen  Sinns  zürnte,  und  daß 
sich  der  Dichter  bald  nach  Ronen  zurückzog,  wo  ihn,  wie  er  vorschützte, 
Familienangelegenheiten  fesselten.  Er  erkaufte  seine  Freiheit  mit  der  Gunst 
des  Ministers,  denn  er  war  nicht  der  Mann,  sich  seinen  Weg  vorschreiben 
zu  lassen.  In  ihm  wogte  es  auf  und  ab ;  neue  Entwürfe  drängten  sich 
in  seinem  Geist,  und  ratlos  versuchte  er  sich  in  der  verschiedensten 
Manier.  Leider  giebt  uns  kein  Brief,  kein  Tagebuch,  keine  Freundesauf- 
zeichnung Nachricht  über  Corneilles  Pläne  und  Hoffnungen  in  jener  so 
wichtigen  Epoche  seiner  Entwicklung.  Aber  seine  Werke  sprechen  für  ihn 
und  erlauben  einen  sicheren  Rückschluß.  Wir  sehen,  wie  er  sich  für  die 
Pabrikarbeit  unter  Richelieus  Aufsicht  für  zu  gut  hielt.  Er  fühlte  sich 
zu  Größerem  berufen,  wenn  er  auch  seinen  eigentlichen  Beruf  zur  tragischen 
Poesie  erst  dunkel  erkannte.  Zum  erstenmal  versuchte  er  sich  nun  im 
höheren  Stil.  Aber  indem  er  sich  der  Tragödie  zuwandte,  mußte  er  sich 
zunächst  an  die  Vorbilder  des  klassischen  Altertums  halten.  Die  Lust- 
spiele der  Alten,  sowie  die  Stücke  der  italienischen  Stegreifkomödie 
schienen  auch  damals  schon  für  ein  feineres  Publikum  nicht  passend, 
und  die  Idee  einer  Umbildung  und  Modernisierung  des  Lustspiels  konnte 
sich  einem  selbständigen  Dichter  leicht  aufdrängen.  In  der  Tragödie 
dagegen  standen  die  Werke  der  Griechen  als  unerreichte  Muster  da,  und 
wenn  sich  das  antike  Theater  auch  nicht  in  die  neue  Zeit  übertragen 
ließ,  so  strahlte  es  doch  aus  der  Ferne  in  solchem  Glanz,  der  Hoheit 
und  Schönheit,  daß  es  dem  modernen  Kunstdrama,  das  nicht  wie  das 
englische  und  spanische  aus  dem  Volk  erwachs ,  gewisse  Gesetze  als 
unabänderlich  auferlegte.  Besonders  bewunderte  man  Euripides,  dessen 
Pathos  schon  einen  mehr  modernen  Charakter  trägt,  und  neben  ihm  Seneca, 
dessen  rhetorisch  gehaltene,  auf  gewaltsamen  Effekt  hinzielende  Tragödien 
als  den  Dichtungen  der  großen  griechischen  Tragiker  ebenbürtig  geschätzt 
wurden ,   ja  ihrer  derberen  Haltung   wegen  leichter  begriffen  und    nach- 


1)  Über  die  „fünf  Autoren"  und  ihre  Werke  s.  Bd.  I,  S.  225 


352 

geahmt  werden  konnten.  Darum  hatte  sich  die  junge  französische  Tra- 
gödie an  diesen  Mustern  zu  bilden  gesucht,  und  war  besonders  durch 
Mairet  in  ihrer  Richtung  bestärkt  worden.  Auch  Corneille  sah  sich  ver- 
anlaßt, zunächst  hier  anzuknüpfen,  wenn  er  sich  der  tragischen  Muse 
zuwenden  wollte. 

So  entstand  seine  Tragödie  „Medea".  Ein  Brief  Balzacs  an  Bois- 
robert  vom  3.  April  1635,  also  schon  vor  dem  Bruch  mit  dem  Kardinal, 
rühmt  die  Kunst  Mondorys  in  der  Rolle  des  „Jason-'.  Die  erste  Aufführung 
des  neuen  Stücks  muß  also  schon  früher  stattgefunden  haben.')  Die  „Medea- 
ist  indessen  kaum  als  eine  Originaldichtung  Corneilles  anzusehen.  Sie  ist 
vielmehr  eine  ziemlich  getreue  Bearbeitung  der  gleichnamigen  Tragödie  des 
Seneca,  nur  daß  Corneille  das  lateinische  Stück  mit  einigen  Stellen  aus  Euri- 
pides  verbrämt  und  durch  eigene  Zuthat  erweitert  hat.  Euripides  führte  in 
einer  kurzen  episodischen  Scene  den  König  Ägeus  von  Athen  in  sein  Trauer- 
spiel ein.  um  der  racheglühenden  Kolcherin  die  Aussicht  auf  ein  Asyl  zu  er- 
öffnen. Seneca  strich  den  König,  aber  Corneille  nahm  ihn  nicht  allein  in 
sein  Stück  wieder  auf,  sondern  hatte  noch  die  unglückliche  Idee,  ihn  als 
liebeberauscht  hinzustellen  und  ihm  eine  größere  Rolle  zuzuweisen.  Er 
mochte  fühlen,  daß  die  Handlung  der  antiken  Tragödie,  des  Chors  be- 
raubt, für  die  moderne  Bühne  zu  einfach  ist,  und  diese  Beobachtung 
verleitete  ihn  wahi'scheinlich  zu  dem  Fehler ,  den  greisen  Ägeus  als 
Bewerber  um  die  Hand  Kreusas  hinzustellen.  Die  unselige  Vorliebe  für 
die  ritterliche  Galanterie,  welche  in  der  klassischen  Tragödie  der  Fran- 
zosen so  manche  Sünde  verschuldete,  machte  sich  schon  zu  Corneilles 
Zeit  geltend.  Ageus  wird  von  der  Königstochter  abgewiesen  und  wagt  in 
seiner  Erbitterung  einen  Überfall  auf  die  arglos  am  Gestade  des  Meers 
sich  ergehende  Prinzessin.  Jason  und  sein  Freund  Pollux  kommen  ihr 
zur  rechten  Zeit  zu  Hilfe,  bezwingen  die  räuberische  Schar  der  Athener 
und  nehmen  Ägeus  selbst  gefangen.  In  den  Kerker  geworfen,  erwartet 
er  den  Tod,  erlangt  aber  durch  die  Zauberkräfte  Medeas,  die  sich  an 
Kreusa  rächen  will,  seine  Freiheit  wieder  und  bietet  alsbald  seiner  Retterin 
die  Ehe  an.  Wir  sind  hier  weitab  von  der  antiken  Tragödie  und  schwimmen 
im  vollen  Strom  moderner  Romantik.  Kreusa,  die  mit  gutem  Bedacht 
weder  im  griechischen  noch  im  römischen  Stück  erscheint,  zeigt  sich 
uns  bei  Corneille  als  galante  Prinzessin,  die,  einer  echten  Precieusen 
gleich,  über  die  Xatur  der  Liebe  redet, ^)  und  es  glücklich  so  weit  bringt, 
daß  sie  den  Rest  unserer  Teilnahme  verscherzt.  Denn  nachdem  sie  Medea 
ihres  Gatten  beraubt  hat,  äußert  sie  noch  die  armselige  Gier  nach  dem 
Prachtgewand  der  Fremden  und  wird  somit  selbst  die  Veranlassung  ihres 
Untergangs.^)  Auch  vermeinte  Corneille  dadurch  größeren  Eindruck  zu 
erzielen,  daß  er  König  Kreon  und  seine  Tochter,  von  dem  höllischen 
Feuer  gepeinigt,  auf  der  Bühne  umher  rasen  ließ.  Wenn  aber  irgendwo. 


1)..  Gedruckt  erschien  die  „Medea"  erst  im  Jahr  1639.  Paris,  bei  Frau(;ois 
Targa.  Über  Corneilles  „Medee-*  s.  ausführlichen  Aufsatz  von  Heine  in  Körting 
&  Koschwitz'  „Französischen  Studien",  I.  Bd.  3.  Heft  1881. 

2)  Vergl.  z.  B.  II,  5,  v.  23  ff. 

^)  II,  4,  V.  23:  „La  robe  de  Medee  a  donne  dans  mes  jeux**. 


353 


war  es  hier  am  Platz,  die  Katastrophe  nur  erzählen  zu  lassen,  wie  die 
beiden  alten  Dichter  es  gethan.  Denn  der  Zuschauer  wendet  sich  von 
dem  Bild  der  k(5rperlichen  Leiden  widerwillig  hinweg  und  die  Scene 
wirkt  nur  abschwächend. 

Überhaupt  ist  die  Charakteristik  der  Personen,  wo  sie  nicht  eine 
einfache  Übertragung  des  Vorbilds  ist,  verfehlt.  Jason  ist  noch  niedriger 
hingestellt  als  in  der  antiken  Tragödie.  Er  ist  nicht  bloß  untreu,  er  ist 
auch  gemein.  Als  Kreusa  ihm  ihr  Verlangen  nach  dem  Kleid  Medeas 
mitteilt,  geht  er  ohne  Zögern  auf  den  Gedanken  ein,  versteckt  sich  in 
der  Nähe  seiner  ehemaligen  Wohnung,  um  Medeens  Dienerin  zu  erspähen, 
mit  ihr  allein  zu  sprechen  und  mit  ihrer  Hilfe  das  Gewand  zu  er- 
langen! Am  auffälligsten  ist  die  falsche  Behandlung  des  Charakters  der 
Medea  selbst.  Großartig  und  erschütternd  erscheint  sie  bei  Euripides. 
Dort  ist  sie  das  wilde,  barbarische,  aber  kraftvolle,  heroische  Weib,  die  ge- 
reizte Gattin,  die  beleidigte  Mutter,  die  in  einem  Anfall  von  Wut  zur 
Tigerin  wird.  Bei  Seneca  hat  sie  von  ihrer  Größe  bereits  viel  eingebüßt. 
Die  Aufgabe  des  Dichters  bestand  darin,  den  Charakter  der  Sage  zu 
wahren,  die  Hoheit  des  tragischen  Vorgangs  nicht  zu  schmälern  und 
doch  die  menschliche  Natur  Medeas  zu  betonen.  Ihre  Zauberkraft  durfte 
nicht  besonders  hervorgehoben  werden,  weil  man  sich  sonst  fragen  mußte, 
warum  sie  ihre  Künste  nicht  früher  zur  Abwendung  des  ganzen  U^nglücks 
benutzt  habe  ?  Nur  wenn  Medea  als  leidendes,  verschmähtes,  mit  schnödem 
Undank  verfolgtes,  überall  verstoßenes  Weib  erscheint,  wenn  wir  sehen, 
wie  sie  aus  Liebesleidenschaft  gefehlt  hat,  und  nun  von  derselben  Leiden- 
schaft, von  wilder  Eifersucht  zur  Raserei  gebracht  wird ;  wenn  wir,  mit 
einem  Wort,  eine  furchtbar  grimmige  Menschennatur,  aber  doch  eine 
Menschennatur  in  ihr  sehen,  dann  allein  wird  sie  uns  verständlich,  dann 
allein  erregt  sie  trotz  ihrer  Frevel  unser  tiefes  Mitgefühl.  So  hat 
sie  denn  auch  Euripides  gezeigt.  Bei  Corneille  aber  betont  sie  jeden 
Augenblick  ihre  Zauberkraft.  Durch  einen  Schlag  mit  ihrem  Zauber- 
stab öffnet  sie  den  Kerker  des  gefangenen  Ägeus  und  befreit  ihn  von 
seinen  Ketten.  Sie  giebt  ihm  einen  Ring,  der  ihn  unsichtbar  macht;  sie 
vermag  einen  Menschen  so  an  die  Scholle  zu  binden,  daß  ihm  jede  Be- 
wegung unmöglich  wird.  Kurz,  sie  beherrscht  Himmel  und  Erde,  sie 
gebietet  dem  Blitz,  dem  Sturmwind  und  der  Woge  des  Meers;  die  ganze 
Natur  ist  ihr  unterthan.*)  Darum  kann  sie  auch  erklären,  daß  sie  keines 
Menschen  Macht  fürchte  und  den  Kampf  mit  der  ganzen  Welt  nicht  zu 
scheuen   habe.^)    Indem  aber  Corneille    in  so  scharfer  Weise  ihre  über- 

1)  Nerine,  Medeas  vertraute  Dienerin,  sagt  von  ihr  III,  1,  v.  10: 
Un  mot  du  haut  des  cieux  fait  deseendre  la  foudre, 
Les  mers,  pour  noyer  tout,  n'attendent  que  sa  loi. 
L'air  tient  les  vents  tous  prets  ä  suivre  sa  colere. 
Tant  la  nature  esclave  a  peur  de  lui  deplaire. 

^)  Sie  sagt  IV,  5,  v.  53  ff.: 

Non  pas  que  je  les  craigne,  eux  et  toute  la  terre 
A  leur  eonfusion  me  livreroient  la  guerre. 
Mais  je  hais  ce  desordre  .  .  . 
Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteiatur.  23 


354 


menschliche  Natur  betont,  entrückt  er  sie  mehr  und  mehr  unserer  Teil- 
nahme. Die  Medeasage  war  überhaupt  seinem  dichterischen  Talent  nicht 
angemessen.  Der  Charakter  der  Heldin  ist  zu  komplex  und  verlangt  eine 
eingehende  psychologische  Schilderung.  Corneille  aber  konnte,  wie  wir 
später  sehen  werden,  wol  kraftvolle,  dämonische  Frauengestalten  schaffen, 
aber  er  stellt  seine  Personen  immer  wie  aus  Einem  Guß  hin,  fertig  und 
entschieden.  Medea  muß  uns  dagegen  im  Zustand  des  Schwankens,  des 
Seelenkampfes  und  der  Herzensangst  gezeigt  werden,  wenn  sie  uns  be- 
wegen soll.  Dieser  erste  Versuch  auf  dem  Gebiet  der  Tragödie  erhob 
Corneille  noch  nicht  über  die  anderen  tragischen  Dichter  seiner  Zeit. 
Selbst  in  der  Sprache  nicht.  Man  sollte  denken,  daß  sich  in  der  „Medea" 
schon  Anklänge  an  die  hinreißende  Sprache  des  „Cid"  linden  müßten, 
da  die  beiden  Dichtungen  doch  zeitlich  einander  nahe  stehen.  Gleichwie 
das  Gewitter  sich  oft  durch  ein  leises  Grollen  in  der  Ferne  ankündigt, 
sollte  man  denken,  klinge  die  geniale  Kraft  des  ..Cid"  auch  schon  in 
einzelnen  Lauten  der  früheren  Tragödie  an.  Allein  dem  ist  nicht  so. 
Wir  haben  schon  gesagt,  daß  die  „Medea",  trotz  der  Änderungen,  die 
sich  Corneille  erlaubte,  nicht  als  Originaldichtung  anzusehen  ist.  Kräftige 
Stellen  finden  sich  wol  darin,  allein  sie  sind  alle  dem  lateinischen  Vor- 
bild entnommen.  ^)  Immerhin  bleibt  der  „Medea"  das  Verdienst,  den 
Dichter  in  die  Tragödie  eingeführt  zu  haben.  War  es  auch  nur  eine 
Übersetzung,  an  der  er  sich  übte,  so  wurde  ihm  doch  der  Stil  der  Tra- 
gödie vertraut.  In  der  „Medea"  erprobte  Corneille  seine  Kraft  vor  der 
entscheidenden  That.^) 


1)  Selbst  das  berühmte  „Mol"  der  Medea  (I,  5,  48),  in  dem  die  fran- 
zösische Kritik  das  erste  Leuchten  des  tragischen  Geistes  in  Corneille  erblicken 
will,  scheint  mir  nicht  kräftiger  als  die  betreflfende  Stelle  bei  Seneca. 

Nerine : 
Dans  im  si  grand  rever.s  que  vous  reste-il? 
Medee : 
Moi 
Moi,  dis-je,  et  c'est  assez. 

Man  vergleiche  damit  die  Verse  bei  Seneca: 
Nutrix : 
Nihilque  superest  opibus  et  tantis  tibi. 

Medea : 
Medea  superest. 
Das    lateinische  „Medea    superest"    klingt    zum    mindesten  ebenso    stolz 
und  kühn  wie  das  französische  „Moi". 

-)  Von  allen  dramatischen  Bearbeitern  der  Medea- Sage  steht  uns  Grill- 
parzer  mit  seiner  wunderbaren  Dichtung  am  nächsten.  Euripides  ist  einfacher; 
er  giebt  die  Fabel,  wie  sie  ihm  überliefert  war,  aber  trotzdem  er  Medea  in  der 
ganzen  Herbheit  ihres  Charakters  darstellt,  weiß  er  doch  durch  die  Schilderung 
des  gequälten  Mutterherzens  und  durch  das  Pathos  der  Leidenschaft  tief  zu  er- 
schüttern. Es  ist  schwer,  Griliparzers  Werk  mit  dieser  antiken  Tragödie  zu  ver- 
gleichen. Es  steht  uns  näher,  weil  es  modern  gedacht  und  empfunden  ist.  So 
ist  die  letzte  Scene  des  fünften  Akts,  in  welcher  Medea  von  Jason  Abschied 
nimmt,  gewiß  großartig.  In  einer  wüsten  Gegend  trifft  Medea  den  aus  Corinth 
verstoßenen,  geächteten,  dem  Verschmachten  nahen  Jason,  und  sagt  ihm : 


355 


Nach  „Medea"  kehrte  Corneille  wieder  zum  Liistjjiel  zurück.  Im 
Jahr  1636  kam  seine  „Illusion  coraique"  zur  Aufführung.')  Abermals 
griff  der  Dichter  in  eine  andere  Welt  und  versuchte  es  mit  einer  neuen 
Gattung,  dem  romantischen  Zauber-  und  Possenspiel.  Er  knüpfte  diesmal 
an  die  Stücke  der  Commedia  dell'  Arte  an,  insofern  er  den  Capitan  aus 
denselben  herübernahm.  Schon  Antoine  Marechal  hatte  ihm  das  Beispiel 
dafür  gegeben.^)  In  seinem  Lustspiel  ,. Le  railleur"'  erscheint  der  Capitan 
Taillebras,  der,  mit  dem  überspannten  Dichter  Lycante  wetteifernd,  um 
die  Liebe  einer  jungen  Dame  wirbt.  Der  Charakter  des  Bramarbas  ist 
ganz  so  geblieben,  wie  ihn  die  Spanier  und  Italiener  kannten.  Taillebras 
nennt  sich  selbstgefällig  „den  Schrecken  des  Erdballs"  und  rühmt  sich 
der  Huldigungen .    welche    ihm    Kaiser   und    Könige    dargebracht  haben 


Leb  wohl!  nach  all  den  Freuden  früh'rer  Tage. 
In  all  den  Schmerzen,  die  uns  jetzt  umnachten, 
Zu  all  dem  Jammer,  der  noch  künftig  droht. 
Sag  ich  Dir  Lebewohl,  mein  Gatte. 
Ein  kummervolles  Leben  bricht  Dir  an. 
Doch  was  auch  kommen  mag:  halt  aus. 
Und  sei  im  Tragen  stärker  als  im  Handeini 

Für  das  moderne  Publikum,  das  gern  nach  jeder  gewaltigen  Erscheinung 
eine  sentimentale  Abschwächung  sucht,  ist  dieser  stimmungsvolle  Abschluß  eine 
Wohlthat.  Aber  die  ganze  Scene  bleibt  darum  doch  eine  Abschwächung,  und 
ganz  wahr  ist  dieses  Mitleid  der  in  ihrem  Elend  zur  äußerlichen  kalten  Euhe 
sich  zwingenden  Kindesmörderin  nicht.  Ich  zweifle,  ob  die  Griechen  solche  Rede 
gebilligt  hätten.  Auch  die  Abschiedsworte  Medeas: 

Was  ist  der  Erde  Glück?  —  Ein  Schatten! 
Was  ist  der  Erde  Euhm?  —  Ein  Traum! 

enthalten  eine  philosophische  Bemerkung,  die  mir  mit  dem  Charakter  der  Medea 
nicht  recht  zu  stimmen  scheint,  und  wenn  sie  ferner  sagt: 

Die  wir  im  Unglück  uns  gefunden, 
Im  Unglück  scheiden  wir, 

so  ist  das  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  eine  Pointe,  wie  wir  sie  auch  bei 
Corneille  gefunden  haben.  Fern  sei  es  von  mir,  an  Grillparzers  Grölie  mäkeln 
zu  wollen;  es  soll  nur  im  Vorübergehen  gezeigt  werden,  daß  selbst  die  besten 
modernen  Tragödien,  die  ihren  Stoff  aus  dem  Altertum  nehmen,  modernen  Geist 
atmen,  daß  sie  modern  denken  und  fühlen  müssen.  Wir  werden  auf  diesen 
Punkt  zurückkommen,  wenn  wir  von  dem  Charakter  der  klassischen  französi- 
schen Tragödie  eingehender  reden.  Im  Vorübergehen  sei  nur  darauf  aufmerksam 
gemacht,  daß  der  französische  Dramatiker  Ernst  Legouve  ebenfalls  eine  „Medea" 
gedichtet  hat,  und  daß  eine  Vergleichung  dieses  Stücks  mit  dem  Grillparzer- 
schen  beweist,  daß  Legouve  das  letztere  Stück  gekannt,  in  den  Hauptscenen 
nachgeahmt  und  abgeschwächt  hat. 

1)  Der  spätere  Titel  des  Lustspiels  war  einfach  „L'illusion". 

2)  In  der  Vorrede  zu  seinem  „Railleur",  der  1636  aufgeführt  und  1638 
gedruckt  wurde,  sagte  Marechal:  „Je  dirai  pourtant  en  sa  faveur  que  c'est  le 
premier  capitan  en  vers  qui  a  paru  dans  la  sct-ne  fran(;oise,  qu'il  n'a  point  eu 
d'exemples  et  de  modeles  devant  lui,  et  qu'il  a  precöde,  au  moins  du  temps, 
deux  autres  qui  Tont  surpasse  en  tout  le  reste,  et  qui  sont  sortis  de  deux 
plumes  si  fameuses  et  comiques  dans  „Tlllusion"  et  „les  Visionnaires."  Das 
letztere  Stück  von  Desmarets  datiert  übrigens  nach  der  Angabe  der  Brüder  Par- 
faict  aus  dem  Jahr  lG:i7. 

23* 


356 


sollen.'')  Aber  wenn  ihm  ein  ernstlicher  Kampf  droht,  flächtet  er  ohne 
Zögern.  .,Cherchons  un  autre  gite,  il  fait  ici  trop  chaud!"  sagt  er 
lU,  7,  35. 

Daß  auch  Don  Quichote  öfter  auf  die  Bühne  gebracht  wurde  und 
durch  sein  Wesen  au  den  Capitan  erinnerte,  ist  schon  früher  bemerkt 
worden.-) 

Folgendes  ist  der  Inhalt  des  Corneille'schen  Lustspiels.  Pridamant, 
ein  alter,  gestrenger  Herr  von  Adel,  hat  seinem  Sohn  Clindor  einige  tolle 
Jugendstreiche  nicht  nachsehen  wollen,  und  ihn  dadurch  so  weit  gebracht, 
daß  er  das  väterliche  Haus  heimlich  verlassen  hat  und  verschollen  ist. 
Voll  Verzweiflung  hat  Pridamand  viele  Länder  durchzogen,  um  eine  Spur 
seines  Sohns  zu  finden;  er  hat  den  Po,  den  Rhein,  die  Maas,  die  Seine 
und  den  Tajo  gesehen,  wie  er  sagt,  allein  vergebens.  Ein  Bekannter  ge- 
leitet ihn  endlich  zur  Höhle  des  mächtigen  weisen  Zauberers  Alcandre. 
in  der  Xähe  von  Tours.  Damit  beginnt  das  Stück.  Alcandre  kennt  die 
Geschichte  Pridamants  und  seines  Sohns.  Der  letztere  hat  lange  Zeit  im 
größten  Elend  gelebt  und  nur  mühsam  sein  Dasein  gefristet,  befindet  sich 
jetzt  aber  in  besserer  Lage.  Diese  Mitteilung  zu  bekräftigen,  zeigt  Al- 
candre in  einem  Zauberbild  die  kostbaren  Kleider ,  welche  Clindor  jetzt 
trägt.  Damit  ist  natürlich  der  bekümmerte  Greis  nicht  zufrieden,  und 
Alcandre  beschließt,  ihm  die  letzten  Schicksale  Clindors  durch  seine  dienst- 
baren Geister  wie  in  einem  Schauspiel  darstellen  zu  lassen.  Diese  Komödie 
in  der  Komödie  fängt  mit  dem  zweiten  Aufzug  an.  Der  Capitan  Matamore 
aus  der  Gascogne  hat  Clindor  als  Diener  und  Sekretär  in  seine  Dienste 
genommen.  Matamore  ist  in  eine  junge  Dame  aus  gutem  Hause.  Isabella, 
verliebt  und  zweifelt  nicht  an  seinem  Sieg.  „Quand  je  veux,  j'epouvante; 
et  quand  je  veux,  je  charme",  sagt  er  (II,  2,  38).  Er  erzählt,  daß  er 
sich  früher  nicht  mehr  öffentlich  habe  zeigen  können,  weil  er  mit  seiner 
Schönheit  allen  Frauen  den  Kopf  verdreht  habe,  und  diese  unendlichen 
Triumphe  hätten  ihn  an  der  völligen  Eroberung  der  Welt  gehindert. 
Darum  habe  er  Jupiter  gezwungen,  seine  Schönheit  etwas  abzuschwächen. 
Seitdem  sei  er  nur  schön,  wenn  er  es  wünsche.  .,Et  depuis,  je  suis  beau, 
quand  je  veux  seulement"  (II,  2,  6,  4.).  Wenn  man  überhaupt  den  über- 
triebenen, possenhaft  verzerrten  Charakter  des  Capitan  im  Lustspiel  als 
zulässig  annimmt,  muß  man  sagen,  daß  ihn  Corneille  mit  viel  Humor 
behandelt  hat.  In  seiner  faden  Selbstbewunderung  spreizt  sich  Matamore 
vor  seinem  Diener: 

„Blick  auf  mein  Antlitz  her;  es  spiegelt  sich 
in  ihm,  o  Freund,  jedwede  Tugend  ab.^^j 

In  der    herkömmlichen    prahlerischen  Weise    redet   er   von   seinen 
Heldenthaten,  so  lange  er  keinen  Gegner  vor  sich  hat.  Kaum  aber  erblickt 


i)  Vergl.  I,  4,  1  und  IV,  4,  1  ff. 

^)  Vergl.  dritter  Abschnitt  S.  299. 

3j  II,  2,  V.  98: 

Contemple,  mon  ami,  contemple  ce  visage : 
Tu  vois  UQ  abrege  de  toutes  les  vertus. 


357 


er  seinen  Rivalen  Adraste  in  der  Ferne,  so  enteilt  er:  „Denn",  sagt  er, 
.Jener  Mensch  ist  zwar  feig,  aber  in  seiner  Frechheit  könnte  er  doch 
Streit  mit  mir  anfangen.  In  der  Stunde  meiner  Schönheit  aber  fehlt  mir 
der  Mut.i) 

Adraste,  ein  reicher  Edelmann,  der  Isabella  ebenfalls  liebt,  ist  in  seiner 
Werbung  nicht  glücklicher  als  Matamore,  denn  es  ist  Clindor  gelungen, 
die  Neigung  des  schönen  und  geistvollen  Mädchens  zu  gewinnen.  Adraste 
hat  jedoch  den  Vater  für  sich  und  hoft't  mit  dessen  Hilfe  zu  seinem  Ziel 
zu  gelangen.  Matamore  bedient  sich  Clindors,  um  Isabellen  seine  Gefühle 
wissen  zu  lassen,  und  ist  daher  sehr  empört,  als  er  zufällig  ein  Gespräch 
Isabellens  mit  Clindor  belauscht,  in  welchem  der  letztere  für  sich  selber 
redet.  Wütend  stürmt  er  aus  seinem  Versteck,  um  den  falschen  Diener 
zu  töten.  Nur  die  Wahl  läßt  er  ihm  frei,  ob  er  durch  einen  Faustschlag 
wie  Glas  zerbrochen,  ob  er  bis  in  den  Mittelpunkt  der  Erde  gestoßen, 
mit  einem  einzigen  Schwertstreich  in  zehn  Stücke  gehauen,  oder  ob  er 
zum  Himmel  geschleudert  werden  will,  daß  ihn  dort  das  Feuer  verzehre. 
Clindor  aber  hat  seinen  Herrn  schon  längst  erkannt,  als 

„La  souverain  poltron,  ä  qui  pour  faire  peur, 

II  ne  faut  qu'une  feuille,  une  ombre,  une  vapeur", 

und  somit  läßt  er  sich  nicht  erschrecken;  er  antwortet  vielmehr  mit 
Drohungen  und  zwingt  Matamore,  auf  jede  Bewerbung  um  Isabellens 
Hand  zu  verzichten.  In  diesem  Augenblick  stürmt  Adraste  mit  seinen 
Dienern  auf  die  Scene.  Er  hat  von  dem  Stelldichein  gehört  und  will  den 
frechen  Clindor  strafen.  Matamore  flüchtet  in  Isabellens  Haus,  wo  er  vier 
Tage  lang  unter  dem  Dach  versteckt  bleibt  und  nur  Nachts  in  die  Küche 
schleicht,  um  sich  etwas  Nahrung  zu  suchen.  Clindor  aber  setzt  sich  zur 
Wehr;  er  ersticht  seinen  Gegner,  wird  umringt  und  verhaftet.  Im  vierten 
Akt  sehen  wir  ihn,  zum  Tod  verurteilt,  im  Kerker.  Aber  Lyse,  Isabellens 
Zofe,  hat  den  Kerkermeister  durch  ein  Eheversprechen  gewonnen.  So  gelingt 
es  Isabellen,  den  Geliebten  zu  befreien,  nachdem  sie  von  den  Schätzen 
ihres  Vaters  zusammengeraift,  was  sie  gerade  hat  finden  können,  und  die 
beiden  Paare  retten  sich  durch  die  Flucht.  Im  fünften  Akt  zeigt  der 
Zauberer  in  einem  andern  Bild  die  Flüchtlinge  in  neuen  Verhältnissen. 
Sie  sind  Schauspieler  geworden,  und  man  sieht  sie  in  der  letzten  Scene 
einer  Tragödie  auftreten,  in  der  Clindor  ermordet  wird  und  Isabella  vor 
Schmerz  darüber  stirbt.  Pridamant,  der  nicht  weiß,  daß  es  sich  hier  nur 
um  ein  Schauspiel  handelt,  ist  vor  Schmerz  außer  sich,  wird  aber  durch 
Alcandres  Kunst  schnell  beruhigt;  denn  auf  dessen  Wink  erhebt  sich  ein 
Vorhang,  und  die  Totgeglaubten  treten  mit  anderen  Schauspielern  auf 
die  Bühne,  ihre  Kasseneinnahme  zu  theilen.  Jetzt  erst  begreift  Pridamant 
die  Stellung  seines  Sohns  und  erklärt  sich  mit  derselben  zufrieden,  nach- 
dem ihm  der  Zauberer  in  warmen  Worten  die  Achtung  geschildert  hat, 
in  der  das  Theater  allenthalben  steht.-) 


1)  II,  2,   115: 

Lorsque  j'ai  ma  beaute  je  n'ai  poiut  ma  valeur. 

2)  Siehe  Teil  I,  Seite  227. 


358 


Die  Biographea  und  Erklärer  Corneilles  haben  diesem  Lustspiel  eine 
besondere  Aufmerksamkeit  geschenkt.  In  der  That  erwies  Corneille  schon 
hier  seinen  Beruf  für  die  Tragödie,  indem  er,  ohne  es  zu  wollen,  dem 
Capitan  öfters  eine  Sprache  in  den  Mund  legte,  welche  jeden  komischen 
Anstrich  verlor  und  so  volltönend  war,  daß  er  sie  ebensogut  einem  seiner 
späteren  Helden  hätte  geben  können.  Einige  Beispiele  seien  hier  an- 
geführt. Matamore  luft  II,  2,  13: 

„Le  seul  bruit  de  mon  nom  renverse  les  murailles, 
Defalt  les  eseadrons,  et  gagne  les  batailles". 

Die  Verse  sind  so  heroischen  Ciiarakters,  daß  Boileau  sich  nicht 
scheute,  sie  zum  Lob  des  Prinzen  Conde  zu  verwerten.  In  Boileaus 
Epltre  IV  („Au  roi"),  Vers  133,  heißt  es: 

Conde,  dont  le  seul  nom  fait  tomber  les  murailles, 
Force  les  eseadrons  et  gagne  les  batailles. 

Im  dritten  Akt  (Sc.  4,  Vers  1  ff.)  legt  Corneille  dem  Capitan 
folgende  Verse  in  den  Mund: 

Respect  de  ma  maitresse,  incommode  vertu, 
Tyran  de  ma  vaillance,  ä  quoi  me  reduis-tu? 
Que  n'ai-je  eu  cent  rivaux  en  la  place  d'un  pere, 
Sur  qui,  sans  t'offenser,  laisser  choir  ma  colere! 

Und  Marty-Laveaux  bemerkt  mit  Recht  in  seiner  Ausgabe  (IL 
Seite  424),  daß  diese  Stelle  den  Cid  nicht  verunzieren  würde.  Eine  weitere 
Anregung  hat  Boileau  im  fünften  Akt  (Sc.  5,  v.  1)  gefanden.  Dort 
heißt  es: 

Ainsi  de  notre  espoir  la  fortune  se  joue, 
Tout  s'eleve  ou  s'abaisse  au  branle  de  sa  roue. 

was  sich  bei  Boileau,  Epitre  Y,  Vers  133  folgendermaßen  gestaltet: 

Qu'ä  son  gre  desormais  la  fortune  me  joue 
On  me  verra  dormir  au  branle  de  sa  roue.  ^) 

Doch  auch  außerdem  scheint  uns  das  Lustspiel,  mit  dem  Corneille 
die  Thätigkeit  seiner  ersten  Epoche  abschloß,  bemerkenswert  durch  den 
Humor,  der  sich  allerdings  neben  vielfachen  Längen  darin  geltend  macht, 
und  mehr  noch  durch  die  feine  Zeichnung  Isabellas.  Wir  haben  hier  eine 
für  die  damalige  Zeit  sehr  gelungene  Charakterschilderung.  In  Isabella 
verbindet  sich  heitere  Laune  und  Anmut  mit  warmem  Gefühl.  Neckisch 
und  gewandt  weist  sie  Adraste,  den  unwillkommenen  Bewerber,  zurück  : 

Die  Diuge  tragen  oft  verschied'ne  Namen : 
Mir  gilt  als  Dornen,  was  ihr  Rosen  nennt; 
Was  ihr  als  Huldigung  und  Liebe  preist, 
Erscheint  mir  als  Verfolgung  und  als  Qual.-) 


1)  Der  erste  Vers  ist  wörtlich  ßotrous  „Doristee-'  (IßSi),  I,  2,  v.  106  ent- 
nommen. Cleagenor  klagt  dort: 

Ainsi  de  notre  espoir  la  fortuue  se  joue. 
Ainsi  les  plus  heureux  ont  un  freie  destin, 
Et  tel  n'est  pas  le  soir  ce  qu'il  fut  le  matin. 

2)  II,  3,  19  : 


359 


Innig  aber  wird  sie,  wenn  sie  von  ihrer  Liebe  zu  Clindor  spricht 

Das  ganze  Glück  der  Erde  liegt  in  ihr 
Und  sie  allein  macht  mir  das  Leben  teuer. 


Für  Dich  mißhandelt  werden  ist  ein  Trost, 
Und  jede  Qual  gilt  mir  gleich  einer  Gunst, 
Wenn  ich  für  Dich  sie  leide.i) 

Ihr  warmes  Herz  offenbart  sich ,  wenn  sie  die  Thür  des  Kerkers 
öffnet,  um  den  Geliebten  zu  befreien,  und  ihre  Sprache  wird  in  diesem 
Moment  besonders  einfach  und  natürlich.  „Lyse,  wir  werden  ihn  sehen!" 
sagt  sie  mit  erstickter  Stimme,  und  ihre  Begleiterin  sucht  sie  zu  beruhigen, 
indem  sie  warnend  sagt:   „Wie  seid  Ihr  außer  Euch!'-) 

Die  „Illusion"  schließt  die  erste  Epoche  in  Corneilles  Dichterleben 
ab.  Mit  ihr  endet  seine  Lehrzeit.  Obwol  in  ihren  poetischen  Ergebnissen 
nicht  gerade  reich,  ist  diese  Zeit  doch  von  hohem  Interesse  für  jeden, 
der  die  Entwicklung  Corneilles  verfolgen  will.  Sein  Talent  entfaltete  sich 
im  ganzen  langsam ;  sein  Erstlingswerk  stellte  ihn  nicht,  gleich  anderen 
Dichtern,  alsbald  in  die  Reihe  der  bahnbrechenden  Männer!  Er  warf  nicht 
wie  der  jugendliche  Schiller  seinen  erschreckten  Zeitgenossen  ein  Werk 
flammender  Leidenschaft  entgegen.  Dazu  war  sein  Geist  zu  fest  in  sich 
gegründet,  und  er  hatte  zunächst  auch  die  Schwierigkeiten  zu  überwinden, 
welche  ihm  die  Sprache  sowol,  wie  die  noch  ungefüge  Kunst  der 
Scene  boten. 

Gewiß,  die  Jugendwerke  Corneilles  gehören  nicht  zu  den  Dichtungen, 
welche  ewiges  Leben  haben.  Erst  mit  dem  „Cid"  betrat  er  die  Bahn, 
die  ihn  zur  Höhe  führen  sollte.  Allein  so  groß  auch  der  Unterschied  sein 
mag,  der  zwischen  seinen  früheren  Lustspielen  und  den  Dramen  seiner 
reifen  Jahre  besteht,  man  erkennt  doch  auch  in  den  ersteren  bereits 
viele  Grundzüge  des  poetischen  Charakters,  wie  er  sich  in  der  Folge  ent- 
wickelte. Von  Anfang  an  zeigte  Corneille  den  festen,  verständigen,  seines 
Ziels  klar  bewußten  Sinn,  und  nicht  minder  bewahrte  er  Adel  und  Rein- 
heit des  Geistes.  In  seinen  Stücken  atmet  man  reine  Luft,  und  man  kann 
sagen,  daß  Corneilles  Muse  immer  keusch  geblieben  ist. 


Nous  donnons  bien  souvent  de  divers  noms  aux  choses: 
Des  epines  pour  moi,  vous  les  nommez  des  roses; 
Ce  que  vous  appelez  service,  affection, 
Je  Tappelle  supplice  et  persecutiou. 

1)  III,  8,  13: 

Un  bien  qui  vaut  pour  moi  ia  terre  tout  entiere, 
Et  pour  qui  seul  enfln  j'aime  ä  voir  la  lumiere. 

Mais  pour  vous  je  me  plais  ä  me  voir  maltraitee. 
U  n'est  point  de  tourment  qui  ne  me  semble  doux, 
Si  ma  fidelite  les  endure  pour  vous. 

2)  IV,  9,  1:  Isabelle: 

Lyse,  nous  l'allons  voir 
Lyse: 

Que  vous  etes  ravie! 


360 


So  entwickelt  sich  der  Genius  des  Dichters  lang-sam,  aber  sicher. 
Sein  Geist  reift  und  kräftigt  sich^  seine  Menschenkenntnis  wächst,  die 
Geheimnisse  der  Sprache  werden  ihm  vertraut.  In  dem  fortwährenden 
Eingen  mit  seiner  Aufgabe,  dem  Bestreben,  das  Drama  weiterzuführen, 
findet  er  endlich  den  rechten  Stoff,  im  rechten  Augenblick.  Da  verkörpert 
er,  von  einer  alten  Heldensage  begeistert,  in  dem  „Cid"  das  Ideal  seiner 
Zeit,  und  reißt  durch  die  Poesie,  den  Schwung  und  die  jugendliche  An- 
mut, womit  er  seinen  Eodrigo  und  dessen  heroische  Geliebte  verklärt, 
sein  ganzes  Volk  zum  lautesten  Enthusiasmus  hin.  Er  begründet  damit 
die  französische  Tragödie ,  wie  er  einige  Jahre  später ,  zur  Komödie 
zurückkehrend ,  durch  seinen  „Menteur"  auch  das  wahrhafte  Lustspiel 
kennen  lehrt. 


V. 

Der  Cid. 

Gering  nur  ist  die  Zabl  der  Dichtwerke,  die  sich  einer  ewigen 
Jugend  erfreuen.  Umso  teuerer  sind  sie  dem  Volk,  dem  sie  angehören 
und  das  gern  die  kleinen  Schwächen  übersieht,  welche  der  Kritiker  viel- 
leicht an  ihnen  entdeckt.  Ja,  oft  geben  diese  Schwächen  einem  solchen 
Werk  erst  das  charakteristische  Gepräge;  sie  spiegeln  den  Geist  der 
Zeit,  in  der  die  Dichtung  entstanden  ist,  deutlich  ab  und  sichern  ihr 
dadurch  den  Eindruck  der  Wahrheit  und  des  Lebens.  Anschauungen 
einer  früheren  Zeit,  die  uns  heute  fremd  sind,  werden  uns  begreiflich, 
wenn  sie  von  solchen  Werken  geti'agen  werden. 

So  enthüllte  der  Genius  des  Dichters  im  „Werther",  was  die  Brust 
von  Tausenden  und  aber  Tausenden,  ihnen  selbst  unbewußt,  bewegte, 
und  die  „Eäuber"  des  unerfahrenen  Jünglings  von  der  Karlsschule  wirken 
heute  noch  zündend  auf  jugendliche  Herzen,  mag  man  den  Schwulst  und 
die  Übertreibung  dieser  Dichtung  im  einzelnen  noch  so  sehr  tadeln. 

Durch  Werke  dieser  Art  geht  eben  ein  Hauch  von  Begeisterung 
und  Idealität,  der  allen  Widerstand  überwindet.  Das  stürmische  Blut  der 
Jugend  pulsiert  in  ihnen;  sie  wenden  sich  an  die  edlere  Natur  des 
Volkes  und  führen  es  in  eine  Welt  der  Gefühle  und  Anschauungen, 
welche  bei  aller  Verschiedenheit  der  Äußerung  im  Grunde  doch  immer 
dieselbe  bleibt. 

Daß  aber  eine  Dichtung  dieses  Charakters  Erfolg  habe,  muß  sie 
zur  richtigen  Zeit  kommen.  „Werther"  würde  heutzutage  zwar  auch  ge- 
schätzt werden,  den  Triumphzug  um  die  Welt  aber  würde  er  nicht  mehr 
machen.  Sollen  solche  Werke  ewigen  Rahm  erwerben,  so  müssen  sie  als 
die  Boten  einer  neuen,  aufstrebenden  Zeit  erscheinen;  sie  müssen  sozu- 
sagen nicht  das  Werk  eines  einzelnen  sein,  die  ganze  Nation  muß  an 
ihnen  mitgeschaffen  haben.  Nur  wenn  sie  das  Denken  und  Fühlen  einer 
ganzen  Epoche  in  hervorragender  Form  zum  Ausdruck  bringen,  wenn  sie 
wie  die  Stimme  des  Volkes  selbst  sind,  dann  nur  werden  sie  im  Bewußt- 
sein der  Nation  auch  für  alle  späteren  Zeiten  leben. 

Ein  solches  Werk  ist  der  „Cid",  die  bekannteste  und  populärste 
Dichtung  Corneilles,  welche  im  Jahr  1G36  wenige  Monate  nach  seiner 
„Illusion"  zur  Aufführung  kam.  Manche  spätere  Tragödie  des  Dichters, 
wie  sein  „Horace"  oder  „Cinna",  mag  in  gewisser  Hinsicht  vollendeter 
sein,  keine  birgt  in  sich  einen  solchen  Zauber  wie  der  „Cid",  der  das 
Heldenideal  des  17.  Jahrhunderts  zum  lebendigsten  Ausdruck  brachte. 


362 


Die  Thätigkeit  für  die  Bühne  war  in  den  Jahren,  die  uns  jetzt 
beschäftigen,  bereits  sehr  groß  und  die  Zahl  der  dramatischen  Dichter 
beträchtlich.  Im  Jahr  1636  wurde  dem  Publikum  eine  Reihe  neuer  Stücke 
der  angesehensten  damaligen  Dramatiker  geboten.  Neben  der  „Illusion" 
von  Corneille  finden  wir  Lustspiele  und  Tragödien  von  ßenserade,  Des- 
marets,  Marechal,  ßotrou,  Scuderj'  und  Tristan.  Rotrou  allein  erschien 
mit  vier  dramatischen  Werken,  unter  welchen  sich  die  „zwei  Sosier" 
(Les  deux  Sosie)  besonderen  Beifalls  erfreuten;  Scudery  trat  mit  seinem 
ersten  Trauerspiel  „Der  Tod  Cäsars"  nebst  zwei  anderen  Stücken  her- 
vor, und  besonders  erwarb  sich  Tristans  „Mariamne"  ungeteilten  Beifall. 
Zu  der  großen  Liste  neuer  dramatischer  Dichtungen  fügte  nun  auch 
Corneille  seinen  „Cid".  Wir  wissen,  daß  er  bereits  in  seinen  früheren 
Werken  Reformen  versucht,  aber  trotz  aller  Mühe  nur  geringe  Fort- 
schritte erzielt  hatte.  Aaf  die  rechte  Bahn  soll  ihn  erst  ein  älterer  Freund 
gewiesen  haben,  de  Chalon,  der  früher  als  Sekretär  im  Dienst  der  Königin 
Anna  von  Österreich  gestanden  und  sich  seit  einiger  Zeit  nach  Ronen 
zurückgezogen  hatte.  In  der  Umgebung  der  Königin  l)escliäftigte  man 
sich  vielfach  mit  der  spanischen  Litteratur.  die  gerade  damals  ihre  klas- 
sische Höhe  erreicht  hatte.  So  soll  denn  Chalon  die  Aufmerksamkeit  des 
Dichters  auf  die  spanische  Bühne  gelenkt  haben.  Ob  dies  wirklich  nötig 
war,  ist  jedoch  fraglich.  Das  spanische  Drama  mußte  damals  jedem,  der 
sich  mit  dem  Theater  beschäftigte,  bekannt  sein,  sowie  die  dramatischen 
Dichter  unserer  Zeit  das  französische  Theater  nicht  übersehen  dürfen, 
selbst  wenn  sie  entgegengesetzte  Wege  wandeln.  Hardy,  Rotrou,  Scu- 
dery und  viele  andere  hatten  bereits  spanische  Stücke  bearbeitet.  Warum 
soll  Corneille  allein  auf  diese  anregenden  Vorbilder  nicht  aufmerksam 
gewesen  sein?  Die  „Illusion"  giebt  ja  den  Beweis,  daß  dem  so  war. 
Aber  man  erzählt  weiter.  Chalon  habe  den  jungen  Dichter  überhaupt  er- 
mutigt, sich  dem  höheren  Schauspiel  zu  widmen,  und  ihn  geradezu  auf 
den  spanischen  Dramatiker  Guillen  de  Castro  verwiesen.  Diese  Nachricht 
klingt  wahrscheinlicher.  Jedenfalls  fand  Corneille  in  einem  Schauspiel 
des  genannten  Dichters  den  Stoff  zu  seinem  neuen  Drama;  noch  mehr, 
er  fand  dort  auch,  was  er  so  lange  gesucht  hatte:  die  neue  Weise  der 
dramatischen  Dichtung.  Guillen  de  Castro  war  zu  Valencia  im  Jahr  1569 
geboren  und  im  Jahr  1631  nach  bewegtem  Leben  in  großer  Armut  zu 
Madrid  gestorben.  Er  war  also  ein  Zeitgenosse  Lope  de  Vegas  und  ein 
Vorläufer  Calderons.  Dem  Theater  hatte  er  sich  erst  in  späterer  Zeit 
gewidmet,  mit  seinen  Schauspielen  aber  großen  Ruhm  geerntet.  „Er  wäre 
noch  berühmter  geworden",  sagt  ein  naiver  Biograph  Castros  aus  dem 
vorigen  Jahrhundert,  „wenn  er  das  Duell  und  das  eheliche  Unglück 
weniger  oft  behandelt  hätte."')  Unter  seinen  dramatischen  Werken  ist 
das  Schauspiel   „Las   mocedades  del  Cid"   (die  Jugendthaten  des  Cid)  am 


^)  Siehe  Vincente  Ximeno,  Escritorfs  del  reyno  de  Valencia  1747  (2  Bde., 
1.  Bd.  S.  305)  und  E.  Justo  Pastor  Fuster,  Biblioteca  Valeneiana  (2  Bde.  Va- 
lencia 1827;  eine  Bearbeitung  des  erstgenannten  Werks;  I,  S.  235).  Ximeno 
spricht  von  dem  unruhigen  Geist  des  Dichters  und  seinem  unlenksamen  Sinn, 
der  ihn  die  Gunst  seiner  mächtigen  Beschützer  habe  verscherzen  lassen. 


363 

bekanntesten.  Er  behandelt  darin  das  erste  ruhmreiche  Auftreten  des  be- 
kannten spanischen  Nationalhelden,  sein  Eintreten  für  den  beleidigten 
Vater  und  sein  Verhältnis  zu  Ximena,  der  Tochter  des  von  ihm  erschla- 
genen Gegners.  Das  spanische  Theater  war,  gleich  der  englischen  Bühne, 
frei  in  seinen  Bewegungen  und  konnte  eine  Welt  voll  Leben  in  glän- 
zenden Bildern  zur  Entfaltung  bringen.  Guillen  de  Castros  Cid  erinnert 
in  seiner  Anlage,  dem  raschen  Gang  und  dem  Wechsel  der  Scenen  an 
die  historischen  Schauspiele  Shakespeares.  Aus  dem  rauhen,  bluttriefenden, 
abenteuernden  Kriegsmann,  wie  er  noch  in  der  alten  Chronik  erscheint, 
war  der  Cid  allmählich  zu  einem  Muster  echter  Kitterlichkeit  umgewan- 
delt worden.  Das  schloß  eine  gewisse  Eauheit  und  die  Freude  am  Blut 
nicht  aus.  In  dem  ganzen  Stück  pulsiert  dramatisches  Leben,  und  wenn 
sich  auch  hier  und  da  kindlich  plumpe  Züge  finden,  welche  dem  heu- 
tigen Geschmack  unbegreiflich  dünken,  so  sind  doch  viele  Scenen  wahr- 
haft groß  und  ergreifend. 

Castros  Stück  ist  so  wichtig  für  uns,  daß  wir  es  genauer  be- 
trachten müssen.  Es  ist  nicht  in  Akte,  sondern  in  drei  „Tage"  ein- 
geteilt und  umfaßt  den  Zeitraum  von  drei  Jahren.  Der  erste  „Tag"  führt 
uns  zunächst  in  den  Palast  des  Königs  Don  Fernando.  In  Gegenwart 
des  ganzen  Hofes  schlägt  der  König  den  jugendlichen  Don  Rodrigo  zum 
Ritter  und  überhäuft  ihn  mit  Ehrenbeweisen  aller  Art,  worüber  unter 
den  anwesenden  Großen  manch  neidisches  Wort  fällt.  Die  Damen  da- 
gegen haben  nur  Blicke  der  Bewunderung  für  den  schönen  Jüngling. 
Die  Prinzessin  Doüa  ürraca  schnallt  ihm  selbst  die  Sporen  an  und  ver- 
rät, gleich  ihrer  Freundin  Ximena,  durch  einzelne  Äußerungen  die  Nei- 
gung, die  sie  zu  ihm  beseelt.  Nach  dem  Ende  des  feierlichen  Vorgangs 
entläßt  der  König  seinen  Hof  und  behält  nur  seine  vertrauten  Räte  zu- 
rück. Er  will  seinem  Sohn,  dem  Infanten  Don  Sancho,  einen  Gouverneur 
zur  Seite  stellen,  und  teilt  den  Versammelten  mit,  daß  er  nach  reiflicher 
Überlegung  den  greisen  Don  Diego,  Rodrigos  Vater,  mit  diesem  Ehren- 
amt bekleide.  Darüber  erhebt  der  tapfere  Graf  Gormaz,  der  den  Bei- 
namen Lozano,  der  Stolze,  trägt,  bittere  Klage.  Er  macht  Anspruch  auf 
diese  W^ürde,  und  es  kommt  in  Gegenwart  des  Monarchen  zu  einem  hef- 
tigen Wortwechsel  zwischen  ihm  und  Don  Diego.  Vergebens  sucht  der 
König  den  Streit  der  beiden  Granden  zu  schlichten.  Der  Graf  läßt  sich 
schließlich  in  seinem  Zorn  so  weit  hinreißen,  daß  er  seinem  Rivalen  ins 
Gesicht  schlägt.  Die  sehr  dramatische  Scene  war  gewiß  von  mächtiger 
Wirkung.  Don  Diego,  den  dieser  Schlag  entehrt,  hebt  den  Stock,  auf 
den  er  sich  stützt,  zur  Abwehr  und  zum  Kampf;  aber  ohrunächtig  sinkt 
sein  Arm  und  in  höchster  Aufregung  zerbricht  er  den  Stab,  der  ihn 
nicht  geschützt.  Er  verläßt  das  Schloß,  da  ein  entehrter  Mann  nicht 
länger  in  der  Nähe  des  Königs  weilen  darf.  Auch  der  Graf  stürmt  fort, 
und  dem  König,  dessen  Autorität  hier  nicht  sehr  groß  erscheint,  bleibt 
nichts  übrig,  als  allen  Anwesenden  Schweigen  über  den  Vorfall  aufzu- 
erlegen, damit  er  umso  leichter  vermitteln  könne.  In  der  folgenden  Scene 
sieht  man  Rodrigo  in  seines  Vaters  Haus  mit  seinen  zwei  jüngeren  Brü- 
dern, welche  ihm  helfen,  sich  der  Rüstung  zu  entledigen.  Ihr  Gespräch 


364 


wird  durch  die  Ankunft  Don  Diegos  unterbrochen,  der  verstört  nach 
Haus  kommt,  seine  Söhne  mit  barschem  Ton  wegschickt  und  nach  ver- 
zweifeltem Monolog  sein  altes  Schlaehtschwert  von  der  Wand  herablangt. 
Er  will  versuchen,  ob  er  es  noch  einmal  zum  Kampf  schwingen  kann, 
aber  sein  Arm,  der  sich  zu  schwach  erwiesen  hatte,  einen  Stock  zu  heben, 
vermag  noch  weniger  das  Schwert  zu  führen.  So  müssen  ihn  denn  seine 
Söhne  rächen,  und  um  ihren  Mut  zu  erproben,  ruft  er  zunächst  die 
beiden  jüngsten  Söhne,  Hernan  Diaz  und  Bermndo  Layn.  Er  faßt  sie 
an  den  Händen  und  drückt  sie  so  heftig,  daß  sie  erschrocken  auf  die 
Kniee  fallen  und  weinend  um  Gnade  flehen.  Die  Knaben  haben  nach 
Diegos  Urteil  zu  matten  Geist,  um  ihn  zu  rächen;  und  er  ruft  nun 
seinen  liebsten  Sohn,  Rodrigo.  In  den  Romanzen  erscheint  dieser  als  der 
jüngste;  der  Dramatiker  aber  mußte  hier  von  der  Tradition  abweichen, 
und  um  den  widrigen  Eindruck  der  Feigheit  zu  vermeiden,  die  Brüder 
als  Knaben  hinstellen.  Rodrigo  ist  schon  beleidigt,  daß  er,  der  älteste, 
zuletzt  gerufen  wird.  Auch  empört  er  sich  gegen  die  Behandlung,  die 
ihm  der  Vater  zu  teil  werden  läßt.  Diego  ergreift  seine  Hand  und  beißt 
ihn  in  den  Finger:  ..Wärt  Ihr  nicht  mein  Vater,  gab'  ich  Euch  einen 
Backenstreich",  ruft  Rodrigo  außer  sich.  „Es  wäre  nicht  der  erste",  ent- 
gegnet finster  Don  Diego  und  berichtet  nun  seinem  Sohn  in  fliegenden 
Worten,  was  ihm  widerfahren.  Er  heischt  Rache  von  ihm,  obwol  der 
Beleidiger  der  Graf  Gormaz  ist,  dessen  Tapferkeit  bis  jetzt  niemand  zu 
widerstehen  vermochte. 

Allein  gelassen,  bricht  Rodrigo  in  schmerzliche  Klagen  aus.  Jetzt 
erst  hören  wir  von  der  Liebe  des  Jünglings  zu  Dona  Ximena.  Die  Väter 
wissen  in  dem  spanischen  Drama  nichts  von  der  Neigung  der  Kinder. 
Rodrigos  Gefühl  empört  sich  bei  dem  Gedanken,  daß  er  den  Vater  der 
Geliebten  bekämpfen,  ihn  vielleicht  töten  solle.  Aber  so  groß  auch  sein 
Schmerz  ist,  er  zaudert  nur  wenige  Augenblicke;  die  Erinnerung  an  die 
Schmach,  die  sein  Vater  erlitten,  heißt  ihn  jede  andere  Rücksicht  ver- 
gessen. Die  Ehre  rein  zu  erhalten,  ist  die  höchste  Pflicht,  und  der  kasti- 
lische  Ritter  wäre  durch  einen  Schlag  ins  Gesicht  für  immer  entehrt, 
er  und  seine  ganze  Familie,  wenn  er  die  Beschimpfung  nicht  im  Blut 
des  Feindes  abwüsche.  Rodrigo  kennt  dies  strenge  Gebot  der  Ehre  und 
beschließt,  danach  zu  handeln.  Im  dritten  Bild  sehen  wir  einen  großen 
Platz  vor  dem  königlichen  Schloß,  und  nach  den  vorausgegangenen  dra- 
matisch belebten  Scenen  läßt  der  Dichter  in  meisterhafter  Steigerung  des 
Interesses  einen  der  bewegtesten  und  spannendsten  Auftritte  folgen,  die 
das  Theater  überhaupt  kennt.  An  einem  Fenster  des  Palasts  zeigen  sich 
Dona  Urraca  und  Ximena.  deren  Gedanken  bei  Rodrigo  weilen.  Don  Gor- 
maz und  Don  Peranzulez,  sein  Verwandter,  kommen  in  ernstem  Zwie- 
gespräch über  den  Platz.  Der  letztere  sucht  den  stolzen  Grafen  im  Auf- 
trag des  Königs  zu  einer  Ehrenerklärung  für  Don  Diego  zu  bewegen, 
allein  Don  Gormaz  weigert  sich  dessen .  da  solche  Sühnversuche  dem 
Beleidigten  die  Ehre  nicht  wiedergeben,  wol  aber  auch  noch  den  Belei- 
diger entehren.  Unter  solchem  Gespräch  gehen  die  beiden  Männer  vor- 
über;   ihr  Gesichtsausdruck,  der  Eifer  ihrer  Rede  erfüllt  die  Frauen  am 


365 

Fenster  mit  Unruhe.  Sie  ahnen  eine  unglückliche  Verwicklung,  und  dieser 
Eindruck  wird  noch  erhöht,  als  sie  gleich  darauf  Eodrigo  in  heftiger 
Aufregung  erscheinen  sehen.  Sie  rufen  ihn  an ,  aber  er  vermag  ihnen 
anfangs  nicht  zu  antworten,  so  groß  ist  der  Sturm  der  Gedanken,  die 
sich  in  ihm  bekämpfen.  Endlich  rafft  er  sich  zusammen  und  antwortet, 
wenn  auch  zerstreut,  mit  oinigeu  Worten  der  Galanterie.  Bald  sieht  er 
Don  Gormaz  und  Peranzulez  zurückkommen,  während  gleichzeitig  der 
greise  Diego  vor  die  Thüre  seiner  neben  dem  Palast  gelegenen  Wohnung 
tritt,  um  seinen  Sohn  zu  entschiedener  That  anzufeuern.  Es  ist  ein  Mo- 
ment größter  Spannung.  Unter  den  Augen  des  racheflehenden  Vaters  und 
der  entsetzten  Geliebten  tritt  Rodrigo  nun  dem  Grafen  entgegen.  Er  hält 
ihn  an  und  fragt  ihn  mit  gedämpfter  Stimme,  auf  den  Vater  deutend, 
ob  er  den  Greis  dort  kenne?  Auf  die  hochmütige  Antwort  des  Grafen 
folgt  die  kühne  Herausforderung  des  Jünglings  und  der  Zweikampf.  Wäh- 
rend Don  Diego  einerseits  durch  seine  Gegenwart  und  seine  Zurufe  den 
Sohn  anfeuert,  Gormaz  ihn  dagegen  mit  Fußtritten  bedroht,  eilt  Ximena 
in  Verzweiflung  herbei,  um  die  beiden  Streitenden  zu  trennen.  Doch  ver- 
gebens; Kodrigos  Andringen  kann  der  Graf  nicht  widerstehen,  es  kommt 
zum  Kampf  und  Don  Gormaz  fällt.  Ximena  stürzt  sich  auf  ihres  Vaters 
Leiche;  das  Gefolge  des  Grafen,  das  unterdessen  zu  Hilfe  gekommen  ist, 
dringt  wutentbrannt  auf  Don  Rodrigo  ein,  und  der  junge  Held  wäre  ver- 
loren, wenn  nicht  Dona  Urraca  dem  Kampf  Einhalt  geböte.  Es  mag 
kaum  ein  Drama  geben,  das  in  seiner  Exposition  klarer  und  in  seinem 
Gang  dramatischer  wäre  als  dieser  erste  „Tag"  des  spanischen  Stücks. 
Der  zweite  „Tag",  dem  Corneille  einen  großen  Teil  seines  zweiten  und 
dritten  Akts  entnahm,  der  aber  mannigfaltiger  und  bewegter  ist  als  die 
französische  Bearbeitung,  zerfällt  wieder  in  mehrere  Bilder.  In  der  ersten 
Scene  erhält  der  König  die  Kunde  von  dem  Tod  des  Don  Gormaz,  und 
gleich  darauf  erscheint  von  der  einen  Seite  Dona  Ximena  mit  einem  ins 
Blut  des  Vaters  getauchten  Taschentuch,  um  von  dem  König  die  Bestra- 
fung des  Mörders  zu  erflehen,  während  von  der  andern  Seite  Don  Diego 
sich  naht,  seinen  Sohn  zu  verteidigen.  Don  Diego  hat  seine  Wange  mit 
dem  Blut  des  Gefallenen  gerieben  und  damit  den  Schimpf  gelöscht;  er 
kann  nun  zufrieden  sterben  und  will  gern  sein  Leben  lassen,  wenn  ein 
Opfer  fallen  soll.  Der  König  behält  sich  seine  Entschließung  vor  und 
verfügt  einstweilen  die  Haft  Don  Diegos,  der  jedoch  in  seinem  Zögling, 
dem  Prinzen  Don  Sancho,  einen  Fürsprecher  und  Freund  findet.  Don 
Rodrigo  hält  sich  verborgen,  doch  nicht  aus  Furcht.  Denn  An  der  näch- 
sten Scene  bietet  er  sich  Ximenen,  die  nach  Haus  gekehrt  ist,  selbst 
als  Opfer  dar.  Ein  Wettstreit  zwischen  den  Liebenden,  die,  um  dem 
Gebot  der  Ehre  zu  genügen,  nun  als  Feinde  einander  gegenüberstehen, 
zeigt  die  edle  Gesinnung  der  beiden.  Rodrigo  will  von  ihrer  Hand  sterben, 
sie  aber  liebt  ihn  noch,  wenn  sie  auch  ihrer  Pflicht  genügen  und  mit 
allen  Mitteln  vom  König  die  Rache  für  den  Tod  ihres  Vaters  verlangen 
will.  So  heißt  sie  ihn  gehen,  besorgt,  daß  man  ihn  in  ihrem  Haus  sehe, 
und  ihr  Ruf  darunter  leide.  Darauf  folgt  eine  Reihe  lebendiger  Scenen, 
in  welchen    der   spanische   Dichter    sich    von   dem  Gang    der  Geschichte 


366 


des  Cid  leiten  ließ,  die  aber  Corneille  nicht  benutzen  konnte.  In  einem 
wilden  Thal  trifft  Diego  seinen  Sohn.  Er  dankt  ihm  noch  einmal  in  be- 
wegten Worten  für  die  Rettung  seiner  Ehre.  Der  Alte  muß  nun  wissen, 
welches  Opfer  ihm  sein  Sohn  gebracht  hat.  aber  er  berührt  diese  Wunde 
mit  keinem  Wort,  und  zeigt  hier  mehr  Takt  als  Corneilles  Diego,  der 
seinen  Sohn  über  den  Verlust  der  Geliebten  mit  dem  Hinweis  auf  an- 
dere Frauen  zu  trösten  sucht.  Don  Diego  hat  erfahren,  daß  die  Mauren 
in  das  Land  eingebrochen  sind,  und  er  führt  seinem  Soha  500  Eeisige 
zu,  an  deren  Spitze  er  zum  Kampf  ausziehen  soll. 

Eine  neue  Verwandlung  zeigt  das  Schloß,  auf  das  sich  Dona  ür- 
raca  mit  ihrer  Mutter  zurückgezogen  hat.  Schwermütig  sitzt  sie  auf  dem 
Balkon  und  gedenkt  Eodrigos.  als  dieser  plötzlich  mit  seinen  Kriegs- 
gefährten erscheint.  Er  trägt  auf  seinem  Helm  einen  gelben  Federbusch 
als  Zeichen  seiner  Trauer,  und  in  dem  Zwiegespräch,  das  nun  folgt, 
zeigt  sich  die  geheime  Liebe  der  Lifantin  wie  die  zartfühlende  Zurück- 
haltung des  Ritters.  Dann  folgt  eine  Schlachtscene,  in  der  die  Mauren 
vor  Eodrigos  Kraft  erliegen,  und  die  letzte  Scene  führt  uns  wieder  an 
den  Hof  des  Königs  nach  Burgos.  Ein  Jahr  ist  seit  dem  Tod  des  Grafen 
Gormaz  verstrichen;  Eodrigo  kehrt  siegreich  aus  dem  Feldzug  heim. 
Noch  hat  er  die  blutige  That,  wegen  der  ihn  Ximena  verfolgte,  nicht 
gebüßt.  Es  ist  schwer  für  den  König,  den  siegreichen  Helden  zu  strafen. 
Doch  Ximena  erscheint  in  Trauergewand  vor  ihm  uud  erinnert  ihn  an 
sein  Versprechen.  Aus  ihren  Worten  klingt  zwar  ihre  Neigung  zu  Ro- 
drigo.  aber  fest  wie  früher  besteht  sie  auf  ihrer  Rache,  und  der  schwache 
König  schickt  Rodrigo  in  die  Verbannung,  nachdem  er  ihn  zum  Zeichen 
seines  Danks  umarmt  hat. 

Zwischen  dem  zweiten  und  dritten  ..Tag"  liegt  wieder  der  Zeit- 
raum eines  ganzen  Jahrs.  Die  Infantin  ist  an  das  königliche  Hoflager 
in  Burgos  zurückgekehrt,  und  zu  Beginn  des  dritten  „Tags"  klagt  sie 
ihrem  Vertrauten,  Don  Arias,  daß  sie  die  Liebe  zu  Rodrigo  noch  nicht 
aus  ihrem  Herzen  habe  bannen  können;  aber  sie  erklärt  auch,  daß  sie 
im  Interesse  ihrer  Freundin  Ximena  jede  Hoffnung  aufgegeben  habe.  Im 
Verlauf  des  Stücks  verkündigt  der  König,  daß  er  Rodrigo  wieder  an 
seinen  Hof  zurückrufe.  Zum  drittenmal  erscheint  Ximena  und  fordert 
Rache.  Der  König,  von  der  geheimen  Neigung  Ximenens  unterrichtet, 
gestattet,  daß  ein  Bote  die  falsche  Nachricht  von  Rodrigns  Tod  bringt. 
Es  geschieht,  was  er  erwartet ;  erschüttert  von  der  Schreckensnachricht, 
verrät  Ximena  ihre  Liebe.  Als  sie  jedoch  hört,  daß  man  sie  getäuscht 
hat.  flammt  ihr  Zorn  umso  heftiger  auf.  und  von  der  Leidenschaft  des 
Augenblicks  hingerissen,  erklärt  sie  sich  bereit,  mit  ihrer  Hand  den 
Ritter  zu  belohnen,  dem  es  gelinge.  Rodrigo  im  Einzelkampf  zu  töten. 
Dieser  selbst  weilt  unterdessen  fern  auf  einer  Wallfahrt  in  Galicien.  In 
einer  Scene  mystischen  Charakters  enthüllt  er  eine  neue  Seite  seines 
Wesens.  Er  trifft  auf  seinem  Zug  einen  Aussätzigen  an,  aber  während 
sich  seine  Begleiter  voll  Abscheu  von  dem  Elenden  abwenden,  pflegt  ihn 
Rodrigo  mit  eigener  Hand  und  teilt  mit  ihm  sein  Lager  und  sein  Mahl. 
Im  Schlaf  aber  verwandelt  sich  der  Kranke :    Rodrigo    hat  keinen  Men- 


367 

sehen  gepflegt,  sondern  St.  Lazarus,  der  ihm  nun  in  verklärter  Gestalt 
erscheint  und  ihm  seine  künftige  Größe  voraussagt.  Nach  diese  Episode, 
die  in  dem  streng  religiösen  Sinn  des  spanischen  iSTationaldramas  ihre 
Erklärung  findet,  führt  der  Dichter  wieder  in  den  königlichen  Palast 
zurück.  Schon  lange  schwebt  ein  Streit  zwischen  den  beiden  Staaten 
Kastilien  und  Aragon ,  und  ein  Krieg  erscheint  unvermeidlich.  Da  er- 
scheint ein  Abgesandter  Aragons,  der  wegen  seiner  Kraft  weithin  be- 
rühmte, unbesiegte  Don  Martin  Gonzalez,  und  schlägt  vor,  den  Streit 
durch  einen  Zweikampf  zur  Entscheidung  zu  bringen.  Er  erklärt  sich 
bereit  zum  Kampf  auf  Leben  und  Tod  mit  jedem  Eitter,  den  ihm  der 
kastilische  Adel  entgegenstellen  werde.  Aus  der  ganzen  Schar  der  kasti- 
lischen  Eitterschaft  wagt  es  indessen  keiner,  die  Herausforderung  an- 
zunehmen: schon  will  der  König  den  Vorschlag  als  unpassend  zurück- 
weisen, als  Eodrigo,  aus  Galicien  heimkehrend,  erscheint  und  alsbald  den 
Übermut  des  Feindes  zu  strafen  unternimmt.  Martin  Gonzalez  hofft  nun. 
nicht  nur  seinem  Lande  den  Sieg  zu  bringen,  sondern  auch  Ximena  für 
sich  selbst  zu  gewinnen.  Eine  trübe  Stimmung  lagert  über  dem  kastili- 
schen  Hof.  Der  König  denkt  an  sein  Testament,  und  Ximena  sucht  eine 
Stütze  bei  ihrer  Freundin  Dona  Urraca,  der  sie  ihre  Verzweiflung  ge- 
steht. Zu  stolz  jedoch,  der  Welt  ihr  Gefühl  zu  zeigen,  kleidet  sie  sich 
in  ein  Festgewand  und  versucht,  heiter  zu  erscheinen,  während  der  Zwei- 
kampf zwischen  Eodrigo  und  Gonzalez  über  ihr  Schicksal  entscheidet. 
Plötzlich  kommt  die  Nachricht,  daß  ein  Eitter  mit  dem  Kopf  Eodrigos 
nahe,  und  Ximena  läßt  nun  ihrer  verhaltenen  Leidenschaft  freien  Lauf. 
Ja,  sie  hat  Eodrigo  heiß  geliebt  und  erfleht  vom  König  jetzt  nur  die 
eine  Gnade,  er  möge  sie  retten  vor  der  verhaßten  Verbindung  mit  dem 
Fremden.  Diese  aufregende  Scene  unterbricht  Eodrigo,  der  als  Sieger 
aus  dem  Zweikampf  hervorgegangen  ist  und  dessen  Bote  durch  ein  miß- 
verstandenes Wort  die  Kunde  von  seinem  Tod  verbreitet  hat. 

Ximena  giebt  nun  jeden  längeren  Widerstand  auf  und  willigt  in 
die  Verbindung  mit  Eodrigo,  nachdem  sie  fast  drei  Jahre  lang  mit  sich 
und  der  Welt  gekämpft  hat,  um  den  Manen  ihres  Vaters  durch  blutige 
Eache  gerecht  zu  werden. 

Man  hat  einmal  behauptet,  es  gebe,  genau  betrachtet,  nur  eine 
sehr  geringe  Anzahl  tragischer  Stoffe;  es  seien  immer  dieselben  großen 
Probleme,  die  gleichen  tragischen  Konflikte,  welche  in  den  dramatischen 
Dichtungen  aller  Zeiten  und  alier  Völker  behandelt  würden.  Mag  dieses 
Wort  auch  paradox  erscheinen,  so  ist  es  doch  insofern  richtig,  als  die 
Tragödie  sich  mit  der  Darstellung  des  Menschen  befaßt  und  der  Mensch 
immer  durch  dieselben  Leidenschaften  zur  tragischen  Schuld  getrieben 
wird.  Es  sind  stets  die  gleichen  Kämpfe,  die  er  mit  sich  und  der  Welt 
zu  bestehen  hat.  Aber  diese  wenigen  Probleme  —  der  Kampf  des  Ehr- 
geizes mit  der  Pflicht,  der  Liebe  mit  der  Ehre  und  wie  sie  sonst  noch 
heißen  mögen  —  zeigen  sich  in  den  wechselnden  Erscheinungen  des 
menschlichen  Lebens,  in  dem  Wirbel  der  einander  bekämpfenden  An- 
sichten und  Gefühle  unter  so  mannigfaltiger  Form,  daß  sie  immer  neu 
erscheinen  und  daß  eine  jede  Epoche  dieselbe  in  anderer  Weise  beurteilt. 


Der  wahre  Dichter  wird  solche  Fragen  im  Geist  seines  Jahrhunderts 
und  dem  Charakter  seines  Volkes  gemäß  behandeln.  Er  wird  auf  diese 
Weise  das,  was  seine  Zeitgenossen  im  Innersten  bewegte,  in  lebendiger 
Form  zum  Ausdruck  bringen  und  es,  von  der  Dichtung  verklärt,  den 
späteren  Jahrhunderten  überliefern. 

Die  Geschichte  des  Cid  enthält  gewiß  ein  solches  Problem ;  sie 
stellt  eine  Aufgabe,  die  den  Dichter  reizen  muß.  In  Spanien  erwachsen, 
mußte  diese  Sage  dort  vor  allem  ihren  nationalen  Charakter  bewahren. 
Wie  aber,  fragen  wir  weiter,  hatte  sich  Corneille  dem  fremden  Werk 
gegenüber  zu  verhalten?  Wie  mußte  er  vorgehen,  um  aus  dem  spani- 
schen Drama  eine  Originaldichtung  zu  schaffen,  welche  dem  Sinn  und 
dem  Wesen  des  französischen  Volkes  entsprach?  Denn  daß  der  Cid  des 
Corneille  trotz  des  spanischen  Vorbilds  eine  selbständige  Arbeit  ist, 
darüber  besteht  wol  kein  Zweifel. 

Zwei  Hauptschwierigkeiten  stellten  sich  dem  französischen  Dichter 
dabei  entgegen:  der  nationale  Charakter  des  spanischen  Dramas  und  die 
Freiheit,  deren  sich  die  spanische  Bühne  erfreute.  Castros  Schauspiel 
feiert  vor  allem  den  Xationalhelden  und  dessen  vielbesungene  Thaten. 
Darum  folgte  auf  dieses  erste  Stück,  das  die  Jugend  des  Cid  behan- 
delte, ein  zweites,  welches  die  Thaten  des  zum  Mann  gereiften  Helden 
verherrlichte.  Der  spanische  Dichter  hielt  sich  an  die  Geschichte  und 
gab,  wie  Shakespeare  in  seinen  Historien,  eine  Art  dramatisierter  Chronik. 
Je  vertrauter  das  Publikum  mit  den  Begebenheiten  war,  die  man  ihm 
auf  der  Bühne  zeigte,  umso  höher  stieg  sein  Anteil  und  sein  Wohl- 
gefallen daran.  Ganz  anders  gestaltete  sich  die  Aufgabe  für  Corneille. 
Wol  blieb  der  Cid  der  spanische  Held,  aber  es  galt  doch  den  einsei- 
tigen, national-spanischen  Charakter  der  Sage  abzuschwächen  und  dafür 
das  allgemein  menschliche  Interesse,  das  sich  in  dem  Verhältnis  Ko- 
drigos  zu  Chimene  lindet,  mehr  zu  betonen.  Schon  deshalb  mußte  Cor- 
neille die  Handlung  vereinfachen.  Die  Fülle  der  Begebenheiten  mit  den 
kleinen  episodischen  Scenen,  welche  für  das  spanische  Publikum  einen 
besonderen  Reiz  hatten,  mußte  weichen  und  das  Hauptgewicht  in  dem 
neuen  Drama  auf  den  Zwiespalt  fallen,  der  sich  zwischen  den  Geboten 
der  Ehre  und  der  Liebe  ergab.  Corneille  suchte  vor  allem  den  Wider- 
streit der  Pflichten  zu  schildern  und  eine  befriedigende  Lösung  zu  finden. 
So  erhält  seine  Dichtung  einen  allgemeineren,  humaneren  Gehalt.  Wie 
Castro  die  Wildheit  der  Chronik  in  seinem  Drama  gemildert  und  den 
alten  Vorkämpfern  der  Christenheit  gegen  die  Mauren  ritterlichen  Geist 
eingehaucht  hatte,  so  wußte  Corneille  seinerseits  manche  Erinnerung  an 
das  barbarische  Mittelalter,  die  sich  noch  im  spanischen  Drama  fand,  zu 
bannen  und  seine  Dichtung  im  Sinn  der  neuen  Zeit  umzuwandeln.  Sein 
Cid  wurde  zum  Träger  der  Anschauungen  des  17.  Jahrhunderts,  und 
die  Ideale  von  Ehre  und  Liebe,  welche  sich  jene  Epoche  gebildet,  fanden 
in  ihm  den  beredtesten  und  hinreißendsten  Ausdruck.  Es  war  dies  frei- 
lich umso  leichter,  als  diese  Ideen  selbst  ihren  Weg  aus  Spanien  nach 
Frankreich  gefunden  hatten. 


369 


Größer  noch  waren  die  Schwierigkeiten,  welche  Corneille  bei  dem 
Bau  seines  „Cid"  fand,  da  das  französische  Drama  in  seiner  Form  be- 
reits einen  entschiedenen  Gegensatz  gegen  die  Beweglichkeit  der  Spanier 
aufwies.  Wir  haben  schon  gesehen,  daß  die  französische  Bühne  den  Weg 
zur  einfachen,  stilvollen,  ideal  gehaltenen  Tragödie  eingeschlagen  hatte, 
und  Corneille  war  zu  sehr  der  Sohn  seines  Volkes  und  seiner  Zeit,  als 
daß  er  gegen  diese  Entwicklung  hätte  ankämpfen  wollen.  Als  er  seine 
„Melite"  verfaßte,  hatte  er  noch  nichts  von  den  dramatischen  Kegeln 
gewußt,  welche  Einheit  des  Orts,  der  Zeit  und  der  Handlung  vorschrieben. 
Er  hatte  sich  einfach  an  Hardy,  als  seinen  Lehrmeister,  gebalten.  Seit 
er  aber  von  dieser  neuen  Theorie  der  Komposition  gehört  hatte,  war  er 
bemüht,  ihr  so  viel  als  möglich  gerecht  zu  werden.  Die  Rücksicht  auf 
die  Regeln  beschäftigte  ihn  ernstlich  bei  seinen  folgenden  Lustspielen, 
wie  wir  aus  den  Vorreden  ersehen,  mit  denen  er  dieselben  begleitete. 
In  seiner  „Suivante"  fügte  er  sich  sogar  allen  Forderungen  in  Bezug 
auf  die  drei  Einheiten.  Er  hebt  hervor,  daß  er  den  Zusammenhang  der 
einzelnen  Scenen  bewahrt  und  jedem  Akt  die  gleiche  Zahl  von  Versen 
(340)  gegeben  habe.  Er  befolgte  dabei  den  Grundsatz,  daß  man  zunächst 
streben  müsse,  dem  Publikum  zu  gefallen,  dann  aber  auch  die  Gelehrten 
zu  befriedigen.  Bei  alledem  betonte  er  seine  Freiheit.^) 

Als  Corneille  das  spanische  Drama  zu  bearbeiten  unternahm,  konnte 
es  ihm  nicht  in  den  Sinn  kommen,  die  Ungebundenheit  seines  Vorbilds 
zu  bewahren.  Es  war  nur  natürlich,  daß  er  sein  Stück  in  jeder  Weise 
vereinfachte.  Er  erlaubte  sich  zwar  die  Scene  zu  wechseln,  aber  er  be- 
wahrte dabei  doch  die  Einheit  des  Orts.  Guillen  de  Castros  Drama  spielt 
bald  in  Burgos,  bald  im  Okagebirge,  bald  in  Galicien.  Corneille  ver- 
legte den  Schauplatz  aller  Begebenheiten  nach  Sevilla,  so  viel  Schwierig- 
keiten ihm  auch  aus  dieser  Anordnung  erwachsen  mochten.  Die  Ent- 
wicklung, welche  im  spanischen  Drama  den  Zeitraum  von  nahezu  drei 
Jahren  umfaßt,  wird  in  der  französischen  Dichtung  auf  die  kurze  Spanne 
von  24  Stunden  zusammengedrängt.  Corneille  wollte  die  Wahrscheinlich- 
keit seiner  Dichtung  erhöhen,  indem  er  die  Einheit  der  Zeit  festhielt, 
und  bedachte  nicht,  daß  er  sie  gerade  dadurch  bedenklich  gefährdete. 
Ebenso  zurückhaltend  zeigt  er  sich  in  der  Vorführung  der  Begeben- 
heiten. Allerdings  läßt  er  den  Grafen  Don  Gormaz  noch  auf  offener  Bühne 
die  Hand  gegen  Don  Diego  heben,  aber  alle  anderen  Vorfälle,  an  welchen 
das  Stück  so  reich  ist,  werden  nur  von  Augenzeugen  berichtet.  Auch  in 
diesem  Punkt  ist  er  weiter  gegangen  als  sein  Vorbild,  und  hat  sich 
genötigt  gesehen,  die  Zahl  der  steifen  „Vertrauten"  zu  vermehren.^)  Kein 


1)  Vergl.  das  Lustspiel  „La  suivante",  Epitre  dedicatoire  (edition  Marty- 
Laveaux,  II,  p.  119):  „Ce  n'est  pas  que  je  me  sois  assujetti  depuis  aux  memes 
rigueurs.  J'aime  ä  suivre  las  regles;  mais  lein  de  me  rendre  leur  esclave,  je  les 
elargis  et  resserre  seien  le  besoin...  et  je  romps  meme  saus  scrupule  celle  qui 
regarde  la  duree  de  raction,  quand  sa  s^verite  me  semble  absoluraent  incom- 
patible  avec  la  beaute  des  evenements  que  je  decris." 

-)  Auch  die  späteren  Ausgaben  des  „Cid"  zeigen  Corneilles  Bestreben 
nach  Vereinfachung  des  dramatischen  Gangs.  Während  in  der  ursprünglichen 
Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  24 


370 

Zweifel,  indem  Corneille  seinen  „Cid"  in  dieser  Weise  bearbeitete,  raubte 
er  ihm  manchen  lebendigen  Zug,  manches  Element  der  Größe.  Aber  er 
gab  ihm  auch  größere  Einheit,  gleichmäßigeren  Stil,  er  prägte  ihm  den 
französischen  Charakter  auf.  Seine  Dichtung  atmete  noch  den  ritterlich- 
enthusiastischen Geist  des  spanischen  Originals,  aber  sie  zeigte  ihn  ver- 
feinert, der  neuen  Zeit  angepaßt  und  über  den  engen  nationalen  Stand- 
punkt emporgehoben. 

Ganz  besonders  deutlich  aber  ist  doch  der  Fortschritt,  den  Cor- 
neille in  der  Kunst  der  Komposition  und  in  der  Sprache  gemacht  hatte. 
Gleich  die  Exposition  ist,  wenn  auch  nicht  so  farbenreich  wie  bei  Castro, 
doch  klar  und  dramatisch  wirksam.  In  dem  spanischen  Drama  fällt  das 
Hauptgewicht  auf  die  Pflicht  der  Rache  und  das  Ehrgefühl  wird  vor 
allem  betont;  erst  in  zweiter  Reihe  handelt  es  sich  um  die  Liebe  des 
jugendlichen  Paars.  Bei  Corneille  fällt  von  Anfang  an  mehr  Gewicht  auf 
die  Neigung,  welche  Rodrigo  und  Chimene  zu  einander  hegen  und  die 
von  den  Vätern  begünstigt  wird.  Die  Liebenden  sehen  ihre  Wünsche 
der  Erfüllung  nahe;  umso  ergreifender  wirkt  dann  die  plötzliche  Wen- 
dung, und  umso  rührender  erscheint  die  spätere  Entsagung. 

Die  drei  ersten  Aufzüge  sind,  gleich  dem  spanischen  Stück,  lebendig 
im  Gang  und  von  höchster  Spannung.  Das  Problem,  dessen  Lösung  ge- 
sucht werden  soll,  erregt  unsere  Teilnahme  und  die  handelnden  Personen 
sind  mit  treffender  Charakteristik  gezeichnet.  Welchen  Portschritt  zeigt 
der  „Cid"  in  dieser  Beziehung  gegen  die  Marionetten  der  gleichzeitigen 
französischen  Tragödie!  Auch  in  der  Zeichnung  der  einzelnen  Personen 
hat  sich  Corneille  keineswegs  ängstlich  an  sein  Vorbild  gehalten.  Der 
stolze  Don  Gormaz,  der  vorsichtige  Don  Diego  erscheinen  anders  bei 
ihm  als  bei  Castro,  selbst  Rodrigo  und  Chimene  sind  von  anderem  Geist 
beseelt.  Corneille  hat  es  verstanden,  die  Aufmerksamkeit  der  Zuschauer 
auf  seinen  Helden  zu  lenken  und  für  ihn  einzunehmen,  bevor  er  sich 
nur  auf  der  Bühne  zeigt.  Wir  kennen  ihn  schon,  denn  Graf  Gormaz 
trägt  Sorge,  das  Lob  des  jungen  Ritters  zu  verkünden.    Er  sagt: 

Vor  allem  zeigen  Don  ßodrigos  Züge 

Das  edle  Abbild  eines  wahren  Helden. 

Er  stammt  aus  einem  Haus,  so  reich  an  Kriegern, 

DaJi  ihre  Wiege  schon  der  Lorbeer  kränzt. 

Des  Vaters  Heldenmut  war  wunderbar 

Und  unerreicht,  solang  sein  Arm  noch  kräftig. 

Die  Furchen  seiner  Stirn  erzählen  uns 

Noch  jetzt  die  Größe  seiner  Kriegesthaten 

Und  künden  laut,  was  er  einstmals  gewesen. 

Was  ich  vom  Vater  sah,  hoff  ich  vom  Sohn 

Und  es  gefällt  mir,  liebt  ihn  meine  Tochter.  ^) 


Form  der  erste  Akt  damit  beginnt,  daß  der  Graf  sich  billigend  über  die  Be- 
werbung Eodrigos  äußert  und  von  seiner  Hoifnung,  Gouverneur  des  Prinzen 
zu  werden,  spricht,  muß  in  der  späteren  Redaktion  Elvire,  Chimenens  Ver- 
traute, von  ihrer  Unterredung  mit  dem  Grafen  über  diese  Funkte  nur  berichten. 

1)  „Le  Cid",  I,  1,  v.  29  ff. 


371 

Der  dritte  Akt  bringt  den  Höhepunkt  der  Verwicklung, '  den  Kampf 
der  Liebenden  gegen  einander  und  mit  sich  selbst.  Chimene  erklärt  ihrer 
Vertrauten,  Elvira,  daß  sie  trotz  ihres  Vaters  Tod  noch  zu  Rodrigo  wie 
zu  einer  Gottheit  aufblicke,^)  aber  sie  zögert  doch  keinen  Augenblick, 
zu  thun,  was  sie  als  ihre  Pflicht  ansieht.  Sie  ist  entschlossen,  bis  zum 
äußersten  zu  gehen : 

Ich  muß  mich  rächen,  also  will's  die  Ehre, 

Dann  werd'  auch  ich,  mein  Leid  zu  enden,  sterben. 2) 

Sie  kann  Rodrigo  nicht  tadeln,  daß  er  ihren  Vater  getötet,  denn 
auch  er  folgte  dem  Gebot  der  Ehre.  Die  modernen  Begriffe  von  der 
Ehre  haben  sich  freilich  geändert,  und  wenn  der  Zweikampf  auch  noch 
nicht  ganz  aus  den  Sitten  der  heutigen  Zeit  geschwunden  ist,  würde  in 
unseren  Tagen  ein  Dichter  Ghimenens  Pflicht  anders  aufzufassen  haben. 
So  bleibt  das  Thema  zwar  immer  dasselbe,  aber  die  Behandlung  ändert 
sich  mit  den  Zeiten. 

Corneille  stellt  die  Liebenden  einander  gegenüber;  Rodrigo  bietet 
sich  als  Opfer  dar.  Er  reicht  Chimenen  das  Schwert,  auf  daß  sie  seine 
Brust  durchbohre,  ihrer  Rachepflicht  genüge  und  sein  unglückliches  Da- 
sein ende.  Chimene  weigert  sich  dieser  That,  sie  will  keine  Mörderin 
sein,  sie  will  in  offenem  Gericht  vom  König  Genugthuung  für  ihres 
Vaters  Tod  erlangen.  Mit  seiner  scharfen  Dialektik  und  seiner  Freude  an 
schroffen  Gegensätzen  verschärft  Corneille  noch  die  Bitterkeit  und  Un- 
natur dieses  Verhältnisses.  Er  steigert  den  Heroismus  zu  einem  Punkt, 
daß  er  unwahr  zu  werden  droht. 

—  —  —  —  Da  Du  so  schwer  mich  schlugst  — 
ruft  Chimene : 

Hast  Du  bewiesen,  daß  Du  meiner  wert, 

Nun  zeig'  ich  mich  Dein  wert  durch  Deinen  Tod.^) 

Die  merkwürdige  Scene  schließt  mit  wechselseitigen  Klagen  über 
die  Nichtigkeit  des  Glücks,  und  die  zeitweilig  hervortretende  sanftere 
Stimmung  Chimenens  läßt  uns  ahnen,  daß  eine  Versöhnung  früher  oder 
später  möglich  wird.  Wenn  dann  im  vierten  Akt  Rodrigo  als  Besieger 
der  Mauren  und  Retter  seines  Fürsten  ruhmgekrönt  heimkehrt,  schwindet 
jede  Besorgnis  um  sein  Los.  Trotz  aller  Bemühungen  Chimenens  er- 
scheint uns  sein  Leben    nicht  mehr   gefährdet.    Die  beiden  letzten  Akte 


1)  Vergl.  „Le  Cid",  III,  3,  v.  18: 

C'est  peu  de  dire  aimer,  Elvire:  Je  l'adore. 
^)  „Le  Cid",  III,  3,  50: 

II  y  va  de  ma  gloire,  il  faut  que  je  me  venge. 

Pour  conserver  ma  gloire  et  finir  mon  ennui, 
Le  poursuivre,  le  perdre  et  mourir  apres  lui. 

3)  „Le  Cid",  III,  4,  83: 

Tu  t'es,  en  m'offensant,  montre  digne  de  moi; 
Je  me  dois,  par  ta  raort,  montrer  digne  te  toi. 


372 

sind  deshalb  nicht  mehr  von  demselben  dramatischen  Interesse.  Sie  sind 
trotz  großer  Schönheiten  im  einzelnen  zu  lang  und  zu  spitzfindig  ge- 
halten. In  einem  Anfall  von  Verzweiflung  fordert  Chimene  zum  Zwei- 
kampf gegen  Rodrigo  auf  und  erklärt  sich  selbst  als  Preis  für  den  Sieger. 
Als  aber  die  Entscheidung  naht  und  Rodrigo  seine  Absicht  erklärt,  sich 
töten  zu  lassen,  verzweifelt  sie.  Ihr  Gefühl  verrät  sich ;  sie  fleht  ihn  an, 
er  möge  sie  vor  einer  verhaßten  Ehe  schützen,  und  erfüllt  ihn  durch 
ein  Wort,  das  ihr  entschlüpft,  mit  neuem  Lebensmut: 

Kehr  siegreich  heim  aus  diesem  Kampf,  Rodrigo, 

Der  Preis  des  Siegers  ist  Chimenens  Hand.i) 

Nach  dieser  Bitte  enteilt  sie.  Rodrigo  aber  bricht  in  lauten  Jubel 
aus  und  ruft  die  begeisterten  Worte: 

Wo  war'  ein  Feind,  der  jetzt  mir  widerstände? 

Heran,  ihr  Mauren  und  ihr  Navarresen, 

Ihr  Helden  alle  des  hispan'schen  Landes, 

Vereinigt  Eure  Scharen  wider  mich, 

Mein  Arm  ist  nun  zu  jedem  Kampf  gefeit. 

Zu  hoch  ist  meine  Hoffnung  nun  gestiegen. 

Ihr  seid  zu  schwach,  mich  ferner  zu  gefährden. 2) 

In  der  That  ist  der  Ausgang  nicht  mehr  zweifelhaft.  Die  Versöh- 
nung und  Ehe  zwischen  Rodrigo  und  Chimene  erscheint  nur  noch  als 
eine  Frage  der  Zeit.  Wir  wissen,  daß  der  König  Recht  hat,  wenn  er 
zum  Schluß  sagt: 

—   —  —  Verschwinden  wird 

Der  Widerstand,  den  ihre  Ehr'  erfordert. 

Vertrau'  der  Zeit,  vertraue  Deinem  Ruhm 

Und  Deinem  König  I^) 

In  den  letzten  Tagen  des  Monats  November  1636  war  eine  große 
Vorstellung  im  Theätre  du  Marals.  Mondory,  Corneilles  Freund  seit  dessen 
ersten  dramatischen  Versuchen,  hatte  den  ,Cid"  zur  Aufführung  an- 
genommen und,  hingerissen  von  der  Schönheit  der  Dichtung,  alles  auf- 
geboten, um  ihren  Erfolg  zu  sichern.  Neue  Dekorationen  und  glänzende 
Kostüme  erhöhten  den  Reiz  des  Schauspiels.  Mondory  selbst  gab  den 
„Cid",    Mademoiselle  Villiers  die  Chimene,^)    und    es   heißt,    die  Schau- 


1)  „Le  Cid«,  V,  1,  92: 

Sors  vainqueur  d'un  combat,  dont  Chimene  est  le  prix. 

2)  „Le  Cid",  V,  1,  94: 

Est-il  quelque  ennemi  qu'ä  present  je  ne  dompteV 
Paroissez,  Navarrois,  Maures  et  CastiUans. 
Et  tout  ce  que  l'Espagne  a  nourri  de  vaillants; 
Unissez-vous  ensemble,  et  faites  une  armee, 
Pour  combattre  une  main  de  la  sorte  animee. 
Joignez  tous  vos  efforts  contre  un  espoir  si  doux; 
Pour  en  venir  ä  bout,  c'est  trop  peu  que  de  vous. 

3)  „Le  Cid",  V,  7,  67: 

Pour  vaincre  un  point  d'honneur  qui  combat  contre  toi 
Laisse  faire  le  temps,  ta  vaillance,  et  ton  roi. 
*)  Die  Bezeichnung  „Mademoiselle"    wurde   bekanntlich   aucli  für  verhei- 
ratete Damen  gebraucht.  Sie  bezeichnete  die  bürgerliche  Abkunft. 


373 


Spieler  hätten  sich  selbst  übertroffen.  Es  war  ein  glänzender,  beispiel- 
loser Erfolg.  Der  „Cid"  wirkte  mit  der  Macht  einer  Offenbarung,  die 
eine  neue  dramatische  Kunst  enthüllte.  Die  feinste  Gesellschaft  drängte 
sich  in  das  Theater  und  die  vornehmsten  Herren  begnügten  sich  mit 
bescheidenen  Plätzen  in  der  Ecke,  um  nur  den  Zauber  der  Coi-neiile'schen 
Verse  auf  sich  wirken  zu  lassen.  Der  „Cid"  bildete  lange  Zeit  den 
Gegenstand  jeder  Unterhaltung,  man  citierte  ihn,  die  Kinder  lernten  die 
schönsten  Stellen  auswendig  und  ,. Schön  wie  der  Cid"  war  bald  ein  viel 
gebrauchtes  Sprichwort.^)  Von  der  Hauptstadt  ging  das  Stück  in  die 
Provinz  und  in  das  Repertoire  einer  jeden  fahrenden  Truppe. 

In  den  Briefen  der  Marquise  de  Sevigne  finden  wir  noch  an  vielen 
Stellen  einen  Nachklang  dieser  Begeisterung.  Corneille  erinnerte  sie  an 
ihre  Jugend^  da  sie  noch  schwärmte  und  der  „Cid"  ihr  als  das  Ideal 
der  ritterlichen  Größe  erschien.  Viele  Jahre  später  meldet  sie  ihrer 
Tochter,  daß  sie  einige  Stücke  Corneilles  wieder  gelesen  und  noch  immer 
dieselbe  Bewunderung  für  den  Dichter  hege.  „Mein  alter  lieber  Corneille 
soll  leben!"  ruft  sie  ein  andermal  und  gesteht,  daß  sie  immer  noch  gern 
von  Kämpfen  und  heroischen  Thaten  liest.-) 

Das  Geheimnis  des  außerordentlichen  Erfolgs,  den  der  „Cid"  er- 
rang, birgt  sich  in  der  Thatsache,  daß  kein  anderes  Stück  des  ganzen 
Jahrhunderts  den  Geist  und  den  Charakter  der  Zeit  so  vollständig  zum 
Ausdruck  gebracht  hat,  wie  gerade  der  „Cid''.  Was  das  französische 
Volk  in  jenen  Jahren  fühlte  und  ahnend  voraussah,  das  Bewußtsein  der 
Stärke  und  die  Größe  der  kommenden  Zeit,  das  findet  sich  in  Corneilles 
Drama  ausgesprochen.  Die  Epoche  des  inneren  Friedens  und  der  äußeren 
Erfolge  gab  den  Franzosen  den  Schwung  jugendlicher  Kraft,  und  in 
gleicher  Weise  geht  durch  den  „Cid"  ein  Hauch  der  Begeisterung,  des 
Edelmuts,  der  ritterlichen  Hingabe.  In  ihm  lebt  das  Feuer  der  Jugend; 


1)  Mondory  berichtete  im  Januar  1637  in  einem  Brief  an  Balzac:  „On 
a  vu  seoir  en  corps  aux  bancs  de  ses  loges  ceux  qu'on  ne  voit  d'ordinaire  que 
dans  la  Chambre  doree  ou  sur  le  siege  des  fleurs  de  lis.  La  foule  a  ete  si  grande 
ä  nos  portes,  et  notre  lieu  s'est  trouve  si  petit,  que  les  recoins  de  theätre  qui 
servoient  les  autres  fois  comme  de  niche  aux  pages,  ont  ete  des  places  de  faveur 
pour  les  cordons  bleus,  et  la  scene  y  a  ete  d'ordinaire  paree  de  croix  de  Cheva- 
lier de  Tordre."  —  Pellisson  erzählt  in  seiner  „Histoire  de  l'academie" :  „II  est 
malaise  de  s'imaginer  avec  quelle  approbation  cette  piece  fut  re^ue  de  la  cour 
et  du  public.  On  ne  pouvait  se  lasser  de  la  voir,  on  n'entendait  autre  chose 
dans  les  compagnies,  chacun  en  savait  quelque  partie  par  coeur,  on  la  faisait 
apprendre  aux  enfants,  et  en  plusieurs  endroits  de  la  France  il  etait  passe  en 
proverbe  de  dire:  cela  est  beau  comme  le  Cid". 

-)  Brief  vom  23.  Mai  1671:  „Nous  avons  relu  des  pieces  de  Corneille,  et 
repasse  avec  plaisir  sur  toutes  nos  vieilles  admirations".  —  Brief  vom  9.  Mäi'z 
1672:  „A  propos  de  comedie,  voilä  „Bajazet".  Si  je  pouvois  vous  envoyer  la 
Champmesle,  vous  trouveriez  cette  comedie  belle;  mais  sans  eile,  eile  perd  la 
moitie  de  ses  attraits.  Je  suis  folle  de  Corneille;  il  nous  redonnera  encore  Pul- 
cheiie,  oü  l'on  verra  encore: 

La  main  qui  crayonna 
La  mort  du  grand  Pompee  et  l'amour  de  Cinna. 
II  faut  que  tout  cede  ä  son  genie."  —  Derlei  Stellen  über  Corneille  könnte  man 
viele  anführen. 


374 

wie  arm  erscheint  neben  ihm  die  Poesie  der  vorausgegangenen  fünfzig 
Jahre;  wie  greisenhaft  erscheint  Malherbe  neben  dem  männlichen  feu- 
rigen Corneille.  Was  die  feine  Gesellschaft  damals  als  Ideal  verehrte, 
eine  romantische  Ritterlichkeit  in  dem  Gewand  moderner  Galanterie,  das 
fand  sie  hier  verkörpert.  Corneilles  Dichtung  sprühte  von  Jugendkraft 
und  Jugendmut,  sie  appellierte  an  das  Herz,  an  die  stürmischen  Gefühle 
der  Jugend,  und  war  jedem  verständlich,  selbst  wenn  er  den  Codex  der 
ßitterwelt  nicht  kannte.  Den  Zauber  zu  erhöhen,  mit  dem  er  die  Herzen 
gewann,  hatte  Corneille  eine  Sprache  gefunden,  so  hinreißend,  wohl- 
lautend und  kräftig,  wie  sie  in  Frankreich  noch  nicht  gehört  worden 
war.  Weich  genug,  um  jede  Schattierung  des  Gefühls  auszudrücken,  trug 
sie  einen  heroischen  Charakter  und  das  Gepräge  der  Kraft.  So  wurde 
der  „Cid"  die  volkstümlichste  Dichtung  des  ganzen  klassischen  Jahr- 
hunderts. Und  volkstümlich  ist  er  geblieben  bis  zum  heutigen  Tag.  Er 
ist  so  echt  national,  daß  er  noch  heute  in  Frankreich  bei  der  Auffüh- 
rung die  Zuschauer  zu  begeistern  vermag,  während  im  Ausland  jeder 
Versuch,  ihn  neuerdings  zur  Darstellung  zu  bringen,  mißlungen  ist.^) 

Werke,  die  der  lebendige  Ausdruck  ihrer  Zeit  sind,  müssen  auch 
die  Fehler  dieser  Zeit  aufweisen,  und  der  „Cid"  trägt  sie  deutlich  er- 
kennbar zur  Schau.  Corneille  war  nicht  frei  von  der  Sucht  nach  Pointen 
und  nahm  dieselben  umso  leichter  auf,  als  er  sie  auch  in  seinem  spa- 
nischen Vorbild  fand.  Die  auffallendsten  Pointen  sind  geradezu  aus  dem 
Spanischen  übersetzt.-)  Dem  Geschmack  seiner  Zeit  entsprechend,  ver- 
fällt Corneille  öfters  in  eine  gesuchte  Redeweise.  Er  gefällt  sich  dann 
in  gekünstelter  Empfindung  und  liebt  es,  in  Momenten  der  Leidenschaft 
spitzfindige  Disputationen  anzubringen.  Daß  sein  Drama  auch  durch  die 
strenge  Beobachtung  der  drei  Einheiten  verliert,  ist  schon  bemerkt  worden, 
und  mit  dieser  Schwäche  hängt  es  zusammen,  daß  sich  die  Rolle  der 
Infantin  so  nichtssagend  gestaltet.^)  Und  doch  verschwinden  diese  Fehler 


1)  Bekannt  ist  Napoleons  Vorliebe  für  Corneille,  dessen  „Cid"  er  sich 
1806  in  St.  Cloud  spielen  ließ.  Ebenso  wird  erzählt,  daß  er  ihn  in  der  Nacht, 
die  der  Schlacht  bei  Austerlitz  voranging,  gelesen  habe. 

-)  Vergl.  die  Klage  Chimenens  über  den  Tod  ihres  Vaters,  wo  sie  von 
dem  Blut  spricht,  das  vor  Zorn  rauche,  nicht  für  seinen  König  vergossen  worden 
zu  sein  (II,  8,  v.  17): 

Ce  sang  qui  tout  sorti,  fume  encor  de  courroux 
De  se  voir  repandu  pour  d'autres  que  pour  vous. 
oder  den  Vers  (III,  3,  8),  wo  Chimene  jammert: 

La  moitie  de  ma  vie  a  mis  l'autre  au  tombeau . . . 
was  heißen  soll,    daß   Rodrigo  (die  eine  Hälfte  ihres  Lebens)    ihren  Vater  (die 
andere  Hälfte)  getötet  habe.    Für  diesen  Vers   fand  Corneille  das  Vorbild  bei 
Castro : 

La  mitad  de  mi  vida 
Ha  muerto  la  otra  mitad. 
Weitere  Beispiele  dieser  Art  kann  man  leicht  finden. 

^)  Im  Jahr  1734  erschien  in  Amsterdam  ein  Buch,  das  mehrere  bekannte 
Tragödien  in  einer  Bearbeitung  enthielt.  Der  Verfasser  hatte  sich  nicht  genannt, 
man  glaubte  jedoch,  Jean  Baptiste  Rousseau  in  der  Arbeit  zu  erkennen.  Unter 


375 

alle  vor  dem  gewaltigen  Eindruck,  den  die  Dichtung  als  Ganzes  hervor- 
bringt. In  ihr  fand  die  französische  Tragödie  ihre  erste  feste  Gestalt, 
wie  sie  sich  zwei  Jahrhunderte  lang  behaupten  sollte.  So  eröffnet  der 
„Cid"  in  Wahrheit  die  Epoche  der  klassischen  Litteratur  in  Frankreich. 
Wie  Schillers  „Don  Carlos"  die  Gährung  in  den  Geistern  der  deutschen 
Jugend,  wie  seine  „Jungfrau"  und  sein  „Teil"  das  Wiedererwachon  der 
nationalen  Gesinnung  in  Deutschland  erkennen  lassen,  obwol  diese  Dra- 
men nur  Episoden  einer  fremden  Geschichte  behandeln,  so  spiegelt  sich 
auch  im  „Cid"  das  französische  Volk,  wie  es  in  der  ersten  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts  dachte  und  fühlte,  so  zeigt  der  „Cid"  ganz  besonders 
das  Bild  des  stürmischen,  seiner  Unabhängigkeit  noch  bewußten,  fran- 
zösischen Adels,  bevor  derselbe  in  dem  letzten  Versuch,  sich  frei  zu  er- 
halten, für  immer  unterlag. 


diesen  Bearbeitungen  findet  sich  neben  Tristans  „Mariamne',  dem  „Don  Japhet" 
des  Scarron  und  dem  „Florentin"  des  La  Fontaine  auch  der  „Cid".  Darin  war 
die  Eolle  der  Infantin  und  ihres  Vertrauten  gestrichen  und  neben  anderen  Än- 
derungen auch  der  Schluß  dahin  umgeformt,  daß  Rodrigo  nicht  auf  die  Zu 
kunft  vertröstet  wird,  sondern  sogleich  die  Hand  Chimenens  erhält.  Der  König 
schheßt  das  Stück  mit  den  Versen: 

„Approche-toi,  Eodrigue,  et  toi  reyois,  ma  fille. 
De  la  main  de  ton  roi  l'appui  de  la  Castille." 

Durch  diese  harten,  unglücklichen  Verse  wird  das  Übel  noch  verschärft, 
über  das  man  besonders  Klage  führte.  Dennoch  wurde  das  Schauspiel  in  dieser 
Form  für  die  Bühne  angenommen,  da  es  den  Gang  der  Handlung  beschleunigt. 
Auch  Mlle.  Rachel,  welche  im  Jahr  1842  den  „Cid"  wieder  zur  Aufführung 
brachte  und  die  Rolle  der  Chimene  spielte,  behielt  noch  diese  Bearbeitung  bei, 
und  erst  in  neuerer  Zeit  hat  man  das  Drama  in  seiner  alten,  richtigen  Form 
zur  Darstellung  gebracht.  —  Der  Vollständigkeit  halber  sei  noch  erwähnt,  daß 
Voltaire  und  nach  ihm  Laharpe  die  Behauptung  aufstellten,  daß  Corneille  weniger 
de  Castro  als  das  Stück  eines  andern  spanischen  Dramatikers,  Diamante  („El 
honrador  de  su  padre"),  nachgeahmt  habe.  Die  neueren  Untersuchungen  haben 
bewiesen,  daß  Diamantes  Stück  erst  1658  in  Madrid  erschien  und  eine  Nach- 
bildung der  Corneille'schen  Dichtung  war.  Wir  haben  also  nicht  weiter  darauf 
einzugehen.  Vergl.  Hyppol.  Lucas,  Documents  relatifs  ä  l'histoire  du  Cid  (Paris 
1860,  Alvares);  Schack,  Geschichte  des  spanischen  Theaters,  Bd.  III,  und  Cor- 
neille (ed.  Marty-Laveaux),  Bd.  III,  S.  4  und  238. 


TL 

Der  Streit  über  den  .,Cid". 

Wenn  Corneille  schon  vor  dem  ^Cid"  als  einer  der 
Dichter  galt,  so  hob  ihn  der  außerordentliche  Erfolg  dieses  Dramas  mit 
einem  Mal  über  die  Schar  der  anderen  Dramatiker  hoch  empor.  Er  sah 
sich  von  der  Begeisterung  der  gebildeten  Kreise  getragen,  von  dem 
Sonnenglanz  plötzlich  erworbenen  Ruhms  bestrahlt. 

Der  Beifall  war  zu  groß,  zu  allgemein,  der  Sieg  zu  plötzlich,  als 
daß  Neider  und  Gegner  alsbald  zum  Wort  hätten  kommen  können,  Sie 
fehlten  Corneille  nicht,  aber  sie  waren  eine  Zeit  lang  völlig  verblüfft 
und  stumm.  Sie  mußten  sich  erst  zurechtfinden ,  bevor  sie  ihre  Kritik 
üben  konnten,  und  so  lange  mochte  sich  Corneille  ungestört  seines  Siegs 
erfreuen.  Xeue  Entwürfe  beschäftigten  seinen  Geist,  und  er  plante  Dra- 
men, die  seinen  Euhm  noch  höher  tragen  sollten.  Der  Gedanke,  die 
Kämpfe  der  Horatier  und  Kuriatier  dramatisch  zu  behandeln,  war  ihm 
schon  damals  vertraut.  Mußte  er  sich  nicht  zu  neuer  Dichtung  angespornt 
fühlen,  wenn  er  sah,  wie  mächtig  er  auf  das  Volk  einwirkte,  wie  günstig 
auch  der  Hof  und  der  hohe  Adel  sich  ihm  erwiesen?  Der  „Cid"  wurde 
dreimal  binnen  kurzer  Zeit  im  Louvre  aufgeführt.  Die  Königin  Anna, 
die  als  spanische  Tnfantin  nie  ganz  heimisch  in  Frankreich  wurde,  fand 
an  Corneilles  Drama  ein  besonderes  Gefallen.  Von  ihrem  Gemahl  ver- 
nachlässigt, von  der  antispanischen  Politik  Richelieus  verletzt,  freute  sie 
sich  doppelt  der  Dichtung,  die  einen  spanischen  Helden  pries  und  ihr 
als  eine  Huldigung  für  Spanien  erschien,  Sie  mochte  sich  für  Augen- 
blicke in  ihre  Heimat  zurückversetzt  wähnen ,  und  ihrem  Einfluß  darf 
man  es  wol  auch  zuschreiben,  wenn  der  König  wenige  Monate  nach 
dem  Erscheinen  des  „Cid",  um  den  Sohn  zu  belohnen,  der  früheren 
treuen  Dienste  des  Vaters  gedachte  und  ihn  in  den  Adelsstand  erhob.') 

Anders  freilich  als  im  Kreise  der  Königin  und  im  großen  Publi- 
kum dachte  man  im  Palais  Cardinal.  Richelieu  war  Corneille  schon  von 


1)  Das  Adelsdiplom  ist  vom  24.  März  1637  datiert.  Der  Vater  Corneilles 
hatte  seit  17  Jahren  sein  Amt  aufgegeben.  Daß  der  Dichter  in  dieser  Standes- 
erböhung  eine  Belohnung  für  sich  sah.  sagt  er  in  einem  späteren  Gedicht, 
„Sonnet  au  Roy"  (1657,  Oeuvres  X,  n^  XLIV,  p.  135): 

La  noblesse,  grand  roi,  manquoit  ä  ma  naissance; 
Ton  pere  en  a  daigne  gratifier  mes  vers. 


37' 


früher  her  gram.  Er  zürnte  dem  Dichter,  der  sich  seiner  Leitung  ent- 
zogen hatte  und  dessen  Triumph  auf  der  Bühne  ihm  wie  eine  trotzige 
Herausforderung  erscheinen  mochte.  Die  Berichte  der  Zeitgenossen  sagen 
geradezu,  der  Kardinal  sei  eifersüchtig  gewesen.^)  Seine  Verstimmung 
wurde  nicht  gehoben,  als  im  Februar  1637  der  Kardinal  in  seinem 
Palast  das  zweite  Lustspiel  der  „fünf  Autoren",  den  „Blinden  von 
Smyrna",  aufführen  ließ.  Das  Stück  fand  nicht  den  gehofften  Beifall, 
obwol  es  vor  einer  geladenen  Gesellschaft  dargestellt  wurde,  und  es  ge- 
lang ihm  nicht,  den  Ruhm  des   „Cid"   zu  verdunkeln. 

Kein  Zweifel,  Richelieu  sah  den  Dichter  des  „Cid"  mit  ungünstigem 
Auge,  allein  man  würde  ihm  unrecht  thun,  wollte  man  den  Grund  dieser 
Abneigung  nur  in  niedrigem  litterarischen  Neid  suchen.  Er  ließ  den 
„Cid"  auf  seiner  eigenen  Bühne  aufführen,  und  wenn  er  sich  dann  an 
einer  Parodie  desselben,  die  Boisrobert  verfaßt  hatte,  ergötzte,  so  können 
wir  darin  noch  keinen  Beweis  für  seine  Eifersucht  erblicken.^)  Es  ist 
fraglich,  ob  Richelieu  einen  Feldzug  gegen  Corneille  unternommen  hätte, 
wenn  ihn  nur  litterarische  und  persönliche  Abneigung  beseelt  hätte.  Aber 
es  kamen  politische  Gründe  hinzu,  welche  ihn  veranlaßten,  gegen  das 
Stück  aufzutreten.  Je  mehr  die  Königin  den  „Cid"  begünstigte,  weil  sie 
ihn  von  spanischem  Geist  beseelt  fand,  umso  widerwärtiger  mußte  er 
dem  Kardinal  werden,  der  die  spanische  Partei  bekämpfte.  Das  erneute 
Vordringen  spanischen  Einflusses  in  der  Litteratur  konnte  unter  Um- 
ständen auch  der  Politik  eine  andere  Richtung  geben.  Zudem  erblickte 
Richelieu  in  dem  „Cid"  einen  trotzigen  Protest  gegen  seine  Gesetzgebung; 
ein  Kokettieren  mit  der  unruhigen  Adelspartei,  welche  nur  mühsam  im 
Gehorsam  gegen  den  Staat  gehalten  wurde.  Die  Dueilwut  kostete  alljähr- 
lich Hunderte  von  Opfern.^)  Vergebens  hatten  die  Könige  (seit  Hein- 
rich IV.)  strenge  Verordnungen  gegen  dieses  Unwesen  erlassen,  ver- 
gebens die  Duellanten  mit  dem  Tod  bedroht  und  einige  auch  hinrichten 
lassen ;  es  war  nicht  gelungen ,  der  Unsitte  zu  steuern ,  und  nun  bot 
sich  in  dem  „Cid"  ein  Drama,  das  sich  um  ein  Duell  drehte  und  in 
welchem  der  Zweikampf  als  Ehrensache  dargestellt  wurde.  Der  König 
verlangte  darin,    daß    Don  Gormaz  die  Ehre  des  von  ihm  schwer  belei- 


1)  Vergl.  Tallemant  des  Reaux,  Historiettes  (Boisrobert),  II,  163;  Pellisson, 
Histoire  de  l'Academie,  p.  87. 

2)  Tallemant  erzählt  an  der  angegebenen  Stella,  daß  die  bekannte  Scene 
des  „Cid"  (I,  5)  zwischen  Don  Diego  und  Don  Rodrigo: 

Don  Diegue : 
Eodrigue,  as-tu  du  coeurV 

Don  Rodrigue: 

Tout  autre  que  mon  pere, 
L'eprouveroit  sur  l'heure... 

von  dem  Parodisten  dahin  abgeändert  wurde,  daß  auf  des  Vaters  Frage:    „Eo- 
drigue, as-tu  coeur?"    der  Sohn  antwortete:  „Je  n'ai  que  du  carreau". 

3)  Vergl.  was  S.  32  und  S.  2G7  über  die  Duellwut  gesagt  ist. 


378 

digten  Don  Diego  durch  eine  offene  Ei-klärung  wiederherstelle,   der  stolze 
Graf  aber  entgegnete  dem  Abgesandten  des  Königs: 

Entschuldigungen  führen  nicht  zum  Frieden. 
Der  sie  empfängt,  hat  nichts,  und  der  sie  giebt, 
Erniedrigt  sich,  so  daß  durch  solche  Sühne 
Statt  eines  Mannes  zwei  geschädigt  werden 
In  ihrer  Ehre.i) 

Die  Verse  sind  aus  dem  spanischen  Stück  übertragen  und  Cor- 
neille hatte  bei  seiner  Arbeit  wol  kaum  bedacht,  welchen  Unwillen  er 
damit  erregen  würde;  aber  daß  die  Stelle  großen  Anstoß  gab,  ist  nicht 
zu  bezweifeln.  Schon  in  der  ersten  Ausgabe  strich  sie  der  Dichter.  Ähn- 
liche Verse,  die  er  nicht  weglassen  konnte,  finden  sich  jedoch  durch 
das  ganze  Werk  zerstreut.  So  betont  Chimene  einmal,  daß  ihre  Ehre 
blutige  Eache  heische ;  -)  ebenso  sagt  Diego  seinem  Sohn  ßodrigo,  eine 
Beleidigung,  wie  er  sie  empfangen,  könne  nur  durch  Blut  abgewaschen 
werden,  und   er  entläßt  ihn  mit  dem  finsteren  Wort:    Stirb  oder  töte.^) 

Aber  nicht  genug,  daß  der  „Cid"  den  Zweikampf  verherrlicht;  er 
schildert  auch  in  dem  Grafen  Gormaz  den  Trotz  der  Großen,  welche  die 
Eebellion  gegen  die  Krone  als  ein  Recht  betrachten.  Don  Gormaz  scheut 
sich  nicht  zu  sagen : 

Wenn's  gilt,  die  Ehre  fleckenlos  zu  wahren, 
Ist  leichter  Ungehorsam  kein  Verbrechen ...  ■•) 

und  der  König  erscheint  zu  schwach,    um   den  hochmütigen  Grafen    im 
Gehorsam  zu  erhalten. 

So  erschien  der  „Cid"  dem  modernen  Staat  gegenüber  als  der  Lob- 
redner der  früheren  Zeiten  und  der  Selbstherrlichkeit  des  Rittertums ; 
damals  erachteten  ja  die  Barone  den  König  nur  als  den  ersten  unter 
ihresgleichen  und  riefen  das  Schwert  als  Schiedsrichter  an.  Wenn  die 
aristokratische  Welt  in  diesem  Charakter  des  „Cid"  einen  Anlaß  mehr 
für  ihren  Beifall  fand,  so  mußte  Richelieu  aus  demselben  Grund  über 
das  Auftreten  des  Dichters  gereizt  sein,    und    es   genügte   für  die  Höf- 


1)  „Le  Cid",  II,  1: 

Ces  satisfactions  n'appaisent  point  une  äme. 

Qui  les  refoit  n'a  rien,  qui  les  fait  se  diffame. 

Et  de  pareils  accords  l'eflfet  le  plus  commun 

Est  de  perdre  d'honneur  deux  hommes  au  lieu  d'un. 

2)  „Le  Cid",  III,  3,  50: 

Chimene: 
II  y  va  de  ma  gloire,  il  faut  que  je  me  venge. 

3)  „Le  Cid",  I,  5,  14: 

Diegue: 
Ce  n'est  que  dans  le  sang,  qu'on  lave  un  tel  outrage; 
Meurs  ou  tue. 

■•)  „Le  Cid",  n,  1,  15: 

Don  Gormaz: 
Monsieur,  pour  conserver  tout  ce  que  j'ai  d'estime, 
Desobeir  un  peu,  n'est  pas  un  si  grand  crime. 


379 

linge  und  Schmeichler  des  Ministers,  diese  Stimmung  zu  kennen,  um 
sich  gegen  Corneille  zu  erheben  und  auch  die  anderen  Neider  des  Dich- 
ters zu  ermutigen. 

Corneille  hatte  schon  vielfach  durch  sein  Selbstgefühl  angestoßen 
und  gerade  damals  bot  er  seinen.  Gegnern  einen  willkommenen  Vorwand 
zum  Angriif  durch  ein  Gedicht,  das  er  ungefähr  gleichzeitig  mit  der 
ersten  Ausgabe  des  „Cid"  im  Jahr  1637  veröffentlichte.-')  Ein  Freund 
hatte  ihn  um  ein  Lied  gebeten,  das  er  in  Musik  setzen  könne,  und  Cor- 
neille beantwortete  diesen  Wunsch  mit  seinem  Gedicht  „Excuse  ä  Ariste". 
Darin  entschuldigte  er  sich  mit  seinem  Unvermögen  auf  diesem  Gebiet. 
Sein  Talent  weise  ihn  auf  das  Theater;  dort  aber  habe  er  Großes  ge- 
leistet, er  kenne  seinen  Wert,  und  seinen  Euhm  verdanke  er  nur  sich 
allein  und  seiner  Kraft.^) 

Das  stolze  Wort  des  Dichters  entfesselte  den  Haß  seiner  Feinde, 
die  ihn  mit  heftigen  Vorwürfen  überhäuften.  Sie  betonten  vor  allem,  daß 
er  nur  ein  spanisches  Stück  übertragen,  und  somit  keinen  Anteil  an 
dem  Euhm  habe,  den  man  dem  Dichter  des  „Cid"'  gebe.  Unter  den 
Gegnern  thaten  sich  besonders  Mairet,  Scudery  und  Claveret  durch  Bitter- 
keit hervor.  Wir  brauchen  jedoch  auf  die  einzelnen  Schriften  gegen  Cor- 
neille nicht  weiter  einzugehen.  Es  genügt  anzuführen,  daß  sich  eine 
grimmige  litterarische  Fehde  entwickelte,  daß  sich  Gegner  und  Freunde 
Corneilles  in  Broschüren  und  Schriften  aller  Art,  in  Gedichten  und  Epi- 
grammen bekämpften.  Der  Streit  wurde  bis  auf  die  Straße  getragen,  wo 
die  Ausrufer  die  verschiedenen  Schriften  darüber,  Pamphlete  und  lose 
Blätter,  zum  Verkauf  anboten.  Waren  die  Angriffe  ebenso  plump  wie 
heftig ,  so  muß  man  zugeben ,  daß  auch  die  Verteidigung  oft  recht 
unglücklich  war. 


^)  Ausgegeben  wurde  die  erste  Auflage  des  „Cid"'  Ende  März  1637.  Das 
acheve  d'imprimer  ist  vom  24.  März  datiert. 

2)  „Excuse  ä  Ariste",  v.  36: 

Je  sais  ce  que  je  vaux,  et  crois  ce  qu'on  m'en  dit. 
V.  50: 

Je  ne  dois  qu'ä  moi  seul  toute  ma  renommee. 

Die  Biographen  sind  über  den  Zeitpunkt  der  Veröffentlichung  des  Ge- 
dichts nicht  einig,  da  es  zuerst  ohne  Datum  gedruckt  wurde.  '  Taschereau  in 
seiner  „Vie  de  Corneille"  (p.  301)  ist  der  Meinung,  es  sei  erst  während  des 
Streits  um  den  „Cid"  veröffentlicht  worden,  denn  Scudery  spräche  in  seiner 
Kritik  des  „Cid"  nicht  davon.  Allein  Taschereau  irrt,  denn  Scudery  spielt  in 
seiner  Einleitung  sehr  deutlich  auf  dieses  Gedicht  Corneilles  an,  und  so  hat 
Marty-Laveaux  (Oeuvres  de  Corneille,  III,  Notice)  wol  das  Richtige  getroffen, 
wenn  er  die  Veröffentlichung  etwa  gleichzeitig  mit  dem  „Cid"  annimmt.  Cor- 
neille hat  betont,  daß  das  Gedicht  einige  Jahre  älter  sei  als  der  „Cid",  und 
daß  dem  so  ist,  beweist  der  Vers  36 : 

J'ai  peu  de  voix  pour  moi,  mais  je  les  ai  sans  brigue. 

So  konnte  er  nach  dem  Erfolg  des  „Cid"  nicht  mehr  reden.  Veröffent- 
licht wurde  das  Gedicht  aber  jedenfalls  erst  später. 


380 


Nur  eine  Schrift  sei  liier,  als  die  wichtigste  und  umfangreichste 
Kritik  des  Corneille'schen  Dramas,  ausführlich  erwähnt.  Es  sind  dies  die 
„Observations  sur  le  Cid",  mit  welchen  Scudery  gegen  seinen  Landsmann 
und  früheren  Freund  auftrat. 

Nach  einigen  einleitenden  Worten,  in  welchen  Scudery  beteuert, 
daß  er  geschwiegen  hätte,  wenn  Corneille  in  seiner  maßlosen  Eitelkeit 
nicht  zu  weit  gegangen  wäre,  kommt  er  auf  den  Wert  des  „Cid"  zu 
sprechen  und  will  beweisen:  1.  daß  die  Fabel  des  Stücks  nichts  tauge; 
2.  daß  Corneille  die  wichtigsten  Regeln  des  Dramas  verletzt  habe;  3.  daß 
der  Bau  des  Dramas  schlecht  sei;  4.  daß  die  Verse  nicht  minder 
fehlerhaft  seien;  5.  daß,  wenn  der  „Cid"  Schönheiten  enthalte,  sie  ent- 
wendet seien,  und  daß  somit  6.  jede  Bewunderung,  die  man  dem  Werke 
Corneilles  zolle,  ungerechtfertigt  erscheine.  Man  sieht,  Scudery  wollte 
Corneille  recht  gründlich  vernichten.  In  seiner  Abhandlung  darf  man 
freilich  kein  tieferes  Verständnis  der  Poesie  erwarten.  Er  zeigt  sich  viel- 
mehr als  der  echte  Vertreter  jener  spießbürgerlichen  Kritik,  die  nichts 
begreift,  was  über  die  gewöhnlichen  Kreise  ihres  Daseins  hinausgeht, 
Jener  Kritik,  welche  Shakespeares  Julia  eine  entartete  Person  nennt, 
Komeo  ins  Zuchthaus  gesetzt  haben  will,  und  Goethes  Gretchen  als  un- 
moralisch verabscheut.  Aber  Scuderys  Schrift  erlebte  bei  dem  Interesse, 
das  der  „Cid"  überall  erweckt  hatte,  in  kürzester  Zeit  drei  Auflagen  und 
wurde  die  Veranlassung,  daß  auch  die  Akademie  sich  in  den  Streit 
mischte.    Wir  müssen  deshalb  die  Kritik   etwas  eingehender   betrachten. 

Scudery  behauptet  zunächst,  daß  der  „Cid"  Corneilles  ohne  eigent- 
liche Verwicklung  sei,  und  nicht  in  Spannung  versetze,  da  man  gleich 
von  Anfang  an  den  glücklichen  Ausgang  voraussehe.  Überhaupt  habe 
Corneille  gegen  die  wichtigsten  Regeln  der  dramatischen  Dichtung ,  be- 
sonders aber  gegen  die  Wahrscheinlichkeit  gefehlt.  Er  habe  die  vielen 
Ereignisse  aus  dem  Leben  des  „Cid"  in  einem  Zeitraum  von  vierund- 
zwanzig Stunden  zusammengedrängt,  was  doch  ganz  unmöglich  sei.  Man 
sieht,  Scudery  verlangt  keineswegs  die  Einheit  der  Zeit,  die  er  ja  in 
seinen  Stücken  auch  nicht  berücksichtigt  hatte ;  er  tadelt  vielmehr  Cor- 
neille darüber,  dass  er  sie  habe  festhalten  wollen.  Es  sei  ferner  nicht 
glaublich,  daß  der  König  die  beiden  Gegner  nach  einer  solchen  Beleidi- 
gung frei  umhergehen  lasse,  statt  sie  in  Arrest  zu  setzen,  wie  sicli  dies 
allerdings  bei  Guillen  de  Castro  findet.  Ebenso  unglaublich  sei  es,  daß 
Don  Diego  fünfhundert  Edelleute  an  einem  kleinen  Hof  zu  seinem  Schutz 
vereinigen  könne;  wenn  dies  aber  auch  möglich  sei,  so  verstoße  doch 
Don  Diego  gegen  jedes  Gebot  der  Höflichkeit,  indem  er  diese  Leute  zu 
Hause  lasse,  während  er  selbst  in  der  Stadt  umherirre,  um  seinen  Sohn 
zu  suchen.  Auch  der  König  erscheine  als  höchst  nachlässig,  denn  er  hätte 
sich  gegen  den  Überfall  der  Mauren  schützen  können,  wenn  er  nur  den 
Hafen  mit  einer  Kette  geschlossen  hätte.  Bei  der  Masse  der  sich  drängen- 
den Begebenheiten  kämen  dann  solche  ünwahrscheinlicbkeiten  vor ,  wie 
im  fünften  Akt,  wo  Rodrigo  nach  seiner  Unterredung  mit  Chimene  fort- 
eile, seine  Rüstung  anlege,  mit  Don  Sancho  kämpfe  und  ihn  besiege, 
alles,  während  auf  der  Bühne  140  Verse  gesprochen  würden ! 


381 


Der  „Cid"  verstoße  zudem  gegen  die  Moral.  Jede  Tugend  sei  aus 
dem  Stücii  verbannt,  Chimene  sei  eine  entartete,  gottvergessene,  zuciit- 
lose  Tochter,  eine  üanaide.  Allerdings  habe  gerade  der  dritte  Akt  das 
Publikum  entzückt,  und  man  habe  besonders  jene  Scene  bewundert,  in  der 
Rodrigo  im  Hause  Chimenens  erscheint  und  sich  als  Opfer  anbietet.  Aber 
jeder  Verständige,  bemerkt  Scudery,  schaudere,  wenn  er  sich  vorstelle, 
daß  in  diesem  Moment  die  Leiche  des  Vaters  noch  im  Hause  liege.  Über- 
haupt sei  das  Stück  barbarisch  und  grausam.  Alle  seine  Personen  hätten 
in  ihrem  Charakter  etwas  vom  Matamore,  besonders  aber  Don  Gormas, 
der  sich  zudem  als  schlechter  Menschenkenner  erweise.  Denn  er  lobe 
anfangs  Don  Sancho  als  trefflichen  Ritter,  und  doch  lasse  sich  derselbe 
später  so  leicht  von  Rodrigo  besiegen.  Corneille  sei  in  seiner  Führung 
der  Scenen  oft  unklar;  so  besonders  in  dem  Auftritt,  wo  Don  Arias  im 
Auftrag  des  Königs  vom  Grafen  Genugthuung  für  Don  Diego  verlange. 
Dafür  fänden  sich  wieder  viele  Episoden,  die  mit  dem  eigentlichen  Stück 
nur  lose  verknüpft  seien.  Die  ganze  Rolle  der  Infantin  sei  unnötig  und 
offenbar  nur  eingefügt,  um  der  Schauspielerin  Beauchäteau  eine  Rolle 
zuzuweisen.  Wie  ganz  anders,  wie  viel  größer  erscheine  dem  „Cid"  gegen- 
über Tristans  „Mariamne".  Tristan  habe  sich  auch  Episoden  erlaubt,  wie 
zum  Beispiel  die  prächtige  Erzählung  vom  Traum  des  Herodes,  aber  er 
habe  sie  immer  meisterhaft  in  den  Gang  seines  Stücks  zu  verweben  ge- 
wußt. Was  das  Verständnis  bei  Corneille  noch  ferner  erschwere,  sei  der 
Umstand,  daß  die  Bühne  bei  ihm  oft  verschiedene  Orte  vorstelle,  so  daß 
der  Zuschauer  gar  manchmal  nicht  wisse,  wo  er  eigentlich  sei.-^)  Schließ- 
lich kritisiert  Scudery  auch  die  Sprache  Corneilles.  findet,  daß  er  ein 
schlechtes  Französisch  spreche,  und  läßt  dann  eine  'ange  Reihe  tadelnder 
Bemerkungen  über  einzelne  Ausdrücke  und  Verse  des  Dramas  folgen. 

Nicht  zufrieden  mit  diesem  direkten  Angriff,  suchte  Scudery  auch 
die  Meinung  der  hervorragendsten  Kritiker  für  sich  zu  gewinnen.  In  dieser 
Absicht  wandte  er  sich  an  die  Akademie  und  an  Balzac,  den  Philosophen 
von  der  Charente,  der  damals  als  ein  unfehlbares  Orakel  auf  dem  Gebiet 
der  litterarischen  Kritik  angesehen  ward.  Scudeiy  hoffte,  daß  Balzac  ihm 
in  seinem  Urteil  beipflichten  werde,  allein  er  sah  sich  in  seiner  Hoffnung 
getäuscht.  Balzac  antwortete  ihm  zwar  in  vorsichtiger  Weise  und  gab 
dem  stürmischen  Kritiker  darin  recht,  daß  der  „Cid"  die  dramatischen 
Regeln  verletzt  habe;  aber  er  that  ihm  keineswegs  den  Gefallen,  das 
Stück  zu  verurteilen.  Es  gebe  keinen  italienischen  Baumeister,  der  das 
Schloß  von  Fontainebleau  nicht  stilwidrig  gebaut  finde  und  es  einen  Stein- 
haufen nenne,  und  doch  bilde  es  die  stattliche  Wohnung  der  französischen 
Könige.  Die  Regeln  der  Kunst  anwenden  und  ein  Werk  schaffen ,  das 
gefalle,  sei  zweierlei.  Wenn  Scudery  Corneille  beschuldige,  das  Publikum 
geblendet  und  bezaubert  zu  haben,  so  sei  dies  ein  Vorwurf,  der  viele 
Dichter  stolz  machen  würde.  Corneille  besitze  eben  ein  Geheimnis,  denn 


1)  Dieser  Vorwurf  wird  nur  verständlich,  wenn  man  die  seenischen  Ein- 
richtungen der  damaligen  Bühne  kennt.  Vergl.  den  Abschnitt :  „Die  Bühne  und 
die  Aufführungen". 


382 


er  habe  zwar  die  Regeln  der  Kunst  verletzt,  aber  mehr  geboten,  als 
bloße  Kunst,  und  wenn  der  „Cid"  schuldig  sei.  so  habe  seine  Schuld 
doch  großen  Lohn  geerntet.') 

Die  Akademie,  an  welche  sich  Scudery  ebenfalls  gewandt  hatte,  um 
deren  Urteil  zu  erlangen,  fühlte  sich  weniger  unabhängig  als  Balzac, 
und  geriet  über  das  Ansinnen  Scuderys  in  nicht  geringe  Verlegenheit. 
Denn  einesteils  war  sie  Zeuge  gewesen,  welche  Begeisterung  der  „Cid" 
in  allen  Klassen  des  Publikums  erweckt  hatte  und  einzelne  ihrer  Mit- 
glieder hatten  vielleicht  selbst  seinem  Zauber  nicht  widerstehen  können; 
so  daß  es  schwer,  ja  gefährlich  schien,  sich  gegen  Corneille  auszusprechen. 
Aber  andernteils  wußten  die  Herren  von  der  Akademie  auch  sehr  genau, 
liaß  Richelieu,  ihr  Protektor,  den  „Cid"  verurteilte,  und  sie  waren  nicht 
Willens,  den  Zorn  des  mächtigen  Ministers  wegen  eines  ihnen  immerhin 
fremden  Werks  zu  erwecken.  Ihre  Statuten  boten  ihnen  einen  erwünschten 
Ausweg,  denn  diese  besagten,  daß  die  Akademie  fremde  Werke  nur  mit 
Zustimmung  des  Autors  vor  ihr  Forum  ziehen  dürfe.  Sie  lehnte  also 
Scuderj's  Vorschlag,  über  seinen  Streit  mit  Corneille  zu  urteilen,  einfach 
ab.  Ihre  Verlegenheit  war  indessen  damit  nicht  beseitigt.  Es  stellte  sich 
bald  heraus,  daß  der  Kardinal  ein  Urteil  der  Akademie  über  den  „Cid" 
wünschte  und  Boisrobert  mit  den  dazu  nötigen  Verhandlungen  beauftragt 
hatte.  Dieser  mußte  vor  allem  Corneilles  Einwilligung  erlangen,  daß  der 
litterarische  Prozeß  vor  dem  Gericht  der  Akademie  ausgetragen  werde. 
Aber  der  Dichter  weigerte  sich  lange  Zeit,  auf  diese  Forderung  einzu- 
gehen und  mit  Recht.  Endlich  aber  ließ  er,  von  Boisrobert  bedrängt,  in 
seinem  Unmut  das  Wort  fallen,  die  Herren  von  der  Akademie  möchten 
nach  ihrem  Belieben  handeln,-)  und  diese  wegwerfende  Äußerung  wurde 
von  dem  gewandten  Unterhändler  als  zustimmende  Antwort  aufgefaßt. 
Die  Akademie  hatte  nun  keine  weitere  Ausflucht  mehr,  zumal  Richelieu 
ihr  sagen  ließ,  daß  er  ihr  Urteil  über  den  „Cid"  zu  hören  wünsche  und 
diese  Botschaft  mit  dem  vieldeutigen  Wort  begleitete^  er  werde  ihre  Freund- 
schaft zu  vergelten  wissen.^)  In  dem  Vorwort,  mit  welchem  Corneille  eine 
spätere  Ausgabe  seines   „Cid"   begleitete,    protestiert  er  zwar  gegen  die 


1)  Vergl.  I.  Teil,  S.  113.  Balzacs  Brief,  der  mit  der  Jahreszahl  1638  im 
Druck  erschien,  aber  wol  schon  Ende  1637  ausgegeben  wurde,  war  jedenfalls 
schon  einige  Monate  zuvorgeschrieben.  Es  heißt  darin:  ..„II  n'y  a  point  d'ar- 
chiteete  d'Italie,  qui  ne  trouve  des  defauts  en  la  strueture  de  Fontainebleau  et 
qui  ne  l'appelle  un  monstre  de  pierre:  ce  monstre   neanmoins   est  la   belle   de- 

meure  des  rois  et  la  cour  y  löge  commodement Ce  que  vous  reprochez 

ä  l'auteur  du  Cid,  qui  vous  avouant  qu'il  a  viole  les  regles  de  l'art,  vous  oblige 
de  lui  avouer  qu'il  a  un  secret,  qu'il  a  mieux  reussi  que  l'art  meme...  Ainsi 
vous  Temportez  dans  le  cabinet,  et  11  a  gague  au  theätre.  Si  le  Cid  est  cou- 
pable,  c'est  d'un  crime  qui  a  eu  recompense;  s'il  est  puni,  ce  sera  apres  avoir 
triomphe." 

-)  Brief  CorneUIes  an  Boisrobert  v.  13.  Juni  1637:  „Messieurs  de  l'aca- 
demie  peuvent  faire  ce  qui  leur  plaira ;  puisque  vous  m'ecrivez  que  Monseigneur 
seroit  bleu  aise  d'en  voir  leur  jugement,  et  que  cela  doit  divertir  son  Eminence, 
je  n'ai  rien  ä  dire." 

3)  Nach  Pellisson  sagte  der  Kardinal  zu  seinem  Vertrauten:  „Paites  savoir 
«es  messieurs  que  je  le  desire  et  que  je  les  aimerai  comme  ils  m'aimeront." 


383 


Annahme,  als  habe  er  den  ßichterstuhl  der  Akademie  anerkannt,  allein 
diese  widerstand  dem  Befehl  Richelieus  nicht  länger  und  wählte  im  Sommer 
1637  aus  ihrer  Mitte  eine  Kommission,  welche  den  Streitfall  zunächst 
studieren  und  einen  gründlichen  Bericht  erstatten  sollte.  Diese  Kommission 
wurde  von  den  drei  Akademikern  Bourzey,  Chapelain  und  Desmarets, 
dem  Liebling  des  Kardinals,  gebildet.  Fünf  Monate  vergingen,  bevor  das 
endgiltige  ausführliche  Urteil  von  der  Akademie  festgestellt  wurde.  Die 
Kommission  hatte  freilich  ihren  Bericht  mehrmals  umändern  müssen. 
Der  Kardinal  hatte  sich  die  Arbeiten  vorlegen,  selbst  auf  seinen  Reisen 
nachschicken  lassen,  den  Bericht  der  Kommission  mit  eigenhändigen  Rand- 
glossen versehen  und  sich  zweimal  mit  der  Fassung  desselben  nicht  ein- 
verstanden erklärt.  Einmal  war  ihm  der  Tadel  zu  mild,  ein  andermal 
fand  er  die  Lobsprüche,  welche  Corneille  gespendet  wurden,  übertrieben, 
und  erst  die  Form ,  welche  Chapelain  dem  Urteil  gab ,  fand  seine  Be- 
willigung. Im  Manuskript  gewiß  bald  bekannt,  wurden  die  „Sentiments 
de  l'academie  fran^oise  sur  la  tragicomedie  du  Cid"  erst  im  Jahr  1638 
durch  den  Druck  veröffentlicht. 

Das  Gutachteii  der  gelehrten  Gesellschaft  ist  früher  häufig  als  ein 
Meisterwerk  betrachtet  worden ;  selbst  Voltaire  urteilt  noch  so.  Später 
aber  wurde  die  Akademie  umso  heftiger  deswegen  angegriffen,  und  der 
Hauptvorwurf,  den  man  ihr  bis  auf  die  heutige  Zeit  macht,  gipfelt 
darin,  daß  Corneille  durch  die  strenge  Kritik  irre  gemacht  worden  sei. 
Infolge  dieser  Angriffe  habe  er  die  Bahn  des  freieren  volkstümlichen 
Dramas  verlassen  und  sich  den  strengen  pedantischen  Regeln  unterworfen, 
welche  ihn  zu  dem  allerdings  stilvollen,  aber  steifen  und  dem  Volk  fremden 
klassischen  Schauspiel  hätten  führen  müssen. 

Daß  die  Akademie  unter  dem  Druck  des  mißgünstigen  Kardinals 
arbeitete,  und  diesem  zu  Gefallen  ihr  Urteil  modelte,  darüber  kann  kein 
Zweifel  bestehen.^) 

Keinesfalls  aber  können  wir  zugeben,  daß  es  einen  großen,  be- 
stimmten Einfluß  auf  die  Entwicklung  des  französischen  Dramas  aus- 
geübt hat.  Dies  zu  beweisen,  müssen  wir  die  Arbeit  der  Akademie  etwas 
genauer  betrachten. 

Nach  einer  längeren  gelehrten  Einleitung  wird  betont,  daß  unregel- 
mäßig gebaute  Stücke  immer  nur  zufällig  durch  die  Schönheit  einzelner 
Stellen  gefallen  könnten,  und  dann  werden  die  tadelnden  Bemerkungen 
Scuderys  der  Reihe  nach  vorgenommen  und  geprüft.  Wenn  dieser  Kri- 
tiker beweisen  wollte,  daß  die  Geschichte  des  „Cid"  zu  einer  drama- 
tischen Behandlung  nicht  tauglich  sei,  so  behaupte  er  mehr,  als  er 
beweisen  könne;  aber  er  habe  vollkommen  Recht,  Corneilles  „Cid"  zu 
tadeln,    weil   er   gegen   die  Regeln   der  Wahrscheinlichkeit    verstoße.    In 


1)  Ein  Brief  Chapelains  au  Boisrobert  vom  31.  Juli  1637  ist  charakte- 
ristisch. Chapelain  bittet  darin,  dem  Kardinal  bemerklich  zu  machen,  daß  die 
beste  Manier,  das  Publikum  über  die  Schwäche  des  Cid  aufzuklären,  darin  be- 
stände, daß  man  weniger  wichtige  Teile  des  Dramas  lobe,  dann  werde  die  Aka- 
demie nicht  parteiisch  erscheinen,  nicht  unpopulär  werden  und  ihr  verdam- 
mendes Urteil  umsomehr  Gewicht  haben.  Vergl.  Taschereau,  S.  84. 


384 


einem  Drama  dürften  allerdings  außerordentliche  Ereignisse  geschildert 
werden,  aber  der  Dichter  müsse  sie  so  herbeizuführen  wissen,  daß  der 
Zuschauer  stets  an  die  Möglichkeit  und  die  Wahrheit  derselben  glauben 
könne,  und  das  sei  in  dem  vorliegenden  Drama  nicht  der  Fall.  Die  Aka- 
demie tadelt  ferner,  daß  Chimene  von  dem  Dichter  als  edel  geschildert 
werde,  da  sie  doch  höchst  unedel  handle;  der  Charakter  möge  geschicht- 
lich wahr  sein,  aber  auf  der  Bühne  erscheine  er  als  ungeheuerlich.  Zum 
wenigsten  hätte  Corneille  einen  andern  Schluß  erfinden  sollen.  Es  hätte 
sich  z.  B.  am  Ende  herausstellen  können,  daß  Don  Gormaz  nicht  der  Vater 
Chimenens  wäre,  oder  der  Dichter  hätte  ihn  in  dem  Zweikampf  mit 
ßodrigo  nur  schwer  verwundet  werden  und  wieder  genesen  lassen  sollen. 
Die  Vermählung  Rodrigos  mit  Chimene  hätte  auch  durch  den  Nachweis 
gerechtfertigt  werden  können,  daß  das  Wohl  des  ganzen  Landes  sie  ge- 
bieterisch erheische.  Am  besten  wäre  es  freilich  gewesen,  wenn  Corneille 
die  Dramatisierung  der  spanischen  Sage  gar  nicht  versucht  hätte. 

Scudery  tadle  ferner  mit  Eecht,  daß  Corneille  so  viele  wichtige 
Handlungen  in  den  Zeitraum  von  vierundzwanzig  Stunden  einschließe, 
daß  er  besonders  Chimene  an  dem  Tag,  da  ihr  Vater  gefallen  sei,  in 
die  Heirat  mit  dem  Mörder  willigen  lasse.  (Chimene  willigt,  nebenbei 
gesagt,  nicht  in  die  von  dem  König  vorgeschlagene  Heirat,  aber  es  ist 
klar,  daß  sie  in  einiger  Zeit  einwilligen  wird  und  so  wollen  wir  über 
den  Ausdruck  der  Akademie  nicht  streiten.)  So  handle  kein  anständiges 
Mädchen,  selbst  keine  Person,  die  schon  jedes  Ehrgefühl  und  jede  Mensch- 
lichkeit verloren  habe.  Wenn  Chimene  auf  der  Bühne  gefallen  habe,  so 
sei  das  nicht,  weil  man  ihre  Leidenschaft  edel  gefunden  habe,  sondern 
weil  dieselbe  vortrefflich  ausgedrückt  sei.  Wie  oberflächlich  die  Kritik  der 
Akademie  ist,  beweist  ferner  die  Bemerkung,  daß  der  Besuch  Rodrigos 
bei  Chimene  im  dritten  Akt  nicht  so  tadelnswert  sei,  wie  Scudery  meine; 
es  sei  nur  zu  mißbilligen,  daß  Corneille  seinen  Helden  so  weit  vordringen 
lasse,  da  er  doch  auf  dem  Weg  dahin  von  den  Dienern  des  Hauses  hätte 
aufgehalten  werden  müssen.  Überhaupt  hätte  Rodrigo  am  besten  gethan. 
sich  selbst  das  Leben  zu  nehmen .  wenn  er  seine  That  durch  den  Tod 
sühnen  wollte.  Sein  ganzes  Benehmen  aber  zeige,  daß  sein  Vorsatz  nicht 
sehr  ernst  gemeint  sei.  Auch  darin  giebt  die  Akademie  Scudery  Recht, 
daß  Corneille  die  Technik  des  Theaters  nicht  kenne,  weil  die  Bühne  im 
„Cid"  verschiedene  Orte  vorstelle.  Er  habe  die  Einheit  der  Zeit  gewahrt, 
so  hätte  er  sich  auch  bemühen  sollen,  die  Einheit  des  Orts  zu  beobachten. 
.Freilich  findet  man  diesen  Fehler",  setzt  die  Akademie  hinzu,  „in  den 
meisten  unserer  dramatischen  Dichtungen,  und  es  scheint,  daß  die  Nach- 
lässigkeit der  Dichter  das  Publikum  daran  gewöhnt  hat.')  Schließlich 
geht  die  Akademie  auf  die  einzelnen  sprachlichen  und  grammatischen 
Bemerkungen  Scuderys  ein,  um  dieselben  teils  für  richtig,  teils  für  unbe- 
gründet zu  erklären. 


^)  „II  est  vrai  que  c'est  un  defaut  que  Ton  trouve  en  la  plupart  de  nos 
poemes  dramatiques,  et  auquel  il  semble  que  la  negligence  des  poetes  ait  ac- 
coutume  le  public. 


385 


Mit  dieser  Entscheidung  schien  der  Streit  beendet.  Der  Kardinal 
war  zufrieden  und  Corneille,  der  anfangs  die  Absicht  hatte,  der  Akademie 
zu  antworten,  gab  diesen  Gedanken  auf,  wie  es  scheint,  auf  den  Wunsch 
Richelieus,  der  ihm  immer  noch  aus  seiner  eigenen  Kasse  eine  jährliche 
Pension  von  öOOEcus  auszahlen  ließ.^)  Auch  ließ  Richelieu  seinen  Trabanten, 
Scudery,  Mairet  und  den  anderen,  Schweigen  gebieten.  Nur  der  erstere 
konnte  sich  nicht  gleich  beruhigen;  nachdem  er  Corneilles  Werk  kritisiert 
hatte,  wollte  er  auch  beweisen,  daß  er  es  besser  machen  könne.  Darum 
schrieb  er  im  Jahr  1638  die  Tragikomödie  „L'amour  tyrannique".  in 
welcher  er  das  Thema  von  der  Macht  der  Liebe  in  seiner  Weise  behan- 
delte und  von  der  ganzen  Koterie  mit  gebührenden  Lobsprüchen  ver- 
herrlicht wurde.') 

Aber  gesiegt  hatte  Richelieu  doch  nicht.  Der  „Cid"  blieb  die  Be- 
wunderung, die  Freude  des  französischen  Publikums.  Ausgabe  folgte  auf 
Ausgabe.  Im  Jahr  1637  erschienen  allein  vier  und  bis  zum  Jahr  1644 
zählt  man  deren  schon  neun,  was  für  die  Verhältnisse  jener  Zeit  außer- 
ordentlich viel  ist.  Wie  der  „Cid"  populär  wurde,  wie  er  auf  allen,  selbst 
den  kleinsten  Bühnen  in  Frankreich  dargestellt  wurde,  ist  schon  früher 
geschildert  worden.  Boileau  verurteilte  dreißig  Jahre  später  die  Machina- 
tionen der  Gegner,  als  er  sagte: 

Umsonst  verschwört  sich  ein  Minister  selbst 

Den  Cid  zu  stürzen;  sieht  doch  ganz  Paris 

Nur  mit  Rodrigos  Augen  auf  Chimene; 

Mag  die  Akademie  auch  laut  ihn  tadeln, 

Des  Volks  Bewunderung  bleibt  ihm  umso  sicherer.  3) 

und  dieses  Urteil  ist  geblieben. 

Daß  Corneille  Anfeindungen  solcher  Art  ausgesetzt  war,  ist  am 
Ende  nur  natürlich.  Aber  man  hat  ihnen  unseres  Erachtens  eine  zu 
große  Bedeutung  beigelegt.  Es  wird  erzählt,  Corneille  habe  sich,  tief 
gekränkt  und  an  sich  selbst  irre,  nach  Rouen  zurückgezogen,  einige  Jahre 
lang  geschwiegen  und  dann  mit  seinem  „Horace"  die  Bahn  der  streng 
regelmäßigen  Tragödie  betreten.  Der  Kampf  um  den  „Cid"  bilde  somit 
den  Ausgangspunkt  einer  neuen  Richtung,  und  alle  diejenigen,  welche 
diese  Entwicklung  beklagen ,  haben  der  Akademie  und  Richelieu  die 
Schuld  daran  beigemessen.  Zur  Bekräftigung  dieser  Ansicht  beruft  man 
sich  auf  einen  Brief  Chapelains  an  Balzac  vom  15.  Januar  1631*.  Cha- 
pelain  meldet  darin,  daß  Corneille  seit  drei  Tagen  in  Paris  sei  und  ihn 
aufgesucht  habe,   um  über  das  Urteil  der  Akademie    mit  ihm  zu  reden. 

1)  Pellisson,  Histoire  de  l'academie  franyaise.  Ed.  1743.  T.  I,  p.  12;.!  11', 
Fontenelle,  Vie  de  Corneille,  p.  100  (Ausg.  1767),  Taschereau,  p.  92. 

2)  Über  Scudery  und  dessen  Stück  siehe  S.  285. 

3)  Boileau,  Satire  IX,  v.  239  ff.: 

En  vain  contre  le  Cid  un  ministre  se  ligue, 
Tout  Paris  pour  Chimene  a  les  yeux  de  ßodrigue. 
L'academie  en  corps  a  beau  le  censurer, 
Le  public  revolte  s'obstine  ä  l'admirer. 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Lilteratur.  25 


386 

Er  arbeite  nichts  mehr  und  Scudery  habe  durch  seinen  Streit  dies  wenigstens 
gewonnen  (!),  daß  Corneille  entmutigt  und  seine  poetische  Ader  vertrocknet 
sei.  Halb  spöttisch  erzählt  Chapelain  dann  weiter,  daß  er  versucht  habe, 
den  Dichter  zu  einem  neuen  Werk  zu  ermuntern,  aber  vergebens.  Cor- 
neille spreche  nur  noch  von  den  Kegeln  und  was  er  der  Akademie  hätte 
erwidern  können.  Doch  die  Gesetze  des  Aristoteles  erkenne  er  immer 
noch  nicht  an.^)  Prüfen  wir  die  Verhältnisse  genauer,  werden  wir  ein 
anderes  Ergebnis  finden. 

Allerdings  begab  sich  Corneille  nach  seinem  „Cid"  wieder  nach 
Eouen,  wie  er  dies  auch  früher  öfters  gethan  hatte.  Gewiß  hatte  er  die 
Kränkung,  die  ihm  seine  Gegner  bereiteten,  lebhaft  empfunden;  aber  er 
war  ein  viel  zu  energischer,  seiner  Kraft  bewußter  Geist,  um  sich  so 
leicht  irre  machen  zu  lassen,  wie  ja  Chapelain  selbst  bemerkt.  Es  ist 
nicht  anzunehmen,  daß  der  Dichter,  den  der  Hof  belohnte  und  das 
Publikum  bewunderte,  sich  so  leicht  von  der  Bahn  hätte  abbringen  lassen, 
die  ihn  zu  solchen  Erfolgen  geführt  hatte.  Wir  wissen  zudem,  daß  er 
im  Vollgefühl  seines  Triumphes  schon  im  Jahr  1637  an  seinem  „Horace" 
arbeitete,  und  wenn  er  auch  Chapelain  keine  Mitteilung  von  seinen  Plänen 
machen  wollte,  so  ist  es  doch  gewiß,  daß  er  im  Jahr  1638  diese  Tra- 
gödie vollendete  und  vielleicht  schon  an  „Cinna"  arbeitete.^)  Es  mag 
Politik  von  ihm  gewesen  sein,  daß  er  eine  Zeitlang  nichts  von  sich  hören 
ließ,  um  den  Unwillen  des  Kardinals  zu  beschwichtigen.  Dafür  spricht 
der  Umstand,  daß  er  gerade  Richelieu  seinen  „Horace'"  widmete,  und  in 
der  Zueignung  sagte,  der  Respekt  habe  ihn  bisher  schweigen  lassen 
(,,le  silence  oii  mon  respect  m'a  retenu  jusqu'ä  present")-  Hatte  er  doch 
auch  nach  seiner  „Melle"  längere  Zeit  kein  neues  Werk  unternommen. 
Zudem  darf  man  nicht  vergessen,  daß  Corneille  ein  Amt  in  Ronen  hatte, 
das  ihn,  wie  wir  heute  wissen,  genügend  in  Anspruch  nahm.  Gerade  um 
jene  Zeit  sah  er  sich  durch  die  Ernennung  eines  zweiten  Advokaten  an 
der  „Table  de  marbre"  des  Parlaments  zu  Ronen  in  seinem  Einkommen 
bedroht,  wie  uns  seine  Eingaben  an  den  König  vom  15.  Oktober  1638 
und  vom  3.  Juni  1639  beweisen.  Sein  jüngster  Bruder  Thomas  war  so  weit 
herangewachsen,  daß  seine  Ausbildung  größere  Kosten  verursachte,  und 
gerade  um  diese  Zeit  starb  der  Vater  (12.  Februar  1639).  Ihm,  dem 
ältesten  Sohn,  dem  nunmehrigen  Haupt  der  Familie,  lag  es  daher  ob, 
für  Mutter  und  Geschwister  weiterhin  zu  sorgen.  Rechnet  man  noch  zu 


1)  „II  ne  fait  plus  rien  et  Scudery  a  du  iiioins  gagne  cela,  en  le  que- 
rellant,  qu'il  l'a  rebute  du  metier  et  lui  a  tari  sa  veine ....  Je  Tai,  autant  que 
j'ai  pu,  rechautfe  et  encourage  ä  se  venger  et  de  Scudery  et  de  sa  protectrice 
en  faisant  quelque  nouveau  Cid,  qui  attire  encore  les  suiFrages  de  tout  le  monde 
et  qui  montre  que  l'art  n'est  pas  ce  qui  fait  la  beaute;  mais  il  n'y  a  pas  moyen 
de  l'y  resoudre." 

2)  S.  deu  Brief  von  P.  Corneille  an  ßotrou,  14.  Juli  1637,  also  während 
der  Zeit  der  heftigsten  Angriffe;  Corneille  schreibt  darin  von  der  Freude,  die 
ihm  eine  Reise  zu  ßotrou  nach  Dreux  bereiten  würde,  und  setzt  hinzu:  „Mais 
c'est  un  plaisir  que  je  ne  saurai  avoir  encore  de  lougtemps,  vu  que  je  veux  vous 
moutrer  une  nouvelle  piece  qui  est  loin  d'etre  finie". 


387 

diesen  Hindernissen,  die  sich  seiner  poetischen  Thätigkeit  in  den  Weg 
stellten,  die  Aufregung  hinzu,  welche  einen  jeden  Bewohner  der  Normandie 
ergreifen  mußte,  als  im  Jahr  1639  ein  blutiger  Aufstand  die  Provinz 
und  Ronen  selbst  heimsuchte,  so  wird  es  begreiflich,  warum  Corneille 
erst  im  Jahr  1640  mit  einem  neuen  dramatischen  Werk  hervortrat. 

Zudem  hat  die  Akademie  den  Dichter  nur  im  Vorübergehen  wegen 
der  Vernachlässigung  der  Regeln  getadelt.  Der  Hanptangriff  Scuderys. 
sowie  der  Akademie  richteten  sich,  wie  wir  gesehen  haben,  hauptsächlich 
gegen  die  vermeintliche  Immoralität  des  „Cid"  und  gegen  die  ün Wahr- 
scheinlichkeit der  darin  vorkommenden  Begebenheiten.  Hätte  Corneille 
die  Einheit  der  Zeit  weniger  beachtet,  die  Kritik  wäre  vielleicht  nicht 
ganz  so  scharf  ausgefallen.  Scudery  tadelt  es,  daß  der  „Cid"  zu  viel 
Episoden  habe,  und  die  Akademie  billigt  diesen  Vorwurf,  indem  sie  be- 
merkt, der  Stoff  des  .,Cid"  sei  zu  verworren  und  beschwere  das  Gedächtnis. 
In  diesem  Tadel  birgt  sich  allerdings,  wenn  auch  verhüllt,  doch  deutlich, 
der  Wunsch  nach  jener  nüchternen  „Einheit  der  Aktion",  welche  der 
späteren  Tragödie  so  verderblich  wurde.  Allein  dieser  Wunsch  war  schon 
früher  ausgesprochen  worden,  und  das  Streben  nach  der  regelmäßigen 
Form  einerseits  und  der  Einfachheit  und  Übersichtlichkeit  der  Dichtung 
anderseits  war  schon  vor  dem  „Cid"  stark  zü  Tage  getreten.  Auch  Cor- 
neille bemühte  sich  schon  früher,  in  seinen  Lustspielen,  die  Einheit  der 
Zeit  und  des  Orts  annähernd  zu  wahren.  Sein  „Cid"  ist  schon^  wie  die 
Tragödien  Scuderys  und  Tristans,  in  der  Weise  der  regelmäßigen  Tra- 
gödie angelegt.  Die  Massen  sind  bereits  von  der  Bühne  ausgeschlossen ; 
die  wenigsten  Begebenheiten  spielen  sich  auf  offener  Bühne  ab,  und  die 
einzelnen  Scenen  bewegen  sich  fast  nur  in  Reden  und  Gegenreden.  Bereits 
oben  wurde  darauf  hingewiesen,  wie  eifrig  Corneille  bemüht  war,  die 
üppige  Fülle  des  spanischen  Dramas  zu  beschränken  und  es  der  engeren 
Form  der  französischen  Bühne  anzupassen.  Auch  ohne  den  Spruch  der 
Akademie  wäre  Corneille  in  den  späteren  Stücken  zu  größerer  Regelmäßig- 
keit gelangt;  seine  ganze  vorhergehende  Thätigkeit  läßt  dies  erkennen. 
Auch  hat  er  niemals  Wort  haben  wollen,  daß  die  Akademie  ihn  belehrt 
habe,  und  doch  war  er  immer  offenherzig  und  hat  seine  Fehler  anerkannt. 
In  dem  kritischen  Aufsatz,  mit  dem  er  in  der  Gesamtausgabe  seiner 
Werke  1660  den  „Cid"  begleitete,  rühmt  er  seine  Dichtung  noch  als  die 
glänzendste  und  wirkungsvollste,  die  seit  fünfzig  Jahren  erschienen  sei.^) 
In  derselben  Ausgabe  veröffentlichteer  einige  Aufsätze  über  .die  drei  Ein- 
heiten der  Tragödie,  und  in  dem  ersten  Aufsatz  behauptet  er  aufs  neue, 
daß  man  über  die  Regeln  des  Aristoteles  hinausgehen  dürfe,   wenn  man 


1)  „Examen  du  Cid",  zuerst  in  der  Ausgabe  des  Jahrs  1660.  Darin  heißt 
es:  „Bien  que  ce  seit  celui  de  mes  ouvrages  oii  je  me  suis  permis  le  plus  de 
licence,  il  passe  encore  pour  le  plus  beau  aupres  de  ceux  qui  ne  s'attachent 
pas  ä  la  derniere  severite  des  regles;  et  depais  einquante  ans  qu'il  tient  sa 
place  sur  nos  theätres,  Thistoire  ni  l'effort  de  rimagination  n'y  ont  rien  fait 
voir  qui  en  ait  efface  l'eclat."  Die  Berechnung  der  fünfzig  Jahre  ist  etwas  stark 
übertrieben,  denn  1660  zählte  man  erst  24  Jahre  seit  der  ersten  Aufführung. 
Aber  spricht  so  ein  Dichter,  der  sich  bekehrt  hat? 

25* 


388 


nur  etwas  Großes  schaffe;  und  was  noch  ohne  Vorbild  gewesen  sei,  könne 
später  als  Vorbild  dienen.  An  einer  andern  Stelle  betont  er,  daß  er  niu- 
drei  Stücke,  den  ..Horace",  den  „Pompee"'  und  den  „Polyeucte"',  nach 
den  strengen  Forderungen  der  dramatischen  Gesetze  aufgebaut  habe.  Wo 
bleibt  da  der  als  verhängnisvoll  gebrandmarkte  Einfluß  der  Akademie? 
Es  scheint  uns  erwiesen,  daß  Corneille  niemals  ein  Drama  in  der 
Art  des  spanischen  oder  englischen  geschaffen  hätte.  Langsam,  aber  unauf- 
haltsam bewegte  sich  das  französische  Theater  in  der  Eichtung,  die  zur 
stilvollen  Form  führte ,  und  auch  Corneille  wurde  durch  seine  Natur, 
die  zur  Klarheit  und  logischen  Schärfe  neigte,  auf  diese  Bahn  geführt. 
Die  heftigen  Kämpfe,  in  welche  er  sich  verwickelt  sah,  drehten  sich  doch, 
genau  genommen,  um  kein  entscheidendes  Princip. 


VII. 

Die  Höhezeit  Corneilles. 

(1636—1652.) 

Corneilles  Leben  war  nicht  reich  an  merkwürdigen  Begebenheiten. 
"Weder  bezauberte  er  durch  den  Glanz  einer  hervorragenden  Persönlich- 
keit, noch  zog  er  den  Blick  der  Menschen  durch  eine  abenteuerliche 
Existenz  auf  sich.  Sein  Leben  war  das  eines  friedlichen  Bürgers  seiner 
Zeit.  Die  Mehrzahl  der  Dichter,  die  sich  in  dem  Jahrhundert  vor  ihm 
bemerkbar  gemacht  hatten,  waren  gewissermaßen  aus  ihrem  Kreis  heraus- 
getreten. Marot,  Regnier,  Theophile  und  so  viele  andere  gehörten  mehr 
oder  weniger  zu  der  Klasse  der  genialen  Vagabunden.  Einzelne  Dichter, 
wie  Ronsard  oder  Philippe  Desportes,  mochten  eine  Ausnahme  bilden, 
da  sie  zu  den  herrschenden  Kreisen,  dem  Adel  oder  der  Kirche,  ge- 
hörten. 

Zum  erstenmal  aber  erhob  sich  in  Corneille  ein  großer  Dichter, 
der,  dem  Bürgertum  entstammt,  bürgerlich  lebte  und  trotz  seines  jungen 
Adelsbriefes  seine  bürgerliche  Unabhängigkeit  zu  bewahren  trachtete. 
Seine  Werke  spiegeln  zwar  wesentlich  die  vornehme  Welt  ab,  ja  die 
Ideen  dieser  letzteren  finden  gerade  in  Corneille  einen  begeisterten  Ver- 
treter; aber  unverkennbar  kündigt  sich  ihm  doch  eine  neu  aufsteigende 
Schicht  des  Volkes  an,  das  Bürgertum,  das  seine  Kraft  fühlt  und  sich 
zur  Geltung  zu  bringen  entschlossen  ist. 

Die  bescheidene,  rein  bürgerliche  Existenz  Corneilles  bietet  dem 
Biographen  wenig  Anhaltspunkte,  wenn  er  von  den  Werken  absieht. 
Diese  bilden  die  Hauptmarksteine  seines  Lebens. 

Die  Jahre,  welche  Corneille  nach  dem  Erfolg  seines  „Cid"'  und 
den  heftigen  Kämpfen  um  denselben  zu  Ronen  in  der  Stille  verbrachte, 
gingen  nicht  ungenützt  vorüber.  Entwürfe  zu  neuen  dramatischen  Werken 
beschäftigten  ihn  lebhaft.  Er  griff  nun  auf  die  Welt  des  alten  Rom 
zurück  und  fand  dort  Elemente,  die  seinem  Charakter  ganz  besonders 
zusagten.  Darum  hat  er  auch  den  Stoff  seiner  Stücke  in  den  folgenden 
Jahren  mit  wenig  Ausnahmen  alle  der  alten  Geschichte  entnommen. 
Wiederum  war  es  eine  neue  Weise,  die  er  in  seinen  Römerdramen  ver- 
suchte. Er  arbeitete  zunächst  an  einer  Tragödie,  welche  die  Geschichte 
der  Horatier  und  Curiatier  behandelte,  und  dachte  gleichzeitig  an  ein 
zweites  Schauspiel,  seinen  „Cinna".  Für  die  beiden  Stücke  hatte  er  kein 
Vorbild  und  er  konnte  sie  nach  Gutdünken  ausführen.  Seinen  Gegnern 
jeden   Vorwand    zu  neuen  Angriffen  zu  nehmen,    mag  er  mit  besonderer 


390 


Vorsicht  gearbeitet  haben.  Er  bemühte  sich  offenbar,  die  verlorene  Gunst 
Richelieus  wieder  zu  gewinnen,  und  bequemte  sich  dazu,  seinen  ,,  Horace"' 
vor  der  Aufführung  einem  kleinen  Kreis  von  Kritikern  und  Schöngeistern 
bei  Boisrobert  vorzulesen.  Chapelain,  L'Estoile.  der  Abbe  d'Aubignac. 
der  sich  später  in  seinen  dramaturgischen  Arbeiten  durch  Pedanterie 
hervorthat.  wohnten  nebst  einigen  anderen  dieser  Vorlesung  bei.  Richelieu 
erwies  sich  gnädig  und  ließ  den  „Horace"  auf  seineoi  Haustheater 
im  ., Palais  Cardinal"  zuerst  aufführen.  Es  war  dies  wahrscheinlich 
in  den  ersten  Monaten  des  Jahres  1(340.  Wenigstens  spricht  Chapelain 
in  einem  Brief  an  Balzac  vom  9.  März  1640  von  dieser  Vorstellung  als 
einem  noch  jungen  Ereignis.  Corneille  widmete  sein  Stück  später  dem 
Kardinal  und  sagte  in  der  Zueignung,  daß  er  ihm  alles  zu  verdanken 
habe,  was  er  geworden  sei.  Diese  Schmeichelei  überrascht  uns  umso- 
mehr,  als  wir  in  Corneille  einen  unabhängigen  Charakter  zu  sehen  ge- 
wohnt sind.  Aber  jeder  Mensch  muß  mit  dem  Maß  seiner  eigenen  Zeit 
gemessen  werden,  und  die  überschwenglichen  Ausdrücke,  wie  sie  damals 
in  den  Dedikationen  üblich  waren,  wurden  so  wenig  ernst  genommen, 
wie  die  huldigenden  Schlußformeln  in  den  Briefen  der  heutigen  Zeit. 
Zudem  erscheint  Corneilles  Wort  bei  genauerer  Betrachtung  nicht  ganz 
unbegründet.  Wir  werden  sehen,  daß  kurz  bevor  „Horace"  im  Druck 
erschien,  der  Dichter  nur  auf  des  Ministers  Fürsprache  die  Hand  der 
Geliebten  erhielt,  und  so  dürften  wir  vielleicht  dem  Liebenden  den 
übertriebenen  Ausdruck  der  Dankbarkeit  zu  gute  halten. 

Corneilles  Freund,  Mondory,  stand  nicht  mehr  an  der  Spitze  des 
Theaters  in  Marals.  Als  es  sich  deshalb  darum  handelte,  den  „Horace" 
einem  größeren  Publikum  vorzuführen,  hatte  Corneille  keine  Veranlassung 
mehr,  seine  Dichtung  der  Truppe  des  Marals  anzuvertrauen,  und  er  trug 
sie  zu  den  Schauspielern  des  Hotel  de  Bourgogne, 

Von  dem  Dichter  des  „Cid"  erwartete  man  sich  wieder  ein  Werk, 
das  die  Herzen  in  ähnlicher  Weise  wie  das  frühere  bewegen  und  rühren 
müsse.  Darin  fand  man  sich  allerdings  getäuscht.  Obwol  das  neue 
Drama  in  mancher  Hinsicht  reifer  und  vollendeter  erschien  als  der 
„Cid",  errang  es  doch  bei  weitem  nicht  seinen  Erfolg.  Corneille 
sagt  geradezu,  es  sei  durchgefallen,^)  und  wenn  dieser  Ausdruck  auch 
zu  stark  ist,  so  erzielte  „Horace"  doch  höchstens,  was  wir  heute  einen 
Achtungserfolg  nennen.  Daß  dem  so  kam,  ist  nur  natürlich.  Das  Publikum 
fand  sich  einer  ihm  fremden  Welt  gegenüber,  und  die  Vorgänge,  welche 
die  Tragödie  schilderte,  waren  nicht  geeignet,  Begeisterung  zu  erwecken. 
Corneille  behandelte  in  seinem  „Horace"  die  von  Livius  erzählte  be- 
kannte Geschichte  von  dem  Kampf  der  Horatier  und  Curiatier.  Für  eine 
Welt,  in  der  solche  Vorgänge  möglich  sind,  kann  man  sich  nicht  er- 
wärmen. Ein  Konflikt  zwischen  der  Liebe  zur  Familie  und  der  Vater- 
landsliebe könnte  sich  allerdings  tragisch  gestalten.  Allein  er  müßte, 
wie  in  jeder  wahren  Tragödie,  unabwendbar  erscheinen,  sich  den  han- 
delnden Personen  mit  Notwendigkeit  aufdrängen.  Das  aber  ist  in  „Horace" 


Siehe  sein  „Examen  d'Horace". 


391 


nicht  der  Fall;  mit  etwas  Menschlichkeit  in  dem  Eat  der  Römer  und 
Albaner  müßte  man  leicht  eine  andere  Wahl  treffen  können,  und  das 
Gefühl,  daß  der  Konflikt  nur  durch  barbarische  Willkür  herbeigeführt 
wird,  kann  nicht  anders  als  kältend  auf  den  Zuschauer  wirken. 

Zudem  zerfällt  ..Horace"  in  zwei  fast  selbständige  Dramen.  Das 
erste  schildert  die  Gefahr  Roms,  die  patriotische  Opferfreudigkeit  der 
Horatier  und  den  durch  sie  erfochtenen  Sieg ;  der  zweite  Teil  dagegen 
enthält  die  Gerichtsverhandlung  über  einen  Schwestermord  und  hängt 
mit   dem  Vorhergehenden  nur  lose  zusammen. 

Jener  erste  Teil,  welcher  die  Tragödie  bis  zur  Hälfte  des  vierten 
Aufzugs  umfaßt,  ist  in  seinem  knappen  Bau,  seiner  steten  dramatischen 
Steigerung  vortrefflich.  Es  geht  durch  sie  ein  Zug  gewaltiger  Größe, 
und  der  zweite  und  dritte  Aufzug  besonders  gehören  zu  dem  Besten, 
was  Corneille  gedichtet  hat.  Nehmen  wir  einmal  die  Art  der  französi- 
schen Tragödie  als  gegeben  hin.  so  müssen  wir  anerkennen,  daß  wenig 
Scenen  in  ihrer  Einfachheit  wirksamer  sind  als  dieser  Teil  des  „Horace". 

Der  erste  Akt,  der  als  Exposition  vielleicht  etwas  lang  ist.  ver- 
setzt uns  in  die  qualvollen  Momente  der  Ungewißheit,  der  peinlichen 
Aufregung  von  der  Entscheidungsschlacht,  die  nach  zweijährigem  Krieg 
endlich  die  Geschicke  Roms  und  Albas  bestimmen  soll.  Der  Dichter  führt 
uns  weder  in  das  Feldlager,  noch  auf  den  Marktplatz;  er  zeigt  uns 
weder  die  Soldatenhaufen  noch  den  Rat  der  Feldherren  und  Staats- 
männer; er  zeigt  nur  die  Rückwirkungen  der  großen  Begebenheiten  auf 
eine  einzelne  Familie.  Aber  indem  er  uns  in  das  stille  Haus  des  Ho- 
ratius  führt  und  die  Verwüstung  zeigt,  die  der  Krieg  hier  anrichtet, 
öffnet  er  doch  den  Blick  auf  das  Allgemeine. 

So  schildert  der  Maler  in  einem  kleinen  Gemälde,  das  ein  von  den 
Feinden  verwüstetes  Haus  und  die  im  Widerstand  gefallenen  Bewohner 
darstellt,  die  Schrecken  des  Kriegs  vielleicht  ergreifender  als  ein  anderer, 
der  auf  breiter  Leinwand  ganze  Regimenter  malt,  wie  sie,  in  Pulver- 
dampf gehüllt,  in  gewaltigem  Stoß  aufeinander  prallen.  Corneille  und  mit 
ihm  die  klassische  Tragödie  handelt  nicht  anders.  Sie  beschränkt  sich, 
um  desto  sicherer  zu  wirken. 

Im  ersten  Akt  des  „Horace"  lernen  wir  zunächst  die  Frauen  der 
Familie  kennen.  Sabina,  die  Gattin  des  Horatius  und  die  Schwester  der 
Curiatier,  klagt  ihr  Leid,  denn  wie  der  Krieg  auch  enden  mag,  sie  sieht 
nur  Trauer  für  sich  voraus,  da  ihr  Herz  geteilt  ist.  Auf  welche  Seite 
auch  der  Sieg  sich  neigen  möge,  sie  bewahrt 

.,Die  Thränen  den  Besiegten,  und  den  Haß 
Den  Siegern."  i) 

Wie  sie,  ist  Camilla,  des  Horatius  Schwester,  von  banger  Un- 
gewißheit gequält,  denn  auch  ihr  Herz  ist  zwischen  Römern  und  Albanern 
geteilt,  da  sie  mit  einem  der  Curiatier  verlobt  ist.  Der  Kampf  zwischen 
den  beiden  Städten    ist   fast    ein  Bruderkrieg.    Ein  Orakel,  das  Camilla 


Horace  I,  1,  M: 

Mes  larmes  aux  vaincus  et  ma  haine  aux  vainqueurs 


392 


Frieden  und  Vereinigung  mit  Curiatius  verheißt,  flößt  ihr  allerdings 
Zuversicht  und  Mut  ein.  Ihre  Hoffnung  scheint  sich  zu  bestätigen,  als 
ihr  Bräutigam  selbst  erscheint.  Camilla  zeigt  hier  eine  schöne  mensch- 
liche Xatur.  Sie  wähnt  im  ersten  Augenblick,  Curatius  habe  seine  Lands- 
leute heimlich  verlassen.  Obwol  sie  diesen  Schritt  nicht  billigen  könnte, 
sucht  sie  ihn  doch  zu  entschuldigen.  Allein  Curatius  hatte  seine  Pflicht 
nicht  verletzt,  er  bringt  nur  die  Kunde,  daß  zwischen  den  beiden  Heeren 
ein  Waffenstillstand  abgeschlossen  sei  und  man  sich  geeinigt  habe,  den 
Zwist  der  beiden  Völker  durch  einen  Zweikampf  zu  entscheiden.  Im 
zweiten  Aufzug  hören  wir,  daß  die  drei  Horatier  als  Vorkämpfer  für 
Rom  erkoren  sind;  Sabinens  Gatte  zeigt  sich  als  Held  und  Mann.  Ei- 
lst stolz  auf  die  Ehre,  die  man  ihm  erwiesen,  aber  er  bleibt  bescheiden 
und  ruhig.  Einfach  und  ohne  große  Worte  spricht  er  zu  Curatius  von 
seiner  Absicht  zu  siegen  oder  zu  sterben.  Da  bringt  ein  Bote  die  Mel- 
dung, daß  von  Seiten  der  Albaner  die  drei  Curiatier  zum  Kampf  be- 
stimmt seien,  und  die  Lage,  die  eben  noch  so  hoffnungsreich  schien, 
wird  mit  einem  Male  furchtbar.  Die  Aussicht,  mit  den  Schwägern  auf 
Tod  und  Leben  kämpfen  zu  müssen,  entsetzt  Curiatius.  der  sich  bei 
aller  Tapferkeit  ein  menschlich  fühlendes  Herz  bewahrt  hat.  Umso 
schroffer  äußert  sich  der  Kömer,  dessen  Gemüt  solche  Anwandlungen 
von  Schwäche  nicht  kennt.  Klar  wie  Krystall,  aber  auch  so  hart  und 
scharf  sind  seine  Worte.  Von  seinem  Land  zum  Kampf  bestimmt,  blickt 
er  nicht  vorwärts  und  nicht  rückwärts.  Daß  ihm  ein  schweres  Opfer 
auferlegt  wird,  kann  seinen  Ruhm  nur  erhöhen.  Er  wird  beweisen,  daß 
sein  Vaterland  ihm  über  alles  geht. 

„Dem  Vaterlande  opfern,  was  uns  teuer, 
In  einem  andern  Selbst  uns  zu  bekämpfen; 
Dem  Feinde  trotzen,  den  der  Gattin  Bruder 
Verteidigt  und  der  Bräutigam  der  Schwester; 
Zerreißen  diese  Bande,  für  sein  Land 
Sich  waffnen  gegen  ein  Geschlecht,  für  das 
Man  willig  selbst  sein  Leben  geben  möchte. 
Gewiß,  nur  uns  ward  solche  Kraft  verlieh'n!^  i) 

In  diesem  Sinn  geht  er  frisch,  fast  heiter  zum  Kampf. 

,.Piom  hat  gewählt,  ich  prüfe  ferner  nicht. 

So  leichten  Herzens,  als  ich  einst  die  Schwester 

Gefreit,  werd'  ich  den  Bruder  jetzt  bekämpfen. 

Genug  darum  der  überflüss'gen  Rede  — 

Alba  ruft  Euch,  ich  kenne  Euch  nicht  mehr.^j" 


1)  Horace,  II,  3,  31  ff.: 

Mais  vouloir  au  public  immoler  ce  qu'on  aime, 
S'attacher  au  combat  contre  un  autre  soi-meme, 
Attaquer  un  parti  qui  prend  pour  defenseur 
Le  frere  d'une  femme  et  Tamant  d'une  soeur, 
Et  rompant  tous  ces  noeuds,  s'armer  pour  la  patrie 
Contre  un  sang  qu'on  voudroit  racheter  de  sa  vie, 
üne  teile  vertu  n'appartenoit  qu'ä  nous. 

2)  Horace,  II,  3,  75: 


393 


Deshalb  aber  brauche  kein  Haß  sie  zu  entzweien,  meint  ei-,  und 
solle  er  von  der  Hand  der  Curiatier  fallen,  so  bitte  er  seine  Schwester, 
sie  möge  nicht  um  ihn  klagen,  sondern  dem  Sieger  die  Hand  reichen. 
Anders  geartet  ist  Curiatius.  Auch  er  hat  keinen  Augenblick  gezögert, 
sein  Glück  dem  Wohl  des  Vaterlands  zu  opfern.  Aber  sein  Fühlen 
zeigt  sich  edler  und  reiner.  Er  wird  seine  Pflicht  thun,  aber  nur  mit 
Trauer.  Er  ahnt  das  Weh,  das  ihm  und  den  Seinen  bevorsteht,  seine 
Seele  ist  traurig  und  resigniert.  Darum  giebt  er  auf  jenes  harte  Wort 
seines  Schwagers:   „Ich  kenne  Euch  nicht  mehr",  die  rührende  Antwort : 

Ich  kenn'  Euch  noch;  das  ist  es,  was  mich  tötet,i) 
wie  er  ihm  schon  zuvor  gesagt  hatte: 

„Es  birgt  sich  Barbarei  in  dieser  Kraft. 


Ein  dunkel  Leben  gilt  mir  mehr  als  solch 
Ein  Euhm."2) 


Die  Scene  belebt  sich  nun.  Die  Frauen  eilen  auf  die  Schreckens- 
kunde herbei,  den  starren  Sinn  der  Männer  zu  erweichen  und  den  Kampf 
zu  verhindern.  Aber  umsonst.  Selbst  der  greise  Vater  Horatius  unter- 
drückt jede  Eührung  und  hat  nur  Worte  der  Ermunterung,  ja  der  Un- 
geduld : 

„Verliert  Ihr  Eure  Zeit  mit  Weibern  noch? 

Bestimmt  zu  blut'gem  Kampfe,  laßt  Ihr  Euch 

Von  Thränen  rühren?"  ^j 

Der  dritte  Aufzug  steigert  noch  die  Spannung.  Mit  welcher  Angst 
müssen  die  Frauen,  die  der  greise  Horaz  im  Haus  zurückhält,  den  Nach- 
richten von  dem  entsetzlichen  Kampf  entgegensehen.  Corneille  zeigt  hier, 
welche  Fortschritte  er  in  der  Technik  des  Dramas  gemacht  hat.  Noch 
einmal  leuchtet  die  Hoffnung  auf  Abwendung  des  Unglücks,  da  es  heißt, 
die  beiden  Heere  hätten  die  empörende  Gegenüberstellung  der  nahe  ver- 
wandten Männer  nicht  geduldet;  aber  nur  zu  bald  meldet  der  Vater, 
daß  der  Kampf  doch  begonnen  habe,    und    nicht    lauge,    so  kommt  die 


Eome  a  choisi  mon  bras,  je  n'examine  rien: 
Avec  une  allegresse  aussi  pleine  et  sincere 
Que  j'epousai  la  soeur,  je  combattrai  le  frere; 
Et  pour  trancher  enfin  ces  discours  superflus, 
Albe  nous  a  nomme,  je  ne  vous  connois  plus. 

M  Horace,  II,  3,  81: 

Je  vous  connois  encore,  et  c'est  ce  qui  me  tue. 
^)  Horace,  II,  3,  34: 

Mais  votre  fermete  tient  un  peu  du  barbare : 

L'obscurite  vaut  mieux  que  tant  de  renommee. 
3)  Horace,  II,  7,  1: 

Qu'est-ce-ci,  mes  enfants?  Ecoutez-vous  vos  flammes, 
Et  perdez-vous  encor  le  temps  avec  des  femmesV 
Prets  ä  verser  du  sang,  regardez-vous  des  pleursV 


394 


vernichtende  Kunde  von  der  Niederlage  Roms.  Zwei  Horatier  sind  ge- 
fallen, der  dritte,  Sabinens  Gatte,  hat  sich  zur  Flucht  gewendet.  Der 
Greis  ist  außer  sich.  Sein  Sohn  hat  ihn  entehrt,  und  er  gelobt,  dem 
Feigen  mit  eigener  Hand  den  Tod  zu  geben.  Vergebens  sucht  man  ihn 
zu  besänftigen.  Was  hätte  er  der  Übermacht  gegenüber  thun  sollen? 
fragt  man  ihn.  „Sterben!"  ruft  der  Greis,  und  das  heroische  Wort,  das 
in  seiner  Furchtbarkeit  erschütternd  wirkt,  bildet  wol  den  Höhepunkt 
der  Tragödie.^) 

In  dieser  verzweifelten  Stimmung  schließt  der  dritte  Akt.  Die  Tra- 
gödie des  17.  Jahrhunderts  ließ  zwischen  den  einzelnen  Akten  nur  sehr 
kurze  Unterbrechung  eintreten,  und  um  den  Zusammenhang  deutlicher 
zu  machen,  den  Vorhang  nicht  einmal  fallen.-)  Daher  kann  es  nicht 
überraschen,  daß  der  Vater  von  dem  wirklichen  Ausgang  des  Kampfes 
beim  Beginn  des  vierten  Aufzugs  noch  nichts  weiß.  Umso  größer  ist 
seine  Überraschung,  als  ihm  Valere,  der  im  Auftrag  des  Königs  kommt, 
in  beredter  Erzählung  den  Sieg  Roms  berichtet.  Das  bittere  Gefühl  ver- 
wandelt sich  in  Entzücken,  und  der  Ausbruch  der  Freude  des  alten 
Mannes  ist  hinreißend : 

0  Sohn!  0  Lust!  Du  Ehre  meines  Alters! 

Du  unverhoiFte  Stütze  Deines  Lands! 

0  röm'sche  Kraft!  Du  echter  Sohn,  Horaz! 

Du  hast  Dein  ganz"  Geschlecht  mit  Ruhm  verklärt! 

Wann  kann  ich  Dich  in  meine  Arme  schließen  ? 

Abbitten,  was  ich  gegen  Dich  empfunden. 

Und  Deine  Siegerstirn  mit  Thränen  netzen! 3) 

Während  der  ganzen  Scene,  und  besonders  während  der  Erzäh- 
lung Valeres,  ist  Camilla  zugegen.  Ihr  Blick  hängt  an  dem  Mund  des 
Berichtenden,  ihre  steigende  Angst  drückt  sich  deutlich  in  ihrer  Hal- 
tung, auf  ihrem  Gesicht  aus,  bis  endlich  das  verhängnisvolle  Wort,  daß 
ihr  Bräutigam  unter  dem  Schwert  ihres  Bruders  gefallen  ist,  ihr  einen 
Schrei  der  Verzweiflung  auspreßt.  Aber  der  große  Schmerz  macht  stumm  ;^) 


1)  Horaee,  III,  6,  29: 

Julie : 
Que  vouliez-vous  qu'il  fit  contra  troisV 
Le  vieil  Horaee 

Qu'il  mourüt. 
-)  Seit  einiger  Zeit    hat    man    in  Paris    bei  der  Aufführung    klassischer 
Dichtungen  diesen  Gebrauch  wieder  aufgenommen. 
3)  Horaee,  IV,  2,  69: 

0  mon  fils,  ö  ma  joie!  6  Thonneur  de  nos  jours! 
0  d'un  Etat  penchant  l'inespere  secours! 
Vertu  digne  de  Rome,  et  sang  digne  d'Horace 
Appui  de  ton  pays,  et  gloire  de  ta  race! 
Quand  pourrai-je  etouffer  dans  tes  embrassements 
L'erreur  que  j'ai  forme  de  si  faux  sentiments? 
Quand  pourra  mon  amour  baigner  avec  tendresse 
Ton  front  victorieux  de  larmes  d'aliegresse  ? 
•*)   Vergl.  Corneilles  „Pertharite",  III,  3,  95: 

Les  plus  grands  deplaisirs  sont  les  moins  eclatants. 


395 

auch  Camilla  findet  keine  Worte,   selbst  nicht  dem  Vater  gegenüber,  der 
sie  vergebens  beruhigen  will : 

Es  ist  nicht  recht,  ob  eig'nem  Leid  zu  weinen, 
Wenn  es  des  Vaterlandes  Sieg  begründet...^) 

sagt  er  und  meint,  ein  Verlobter  sei  ja  nicht  unschwer  zu  ersetzen.  Sie 
möge  sich  fassen  und  den  Bruder  mit  echt  römischem  Sinn  empfangen. 
Camilla  denkt  anders.  In  einem  etwas  langen,  vielleicht  auch  etwas 
zu  deklamatorischen  Monolog  macht  sie  ihrem  Herzen  Luft,  sobald  sie 
sich  allein  sieht.  In  der  Ironie  der  Verzweiflung  ruft  sie  ihm  nach : 

Er  soll  es  seb'n,  daß  ich  entartet  bin, 
Unwert  des  Vaters,  der  so  festen  Sinns, 
Unwert  des  edlen  Bruders!-) 

Und  als  dann  Horaz  in  das  Haus  des  Vaters  heimkehrt,  begleitet 
von  einem  Krieger,  der  die  Schwester  der  drei  Curiatier  als  blutige  Tro- 
phäe vor  ihm  herträgt,  als  Horatius  im  Rausch  des  Siegs  seine  Schwester 
zur  Huldigung  auffordert,  da  bricht  ihr  Zorn  in  hellen  Flammen  aus. 
Sie  begrüßt  nicht  den  Sieger,  sondern  sie  beklagt  den  Toten ;  sie  tritt 
Horatius  wie  eine  Rachegöttin  entgegen,  flucht  ihm  und  ihrer  Vater- 
stadt Rom : 

Mög'  solch  ein  Leid  Dein  Leben  einst  verdüstern, 

Daß  Du  nach  meinem  Los  noch  neidisch  blickst! 

Mögst  Du  durch  feige  That  den  Ruhm  besudeln. 

Der  Deinem  wilden  Herzen  teuer  ist. 


0  Rom,  Du  einz'ger  Zielpunkt  meines  Hasses ! 

Rom,  das  mir  den  Geliebten  jetzt  geraubt! 

Rom,  Deine  Wiege,  Deines  Herzens  Stolz, 

Rom.  das  ich  hasse,  weil  es  Dich  verehrt! 

Die  Nachbarvölker  mögen  sich  verbünden, 

Um  Dich  zu  stürzen  auf  dem  schwanken  Grund ! 

Und  wenn  die  Macht  Italiens  nicht  genügt, 

Vereine  sich  der  Orient  mit  dem  Abend, 

Und  über  Berge,  über  Meere  ziehen 

Zahllose  Völker  her  von  allen  Enden 

Zu  seinem  Fall!   Im  Bürgerkrieg  zerfleische 

Die  Stadt  sich  selbst  und  breche  ihre  Mauern! 

Ich  ruf  den  Zorn  des  Himmels  her  auf  sie. 

Damit  ein  Feuerregen  sie  zerstöre! 

Könnt'  ich  den  Blitz  doch  niederfahren  sehen, 

Der  sie  in  Asche  legt'  und  Deinen  Lorbeer! 

Könnt'  ich,  die  Schuld  all  dieses  Unglücks  tragend, 


1)  Horace,  IV,  3,  3: 

On  pleure  injustement  des  partes  domestiques, 
Quand  on  en  voit  sortir  des  victoires  publiques. 

2)  Horace,  IV,  4,  45  : 

Degenerons,  mon  coeur,  d'un  si  vertueux  pere; 
Soyons  indigne  soeur  d'un  si  genereux  frere! 
C'est  gloire  de  passer  pour  un  coeur  abattn, 
Quand  la  brutalite  fait  la  haute  vertu. 


396 


Des  letzten  Römers  letzten  Atemzug 
Vernehmen  und  dann  glücklich  sterben!  i) 

Der  wilde  Fluch  raubt  Horatius  jede  Besinnung.  Seiner  selbst  nicht 
mehr  mächtig,  zieht  er  sein  Schwert  und  stürzt  auf  die  Schwester  los. 
Diese  flieht  und  wird  von  dem  Käsenden  hinter  der  Scene  getötet. 

Damit  wird  die  rauhe  Größe  des  römischen  Patrioten,  die  schon 
zuvor  manchmal  verletzte,  zur  Barbarei,  und  Horatius,  der  zwar  nicht 
unsere  Sympathien  erwerben  konnte,  der  aber  doch  eine  gewisse  kühle, 
mit  Grauen  gemischte  Bewunderung  erregte,  wird  jetzt  zum  Mörder. 
Wenn  uns  auch  die  Tragödie  zeigen  soll,  wie  der  Mensch  durch  eigene 
Schuld  untergeht,  so  darf  sein  Fehler  doch  nicht  derart  sein,  daß  wir 
uns  von  dem  Schuldigen  mit  Gleichgiltigkeit  oder  Verachtung  abwenden. 
Selbst  ein  Verbrecher  wie  Richard  III.  vermag  uns  zu  fesseln,  weil  er 
in  seinen  TJnthaten  Kraft  und  überlegenen  Geist  an  den  Tag  legt  und 
wir  ihn  wol  verabscheuen .  aber  nicht  für  einen  gewöhnlichen  Mörder 
halten  können.  Horatius  dagegen  verliert  durch  den  Mord  seiner  Schwester 
unsere  Teilnahme:  er  sinkt  zum  rohen  Gladiator  herab.  Zudem  beginnt 
mit  Caraillas  Untergang  ein  anderes,  für  sich  bestehendes  Drama.  Die 
Gerichtsverhandlung  des  fünften  Aufzugs  behandelt  einen  neuen  Kon- 
flikt, der  sich  aber  keineswegs  um  ein  großes  Princip  dreht.  Man  mag 
darauf  hinweisen,  daß  der  Vater  Horatius  der  eigentliche  Träger  des 
Stücks  sei  und  damit  seine  einheitliche  Komposition  zu  wahren  ver- 
suchen, der  Schlußakt  bleibt  doch  eine  Zuthat,  die  trotz  des  Talents, 
mit  welchem  Corneille  die  einzelnen  Reden,  besonders  die  des  Vaters, 
behandelt  hat,  keinen  Eindruck  macht.  Ein  Held,  der  sein  Vaterland 
gerettet,    dann  durch  eine  schwere  Blutthat  sich  befleckt  hat,    wird  mit 


^)  Horace,  IV,  5,  41 : 

Puissent  taut  de  malheurs  accompagner  ta  vie, 
Que  tu  tombes  au  point  de  me  porter  envie; 
Et  toi,  bientöt  souiller  par  quelque  lächete 
Cette  gloire  si  chere  ä  ta  brutalite. 

Rome,  l'unique  objet  de  mon  ressentiment! 

Rome,  ä  qui  vient  ton  bras  d'immoler  mon  amant! 

Rome,  qui  t'a  vu  naitre,  et  que  ton  coeur  adore, 

Rome  enfin  que  je  hais  parce  qu'elle  t'honore! 

Puissent  tous  ses  voisins  ensemble  conjures 

Saper  ses  fondements  encore  mal  assuresi 

Et  si  ce  n'est  assez  de  toute  l'Italie, 

Que  rOrient  contre  eile  ä  TOccident  s'allie; 

Que  cent  peuples  unis  des  bouts  de  l'univers 

Passent  pour  la  detruire  et  les  monts  et  les  mers; 

Qu' elle-meme  sur  soi  renverse  ses  murailles, 

Et  de  ses  propres  mains  dechire  ses  entrailles ! 

Que  le  courroux  du  ciel  allume  par  mes  voeux 

Fasse  pleuvoir  sur  eile  un  deluge  de  feuxl 

Puisse-je  de  mes  yeux  y  voir  tomber  ce  foudre, 

Voir  ses  maisons  en  cendre,  et  tes  lauriers  en  poudre, 

Voir  le  dernier  Romain  ä  son  dernier  soupir, 

Moi  seule  en  etre  cause,  et  mourir  de  plaisir! 


397 


Kecht  von  seinen  Richtern  milde  beurteilt,  aber  indem  sie  ihn  begna- 
digen, rauben  sie  ihm  den  Rest  der  Teilnahme.  Ein  Mörder,  der  durch 
königliche  Gnade  von  der  verdienten  Strafe  befreit  wird,  ist  kein  Held 
mehr,   wenn  er  auch  große  Thaten  vollbracht  hat. 

In  der  Selbstkritik,  mit  der  er  die  Ausgabe  seiner  Stücke  später 
einleitete,  hat  Corneille  mit  der  ilim  eigenen  Offenheit  diese  Fehler  in 
„Horace"  anerkannt.  Trotz  derselben  wird  man  diese  Tragödie  stets  zu 
den  schönsten  Blüten  der  französischen  Poesie  rechnen.  Welches  drama- 
tische Werk  ist  überhaupt  so  vollkommen,  daß  es  nicht  Raum  ließe  zu 
kritischen  Bemerkungen  ? 

Wenn  „Horace"  bei  den  ersten  Aufführungen  weniger  gefiel,  weil 
das  Publikum  mit  anderen  Erwartungen  gekommen  war,  so  erwarb  er 
mit  der  Zeit  immer  größeren  Beifall  und  blieb  zwei  Jahrhunderte  lang 
ein  Lieblingsstück  der  Gebildeten,  denn  er  ist  niemals  ganz  von  dem 
Repertoire  der  französischen  Bühne  geschwunden. 

Wenn  aber  Corneille  die  Schwächen  seiner  Tragödie  selbst  an- 
erkannte, so  war  er  doch  nicht  willens,  sie  gegenüber  den  obgenannten 
Kritikern,  welchen  er  sie  vorlas,  gelten  zn  lassen.  So  weit  wollte  er  sich 
nicht  demütigen.  Er  wollte  ihnen  eine  Ehre  erweisen,  aber  sich  nicht  von 
ihnen  meistern  lassen.  Und  doch  hatten  sie  diesmal  Recht,  denn  sie  er- 
hoben hauptsächlich  gegen  den  fünften  Akt  Einwendung.  Die  Art  frei- 
lich, wie  sie  bessern  wollten,  bewies  nur  ihre  geistige  Armut.  Der  Abbe 
d'Aubignac  meinte  in  seiner  Weisheit,  Camilla  könne  sich  ja  durch  einen 
unglücklichen  Zufall  selbst  in  das  Schwert  des  Bruders  stürzen  und  so 
die  Schuld  des  Horatius  vermindern.  Überhaupt  sei  ein  Prozeß  in  solchem 
Fall  den  Gefühlen  des  französischen  Adels  nicht  entsprechend,  und  Va- 
lere,  der  Camilla  liebt  und  nach  deren  Tod  als  Ankläger  des  Mörders 
auftritt,  hätte  die  Erschlagene  mit  dem  Schwert  rächen  sollen.^)  Cor- 
neille antwortete  darauf,  daß  er  ja  Römer  und  keine  Franzosen  habe 
schildern  wollen.^)  Zudem  hätten  die  Gegner  nicht  verfehlt,  aufs  neue 
über  die  Verherrlichung  des  Duells  zu  klagen.  Lief  doch  bereits  das 
Gerücht  um,  man  bereite  einen  neuen  litterarischen  Feldzug  gegen  Cor- 
neille vor. 

Wie  aber  auch  die  Absichten  der  noch  immer  rührigen  Gegner 
des  Dichters  sein  mochten,  sie  wurden  vereitelt,  noch  ehe  sie  zur  Aus- 
führung reif  waren.  Eine  neue  Dichtung  Corneilles  folgte  dem  „Horace" 
auf  dem  Fuß  und  erregte  einen  Enthusiasmus,  der  an  den  Erfolg  des 
„Cid"   erinnerte. 

Dieses  neue  Schauspiel  war   ..Cinna". 


ij  D'Aubignac,  Pratique  du  theätre,  page  433  und  436:  „Un  coup  de 
fureur  seroit  plus  conforme  ä  la  generosite  de  notre  noblesse,  qu'une  actiüu  de 
chieane  qui  tient  un  peu  de  la  lachete  et  que  nous  haissons-*.  —  Im  Druck  er- 
schien „Horace"  erst  1641,  weil  CorneiUe  durch  diese  Verzögerung  seine  Ein- 
nahmen erhöhte.  Chapelain,  der  einige  Tausend  Livres  Pension  von  dem  Herzog 
von  Longueville  bezog,  fand  solches  Vorgehen  anstößig  und  sprach  in  einem 
Brief  an  Balzac  von  den  „poetes  mercenaires"!" 

2)  Examen  d'Horace. 


398 

^Horace"  war,  wie  schon  gesagt,  im  Frühling  1640  zum  ersten- 
mal aufgeführt  worden,  ,.Cinna"  folgte  ihm  wahrscheinlich  schon  im 
Herbst  darauf.^) 

Im  Jahr  zuvor  war  der  Aufstand  der  Va-nu-pieds  in  der  Normandie 
in  Strömen  von  Blut  erstickt  worden.'-^)  Die  Stadt  Rouen  selbst  hatte 
schwer  unter  der  Strenge  Richelieus  zu  leiden.  Sie  mußte  über  eine  Mil- 
lion Livres  Kontribution  zahlen,  der  Gemeinderat  wurde  aufgelöst,  und 
die  Thätigkeit  des  Parlaments,  das  nicht  die  gewünschte  Strenge  gezeigt 
hatte,  suspendiert. 

Corneille,  der  Advokat  bei  dem  Parlament  war,  sah  sich  durch  die 
strengen  Maßregeln  ebenfalls  berührt,  und  unter  den  Männern,  welche 
der  Justiz  Richelieus  zum  Opfer  fielen,  mögen  Freunde  und  Bekannte  des 
Dichters  gewesen  sein.  In  dieser  für  seine  Heimat  so  trüben  Zeit  oder 
bald  nachher  entstand  der  „Cinna",  der  das  Bild  einer  Verschwörung 
gegen  den  Kaiser  und  dessen  Milde  gegen  die  Schuldigen  entrollte.  Man 
hat  neuerdings  auf  den  möglichen  Zusammenhang  zwischen  den  Vorgängen 
in  der  Normandie  und  Corneilles  „Cinna"  hingewiesen  und  die  Frage 
aufgeworfen,  ob  der  Dichter  nicht  durch  das,  was  er  selbst  erlebt  hatte. 
zu  seinem  dramatischen  Werk  angeregt  worden  sei,  und  ob  er  nicht 
vielleicht  indirekt  einen  Appell  an  Richelieus  Milde  habe  richten  wollen.^) 

Der  Gedanke  hat  etwas  für  sich.  Und  doch  verleiten  uns  mehr 
unsere  modernen  Anschauungen  als  Äußerungen  Corneilles  selbst,  diese 
Ideenverbiudung  bei  dem  Dichter  vorauszu^tzen.  Für  ihn  konnte  sich 
zwischen  der  Revolte  der  armen  Bauern  und  der  Verschwörung  der 
römischen  Aristoki-atie  kaum  ein  Vergleichungspunkt  ergeben.  Mit  noch 
größerem  Recht  dürfte  man  annehmen,  der  Kampf  der  französischen 
Großen  gegen  die  erstarkende  Macht  des  Königtums  habe  ihm  die  An- 
regung zu  seinem  Schauspiel  gegeben.  Denn  dieser  Widerstand  führte  zu 
jener  Zeit  zu  immer  neuen  Katastrophen  und  Richelieu  bedurfte  seiner 
ganzen  Energie,  um  den  Trotz  des  hohen  Adels  zu  bändigen.  Aber  wozu 
überhaupt  nach  solchem  Zusammenhang  suchen?  Die  Dichtung  jener  Zeit 
war  der  Politik  fremd,  und  die  Bühne  galt  noch  nicht  als  Mittel  poli- 
tischer oder  philosophischer  Propaganda.  Corneille  kannte  die  Geschichte 
von  Cinnas  Verschwörung  aus  Senecas  Buch  über  die  Milde  und  den 
„Essais"  von  Montaigne  und  fand  darin  den  Stotf  zu  einem  Schauspiel, 
wie  er  ihn  besser  und  für  sein  Talent  passender  gar  nicht  wünschen 
konnte."*) 

Corneille  hatte  hier  Gelegenheit,  die  altrömische  Welt  mit  dem 
ganzen  Aufwand  seiner  Kunst  zu  schildern.  Diesmal  führte  er  nicht  in 
die  alten  rauhen  Zeiten  der  Könige  zurück,  sondern  in  die  glanzvollen 
Jahre  der  augusteischen  Herrschaft,    als  Rom  die  Herrscherin  der  Welt 


1)  „Cinna  ou  la  clemence  d'Auguste"  erschien  im  Druck  erst  1643. 

2)  Siehe  Abschnitt  IV,  „Corneilles  Jugend",  S.  323—324. 

3)  Der  erste,  der  auf  diese  Umstände  aufmerksam  gemacht  hat,  war  Ed. 
Fournier,  Notes  sur  la  vie  de  Corneille,  p.  CXVII — CXIX,  die  seinem  „Corneille 
ä  la  Butte-St.  Roch"  vorausgeschickt  sind. 

*)  Seneca,  de  dementia  lib.  I.  Montaigne,  Essais  1,  I,  eh.  23. 


399 


und  der  Mittelpunkt  des  geistigen  Lebens  der  Völker  war.  Der  macht- 
volle Bau  des  Weltreichs  stand  noch  unerschüttert,  wenn  auch  der  Patriot 
in  deutlichen  Anzeichen  den  kommenden  Verfall  vorahnend  erblickte. 

Corneille  zeigt  uns  Kaiser  Augustus  auf  der  Höhe  seiner  Macht. 
Aber  ist  auch  jeder  offene  Widerstand  längst  geschwunden ,  der  Haß 
gegen  ihn  glüht  noch  in  den  Herzen  vieler  seiner  früheren  Gegner.  Zu 
diesen  gehört  ein  Enkel  des  Pompejus,  Cinna,  dessen  Familie  stets  dem 
Haus  der  Julier  feindlich  war,  und  der  selbst  gegen  August  die  Waffen 
getragen  hat.  August  glaubt  ihn  versöhnt  zu  haben  und  schenkt  ihm 
sein  volles  Vertrauen;  er  ehrt  ihn  und  bekleidet  ihn  mit  den  höchsten 
Staatsämtern.  Doch  hat  sich  der  feine  Menschenkenner  diesmal  getäuscht; 
Cinna  liebt  Emilia,  die  Tochter  eines  von  August  früher  zum  Tod  ge- 
schickten Patriziers,  und  diese  gewinnt  ihn  für  ihren  ßacheplan.  Sie 
wird  in  der  kaiserlichen  Familie  wie  eine  Tochter  geliebt,  aber  trotzdem 
hegt  sie  nur  den  einen  Gedanken,  den  Vater  zu  rächen.  Sie  gewinnt 
Cinna  durch  das  Versprechen,  die  Seine  zu  werden,  sobald  er  den  Tyrannen 
gestürzt  habe.  So  wird  aus  dem  Freund  Augusts  ein  Verschwörer ;  Cinna 
vereinigt  eine  Anzahl  vornehmer  Römer  zu  geheimer  Verbindung  und 
plant  mit  ihnen  die  Ermordung  des  Kaisers.  In  den  Versammlungen  der 
Verschworenen  redet  Cinna  zwar  große  Worte  von  Freiheit  und  alt- 
römischer Kraft,  aber  der  eigentliche  Beweggrund  seines  Handelns  bleibt 
doch  persönliches  Rachegefühl  und  Schwäche  gegenüber  den  Wünschen 
einer  verführerischen  Frau.  Es  wäre  ein  Irrtum,  wollte  man  glauben, 
daß  Corneille  in  seinem  „Cinna"  das  Ideal  eines  römischen  Helden  habe 
zeichnen  wollen.  Im  Gegenteil,  wir  finden  in  dem  ganzen  Schauspiel 
nur  ein  Gemälde  der  beginnenden  Zerrüttung  und  der  allgemeinen  Charakter- 
schwäche, welche  es  allein  möglich  machte,  daß  bald  so  furchtbare  Zeiten 
über  Rom  hereinbrachen.  Cinna  selbst  ist  kein  Staatsmann,  nur  ein 
schwächlicher  Liebhaber,  dem  es  an  Voraussicht  und  Überlegung  fehlt. 
Der  Dienst  der  Herrin  geht  ihm  vor  dem  Dienst  der  Freiheit.  Er  sagt 
zu  Emilia: 

„Ob  mir  der  Himmel  gnädig  oder  hart, 
Ob  er  mir  Ruhm  verleiht,  ob  Schimpf  und  Tod, 
Ob  Rom  sieh  für  mich  ausspricht  oder  nicht   — 
Starb'  ich  in  Eurem  Dienst,  bin  ich  beglückt."  i) 

Noch  offener  zeigt  er  sich  in  der  folgenden  Scene.  Er  gesteht  ein, 
daß  er  seine  Mitverschworenen  täuscht: 

„Da  ich  der  Römer  Elend  schilderte, 
Verschwieg  ich  doch  die  Quelle  unseres  Hasses, 
Den  Tod  des  Vaters."-) 


1)  Cinua,  I,  3,  117: 

Pour  moi  soit  que  le  ciel  me  soit  dur  ou  propice, 
Qu'il  m'^leve  a  la  gloire  ou  me  livre  au  suplice, 
Que  Rome  se  declare  ou  contre  nous, 
Mourant  pour  vous  servir,  tout  me  semblera  doux. 

2)  Cinna,  I,  4,  63: 

Et  leur  parlant  tantöt  des  miseres  romaines, 

Je  leur  ai  tu  la  mort  qui  fait  maitre  nos  haines. 


400 


aber    er    ist    sich    offenbar    der    Niederträchtigkeit    dieses    Spiels    nicht 
bewußt. 

Cinna  ist  kein  Mann  der  That,  kein  Fanatiker  der  Freiheit ,  wie 
Brutus.  Er  ist  nur  in  der  Kunst  der  Rhetorik  geübt,  und  wenn  ihn  auch 
die  alten  Traditionen  im  Angesicht  des  Todes  ruhig  und  fest  zu  bleiben 
heißen,  so  hat  er  doch  nichts  vom  wahren  Helden  in  sich. 

Wie  anders  steht  ihm  Augustus  gegenüber.  In  ihm  möchten  wir 
die  Hauptperson  des  Stücks  erkennen,  und  jedenfalls  ist  er  sein  interessan- 
tester und  am  besten  gezeichneter  Charakter.  Augustus  hat  seine  Herr- 
schaft auf  Gewalt  begründet  und  seinen  Thron  über  einem  Meer  von  Blut 
errichtet.  Nun  er  sein  Ziel  erreicht  hat,  ist  er  enttäuscht  und  erkennt 
die  Nichtigkeit  seines  Ehrgeizes.  Einsam  steht  er  auf  der  Höhe;  die 
Macht  scheint  ihm  schal  und  der  ]!ilühe  unwert,  die  er  aufgewandt  hat, 
um  sie  zu  erwerben. 

„Zur  Höh'  gelangt,  drängt's  mich,  hinabzusteigen", i) 
sagt  er.  Er  ist  müde  und  verachtet  die  Menschen.  Darum  will  er  die 
Bürde  der  Herrschaft  abschütteln.  Er  beruft  seine  beiden  vertrautesten 
Ratgeber,  Cinna  und  Maxime,  um  ihnen  die  Frage  vorzulegen,  ob  er 
nicht,  wie  ehedem  Sulla,  seine  Macht  dem  Senat  zurückgeben  soll?  Wenn 
Cinna  nur  aus  Patriotismus  handelte ,  müßte  er  dem  Kaiser  zureden, 
diesen  Gedanken  auszuführen.  Allein,  da  er  an  den  Wunsch  der  Geliebten 
denkt,  bietet  er  seine  ganze  Beredsamkeit  auf.  den  Kaiser  von  seinem 
Vorhaben  abzubringen.  Augustus  läßt  sich  in  der  That  umstimmen,  und 
soll  dafür  beim  Opferfest  des  folgenden  Tags  von  Cinna  und  dessen 
Genossen  erdolcht  werden.  Doch  die  Verschwörung  wird  verraten ,  und 
zwar  aus  Liebeseifersucht.  Die  Verschworenen  werden  verhaftet  und  der 
Tod  scheint  ihnen  gewiß.  August  ist  jedoch  des  Blutvergießens  müde. 
Er  läßt  Cinna  vor  sich  rufen  und  hält  ihm  seinen  Undank,  aber  auch 
seine  politische  Ohnmacht  vor.   Sein  Wort  ist  vernichtend : 

„Erkenn'  Dich  selbst,  steig  in  Dein  Herz  hinab; 

Du  bist  geehrt  in  Rom.  umschwärmt,  geliebt. 

Man  fürchtet  Dich,  man  hascht  nach  Deiner  Gunst, 

Dein  Glück  ist  hoch  und  Deine  Macht  ist  groß. 

Doch  wärst  Du  nur  ein  Spott  für  Deine  Neider, 

Beschränkt'  ich  Dich  auf  Deine  Kraft  allein. 

Zur  Macht  erhob  Dich  nichts  als  meine  Gunst, 

Und  nur  durch  sie  vermagst  Du  Dich  zu  halten.-'  '^) 


Cinna,  II,  1,  16: 

„Et  monte  sur  le  faite,  il  aspire  ä  descendre.-' 

Cinna,  V,  1,  93  ff: 

Apprends  ä  te  connoitre,  et  descends  en  toi-meme: 
On  t'honore  dans  Rome,  ou  te  courtise,  on  t'aime, 
Chacun  tremble  sous  toi.  chacun  t'offre  des  voeux, 
Ta  fortune  est  bien  haut,  tu  peux  ce  que  tu  veux 
Mais  tu  ferois  pitie  meme  ä  ceux  qu'elle  irrite, 
Si  je  t'abandonnois  ä  ton  peu  de  merite. 


Ma  faveur  fait  ta  gloire,  et  ton  pouvoir  en  vient, 
Elle  seule  t'eleve,  et  seule  te  soutient. 


401 


Cinna  verteidigt  sich  nur  schwach,  und  sein  Ansehen  steigt  nicht 
in  der  nächsten  Scene ,  in  der  Emilia  sich  als  Anstifterin  des  ganzen 
Komplots  anzeigt.  Sie  will  Cinna  retten  oder  mit  ihm  sterben.  Augustus 
zeigt  sich  höheren  Geistes  als  alle  seine  Gegner.  Er  will  vergessen,  und 
statt  zu  strafen,  bietet  er  die  Hand  zur  Versöhnung.  „Soyons  amis, 
Cinna!"  sagt  er  zu  dem  gedemütigten  Mann,  und  dieses  in  seiner  Ein- 
fachheit und  an  solcher  Stelle  großartige  Wort  gewinnt  ihm  die  Herzen. 
Auch  auf  die  Zuschauer  verfehlt  es  bei  der  Aufführung  niemals  seinen 
Eindruck.  Freilich  darf  man  dabei  nicht  daran  denken,  daß  August  kurz 
zuvor  Cinna  als  einen  schwachen,  ohnmächtigen  Menschen  charakterisiert 
hat.  Denn  Milde  einem  solchen  Feind  gegenüber  erscheint  weniger  ver- 
dienstlich. Auch  erzählt  Voltaire,  daß  bei  einer  Vorstellung  des  „Cinna" 
der  Marschall  de  la  Feuillade,  der  seinen  Sitz  auf  der  Bühne  hatte,  dem 
Augustus  bei  dessen  ersten  wegwerfenden  Äußerungen  zugerufen  habe: 
„Tu  rae  gätes  le  Soyons  amis!"  Ob  Augustus  wirklich  noch  an  Cinnas 
Freundschaft  glauben  kann,  ist  eine  andere  Frage.  Der  Dichter  scheint 
gefüblt  zu  haben,  daß  ein  Zweifel  daran  gestattet  ist,  und  er  legt  darum 
der  Kaiserin  Livia  zum  Schluß  die  prophetischen  Worte  in  den  Mund, 
daß  nun  die  Zeit  der  Mordanschläge  vorüber  sei,  Augustus  die  Kömer 
entwaffnet  habe    und    künftig  die  Herrschaft    ungefährdet    führen  werde. 

Mit  besonderer  Vorliebe  hat  Corneille  die  Heldinnen  seiner  Schau- 
spiele behandelt.  Wie  für  Chimene  und  Camilla,  so  hat  er  auch  für  Emilia 
seine  glänzendsten  Farben  aufgeboten.  Während  die  Männerwelt  in  „Cinna" 
schwach  erscheint,  weist  Emilia  den  altrömischen  Charakter  in  seiner 
herben  Größe  auf,  wie  ihn  Corneille  verstanden  hat.  Er  will  sie  mit  den 
Tugenden  einer  Lucrezia,  einer  Porcia  und  Arria  ausstatten.  Sie  trägt 
fast  männlichen  Sinn  im  Busen,  und  das  Blutvergießen  der  Bürgerkriege 
hat  auch  ihr  Herz  verhärtet.  Dabei  fühlt  sie  ihren  Wert  als  Herrin  der 
Welt,  und  verächtlich  blickt  sie  auf  jede  Königskrone  herab : 

„Weil  Du  mehr  bist  als  König,  wähnst  Du  schon 
Etwas  zu  sein!  Wer  auf  dem  Erdenrund 
Hält  einem  Bürger  Roms  sieh  ebenbürtig?"  i) 

Ihr   edler  Sinn    verhindert  sie  jedoch  nicht,    in    ihrem  Rachedurst 

Freundschaft  und  Dankbarkeit  gegen  Augustus  zu  heucheln;  durch  diesen 

Zug  verletzt  sie  uns  und  verscherzt  die  aufrichtige  Teilname.  Wie  anders 

läßt  Corneille  später  die  Witwe  des  Pompejus  handeln,  als  sie  von  einer 

Verschwörung  der  Ägypter  gegen  Cäsars  Leben  hört?  Sie  ist  die  erste, 

die  ihren  Feind  warnt,  denn  sie  will  nicht  durch  Verrat  siegen : 

„Wer  von  ihm  weiß  und  duldet  ihn,  der  teilt 
Die  Schmach!"  2) 


1)  Cinna,  III,  4,  84: 

Pour  etre  plus  qu'un  roi,  tu  te  crois  quelque  chose! 
Aux  deux  bouts  de  la  terre  en  est-il  un  si  vain, 
Qu'il  pretende  egaler  un  citoyen  romain? 

2)  La  Mort  de  Pompee,  IV,  4,  26: 

Mais  avec  cette  soif  que  j'ai  de  ta  ruine. 

Je  me  jette  au-devant  du  coup  qui  t'assassine. 

Lotheiße  II,  Gesch.  d.  franz.  Litteratnr. 


402 


Der  Erfolg  des  neuen  Schauspiels  war  außerordentlich  groß.  Noch 
in  seinen  späteren  Jahren  erfreute  sich  Corneille  der  Erinnerung  an  diese 
ruhmreiche  Zeit.  Sein  Triumph  wurde  ihm  diesmal  nicht  wie  bei  dem 
.,Cid-'  verbittert,  denn  der  Krieg,  den  man  gegen  ihn  seit  diesem  Drama, 
bald  offen,  bald  versteckt,  geführt  hatte,  war  nun  endgiltig  ausgefochten. 
"Wenn  „Horace"  noch  keine  Entscheidung  gebracht  hatte,  so  konnte  sich 
„Cinna"  des  entschiedenen  Sieges  rühmen.  Die  kleinen  Neider  wurden 
von  nun  au  nicht  mehr  gehört  und  Corneille  galt  unbestritten  als  der 
größte  dramatische  Dichter  seines  Landes.  Die  boshafte  Kritik  der  Feinde 
hatte  Corneille  zur  Anspannung  seiner  Kräfte,  zu  größerer  Strenge  gegen 
sich  selbst  in  seiner  Arbeit  gespornt,  und  der  bittere  Kampf  war  insofern 
nicht  ohne  gute  Früchte  geblieben. 

Als  sich  Racine  später  in  ähnlicher  "Weise  angegriffen  sah,  und 
in  bitterem  Unmut  der  dramatischen  Dichtkunst  entsagen  wollte,  konnte 
ihn  sein  Freund  Boileau  mit  ßecht  auf  das  Beispiel  des  energischen 
Corneille  verweisen: 

„Von  seinen  Neidern  angetrieben,  stieg 
Manch  großer  Geist  zum  Gipfel  seines  Ruhms. 
Der  Feinde  Haß  flößt  neue  Kraft  ihm  ein, 
Cinna  erschien,  als  man  den  Cid  verfolgte."  i) 

Alles  in  allem  genommen,  ist  ,. Cinna"  Corneilles  bestes  "Werk, 
und  der  Dichter  selbst  urteilte  so.  Andere  seiner  Dramen,  wie  der  ewig 
junge  „Cid",  haben  mehr  Feuer  und  poetischen  Schwung;  einzelne 
Charaktere,  wie  Paulina  in  „Polyeucte",  sind  Schöpfungen  von  einem 
Adel  und  von  einer  Reinheit,  wie  sie  die  Personen  in  „Cinna"  nicht 
erreichen.  Aber  wenn  wir  die  Dichtung  als  Ganzes  betrachten,  erscheint 
sie  doch  vollendet  und  harmonisch,  wie  keine  andere.  Die  Komposition 
ist  selbständig  und  mit  sicherer  Hand  von  Corneille  gearbeitet;  der 
Geist  des  Dichters  erscheint  gereift  und  männlich,  selbst  die  Sprache 
hat  sich  seit  dem  „Cid"  noch  geklärt  und  zu  größerer  Einfachheit 
und   Schönheit  erhoben. 

Was  den  Eindruck  des  Schauspiels  beeinträchtigt,  ist  die  falsche 
Betonung  der  Ehre  und  des  Ruhms,  oder  vielmehr  die  unrichtige  Auf- 
fassung dieser  Begriffe.  Allein  darin  folgte  der  Dichter  nur  dem  Zug 
seiner  Zeit,  von  deren  Anschauungen  wir  weiter  oben  schon  ausführlich 
gesprochen  haben.-) 


Et  forme  des  desirs  avec  trop  de  raison, 
Pour  en  aimer  l'effet  par  une  trahison: 
Qui  la  sait  et  la  soufFre,  a  part  ä  Tinfamie. 

1)  Boileau,  epitre  VII  (ä  Racine),  v.  49—52: 
Mais  par  les  envieux  un  genie  excite 
Au  comble  de  son  art  est  mille  fois  monte; 
Plus  on  veut  raffoiblir,  plue  il  croit  et  s'elance. 
Au  Cid  persecute  Cinna  doit  sa  naissance. 

-)  Siehe  den  Abschnitt  II  dieses  Bands:  „Die  Ideale  der  Zeit".  Balzac, 
der  auch  den  „Cid"  schon  günstig  beurteilt  hatte,  war  von  „Cinna"  noch 
mehr    entzückt.    In    seiner    abgemessen    pedantischen  und  so  oft  übertriebenen 


403 


„Cinna"  brachte  dem  Dichter  reiclilichen  Gewinn,  zuerst  durch 
die  Aufführungen,  dann  durch  den  Druck.  Der  Präsident  der  Finanz- 
kammer  zu  Montauban,  Pierre  de  Puget,  seigneur  de  Montoron,  schenkte 
Corneille  200  Pistolen  zum  Dank  dafür,  daß  der  Dichter  ihm  sein 
Stück  gewidmet  hatte.  Montoron  war  einer  der  reichsten  Finanzleute  und 
bekannt  wegen  der  Freigebigkeit,  mit  der  er  die  Schriftsteller  und 
Dichter  bedachte.^;)  Leider  ließ  sich  Corneille  bei  dieser  neuen  Dedikation, 
mehr  noch  als  bei  seinem  „Horace",  zu  Schmeicheleien  hinreißen,  die 
seiner  unwürdig  waren.  Er  pries  seines  Gönners  allezeit  offene  Hand, 
verglich  ihn  mit  Augustus  und  erwähnte  sogar  die  kriegerischen  Tu- 
genden Montorons,  obwol  derselbe  niemals  Gelegenheit  gehabt  hatte,  sie 
ernstlich  zu  bethätigen.  Corneille  gab  sich  damit  eine  Blöße,  welche 
seine  Gegner  sehr  gut  zu  benutzen  verstanden.  War  es  ihnen  mißlungen, 
seinen  dichterischen  Wert  herabzusetzen,  so  verschrieen  sie  nun  seinen 
persönlichen  Charakter,  und  die  .,Lobreden  ä  la  Montoron"  wurden 
sprichwörtlich.  Die  Widmung  des  „Cinna"  ist  in  ihrer  ungemessenen 
Übertreibung  gewiß  nicht  zu  rechtfertigen.  Aber  wir  sehen  sie  deshalb 
noch  nicht  als  Beweis  für  die  Habsucht  und  den  knechtischen  Sinn 
Corneilles  an,  der  während  eines  langen  Lebens  und  oft  im  Kampf  mit 
Mühsal    aller  Art   seine  Unabhängigkeit    stets    zu  wahren  bedacht  war. 

Wir  haben  schon  bei  anderer  Gelegenheit  darauf  hingewiesen,  daß 
Corneille  als  Haupt  der  Familie  für  seine  Geschwister  zu  sorgen  hatte, 
und  daß  er  sich  gerade  damals  in  seinem  Einkommen  als  Advokat  be- 
droht sah.  Dazu  kam,  daß  er  mit  dem  Gedanken  umging,  sich  zu  ver- 
heiraten. Er  bewarb  sich,  wie  es  heißt,  längere  Zeit  um  Marie  de  Lam- 
periere,  die  Tochter  eines  Beamten  in  dem  Städtchen  Les  Andolys,  in 
der  Nähe  von  Ronen. ^)  Aber  seine  Bemühungen  waren  vergebens,  denn 
der  Vater  verweigerte  seine  Zustimmung.  Von  streng  bürgerlichem  Geist 
erfüllt,  sah  er  mit  Mißtrauen  auf  einen  Mann,  der  den  reellen  Boden 
eines  Staatsamts  verließ,  sein  Geschäft  vielleicht  manchmal  vernachlässigte, 
um  Träumereien  nachzuhängen ;  dessen  Einkommen  dadurch  schwankend, 
dessen  Zukunft    unsicher    war,    und  der  noch  dazu  mit  Leuten  in  Ver- 


weise schrieb  er  an  Corneille  (17.  Januar  1G43):  „J'ai  senti  un  notable  sou- 
lagement  depuis  l'arrivee  de  votre  paquet,  et  je  crie  Miracle !  des  le  commence- 
ment  de  ma  lettre.  Votre  Cinna  guerit  les  malades :  il  tait  que  les  paralytiques 
battent  des  mains;  11  read  la  parole  ä  un  muet...Vous  nous  faites  voir  Rome 

tout   ce  qu'elle  peut  etre  ä  Paris  et  ne  l'avez  point  brisee  en  la  remuant 

C'est  une  Rome  de  Tite-Live  et  aussi  pompeuse  qu'elle  etoit  au  temps  des  pre- 
miers  Cesars.  Vous  avez  meme  trouve  ce  qu'elle  avoit  perdu  dans  les  ruines 
de  la  Republique,  cette  noble  et  magnauime  tierte.  . .  Vous  etes  le  vrai  et  fidele 
interprete  de  son  esprit  et  de  son  courage.  Je  dis  plus,  Monsieur;  vous  etes 
souvent  son  pedagogue  et  l'avertissez  de  la  bienseance  quand  eile  ne  s'en  sou- 
vient  pas.  Vous  etes  le  reformateur  du  vieux  temps,  s'il  a  besoin  d'embellissement 
et  d'appui.  Aux  endroits  oii  Rome  est  de  brique,  vous  la  remplissez  de  marbre; 
quand  vous  trouvez  du  vide,  vous  le  remplissez  d'un  chef-d'ueuvre."  (Sollte  hier 
der  Keim  zu  dem  Urteil  La  Bruyeres  liegen:  „Corneille  depeiat  les  hommes 
comme  ils  devraient  etre,  Racine  comme  ils  sontV") 

1)  Montoron  verlor  später  sein  Vermögen  und  starb  1664  zu  Paris. 

-)  Mr.  de  Lamperiere  war  lieutenant-general  aux  Andelys. 


404 


kehr  stand,  die  doch  immer  noch  als  verdächtig  und  unmoralisch  an- 
gesehen wurden.  Fontenelle  erzählt  in  der  Biographie  seines  Onkels, 
daß  es  der  Vermittlung  Eichelieus  bedurft  habe,  um  den  Vater  günstig 
zu  stimmen.')  Ein  Mann,  für  den  der  Kardinal  solche  Freundschaft  an 
den  Tag  legte,  mußte  doch  ein  ganz  besonderer  Herr  sein.  Das  Ver- 
hältnis zwischen  Eichelieu  und  Corneille  erscheint  hier  wieder  in  einem 
neuen  Licht.  Der  Kardinal  hatte  Corneille  unter  seine  Leibpoeten  ge- 
zählt und  war  von  ihm  verlassen  worden;  er  hatte  den  ..Cid"  verfolgt, 
und  doch  dem  Dichter  eine  Pension  aus  seiner  eigenen  Kasse  bewilligt; 
er  hatte  den  „Horace"  zuerst  bei  sich  aufführen  lassen,  und  erschien 
nun  gar  als  der  Vertraute  Corneilles.  Die  beiden  Männer  müssen  sich 
in  eigentümlicher  Weise  angezogen  und  abgestoßen  haben.  Richelieu 
liebte  das  Theater  zu  sehr,  um  nicht  mit  Interesse  auf  einen  Mann  zu 
sehen,  der  die  dramatische  Litteratur  so  hoch  erhob,  und  auch  Corneille 
konnte  einem  solchen  Förderer  seiner  Kunst  nicht  jede  Anerkennung 
versagen.  Aber  beide  Männer  hatten  einen  festen  Charakter;  Richelieu 
war  gewöhnt  zu  herrschen  und  vertrug  keinen  Widerstand,  am  wenigsten 
den  indirekten,  unausgesprochenen  Widerstand,  das  Streben,  sich  seinem 
Einfluß  zu  entziehen,  und  Corneille  seinerseits  mochte  mehr  als  einmal 
mit  den  Zähnen  knirschen,  wenn  er  seinen  Willen  vor  dem  des  Ministers 
beugen  mußte.  Die  beiden  Männer  vertrugen  sich  nicht  miteinander, 
dazu  hatte  jeder  einen  zu  starren  Sinn.  Aber  wenn  sie  sich  abstießen, 
so  fühlten  sie  sich  doch  auch  wieder  zu  einander  gezogen  durch  die 
gleiche  Vorliebe  für  die  Bühne.  Als  der  Mächtigere  konnte  Richelieu 
leichter  verzeihen.  Corneille  hat  die  Gegnerschaft  des  Kardinals  gegen 
den  ,.Cid''  und  den  schweren  Kampf,  den  er  dadurch  zu  bestehen  hatte, 
niemals  vergessen  und  seine  bitteren  Worte  über  Richelieu  nach  dessen 
Tod  beweisen  es  zur  Genüge.-) 

Man  weiß  nicht  einmal  genau,  wann  die  Hochzeit  Corneilles  ge- 
feiert wurde.  Höchst  wahrscheinlich  fiel  sie  in  das  Jahr  1640.  Ein  la- 
teinisches  Gedicht    von   Menage    aus    jener  Zeit    erzählt    uns,    daß  der 

1)  Fontenelle,  Vie  de  Corneille,  p.  122  (t.  III  der  Oeuvres  de  Fontenelle, 
Paris  1767). 

2)  Ein  Quatrain,  das  er  auf  den  Tod  des  Kardinals  dichtete,  besagt: 

Qu'on  parle  mal  ou  bien  du  fameux  Cardinal, 
Ma  prose  ni  mes  vers  n'en  diront  jamais  rien: 
II  m'a  fait  trop  de  bien  pour  en  dire  du  mal, 
II  m'a  fait  trop  de  mal  pour  en  dire  du  bien. 

Bald  aber,  als  er  in  einem  Sonett  den  Tod  Ludwigs  XIII.  beklagte, 
rief  er: 

L'ambitiou,  Torgueil,  l'audace,  Tavarice, 
Saisis  de  son  pouvoir,  nous  donnereut  de  lois, 
Et  bien  qu'il  füt  en  sei  le  plus  juste  des  rois, 
Son  regne  fut  pourtant  celui  de  l'injustice. 

Man  hat  auf  die  merkwürdige  Steigerung  in  den  Vorwürfen  aufmerksam 
gemacht,  die  Corneille  gegen  den  Kardinal  erhebt,  und  welche  den  Geiz  als 
das  stärkste  Übel  an  letzter  Stelle  betont.  Doch  könnte  das  nur  des  Reims 
halber  geschehen  sein. 


405 


Dichter  in  der  Hochzeitsnacht  schwer  erkrankte  und  in  Paris  bereits 
die  Nachricht  seines  Todes  umlief.  Im  übrigen  wird  von  Marie  de 
Lamperiere  nicht  viel  berichtet  und  das  ist  ja  auch  ein  Lob.  Sie  scheint 
«ine  einfache,  gute  Frau  und  eine  brave  Mutter  gewesen  zu  sein.  Man 
war  früher  in  Bezug  auf  Familiennachrichton  besonders  zurückhaltend 
und  hatte  nicht,  wie  heute,  den  Wunsch,  einen  Blick  in  das  häusliche 
Leben  hervorragender  Menschen  zu  werfen.  Auch  von  Corneilles  Leben 
in  den  nächstfolgenden  Jahren  wird  uns  kaum  etwas  berichtet  Wir 
dürfen  annehmen,  daß  er  in  glücklicher  Ehe  lebte,  in  angestrengter 
Thätigkeit  zu  Kouen  sich  seinem  Amt  widmete^)  und  in  seinen  Muße- 
stunden jene  Dramen  dichtete,  mit  welchen  er  die  französische  Bühne 
bereicherte.  Die  Aufführung  dieser  Werke,  sowie  das  Bedürfnis,  mit  den 
litterarischeu  Kreisen  der  Hauptstadt  in  Verbindung  zu  bleiben,  führten 
ihn  jedenfalls  öfter  nach  Paris. 

Auf  „Horace"  und  ..Cinna"  folgte  die  Tragödie  „Polyeucte".  Die 
früheren  Biographen  haben  die  erste  Aufführung  dieses  Stücks  ebenfalls 
in  das  Jahr  16-10  gesetzt.  Eine  Stelle  in  der  Korrespondenz  Corneilles, 
auf  welche  Marty-Laveaux  zuerst  aufmerksam  gemacht  hat,  beweist  jedoch, 
daß  „Polyeucte"  bedeutend  späteren  Ursprungs  ist.  Ein  lateinischer  Brief 
des  Pariser  Parlamentsrats  Claude  Sarrau  an  Corneille  vom  12.  Dezember 
1642  erwähnt  ein  Gerücht,  das  bis  zu  ihm  gedrungen  sei.  demzufolge 
Corneille  an  einer  religiösen  Dichtung  arbeite,  und  Sarrau  spricht  die 
Hoffnung  aus,  der  Dichter  werde  seinen  drei  göttlichen  Dramen  bald  ein 
neues  folgen  lassen.^)  Das  Datum  des  Briefs  kann  nicht  falsch  sein,  da 
der  Tod  des  Kardinals  Richelieu,  der  anfangs  Dezember  1642  erfolgte, 
von  Sarrau  erwähnt  wird.  Wir  hätten  hier  also  wieder  eine  zweijährige 
Pause  in  der  dichterischen  Arbeit  Corneilles,  wie  nach  der  „Melite"  und 
dem  „Cid".  Der  eben  angeführte  Brief  gestattet  nun  den  Schluß,  daß 
Corneille  seinen  „Polyeucte"  —  denn  kein  anderes  Werk  kann  unter  der 
religiösen  Dichtung,  von  der  Sarrau  spricht,  verstanden  werden  — ■  im 
Lauf  des  Jahrs  1642  gearbeitet  und  erst  anfangs  des  folgenden  Jahrs 
zur  Aufführung  gebracht  hat.^) 

„Polyeucte"  enthält  eine  Märtyrer-  und  Heiligengeschichte.  Ein 
oder  der  andere  christliche  Blutzeuge  hat  vvol  schon  früher  als  Held  einer 
Tragödie  dienen  müssen,  allein  diese  Märtyrerdramen  waren  ohne  Kunst 
gemacht  und  somit  auch  unbeachtet  geblieben.^) 

1)  Siehe  „Particularites  de  la  vle  judiciaire  de  P.  Corireille,  relevees 
par  des  documents  nouveaux  par  E.  Gosselin,  greffier-archiviste  k  la  Cour  Im- 
periale de  Rouen."  Gosselia  hat  aus  alten  Gerichtsprotokollen  aus  den  Jahren  1643, 
1644  und  1645  nachgewiesen,  dali  sich  Corneille  —  entgegen  der  früheren  An- 
sicht —  seinem  Amt  mit  allem  Eifer  widmete. 

2j  Marty-Laveaux'  Ausgabe  Corneilles,  X,  p.  424  und  438  in  der  Samm- 
lung des  Grands  ecrivains:    Claudius  Sarravius  Petro  Cornelio „Ut  valeas 

tu  cum  tuis  Musis  scire  imprimis  desiro,  et  utrum  tribus  eximiis  et  divinis  tuis 
dramatis  quartum  adjungere  mediteris.  .  . .  Inaudivi  nescio  quid  de  aliquo  tuo 
poemate  sacro,  quod  an  perfectum  sit  quaeso,  rescribe". 

3)  Gedruckt  wurde  „Polyeucte"  im  Herbst  1643. 

*)  So  der  „Saint-Eustache"  von  Baro  (1639). 


406 


Die  Spanier  hatten  allerdings  schon  lang  ihre  Heiligenschauspiele, 
aber  in  Frankreich  kam  diese  Gattung  erst  durch  Corneille  zu  Ansehen. 
Diesmal  las  er  seine  Tragödie  vor  der  Aufführung  im  berühmten  blauen 
Salon  der  Marquise  de  Rambouillet  vor.  Denn  er  gehörte  seit  einiger 
Zeit  zu  den  eifrigen  und  intimeren  Freunden  des  Hauses.  Die  Schön- 
geister, welchen  der  Dichter  dort  sein  Werk  zur  Beurteilung  vorlegte, 
zauderten  indessen  mit  ihrer  Billigung.  Sie  erschraken  darüber,  daß 
das  Christentum  und  die  christliche  Kirche  auf  der  Bühne  profaniert 
werden  sollte,  und  beauftragten  Voiture,  dem  Dichter  ihre  Bedenken 
mitzuteilen.  Corneille  ließ  sich  indessen  nicht  beirren  und  der  Erfolg, 
den  „Polyeucte"  bei  der  öifentlichen  Aufführung  erlangte,  gab  ihm  Recht. 
Und  dennoch  war  die  Warnung  seiner  Freunde  aus  dem  Haus  Rambouillet 
nicht  so  unbegründet,  wenn  auch  die  Voraussetzungen,  von  welchen  sie 
ausgingen,  irrig  waren. 

Wie  wenig  ein  Märtyrer  wie  Polyeucte  sich  zum  Helden  einer 
Tragödie  eignet,  hat  Lessing  aufs  klarste  nachgewiesen.  Sei  es  uns  gestattet, 
die  betreffende  Stelle  hier  mitzuteilen. 

Lessiug  schreibt  in  seiner  Dramaturgie:  „Xun  leben  wir  in  einer 
Zeit,  in  welcher  die  Stimme  der  gesunden  Vernunft  zu  laut  erschallt, 
als  daß  jeder  Rasende,  der  sich  mutwillig  ohne  alle  Not,  mit  Verachtung 
aller  seiner  bürgerlichen  Obliegenheiten,  in  den  Tod  stürzt,  den  Titel 
eines  Märtyrers  sich  anmaßen  dürfte.  Wir  wissen  jetzt  zu  wohl  die 
falschen  Märtyrer  von  den  wahren  zu  unterscheiden ;  wir  verachten  jene 
eben  so  sehr,  als  wir  diese  verehren,  und  höchstens  können  sie  uns  eine 
melancholische  Thräne  über  die  Blindheit  und  den  Unsinn  auspressen, 
deren  wir  die  Menschheit  überhaupt  in  ihnen  fähig  erblicken.  Doch  diese 
Thräne  ist  keine  von  den  angenehmen,  die  das  Trauerspiel  erregen  will. 
Wenn  daher  der  Dichter  einen  Märtyrer  zu  seinem  Helden  wählt:  daß 
er  ihm  ja  die  lautersten  und  triftigsten  Beweggründe  gebe!  daß  er  ihn 
ja  in  die  unumgängliche  Notwendigkeit  setze,  den  Schritt;  zu  thiin,  durch 
den  er  sich  der  Gefahr  bloßstellt!  daß  er  ihn  ja  den  Tod  nicht  freventlich 
suchen,  nicht  höhnisch  ertrotzen  lasse!  Sonst  wird  uns  sein  Held  zum 
Abscheu,  und  die  Religion  selbst,  die  er  ehren  wollte,  kann  darunter 
leiden." ') 

Allerdings  stellt  Lessing  im  Verlauf  seiner  Abhandlung  die  Dichtung 
Corneilles  über  die  anderen  Märtyrerdramen,  allein  er  findet,  daß  doch 
auch  „Polyeucte"  gegen  einige  Hauptforderungen  der  Tragödie  verstoße. 
Polyeucte  hat  keine  zwingende  Veranlassung,  den  Tod  zu  suchen.  Seine 
Frömmigkeit  hat  ihn  jedes  menschlichen  Gefühls  beraubt.  Seit  wenigen 
Tagen  ist  er  mit  einer  der  edelsten,  reinsten  Frauen,  Pauline,  vermählt. 
Diese  ist  die  Tochter  eines  vornehmen  Römers,  Felix,  der  als  Gouverneur 
die  Provinz  Armenien  verwaltet.  Auf  Geheiß  ihres  Vaters  hat  sie  Polyeucte, 
dem  Haupt  einer  armenischen  Adelsfamilie,  die  Hand  gereicht,  obwol  sie 
von  Rom  her  das  Bild  eines  tapferen,  aber  unbemittelten  Jünglings,  Sever, 
im  Herzen  trug,  und  sie  ist  entschlossen,  ihre  Pflicht  im  vollsten  Umfang 


'j  Lessing,  Dramaturgie.  Erstes  Stück  vom  1    Mai  1767. 


407 


zu  erfüllen,  sich  ganz  ihrem  Gatten  zu  weihen.  Polyeucte  wählt  aber 
gerade  diese  erste  Zeit  seiner  Ehe,  sich  im  Christentum  unterrichten  zu 
lassen,  und  das  Stück  beginnt  damit,  daß  er  zur  Taufe  geht. 

Einmal  in  die  christliche  Gemeinschaft  aufgenommen,  ist  er  von 
dem  Fanatismus  und  der  Unduldsamkeit  der  Neubekehrten  entflammt. 
Er  hält  es  für  seine  Pflicht,  den  heidnischen  Gottesdienst  zu  stören  und 
die  Götterbilder  in  dem  Tempel  umzustürzen,  und  wird  bei  seinem  tempel- 
schänderischen  Beginnen  alsbald  verhaftet.  Ein  kaiserlicher  Befehl  hat 
aber  über  jeden  Christen  die  Todesstrafe  verhängt.  Vergebens  ist  Paulinens 
und  ihres  Vaters  Bemühen,  Polyeucte  zur  Mäßigung  zu  stimmen  und  ihn 
so  zu  retten.  Vergebens  tritt  selbst  Sever,  der  unerwartet  nach  glück- 
licher Kriegsthat  als  des  Kaisers  Günstling  und  Freund  in  Armenien 
erscheint,  für  ihn  ein.  Polyeucte  kennt  keine  andere  Sehnsucht,  als  durch 
schleunigen  Tod  in  das  Himmelreich  aufzusteigen.  Ihm  erscheint  das  wie 
ein  vorteilhafter  Tauschhandel.  Für  einen  raschen  Tod  erwirbt  er  ja  die 
ewige  Glückseligkeit.  Er  ist  so  frei  von  jeder  menschlichen  „Schwäche'% 
wie  er  das  nennt,  daß  er  völlig  vergißt,  welche  Pflichten  ihn  an  das 
irdische  Leben  binden,  daß  er  als  Bürger  Pflichten  gegen  den  Staat  hat, 
und  für  das  Lebensglück  seiner  Gattin ,  die  ihm  so  viel  geopfert ,  ver- 
antwortlich ist.  Die  rührende  Bitte  Paulinens  müßte  sein  Herz  bewegen : 

„Denkt  des  Geschlechts,  aus  welchem  Ihr  entsprossen, 

Denkt  Eurer  Thaten,  Eurer  selt'nen  Kraft! 

Ihr  seid  geliebt  vom  Volk,  geehrt  vom  Kaiser, 

Der  Eidam  dessen,  der  das  Land  regiert. 

Zudem  mein  Gatte  —  doch  das  wiegt  nicht  schwer. 

Beglückt  es  mich,  gilt  es  für  Euch  nicht  viel."  ^) 

Polyeucte  ahnt  so  wenig  den  wahren  Wert  und  die  Herzensgröße 
seiner  Frau,  daß  er  sie  nicht  nur  mit  empörendem  Gleichmut  aufgiebt, 
sondern  für  sie  zu  sorgen  glaubt,  indem  er  sie  wie  ein  Vermächtnis  an 
Sever  vererben  will.  Auf  tiefste  verletzt,  ruft  ihm  Pauline  zu: 

„Grausamer  Mann,  wenn  Du  mich  töten  willst, 
Mußt  Du  mich  auch  beschimpfen? "2) 

Selbst  Jesus  hatte  einen  Moment  der  Schwäche,  als  er  die  Stunde 
seines  qualvollen  Todes  nahen  sah.  Polyeucte  aber  weiß  nicht,  was 
Schwanken  heißt.  Er  mag  ein  Heiliger  sein,  aber  er  ist  kein  Mensch  mehr, 
und  doch  können  wir  nur  mit  Wesen  Mitleid  haben,  deren  Natur  der 
unseren  ähnlich  ist,  und  welche  Gefühle  und  Leidenschaften  haben  wie 
wir.  Polyeucte  wird  von  seinem  Schwiegervater  zum  Tod  geschickt.    Der 


1)  Polyeucte,  IV,  3,  13: 

Daignez  considerer  le  sang  dont  vous  sortez, 

Vos  grandes  actions,  vos  rares  qualites: 

Cheri  de  tout  le  peuple,  estime  chez  le  priuce, 

Gendre  du  gouverneur  de  toute  la  province, 

Je  ne  vous  compte  ä  rien  le  uom  de  mon  epoux, 

C'est  un  bonheur  pour  moi  qui  n'est  pas  graud  pour  vous. 

^j  Polyeucte,  V,  3,  6: 

Tigre,  assassine-moi  du  moins  sans  m'outrager. 


408 

charakterlose  Felix  fürchtet  einerseits  den  Zorn  des  Kaisers,  wenn  er 
dessen  Gebot  mißachtet,  anderseits  hofft  er  durch  sein  Urteil  Severs  Gunst 
zu  erwerben.  Denn  der  Tod  Polyeuctes  giebt  ja  Paulinen  die  Freiheit 
wieder.  Doch  seine  niedrigen  Berechnungen  erweisen  sich  als  irrig. 
Polyeuctes  Märtyrertod  thut  Wunder.  Pauline  wird  durch  ihn  plötzlich 
für  das  Christentum  gewonnen  und  verkündet  laut  und  triumphierend  ihre 
Erleuchtung : 

^Mein  Irrtum  schwand:  ich  seh',  ich  weiß,  ich  glaube!"  i) 

Noch  erstaunlicher  ist  der  Eindruck  der  Katastrophe  auf  Felix, 
den  des  Himmels.  Gnade  ebenfalls  erleuchtet,  so  daß  er  sein  Amt  nieder- 
legt und  sich  offen  zum  Christentum  bekennt.  Selbst  Sever  wird  zum 
Freund  der  Christen  und  seine  Äußerungen  lassen  seine  baldige  Bekeh- 
rung voraussehen. 

Die  Tragödie  schließt  also  mit  dem  Sieg  der  neuen  Lehre.  Doch 
sind  es  nicht  die  Christen,  sondern  die  heidnischen  Personen  des  Stücks, 
Sever  und  Pauline,  welche  unsere  Sympathie  erwecken.  Sever  ist  der 
edle,  feinfühlende  Mann,  der  jede  niedere  Regung  des  Herzens  zu  be- 
siegen weiß;  Pauline  erweist  sich  als  ein  reines,  pflichtgetreues  Weib. 
Sie  ist  ruhig  und  zurückhaltend,  denn  sie  hat  in  harter  Lebensschule 
ihre  Gefühle  zu  bemeistern  gelernt.  Aber  ihr  Herz  schlägt  doch  warm 
und  stark,  und  mutig  hat  sie  sich  ihrer  neuen  Lebensaufgabe  gewidmet. 

Das  moderne  französische  Drama  würde  es  sich  kaum  entgehen 
lassen,  in  Pauline  eine  unglückliche,  verkannte,  melancholische  Frau  zu 
zeichnen:  Corneille  hat  sie  höher  gestellt;  er  hat  aus  ihr  eine  Heldin 
gemacht,  die  ihre  Pflicht  erfüllt,  ohne  viel  Worte  zu  machen.  Da  sie 
ihren  Gatten  mit  dem  Tod  bedroht  sieht,  erklärt  sie  Sever.  den  sie  einst 
geliebt  hat,  daß  eine  Verbindung  zwischen  ihnen  für  alle  Zeiten  unmög- 
lich sei,  und  Sever  würdigt  ihr  Zartgefühl  und  beugt  sich  vor  der  Ho- 
heit ihres  Geistes.  So  fällt  in  dieser  Tragödie,  die  zur  Verherrlichung 
des  Christentums  dienen  soll,  die  schönste  Rolle  dem  Heidentum  zu.  Cor- 
neille hat  das  freilich  nicht  beabsichtigt.  Indem  er  Pauline  und  ihren 
Vater  sich  bekehren  läßt,  will  er  zeigen,  daß  sie  schon  vorher  des 
Christentums  würdig  waren  und  nur  die  Stunde  der  Erleuchtung  fehlte. 
Aber  gerade  diese  unerwartete  Bekehrung  schwächt  den  Schluß  ab.  Pau- 
line, die  so  menschlich,  so  natürlich  fühlt,  ist  Zeuge  der  Hinrichtung 
ihres  Gatten.  Man  sollte  denken,  daß  diese  entsetzliche  Scene  sie  auf 
das  Tiefste  erschüttern  müßte.  Allerdings  thut  sie  das,  aber  in  anderem 
Sinn  als  wir  erwarten.  Sie  fühlt  sich  mit  einem  Mal  für  das  Christen- 
tum gewonnen.  Sie  hat  nun  kein  Wort  mehr  des  Schreckens  und  der 
Trauer,  sie  ist  in  ihrem  ganzen  Wesen  geändert.  Ob  zu  ihrem  Vorteil? 
Ihre  letzte  Rede  läßt  uns  das  nicht  glauben.  Uns  scheint,  daß  der  milde 
Sinn,  der  sie  früher  beseelte,  sich  nun  in  harten  Fanatismus  umgewan- 
delt hat.   Sie  ruft  ihrem  Vater  zu: 


1)  Polyeucte,  V,  5,  9: 

„Je  vois,  je  sais,  je  crois,  je  suis  desabusee." 


409 

„Sieh  mich  getauft  mit  diesem  frommen  Blut. 
Auch  ich  bin  Christin,  ist  das  nicht  genug? 
Schick  mich  zum  Tod,  um  Deinen  Rang  zu  wahren. 
Den  Kaiser  fürchte  und  den  Zorn  Severs. 
Willst  Du  nicht  selber  fallen,  muß  ich  sterben. 
Schon  ruft  mein  Gatte  mich  zum  sel'gen  Tod; 
Nearch  und  er,  sie  öffnen  mir  die  Arme. 
Führ  mich  zu  Deinen  Göttern,  die  ich  hasse: 
Sie  stürzten  nur  das  eine  Götzenbild, 
Ich  will  die  ander'n  brechen. .  ."i) 

Daß  in  Zeiten  religiöser  Verfolgung  und  tiefgehender  Aufregung 
der  mutige  Tod  eines  Menschen  andere  mit  der  Kraft  zu  gleichem  Tod 
erfüllt,  ist  gewiß.  Aber  solche  Märtyrer  haben  auch  in  ihrem  früheren 
Leben  schon  einen  mystischen  Zug,  einen  Hang  zum  Fanatismus  gezeigt. 
Nicht  so  Pauline.  Ihr  Charakter  war  bis  zum  Moment  ihrer  Bekehrung 
so  klar  und  sicher,  und  nur  das  reinste  Menschentum  beseelte  sie,  daß 
wir  uns  diese  letzte  Wandlung  nicht  erklären  können ;  sie  ist  nicht 
motiviert,  ist  ein  Wunder  —  und  Wunder  sind  zum  wenigsten  nicht 
dramatisch  wirksam. 

„Polyeucte"  leidet  an  einem  Grundfehler,  an  der  irrigen  Auf- 
fassung des  religiösen  Fanatismus.  Trotzdem  gehört  diese  Tragödie  in 
die  Reihe  der  größten  Werke  Corneilles.  In  der  Anlage  vortrefflich,  stei- 
gert sich  das  Interesse  fortwährend  bis  zum  vierten  Akt,  welcher  mit 
der  Kerkerscene  zwischen  Polyeucte  und  Pauliue  den  Höhepunkt  der 
Spannung  erreicht.  Die  Figur  der  Pauline  allein  sichert  dem  Werk  die 
Bewunderung  aller  Zeiten;  ihr  Charakterbild  ist  eine  der  schönsten  und 
reinsten  Schöpfungen  der  Litteratur.  In  ihrem  ganzen  Wesen  liegt  eine 
Zartheit,  wie  sie  Corneille  keinem  seiner  Frauenbilder  wieder  verliehen 
hat.  Dies  zeigt  sich  besonders  in  einer  der  hervorragendsten  Sconen  des 
ersten  Akts,  in  welcher  Felix,  der  niedrig  denkende,  egoistische  Vater 
Paulinens,  dieser  die  Nachricht  bringt,  daß  Sever  nicht  tot  ist,  wie  man 
geglaubt  hat,  und  daß  er  in  wenig  Stunden  vor  ihr  stehen  wird.  Felix 
fürchtet  die  Rache  Severs,  und  er  verlangt  von  seiner  Tochter,  sie  solle 
ihre  Macht  über  das  Herz  ihres  ehemaligen  Geliebten  benutzen,  um  ihn 
günstig  zu  stimmen.  Pauline  kennt  den  Charakter  Severs  besser;  sie 
weiß,  daß  ihm  Rachegedanken  fern  liegen.  Aber  sie  weigert  sich,  ihn 
wieder  zu  sehen: 

„Ich  bin  ein  Weib  und  kenne  meine  Schwäche!" 


1)  Polyeucte,  V,  5,  10: 

De  ce  bienheureux  sang  tu  rae  vois  baptisee; 

Je  suis  chretienne  enfin,  n'est-ce  point  assez  dit? 

Conserve  en  me  perdant  ton  rang  et  ton  credit; 

Redoute  l'empereur,  apprehende  Severe: 

Si  tu  ne  veux  perir,  ma  perte  est  necessaire; 

Polyeucte  m'appelle  a  cet  heureux  trepas; 

Je  vois  Nearque  et  lui  qui  me  tendent  les  bras. 

Mene,  mene-mois  voir  tes  Dieux  que  je  deteste. 

Ils  n'en  ont  brise  qu'un,  je  briserai  le  reste. 


410 


Weil  sie  ihrer  Pflicht  getreu  bleiben  will,  mißtraut  sie  ihrer  Kraft. 
Sever  hat  ihr  Herz  besessen  und  nur  mit  Mühe  hat  sie  ihre  Liebe  be- 
kämpft. „Ich  kann  ihn  nicht  wiedersehen!"  ruft  sie,  und  dieser  Angst- 
schrei einer  reinen  Seele  läßt  Panlinen  besser  erkennen,  als  es  lange 
Reden  thun  könnten.  „Ich  kann  ihn  nicht  wiedersehen!"  wiederholt  sie 
aufgeregt,  aber  fest  entschlossen.*)  Später,  wenn  sie  die  Zusammenkunft 
mit  Sever  nicht  vermeiden  kann,  sagt  sie  ihm  ausdrücklich,  daß  sie 
ihren  Gatten  liebt,  denn  sie  duldet  auch  nicht  den  Schatten  eines  Miß- 
verständnisses.') 

,.Polyeucte"  wurde  von  seinem  ersten  Erscheinen  an  sehr  bewun- 
dert und  die  Nachahmungen  blieben  nicht  aus.  Doch  ist  von  allen  nur 
Rotrous  „Saint-Genest"  zu  erwähnen,  von  welchem  später  noch  die  Rede 
sein  wird. 

Die  römische  Welt,  welche  Corneille  in  „Horace"  und  „Cinna" 
geschildert  hatte  und  die  auch  den  Hintergrund  in  „Polyeucte"  bildet, 
lieferte  dem  Dichter  gleichfalls  den  Stoff  zu  seiner  nächsten  Tragödie, 
dem  „Tod  des  Pompejus"  ^)  („La  mort  de  Pompee").  In  welches  Jahr 
dieses  Stück  fiel,  ist  ebenfalls  nicht  ganz  sicher.  Wenn  „Polyeucte", 
entgegen  der  früheren  Annahme,  erst  anfangs  1643  zur  Aufführung 
gelangte,  so  muß  auch  das  Datum  des  „Pompejus"  hinausgerückt  werden. 
In  dem  Vorwort  zu  seinem  „Monteur"  sagt  der  Dichter,  er  habe  dieses 
Lustspiel  und  den  „Pompejus"  in  demselben  Winter  geschrieben,  und 
so  müssen  wir  deren  Entstehen  wol  in  den  Winter  1643 — 1644  setzen.*) 


1)  Polyeucte,  I,  4,  77  ff. 

Pauline: 
Mon  pere,  je  suis  femme,  et  je  sais  ma  faiblesse, 
Je  sens  dejä  mon  coeur  qui  pour  lui  s'interesse. 
Et  poussera  sans  deute,  en  depit  de  ma  foi, 
Quelque  soupir  indigne  et  de  vous  et  de  moi. 
Je  ne  le  verrai  point. 

Felix: 

Rassure  un  peu  ton  äme. 

Pauline: 
II  est  toujours  aimable,  et  je  suis  toujours  femme, 
Dans  le  pouvoir  sur  moi  que  ses  regards  ont  eu, 
Je  n'ose  m'assurer  de  toute  ma  vertu. 
Je  ne  le  verrai  point. 

2)  Polyeucte,  II,  2,  v.  1. 

3)  Als  Tragödie  bezeichnete  Corneille  auch  Stücke  wie  „Cinna"  und 
„Pompee",  die  wir  Schauspiele  nennen  würden. 

*)  Im  Druck  erschien  „Pompee"  anfangs  1644,  also  wahrscheinlich  bald 
nach  der  ersten  Aufführung.  Der  „Menteur"  wurde  1644  veröffentlicht.  In  einem 
Brief  Balzacs  an  Corneille,  datiert  vom  10.  Februar  1643,  heißt  es  allerdings : 
„Vous  serez  Aristophane  quand  il  vous  plaira,  comme  vous  etes  dejä  Sophocle". 
Soll  man  daraus  schließen,  daß  der  „Menteur"  doch  schon  damals  geschrieben 
war?  Ich  glaube  nicht.  Balzac  schmeichelt  zwar  oft  unverschämt,  aber  wenn 
er  den  „Menteur"  gekannt  hätte,  wäre  ihm  eine  Vergleichung  mit  den  aristo- 
phaneischen  Lustspielen  doch  kaum  in  den  Sinn  gekommen.  Vielleicht  hatte 
Corneille  von  seiner  Absicht  geschrieben,   sich   wieder  einmal  im  Lustspiel  zu 


411 


Diese  Annahme  wird  auch  von  einer  Stelle  im  „Menteur"  be- 
kräftigt. Das  Palais  Cardinal  wird  dort  die  Wohnung  der  Könige  ge- 
nannt. Die  Eegentin,  Königin  Anna,  bezog  den  Palast  aber  erst  im 
Jahr  1643  mit  ihren  beiden  Kindern,  dem  jungen  König  Ludwig  XIV. 
und  seinem  Bruder  Orleans.^) 

Corneille  hielt  sehr  viel  von  seinem  „Pompejus".  Er  hatte  seine 
Freude  an  stolzer,  volltönender  Rede,  und  meinte,  in  keinem  andern 
Stück  habe  er  eine  so  markige  Sprache  geführt,  wie  in  diesem.^)  Aber 
wenn  es  auch  durch  seine  Rhetorik  glänzt,  so  ist  es  kaum  dramatisch. 
Der  Beginn  allerdings  ist  vortrefflich.  Dem  König  Ptolemäus  von  Ägypten 
ist  zugleich  mit  der  Nachricht  von  der  Schlacht  bei  Pharsalus  die  Bot- 
schaft zugekommen,  daß  Pompejus  auf  der  Flucht  vor  Cäsar  sich  zu  ihm 
begeben  wolle,  und  der  erste  Akt  zeigt  den  ägyptischen  Fürsten  in  Be- 
ratung mit  seinen  Ministern.  Ihre  Mehrzahl  rät,  den  flüchtigen  Feldherrn 
zu  ermorden  und  durch  diese  That  die  Gunst  Cäsars  zu  erwerben.  Kleo- 
patra,  die  Schwester  des  Königs,  erhebt  sich  gegen  die  Anschläge  jener, 
„aus  Schmutz  geformten  Seelen-'  und  jener  „Pest  des  Hofs"  (II,  2,  140). 
Allein  sie  dringt  mit  ihrer  Ansicht  nicht  durch.  Photin,  der  einflußreichste 
Mann  im  Rat  des  Ptolemäus,  vergiftet  den  Sinn  seines  Herrn  mit  ver- 
derblichen Lehren. 

Des  Staatsmanns  Kraft  beruht  nicht  auf  dem  Recht. 


Der  König  hat  das  Recht,  niemand  zu  schonen. 

Zaghafte  Billigkeit  vernichtet  nur 

Die  Kunst  des  Herrschens.  Der  muß  immer  fürchten, 

Der  ungerechte  Thaten  ängstlich  scheut. 

Wer  alles  können  will,  muß  alles  wagen."  3) 

Auf  den  Rat  seiner  Minister  beschließt  Ptolemäus  die  Ermordung 
des    flüchtigen   Pompejus.    Leider    entspricht    der  Fortgang    des  Stücks 

versuchen.    Wenn  Balzac  in  demselben  Brief  Corneille  den    „Vater  des  Lust- 
spiels" nennt,  so  mochte  er  an  die  früheren  Komödien  des  Dichters  denken. 

')  Le  Menteur,  II,  5,  11: 

Et  l'univers  entier  ne  peut  rien  voir  d'egal 

Aux  süperbes  dehors  du  palais  Cardinal. 

Toute  une  ville  entiere,  avec  pompe  bätie, 

Semble  d'un  vieux  fosse  par  miracle  sortie, 

Et  nous  fait  presumer,  a  ses  süperbes  toits, 

Que  tous  ces  habitants  sont  des  dieux  ou  des  rois. 
Richelieu  hatte  seinen  Palast  dem  König  vermacht. 

-)  S.  Examen  de  Pompee:     „Pour   le  style,    il  est  plus  eleve  en  ce 

poeme  qu'en  aucun  des  miens,  et  ce  sont,  sans  contredit,  les  vers  les  plus  pom- 
peux  que  j'aie  faits." 

3)  Horace,  I,  1,  194: 

La  justice  n'est  pas  une  vertu  d'Etat. 


Le  droit  des  rois  consiste  ä  ne  rien  epargner. 

La  timide  equite  detruit  l'art  de  regner. 

Quand  on  craint  d'etre  injuste,  on  a  toujours  ä  craindre. 

Et  qui  veut  tout  pouvoir,  doit  oser  tout  enfreindre. 


412 


nicht  dem  spannenden  Beginn.  Pompejus  erscheint  gar  nicht  auf  der 
Bühne,  und  seine  klägliche  Ermordung  wird  nur  erzählt.  Cäsar  wird 
dagegen  handelnd  eingeführt,  aber  merkwürdigerweise  ist  seine  Figur 
gänzlich  verfehlt.  Er  erscheint  bei  Corneille  nur  als  süßlicher  Galan. 
Daß  der  historische  Cäsar  zu  keiner  Zeit  Liebesabenteuer  verschmähte, 
beweist  die  Geschichte  der  Kleopatra.  Aber  Corneille  giebt  ihm  für  seine 
Kriegszüge  kein  anderes  Motiv  als  die  Liebe.  Der  Cäsar  Corneilles  hat 
Kleopatra  schon  früher  zu  Rom  gesehen  und  geliebt,  und  sein  Herz 
treibt  ihn  darum,  sie  aufzusuchen.  Ehrgeiz  und  Herschsucht  sind  ihm 
völlig  fremd ;  hätte  sein  Widersacher  ihm  vertraut,  so  hätte  sich  ein 
friedliches  Abkommen  leicht  gefunden.  ,.Wenn  Pompejus  nicht  geflohen 
wäre",  sagt  Cäsar  zu  Cornelia,  „ich  hätte  Zwietracht  und  Neid  zer- 
treten, hätte  ihn  beschworen,  meinen  Sieg  zu  vergessen,  mich  zu  lieben, 
und  ich  wäre  glücklich  gewesen,  neben  ihm  als  seinesgleichen  zu 
leben."')  Ihr  Streit  habe  auf  einem  Mißverständnis  beruht.  Das  klingt 
sehr  großmütig,  aber  auch  sehr  unwahrscheinlich,  wenn  man  an  den 
erbitterten  Krieg  denkt,  den  die  beiden  Männer  in  Wirklichkeit  mit- 
einander geführt  haben.  Wollte  Corneille  vielleicht  die  Falschheit  Cäsars 
zeigen,  der  mit  glatter  Sprache  seine  Feinde  zu  beschwichtigen  trachtet? 
Der  Verlauf  des  Stücks  erlaubt  solchen  Schluß  nicht;  Cäsar  soll  als 
Held  aufgefaßt  werden,  und  selbst  Cornelia,  seine  erbitterte  Feindin,  ruft 
bewundernd  aus: 

„Daß  ich  solch  hochgesinnten  Mann  muß  hassen!"-) 
Dieser  Cäsar  gleicht  den  berühmten  Romanhelden  des  17.  Jahr- 
hunderts auf  ein  Haar;  ähnlich  den  Rittern  von  König  Artus'  Tafel- 
runde ist  er  ausgezogen,  für  die  Ehre  seiner  Dame  zu  streiten  und 
jeden  Fremden  zum  Lob  ihrer  Schönheit  zu  zwingen.  Er  redet  zu  Kleo- 
patra, wie  nur  je  ein  precieuser  Edelmann  im  Hotel  de  Rambouillet 
girren  konnte :  ^) 

Gäb's  einen  Fürsten,  dessen  Liebe  Euch 
Auf  einen  würdigeren  Thron  erhöbe, 
Ich  zöge  gegen  ihn  —  nicht  zur  Eroberung, 
Nur  Euch  zu  dienen,  würd'  ich  ihm  verbieten. 
Erst  wenn  ich  solchen  Gegner  überwunden, 
Dürft'  ich  ans  Glück  Euch  zu  gefallen  denken. 


i)  Horace,  III,  4,  65: 

Alors,  foulant  aux  pieds  la  diseorde  et  s'envie, 
Je  l'eusse  conjure  de  se  donner  la  vie, 
D'oublier  la  victoire  et  d'aimer  un  rival, 
Heureux  d'avoir  vaincu  pour  vive  son  egal. 

^)  Pompee,  III,  4,  92: 

0  ciel,  que  de  vertus  nous  me  faites  hau! 

^)  Pompee,  IV,  3,  21: 

S'il  etoit  quelque  tröne  oü  vous  pussiez  paraitre 
Plus  dignement  assise  en  captivant  son  maitre, 
J'irois,  j'irois  ä  lui,  moins  pour  le  lui  ravir, 
Que  pour  hü  disputer  le  droit  de  vous  servir. 


413 


Nur  deshalb  hob  ich  meinen  Arm  zum  Kampf, 
Um  solch  ein  kostbar  Recht  mir  zu  erwerben. 
Selbst  bei  Pharsalus  zog  ich  mehr  das  Sehwert 
Für  dieses  Recht  als  gegen  den  Pompejus, 

Da  Eure  schönen  Augen  mich  bestrickt, 

Und  Eurer  Lieb'  ich  würdig  wollt'  erscheinen, 

Schwang  ich  mich  auf  zum  Herrscher  Roms,  der  Welt.i) 

Corneilles  Held  hat  vom  historischen  Cäsar  nichts  als  den  Namen ; 
er  erscheint  ohne  Größe,  und  die  weitere  Entwicklung  des  Dramas  ist 
mühsam,  ohne  Spannung.  Ptolemäus  sieht  sich  in  seiner  Erwartung  auf 
Cäsars  Dank  getäuscht,  und  plant  einen  verräterischen  Überfall  der 
Kömer.  Aber  Cornelia  hört  von  der  Verschwörung,  und  weil  sie  zunächst 
Ptolomäus  bestraft  wünscht,  auch  als  echte  Eömerin  nicht  zugeben 
kann,  daß  an  einem  Tag  die  zwei  größten  Feldherren  Eoms  unter  dem 
Messer  eines  Barbaren königs  fallen,  warnt  sie  Cäsar.  Die  weiteren  Be- 
gebenheiten, der  Aufstand  der  Ägypter,  der  blutige  Kampf  in  den  Straßen 
Alexandrias,  der  Tod  des  Ptolomäus,  alles  wird  nur  berichtet  —  „Pom- 
pejus" enthält  nicht  weniger  als  vier  große  Erzählungen  —  und  das 
Stück  endet  damit,  daß  Cornelia  sich  zum  Heer  Catos  begiebt.  Scheidend 
droht  sie  mit  ihrem  Zorn  und  ihrer  Rache,  Cäsar  aber  widmet  sich 
^anz  seiner  Liebe  zu  Kleopatra,  die  er  zur  Königin  von  Ägypten  erhebt. 
Diese  letztere  ist  nicht  minder  modern  geschildert  als  Cäsar;  sie  ist 
eine  französische  Prinzessin,  ohne  eine  Spur  von  orientalischer  Glut. 
Dafür  kennt  sie  genau  die  spitzfindigen  Gesetze  der  Galanterie. 

Daß  ein  Dichter  den  historischen  Charakter  seiner  Helden  nicht 
bewahrt,  darf  man  ihm  nicht  zum  Vorwurf  machen.  Er  zeichnet  einen 
Charakter,  wie  er  ihm  vorschwebt,  und  nennt  ihn  nach  Belieben.  Aber 
diese  Freiheit  ist  ihm  nur  unter  einer  Bedingung  gestattet.  Wir  ver- 
langen, daß  die  Menschen,  die  er  uns  zeigt,  in  sich  wahr  seien,  mögen 
sie  nun  heißen,  wie  sie  wollen.  Shakespeares  Römer  sind  auch  keine 
historisch  getreuen  Zeichnungen,  aber  wir  sehen  in  ihnen  doch  wahr- 
hafte Menschen.  Der  Feldherr,  den  Shakespeare  Cäsar  nennt,  ist  ein 
ehrgeiziger  Mann,  der  nach  der  Krone  strebt  und  darum  von  fanati- 
schen, kurzsichtigen  Menschen  ermordet  wird,  ohne  daß  sie  die  verlorene 
Freiheit  des  Landes  zurückbringen  könnten.  Die  Tragödie  Shakespeares 
bietet  ein  ergreifendes,  wahres  Bild,  obgleich  die  Römer,  die  darin  auf- 
treten, deutlich  den  englischen  Typus  tragen.  Diese  innere  Wahrheit 
aber    fehlt    Comeilles   „Pompejus'',    und    auch    die    glänzendste    Diktion 


')         Et  je  n'aspirerois  au  bonheur  de  vous  plaire. 
Qu'apres  avoir  mis  bas  un  si  grand  adversaire. 
C'etoit  pour  acquerir  un  droit  si  precieux 
Qua  combattait  partout  mon  bras  ambitieux; 
Et  dans  Pharsale  meme  il  a  tire  l'epee 
Plus  pour  le  conserver  que  pour  vaincre  Pompee. 

Et  vos  beaux  yeux  enfin  m'ayant  fait  soupirer, 
Pour  faire  que  votre  äme  avec  gloire  y  reponde, 
M'ont  rendu  ie  premier  et  de  Rome  et  du  monde. 


414 


vermag  solche  Schwäche  nicht  zu  verdecken.  Im  Gegenteil,  die  Unwahrheit 
der  Charaktere  verführt  den  Dichter,  der  Sprache  Gewalt  anzuthun, 
und  in  dem  Bestreben,  ihr  die  möglichste  Erhabenheit  zu  geben,  verfällt 
er  häufiger  als  sonst  in  Schwulst.^)  Die  einzige.  Corneilles  würdige 
Figur  dieser  Tragödie  ist  Cornelia,  obwol  auch  sie  deui  Vorwurf,  zu 
deklamatorisch  gehalten  zu  sein,  nicht  ganz  entgeht. 

Die  Geschichte  Corneilles  führt  uns  nun  zu  einem  Werk,  das  eine 
ähnliche  Bedeutung  in  der  Litteratur  erlaogte  wie  der  „Cid".  Sahen  wir 
in  diesem  das  erste  klassische  Schauspiel,  so  leitete  das  Lustspiel  „Le 
Menteur"  (,.Der  Lügner"),  das  Corneille  auf  „Pompejus"  folgen  ließ, 
zu  der  höheren  Charakterkomödie.  Wie  der  „Cid",  war  auch  der  „Men- 
teur" die  Bearbeitung  eines  spanischen  Musters.  Wie  eng  sind  doch  die 
Geschicke  der  Völker  miteinander  verflochten !  Wie  mächtig  ist  die  geistige 
Wechselwirkung  der  Xationen  aufeinander!  Spanien  besonders,  das  mit 
seinen  weiten  Besitzungen  in  Europa  dominierte,  finden  wir  in  dem  16. 
und  17.  Jahrhundert  von  bestimmendem  Einfluß  auf  den  verschiedensten 
Gebieten. 

Corneille  war  kein  besonderer  Kenner  des  Spanischen,  aber  er 
kehrte  doch  immer  wieder  zum  spanischen  Theater  zurück,  das  ihm  schon 
einmal  zu  großem  Triumph  verholfen  hatte.  In  einem  Band  spanischer 
Dramen  hatte  er  das  Lustspiel  ..La  verdad  sospechosa"  („Die  verdäch- 
tige Wahrheit")  gefunden,  das  eine  Zeit  lang  unter  dem  Namen  Lope 
de  Vegas  gedruckt  wurde,  in  Wahrheit  aber  von  Don  Juan  Kuiz  de 
Alarcon  (f  1630)  herrührte.  Dieses  Stück  gab  ihm  die  Anregung  zu 
seinem  neuen  Lustspiel. 

Die  spanische  Komödie  hatte  damals  einen  hohen  Grad  der  Aus- 
bildung erreicht.  Ein  feiner  Geist  beseelte  sie,  und  eine  ausgebildete, 
poetische,  nur  zu  oft  gesuchte  Sprache  erhöhte  ihren  Beiz.  Freilich 
räumte  sie  der  regellosen  Phantasie  einen  größeren  Spielraum  ein,  als 
wir  Nordländer  schön  finden;  die  Natur  des  Spaniers,  der  viel  von  den 
Mauren  angenommen  hatte,  verlangte  darin  ihr  Recht.  Spanische  Dramen 
können  daher  nördlich  der  Pyrenäen  nicht  populär  werden,  so  sehr  der 
Kenner  sie  bewundern  mag.  Das  erwähnte  Lustspiel  Alarcons  ist  ein 
geistvolles  Werk  echt  spanischen  Charakters.  Sein  heiteres,  aber  ver- 
wickeltes Spiel  in  wenig  Worten  klar  zu  machen,  ist  schwierig.  Über- 
gehen wir  die  zahlreichen  Episoden  und  nebensächlichen  Verwicklungen, 
so  ergiebt  sich  als  Hauptinhalt  des  Stücks  etwa  die  folgende  Geschichte. 


2)  Man  siehe  z.  B.  Pompee,  II,  2,  75,  wo  der  Bote,  der  die  Ermordung 
des  Pompejus  berichtet,  von  dem  Sterbenden  sagt: 

Immobile  ä  leurs  coups,  en  lui-meme  il  rappeile 
Ce  qu'eut  de  beau  sa  vie  et  ee  qu'on  dira  d'eUe. 
oder  V.  80: 

Et  son  dernier  soupir  est  un  soupir  illustre  I 

Corneille  hatte  den  Stoff  in  Lucans  „Pharsalia"  gefunden,  und  da  er 
dieses  Epos  sehr  bewunderte,  eine  Reihe  von  Versen  daraus  in  freier  Über- 
tragung in  sein  Drama  aufgenommen.  Der  rhetorische  Charakter  des  „Pompee" 
wurde  dadurch  vielfach  erhöht. 


415 


Ein  junger  Edelmann,  Don  Garcia,  den  sein  Vater  von  der  hohen  Schule 
in  Salamanca  heimgerafen  hat,  um  ihn  zu  verheiraten,  erweist  sich  als 
ein  in  vieler  Hinsicht  braver  Jüngling,  aber  seine  guten  Eigenschaften 
werden  durch  einen  großen  Fehler  verdunkelt.  Don  Garcia  gefällt  sich 
darin,  die  Unwahrheit  zu  sagen.  Dies  bringt  ihn  in  tausend  Verlegen- 
heiten, und  schließlich  straft  sich  seine  Manie  auf  empfindliche  Weise. 
Don  Garcia  begegnet  zwei  reizenden  Damen,  erkundigt  sich  nach  ihren 
Namen  —  Jacinta  und  Lucrezia  —  verwechselt  sie  aber  und  schwärmt 
von  seiner  Liebe  zu  Lucrezia,  da  er  doch  Jacinta  meint.  Im  Lauf  des 
Stücks  verwickelt  er  sich  in  offenbare  Widersprüche,  denn  er  bemüht 
sich  um  Jacintas  Neigung,  während  er  stets  seine  Leidenschaft  für  Lu- 
crezia beteuert.  Zum  erstenmal  spricht  er  hier  die  Wahrheit,  aber  sein 
Wort  ist  verdächtig,  und  er  wird  am  Schluß  von  seinem  erbitterten 
Vater  genötigt,  die  wirkliche  Lucrezia  zu  heiraten.  Das  ganze  Stück  ist 
in  heiterer  Weise  durchgeführt  und  reich  an  jenen  Verwechslungen  und 
Mißverständnissen,  welche  sich  bei  den  spanischen  Sitten  leichter  als 
anderswo  ergaben. 

In  der  Vorredezu  s  einem  Stück  sprach  Corneille  mit  der  größten 
Bewunderung  von  dem  spanischen  Lustspiel,  und  alles  Lob,  das  sein 
„Monteur"  ihm  eingebracht  hatte,  wies  er  dem  spanischen  Dichter  zu. 
Noch  16  Jahre  später  sagte  er,  er  gäbe  gern  zwei  seiner  besten  Stücke 
dafür,  wenn  er  den  ,,Menteur"  als  sein  Original  werk  bezeichnen  könnte.^) 
Er  hat  Alarcons  Stück  nicht  wörtlich  übersetzt,  aber  in  seiner  Bearbei- 
tung sich  doch  eng  an  das  Vorbild  gehalten.  Freilich  bedingte  schon 
die  ümgießung  der  spanischen  Verse  in  französische  Alexandriner  be- 
trächtliche Änderungen  in  Haltung  und  Ton  der  Rede. 

Außerdem  mußte  Corneille,  dem  Charakter  seiner  heimischen  Bühne 
entsprechend,  auf  die  Beweglichkeit  des  spanischen  Lustspiels  verzichten, 
die  Verwicklung  vereinfachen,  und  somit  fielen  nicht  allein  viele  Scenen 
ganz  weg,  andere  konnten  auch  nur  in  sehr  freier  Nachahmung  ge- 
geben werden. 

Corneille  verlegt  die  Scene,  die  bei  Alarcon  bald  im  Park,  bald 
im  Haus,  bald  auf  der  Straße  spielt,  nach  Paris  auf  den  Platz  vor  den 
Tuilerien  und  auf  die  „Place  Eoyale".  Das  zieht  viele  Unwahrschein- 
lichkeiten  nach  sich,  wie  z.  B.  daß  Dorante  (Garcia)  seinem  Vater  auf 
offener  Straße  zu  Füßen  fällt,  um  ihm  die  Lüge  von  seiner  Heirat  recht 
glaubhaft  zu  machen.  Auch  die  schalkhafte  Laune  des  spanischen  Ori- 
ginals wird  oft  bedeutend  abgeschwächt,  und  manche  Unklaiheit  des 
französischen  Lustspiels  hat  ihren  Grund  in  dei  Nötigung,  den  ursprüng- 
lichen Plan    zu  vereinfachen.-)    So   sehr   sich   ferner   Corneille    bemühte, 


1)  Siehe  sein  „Examen  du  Menteur". 

-)  So  z.  B.  ist  es  bei  Alarcon  richtig  motiviert,  dafj  Don  Garcia  von 
seinem  Vater  einen  neuen  Diener  zugewiesen  erhält,  und  daü  sich  dieser  über 
die  Lügen  seines  jungen  Herrn,  den  er  noch  nicht  kennt,  entsetzt.  In  Corneilles 
Stück  ist  das  Verhältnis  zwischen  Dorante  und  Cliton  nicht  so  klar  dargelegt. 
Cliton  thut  sehr  erstaunt,  wenn  er  seinen  Herrn  die  Unwahrheit  reden  hört, 
und  doch  sollte  er  ihn  schon  kennen. 


416 


deu  fremdartigen  Charakter  des  Stücks  abzustreifen,  indem  er  z.  B.  den 
Lügner  statt  von  den  Kämpfen  in  Amerika  von  seinen  Feldzügen  in 
Deutschland  prahlen  ließ,  so  konnte  er  doch  die  Intriguen.  die  auf  der 
spanischen  Lebensweise  beruhten,  den  französischen  Verhältnissen  nicht 
völlig-  anpassen.  Sein  Stück  behielt  darum  immer  etwas  Fremdartiges, 
wenn  man  auch  von  der  „Commedia  dell"  Arte"  her  an  Verwechslungen 
und  Täuschungen  aller  Art  gewöhnt  war.  Dem  Madrider  Publikum  war 
es  verständlich,  wie  zwei  Mädchen  durch  kokettes  Spiel  mit  der  Mantille 
sich  unkenntlich  machen  und  einen  Fremden  täuschen  können.  Nach 
Paris  übertragen,  verlor  dieses  Spiel  an  Wahrheit  und  somit  an  Interesse. 

Alarcons  Werk  hat  ebensoviel  vom  Intriguenstück  wie  von  der 
Charakterkomödie.  Das  Verdienst  Corneilles  ist  es,  in  seiner  Bearbeitung 
die  letztere  Seite  besonders  betont  zu  haben,  denn  darin  liegt  ilie  Be- 
deutung des   „Menteur'. 

Es  ist  das  erste  französische  Lustspiel,  in  welchem  sich  eine  ernst- 
liche Charakterstudie  findet.  Ein  Lustspiel,  dessen  Personen  nicht  dem 
wirklichen  Leben  entnommen  sind  und  nicht  wahrhaftige  Charaktere  dar- 
stellen, kann  wol  erheitern,  aber  auf  litterarische  Bedeutung  hat  es 
keinen  Anspruch.  Der  „Menteur'"  zeigte  den  französischen  Dichtern  den 
Weg,  den  sie  zu  gehen  hatten,  und  insofern  gilt  Corneille  mit  Recht 
als  der  Begründer  des  modernen  französischen  Lustspiels. 

In  dem  Bestreben,  vor  allem  den  Charakter  eines  Lügners  zu 
zeichnen,  wich  Corneille  in  der  Schlußscene  von  dem  Gang  des  Origi- 
nals ab.  Als  Dorante  (Garcia)  seines  Irrtums  inne  wird  und  erkennt, 
daß  er  Ciarice  für  Lucrece  gehalten  hat,  will  er  sich  abermals  mit  einer 
Lüge  aus  der  Verlegenheit  ziehen.  Er  habe  Claricen  nur  den  Hof  ge- 
macht, sagt  er,  weil  er  bemerkt  habe,  daß  sie  ihn  foppen  wolle.  So 
bleibt  allerdings  Dorante  seinem  Charakter  bis  zum  Ende  getreu,  aber 
de]-  heitere  Schluß  des  spanischen  Stücks,  wonach  der  Lügner  zur  Strafe 
für  seine  Unwahrheit  eine  Frau  nehmen  muß,  die  er  nicht  mag,  geht 
verloren.  Denn  dem  Corneille'schen  Lügner  erscheint  die  wirkliche  Lu- 
crece, die  er  als  Frau  heimzuführen  genötigt  wird,  bereits  liebenswerter 
als  Ciarice,  um  die  er  sich  zuvor  bemüht  hat.  So  kann  denn  auch  Cliton, 
der  Diener,  das  spöttische  Schlußwort  an  die  Zuschauer  richten : 

Ihr  glaubtet,  daß  er  sich  nicht  retten  könnte. 
So  lernt  von  ihm  jetzt,  wie  man  lügen  muß.') 

Der  „Menteur"  zeichnet  sich  wieder  durch  seine  Sprache  aus.  Wie 
Corneille  schon  in  seinen  früheren  Lustspielen  den  Ton  der  feinen  Ge- 
sellschaft hatte  treffen  wollen,  so  versucht  er  es  jetzt  wieder,  und  mit 
noch  besserem  Erfolg.  Eine  große  Anzahl  heiterer  und  glücklicher  Wen- 
dungen, die  er  seinem  Stück  eingefügt  hat,  zeigen  aufs  neue,  daß  Cor- 


Lüse. 


1)  Le  Menteur,  V,  7,  17  und  18: 

Vous  autres  qui  doutiez  s'il  pourroit  en  sortir, 
Par  un  si  rare  exemple  apprenez  ä  mentir. 
Das  spanische  Stück   schließt    im  Gegenteil    mit  einer  Warnung  vor  der 


417 


neille  auch  die  Gabe  des  Humors  besaß.  Eine  sehr  gehmgeue  Scene  ist 
z.  B.  die,  in  welcher  Dorante  auseinandersetzt^  wie  man  prahlen  müsse, 
um  den  Damen  zu  gefallen: 

„Erringt  man  einer  Dame  Gunst  so  leicht, 
Wenn  man  ihr  zierlich  sagt:  Empfaht 
Die  Huldigung,  die  Eure  Schönheit  heischt? 
Ich  kehrte  jüngst  erst  von  der  hohen  Schule, 
Bedürft  Ihr  Auskunft  über  die  Gesetze? 
Ich  hab'  das  ganze  Corpus  Juris  inne. 
Die  Institutionen,  die  Pandekten, 
Und  weiß,  was  unsre  Professoren  lehrten! 

Welch  Anseh'n  kann  uns  solche  Sprache  geben! 
Wie  wird  die  stolzen  Herzen  sie  erweichen! 
Ein  Paragraphenmann  ist  so  galant! 

Ganz  anders  führt  man  sich  als  Kriegsheld  ein! 

Das  ist  so  schwer  nicht,  wie  es  scheint;  man  schneide 

Ein  grimmiges  Gesicht,  man  fluche  tüchtig, 

Und  lüge  nur  zur  rechten  Zeit;  man  werfe 

Mit  Worten  um  sich,  die  sie  nicht  versteh'n: 

Darin  liegt  das  Geheimnis  dos  Erfolgs. 

Man  nenne  Lamboy,  Gallas,  Johann  Wert, 

Citiere  Orte  mit  barbar'schen  Namen  — 

Je  härter  sie  fürs  Ohr  sind,  desto  besser  — 

Und  rede  nur  von  Linien  und  von  Gräben, 

Eedouten,  Schanzen,  vorgeschobnen  Werken; 

Ob's  paßt,  ob  nicht,  gleichviel:  man  imponiert, 

Und  was  man  ihnen  vorlügt,  wird  bewundert. 

Gar  mancher  hat  mit  Hilfe  solcher  Suada 

Sich  zum  bewährten  Kriegsmann  aufgeschwungen.^) 


1)  Le  Menteur,  I,  6,  U: 

Oh!  le  beau  compliment  a  charmer  une  dame. 
De  lui  dire  d'abord:  J'apporte  ä  vos  beautes 
Un  coeur  nouveau  venu  des  universites; 
Si  vous  avez  besoin  de  lois  et  de  rubriques. 
Je  sais  le  Code  entier  avec  les  Authentiques, 
Le  Digeste  nouveau,  le  vieux,  i'Infortiat, 
Ce  qu"en  a  dit  Jason,  Bälde,  Accurse,  Alciat! 
Qu'un  si  riebe  discours  nous  rend  considerables ! 
Qu'on  amollit  par  lä  de  eoeurs  inexorables! 
Qu'un  homme  ä  paragraphes  est  un  joli  galant ! 

On  s'introduit  bien  mieux  ä  titre  de  vaillant: 

Tout  le  secret  ne  git  qu'en  un  peu  de  grimace, 

A  mentir  ä  propos,  jurer  de  bonne  gräce, 

Etaler  force  mots  qu'elles  n'entendent  pas. 

Faire  sonner  Lamboy,  Jean  de  Vert  et  Galas, 

Nommer  quelques  chäteaux  de  qui  les  noms  barbares 

Plus  ils  blessent  l'oreille,  et  plus  leur  semblent  rares, 

Avoir  toujours  en  bouche  angles,  lignes,  fosses, 

Vedette,  contrescarpe,  et  travaux  avances: 

Sans  ordre  et  sans  raison,  n'importe,  on  les  etonne; 

On  leur  fait  admirer  les  bayes  qu'on  leur  donne, 

Et  tel,  ä  la  faveur  d'un  semblable  debit, 

Passe  pour  un  homme  illustre,  et  se  met  en  credit. 

Lotheißen,  Geech.  d.  franz.  Litteratur. 


418 

Cliton  wird  durch  die  steigende  Geschicklichkeit  seines  Herrn  in 
der  Kunst  des  Lügens  überrascht  und  so  zur  Bewunderung  hingerissen, 
daß  er  —  einer  alten,  noch  heute  giltigen  Schauspielertradition  zufolge 
—  nach  einer  besonderen  Meisterleistung  im  vierten  Akt  seinem  Herrn 
den  Rockzipfel  küßt.^)  Aber  auch  er  ist  reich  an  heiteren  und  witzigen 
Einfällen.  So  sagt  er  einmal  seinem  Herrn: 

Ihr  seid  gestopft  mit  Wahrheit  jeder  Art 
Nur  gebt  Ihr  sie  nicht  von  Euch. 2) 

Corneille  hätte  seine  Natur  verleugnet,  wenn  er  seiner  Sprache 
nicht  auch  stellenweise  höheren  Schwung  gestattet  hätte.  So  klingt  ein 
Monolog  Alcippes,  des  eifersüchtigen  Freundes,  der  sich  von  Dorante 
übervorteilt  glaubt,  ganz  tragisch,  und  berühmt  ist  die  Scene  zwischen 
Dorante  und  seinem  Vater  Geroute.  Der  alte  Herr  ist  seinem  Sohn  mit 
aller  Liebe  entgegengekommen,  aber  von  diesem  unwürdig  betrogen 
worden.  Dorante  hat  ihm  eine  lange  Geschichte  vorerzählt,  wie  er  zu 
einer  Heirat  gezwungen  worden  sei.  und  spottet  noch  des  greisen  Mannes, 
der  die  Verheimlichung  der  Ehe  verzeiht  und  nur  den  Wunsch  hat, 
seine  Schwiegertochter  kennen  zu  lernen.  Erst  als  Geronte  von  anderer 
Seite  die  Wahrheit  erfährt,  bäumt  er  sich  auf  und  sein  Unwille  wird 
doppelt  ergreifend.  Der  würdige  Edelmann  sieht  sich  durch  das  gemeine 
Laster  seines  Sohns  entehrt.  Mit  blitzendem  Auge  und  bebendem  Mund 
tritt  er  Dorante  gegenüber  und  schleudert  ihm  die  Frage  ins  Gesicht: 
Seid  Ihr  ein  Edelmann? 

Dorante  sucht  mit  schalem  Witz  abzulenken,  aber  der  empörte 
Greis  beruhigt  sich  nicht  so  leicht. 

„Wer  sich  von  Adel  nennt,  und  lügt  wie  Du, 
Der  lügt,  wenn  er  es  sagt,  und  war  es  nie! 
Giebt  es  ein  Laster,  das  gemeiner  ist? 
Das  einen  Mann,  der  in  dem  Cult  der  Ehre 
Erzogen  ward,  mit  schwärz'rem  Flecken  schändet  ? 
Giebt"s  eine  Schwäche,  giebt  es  eine  Handlung, 
Die  wahrhaft  edlem  Sinn  verhaßter  wäre? 
Ein  jeder  Widerspruch  wird  ja  zum  Schimpf, 
Dem'  er  nur  mit  Gefahr  des  Lebens  trotzt. 
Der  ihm  ein  Schandmal  auf  die  Stirne  drückt, 
Das  er  mit  Blut  nur  wieder  tilgen  kami."^) 


1)  Le  Menteur,  IV,  4. 

2)  Le  Menteur,  IV,  3,  37: 

Vous  avez  toute  le  Corps  bien  plein  de  verites, 
II  n'en  sort  jamais  une. 

3)  Le  Menteur,  V,  3,  19: 

Qui  se  dit  gentilhomme,  et  ment  comme  tu  fais, 
II  ment  quand  il  le  dit,  et  ne  le  fut  jamais. 
Est-il  vice  plus  bas,  est-il  taehe  plus  noire, 
Plus  indigne  d'un  hemme  eleve  pour  la  gloireV 
Est-il  quelque  faiblesse,  est-il  quelque  action 
Dont  un  coeur  vraiment  noble  ait  plus  d'aversion, 


419 


Wenn  dann  Dorante  ihm  die  Wahrheit  zu  enthüllen  verspricht, 
muß  er  sich  sagen  lassen: 

Kennt  Deine  Zunge  denn  die  Wahrheit? 

Der  edle  Zorn  des  Vaters  müßte  auf  Dorante  vernichtend  wirken. 
Aber  dieser  hat  nur  ein  wegwerfendes  Wort  für  den  ganzen  "Vorgang.  • 
So  sehr  seine  Freunde  auch  seine  sonstigen  Vorzüge  rühmen,  wir 
können  schwer  an  sie  glauben,  wenn  wir  sehen,  wie  völlig  er  jedes 
Verständnis  für  Moral  und  Pflicht  eingebüßt  hat.  Das  ist  denn  auch 
die  Klippe,  welche  das  sonst  treffliche  Werk  gefährdet.  Corneille 
suchte  den  Charakter  Dorantes  später  durch  die  Bemerkung  zu  recht- 
fertigen, derselbe  entwickle  bei  seinen  Lügen  so  viel  Geistesgegenwart 
und  Anmut,  daß  man  ihm  nicht  gram  sein  könne,  und  gestehen  müsse, 
ein  Dummkopf  könne  wenigstens  solchen  Fehler  nicht  haben. ^)  Das  ist 
nur  halb  wahr ;  der  Fehler,  in  den  Dorante  verfällt,  ist  gemein  und  der 
Träger  des  Stücks  kann  uns  deshalb  nicht  interessieren.  Auch  hat  man 
mit  Recht  bemerkt,  daß  Dorante  in  so  thörichter  Weise,  ohne  jeden 
Grund  und  in  den  Tag  hinein  lügt,  daß  man  bei  ihm  fast  an  eine 
Geisteskrankheit  denken  möchte.  Die  Schilderung  eines  seiner  Sinne 
nicht  Mächtigen  gehört  aber  nicht  mehr  auf  die  Bühne.  Trotz  dieses 
Fehlers  hat  sich  indessen  der  „Monteur"  his  heute  auf  dem  Repertoire 
<les  französischen  Theaters  erhalten.  Der  frische  und  männliche  Geist, 
der  es  teilweise  belebt,  seine  kernige,  packende  Spraclie,  der  lebhafte 
Gang  des  Spiels  und  der  Humor,  der  sich  fast  jung  erhalten  hat,  sichern 
ihm  immer  noch  den  Beifall  des  Publikums. 

Um  jene  Zeit,  als  Corneille  durch  den  „Menteur"  dem  französischen 
Publikum  zeigte,  welch  hohe  Aufgabe  man  dem  Lustspiel  stellen  müsse, 
begann  ein  junger  Schauspieler,  Poquelin,  seine  Künstlerwanderung 
durch  die  Provinz.  Ein  halbes  Menschenalter  sollte  noch  verstreichen, 
bevor  er  nach  Paris  zurückkehrte,  das  französische  Lustspiel  durch  seine 
unsterblichen  Geisteswerke  begründete  und  es  zugleich  auf  eine  seitdem 
nicht  wieder  erreichte  Höhe  führte. 

Es  liegt  noch  eine  ziemlich  lange  Strecke  zwischen  dem  „Menteur'- 
und  dem  „Misanthrope" ;  aber  wer  vermöchte  den  Einfluß  zu  bestimmen, 
welchen  Corneilles  Lustspiel  auf  Moliere  ausgeübt?  So  wird  eine  Dichtung 
oft  nicht  allein  durch  den  inneren  poetischen  Wert,  sondern  auch  durch 
die  Epoche  bedeutsam,  in  der  sie  erscheint. 

Die  Zeitgenossen  waren  des  Lobes  voll  für  das  neue  Lustspiel; 
begeisterte  Freunde  verglichen  den  Dichter  mit  Menander,  Plautus  und 
Terenz,^)  und  Corneille  selbst  spricht  in  dem  Stück,  das  er  folgen  ließ, 


Puisqu'un  seul  dement!  lui  porte  une  Infamie 
Qu'il  De  peut  efifacer,  s'il  n'expose  sa  vie, 
Et  si  dedans  le  sang  il  ne  lave  Taffront 
Qu'un  si  honteux  outrage  imprime  sur  son  front? 
^)  Siehe  Corneilles  „discours  du  poeme  dramatique". 
2)  Man  vergleiche  das  lateinische  Gedicht,  das  der  Holländer  Constantin 
Huyghens  von  Zuylichen  an  Corneille  richtete,  und  das  sich  in  der  Ausgabe  des 
„Menteur"  von  1645  abgedruckt  fand. 


420 


der  „Suite  du  Menteur"  von  dem  Erfolg,  den  er  mit  seinem  neuen 
Versuch  auf  dem  Gebiet  der  Komödie  errungen  habe.^)  Der  große  Bei- 
fall, den  der  „Menteur"  fand,  ermutigte  den  Dichter,  eine  Fortsetzung 
desselben  unter  dem  einfachen  Titel  „La  suite  de  Menteur"  zu  schreiben. 
Der  Gedanke  war  nicht  glücklich.  Es  ist  immer  eine  mißliche  Sache,  au 
eine  schön  abgeschlossene  Komposition  wieder  anzuknüpfen.  Die  Personen 
des  ersten  Werks  haben  in  unserem  Geist  ihr  bestimmtes  Gepräge  er- 
halten. Nach  den  Ausführungen  des  Dichters  haben  wir  uns  von  ilmen 
ein  festes  Bild  gemacht,  das  wir  nur  ungern  sich  verändern  sehen.  So 
steht  Dorante  als  Prototyp  eines  lügenhaften  Gecken  vor  uns;  gleich 
einem  Werk  der  Skulptur  trägt  dieser  Charakter  seine  unveränderlichen 
Züge.  Mit  einem  Mal  sollen  wir  die  uns  bekannte  und  vertraute  Person 
in  einer  neuen  Phase  der  Entwicklung  sehen,  auf  die  uns  das  erste 
Stück  nicht  vorbereitet  hat.  Dadurch  unterscheidet  sich  die  willkürliche 
Fortsetzung  eines  schon  abgeschlossenen  Stücks  von  den  Schauspielen 
einer  Trilogie.  In  der  letzteren  hat  der  Dichter  von  Anfang  an  seine 
Komposition  in  größerer  Weise  angelegt,  und  ein  jeder  Teil  fügt  sich 
harmonisch  in  das  Ganze  ein.  Anders  aber  verhält  es  sich  bei  einer 
einfachen  Wiederanknüpfung  an  ein  gegebenes  Stück.  Seine  Personen 
sollen  uns  wieder  vorgeführt  werden,  aber  sie  dürfen  sich  nicht  bloß 
wiederholen ;  sie  sollen  ein  neues  Interesse  bieten,  und  der  Verfasser 
sucht  nach  einer  weiteren  Entwicklung  der  gegebenen  Charaktere.  Und 
doch  ist  eine  solche  in  den  meisten  Fällen  kaum  möglich.  Wie  soll 
z.  B.  der  Lügner  in  einem  zweiten  Stück  dargestellt  werden?  Abermals 
in  Verlegenheiten,  in  die  er  durch  seine  Schuld  gerät?  Dann  hätte  man 
keine  Fortsetzung,  nur  eine  Variante  des  ersten  Stücks.  Das  mochte 
auch  Corneille  denken,  und  so  suchte  er  ihn  als  gebessert  zu  schildern. 
Dorante  soll  sich  in  der  „Suite"  als  Ehrenmann  rehabilitieren,  aber  da 
ist  er  eben  nicht  mehr  der  alte  Dorante.  Wir  finden  nur  ein  neues 
Lustspiel,  dessen  Personen  zufällig  dieselben  Namen  tragen,  wie  die 
Personen  des  vorhergehenden  Stücks. 

Um  eine  Fortsetzung  zum  „Menteur"  zu  geben,  wählte  Corneille 
wieder  ein  spanisches  Lustspiel,  das  er  in  seiner  Weise  bearbeitete. 
Diesmal  benutzte  er  eine  Dichtung  von  Lope  de  Vega,  „Amar  sin  saber 
ä  quien"  (Lieben,  ohne  zu  wissen  wenV).  Er  änderte  die  spanischen 
Namen,  fügte  eine  Menge  Anspielungen  auf  sein  früheres  Stück  ein. 
und  glaubte  dadurch  das  Interesse  des  Publikums  für  seine  Person  zu 
steigern. 


1)  La  Suite  du  Menteur,  I,  3,  46.  Cliton  erzählt  dort  seinem  Herrn,  mau 
habe  seine  Abenteur  auf  das  Theater  gebracht: 

La  piece  a  reussi  quoique  fälble  de  style, 

Et  d'un  nouveau  proverbe  eile  enrichit  la  ville, 

De  Sorte  qu'aujourd'hui  presque  en  tous  les  quartiers 

On  dit  quand  quelqu'un  ment,  ciu'il  vient  de  Poitiers. 

Und  Voltaire  erzählt  in  dem  Commentar  zu  dieser  Stelle,  noch  zu  seiner 
Zeit  habe  man,  wenn  jemand  bei  Tisch  zu  sehr  renommierte,  dem  Diener  zu- 
gerufen: „Ceiton,  donnez  ä  boire  ä  votre  maitre." 


421 


Wir  treffen  Dorante  in  einem  Kerker  zu  Lyon  und  hören,  daß  er 
Lucrece,  die  ihm  am  Schluß  des  „Menteur"  als  Braut  aufgezwungen 
wurde,  nicht  geheiratet  hat.  Am  Tag  vor  der  Hochzeit  ist  er  geflohen, 
hat  dabei  die  ganze  Mitgift  seiner  Braut  geraubt,  und  sich  zwei  Jahre 
in  Italien  herumgetrieben.  Während  dieser  Zeit  ist  sein  braver  Vater 
gestorben  und  Dorante  hat  sich  endlich  auf  die  Heimreise  begeben,  um 
seine  Erbschaft  anzutreten.  In  der  Nähe  von  Lyon  war  er  Zeuge  eines 
erbitterten  Zweikampfes ;  er  eilte  mit  gezogenem  Degen  auf  die  Kämpfer 
los,  um  sie  zu  trennen,  nnd  kam  gerade  recht,  um  einen  derselben 
sterbend  zusammensinken  zu  sehen.  Während  er  aber  vom  Pferd  sprang, 
dem  Verwundeten  zu  helfen,  schwang  sich  der  Mörder  auf  das  Tier  und 
sprengte  davon.  Die  herbeieilende  Wache  fand  Dorante  mit  entblößtem 
Degen,  blutbespritzt,  allein,  neben  einer  Leiche  und  schleppte  ihn  als 
Mörder  in  das  Gefängnis. 

So  zeigt  sich  uns  Dorante  anfangs  nicht  im  besten  Licht.  Seine 
Flucht  mit  dem  Vermögen  des  von  ihm  verlassenen  Mädchens  macht 
ihn  sogar  widerwärtig.  Umsomehr  erstaunt  man,  ihn,  nachdem  er  von 
seinem  Wortbruch,  seinem  Diebstahl  und  anderen  Abenteuern  erzählt  hat, 
als  tüchtigen  Menschen  zu  finden.  Denn  in  dem  weiteren  Stück  haben 
wir  es  mit  dem  Helden  des  spanischen  Lustspiels  zu  thun,  der  hoch- 
herzig und  ritterlich  handelt.  Der  wirkliche  Gegner  des  Gefallenen, 
Oleandre,  wird  ebenfalls  verhaftet  und  mit  Dorante  konfrontiert.  Der 
letztere  erkennt  ihn  zwar  augenblicklich  wieder,  erklärt  aber  mit  Be- 
stimmtheit, daß  derselbe  dem  Mann,  den  er  habe  fliehen  sehen,  durchaus 
nicht  gleiche.  Cleandre  ist  für  diese  großmütige  Aussage,  die  den  Ver- 
dacht gegen  Dorante  doch  nur  bestärken  kann,  dankbar;  mehr  aber 
noch  seine  Schwester  Melisse,  die  dem  Gefangenen  ihr  Herz  schenkt, 
noch  ehe  sie  ihn  kennt.  Sie  sendet  ihm  durch  ihre  Zofe  Geld,  Süßig- 
keiten und  einen  zärtlichen  Brief.  So  entspinnt  sich  ein  Liebesverhältnis 
zwischen  den  zwei  jungen  Leuten,  die  sich  gar  nicht  kennen.  Darauf 
bezieht  sich  denn  auch  der  Titel  des  spanischen  Stücks.  Melisse  kommt 
später  verkleidet  in  das  Gefängnis;  ihre  Verbindungen  haben  ihr  die 
Pforten  geöffnet,  und  die  Scene,  in  der  sie  sich  endlich  entdeckt  und 
ihre  Neigung  orten  eingesteht,  ist  reizend  und  lebhaft  geführt.  Ein 
anderer  Freund  Dorantes,  Philiste,  bewirkt  unterdessen  die  Freilassung 
des  Gefangenen ;  die  weitere  Untersuchung  hat  seine  Unschuld  ergeben . 
Allein  nun  stellt  es  sich  heraus,  daß  Philiste  ebenfalls  um  die  schöne 
Melisse  wirbt,  und  Dorante  hält  sich  verpflichtet,  zurückzutreten.  Der 
Wettstreit  der  beiden,  von  welchen  jeder  den  andern  an  Opfermut  über- 
treffen will,  endigt  mit  dem  glücklichen  Bund  Dorantes  und  Melissens. 
Lopes  Stück  ist  ein  schönes,  vornehm  heiteres  Spiel,  eines  der  vielen 
Mantel-  und  Degenstücke,  deren  Hauptreiz  in  den  überraschenden  Ver- 
wicklungen und  in  der  geistvollen  und  anmutigen  Sprache  liegen.  Diesen 
Charakter  bewahrte  auch  Corneilles  Bearbeitung.  Allein  sie  war  insofern 
ein  Kückschritt,  als  sie  ihr  Augenmerk  weniger  auf  die  Zeichnung  der 
Charaktere  legte,  und  sie  enttäuschte  das  Publikum,  das  eine  wirkliche 
Portsetzung  des   „Menteur"   erwartet  hatte.    Die   „Suite  du  Menteur"   ist 


422 


deshalb  doch  an  Schönheiten  und  interessanten  Scenen  reich.  Noch  im 
Beginn  des  19.  Jahrhunderts  versuchte  der  durch  seine  Lustspiele  be- 
kannte Dichter  Andrieux  zweimal,  freilich  erfolglos,  das  Stück  zu  bearbeiten 
und  es,  so  verjüngt,  dem  Repertoire  des  französischen  Theaters  dauernd 
einzubürgern. 

Xach  zwei  Lustspielen  kehrte  Corneille  wieder  zur  Tragödie  zurück, 
und  als  ob  er  sich  dafür  entschädigen  wollte,  daß  er  die  volltönende 
Sprache  der  Tragik  so  lange  vernachlässigt  hatte,  wählte  er  nun  einen 
Stoff,  der  an  Grausen  seinesgleichen  suchte.  So  entstand  „Rodogune". 
Das  Stück  gehört  zu  den  bekanntesten  Dichtungen  Corneilles ;  es  bietet 
zumal  den  Schauspielerinnen  dankbare  Aufgaben  in  der  Darstellung  der 
zwei  leidenschaftlichen  Frauen,  die  sich  in  der  Tragödie  feindlich 
gegenüberstehen.  Aber  wenn  ..Eodogune"  sich  als  bühnenkräftig  erwies, 
so  ist  sie  doch  durch  eine  weite  Kluft  von  den  früheren  Meisterwerken 
Corneilles  geschieden.  Es  fehlt  ihr  nicht  an  Kraft  und  finsterer  Leiden- 
schaft, aber  statt  der  lebendigen  Empfindung  bietet  sie  häufig  frostige 
Deklamation.  Statt  fortschreitender  und  spannender  Handlung  zeigen  die 
ersten  vier  Akte  ein  ermüdendes  Schwanken  in  ein  und  derselben  Situation, 
und  erst  der  letzte  Aufzug  bringt  in  überstürzender  Hast  Fortschritt 
und  Lösung.  Der  Tragödie  liegt  eine  Erzählung  des  Appianus  Alexan- 
drinus  zu  Grunde ;  ^)  doch  hat  sich  der  Dichter,  wie  dies  sein  Recht 
war,  große  Freiheit  in  der  Bearbeitung  des  Stoffes  erlaubt.  Es  ist  schwer, 
sich  das  Verhältnis  der  einzelnen  Personen  zu  einander  klar  zu  machen, 
und  schon  deshalb  erkaltet  das  Interesse  an  den  Vorgängen.  Kleopatra, 
Königin  von  Syrien,  ist  eine  herrschsüchtige,  leidenschaftliche  Frau. 
In  früherer  Zeit  war  ihr  Gemahl,  Nicanor,  in  die  Hände  der  Parther 
gefallen,  und  hatte  nach  längerer  Gefangenschaft  versprochen,  Rodo- 
gune, die  Schwester  des  Partherkönigs,  zu  heiraten.  Daraufhin  war  er 
freigelassen  worden  und  mit  seiner  jungen  Braut  der  Heimat  zugezogen. 
Kleopatra  hatte  sich  unterdessen  an  die  Herrschaft  gewöhnt,  und  war 
nicht  gewillt,  einer  Nebenbuhlerin  zu  weichen.  In  wilder  Eifersucht  stellte 
sie  sich  an  die  Spitze  einer  Schar  von  Bewaffneten,  überfiel  den  heim- 
kehrenden Xicanor  und  tötete  ihn  mit  eigener  Hand.  Rodogune,  die  ihr 
Land  verlassen  hatte,  um  einen  Thron  zu  besteigen,  fiel  in  die  Hände 
ihrer  Feindin  und  ihre  Gefangenschaft  war  schwer.  Darüber  entbrannte 
ein  neuer  Krieg  mit  den  Parthern,  die  bis  Seleucia,  der  Hauptstadt  von 
Syrien,  vordrangen.  Kleopatra  wurde  zum  Frieden  gezwungen  und  mußte 
versprechen,  die  Herrschaft  an  einen  ihrer  Söhne  abzutreten,  dem  mit 
der  Krone  auch  die  Hand  Rodogunes  zufallen  sollte.  Kleopatra  hat  aus 
ihrer  Ehe  mit  Nicanor  zwei  Söhne,  Zwillinge,  die  sie  bis  zu  diesem 
letzten  Friedensschluß  in  Ägypten  hat  erziehen  lassen.  Niemand  weiß, 
wer  von  ihnen,  ob  Seleucus  oder  Antiochus,  das  Recht  der  Nachfolge  hat. 
Die  Königin  hat  sich  vorbehalten,  den  Erstgeborenen  in  dem  ihr  passend 
scheinenden  Moment  zu  nennen,  und  hofft  durch  diese  Ungewißheit  den 
Gehorsam  ihrer  Söhne  zu  erzwingen. 


^)  Appianus  Alexandrinus,  Syrische  Kriege.  Kap.  67—09. 


423 

Dies  ist  die  Lage  in  Seleucia  beim  Beginn  des  Stücks.  Die  beiden 
Frauen,  Kleopatra  und  Rodogune,  bassen  einander  mit  tödlichem  Grimm. 
Sie  sind  beide  stolz,  kühn,  blutgierig.  Eine  jede  sinnt  auf  den  Tod  der 
Feindin  und  will  sich  der  Prinzen  als  der  Werkzeuge  ihrer  Rache  be- 
dienen. Darum  erklärt  Kleopatra  ihren  Söhnen,  sie  werde  den  auf  den 
Thron  erheben,  der  ihr  das  Haupt  Rodogunes  bringe,  und  Rodogune, 
die  von  beiden  Prinzen  geliebt  wird,  erklärt  ihrerseits,  nur  den  zu  lieben, 
der  es  wage,  die  Mutter  zu  töten  und  den  Mord  des  Vaters  zu  rächen. 

Die  Prinzen  sehen  sich  somit  vor  einer  hübschen  Alternative.  Sie 
stehen  zwischen  zwei  Furien,  ohne  irgend  welche  Thatkraft  aufzuweisen. 
Ihre  brüderliche  Liebe  ist  musterhaft;  ein  jeder  will  dem  andern  seine 
Ansprüche  auf  Krone  und  Macht  abtreten.  Gegenüber  den  finsteren  For- 
derungen der  beiden  Frauen  sind  sie  aber  völlig  ratlos.  Sie  verweigern 
zwar  die  Thaten,  die  ihnen  zugemutet  werden,  aber  weiter  gehen  sie 
nicht.  Sie  weinen  und  klagen,  vermögen  jedoch  nicht,  sich  zu  einer  ent- 
schlossenen Handlung  aufzuraffen.  Lessing  findet  den  Eindruck,  den  sie 
machen,  fast  komisch,  denn  er  sagt:  „Aber  wenn  sie  beide  fein  tugend- 
haft sind,  so  will  keiner  weder  die  eine,  noch  die  andere  totschlagen; 
so  stehen  sie  beide  und  sperren  das  Maul  auf,  und  wissen  nicht,  was 
sie  thun  sollen,  und  das  ist  eben  das  Schöne  daran". ^)  In  dieser  Arm- 
seligkeit der  beiden  Prinzen  liegt  indessen  nicht  die  einzige  Schwäche 
der  Tragödie.  Kleopatra  erkennt  bald,  welche  Neigung  ihre  Söhne  be- 
seelt, und  ihre  Eifersucht  wird  zur  blinden  Wut.  Bevor  sie  zugiebt,  daß 
ihre  Nebenbuhlerin  den  Thron  besteigt,  den  sie  verlassen  muß,  mögen 
lieber  ihre  Söhne  sterben!  Mit  diesem  blutigen  Gedanken  rüstet  sie  sich 
zur  Rache.  Sie  erklärt  Antiochus  für  den  ältesten ,  übergiebt  ihm  die 
Herrschaft  und  bereitet  das  Fest  seiner  Hochzeit  mit  Rodogune.  Km"z 
vor  der  feierlichen  Vermählung  des  jungen  Königs  erschießt  sie  mit 
eigener  Hand  Seleucus,  dann  reicht  sie  dem  neuen  Königspaar  nach 
alter  Sitte  einen  Trunk.  Er  enthält  ein  schnellwirkendes  Gift;  aber  in 
dem  Augenblick,  da  Antiochus  den  Becher  an  die  Lippen  setzt,  erhält 
er  die  Nachricht,  daß  Seleucus  sterbend  im  Park  des  Schlosses  gefunden 
worden  sei.  Der  unglückliche  Prinz  habe  erklärt,  er  sei  von  einer  ihm 
teueren  Hand  ermordet,  aber  den  Namen  zu  nennen,  sei  er  durch 
den  Tod  verhindert  worden.  Seleucus  kann  mit  seinem  Wort  nur  Kleo- 
patra oder  Rodogune  geraeint  haben.  Die  beiden  Frauen  beschuldigen 
denn  auch  einander  in  wenig  gewinnender  Weise;  Antiochus  denkt  nicht 
an  strenge  Untersuchung,  sondern  ist  gleich  bereit,  sich  selbst  zu  töten, 
da  sein  Leben  doch  für  alle  Zeiten  durch  den  furchtbaren  Verdacht,  den 
er  gegen  Mutter  und  Gemahlin  hegen  müsse,  vergiftet  sei.  Seine  Um- 
gebung hält  ihn  vom  Selbstmord  zurück,  und  Antiochus  entschließt  sich, 
weiter  zu  leben ,  solange  es  der  unbekannten  Mörderin  gefalle.  Zum 
zweitenmal  nimmt  er  den  Becher  aus  Kleopatras  Hand,  aber  nun  fällt 
ihm  Rodogune  in  den  Arm,  denn  sie  fürchtet  Gift,  und  Kleopatra  wagt 
einen  letzten  verzweifelten  Schritt.  Das  königliche  Paar  sicher  zu  machen, 


1)  Lessing,  Dramaturgie,  31.  Stück. 


424 


trinkt  sie  zuerst.  Mag  sie  selbst  auch  sterben,  wenn  nur  die  Verhaßten 
mit  ihr  erliegen.  Aber  Antiochus  richtet  noch  einige  Worte  der  Ent- 
schuldigung an  sie,  bevor  er  den  Becher  an  die  Lippen  setzt,  und  diese 
Verzögerung  rettet  ihn.  Das  Gift  wirkt  in  Kleopatra  so  schnell,  daß 
ihre  Unthat  klar  wird.  Sterbend  flucht  sie  dem  Sohn  und  dessen  Ge- 
schlecht : 

Der  Himmel  nehme  Euch  als  Opfer  hin. 

Und  räche  meine  Frevel  noch  an  Euch ! 

Nur  Schrecken,  Zwietracht,  wilde  Eifersucht 

Erwachse  Euch  aus  Eurem  Ehebund! 

Und  um  das  Unglück  noch  nach  Wunsch  zu  krönen, 

Werd'  Euch  ein  Sohn,  der  mir  in  allem  gleicht.') 

Lessing  hat  sich  in  der  „Hamburger  Dramaturgie*'  ausführlich  mit 
..Rodogune"  beschäftigt,  und  er  betont  dort,  daß  das  dramatische  Genie 
sich  nur  mit  Begebenheiten,  die  ineinander  gegründet  seien,  nur  mit 
Ketten  von  Ursachen  und  Wirkungen  beschäftige.  Und  gerade  diese  Folge- 
richtigkeit und  Notwendigkeit  in  der  Entwicklung  vermißt  er  in  ,. Rodo- 
gune". Nichts  entwickle  sich  darin  auf  natürliche  AVeise,  und  Kleopatra 
sei  ein  Monstrum,  das  sich  in  den  unsinnigsten  Bravaden  des  Lasters 
ergehe.^)  „Der  größte  Bösewicht",  sagt  er,  „weiß  sich  vor  sich  selbst 
zu  entschuldigen,  sucht  sich  selbst  zu  überreden,  daß  das  Laster,  welches 
er  begeht,  kein  so  großes  Laster  sei,  oder  daß  ihn  die  unvermeidliche 
Notwendigkeit,  es  zu  begehen,  zwinge.  Es  ist  wider  alle  Natur,  daß  er 
sich  des  Lasters  als  Laster  rühmt,  und  der  Dichter  ist  äußerst  zu  tadeln, 
der  aus  Begierde,  etwas  Glänzendes  und  Starkes  zu  sagen,  uns  das 
menschliche  Herz  so  verkennen  läßt,  als  ob  seine  Grundneigungen  auf 
das  Böse,  als  auf  das  Böse  gehen  könnten."  ^) 


1)  Eodogune,  V,  4,  217: 

Puisse  le  ciel  tous  deux  vous  prendre  pour  victimes. 
Et  laisser  choir  sur  vous  les  peines  de  mes  crimes  ! 
Puissiez-vous  ne  trouver  dedans  votre  union 
Qu'horreur,  que  Jalousie  et  que  confusion. 
Et  pour  souhaiter  tous  les  malheurs  ensemble, 
Puisse  naitre  de  vous  un  fils  qui  me  ressemblel 

-)  Dramaturgie,  29.  Stück. 

3)  Dramaturgie,  30.  Stück.  Vortrefflich  hat  Sainte-Beuve  in  seinen  „Noii- 
veaux  lundis"  (VII.  p.  216)  über  Lessings  Urteil  gesprochen.  Er  sagt :  „Nou's 
recusons  volontiers  les  etrangers,  comrae  si,  du  cöte  de  l'art,  ils  n'etaient  pas, 
k  certain  degre,  nos  juges...  II  y  a  un  tribunal  europeen,  apres  tout.  Ainsi 
sur  Corneille :  certes  il  merite  pour  nous  le  nom  de  grand;  mais,  lorsqu'il 
arrive,  couronne  de  ce  titre,  aux  yeux  des  Allemands,  par  exemple,  lorsqu'un 
eminent  critique,  Lessing,  s'attendant  a  trouver  en  lui,  sur  la  foi  de  sa  renom- 
mee,  quelqu'un  de  rüde,  mais  de  sublime  et  de  simple,  vient  k  l'ouvrir  ä  une 
page  d'avance  indiquee,  que  trouve-t-il?  II  prend  Rodogune,  la  piece  dont  Cor- 
neille se  faisait  le  plus  d'honneur:  il  l'accepte  pour  le  chef-d'oeuvre  du  poete, 
et  l'analj'sant,  la  dissequant  sans  pitie,  Dieu  sait  ce  qu'il  en  pense  et  ce  qu'il 
en  dit!  Ce  n'est  pas  k  nous  de  le  repeter.  Lessing  a  raison,  et  il  a  fort.  II  a 
raison,  cherchant  un  genie  simple  et  sublime  qu'on  lui  a  vante,  de  s'etonner  de 
ne  rencontrer  qu'un  bei  esprit  complique,  recherche,  enfle,  fastueux.  II  a  tort, 
car  les  beaut^s  de  Corneille,  Celles  qui  ravissent,  qui  enlevent  et  qui  fönt  passe 


425 

Dem  gegenüber  könnte  man  an  Shakespeares  „Riebard  III."  er- 
innern, der  ganz  offen  erklärt,  er  sei  „gewillt,  ein  Bösewicht  zu  werden''^ 
oder  an  Jago,  der  sich  brüstet: 

„ —  —  —  —  aus  Höir  und  Nacht 

Sei  diese  Unthat  an  das  Licht  gebracht." 

Eine  solche  unmenschliche  Bosheit,  wie  sie  Kleopatra  zeigt,  er- 
scheint indessen  bei  einer  Frau  besonders  unerträglich.  Das  hätte  Les- 
sing vielleicht  hervorheben  sollen.  Kleopatra  ist  eine  herrschsüchtige, 
kräftige,  ja  gioß  angelegte  Natur  wie  Richard.  Aber  sie  wird  zur  Mör- 
derin ihrer  Kinder,  und  das  ohne  inneren  Kampf,  ohne  irgend  eine  Re- 
gung mütterlichen  Gefühls.  Selbst  Medea,  das  furchtbarste  Weib,  das  je 
von  der  tragischen  Muse  geschildert  worden  ist,  tötet  ihre  Knaben  erst 
nach  gewaltsamem  inneren  Kampf  und  in  einem  Anfall  von  Wut.  Kleo- 
patra tobt  allerdings  fortwährend,  aber  sie  verrät  durch  keine  Zuckung 
des  Herzens,  daß  auch  nur  eine  Spur  menschlicher  Empfindung  in  ihr 
lebt,  und  darum  erschüttert  sie  nicht,  sie  empört.  Diesen  widrigen  Ein- 
druck zu  erhöhen,  steht  ihr  in  Rodogune  eine  Feindin  gegenüber,  die 
von  dem  Geliebten  den  Mord  der  Mutter  verlangt  und  die  wir  noch  dazu 
als  eine  edle,  heroische  Prinzessin  mit  zartem  Gefühl  bewundern  sollen. 

Selbst  in  der  Sprache  erreichte  Corneille  diesmal  nicht  die  gleiche 
Höhe.  Neben  einzelnen  Stellen,  die  seine  ganze  Kraft  und  den  Glanz 
seiner  Diktion  aufweisen,  finden  sich  dunkle  Verse,  nachlässige  Kon- 
struktionen und  ein  deklamatorischer  Ton.  Sollten  die  Sorgen  für  die 
zunehmende  Familie,  die  gesteigerten  Anforderungen  des  Lebens  seinen 
Sinn  bedrängt  und  den  Schwung  seines  Geistes  gelähmt  haben  ?^) 

Von  „Rodogune"  ab  können  wir  eine  neue  Manier  in  Corneilles 
dramatischer  Komposition  erblicken.  Er  legte  von  nun  an  mehr  Gewicht 
auf  die  Situation,  und  statt  an  die  Zeichnung  der  Charaktere  zu  denken, 
suchte  er  hauptsächlich  durch  seltsame  Verwicklungen  und  überraschende 
Lösungen  zu  wirken.  Seine  Schauspiele  wurden  komplizierter;  nicht  in 
der  äußeren  Form,  welche  die  gleiche  blieb,  sondern  in  den  künstlich 
ausgesonnenen  Verhältnissen  der  einzelnen  Personen  zu  einander.  Es 
bedarf  oft  der  größten  Aufmerksamkeit,  will  man  verstehen,  um  was  es 
sich  in  seinen  folgenden  Stücken  handelt. 

Damit  schlug  Corneille  die  Bahn  ein,  welche  die  dramatischen 
Dichter  seiner  Zeit,  ihm  folgend,  mit  Vorliebe  wandelten,  die  Bahn  der 
sogenannten  romanesken  Tragödie.  Ihre  Schwierigkeiten  sind  nicht  so 
groß,    die    augenblickliche  Wirkung    ist   leichter   zu  erreichen.    Aber  der 


sur  tous  ses  defauts,  il  ne  les  sent  pas,  et  elles  sont  veritablement  autre  parr 
(iue  dans  cette  piece  ingenieusement  monstrueuse  qu'il  a  choisie  an  exeraple.  II 
y  a  done  malentendu," 

')  Im  Vorübergehen  sei  erwähnt,  daß  ein  wenig  bekannter  Dichter,  Ga- 
briel Gilbert,  im  Jahr  1644  wenige  Monate  vor  Corneilles  „Rodogune"  eine  Tra- 
gödie gleichen  Namens  aufführen  ließ.  Gilbert  muß  von  dem  Corneille'schen 
Werk  Kenntnis  gehabt  haben,  denn  die  ersten  vier  Akte  sind  ein  schlechtes 
Plagiat  davon,  der  fünfte  Akt  ist  dagegen  ein  mattes  Produkt  seiner  eigenen 
Muse,  da  ihm  der  letzte  Akt  Corneilles  wahrscheinlich  unbekannt  geblieben  war. 


426 

Wert  dieser  Werke  ist  zweifelhaft,  und  keine  der  späteren  Dichtungen 
Corneilles  hat  je  wieder,  auch  nur  annähernd,  die  Bedeutung  des  „Cid" 
oder  des  „Cinna"  erreicht.  Der  große  Beifall  des  Publikums,  dessen  sich 
Corneille  noch  oft  zu  erfreuen  hatte,  darf  uns  darüber  nicht  täuschen. 

Auf  „Rodogune"  folgte  eine  neue  Märtyrertragödie,  „Theodora", 
zu  der  Corneille  den  Stoff  in  einer  Schrift  des  heiligen  Ambrosius  ge- 
funden hatte.  ^)  Theodora  ist  eine  jener  heroischen  Christenseelen,  wie 
Polyeucte,  die  kein  höheres  Glück  träumen,  als  gemaitert  und  getötet 
zu  werden,  um  die  Heiligkeit  ihres  Glaubens  und  ihre  eigene  Seelen- 
stärke zu  bekunden.  Theodora  hat  solche  Eile  mit  ihrem  Tod,  daß  sie 
Valens,  den  römischen  Statthalter  von  Syrien,  anfleht,  er  möge  die  glück- 
liche Stunde  ihrer  Marter  beschleunigen.-) 

Valens  will  ihr  den  Gefallen  nicht  thun.  Er  will  sie  empfindlicher 
strafen  und  schickt  sie  in  ein  berüchtigtes  Haus,  wo  sie  den  Insulten 
einer  gemeinen  Menge  ausgesetzt  ist.  Doch  ein  treuer  Freund  bewahrt 
sie  vor  der  Schande  und   verhilft  ihr  zu  einer  anständigen  Hinrichtung. 

Die  Idee  des  Stücks  ist  so  undramatisch  wie  möglich.  Die  heikle 
Geschichte,  welche  Corneille  darin  bearbeitete,  war  am  wenigsten  zur 
Darstellung  auf  der  Bühne  geeignet.  Trotz  aller  Vorsicht,  mit  der  er 
sein  Thema  behandelte,  um  nicht  anzustoßen,  konnte  er  das  Drama 
nicht  retten.  Es  mißfiel  und  verschwand  nach  wenigen  Aufführungen  von 
dem  Repertoire. 

Im  Winter  1(346  auf  1G47,  um  die  Jahreswende,  trat  Corneille 
mit  seinem  „Heraclius"  auf,  einem  Drama,  das  eine  Episode  aus  der 
Geschichte  der  byzantinischen  Kaiser  behandelt. 

Die  Fabel  des  Stücks  ist  wiederum  so  verwickelt,  daß  Corneille 
selbst  meinte,  man  müßte  es  mehrmals  aufführen  sehen,  wenn  man  es 
ganz  verstehen  wolle. ^)  Damit  hat  er  sich  selbst  sein  urteil  gesprochen. 
Sein  „Heraclius"  mag  bedeutende  Schönheiten  im  einzelnen  haben,  und 
der  Charakter  der  Pulcherie  hat  in  der  That  etwas  von  dem  Geist  der 
großen  Heroinen  Corneilles,  ein  wahrhaft  dramatisches  Werk  ist  diese 
Dichtung  nicht.  Ein  echtes  Drama  muß  uns  packen,  mitfortreißen,  muß 
uns  spannen  und  erregen.  Wenn  wir  aber  Mühe  haben,  über  die  Per- 
sonen ins  Klare  zu  kommen,  und  froh  sind,  überhaupt  nur  einmal 
zu  begreifen,    wer   sie    sind    und    was  sie  wollen,    so  kann   von  drama- 


^)  De  virginibus,  lib.  II. 

2)  Theodore,  11,  5,  21: 

Hätez,  hätez  ces  heureux  chätiments, 

Qui  feront  mes  plaisirs  et  vos  contentements. 

3)  Siehe  die  Kritik,  die  Corneille  seinem  Stück  vorausgesetzt  hat.  Boileau 
hatte  Recht,  wenn  er,  auf  Heraclius  anspielend,  in  seiner" Art  Poetique,  III, 
v.  29,  sagte: 

Je  me  ris  d'un  acteur  qui,  lent  ä  s'exprimer, 
De  ee  qu'il  veut  d'abord  ne  sait  pas  m'informer, 
Et  qui  debrouillant  mal  une  penible  intrigue, 
D'un  divertissement  me  fait  une  fatigue. 


427 


tischer  Wirkung  nicht  die  Rede  sein.  Kaiser  Phocas  hat  sich  durch  ein 
schweres  Verbrechen  des  Throns  von  Byzanz  bemächtigt.  Er  hat  seinen 
Vorgänger,  Kaiser  Mauritius,  mit  seiner  ganzen  Familie  ermorden  lassen. 
Ihm  zur  Seite  steht  sein  Sohn  Martian,  der  ihm  in  jeder  Hinsicht  un- 
ähnlich, ein  Bild  aller  ritterlichen  Tugenden  ist.  Dessen  Freund  wiederum 
ist  der  tapfere  Leonce.  Nun  verbreitet  sich  das  Gerücht,  daß  Heraclius, 
ein  Sohn  des  Mauritius,  noch  am  Leben  sei.  Als  solcher  wird  Leonce 
entdeckt  und  soll  sterben.  Aber  Martian  beansprucht  plötzlich  auch  die 
Ehre,  Heraclius  zu  sein.  Es  heißt,  Leontine,  eine  edle  Frau,  habe  vor 
Jahren  ihr  eigenes  Söhnchen  geopfert,  um  Heraclius  zu  retten,  und  dann 
des  Kaisers  Phocas  gleichalterigen  Knaben  als  ihren  Sohn  erzogen, 
während  Heraclius  als  kaiserlicher  Prinz  aufgewachsen  sei.  Daraus  ent- 
steht ein  solches  Gewirr  von  Verwechslungen,  schwierigen  Situationen 
und  großmütigen  Handlungen,  daß  man  in  der  That  Mühe  hat,  sich 
zurecht  zu  linden.  Zum  Schluß  wird  Phocas  ermordet,  Martian-Heraclius 
Kaiser.  Er  vermählt  sich  mit  Leontines  Tochter,  während  Leonce,  der 
wahre  Martian,  die  Schwester  des  Heraclius  heimführt. 

Calderon  hat  in  seinem  Stück  „En  esta  vida  todo  es  verdad  y 
todo  mentira"  (,Jn  diesem  Leben  ist  alles  Wahrheit  und  alles  Lüge") 
dieselbe  Geschichte  behandelt,  freilich  in  ganz  anderer  Weise.  Aber 
einige  Verse,  die  sich  darin  finden,  erinnern  an  Corneilles  Drama,  und 
die  Frage  drängte  sich  auf,  welches  Dichters  Werk  das  ältere  sei.  Bei 
der  völligen  Verschiedenheit  der  beiden  Stücke  kommt  freilich  wenig 
auf  die  Entscheidung  an ;  doch  scheint  es  nach  den  neuesten  Studien 
wahrscheinlicher,  daß  Corneille  sein  Drama  frei  erfunden  hat,  und  daß 
Calderon  davon  angeregt  wurde,  sein  phantastisch-romantisches  Stück  zu 
schreiben.^) 

Zehn  Jahre  waren  nun  verflossen,  seitdem  die  Akademie  ihr  Gut- 
achten über  den  „Cid"  abgegeben  hatte.  Der  Kampf,  der  die  Gemüter 
so  sehr  erbittert  hatte,  war  längst  beigelegt,  und  Corneille  stand  un- 
bestritten an  der  Spitze  der  dramatischen  Dichter.  Rotrou,  der  ihm  auch 
in  den  bösen  Tagen  treu  geblieben  war,  hatte  keinen  Widerspruch  zu 
fürchten,  als  er  ihn  um  jene  Zeit  von  der  Bühne  herab  verherrlichte. 
In  seiner  Tragödie  „Saint-Genest"  (1646)  befragt  der  Kaiser  Diocletian 
den  Schauspieler  Genest  über  den  Stand  der  neueren  Litteratur  und 
dieser  antwortet,  nach  einigen  Ausdrücken  unbegrenzter  Bewunderung 
für  die  Alten,  mit  den  folgenden  Versen,  die  eine  deutliche,  Anspielung 
auf  Corneille  enthalten  : 


1)  Vergl.  die  Notice  zu  Heraclius  in  der  Ausgabe  Corneilles  von  Marty- 
Laveaux  (CoUection  des  Grands  Ecrivains  de  la  France),  V,  115  ff.  und  eben- 
daselbst p.  134  den  Brief  des  Herrn  Viguier  an  M.  Marty-Laveaux.  Der  Haupt- 
verteidiger der  gegenteiligen  Ansicht  ist  nach  dem  Vorgang  Voltaires  neuer- 
dings Ad.  Fr.  V.  Schack  in  seiner  Geschichte  des  spanischen  Theaters.  Jeden- 
falls kann  keine  Ausgabe  des  Calderon'sehen  Stücks  vor  1664  nachgewiesen 
werden,  und  Corneilles  Versicherung,  daß  sein  Drama  eine  Originaldichtung 
sei,  muß  bei  seinem  Charakter  genügen.  (Examen:  „Cette  tragedie  a  encore 
plus  d'effort  d'invention  que  celle  de  Rodogune".) 


428 


Die  neuesten  Werke,  die  Eoms  wahrhaft  würdig, 

Die  höchsten  Schöpfungen  des  großen  Mannes, 

Der  sich  durch  seine  selt'nen  Geistesthaten 

Auf  dem  Theater  hohen  Euhm  erwarb, 

Und  dessen  Kunst  auch  seinem  Ruf  entspricht, 

Sind  nach  Pompejus  und  August  benannt. 

Die  hehren  Dichtungen,  in  welchen  er 

Mit  Meisterhand  den  röm'schen  Geist  gezeichnet, 

Sind  uns'res  Volkes  Lust,  der  Bühne  Stütze, 

Und  ihre  Schönheit  wird  auch  Euch  entzücken,  i) 

Xur  die  Akademie  schien  sich  dem  allgemeinen  Urteil  gegenüber 
noch  spröde  zurückzuhalten.  Der  Tod  hatte  in  der  letzten  Zeit  mehrere 
ihrer  Mitglieder  hinweggerafft,  und  man  sollte  erwarten,  daß  bei  der 
Wahl  ihrer  Xachfolger  sich  die  Stimmen  auf  Corneille  hätten  vereinigen 
müssen.  Doch  dem  war  nicht  so.  Die  erlauchte  Gesellschaft  zog  mehrmals 
andere,  unbedeutende  Männer  vor.  Allerdings  stand  der  Wahl  Corneilles 
ein  Hindernis  in  den  Statuten  der  Gesellschaft  entgegen,  welche  ver- 
langten, daß  die  Akademie  nur  solche  Mitglieder  aufnehmen  dürfe,  welche 
ihren  Wohnsitz  in  Paris  hätten.  Xun  hatte  man  allerdings  bei  Balzac 
vor  Jahren  eine  Ausnahme  gemacht;  allein  eine  einfache  Hinweisung 
auf  diese  Bestimmung  mußte  es  selbst  den  Anhängern  Corneilles  schwer 
machen,  ihm  ihre  Stimme  zu  geben.  Principiell  war  die  Mehrheit  jeden- 
falls nicht  gegen  ihn  eingenommen,  denn  es  genügte  ein  Brief  des 
Dichters ,  in  welchem  er  versprach,  künftig  einen  Teil  des  Jahrs  in 
Paris  zu  wohnen,  um  alsbald  seine  Wahl  zu  sichern.  So  wurde  er  am 
22.  Januar  1647  in  die  Akademie  berufen.  Die  feierliche  Rede,  mit  der 
er  der  Sitte  gemäß  sich  in  der  Gesellschaft  einführen  mußte,  überrascht 
durch  den  Schwulst,  der  die  innere  Leere  nicht  verdecken  kann.  Daß 
er  seitdem  längeren  Aufenthalt  in  Paris  genommen,  wie  er  in  Aussicht 
gestellt  hatte,  ist  nirgends  zu  ersehen.-) 

Aus  Italien  drang  um  jene  Zeit  eine  neue  Gattung  dramatischen 
Spiels  nach  Frankreich  herüber.  Wie  man  den  Glanz  der  Poesie  durch 
äußere  Ausstattung,  prachtvolle  Dekorationen  und  überraschende  Maschi- 
nerien zu  erhöhen  suchte,  so  sollte  nun  auch  die  Musik  zu  dem  Reiz 
der  Vorstellungen  beitragen.  Man  erfand  das   „Schauspiel  mit  Musik  und 


1)  Eotron,  „Le  veritahle  Saint- Genest",  I,  v.  4. 

Nos  plus  nouveaux  sujets,  las  plus  dignes  de  Rome, 
Et  les  plus  grands  efforts  des  veilles  d'un  grand  homme, 
A  qui  les  rares  fruits  que  la  muse  produit 
Ont  acquis  dans  la  scene  un  legitime  bruit. 
Et  de  qui  certes  Tart  comme  l'estime  est  juste, 
Portent  les  noms  fameux  de  Pompee  et  d'Auguste. 
Ces  poemes  sans  prix  oü  son  illustre  main 
D'un  pinceau  sans  pareil  a  peint  l'esprit  romain, 
Reudront  de  leurs  beautes  votre  oreille  idolätre, 
Et  sont  aujourd'hui  l'äme  et  l'amour  ou  theätre. 
-)  In  die  Zeit  nach  seiner  Wahl  in  die  Akademie  fällt  ein  Gedicht  Cor- 
neilles, ,.La  poesie  a  la  peinture",  in  dem  auch  Chapelain  gepriesen  wird.    Das 
Jahrhundert    habe    nur    einen  Mäcen    und  nur  einen  Virgil.    Chapelain  scheint 


429 

Gesang",  aus  dem  sich  bald  in  rascher  Entfaltung  die  moderne  Oper 
bildete.  Im  Jahr  1640  hatte  man  zum  erstenmal  in  Paris  ein  solches 
Werk,  ,,Le  mariage  d'Orphee  et  d'Eurydice"  zur  Aufführung  gebracht 
und  andere  Stücke  dieser  Art  folgten.  Für  den  Karneval  des  Jahrs  1648 
wurde  Corneille  von  Seiten  des  Hofes  beauftragt,  ein  ähnliches  Stück 
zu  schreiben.  Er  erhielt  dafür  zum  voraus  die  Summe  von  2400  Livres 
und  so  entstand  seine  „Andromeda",  zu  der  die  Musik  von  dem  durch 
seine  abenteuerlichen  Kreuz-  und  Querzüge  bekannten  Virtuosen  Dassoucy 
geliefert  wurde.  ..Andromeda"  ist  ein  Zauber-  und  Spektakelstück,  in 
welchem  die  Götterwelt  vom  Olymp  herabsteigt,  um  an  den  Vorgängen 
unter  den  Menschen  teilzunehmen.  Das  größte  Aufsehen  machte  indessen 
der  Ritt  des  Perseus,  der  auf  dem  Pegasus  durch  die  Lüfte  schwebte. 
Die  Ausstattung,  welche  der  Italiener  Torelli  geleitet  hatte,  war  nach 
Angabe  der  Zeitgenossen  überaus  prachtvoll.  Doch  kam  das  Stück  nicht 
vor  dem  Jahr  1650  zur  Aufführung,  da  zuerst  eine  Krankheit  des  jungen 
Königs  und  dann  die  trüben  politischen  Verhältnisse  den  Gedanken  an 
Hoffeste  verscheucht  hatten. 

Die  Unruhen  der  Fronde  begannen.  Paris  besonders  litt  unter  den 
Wirren.  Da  es  auf  der  Seite  der  Frondeurs  gegen  Mazarin  und  die  Re- 
gentin stand,  sich  sogar  mit  Waffengewalt  gegen  die  Regierung  erhob 
und  eine  Belagerung  aushielt,  mußten  alle  Interessen  der  Kunst  schweigen. 
Die  Theater  siechten  und  schlössen  endlich;  die  Schauspieler  trugen 
Waffen  und  traten  in  die  Reihen  der  Kämpfer  ein.  In  den  Mazarinaden 
wird  u.  a.  Jodelet,  ein  bekannter  Komiker,  als  Führer  einer  martiali- 
schen Schar  geschildert.  Corneille  verbrachte  diese  Zeit  wohl  in  der  Stille 
zu  Rouen  und  bereitete  weitere  Dramen  vor.  Obwol  er  sich,  soviel  wir 
wissen,  niemals  thätig  in  die  Politik  mischte,  gehörte  er  doch  zur  könig- 
lichen Partei  in  seiner  Vaterstadt.  Wenigstens  ist  diese  Haltung  Cor- 
neilles  wahrscheinlich;  denn  wir  lesen,  daß  er  im  Jahr  1650  auf  könig- 
lichen Befehl  an  Stelle  eines  Anhängers  der  Fronde  zum  Procureur  der 
„Etats  de  Normandie"  ernannt  wurde.  Die  Gunst  der  Königin-Regentin, 
die  ihm  seit  dem  „Cid"  sicher  war,  wirkte  wol  auch  hier  entscheidend 
mit.  Als  freilich  nach  einem  Jahr  Longueville,  der  Hauptfrondeur  in  der 
Xormandie,  seinen  Frieden  mit  der  Regierung  schloß,  wurde  Corneille 
geopfert  und  der  frühere  Procureur  wieder  in  seine  Stelle  eingesetzt. 

Kaum  war  die  Ruhe  in  etwas  hergestellt,  als  Corneille  ein  neues 
Werk  in  Paris  aufführen  ließ.  „Don  Sanche  d' Aragon"  wurde  entweder 
zu  Ende  1649  oder  in  den  ersten  Tagen  des  Jahrs  1650  ~  dargestellt 
und  fand  anfangs  großen  Beifall.  Corneille  nannte  sein  Stück  eine 
„heroische  Komödie",  um  schon  durch  diese  Bezeichnung  anzudeuten, 
daß  er  es  wieder  mit  einer  neuen  Gattung  versuchen  wollte.  Wir  würden 
seine  Dichtung  heute  als  ein  „romantisches  Schauspiel"  bezeichnen.  Dies- 
mal hatte  Corneille  sein  Drama  wieder  nach  Spanien  verlegt,  um  seiner 
Vorliebe  für  eine  ritterliche,  romantische  Welt  einen  größeren  Spielraum 
zu  gewähren.  In  ..Don  Sanche''  finden  wir  die  Geschichte  eines  groß- 
herzigen Ritters,  Carlos,  der  Wunder  der  Tapferkeit  verrichtet  hat  und 
am   Hofe   der   Königin  Isabella  von  Kastilien    in   hohem  Ansehen   steht. 


430 


Er  ist  der  Sohn  eines  armen  Fischers  von  Aragon,  aber  er  schämt  sich 
seiner  dunklen  Herkunft  und  deckt  sie  mit  dem  Schleier  des  Geheim- 
nisses. Isabella,  die  ihm  im  stillen  ihr  Herz  geschenkt  hat,  überhäuft 
ihn  mit  Ehren,  um  ihn  für  die  verächtliche  Behandlung,  die  er  von 
Seiten  der  Granden  ihres  Landes  erleidet,  zu  entschädigen.  Auch  Elvira. 
die  einzige  Tochter  des  aus  seinem  Eeich  vertriebenen  Königs  von  Ara- 
gon, sieht  ihn  gern.  Keine  der  beiden  hohen  Frauen,  die  gedrängt  werden, 
einen  Gatten  zu  wählen,  wagt  jedoch.  Carlos  auf  den  Thron  zu  berufen. 
Sie  würden  sich  selbst  durch  solche  Wahl  entehren.  Zum  Glück  für  alle 
kommt  ein  Geheimnis  zu  Tage,  wonach  Carlos  nicht  der  Sohn  jenes 
Fischers,  sondern  der  Bruder  Elvirens,  der  Sohn  des  inzwischen  ver- 
storbenen Königs  von  Aragon  ist.  Ihn  vor  den  Nachstellungen  der  Feinde 
sicherzustellen ,  hat  ein  treuer  Höfling  den  Knaben  gleich  nach  seiner 
Geburt  in  Sicherheit  gebracht  und  ihn  in  der  Stille  erziehen  lassen.  So 
besteigt  Carlos  als  Don  Sanche  von  Aragon  den  Thron  und  seine  Ver- 
mählung mit  Isabella  führt  zur  glücklichen  Vereinigung  der  beiden  Länder. 

Corneille  entfaltete  in  dieser  ..heroischen  Komödie",  deren  Held 
keine  geschichtliche  Figur  ist,  einen  Teil  seiner  alten  Kraft :  die  schöne 
Dichtung  hat  etwas  von  dem  Feuer  des  „Cid"  in  sich.  Dort  wie  hier 
ist  es  ein  Jüngling  adeligen  Gemüts,  der  unsere  Teilnahme  gewinnt. 
Allein  der  gesuchte  chevaleresk-galante  Ton,  der  im  „Cid"  nur  Beigabe 
im  Geschmack  der  Zeit  war.  herrscht  in  ,.Don  Sanche"  so  sehr  vor. 
daß  er  jedes  natürliche  Gefühl  zu  verdrängen  droht.  Es  fehlt  diesem 
Drama  an  der  höheren  belebenden  Idee,  an  dem  Gehalt,  der  es  für  die 
späteren  Geschlechter  lebendig  erhalten  hätte. 

„Don  Sanche"  gefiel,  aber  nicht  lange.  Das  Stück  verschwand 
bald  vom  Eepertoire  und  wurde  während  vieler  Jahre  nicht  mehr  in 
Paris  gegeben.  Corneille  schrieb  dies  einem  besonderen  Mißgeschick  zu. 
„Don  Sanche"  habe  an  hoher  Stelle  nicht  gefallen,  sagte  er,  und  müsse 
sich  begnügen,  in  der  Provinz  bewundert  zu  werden.')  Die  Stelle  ist 
dunkel.  Manche,  wie  z.  B.  Voltaire  und  Guizot,  glauben  diese  Worte 
auf  Conde  deuten  zu  sollen,  der  in  seinem  Stolz  mißbilligt  habe,  daß 
ein  armer  Fischerssohn  sich  so  edel  zeige.  Allein  da  Carlos  sich  später 
als  Prinz  von  Geblüt  enthüllt,  konnte  selbst  der  hochmütigste  Aristokrat 
nichts  mehr  gegen  seinen  Heldencharakter  einwenden.  Viel  eher,  scheint 
uns,  mochte  sich  der  meuterische  Prinz,  der  gegen  die  Königin-ßegentin 
focht,  von  jenen  Stellen  des  Dramas  beleidigt  fühlen,  in  welchen  von 
dem  Usurpator  Don  Garcia  gesprochen  wird,  der  die  rechtmäßige  Königin 
von  Aragon  verdrängt  hat.  Gleich  die  erste  Scene  konnte  ihm  als  eine 
Anspielung  erscheinen;  dort  sagt  Dona  Leonor.  die  vertriebene  Königin 
von  Aragon,  zu  ihrer  Tochter: 

1)  Siehe  das  „Examen"  zu  „Don  Sanche".  Darin  sagt  Corneille:  „üne 
disgräce  particuliere  fit  avorter  toute  sa  bonne  fortune.  Le  refus  d'un  illustre 
suffrage  dissipa  les  applaudissements  que  le  public  lui  avoit  donnes  trop  libe- 
ralement,  et  aneantit  si  bien  tous  les  arrets  que  Paris  et  le  reste  de  la  cour 
avoient  prononces  en  sa  faveur,  qu'au  bout  de  quelque  temps  eile  se  trouva 
releguee  dans  les  provinces.  oü  eile  conserve  encore  son  premier  liistre." 


431 


Nach  so  viel  Unglück  sendet  uns  der  Himmel 

Doch  endlich  wieder  eine  Freudenbotschaft. 

Ganz  Aragon  hat  sich  für  uns  erhoben, 

Die  Beute  dem  Tyrannen  abgejagt, 

Die  Schmach  der  Knechtschaft  endlich  abgeschüttelt, 

Und  seiner  Fürstin  will  es  wieder  huld'gen.ij 

Andere  wollen  aus  Corneilles  Bemerkung  auf  die  Gegnerschaft 
Mazarins  schließen,  der  in  dem  Helden  Carlos  eine  Ähnlichkeit  mit 
Cromwell  gefunden  habe.  Mit  Recht  verwirft  Marty-Laveaux  diese  Er- 
klärung. Aber  selbst  bei  der  ersten  Annahme  bleibt  es  unklar,  wieso 
ein  tadelndes  Wort  Condes  gegen  „Don  Sanche"  mehr  hätte  bewirken 
können,  als  seinerzeit  Richelieus  Mißbilligung  des  „Cid".  Denn  daß  nicht 
von  einem  Verbot  des  Stücks  die  Rede  war,  zeigt  Corneilles  Ausdruck, 
infolge  der  hohen  Mißbilligung  habe  sich  das  Stück  „nach  einiger  Zeit" 
auf  die  Provinz  angewiesen  gesehen.  Möglich,  daß  der  Dichter  einer 
tadelnden  Kritik  zuschrieb,  was  doch  nur  die  Schuld  des  Schauspiels 
selbst  war. 

„Don  Sanche"  wurde  von  „Nicomede"  übertroffen,  den  Corneille 
zu  Anfang  des  Jahrs  1651  folgen  ließ.  Er  nannte  sein  Stück  eine  Tra- 
gödie, obwol  es  mit  einer  allseitigen  Versöhnung  abschließt.  Denn  er 
erlaubte  sich,  einen  der  häufigen  blutigen  Vorgänge  im  Reich  eines 
finsteren  asiatischen  Tyrannen  nach  seiner  Weise  umzugestalten  und 
statt  der  verdorbenen  Welt  des  kleinen  orientalischen  Hofes  ein  Bild 
heldenkräftiger,  edler  Mensclien  zu  zeichnen.  Er  führt  uns  in  den  Palast 
<les  Königs  Prusias  von  Bithynien.  Dieser  wollte,  wie  Justinus  erzählt, 
seinen  ältesten  Sohn  Nikomedes  töten  lassen,  um  einem  Sohn  aus  zweiter 
Ehe  die  Thronfolge  zu  sichern,  verlor  aber  bei  diesem  Versuch  selbst 
sein  Leben. ''^) 

In  der  Tragödie  Corneilles  ist  Nicomedes  ein  wahrer  Held,  furchtlos, 
bescheiden,  fest.  Hannibal  hat  ihn  die  Geheimnisse  der  Kriegführung 
gelehrt,  und  der  junge  Prinz  ist  von  Sieg  zu  Sieg  gezogen.  Am  Hof 
seines  Vaters  aber  herrscht  die  Königin  Arsinoe,  die  zweite  Gemahlin 
des  Prusias.  Sie  arbeitet  an  dem  Sturz  des  Erstgeborenen,  um  ihrem 
Sohn  Attalus  den  Thron  zu  sichern,  und  wird  dabei  von  dem  römischen 
Gesandten  Flaminius  unterstützt,  der  in  Nicomedes  einen  furchtbaren 
Gegner  seines  Volkes  voraussieht.  Dieser  verläßt  auf  die  Kunde  der 
Vorgänge  am  Hof  sein  Heer  und  kommt  ohne  Schutz,  sich  selbst  ver- 
trauend, nach  Nicomedia,  der  Hauptstadt,  zurück.  Nicht  ■  die  Krone 
allein,  auch  seine  Braut,  die  Prinzessin  Laodice  von  Armenien,  soll  ihm 
durch  Attalus  geraubt  werden.  Seine  Gegenwart,  glaubt  er.  genüge.  Er 
blickt  mit  vernichtendem  Hohn  auf  seine  Gegner  herab,  auf  die  Römer 
sowol,  wie  auf  seinen,  in  Rom  erzogenen  Bruder  Attalus,  der 


ij  Siehe  „Don  Sanche",  I,  1. 

1)  Die  geschichtlichen  Vorgänge,  die  dem  Stück  zu  Grunde  liegen,  er- 
zählt Justinus  XXXI  \',  c.  4.  —  Vergl.  Diodorus  Siculus  in  dem  Fragment  der 
Bücher  XXX  und  XXXII,  sowie  Appian.  Bell.  Mithrid.  c.  2—7. 


432 

.Beim  Anblick  eines  röm'schen  Adlers  zittert, 
Und  sich  vor  dem  Aedilen  beugt  . .  "*  ^) 

Ein  andermal  warnt  er  diesen  mit  beißendem  Spott: 
„Ich  sorge,  Herr,  ein  Römer  könnt'  Euch  hören.-) 

Mit  demselben  Stolz,  derselben  kalten  Überlegenheit,  mit  der  seiner 
selbst  bewußten  eisigen  Kuba  tritt  Nicomedes  auch  dem  römischen  Ab- 
gesandten entgegen,  welcher  Freundlichkeit  und  Ernst,  Versprechungen 
und  Drohungen  gleich  gut  zu  gebrauchen  versteht,  um  die  Herrschaft 
des  Senats  in  diesen  fernen  Ländern  zu  begründen.  Aber  wenn  er 
Prusias  und  Arsinoe  beherrscht,  findet  er  doch  unerschütterlichen  Wider- 
stand bei  Nicomedes  und  Laodice.  Letztere  ist  hinreißend  in  ihrer  Ent- 
rüstung und  stolzen  Haltung,  dem  Römer  gegenüber,  und  die  Scene 
zwischen  ihr  und  Flaminius  ist  meisterhaft  (HI,  2).  Nicomedes  wird  auf 
Befehl  des  Königs  verhaftet,  aber  das  Volk  empört  sich,  und  Attalus 
selbst  dem  die  Anmaßung  des  Flaminius  die  Augen  öffnet,  rettet  den 
bedrohten  Bruder.  Der  Schluß  ist  zwar  lebendig  und  spannend,  aber 
nicht  ganz  folgerichtig.  Die  allgemeine  Versöhnung  ist  unwahrscheinlich 
und    schwächt   den  Eindruck  der  vorausgegangenen  machtvollen  Scenen. 

Das  unglücklichste  Drama,  das  Corneille  bis  dahin  noch  verfaßt 
hatte,  war  „Pertharite,  roi  des  Lombards".  Gewöhnlich  wird  dessen 
erste  Aufführung  in  das  Jahr  1653  gesetzt,  aber  Marty-Laveaux  beruft 
sich  auf  ein  Geschichtchen  Tallemants,  um  wahrscheinlich  zu  machen, 
daß  -Pertharite''  schon  anfangs  1652  gespielt  wurde. ^)  Angeregt  von 
einer  Stelle  in  des  Paulus  Diaconus  Buch  „De  gestis  Longobardorum", 
wo  erzählt  wird,  daß  König  Grimoald  in  einer  Regung  von  Großmut  die 
Anhänger  des  von  ihm  vertriebenen  Pertharite  verschonte,  unternahm  es 
Corneille,  den  Königshof  der  Longobarden  zu  Mailand  als  den  Sitz  edler 
Helden  und  hochherziger  Frauen  zu  schildern,  wie  er  kurz  zuvor  die 
asiatischen  Despoten  idealisiert  hatte. "*)  Diese  Licenz  hätte  ihm  nicht 
geschadet,  wenn  es  ihm  wirklich  gelungen  wäre,  Heldenfiguren  zu  zeichnen. 
Allein  dem  ist  nicht  so.  Pertharite  hat  sein  Land  an  Herzog  Grimoald 
verloren,  ist  geflohen  und  es  heißt,  er  sei  im  fernen  Ungarland  ge- 
storben. Grimoald  wirbt  um  die  Hand  Rodelindes,  der  Witwe  des  ver- 
triebenen  Königs.    Diese    widersteht,    selbst    als   Grimoald,    von    einem 


^)  Nicomede,  I,  1,  52: 

Qui  tremble  ä  voir  un  aigle,  et  respectc  un  edile. 
-)  Nicomede,  I,  2,  38: 

Seigneur,  je  crains  pour  vous  qu'un  Romain  vous  eeoute. 

^)  Tallemant  des  Reaux,  Historiettes,  IV,  27....  „Au  carneval  de 
1(352,  Mme.  de  Montglas  tit  une  piaisante  extravagance  chez  la  presidente  de 
Pommereuil.  Ou  y  devoit  jouer  Pertharite,  roi  des  Lombards,  piece  de  Corneille 
qm  n'a  pas  reussi..." 

■^)  So  sagt  Grimoald  z.  B.  zu  dem  bösen  Garibalde,  der  ihn  zu  unge- 
rechter That  verleiten  will  (II,  3,  41): 

Porte,  porte  aux  tyrans  tes  damnables  maximes 
Je  hais  I'art  de  regner  qni  se  permet  des  crimes. 


433 


gewissenlosen  Ratgeber  verleitet,  sie  mit  dem  Tod  ihres  Söhnchens  be- 
droht. Plötzlich  aber  taucht  Pertharite  wieder  auf.  Nachdem  zwei  Akte 
hindurch  von  ihm  gesprochen  worden  und  man  gespannt  ist,  ihn  zu 
sehen,  erscheint  er  am  Schluß  des  dritten  Akts,  aber  nicht  als  Held 
und  Verteidiger  seiner  Krone,  sondern  demütig  bittend.  Er  will  auf  sein 
Land  verzichten,  wenn  man  ihm  nur  seine  Frau  zurückgiebt.  Die  Ent- 
täuschung, die  der  Dichter  damit  seinem  Publikum  bereitet,  ist  groß. 
Selbst  Rodelinde  will  den  Ritter  von  der  traurigen  Gestalt  nicht  an- 
erkennen und  behauptet,  ein  Betrüger  suche  sie  zu  täuschen,  der  echte 
Pertharite  könne  so  nicht  reden. 

In  den  späteren  Ausgaben  hat  Corneille  denn  auch  die  allzu  kläg- 
liche Rolle  seines  Helden  gemildert.  Als  Betrüger  verhaftet,  soll  derselbe 
sterben;  ein  treuer  Anhänger  will  ihm  zur  Flucht  verhelfen;  allein  der 
Versuch  mißlingt,  und  Grimoald,  dessen  Herz  sich  abwechselnd  zu  Rode- 
linde und  zu  Edwige,  der  Schwester  Pertharites,  hingezogen  fühlt,  giebt 
in  seiner  Großmut  Mailand  an  seinen  früheren  Herrscher  zurück,  heiratet 
Edwige  und  erhält  damit  den  Besitz  von  Pavia.  So  endigt  alles  in 
schönster  Eintracht.  Das  Publikum  brachte  jedoch  in  diese  Harmonie 
einen  grellen  Mißklang,  denn  es  ließ  „Pertharite"  entschieden  fallen. 
Doch  kann  sich  die  unglückliche  Tragödie  vielleicht  eines  andern  Ver- 
dienstes rühmen.  Racine  soll  später  in  ihr  die  Anregung  zu  seiner 
.,Andromaque"  gefunden  haben,  und  allerdings  sieht  sich  in  dem  letzteren 
Stück  die  troische  Fürstin  vor  derselben  Alternative,  wie  in  „Pertharite" 
die  Königin  Rodelinde.  Bei  Racine  ist  es  Pyrrhus,  welcher  der  Witwe 
Hektoi-s  droht,  ihren  Sohn  Astyanax  den  Griechen  zum  gewissen  Tod 
auszuliefern,  wenn  sie  nicht  einwillige,  ihm  ihre  Hand  zu  reichen.  Eine 
weitere  Ähnlichkeit  zwischen  der  bald  Leidenschaft  atmenden,  bald 
schwermütigen  Tragödie  Racines  und  dem  Corneille'schen  „Pertharite" 
ist  freilich  nicht  vorhanden. 

Corneille  trug  die  Niederlage  schwer.  Er  ließ  sein  Stück  zwar 
drucken  und  appellierte  so  noch  einmal  an  das  öffentliche  Urteil,  aber 
in  seiner  Vorrede  nahm  er  Abschied  von  dem  Publikum.  Seine  Worte 
klingen  tief  traurig.  „Die  unfreundliche  Aufnahme",  sagt  er,  „welche 
dieses  Werk  bei  dem  Publikum  gefunden  hat,  zeigt  mir,  daß  die  Zeit 
des  Rückzugs  für  mich  gekommen  ist,  und  daß  ich  von  allen  Lehren 
meines  Horaz  nur  noch  die  beherzigen  soll : 

Solve  seiiescentem  mature  sanus  equum,  ne 
Peccet  ad  extremum  ridendus  et  ilia  ducat.^) 

Es  ist  besser,  daß  ich  mich  freiwillig  zurückziehe,  als  daß  ich 
warte,  bis  man  mich  heimschickt,  und  es  ist  nur  natürlich,  daß  ich 
nach  zwanzigjähriger  Arbeit  bemerke,  wie  ich  zu  alt  werde,  um  noch 
in  der  Mode  zu  sein.  Doch  nehme  ich  die  Genugthuung  mit  mir  weg, 
daß  ich  die  französische  Bühne  in  besserem  Zustand  verlasse,  als  der 
war,  in  dem  ich  sie  fand,  in  Hinsicht  der  Kunst  sowol,  wie  der  Moral. 
Die   großen  Geister,    die    zu  meiner  Zeit  für  sie  arbeiteten,    haben  viel 


1)  Horat.  Ep.  I,  1,  v.  8. 
Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur. 


28 


434 


dazu  beigetragen,  und  ich  schmeichle  mir  mit  dem  Gedanken,  daß  auch 
meine  Bemühungen  ihr  nicht  geschadet  haben.  Glücklichere  Männer 
werden  nach  uns  auftreten,  die  das  Theater  zur  Vollkommenheit  führen 
und  in  völliger  Keinheit  hinstellen  werden.  Das  wünsche  ich  von  ganzem 
Herzen."  ^ 

Der  große  Dramatiker,  dessen  Erscheinen  Corneille  hier  prophe- 
tisch verkündete,  lebte  schon,  aber  Corneille  selbst  erkannte  ihn  später 
nicht  als  den  von  ihm  versprochenen  Messias  an. 

Noch  im  Jahr  1664,  als  er  in  der  Gesamtausgabe  seiner  bis 
dahin  erschienenen  Werke  jedes  Stück  in  einem  kritischen  Aufsatz  be- 
sprach, erklärte  er  bei  Gelegenheit  des  „Pertharite",  daß  ihm  die 
Erinnerung  an  den  Mißerfolg  zu  schmerzlich  sei,  als  daß  er  davon 
reden  könne. 

So  zog  er  sich  also  von  dem  Theater,  das  ihm  lieb  geworden, 
zurück  und  schien  den  Aufregungen,  welche  ihm  die  Bühne  in  so 
reichem  Maße  geboten  hatte,  für  den  Rest  seines  Lebens  entsagen  zu 
wollen.  Hätte  eine  gütige  Muse  ihn  in  diesem  Entschluß  bestärkt,  sie 
hätte  ihm  manche  bittere  Enttäuschung  erspart,  und  sein  Dichterruhm 
hätte  kaum  etwas  eingebüßt. 

Aber  Corneille  wäre  eben  nicht  der  große  Dichter  gewesen,  der 
er  trotz  so  mancher  Schwäche  war.  er  hätte  nimmer  die  Bedeutung 
erlangt,  die  ihm  niemand  auf  dem  Gebiet  der  dramatischen  Litteratur 
absprechen  kann,  wenn  er  nicht  in  dem  Zauberbann  der  Bühne  ge- 
standen hätte.  Der  Triumph  ist  in  der  Welt  des  Theaters,  wo  die 
Phantasie  das  Scepter  führt,  doppelt  berauschend  ;  selbst  eine  Niederlage 
wirkt  selten  ernüchternd,  sondern  lockt  nur  mit  bestrickender,  dämo- 
nischer Gewalt  zu  neuem  Versuch.  Corneille  mochte  den  festen  Entschluß 
gefaßt  haben,  nichts  mehr  für  die  Bühne  zu  schreiben;  da  das  heilige 
Feuer  in  ihm  glühte,  war  es  ihm  unmöglich,  sich  für  immer  von  dem 
Feenland  fern  zu  halten. 


1)  Au  lecteur:  La  mauvaise  reception  que  le  public  a  faite  ä  cet 
ouvrage  m'avertit  qu'il  est  temps  que  je  sonne  la  retraite,  et  que  des  preceptes 
de  mon  Horace  je  ne  senge  plus  k  pratiquer  que  celui-ci:  Öolve...  II  vaut 
mieiix  que  je  prenne  eonge  de  moi-meme  que  d'attendre  qu'on  me  le  donne 
tout-a-fait;  et  il  est  juste  qu'apres  vingt  annees  de  travail,  je  commeuce  ä  m'a- 
percevoir  que  je  deviens  trop  vieux  pour  etre  encore  ä  la  mode.  J'en  remporte 
cette  satisfaction,  que  je  laisse  le  theätre  fran(,-oi3  en  meilieur  etat  que  je  ne 
Tai  trouve,  et  du  cöte  de  l'art  et  du  cöte  des  moeurs:  le  grands  genies  qui 
lui  ont  prete  leurs  veilles  de  mon  temps  y  ont  beaueoup  contribue;  et  je  me 
flatte  jusqu'ä  penser  que  mes  soins  n'y'ont  pas  nui:  il  en  viendia  de  plus 
heureux  apres  nous  qui  le  mettront  ä  sa  perfection,  et  acheveront  de  l'epurer; 
je  le  souhaite  de  tout  mon  coeur. 


VIII. 

Spätere  Thätigkeit  Corneilles  und  letzte  Lebensjahre. 

Corneille  stand  in  der  Kraft  seiner  Jahre,  als  er  sich  entschloß, 
jeder  weiteren  dramatischen  Arbeit  zu  entsagen.  Noch  waren  ihm  über 
dreißig  Jahre  beschieden,  aber  die  Geschichte  dieses  letzten  Lebens- 
abschnitts ist  traurig  und  erweckt  peinliche  Empfindungen.  Denn  er  blieb 
seinem  Vorsatz  nicht  getreu  und  kehrte  nach  einigen  Jahren  zur  Bühne 
zurück,  fand  aber  dort  nicht  mehr  das  alte  Glück,  wenn  er  auch  noch 
manchen  augenblicklichen  Erfolg  erzielte.  Seiner  Kraft  bewußt,  fühlte  er 
umso  schmerzlicher,  wie  er  in  dem  Kampf  mit  einer  neuen  Zeit  unter- 
lag. Es  war  kein  reiner  Zufall  gewesen,  daß  er  um  die  Mitte  des  Jahr- 
hunderts, nach  der  Unterdrückung  der  Fronde,  auf  jede  fernere  Thätig- 
keit für  die  Bühne  verzichtete.  Die  große  Umwälzung  in  den  politischen 
und  socialen  Verhältnissen  Frankreichs  fand  damals  ihren  Abschluß.  Mit 
der  Gesellschaft,  die  zu  jener  Zeit  verschwand,  verloren  auch  die  bis 
dahin  giltigen  Anschauungen  ihre  Herrschaft,  und  mit  der  unumschränkten 
Monarchie  erhob  sich  zugleich  ein  neuer  Geschmack.  Corneille  hatte  nicht 
zur  Partei  der  Frondeurs  gehört,  allein  er  hatte  doch  im  Sinn  und  im 
Geschmack  der  mit  der  Fronde  unterliegenden  Aristokratie  gedichtet.  Als 
er  nach  sechsjähriger  Zurückgezogenheit  wieder  mit  einem  dramatischen 
Werk  auftrat,  stand  er  einer  ihm  innerlich  fremden  Welt  gegenüber,  so 
ergeben  sie  ihm  auch  scheinbar  sein  mochte.  Neue  Grundsätze,  neue 
Theorien,  neue  Ideale  kamen  in  ihr  zur  Geltung,  und  der  Dichter  fühlte 
sich  nicht  mehr  von  der  Begeisterung  des  Publikums  wie  früher  ge- 
tragen. 

Das  Leben  Corneilles  gleicht  in  seiner  zweiten  Hälfte  einer  Tra- 
gödie, denn  sein  fruchtloser  Kampf  mit  der  moderneu  Zeit,  sein  qual- 
volles und  vergebliches  Ringen,  um  den  Anforderungen  der  jüngeren 
Generation  zu  entsprechen,  ist  wahrhaft  tragisch.  Die  verschiedenen 
Phasen  dieser  traurigen  Entwicklung  und  dieses  mühseligen -Kampfes,  in 
dem  Corneille  zuletzt  unterliegen  sollte,  zu  erzählen,  ist  die  Aufgabe  des 
folgenden  Abschnitts. 

Der  Mißerfolg  des  „Pertharite''  hatte  den  Entschluß  des  Dichters, 
sich  zurückzuziehen,  zur  Reife  gebracht.  Man  irrt  wol  kaum,  wenn  man 
annimmt,  daß  Corneille  nicht  plötzlich  und  in  der  ersten  Aufwallung 
des  Unwillens  einen  so  folgenschweren  Entschluß  gefaßt  hat.  Der  Ge- 
danke dazu  mag  ihm  früher  schon  öfters  gekommen  sein.  Bei  den  spär- 
lichen Nachrichten,  die  uns  aus  jener  Zeit  über  ihn  vorliegen,  ist  es 
freilich  schwer,  die  Wahrheit  zu  ergründen.  Aber  vielleicht  erlaubt  eine 


436 

ruhige  Prüfung  der  Verhältnisse,  in  welchen  der  Dichter  lebte,  doch  einen 
annähernd  richtigen  Schluß  auf  die  Motive,  welche  ihn  leiteten. 

Corneille  war  seinem  ganzen  Charakter  nach  nicht  für  den  Ver- 
kehr mit  Fremden  oder  ihm  fernstehenden  Personen  geschaffen.  Er  fühlte 
sich  unbehaglich  in  größerer  Gesellschaft  und  war  überhaupt  wenig  an- 
ziehend im  Umgang.  Sein  Stolz,  sein  ungeschmeidiges  Wesen  verletzte 
viele.  Das  Theater  aber  hatte  damals  so  heißen  Boden  wie  heute,  und 
Corneille  mag  das  oft  genug  erfahren  haben.  Die  Geschichte  des  „Cid" 
beweist  es  uns ,  und  weitere  Unannehmlichkeiten  sind  schwerlich  aus- 
geblieben. So  oft  ihn  auch  die  Aufführung  seiner  Dramen  nach  Paris 
lockte,  immer  wieder  kehrte  er  gern  heim  in  sein  friedlich  stilles  Privat- 
leben und  die  geräuschlose,  geregelte  Thätigkeit.  die  seiner  daselbst  war- 
tete. Mit  welcher  Freude  mag  er  sein  bescheidenes  Tuskulum  in  Petit- 
Coui'onne  begrüßt  haben,  wenn  er  der  heißen  Pariser  Luft,  den  Intri- 
guen  der  Bühnenwelt,  dem  Verkehr  mit  den  Litteraten  und  der  vor- 
nehmen Gesellschaft  entronnen  war.  Freilich  ließ  ihn  der  Zauber  nicht 
frei,  und  in  dem  stillen  Hafen  dachte  er  bald  wieder  an  neue  Fahrten 
und  Siege. 

Seitdem  er  geheiratet  hatte^  fand  er  zu  Haus  eine  schöne  Stätte, 
wo  Liebe  und  Friede  herrschten;  mit  der  Zeit  mehrte  sich  die  Zahl  der 
Kinder,  deren  Erziehung  bald  größere  Aufmerksamkeit  verlangte.  Durch 
den  Tod  seines  Vaters  war  Corneille  das  Haupt  der  Familie  geworden, 
und  ihm  oblag  die  Verwaltung  des  ganzen  Vermögens,  sowie  die  Sorge 
für  die  jüngeren  Geschwister.  Daß  Corneille  auch  seines  Amts  mit  Eifer 
waltete,  haben  wir  schon  früher  gesehen,  und  alles  deutet  darauf  hin. 
daß  er  in  Ronen  eine  allseitig  geachtete  Stellung  inne  hatte.  Er  gehörte 
zum  Kirchen  vorstand  seines  Sprengeis,  war  auch  von  Ostern  1(551  bis 
1652  Kirchenrechner.  Noch  ist  die  ausfuhrliche  Eechnungsablage,  die 
er  am  Schluß  dieser  Periode  verfaßte,  erhalten. 

So  gestaltet  sich  aus  den  vereinzelten  Angaben  doch  ein  freund- 
liches Bild  von  dem  Leben  des  Dichters  in  Ronen.  Die  Familie  erfreute 
sich  eines  für  jene  Zeit  ansehnlichen  Vermögens.  Sie  lebte  im  Wohl- 
stand, da  der  Vater  Corneille  durch  Sparsamkeit  und  sorgsame  Verwal- 
tung   die  Habe  beträchtlich   vermehrt   hatte. ^)    Die  Pension   des  Vaters. 


1)  Vergl.  A.  Tougard,  Nouveaux  documents  inedits  sur  le  patrimoine  de 
P.  Corneille,  in  der  „Revue  de  Rouen"  186S  (S.  624).  Dort  werden,  nach  neuer- 
dings aufgefundenen  Aktenstücken,  verschiedene  Ankäufe  Corneilles  des  Vaters 
erwähnt.  1(313  erwarb  er  zwei  Grundstücke  (^  o  acre  und  IV3  vergee)  für  105  L. 
Im  Jahr  1614  tauschte  er  einige  Läudereien  um  und  kaufte  1616  wieder  Boden 
für  250  Livres  (1  acre  und  5  vergees);  einen  ähnlichen  Besitz  erwarb  er  1623, 
ebenso  1628.  Beträchtliche  Geldsummen  waren  an  verschiedene  Schuldner  aus- 
geliehen. 162U  hatte  er  1767  L.  gegen  eine  jährliche  Rente  von  120  L.,  1624 
320U  L.  gegen  eine  Rente  von  200  L.  dargeliehen;  1629  erhielt  er  von  anderen 
Schuldnern  3166  Livres  zurück,  und  1634  finden  wir  wieder  ein  Darlehen  von 
2800  Livres  .verzeichnet,  das  ihm  200  Livres  jährlich  trug.  Corneille  besaß  noch 
außerdem  an  verschiedenen  Orten  Grund  und  Boden,  und  seine  Ausstände  be- 
schränkten sich  wol  kaum  auf  die  hier  angegebenen  Summen.  Zählt  man  dazu 
noch  den  Besitz  des  Hauses  in  der  Stadt,  sowie  des  Häuschens  in  Petit-Cou- 
ronne,  so  wird  man  gewiß  sagen  dürfen,  daß  die  Familie  wohlhabend  war. 


437 


die  Einkünfte,  welche  der  Sohn  aus  seinem  Amt  zog,  und  der  Gewinn, 
welchen  ihm  seine  dramatischen  Werke  brachten,  erhöhten  die  Mittel  der 
Familie.  Als  Pierre  Corneille  das  Amt  eines  Kirchenrechners  niederlegte, 
widmete  seine  Mutter  der  Gemeinde  100  Livres  zur  Anschaffung  eines 
Bahrtuchs  aus  Sammt,  ein  Geschenk,  das  für  jene  Zeit  immerhin  be- 
deutend war. 

Doch  die  Verhältnisse  ändei'ten  sich  allmählich.  Langsam,  aber 
stetig  sank  der  Wohlstand  des  Hauses.  Wir  werden  an  einer  späteren 
Stelle  dieses  Abschnitts  genauer  davon  zu  reden  haben.  Aber  schon 
ziemlich  früh  kann  man  den  Beginn  der  Verlegenheiten  bemerken. 

Der  Tod  des  Vaters  brachte  den  Wegfall  der  Pension.  Fast  gleich- 
zeitig sah  sich  der  Dichter  in  seinem  Einkommen  geschmälert,  da  man 
einen  zweiten  Advokaten  neben  ihm  ernannte  (1638).  Corneille  prote- 
stierte dagegen,  klagte,  sah  sich  aber  nach  zweijährigem  Prozeß  ab- 
gewiesen und  zu  den  Kosten  verurteilt. 

Vielleicht  lag  in  diesen  Verhältnissen  mit  ein  Grund  der  größeren 
Produktivität  Corneilles,  der  auf  solche  Weise  einbringen  wollte,  was  er 
verloren  hatte.  In  den  Jahren  1643 — 1646  ließ  er  sechs  neue  Stücke 
aufführen,  so  daß  auf  jedes  Jahr  fast  zwei  große  Dichtungen  kommen. 
Aber  jedes  neue  dramatische  Werk  rief  ihn  nach  Paris  und  verlangte 
einen  längeren  Aufenthalt  daselbst.  Ein  beträchtlicher  Teil  des  Gewinns 
ging  darüber  wieder  verloren,  und  die  häufige  Abwesenheit  von  Rouen 
trug  nicht  dazu  bei,  die  Geschäfte  der  Advokatur  zu  heben.  Die  Kosten 
des  Haushalts  aber  stiegen  fortwährend,  denn  bald  belebten  sechs  Kinder 
das  Haus.  Madame  Corneille  mag  ihrem  Gatten  öfters  vorgestellt  haben, 
daß  eine  Änderung  nötig  sei.  Allein  ein  Mann  entsagt  ungern  einer 
Thätigkeit,  die  ihm  Ehre  bringt.  Erst  das  Zusammentreffen  von  zwei 
wichtigen  Ereignissen  scheint  Corneille  zu  dem  Entschluß  gebracht  zu 
haben,  der  dramatischen  Thätigkeit  wirklich  zu  entsagen. 

Im  Jahr  1651  hatte  Corneille  eine  poetische  Übersetzung  der  „Nach- 
folge Christi"  von  Thomas  a  Kempis  begonnen  und  die  zwanzig  ersten 
Kapitel  veröffentlicht,  um  zu  sehen,  wie  man  seine  Arbeit  aufnehme. 
Man  hat  eine  Zeit  lang  die  sonderbarsten  Gründe  aufgesucht,  um  zu  er- 
klären, warum  Corneille  diese  Übersetzung  unternommen  habe.  Einige 
behaupteten,  die  Kirche  habe  ihm  diese  Arbeit  als  Buße  für  ein  lascives 
Gedicht  auferlegt.  Allein  es  ist  bewiesen,  daß  das  fragliche  Gedicht  nicht 
von  Corneille  herrührt  und  somit  von  einer  Buße  dafür  nicht  die  Rede 
sein  kann.^)  Auch  Taschereaus  Ansicht  über  die  Veranlassung  zu  dieser 
Übersetzung  ist  nicht  stichhältig.  Der  verdienstvolle  Biograph  Corneilles 
dachte  an  die  häufig  wiederkehrenden  Angriffe,  welchen  das  Theater  von 
Seiten  der  Zeloten  ausgesetzt  war  und  noch  ist,  und  meinte,  Corneille 
habe  den  Fehler,  für  ein  so  sündhaftes  Vergnügen  des  Volkes  gearbeitet 
zu  haben,  mit  einem  frommen  Werk  sühnen  wollen.-)  Corneille  widerlegt 


')  Man  vergleiche    die  Einleitimg    zur  Übersetzung    der   „Imitation"     in 
Marty-Laveaux'  Ausgabe  von  Corneille,  Bd.  VIII,  S.  II  ff. 

2)  Taschereau,  Vie  de  Corneille,  1.  IV,  S.  157  (edit.  Elzevirienne). 


438 

diese  Ansicht  selbst  dadurch,  daß  er  ein  Jahr  nach  dem  Erscheinen  des 
ersten  Teils  der  Übersetzung  seinen  „Pertharite"  aufführen  ließ,  auch 
später  noch  ausdrücklich  seine  Stimme  gegen  die  allzu  ängstlichen  und 
engherzigen  Eiferer  erhob. ^) 

Man  hat  nicht  nötig,  so  weit  zu  suchen.  Corneille  war  ein  gläubiger 
Christ,  der  über  Dogmen  und  religiöse  Streitfragen  nicht  viel  grübelte, 
sondern  den  ihm  überlieferten  Glauben  ohne  viel  Skrupel  und  Zweifel 
hinnahm.  Das  beweist  sein  Amt  bei  der  Gemeinde,  sowie  der  freund- 
schaftliche Verkehr,  den  er  mit  seinen  alten  Lehrern,  den  Jesuitenpatres 
in  Eouen,  unterhielt.  Wie  sehr  Übersetzungen  der  Psalmen,  überhaupt 
geistliche  Gedichte  in  der  Mode  waren,  ist  schon  früher  bemerkt  worden."') 
Man  denke  nur  an  Eacans  Paraphrase  der  Psalmen.  Fast  gleichzeitig 
mit  Corneilles  Übersetzung  erschienen  zwei  andere  Übertragungen  des- 
selben Buchs, ^)  und  so  ist  es  das  Einfachste  und  Natürlichste,  auch 
bei  unserem  Dichter  nicht  nach  weiterliegenden  Veranlassungen  zu 
suchen,  vielmehr  anzunehmen,  daß  er  einem  Drang  seines  Herzens  folgte, 
als  er  seine  Arbeit  begann. 

Sie  sollte  jedoch  wichtige  Folgen  für  ihn  haben.  Seine  Über- 
setzung erntete  großen  Beifall  und  brachte  ihm  materiellen  Gewinn.  Die 
Königin  ließ  ihm  den  Wunsch  ausdrücken,  er  möge  das  schöne  Werk 
fortsetzen,  und  so  veröffentlichte  er  schon  16.52  einen  zweiten  Teil.  In 
derselben  Zeit  aber,  in  welcher  seine  fromme  Dichtung  so  warme  An- 
erkennung fand,  brachte  ihm  sein  „Pertharite"  auf  der  Bühne  eine  ent- 
schiedene Niederlage. 

Das  Gefühl  der  Bitterkeit,  das  ihn  wegen  dieses  Mißerfolgs  er- 
füllte, ließ  ihn  den  vielleicht  schon  länger  geplanten  Schritt  nun  wirk- 
lich thun.  Wenn  er  früher  aus  Rücksicht  auf  sein  Einkommen  nicht 
gewagt  hatte,  dem  Schaffen  für  die  Bühne  zu  entsagen,  so  konnte  er 
sich  jetzt  eher  dazu  entschließen,  da  ihm  der  Absatz  seiner  „Imitation 
de  Jesus-Crist"  neben  persönlicher  Genugthuung  auch  materielle  Vorteile 
verhieß.  Er  verdiente  mit  ihr  mehr  als  mit  seinem  besten  drama- 
tischen Werk,  wie  er  selbst  sagte.  Corneille  wußte  zu  rechnen,  wenn 
auch  der  Vorwurf  der  Habsucht,  den  man  ihm  gelegentlich  macht,  un- 
begründet ist.  Finanzielle  Rücksichten  dürfen  wir  daher  bei  seinen  Ent- 
schlüssen recht  wol  als  bestimmend  voraussetzen.  Zudem  wurde  er  1653 
von  einer  schweren  Krankheit  heimgesucht,  die  ihn  in  seinen  religiösen 
Gefühlen  noch  bestärkte. 

So  brach  er  mit  dem  Theater  und  verbrachte  einige  Jahre  zu 
Ronen,  fern  von  den  Pariser  Kreisen,  die  ihm  früher  nahe  gestanden 
hatten.  Er  lebte  seinem  Amt,  seiner  Familie.  Daß  er  heitere  Geselligkeit 


^)  Vergl.  Corneilles  Vorwort  zu  seinem  „Attila"  (1667).  Selbst  in  den 
Worten,  mit  welchen  er  seine  Übersetzung  dem  Papst  Alexander  VII.  widmete, 
spricht  er  von  seinen  Verdiensten  um  das  Theater,  und  dad  er  in  seinen  Stücken 
die  Moral,  in  einigen  sogar  die  wahre  Christentugeud  verherrlicht  habe. 

2)  Siehe  I.  Teil,  VIII.  Abschnitt,  S.  139  und  141. 

3)  Die  eine  von  Antoine  Tixier,  Lyon  1653;  die  andere  von  Jean  Des- 
marets,  1654. 


439 


nicht  floh,  zeigen  uns  einzelne  seiner  Gedichte  aus  jener  Epoche.')  Aber 
indem  er  immer  mehr  zum  braven  Bürger  und  Hausvater  wurde,  verlor 
er  die  Fühlung  mit  der  litterarischen  Welt  und  das  Verständnis  der 
neuen  Zeit,  die  hereinbrach.  Seine  poetische  Thätigkeit  beschränkte  sich 
auf  die  Fortsetzung  seiner  Übersetzung  des  Thomas  a  Kempis,  die  in 
mehreren  Abteilungen  erschien.  Erst  1656  veröffentlichte  er  den  letzten 
Abschnitt,  nachdem  er,  wie  es  scheint,  kurz  zuvor  wieder  ernstlich  er- 
krankt gewesen  war.  In  Paris  wenigstens  hatte  man  sich  schon  die 
jSTachricht  seines  Todes  erzählt.  Mit  der  Herausgabe  des  letzten  Teils  der 
„Imitation"  hielt  er  aber  seine  Arbeit  nicht  für  abgeschlossen.  Auflage 
folgte  auf  Auflage;  bei  einer  jeden  suchte  er  zu  bessern  und  zu  feilen, 
ein  Beweis,  wie  sehr  ihm  sein  Gedicht  am  Herzen  lag;  erst  in  der  Aus- 
gabe des  Jahrs  1671  gab  er  ihm  die  letzte,  definitive  Form. 

Der  Wert  einer  solchen  poetischen  Paraphrase  ist  problematisch, 
denn  bei  ihr  gilt  es  nicht,  das  Meisterwerk  eines  fremden  Dichters  oder 
Schriftstellers  in  einer  andern  Sprache  möglichst  getreu  wiederzugeben; 
es  soll  vielmehr  dem  Original  ein  neuer  Glanz  durch  das  poetische  Ge- 
wand verliehen  werden,  das  ihm  der  Bearbeiter  umlegt.  Eine  Paraphrase 
ist  aber  kaum  etwas  anders  als  eine  Verwässerung.  In  der  „Imitation" 
war  Corneille  allerdings  bemüht,  sich  dem  Gedankengang  des  Thomas 
a  Kempis  so  viel  als  möglich  anzuschließen,  ja  er  hat  gestrebt,  selbst 
im  Ausdruck  dem  Original  nahe  zu  kommen;  aber  gar  oft  verleitet  ihn 
der  Zwang  des  Reims,  der  Strophe  oder  der  Harmonie  zu  einer  Erwei- 
terung. Eine  Zeile  des  Thomas  wird  dann  wol  durch  eine  ganze  Strophe 
wiedergegeben.  Wie  sehr  dadurch  die  ursprüngliche  Einfachheit  des 
frommen  Buchs  leiden  mußte,  ist  klar.  Die  Worte  eines  so  kindlich-reli- 
giösen, milden,  seinem  Gott  und  seinem  Heiland  mit  vollster  Seele  hin- 
gegebenen Menschen  widerstreben  sogar  der  poetischen  Form.  Der  Vers 
ist  hier  eine  störende  Zuthat.  Mag  darum  Corneille  auch  in  vielen  Ein- 
zelheiten glücklich  gewesen  sein  und  die  Sprache  als  Meister  gehand- 
habt haben,  seine  Arbeit  hat  deshalb  seinen  Ruhm  doch  nicht  erhöht, 
denn  sie  ist  für  die  französische  Litteratur  keine  Bereicherung  gewesen. 

Hier  drängt  sich  uns  die  Frage  auf,  ob  Corneille  sein  Exil,  das 
ihn  der  Bühne  fernhielt,  immer  leichten  Herzens  trug  und  sich  niemals 
nach  der  Aufregung  der  entscheidenden  ersten  Vorstellungen  zurück- 
sehnte? Erglühte  sein  Herz  nie  mehr,  wenn  das  Bild  eines  Helden  vor 
seinem  Geist  aufstieg?  Gestalteten  sich  in  seiner  Phantasie  nicht  öfters 
die  verschiedenen  Phasen  einer  großen  geschichtlichen  Entwicklung  zu 
ebensoviel  bewegenden  Scenen  einer  Tragödie? 

Es  ist  fast  unmöglich,  solche  sehnsüchtige  Rückkehr  zu  der  Ideen- 
welt einer  früheren  Zeit  bei  ihm  nicht  anzunehmen.  Wir  sehen  denn 
auch  bald,  wie  er  einer  entschiedenen  Aufforderung,  wieder  für  die  Bühne 
zu  arbeiten,  Folge  leistete.    Wiederum  mag  er  in  seiner  Neigung  durch 


1)  Vergl.  z.  B.  das  Sonett  aus  dem  Jahr  1658,  Nr.  XL  VI  in  dem  Band  X 
der  Marty-Laveaux'schen  Ausgabe.  Eine  Dame  hatte  ihm  beim  Spiel  ein  Ge- 
dieht abgewonnen,  und  Corneille  zahlte  seine  Schuld  mit  diesen  Versen. 


440 


die  Eücksicht  auf  eine  notwendige  Erhöliung  seiner  jäiii-liclien  Einkünfte 
bestärkt  worden  sein.  Zum  mindesten  fällt  sein  Entschluß,  sich  dem 
Drama  wieder  zuzuwenden,  in  die  Zeit,  da  seine  L'bersetzung  der  „Nach- 
folge Christi'-  beendet  war  und  keine  große  Einnahme  mehr  von  ihr  zu 
hoffen  stand. 

Eouen  sah  häufig  wandernde  Schauspielertruppen  innerhalb  seiner 
Mauern,  und  Corneille  war  nicht  so  strenger  Sinnesart,  daß  er  sich  ent- 
halten hätte,  das  Theater  zu  besuchen.  Warum  sollte  er  sich  des  Ein- 
drucks nicht  freuen,  den  seine  Bühnenwerke  auf  die  Zuschauer  machten? 
War  doch  sein  Bruder  Thomas,  dessen  erstes  Stück  („Les  engagements 
du  hasard")  er  1647  dem  Hotel  de  Bourgogne  zur  Aufführung  empfohlen 
hatte,  seitdem  immer  für  die  Bühne  thätig  gewesen.  Thomas  Corneille 
hatte  im  Jahr  1656  einen  für  jene  Zeit  beispiellosen  Erfolg  mit  seinem 
Trauerspiel  „Timocrate"  gehabt.  Die  Brüder  aber  wohnten  zusammen, 
und  man  weiß,  daß  sie  ihre  Arbeiten  genau  miteinander  besprachen. 

Zu  Ostern  1658  hatten  gar  zwei  Schauspielertruppeu  ihre  Zelte 
in  Eouen  aufgeschlagen.  Die  eine  stand  unter  der  Leitung  eines  Edel- 
manns, Philibert  Gassaud,  sieur  du  Croisy.  Die  andere  wurde  von  Mö- 
llere geleitet.  In  dem  Wettstreit  der  beiden  Gesellschaften  unterlag  die 
erstere,  deren  Mitglieder  schließlich  fast  alle  zu  Moliere  übertraten.  Auch 
Croisy  schloß  sich  ihm  an  und  blieb  seitdem  ein  treuer  Gefährte  seines 
neuen  Direktors.')  Moliere  hegte  bereits  den  Plan,  sich  nach  Paris  zu 
begeben,  und  hatte  darum  sein  Eepertoire  aufs  beste  gestaltet.  Gewiß 
waren  Corneilles  berühmteste  Stücke  darin  aufgenommen,  und  wir  dürfen 
annehmen,  daß  die  beiden  Corneille  eifrige  Besucher  seines  Theaters 
waren.  Unter  den  Künstlerinnen  der  Moliore'schen  Gesellschaft  ragte  be- 
sonders Mlle.  du  Parc  durch  Schönheit  und  gewinnendes,  vornehmes  Wesen 
hervor.  Als  echte  Diva  eroberte  sie  die  Herzen  des  Publikums  im  Sturm, 
und  die  Zahl  ihrer  Verehrer  war  unendlich.  Zu  ihnen  gehörten  auch  die 
beiden  Brüder  Pierre  und  Thomas  Corneille.  Der  erstere  richtete  sogar 
einige  galante  Gedichte  an  sie,  unter  anderen  auch  eine  Art  Liebes- 
erklärung, in  der  er  sich  freilich  sehr  bescheiden  ausdrückt: 

Nicht  verlang"  ich  Lieb"  um  Liebe, 
Seh'  ich  meine  grauen  Haare. 
Selbst  die  Besten  gelten  nichts  mehr, 
Kommen  sie  in  böh're  Jahre.-) 


1)  Siehe  Moliere,  ed.  Molaud,  IL  Bd.,  S.  XXIX.  —  F.  Bouquet,  „Moliere 
et  sa  troupe  ä  Reuen",  in  der  „Revue  de  la  Normandie",  1865,  p.  ]43.  —  Croisy 
war  der  erste  Darsteller  des  „Tartuffe". 

2)  Siehe  Corneille,  ed.  Marty-Laveaux,  Bd.  X,  Nr.  XL VII,  sur  le  depart 
de  Mme.  la  Marquise  de  B.  A.  T."  (Die  Schauspielerin  hatte  den  Namen  Mar- 
quise  wegen  ihres  vornehmen  Wesens  erhalten.) 

V.  46:     Non  qu'enfin  mon  amour  pretende  coeur  pour  coeur; 
Je  vois  mes  cheveux  gris:  je  sais  que  les  annees 
Laissent  peu  de  merite  aux  ämes  les  mieux  nees. 
Dafür  sagt  er  ihr  auch  ein  andermal: 

Marquise,  si  mon  visage 

A  quelques  traits  un  peu  vieux, 


441 

Er  kenne  seine  Schwäcbe,  sagt  er  ihr,  er  habe  zu  lange  geliebt, 
um  noch  liebenswert  zu  sein.  Er  habe  versucht,  ihr  fern  zu  bleiben, 
und  sie  habe  es  nicht  einmal  bemerkt.  Wenn  sie  ihm  wenigstens  ein 
böses  Gesicht  gemacht  hätte  —  .,une  heure  de  grimace  ou  froide  ou 
serieuse"  • —  aber  nein,  er  sei  ihr  völlig  gleichgiltig!  Und  doch  sei  seine 
Neigung  nicht  wertlos,  denn  ein  Dichter  könne  besser  lohnen  als  ein 
König,  da  er  ewigen  Ruhm  verleihe.  Am  Schluß  dieser  Liebesklage  aber 
heißt  es  mit  heiterer  Wendung: 

Also  klagte  Freund  Cleandre, 
Und  sein  Liebesleid  schwand  hin  I 
Glücklich  lebt  er  ohne  Dame, 
Sie  auch  glücklich  ohne  ihn. 
Wohl  dem  Mann,  der  nur  im  Liede 
Von  der  Qual  der  Liebe  girrt, 
Der  ein  freies  Herz  bewahret 
Und  im  Vers  nur  feurig  wird.i) 

Es  ist  klar,  Corneille  trug  keine  Leidenschaft  im  Herzen,  und  seine 
Frau  konnte  ruhig  sein.  Der  Dichter  zählte  damals  52  Jahre,  und  wenn 
er  für  die  genannte  Schauspielerin  schwärmte,  so  war  dies  neben  der 
Bewunderung  auch  ein  Gefühl  von  Dankbarkeit  für  die  schöne  Darstel- 
lung der  von  ihm  geschaffenen  Heldinnen.  Kein  Grund  liegt  hier  vor, 
von  einer  wirklichen  späten  Leidenschaft  des  Dichters  zu  reden.  Man  darf 
dabei  nicht  übersehen,  daß,  wenn  Corneille  in  seinen  Tragödien  seine  eigene 
Sprache  schuf,  er  in  Gelegenheitsgedichten  und  galanten  Versen  zumeist 
die  banale  Redeweise  der  Lyriker  seiner  Zeit  gebrauchte.  Schrieb  er  doch 
auch  der  „illustren  Sappho",  Mlle.  de  Scudery,  ein  Madrigal  für  einen 
Kuß,  den  sie  ihm  auf  die  Hand  drückte.  Und  ähnliche  Gedichte  hat 
man  noch  mehr  von  ihm.-) 

Eine  andere  Frage  beschäftigte  ihn  seit  einiger  Zeit.  König  Lud- 
wig XIV.    hatte   durch   eine  Verordnung   vom  30.  Dezember  1656,     die 

Souvenez-vous  Cju'ä  mon  äge 
Vous  ne  vaudrez  guere  mieux. 

i  Corneille,  ed.  Marty-Laveaux,  Bd.  X,  Nr.  LVIH,  S.  165.)  Mlle.  du  Parc  wurde 
-päter  von  Racine  für  das  Hütel  de  Bonrgogne  gewonnen,  wo  sie  die  Andro- 
maciue  spielte. 

1)  Ibid.  V.  95: 

Ainsi  parla  Cleandre,  et  ses  maux  se  passerent, 

Son  feu  s'evanouit,  ses  deplaisirs  cesserent; 

II  vecut  Sans  la  dame,  et  vecut  sans  enniii. 

Comme  la  dame  ailleurs  se  divertit  sans  lui. 

Heureux  en  son  amour,  si  l'ardeur  qui  Tanime 

N'en  con^oit  les  tourments  que  pour  s'en  plaindre  en  rime. 

Et  si  d'un  feu  si  beau  la  Celeste  vigueur 

Peut  enflammer  ses  vers  sans  echautfer  son  coeur. 

')  Manche  Biographen,  so  neuerdings  J.  Levallois  („Corneille  inconnu", 
p.  170  ff.)  sprechen  von  der  Liebe  des  Dichters  in  tragischen  Worten.  Eine 
solche  Episode  wäre  allerdings  interessant  und  gäbe  der  Lebensgeschichte  Cor- 
neilles  etwas  mehr  Farbe;  allein  die  Annahme  einer  solchen  leidenschaftlichen 
Neigmig  scheint  uns  durch  nichts  begründet. 


442 

im  Jahr  1661  und  1664  wiederholt  wurde,  alle  seit  1634  verliehenen 
Adelsdiplome  für  ungiltig  erklärt  und  sich  nur  vorbehalten,  einige  der- 
selben ausnahmsweise  zu  bestätigen.  Infolge  dieser  Maßregel  hatte  sich 
Corneille  wahrscheinlich  schon  im  Jahr  1657  mit  einem  Sonett  an  den 
König  gewendet  und  ihn  um  Anerkennung  seines  Adels  gebeten.  König 
Ludwig  XIII.  habe  ihm  den  Adel  verliehen,  um  ihn  als  Dichter  zu  ehren, 
und  dies  sei  der  einzige  Lohn,  der  ihm  zu  teil  geworden.  Der  Sohn 
möge  das  von  dem  Vater  verliehene  Geschenk  nicht  wieder  zurücknehmen.^) 
Seine  Bitte  wurde  gewährt,  der  Adel  blieb  ihm  erhalten.  Vielleicht  führte 
ihn  diese  Veranlassung  nach  Paris  und  zu  Foucquet.  dem  Generalinten- 
danten der  Finanzen.  Nikolaus  Foucquet  war  zu  diesem  Amt  im  Jahr 
1652  gelangt.  Die  Finanzverhältnisse  des  Landes  und  die  verwickelte 
Weise  der  Verwaltung  gaben  damals  den  Finanzministern  bei  weitem 
mehr  Macht  und  Einfluß,  als  sie  in  den  modernen  Staaten  besitzen. 
Foucquet  hatte  ein  riesiges  Vermögen  erworben  und  rechnete  nach  Ma- 
zarins  Tod  fest  darauf,  die  Stelle  eines  leitenden  Ministers  zu  erhalten. 
Allein  Ludwig  XIV.  wollte  sich  keinen  Vormund  mehr  gefallen  lassen,  und 
selbst  Foucquets  Macht  mißfiel  ihm.  Der  ehrgeizige  Minister,  dessen  Ver- 
waltung allerdings  vielfache  Mißbräuche  geduldet,  ja  begünstigt  hatte, 
stürzte  im  Augenblick,  da  er  sein  Ziel  erreicht  glaubte  (1661).  und  be- 
schloß sein  Leben  in  trauriger  Kerkerhaft.  Genaueres  über  Foucquet  wird 
in  den  Abschnitten  über  Moliere  zu  sagen  sein.  Hier  genügt  es,  auf  die 
Freigebigkeit  des  Mannes  hinzuweisen,  der  die  Künste  und  die  Poesie 
liebte,  großen  Aufwand  machte  und  sich  als  Mäcen  gab.  Wie  er  für 
Lafontaine  sorgte,  so  erwies  er  sich  auch  als  Gönner  Corneilles,  als  dieser 
im  Jahr  1657  nach  Paris  kam  und  ihm  vorgestellt  wurde.  Es  scheint. 
daß  Foucquet  den  Dichter  mit  einem  reichen  Geldgeschenk  bedachte, 
ihn    zugleich   aber  auch    drängte,    wieder  für  die  Bühne   zu  arbeiten.-) 


1)  Corneille,  ed.  Martj-Laveaux,  Bd.  X,  Nr.  XLIV,  S.  135. 

La  noblesse,  grand  roi,  manquoit  ä  ma  naissance; 
Ton  pere  en  a  daigne  gratifier  mes  vers, 
Et  mes  vers  anoblis  ont  couru  l'miivers 
Avecque  plus  de  pompe  et  de  magniflcence. 

Ce  fut  lä,  de  sou  temps,  toute  leur  recompense 
Dont  meme  11  honora  tant  de  sujets  divers, 
Que  sur  ce  long  abus  tes  yeux  enfin  ouverts 
De  ce  melange  impur  ont  su  purger  la  France. 

Par  cet  illustre  soin  mes  vers  deshonores 
Perdront  ce  noble  orgueil  dont  tu  les  vois  pares, 
Si  dans  mon  prämier  rang  ton  ordre  me  ravale. 

Grand  roi,  ne  souffre  pas  qu'il  ait  tout  son  effet. 
Et  qu'aujourd'hui  ta  maiu,  pour  moi  si  liberale, 
Reprenne  le  seul  don  que  ton  pere  m'a  fait. 

-)  In  der  poetischen  Widmung  au  Foucquet,  mit  welcher  Corneille  seinen 
.lOedipe"  begleitete,  ist  es  klar  ausgesprochen,  daß  Foucquet  ihm  Geld  zuwies. 
Leider  sind  die  Verse  entsetzlich.    „Vers  presentes  ä  Monseigneur  le  procureui- 


443 


Corneille  mochte  schon  längst  eine  solche  äußere  Nötigung-  wünschen,  wenig- 
stens zeigt  der  Eifer,  mit  dem  er  sich  aufs  neue  der  dramatischen  Dichtung 
zuwandte,  wie  gern  er  der  Aufforderung  nachkam.  Er  bat  Foucquet,  ihm 
einen  Stoff  zu  bezeichnen,  den  er  dramatisch  behandelt  wünschte,  und 
aus  drei  Aufgaben,  die  ihm  der  Minister  zur  Auswahl  stellte,  wählte  er 
die  Geschichte  des  Ödipus.  Mit  jugendlichem  Feuer  ging  er  an  die  Arbeit 
und  schon  nach  zwei  Monaten  konnte  er  sein  Trauerspiel  vorlegen.  Es 
wurde  im  Januar  1651*  zum  erstenmal  aufgeführt  und  erntete  großen 
Beifall.  König  Ludwig  lohnte  den  Dichter  nun  ebenfalls  mit  einem  reichen 
Geschenk,  und  der  Lorbeer  der  früheren  Jahre  schien  sich  verjüngt  und 
frisch  um  seine  Stirn  zu  winden.  Voll  Selbstgefühl  und  jugendlicher  Be- 
geisterung rief  er  in  der  Widmung  an  Foucquet  das  stolze  Wort : 

Nocli  lebt  in  mir  Rodrigos  Feuerseele, 
Die  Kraft,  die  den  Horaz  zum  Kampf  gestählt, 
Noch  ist  die  Hand  nicht  schwach,  die  Cinnas  Bild 
Und  des  Pomppjus  Größe  hat  gezeichnet.^) 

Und  doch  war  dieses  Gefühl  der  Kraft,  das  ihn  belebte,  trügerisch. 
Wol  sah  sich  Corneille  bei  seiner  Rückkehr  mit  allgemeinem  Jubel  be- 
grüßt, wol  feierte  man  in  ihm  den  unerreichten  Dichter,  wol  bewunderte 
man  auch  die  Schauspiele,  die  er  in  den  nächsten  Jahren  in  rascher 
Folge  bot,  aber  trotzdem  ist  es  klar,  daß  diese  zweite  Dichterjugend 
künstlich  war,  daß  die  Bedeutung,  welche  den  früheren  Dramen  Cor- 
neilles  innegewohnt  hatte,  sich  in  den  Werken  der  späteren  Zeit  nicht 
mehr  findet.  Corneille  hat  das  selbst  bald  schmerzlich  gefühlt.  So  klagt 
er  in  einem  Gedicht  an  Ludwig  XIV.,  daß  seine  Kraft  erloschen,  daß 
er  müde  sei.  Der  alternde  Dichter  sehe  sich  vernachlässigt  und  man 
finde  seine  Verse  frostig,  zumal  die  Mode  der  Zeit  jetzt  nur  Zärtlich- 
keit atmende  Stücke  verlange.  Nur  wenn  sich  ihm  die  Jlöglichkeit  biete, 
seinen  König  unter  dem  B^ld  eines  Helden  auf  der  Bühne  zu  verherr- 
lichen, dann  flamme  in  ihm  das  alte  Feuer  wieder  auf.-) 

general  Foucquet,  surintendant  des  finances."  Nachdem  sich  Corneille  beklagt 
hat,  daß  er  für  seine  Arbeiten  nur  leere  Lobesworte  geerntet  habe,  sagt  er 
V.  17—20,  zu  sich  selbst  gewendet: 

Mais  aujourd'hui  qu'on  voit  un  heros  maguamine 

Temoigner  pour  ton  nom  une  tonte  autre  estime, 

Et  repandre  l'eclat  de  sa  propre  bonte 

Sur  l'endurcissement  de  ton  oisivete. 

1)  Vers  ä  Foucquet,  v.  30  ff.: 

Depuis  que  je  t'ai  vu,  je  ne  vois  plus  nies  rides: 
Et  plein  d'une  plus  claire  et  plus  noble  vision, 
Je  prends  mes  cheveux  gris  pour  cette  Illusion. 
Je  sens  le  meme  feu,  je  sens  la  meme  audace, 
Qui  fit  plaindre  le  Cid,  qui  fit  combattre  Horace, 
Et  je  me  trouve  encor  la  main  qui  crayonna 
L'ame  du  grand  Pompee  et  l'esprit  de  Cinna. 

-)  Corneille,  ed.  Marty-Laveaux,  Bd.  X,  Nr.  LXVIII,  S.  186,  v.  27: 
Que  ne  peuvent,  grand  Roi,  tes  hautes  destinees 
Me  rendre  la  vigueur  de  mes  jeunes  annees! 


444 


Überblicken  wir  zunächst  die  Reihe  seiner  letzten  dramatischen 
Arbeiten.  Sie  wird  durch  „Oedipe'-'  (1659)  eröffnet;  in  dem  nächsten 
Jahr  kam  „La  Toison  d'or"  („Das  goldene  Yließ").  1662  folgte  „Ser- 
torius"  und  1663  „Sophonisbe".  Ein  Jahr  später  (1664)  wurde  „Othon" 
und  1666  „Agesilas"  aufgeführt.  1667  gab  Corneille  den  „Attila", 
1670  im  Wettstreit  mit  Racine  „Tite  et  Berenice",  1671  gemeinsam 
mit  Molitn-e  und  Quinault  die  „Psyche",  1672  „Pulcherie"  und  endlich 
1674  „Surena",  sein  letztes  Stück. 

Eingehend  jedes  dieser  Werke  zu  besprechen,  ist  nicht  nötig.  Sie 
geben  uns  keine  weitere  Aufklärung  über  den  Charakter  des  Dichters 
und  haben  auf  die  Entwicklung  der  französischen  Litteratur  in  keinerlei 
Weise  eingewirkt.  Einzelne  Verehrer  Corneilles  versuchen  es  zwar  immer 
wieder  nachzuweisen,  daß  die  letzten  Arbeiten  des  Dichters  ungerecht 
behandelt  werden,  und  zeigen  dabei  auf  den  äußeren  Erfolg  hin,  den 
sie  zu  ihrer  Zeit  errungen  haben. ^)  Sie  erzählen  uns  der  Wahrheit  gemäß, 
daß  es  für  das  Tlieater  im  Marais  oft  eine  Lebensfrage  war,  ein  neues 
Stück  von  Corneille  ankündigen  zu  können,  und  daß  auch  das  Hotel  de 
Bourgogne  dem  Dichter  bereitwillig  seine  Pforten  geöffnet  habe.  Wir 
wissen,  daß  Meliere  mehrere  Stücke  Corneilles  zur  Aufführung  brachte 
und  gute  Geschäfte  mit  ihnen  machte.  So  erzielte  er  z.  B.  mit  „Titus 
und  Berenice"  in  21  Vorstellungen  eine  Einnahme  von  über  15.000  Livres. 
Allein  alle  diese  Nachrichten  beweisen  nur,  daß  Corneilles  Stücke,  auch 
die  der  letzten  Zeit,  Aufmerksamkeit  erregten.  Wenn  ein  Mann  wie  Cor- 
neille mit  einem  neuen  Werk  hervortritt,  so  kann  dies  nicht  unbeachtet 
bleiben.  Wer  sich  für  die  Bühne  und  die  Litteratur  interessiert,  wird 
womöglich  seiner  Aufführung  beiwohnen ;  daher  die  Theater  jeder- 
zeit gern  ein  neues  Werk  aus  der  Feder  eines  bekannten  Dichters  an- 
nehmen, da  sie  einer  Reihe  von  Vorstellungen  sicher  sind ;  damit  ist 
aber  für  dessen  Wert  noch  nichts  bewiesen.  Die  Geschichte  des  Thea- 
ters zeigt  im  Gegenteil  zur  Genüge,  daß  ein  Schauspiel  anfangs  recht 
zugkräftig  und  doch  sehr  bald  veraltet  und  vergessen  sein  kann. 

Die  letzten  elf  Dramen  Corneilles  behandeln  sehr  verschiedene  Stoffe; 
sie  zeigen  Römer  und  Griechen,  Parther,  Hispanier  und  Hunnen,  sie 
führen  in  die  Götterwelt  des  Olymp  und  in  die  finstere  Sagenwelt  des 
fernen  Kolchis.  Sie  sind  an  Wert  sehr  verschieden,  doch  sind  die  meisten 


Quainsi  qu'au  temps  du  Cid  je  ferois  des  jalousl 

Mais  j"ai  beau  rappeler  un  souvenir  si  doux, 

Ma  veine  qui  charmoit  alors  tant  de  balustres, 

K'est  plus  qu'un  vieux  torrent  qu'ont  tari  douze  lustres. 

Au  beut  d'une  carrlere  et  si  longue  et  si  rüde, 
On  a  trop  peu  d'haleine  et  trop  de  lassitude: 
Ä  force  de  vieillir  un  auteur  perd  son  rang; 
On  croit  ses  vers  glaces  par  la  froideur  du  sang; 
Leur  durete  rebute,  et  leur  poids  incommode. 
Et  la  seule  tendresse  est  toujours  k  la  mode. 

1)  Vergl.  u.  a.  „Corneille  inconnu"  par  Jules  Levallois,  Paris  1876,  Didier 
Cie.,  chap.  II  (Le?  succes  persistant),  S.  25. 


445 


ohne  dramatisches  Leben.  Jedes  Stück  hat  einzelne  kraftvolle  Scenen, 
im  ganzen  aber  scheint  Corneille  die  Aufgabe  des  Dramas  mehr  und 
mehr  verkannt  zu  haben.  Er  stellte  sich  allerdings  in  jedem  seiner  Stücke 
eine  große  Aufgabe.  In  „Sertorius"  sah  er  den  römischen  Volksmann 
im  Kampf  gegen  die  Aristokratie.  In  „Othon"'  entrollte  er  das  Gemälde 
der  Intriguen  und  kleinlichen  Vorgänge  am  Hof  der  römischen  Cäsaren; 
„Titus  und  Berenice"  schildern  den  Kampf  der  Liebe  mit  der  Pflicht, 
freilich  in  anderer  Weise,  als  einst  der  „Cid"  es  gethan.  Aber  die  Auf- 
gaben, die  sich  Corneille  in  diesen  und  anderen  Stücken  stellte,  fanden 
nur  eine  schwache  Lösung.  Nur  selten  noch  gelang  ihm  eine  lebens- 
wahre Zeichnung.  In  endlosen  Reden  und  Gegenreden  behandeln  seine 
Personen  die  Frage,  die  sie  beschäftigt,  und  was  das  Schlimmste  ist, 
diese  Frage  ist  oft  nebensächlich  und  verdient  solche  Betonung  gar  nicht. 
Nehmen  wir  z.  B.  „Sertorius",  ohne  Zweifel  die  beste  unter  den  spä- 
teren Arbeiten  Corneilles.  Es  galt  darin,  den  Unabhängigkeitskampf  der 
Lusitanier  gegen  Rom  zu  zeigen  und  die  edle  Einfachheit  des  Sertorius 
gegenüber  der  Verderbtheit  der  römischen  Machthaber  hervorzuheben. 
Statt  nun  in  kräftigen  Zügen  das  Bild  dieses  gewaltigen  Kampfes  und 
des  endlichen  Zusammenbruchs  der  lusitanischen  Freiheit  zu  schildern, 
legt  Corneille  das  Hauptgewicht  auf  eine  nebensächliche,  von  ihm  erfun- 
dene Verwicklang.  Viriate,  die  geschichtlich  nicht  bekannte  Königin  der 
Lusitanier,  fürchtet  nach  dem  Sieg  des  Sertorius  über  die  Römer  ihren 
Thron  zu  verlieren.  Sie  sieht  voraus,  daß  Sertorius  gegen  die  Stadt  Rom 
selbst  ziehen  und  sie  ihrem  Schicksal  überlassen  wird.  Dies  zu  verhin- 
dern, bietet  sie  dem  schon  ergrauten  Feldherrn  ihre  Hand  an.  Fast  zu 
derselben  Zeit  erscheint  Aristia,  die  Gemahlin  des  Pompejus,  die  dieser 
auf  Befehl  Sullas  hat  verstoßen  müssen,  im  Lager  des  Sertorius.  Auch 
sie  trägt  sich  dem  römischen  Feldherrn  an.  Wenn  er  sie  heiraten  und 
somit  ihre  Ehre  wieder  herstellen  will,  verspricht  sie  ihm  die  Unter- 
stützung einer  großen  Zahl  mächtiger  Freunde  in  Rom,  die  nur  auf  ihren 
Wink  warten ,  um  in  das  Lager  der  Lusitanier  zu  eilen.  Natürlich  ist 
auch  diese  Kombination  eine  Ertlndung  Corneilles,  der,  ohne  es  zu  wollen, 
die  Römer  gar  armselig  hinstellt.  Die  einflußreichen  Freunde  Aristias 
fragen  bei  ihren  politischen  Entschlüssen  nur  nach  der  Laune  einer  Frau ! 
Sertorius  sieht  sich  nun  in  die  unangenehme  Lage  versetzt,  zwischen 
den  beiden  Frauen  zu  wählen.  Beide  erklären  offen,  daß  sie  den  alten 
Herrn  nicht  lieben,  sondern  sich  ihm  nur  aus  anderen  Gründen  anbieten, 
die  eine  aus  Politik,  die  andere  aus  Rachsucht.  Sertorius  selbst  erscheint 
als  Schwächling,  der  zwischen  beiden  Frauen  hin-  und  herschwankt,  und 
dadurch  in  das  Licht  eines  doppelzüngigen  Mannes  gerät.  Ihm  gegen- 
über sehen  wir  Pompejus  als  Feldherrn  des  römischen  Heers.  In  einer 
Unterredung,  die  er  mit  seiner  verstoßenen  Frau  hat,  erklärt  er  ihr,  daß 
er  sie  nach  wie  vor  liebe.  Zwar  habe  er  auf  Sullas  Befehl  eine  andere 
heiraten  müssen,  aber  Aristia  möge  etwas  Geduld  haben.  Sobald  er  den 
Tyrannen  nicht  mehr  fürchten  müsse,  werde  er  seine  jetzige  Gemahlin 
verstoßen  und  sie,  Aristia,  wieder  zu  sich  nehmen!  Das  sind  dieselben 
Römer,  die  Corneille  früher  so  stolz  und  edelmütig  zeichnete.  Von  Staats- 


446 

männiscbem  Sinn  und  Gebaren  findet  man  weder  bei  Sertorius  noch  bei 
Pompejus  eine  Spur;  alles  ist  auf  persönliche  Gründe  zurückzuführen. 
Eine  berühmte  Scene  ist  die  Unterredung,  welche  die  beiden  Männer  mit- 
einander haben  (III,  1),  in  welcher  sie  abwechselnd  mit  Schärfe  und 
Ironie,  mit  Beredsamkeit  und  Wärme  einander  zu  gewinnen  suchen,  aber 
in  welcher  sie  nichts  von  politischer  Einsicht  und  wirklich  großen  Zielen 
verraten.  Sertorius,  der  von  den  Lusitaniern  an  die  Spitze  ihres  Staats 
gestellt  worden  ist,  denkt  nicht  daran,  die  Freiheit  des  ihm  vertrauenden 
Volkes  zu  sichern,  sein  Blick  ist  nur  auf  Rom  gerichtet.  Und  die  Königin 
Viriate.  die  im  ganzen  Stück  so  viel  von  der  Unabhängigkeit  ihres  Volkes 
spricht  und  in  Spanien  ein  Gegengewicht  gegen  die  römische  Macht  er- 
richten will,  setzt  schließlich  die  Römer  zu  Erben  ihres  Throns  und 
ihrer  Herrschaft  ein!  So  fällt  denn  auch  Sertorius  nicht  für  eine  Idee, 
nicht  durch  den  Stahl  eines  politischen  Gegners,  sondern  er  wird  von 
seinem  Unterfeldherrn  Perpeuna  aus  Eifersucht  ermordet.  Perpeuna  ist 
eben  auch  ein  Bewerber  um  der  Königin  Hand.  Zudem  ist  der  Zuschauer, 
wie  Voltaire  mit  Recht  tadelt,  auf  den  Tod  des  Sertorius  nicht  vor- 
bereitet; es  fehlt  daher  die  Spannung,  die  Steigerung  vor  der  Kata- 
strophe, und  die  Nachricht  von  dem  Tod  des  Sertorius  geht  fast  ohne 
Eindruck  vorüber.  „Sertorius"  ist  nichtsdestoweniger  an  Schönheiten 
reich,  aber  sie  liegen  alle  in  den  Einzelheiten  der  Ausführung.  Man 
wird  durch  die  Sprache  dieser  Tragödie  oft  an  die  frühere  Kraft  des 
Dichters  erinnert.  Die  hohlen  Redensarten,  die  den  „Oedipe"  verunstalten, 
sind  hier  verschwunden,  die  Rede  ist  markig,  bestimmt  und  geht  auf 
ihr  Ziel  los.  Ein  rascherer  Pulsschlag  belebt  die  Dichtung,  stellenweise 
findet  sich  die  alte  Wärme,  der  Schwung  der  besten  Zeit  wieder.  So, 
wenn  Aristia  in  Pompejus  noch  die  frühere  Liebe  zu  erkennen  glaubt, 
und,  ihrer  Bewegung  nicht  mehr  Meisterin,  in  leidenschaftlicher  Freude 
jeden  andern  Gedanken  von  sich  wegweist: 

Hinweg  mit  dir,  gehäss'ge  Eifersucht, 
Du  schwarzes  Kind  des  Zorns,  du  Feind  des  Ruhms, 
Nicht  hör'  ich  mehr  auf  dich,  armsel'ger  Haß. 
Vei-gessen  ist  es.  wie  man  mich  beschimpft!  — 
Wer  mag  mir  noch  von  neuer  Ehe  reden! 
Ich  bin  Pompejus'  Gattin,  und  mein  Herz 
Gehört  nur  ihm,  da  er  mich  wieder  liebt. 
Nichts  von  Sertorius!  Aber,  Herr,  gebt  Autwort, 
Was  sagt  dies  Herz,  das  Ihr  mir  wieder  schenkt? 
Nichts  von  Sertorius!  —  Ach,  was  ich  auch  sage, 
Ihr  ruft  mir  nicht  in  gleicher  Weise  zu: 
Nichts  von  Emilia!  ^) 


1)  Sertorius,  III,  2,  v.  20  ff.: 

Sortez  de  mou  esprit,  ressentimeuts  jaloux, 

Noirs  enfants  du  depit,  ennemis  de  ma  gloire, 

Tristes  ressentimeuts,  je  ue  veux  plus  vous  croire. 

Quoi  qu'ou  m'ait  fait  d'outrage,  il  ne  m'en  souvient  plus. 

Plus  de  nouvel  hymen,  plus  de  Sertorius; 

Je  suis  au  grand  Pompee;  et  puisqu'il  m'aime  encore, 

Puisqu'il  me  rend  son  coeur,  de  uouveau  je  l'adore: 


447 

Ganz  im  Gegensatz  zu  Corneilles  anderen  Dramen,  die  meistens 
nach  kraftvollem  Anfang  und  spannender  Steigerung  gegen  das  Ende 
zu  schwächer  werden,  behauptet  sich  „Sertorius"  so  ziemlich  auf  der 
Höhe  und  ist  bemerkenswert  durch  den  Ton  leidenschaftlicher  Ironie, 
den  er  am  Schluß  noch  anschlägt. 

Alle  diese  Vorzüge  vermögen  indessen  nicht,  den  Gesamteindruck 
der  Tragödie  zu  erhöhen.  Und  wie  „Sertorius"  in  seiner  Anlage  mangel- 
haft ist,  so  sind  es  auch  die  anderen  Werke  dieser  Epoche.  In  seinem 
„Othon"  zeichnet  Corneille  einen  Höfling,  der  ohne  sein  Verdienst,  ohne 
sein  Bemühen  von  aufrührerischen  Soldaten  die  Krone  erhält,  und  der 
in  einem  Augenblick  großer  Entscheidung  nur  an  eine  Herzenssache 
denkt,  diese  selbst  aber  in  kleinlicher  Weise  behandelt.  Am  Schluß  kommt 
er  triumphierend  als  Kaiser.  Er  hört,  daß  der  Vater  seiner  geliebten 
Plautina  durch  Mörderhand  gefallen  ist,  aber  er  findet  als  Trostwort  nur 
ein  fades  Kompliment.  Er  selbst,  sagt  er  zu  Plautina,  sei  mehr  tot  als 
ihr  Vater.  Und  wenn  sie  ihm  in  ihrer  Güte  nicht  das  Leben  wieder- 
gebe, so  werde  er  vor  ihren  Augen  sterben,  um  ihr  mit  seinen  letzten 
Atemzügen  noch  zu  huldigen.^)  Zu  dieser  Schwäche  der  Auffassung  ge- 
sellt sich  noch  ein  anderer  persönlicher  Vorwurf,  den  manche  Kritiker 
dem  Dichter  machten.  Er  habe  in  seinem  „Othon"  dem  König  ge- 
schmeichelt und  sein  Verhältnis  zu  MUe.  de  la  Valliere  poetisch  verherr- 
licht. Diese  Anklage  zu  begründen,  verwies  man  vorzugsweise  auf  eine 
Scene  des  ersten  Akts,  in  welcher  Plautina  dem  zum  Gemahl  der  Prin- 
zessin Kamilla  bestimmten  Othon  ihre  Freundschaft  anbietet.-) 

Man  muß  schon  den  Wunsch  haben,  in  Corneille  einen  Schmeichler 
zu  finden,  wenn  man  in  dieser  Scene  eine  Ermutigung  Ludwigs  zum 
Ehebruch  sehen  kann.  Viel  eher  mochte  Corneille  bei  manchem  politi- 
schen Wort  dieses  Stücks  an  seinen  König  gedacht  haben. ^) 

Der  Herzog  von  Grammont  nannte  ..Othon"  das  Brevier  der  Kö- 
nige, machte  aber  damit  seinem  Fürsten  ein  schlechtes  Kompliment. 

In  „Agesilas"'  schaltete  Corneille  achtzeilige  Verse  zwischen  den 
Alexandrinern  ein,  um  sich  von  der  Tyrannei  dieses  Versmaßes,  das 
bereits   als  allein  seligmachend  in  der  Tragödie  galt,    zu  befreien.    Sein 


Plus  de  Sertorius!  Mais,  Seigneur,  repondez  ; 
Faites  parier  ce  coeur  qu'enfin  vous  me  rendez. 
Plus  de  Sertorius.  Helas!  quoi  que  je  die, 
Vous  ne  me  dites  poiut,  Seigneur:  „Plus  d'Emilie!" 

1)  Othon,  V,  7,  V.  6  ff. : 

—  —  Helas!  je  suis  plus  mort  que  lui. 

Et  si  votre  beute  ne  me  rend  une  vie 

Qu'eu  lui  per(,'ant  le  coeur  uu  traitre  m'a  ravie, 

Je  ne  reviens  ici  qu'en  malheureiix  amant, 

Faire  hommage  ä  vos  yeux  de  mou  dernier  moraent. 

'^)  Othon,  I,  4,  V.  19. 

3)  Othon,  II,  4,  47.  Dort  heißt  es  von  Othon: 

Du  timon  qu'il  embrasse,  11  se  fait  le  seul  guide. 
Man  vergl.  I.  1,  21. 


448 


Versuch  war  indessen  zu  ängstlich  und  er  erreichte  damit  nichts  weiter, 
als  daß  er  dem  Ganzen  einen  melodramatischen  Charakter  gab.  Wir 
sehen  in  .^Agesilas"  galante  spartanische  Krieger  und  Spartanerinnen, 
die  nur  mit  ihrem  Liebeskummer  beschäftigt  sind.  Wenn  wir  uns  die 
Nachkommen  des  Lykurg  und  Leonidas  gewöhnlich  anders  vorstellen,  so 
könnten  wir  doch  einmal  von  der  geschichtlichen  Wahrheit  absehen, 
wenn  nur  die  Liebesgeschichten,  die  uns  in  „Agesilas"  vorgeführt  werden, 
an  sich  ein  menschliches  Interesse  erweckten.  Allein  hier  liegt  der  Haupt- 
fehler. Es  beleidigt  uns,  drei  Liebespaare  zu  sehen,  die  keinerlei  Teil- 
nahme erwecken  und  in  dem  Bewußtsein,  nicht  zu  einander  zu  passen, 
immer  neue  Kombinationen .  neue  Verlöbnisse  untereinander  versuchen. 
So  werden  die  einzelnen  Figuren  wie  auf  einem  Schachbrett  fortwährend 
verschoben,  bis  sich  endlich  die  rechten  Paare  zusammenfinden. 

Es  folgte  dann  „Attila".  Unter  dem  Xamen  des  Frankenkönigs 
Meroväus  und  seines  Sohns  soll  Corneille  hier  wieder  König  Ludwig  und 
den  Dauphin  verherrlicht  haben.  Es  ist  möglich,  daß  er  seiner  Dichtung 
durch  den  Hinweis  auf  die  glänzende  Zukunft  des  Frankenreichs  einen 
besonderen  Glanz  verleihen  wollte,  doch  bleibt  diese  Frage  ohne  Bedeu- 
tung und  jedenfalls  konnte  seine  indirekte  Huldigung  das  Drama  nicht 
retten.  Attila.  der  Held  des  Stücks,  wird  von  Corneille  als  grausamer 
und  mißtrauischer  Barbar  geschildert.  Daneben  aber  hätte  er  ihm  eine 
gewisse  heroische  Größe  lassen  sollen.  Attila  mußte  zwar  als  „Gottes- 
geißel" auftreten,  aber  zugleich  als  ein  Mann  erscheinen,  der,  mit  scharfem 
Blick  für  die  Schwäche  der  Nachbarstaaten  begabt,  sich  ein  großes  Ziel 
vorgesteckt  hat  und  es  unbeirrt  und  mit  allen  Mitteln  verfolgt.  Was 
aber  soll  man  zu  einem  Attila  sagen,  der  seine  Wut  manchmal  vergißt, 
um  die  Sprache  der  Galanterie  zu  reden,  der  von  seinem  sehnsuchts- 
vollen Herzen  spricht  und  in  gewundenen  Worten  behauptet,  daß  seine 
Vernunft  dem  Blick  eines  schönen  Auges  nicht  widerstehen  könne  ?V) 

Ähnliches  gilt  auch  von  den  übrigen  Stücken. 

Die  Herzogin  von  Orleans,  Henriette  von  England,^)  wünschte  die 
Liebe  des  Kaisers  Titus  zur  Königin  Berenice  dramatisch  behandelt  zu 
sehen  und  beauftragte  damit  gleichzeitig  Corneille  und  seinen  jungen 
Rivalen  Racine.    Jeder  schrieb  sein  Schauspiel,  ohne  von  der  Arbeit  des 


1)  Attila,  III,  1,  V.  45: 

Je  sens  combattre  encor  dans  ee  coeur  qui  soupire 
Las  droits  de  la  beaute  contre  ceux  de  Terapire. 
L'effort  de  la  raison  qui  soutient  mon  orgueil 
Ne  peut  non  plus  que  hü  soutenir  un  coup  d'oeil; 
Et  quand  de  tout  moi-meme  eile  m'a  rendu  le  maitre, 
Pour  me  rendre  ä  mes  fers  eile  n'a  qu'ä  paroitre. 

-)  Henriette  von  England,  Tochter  König  Karls  I.  und  der  Königin  Hen- 
riette Marie  von  Frankreich,  war  durch  ihre  Mutter  eine  Enkelin  Heinrichs  IV. 
Geboren  1644,  wurde  sie  1661  mit  Philipp  v.  Orleans,  dem  Bruder  Ludwigs  XIV., 
vermählt  und  starb  im  Jahr  1670,  noch  bevor  die  beiden  von  ihr  bestellten 
Stücke  zur  Autführung  kamen.  Bossuet  hielt  ihr  eine  seiner  berühmtesten  Grab- 
reden. 


449 

andern  zn  wissen,  bis  dann  die  beiden  Dramen  gleichzeitig  und  zur  all- 
gemeinen Überraschung  aufgeführt  wurden.  Während  Corneilles  Stück 
bereits  von  der  Moliere'schen  Truppe  einstudiert  wurde,  kündigte  plötz- 
lich das  Hotel  de  Bourgogne  eine  „Berenice"  von  Eacine  an.  Die  letz- 
tere Vorstellung  fand  am  21.  November  statt  und  acht  Tage  später,  am 
28.,  war  die  erste  Aufführung  von  Corneilles  „Titus  et  Berenice".  Auf 
dem  ihm  ungünstigen  Gebiet  der  Liebestragödie  unterlag  Corneille.  Doch 
der  ganze  Wettstreit  gehört  mehr  in  die  Geschichte  Racines,  und  so 
werden  wir  ihn  seinerzeit  ausführlicher  besprechen. 

Corneille  behandelte  diese  an  sich  schon  undramatische  Liebes- 
geschichte noch  besonders  trocken.  Als  sei  das  menschliche  Herz  eine 
Ware,  so  wird  es  in  seinem  Stück  behandelt.  Domitian,  des  Titus  Bruder, 
treibt  einen  wahren  Schacher  mit  seiner  Liebe  und  gilt  doch  als  ein 
echter,  braver  Liebhaber.  Titus  aber  denkt  eine  Zeit  lang  daran,  sich 
mit  Domitia,  der  Tochter  des  alten  Kaisergeschleclits,  zu  vermählen, 
weil  er  sie  fürchtet! 

Weder  das  Schauspiel  von  Pulcherie ,  der  Herrscherin  von  Kon- 
stantinopel, noch  die  Tragödie  von  dem  parthischen  Helden  Surena  sind 
anziehend  genug,  um  sie  einer  eingehenden  Analyse  zu  unterziehen.  Es 
ist  ein  hartes  Wort,  aber  es  muß  doch  gesagt  werden.  Die  letzten  Stücke 
Corneilles  sind  mehr  und  mehr  nach  der  Schablone  gearbeitet;  die  Helden 
sehen  sich  alle  einander  ähnlich,  sie  reden  dieselbe  Sprache,  hegen  die- 
selben Anschauungen  und  Gefühle,  und  sie  alle,  ob  sie  nun  Otho,  Titus 
oder  Surena  heißen,  ermangeln  der  Größe. 

Ist  es  deui  Dichter  doch  in  seiner  „Sophonisbe"  gelungen,  in 
manchen  Punkten  hinter  Mairets  Stück  zurückzubleiben,  das  über  dreißig 
Jahre  zuvor  die  Epoche  der  regelmäßigen  Tragödie  eröffnet  hatte.  Mairet 
ließ  Sophonisbes  Gemahl,  den  König  Siphax,  in  der  Schlacht  fallen,  be- 
vor er  die  Königin  als  Gattin  Massinissas  zeigte.  Bei  Corneille  vermählt 
sie  sich  mit  dem  numidischen  König,  obwol  Siphax  noch  am  Leben  ist. 
Das  wirkt  geradezu  abstoßend  auf  unser  Gefühl.  Die  Scene,  in  welcher 
Siphax  mit  Ketten  belastet  vor  Sophonisbe  erscheint,  von  ihr  mit  Vor- 
würfen überhäuft  und  mit  Verachtung  behandelt  wird,  ist  widerlich, 
zumal  Sophonisbe  an  anderen  Stellen  die  ausgespitzten  Lehren  des 
galanten  Lebens  vorträgt  (t.  2,  v.  96  ff.).  Daß  die  Sprache  des  Cor- 
neille'schen  Stücks  diejenige  Mairets  in  jeder  Hinsicht  übertrifft,  ist 
selbstverständlich. 

Aber  auch  in  dieser  Hinsicht  ist  ein  Rückschritt  Corneilles  wahr- 
zunehmen. Seine  Sprache  war  niemals  ganz  korrekt  gewesen,  und  die 
Verhältnisse  erklären  dies  zur  Genüge.  Die  Kraft  und  der  Schwung  des 
Aufdrucks,  die  Hoheit  des  Gedankens  lassen  in  den  früheren  Werken 
jede  Unregelmäßigkeit  leicht  übersehen.  In  den  meisten  Stücken  aus  der 
letzten  Epoche  tritt  aber  der  Mangel  an  Klarheit  und  Korrektheit  umso 
schärfer  hervor,  je  ärmer  die  Gedankenwelt  des  Dichters  wird.  Das  mehr- 
jährige zurückgezogene  Leben  in  Ronen  war  nicht  ohne  störenden  Ein- 
fluß auf  ihn  geblieben.  Nicht  minder  deutlich  zeigt  sich  in  seiner  Sprache 
die  Einwirkung  der  preciösen  Kreise,    die    in  übertriebener  Weise  nach 

Lotheißen,  (iescli.  d.  franz.  Litteratur.  ou 


450 


schöngeistigem  ätlierischen  "Wesen  haschten.  Das  tritt  schon  in  seinem 
„Ödipus"  deutlich  zu  Tage,  der  eine  Fundgrube  für  preciöse  Redens- 
arten ist  und  wo  die  Geziertheit  des  Ausdrucks  mit  der  Dunkelheit  wett- 
eifert.^) In  „Titus  und  Berenice"  findet  sich  eine  Stelle,  die  wol  pomp- 
haft klingt,  aber  durchaus  sinnlos  ist.-) 

Die  Schuld  dieser  betrübenden  Erscheinung  liegt  nicht  in  Corneille 
allein.  Wir  haben  schon  darauf  hingewiesen,  daß  die  Verkettung  der 
Umstände,  die  rasche  Wandlung  der  politischen  Verhältnisse  und  die 
schnelle  Entwicklung  der  Sprache  dera  alternden  Dichter  die  größten 
Schwierigkeiten  bereiten  mußten. 

Am  besten.  Corneille  hätte  dem  jungen  Geschlecht  die  fernere  dra- 
matische Arbeit  überlassen.  Allein  seine  äußere  Lage  drängte  ihn  zu 
weiteren  Kompositionen.  Und  da  er  fühlte,  daß  das  Publikum  anders  ge- 
artet war  und  andere  Ansprüche  erhob,  so  that  er  seinem  Wesen  Ge- 
walt an,  um  dem  geänderten  Geschmack  zu  entsprechen.  Daher  sein  ver- 


1)  So  sagt  (I,  1,  V.  5j  Theseus,  der  in  Theben  weilt  und  sich  nun  um 
Dirce,  die  Tochter  des  Lajus,  bewirbt: 

Quelque  ravage  aftreux  qu'etale  ici  la  peste, 
L'absence  aux  vrais  amants  est  encor  plus  funeste. 

Acte  IV,  1,  V.  3  ff.  sagt  Dirce,  als  Theseus,  von  dem  Orakel  getäuscht, 
ihr  Bruder  zu  sein  glaubt  und  statt  ihrer  sterben  will: 

Et  ce  jaloux  honneur  qui  ne  consentoit  pas 

Qu'un  frere  me  ravit  un  glorieux  trepas, 

Apres  cette  douceur  fierement  refusee, 

Ne  me  refusoit  point  de  vivre  pour  Thesee. 

Et  laissoit  doucement  corrompre  sa  fiert^ 

A  l'espoir  renaissant  de  ma  perplexite. 

Acte  V,  8,  V.  36,  sagt  Nerine,  die  Dienerin  der  Königin  Jokaste,  als  sie 
deren  Verzweiflung  schildert: 

Et  nos  pleurs  par  respect  attendent  ses  soupirs. 

2)  Tite  et  Berenice.  I,  2,  1.  Domitian  kommt  zu  Domitia,  die  er  liebt. 
die  aber  in  vier  Tagen  den  Kaiser  Titus  heiraten  soll.  Er  sagt  ihr: 

„Faut-il  mourir,  Madame?  et  si  proehe  du  terme 
Votre  illustre  constance  est- eile  encore  si  ferme, 
Qua  les  restes  d'un  feu  que  j'avois  cru  si  fort 
Puissent  dans  quatre  jours  se  promettre  ma  mortV 

Über  diese  Verse  ist  viel  gespottet  worden.  Boileau  soll  mit  Beziehung 
auf  sie  zwei  Arten  von  Galimathias  unterschieden  haben:  den  einfachen  Gali- 
mathias,  bei  dem  der  Verfasser  zwar  wisse,  was  er  sagen  wolle,  aber  das  Publi- 
kum nicht,  und  den  doppelten  Galimathias,  von  dem  weder  der  Verfasser  noch 
das  Publikum  etwas  verstünden.  —  Der  Schauspieler  Barre,  der  die  Rolle  des 
Domitian  in  Molieres  Truppe  zuerst  zu  spielen  hatte,  habe  sich,  heißt  es  weiter, 
zuerst  an  seineu  Direktor  um  Erklärung  der  dunklen  Stelle  gewendet,  und  da 
dieser  den  Sinn  nicht  habe  finden  können,  sei  Barre  zuletzt  zu  Corneille  selbst 
gegangen.  Corneille  habe  sie  geprüft  und  endlich  gestanden,  daß  er  sie  auch 
nicht  verstehe.  „Mais  recitez  les  toujours;  tel  qui  ne  les  entendra,  les  adnii- 
rera  "  Siehe  „Eeereations  litteraires  ou  Anecdotes  et  remarques  sur  differents 
Sujets  recueillies"  par  M.  C.  ß**  (Cizeron  Rival),  Paris  et  Lvon  1765,  p.  67. 
Corneille,  edit.  Marty-Laveaux,  Bd.  III,  S.  101. 


451 


zweifeltes  Haschen  nach  Neuem.  Konnte  er  auch  mit  der  Weichheit,  dem 
leidenschaftlichen  Ton  der  Racine'schen  Tragödie  nicht  wetteifern,  so 
konnte  er  doch  vielleicht  durch  andere  Mittel  gefallen.  Darum  strebte 
er  nach  Eleganz  der  Kede  und  verfiel  in  Manieriertheit ;  wählte  er  seine 
dramatischen  Stoffe  aus  entlegenen  Zeiten  und  Ländern,  und  machte  da- 
durch nur  den  grellen  Widerspruch  zwischen  der  barbarischen  Welt,  die 
er  schildern  wollte,  und  der  Art,  wie  er  sie  schilderte,  umso  deutlicher. 
Er  wollte,  wie  er  selbst  erklärte,  von  den  faden  Galanterien  der  modernen 
Stücke  nichts  wissen,  und  gründete  das  Hauptinteresse  seiner  Werke  auf 
schwache  Liebesverhältnisse,  die  er  möglichst  trocken  behandelte.  Er  griff 
endlich  zu  dem  Reiz  der  Ausstattung  und  versuchte  es  mit  Spektakel- 
stücken, wie  z.  B.  dem   „Goldenen  Vließ". 

Von  diesem  und  einem  andern  Gelegenheits-  und  Ausstattungs- 
gedicht, der   „Psyche",  mögen  darum  noch  einige  Worte  gesagt  werden. 

Das  „Goldene  Vließ"  verfaßte  Corneille  im  Auftrag  eines  reichen 
Sonderlings,  des  Marquis  de  Sourdeac,  der  zur  Feier  des  Friedensschlusses 
zwischen  Frankreich  und  Spanien  (1659),  sowie  der  Vermählung  des 
Königs  mit  der  Infantin  Maria  Theresia  von  Österreich  (1660)  ein  großes 
Fest  auf  seinem  Schloß  in  der  Normandie  veranstaltete.^) 

Die  Dichtung  Corneilles  war  jedoch  nicht  die  Hauptsache,  sie  mußte 
sich  den  Anforderungen  der  aus  Italien  herübergekommenen  Kunst  sceni- 
scher  Ausstattung  fügen.  Niemals  hatte  man  in  Frankreich  schönere 
Dekorationen,  überraschendere  Verwandlungen  gesehen,  als  bei  dieser  Auf- 
tührung.  Auch  Musik  und  Gesang  durfte  nicht  fehlen.  Das  Reich  der 
Oper  nahte  heran.  Da  sah  man  auf  der  Bühne  die  unwirtbare  Küste 
von  Kolchis,  wo  der  Phasis  in  schäumenden  Wogen  über  Felsen  herab- 
stürzte. Aus  den  Fluten  des  Meers  stiegen  Tritonen  und  Sirenen  empor, 
während  vier  Windgötter  eine  kostbare  Muschel  über  die  Wasserfläche 
zogen,  aus  welcher  die  Königin  Hypsipyle,  die  frühere  Geliebte  des  Jason, 
hervortrat.  Dann  wieder  sah  man  das  Innere  eines  prachtvollen  Palasts, 
der  sich  auf  Geheiß  der  Medea  plötzlich  zur  Hölle  verwandelte,  wo  sich 
Schlangen  und  Drachen,  Elefanten,  Löwen,  Tiger  und  sonstiges  böses 
Getier  tummelten.  Der  letzte  Akt  führte  in  den  dichten  Hain  des  Mars 
zu  dem  goldenen  Vließ.  Götter  flogen  vom  Himmel  zur  Erde  herab  und 
wieder  empor;  Medea  selbst  schwang  sich  zuletzt  mit  dem  Vließ  in  die 
Lüfte  und  entführte  das  Palladium  von  Kolchis.  Der  verzweifelte  König 
Aetes  wandte  sich  um  Schutz  an  seinen  Vater,  den  Sonnengott,  und  so 
öffnete  sich  im  Schlußbild  in  strahlender  Majestät  der  Himmel.  Über  die 
sonnenleuchtende  Wohnung  des  Helios  hinaus  erblickten  die  entzückten 
Zuschauei-  den  Herrn  des  Olympos  mit  allen  Göttern ;  das  Wort  des  Zeus 
löste  die  Verwirrung  auf  Erden  und  verhieß  auch  für  Kolchis  eine  fried- 
liche Zukunft. 

Die  Berichte  der  Zeitgenossen  sind  überschwänglich  in  ihrem  Lob. 
Aber  sie  sprechen  immer  nur  von  der  Ausstattung,  nicht  von  der  Dich- 
tung; und  mit  Recht,  denn  die  letztere  kann  keinen  Anspruch  auf  dra- 


1)  Siehe  S.  274. 


452 


niatischen  Wert  erheben.')  Bedeutend  höher  steht  „Psyche",  obwol  auch 
dieses  Werk  nur  ein  Gelegenheitsstück:  mit  Ballett  ist. 

„Psyche"  ist  die  gemeinsame  Arbeit  Molieres  und  Corneilles,  und 
schon  aus  diesem  Grund  interessant.  Der  König  hatte  sich  für  den  Kar- 
neval des  Jahrs  1671  ein  großes  Schaustück  bei  Meliere  bestellt.  Dieser 
wählte  den  Eoman  seines  Freundes  Lafontaine ,  um  daraus  ein  buntes 
Zauberstück  za  fertigen.  Aber  die  Zeit  mangelte  ihm;  er  entwarf  wol 
den  Plan,  schrieb  auch  den  Prolog,  den  ersten  Akt  und  einige  weitere 
Scenen  (II,  1.  und  III.  1),  dann  aber  bat  er  seinen  Freund  Corneille 
um  Hilfe,  und  dieser  vollendete  das  Stück  in  der  kurzen  Zeit  von  vier- 
zehn Tagen.  Quinault,  der  später  als  Dichter  von  Operntexten  besonders 
beliebt  wurde,  schrieb  die  einzulegenden  Lieder  und  Gesänge,  und  LuUi 
komponierte  die  Musik  dazu.  In  kürzester  Zeit  war  alles  bereit,  und  der 
König  konnte  sich  nach  Wunsch  des  heiteren  Spiels,  der  prachtvollen 
Ausstattung  und  der  musikalischen  Beigaben  erfreuen. 

Das  Stückchen  macht  an  sich  keine  großen  Ansprüche,  aber  man 
verspürt  in  der  raschen  Führung  des  Ganzen  die  Hand  des  praktischen 
Schauspielers  und  großen  Lustspieldichters.  Moliere  mag  durch  sein  Wort 
auch  Corneille  aufgefrischt  haben.  In  den  Teilen,  die  von  Corneille  her- 
rühren, herrscht  nicht  minder  ein  heiterer,  kräftiger  Ton.  Es  ist  merk- 
würdig, daß  Moliere  gerade  in  diesem  Stück  indirekt  der  alten  Art  des 
Dramas,  also  gerade  dem  Drama  seines  Mitarbeiters,  das  Urteil  sprach.'^) 
Der  Stoff,  die  reizende  Erzählung  von  der  Liebe  des  Amor  und  der 
Psyche,  paßte  allerdings  wesentlich  für  die  moderne  Schule.  Auch  Cor- 
neille versuchte  sich  diesmal  mit  Glück  in  dieser  Manier.  Seine  Verse 
sind  leicht  und  gefällig,  und  in  einer  berühmten  Stelle  erhebt  er  sich 
nicht  allein  zum  Ausdruck  wahrer  Innigkeit,  er  schlägt  darin  auch  den 
Ton  schwärmerischer  Zartheit  an,  den  die  neuere  Zeit  so  liebte  und  die 
man  bei  Corneille  kaum  erwartete.  Es  ist  dies  die  naiv  sinnliche  Liebes- 
erklärung, welche  Psyche  an  Amor  richtet.^)  Daß  Corneille  bewußt  darauf 


1)  Jason  ist  iu  der  beliebten  Manier  der  damaligen  Liebhaber  gezeichnet. 
Er  schwankt  zwischen  Medea  und  Hypsipyle  und  ist  ein  Ausbund  von  Galan- 
terie. So  sagt  er  zu  Medea  (II,  2,  v.  119): 

Quel  heur  de  pouvoir  dire  en  terminaut  mon  sort: 

Uu  respect  amoureux  a  seul  cause  ma  mort! 

'-)  In  der  ersten  Scene  des  ersten  Akts    besprechen  die  zwei  Schwestern 
der  Psyche  voll  Neid  die  Bewunderung,  welche  die  letztere  allenthalben  erweckt. 
Die  eine,  Aglaure,  tadelt  es,  daß  Psyche  so  zuvorkommend  sei ;  sie  öffne  jeder- 
mann die  Arme  und  verheiße  ihm  sein  Glück.    Dann  fährt  sie    v.  111)  foi't: 
Notre  gloire  n'est  plus  aujourd'hui  conservee, 
Et  l'on  n'est  plus  au  temps  de  ces  nobles  fiertes 
Qui  par  un  digne  essai  d'illustres  cruautes, 
Vouloient  voir  d'un  amant  la  eonstance  eprouvee. 

3)  Psyche,  III,  3,  v.  19  : 

A  peine  je  vous  vois,  que  mes  frayeurs  cessees 
Laissent  evanouir  l'image  du  trepas. 
Et  que  je  sens  couler  dans  mes  veines  glacees 
Un  je  ne  sais  quel  feu  que  je  ne  connois  pas. 


453 

ausging,  sein  Stück  in  dieser  ihm  sonst  fremden  Tönart  zu  schreiben, 
verrät  er  deutlich.  Einmal  erinnert  er  sogar  an  Theophiles  „Pyramus'-, 
jenes  Urbild  der  galanten  Komödie,  welches  die  feine  Welt  zur  Zeit,  da 
Corneille  noch  ein  Jüngling  war,  entzückte.')  Eine  solche  Sprache  hatte 
schon  damals  etwas  wie  Moderduft ,  und  sie  bei  Corneille  zu  finden, 
macht  einen  gar  seltsamen  Eindruck  auf  uns. 

Neben  seinen  dramatischen  Arbeiten  hatte  Corneille  die  geistliche 
Poesie  nicht  vernachlässigt.  Im  Jahr  1665  veröffentlichte  er  die  „Lou- 
anges  de  la  Sainte  Vierge",  eine  poetische  Übersetzung  des  lateinischen 
Gedichts  „Laus  beatae  Virginis"  von  Sankt  Bonaventura.  Fünf  Jahre 
später  (1670)  erschien  eine  ganze  Sammlung  geistlicher  Gedichte  von 
ihm,  zum  größten  Teil  Übersetzungen  („Offices  de  la  Vierge;  les  sept 
psaumes  penitentiaux ;  vepres  et  complies  du  dimanche;  Instructions  chre- 
tiennes  et  prieres  chretiennes",  eine  Auswahl  von  Meditationen  und  Ge- 
beten aus  der  schon  früher  von  ihm  übersetzten  „Nachfolge  Christi" ; 
zuletzt  auch  eine  Übersetzung  des  römischen  Breviers).  Corneille  erwies 
sich  in  diesen  wie  in  den  früheren  Werken  ähnlicher  Art  als  ein  ge- 
wissenhafter Übersetzer.  Es  gelang  ihm  oft,  den  Ausdruck  seines  Ori- 
ginals in  knapper  und  treffender  W^eise  wiederzugeben;  seine  Sprache 
war  ernst  und  würdig.  Aber  alle  unsere  Bedenken  gegen  derlei  Über- 
tragungen werden  durch  diese  Vorzüge  nicht  behoben.  In  der  großen 
Sammlung  seiner  geistlichen  Gedichte  fallen  die  Psalmen  am  meisten  auf. 
Ihre  Übersetzung   durch   Corneille    steht    über   der   einst    so    gerühmten 


J'ai  senti  de  l'estime  et  de  la  complaisance, 

De  l'amitie,  de  la  reeonnaissance ; 
De  la  compassion  les  cbagrias  innocents 

M'en  ont  fait  sentir  la  puissance; 
Mais  je  n'ai  point  encor  senti  ce  que  je  sens. 
Je  ne  sais  ce  que  c'est;  mais  je  sais  qu'il  me  charme, 

Que  je  n'en  eongois  point  d'alarme: 
Plus  j'ai  les  yeux  sur  vous,  plus  je  m'en  sens  charmer. 

Tout  ce  que  j'ai  senti  n'agissoit  point  de  meme, 
Et  je  dirois  que  je  vous  aime, 

Seigneur,  si  je  savois  ce  que  c'est  que  d'aimer. 

1)  Man  vergl.  das  Couplet  Amors,  III,  3,  v.  158  ff.,  worin  er  seine  Liebe 
schildert   und    worin  er  auf  Psychens  Frage,   ob  er  eifersüchtig  sei,   antwortet: 

Je  le  suis,  ma  Psyche,  de  toute  la  nature: 
Les  rayons  du  soleil  vous  baisent  trop  souvent; 
Vos  cheveux  souffrent  trop  les  caresses  du  vent. 

Des  «iu'il  les  tiatte  j'en  murmure; 

L'air  meme  que  vous  respirez 
Avec  trop  de  plaisir  passe  par  votre  bouche; 

Votre  habit  de  trop  pres  vous  touche; 

Et  sitöt  que  vous  soupirez. 

Je  ne  sais  quoi  qui  m'effarouche, 

Craiüt  parmi  vos  soupirs  des  soupirs  egares... 

Man  versrl.  ferner  Theophiles  „Pvramus  und  Thisbe",  IV,  1,  42  ff.,   und 
[.  Teil  dieses  Werks.  S.  204. 


454 

Eacan'schen  Paraphrase,^)  aber  die  poetische  Kraft  und  die  Erhabenheit 
des  Originals  verliert  sich  auch  bei  ihm  vollständig. 2) 

Haben  wir  bisher  hauptsächlich  Corneilles  poetischer  Thätigkeit 
unsere  Aufmerksamkeit  gewidmet,  so  wenden  wir  nun,  bevor  wir  von 
ihm  scheiden,  unseren  Blick  noch  einmal  auf  ihn  selbst,  auf  seine  spä- 
teren Lebensschicksale  und  die  Erlebnisse  seiner  Kinder. 

Mit  „Surena"  hatte  Corneille  seine  dramatische  Arbeit  abgeschlossen, 
und  nur  wenige  Gelegenheitsgedichte  stammen  aus  seinen  letzten  Lebens- 
jahren. Schon  im  Jahr  1662  hatte  er  sich  entschlossen,  seinen  Wohn- 
sitz in  Ronen  aufzugeben  und  mit  seiner  und  seines  Bruders  Thoraas 
Familie  nach  Paris  überzusiedeln.  Nur  gewichtige  Gründe  konnten  den 
schon  alternden  Mann  zu  einer  solchen  Veränderung  bewegen.  Man  hat 
die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  eine  Hauptveranlassung  zu  dieser 
Uebersiedlung  in  den  mißlichen  finanziellen  Verhältnissen  Corneilles  zu 
suchen  sei.  Der  Dichter  habe  vermeiden  wollen,  seine  Lage  in  Ronen 
zu  offenbaren.  Es  scheint  dieser  Gedanke  bei  genauerer  Prüfung  nicht 
zulässig.  Gerade  in  dem  Jahr  1662  ließ  sich  der  König  eine  Liste  ein- 
heimischer sowie  fremder  Dichter,  Schriftsteller  und  Gelehrter  vorlegen, 
die  er  mit  einem  Jahresgehalt  auszeichnen  könnte.  Der  Minister  Colbert 
ließ  durch  Chapelain  das  gewünschte  Verzeichnis  zusammenstellen.  Cor- 
neilles Name  fand  sich  auch  darin,  und  wenn  er  auch  nicht  so  hoch 
wie  Chapelain  bedacht  wurde,  erhielt  er  doch  eine  königliche  Gabe  von 
jährlich  2000  Livres.  Rechnet  man  die  Zinsen  einiger  noch  erhaltener 
Kapitalien,  sowie  die  Rente  hinzu,  welche  Äcker  und  Häuser  abwarfen  ; 
bedenkt  man,  daß  Corneille  als  Mitglied  der  Akademie  jährlich  1500  Livres 
bezog  und  darauf  zählen  konnte,  für  jedes  neue  Schauspiel  etwa  2000  Livres 
zu  erhalten,  so  dürfen  wir  schon  annehmen,  daß  er  sich  aus  anderen 
Gründen  zu  dem  immerhin  für  ihn  schweren  Schritt  entschloß.  Wollte 
Corneille  auch  ferner  für  das  Theater  thätig  sein,  so  war  eine  öftere 
Anwesenheit  in  Paris  unumgänglich,  die  Reise  dahin  aber  in  den  schwer- 
fälligen Postkutschen  eine  Anstrengung,  der  sich  ein  junger  Mann  wol 
leichten  Muts  unterziehen  konnte,  die  aber  für  Corneille  bereits  sehr 
lästig,   für  seine  Gesundheit   gefährlich  werden  konnte.    Zudem  wuchsen 


1)  Vergl.  I.  Teil  dieses  Werks,  S.  141. 

^j  Man  vergl.  z.  B.  Psalm  XVIII.  Er  beginnt  in  der  lateinischen  Über- 
setzung: „Coeli  enarrant  gloriam  Dei.  et  opera  manuum  ejus  annuntiat  firma- 
mentum".  Nach  Luther  iinter  der  Zahl  XIX:  „Die  Himmel  erzählen  die  Ehre 
Gottes  und  die  Veste  verkündiget  seiner  Hände  Werk.  Ein  Tag  sagt  es  dem 
andern  und  eine  Nacht  thut  es  kund  der  andern".  Corneilles  Übertragung  be- 
ginnt : 

Des  Celestes  lambris  la  pompeuse  etendue 

Fait  l'eloge  du  Souverain, 
Et  tout  le  firmament  ne  preschte  ä  la  vue 
Que  des  ouvrages  de  sa  main. 

Le  jour  prend  sein  d'apprendre  au  jour  qui  lui  succede 

Ce  que  sa  parole  a  produit. 
Et  la  nuit  qui  l'a  su  de  la  nuit  qui  lui  eede 

L'enseigne  ä  celle  qui  la  suit. 


455 


die  Kinder  heran  und  der  Dichter  glaubte  wol,  in  Paris,  an  der  Quelle 
der  Gnaden,  für  seine  Söhne  leichter  und  besser  sorgen  zu  können.  Da 
nun  sein  Bruder  Thomas,  sein  treuer  Gefährte,  ebenfalls  für  die  Pariser 
Bühne  arbeitete,  und  deshalb  wol  den  Umzug  befürwortete,  so  braucht 
man  nicht  nach  anderen  Gründen  zu  suchen. 

Die  beiden  Familien  konnten  der  freundlichsten  Aufnahme  in  Paris 
sicher  sein.  Corneille  hatte  im  Jahr  1662  den  Höhepunkt  seines  poetischen 
Schaffens  zwar  schon  längst  überschritten,  aber  gerade  damals  war  fast 
jede  tadelnde  Kritik  ihm  gegenüber  verstummt,  und  er  konnte  sich,  aller- 
dings nur  eine  kurze  Zeit,  des  glücklichen  Bewußtseins  allgemeiner  An- 
erkennung erfreuen.')  Eine  Überlieferung  besagt,  Corneille  habe  anfangs 
als  Gast  im  Hotel  de  Guise  in  der  Rue  du  Chaume  gewohnt.  Dies  könnte 
jedenfalls  nur  kurze  Zeit  gewesen  sein,  wenn  sich  die  Angabe  nicht  gar 
auf  eine  frühere  Zeit  bezieht,  in  der  Corneille  vielleicht  sein  Absteig- 
quartier in  dem  genannten  Palais  hatte,  so  oft  ei  nach  Paris  kam. 
Jedenfalls  wohnte  er  später  in  der  Rue  d'Argenteuil  auf  der  Butte  Saint 
Roch.  Diese  Straße  ist  allerdings  unweit  des  Palais-Royal  und  des  Louvro, 
lag  aber  zur  damaligen  Zeit  in  einer  ziemlich  verwilderten  Gegend.  Sie 
war  nur  halb  ausgebaut,  schmutzig  und  der  Aufenthaltsort  niedrigen 
Gesindels.  Heute  ist  die  Butte  Saint  Roch  schon  längst  abgetragen.  Zu 
Corneilles  Zeit  erhob  sich  der  kleine  Hügel  noch,  der  Weinstöcke  und 
Obstbäume  trug  und  auf  dessen  Höhe  einige  Windmühlen  ihre  langen 
Arme  drehten.  Nicht  weit  von  Corneille  wohnte  sein  Bruder  Thomas  in 
der  Rue  du  Glos  Georgeot.  Ebenfalls  nahe,  in  der  Rue  de  Richelieu, 
gegenüber  der  Mündung  der  Rue  Traversiere,  erhob  sich  das  Haus 
Molieres.  Schon  der  geschäftliche  Verkehr  brachte  die  beiden  Männer 
öfters  zusammen,  und  mehr  als  einmal  mögen  sie,  ihre  Pläne  besprechend, 
auf  der  Butte  Saint  Roch  sich  ergangen  haben.  Moliere,  der  anfangs 
auch  mit  Racine  eng  befreundet  war,  sah  diesen  sich  abwenden  und 
ganz  in  das  Lager  des  rivalisierenden  Hotels  de  Bourgogne  übergehen. 
Umso  fester  mag  er  darum  an  Corneille  gehalten  haben. 

In  Paris  fand  dieser  jedoch  nicht  die  Verbesserung  seiner  Lage, 
wie  er  gehofft  hatte.  Im  Gegenteil;  Kummer  und  Bedrängnis  stellten 
sich  nur  zu  bald  ein.  Die  zwei  ältesten  Söhne  Corneilles  waren  in  das 
Heer  getreten,  nachdem  der  jüngere  von  ihnen  als  Page  bei  der  Herzogin 
von  Nemours  seine  Laufbahn  begonnen  hatte.  Das  Leben  und  die  Aus- 
rüstung eines  Offiziers  kostete  mehr  Geld  als  sein  Gehalt  betrug,  und 
der  Vater  hatte  viel  Geld  zuzuschießen,  wenn  er  wollte,  daß  seine  Söhne 
standesgemäß  lebten.  Da  kamen  drückende  Sorgen,  zumal  als  die  könig- 
liche Kasse  das  Gehalt  des  Dichters  immer  unregelmäßiger,  schließlich 
gar  nicht  mehr  zahlte.  Schon  ums  Jahr  1665  beklagte  sich  Corneille 
in   einem    kleinen  Gedicht    über  die  Verzögerung  der  Zahlungen,-)    und 


1)  Moliere  huldigte  ihm  in  den  „Fächeux",  I.  1,  54.  Mazarin  hatte  sclion 
früher  in  einem  Saal  seines  Palasts  die  Bildnisse  Homers,  Virgils,  Tassos  und 
Corneilles,  als  der  vier  größten  Dichter,  anbringen  lassen. 

-)  Corneille,  ed.  Marty-Laveaux,  Bd.  X,  Nr.  LXVII,  S.  185.  Au  roi  pour 
le  retardement  du  payement  de  sa  pension. 


456 

vom  Jahr  1679  an  blieben  sie  ganz  aus.  Corneille  war  damals  73  Jahre 
alt.  Die  Theater  zahlten  ihm  schon  lange  nichts  mehr,  da  er  ver- 
stummt war.  Die  Kapitalien  des  väterlichen  Vermögens  waren  allmählich 
alle  aufgezehrt  worden.  Man  braucht  deshalb  noch  nicht,  wie  manche 
wollen,  die  Frau  des  Dichters  als  schlechte  Haushälterin  hinzustellen.^) 
Aber  noch  härterer  Kummer  lastete  auf  ihm.  Sein  dritter  Sohn,  Charles, 
war  ihm  im  Alter  von  14  Jahren  1667  gestorben;  der  zweite  Sohn, 
dessen  Vorname  nicht  bekannt  ist,  war  in  demselben  Jahr  bei  der  Be- 
lagerung von  Douai  am  Fuß  verwundet  und  zu  seiner  Heilung  nach 
Haus  gebracht  worden.  Er  fiel  einige  Jahre  später  bei  der  Belagerung 
von  Grave  (1674).  Immer  trauriger  gestaltete  sich  die  Lage  des  greisen 
Dichters.  Unterdessen  wurde  das  Schloß  zu  Versailles  mit  einem  un- 
erhörten Aufwand  gebaut  und  man  feierte  die  glänzendsten  Hoffeste. 

Thomas,  der  letzte  Sohn  Corneilles,  hatte  sich  dem  geistlichen 
Stand  gewidmet,  und  König  Ludwig  ihm  eine  Pfründe  in  Aussicht  ge- 
stellt. Allein  auch  diese  blieb  aus.  Es  klingt  wie  ein  Schrei  der  Ver- 
zweiflung aus  dem  Gedicht,  in  dem  Corneille  sich  an  den  König  wendet 
und  ihm  vorhält,  daß  ein  großer  Monarch  nur  versprechen  darf,  was 
er  halten  will.-)  Ludwig  nahm  das  kühne  Wort  ruhig  hin,  löste  aber 
erst  im  Jahr  1680  sein  Versprechen  ein  und  ernannte  Thomas  zum 
Abbe  von  Aiguevive.  Als  solcher  hatte  er  jährlich  3000  Livres  zu 
beziehen;  ob  er  sie  aber  regelmäßig  erhielt,  und  ob  er  seinem  Vater 
etwas  davon  überließ,  ist  nirgends  zu  ersehen.  Allein  wenn  er  auch 
einen  Teil  seines  Einkommens  zur  Unterstützung  seiner  Eltern  verwendet 
haben  sollte,  so  genügte  sein  Beitrag  nicht,  die  Sorgen  aus  seinem 
väterlichen  Haus  zu  bannen.  Zuletzt  mußte  sich  Corneille  sogar  ent- 
schließen, sein  väterliches  Haus  in  Rouen  abzugeben.  Seine  jüngste 
Tochter  trat  in  ein  Dominikanerkloster  und  mußte  als  Aassteuer  die 
Summe  von  3000  Livres  einzahlen.  Diese  konnte  der  Vater  nicht  anders 
als  durch  den  Verkauf  seines  Hauses  aufbringen.  Er  erhielt  dafür  im 
Jahr  1683  den  Betrag  von  4300  Livres,  so  daß  ihm  nach  Abzug  der 
Zahlung  für  seine  Tochter  nur  wenig  übrig  blieb. 


Grand  Roi,  dont  nous  voyons  la  generosite 
Montrar  pur  le  Parnasse  un  exces  de  bonte, 

Que  n'ont  Jamals  eu  tous  les  autres, 
Puissiez-vous  dans  cent  ans  donner  encor  des  lois 
Et  puissent  tous  vos  ans  etre  de  quinze  mois 

Comme  vos  commis  fönt  les  nötres. 

1)  Es  ist  Thatsache,  daß  Corneille  vom  Jahr  1644  an  eine  Reihe  von 
Kapitalien,  die  früher  ausgeliehen  worden  waren,  im  Namen  seiner  Mutter 
kündigte  und  einzog.  So  erhob  er  1644  die  Summe  von  2800  Livres,  1645 
1767  Livres,  1646  3-200  Livres.  Dann  verkaufte  er  1650  seine  Advokatur,  und 
es  ist  nicht  anzunehmen,  daß  er  die  Summen,  die  er  so  erhielt,  alle  wieder 
auslieh.  Noch  1683  verkaufte  er  neun  Grundstücke  gegen  eine  Rente  von  95  Livres. 

-)  Corneille,  Oeuvres  X,  Nr.  LXXXVI,  S.  308.  Placet  au  roi.  Dasselbe 
schließt  mit  den  Worten: 

,.Un  grand  roi  ne  promet  que  ce  qu'il  veut  tenir." 


457 


Einmal  noch  konnte  der  greise  Dichter  die  Rückkehr  des  früheren 
Glücks  hoffen.  Es  war  bei  Gelegenheit  großer  Festlichkeiten  zu  Versailles. 
Der  König  befahl,  eine  Reihe  der  besten  Schauspiele  Coi'neilles  aufzu- 
führen. Konnte  diese  aufs  neue  strahlende  Sonne  der  Hofgunst  nicht 
auch  die  schon  lang  erkaltete  Freundlichkeit  des  Publikums  für  den 
Dichter  wieder  beleben  ?  Wenn  Ludwig  ihn  auch  fernerhin  stützen,  seine 
anderen  Tragödien  huldreich  anblicken  wollte,  dann  werde  ihn  auch 
die  ISTation  wieder  gerechter  beurteilen.  So  sagte  er  in  einem  Gedicht 
an  den  König,  und  er  glaubte  wirklich,  daß  nur  ein  Zufall,  nur  Miß- 
gunst seinen  letzten  Arbeiten  den  ihnen  gebührenden  Ruhm  vorenthalten 
habe.^)  Er  hielt  den  König  für  mächtig  genug,  auch  den  Geschmack 
seines  Volkes  zu  lenken.  Ludwig  erfüllte  seinen  Wunsch  nicht,  und  so 
verlor  der  Dichter  jede  Hoffnung  und  den  Rest  des  Selbstvertrauens. 
Noch  einmal  versuchte  er  bei  der  Vermälung  des  Dauphin  (1680)  seine 
Kraft  in  einem  Festgedicht,  das  er  selbst  überreichte.  Doch  war  es  nicht 
bloß  eine  leere  Formel  der  Bescheidenheit,  wenn  er  von  seinem  erschöpften 
Geist  sprach : 

0  welche  Qual  für  mich,  den's  Alter  brach, 
Dafj  ich  Dir  nichts  zu  bieten  mehr  vermag 
Als  einen  müden  Geist. 2) 

Immer  düsterer  umzog  sich  der  Lebensabend  des  Dichters.  Es  war 
einsam  geworden  um  ihn;  Moliere  war  tot,  und  außer  seinem  Bruder 
sah  er  nur  wenige  Freunde.  Die  Armut  zu  schildern,  in  die  er  in  seinen 
letzten  Jahren  geraten  war,  führt  man  gewöhnlich  den  Brief  eines 
Landsmanns  und  Verwandten  aus  Ronen  an,  der  ihn  in  Paris  aufsuchte.^) 
Der  Briefsteller  erzählt  darin,  wie  er  mit  Corneille  gespeist  habe  und 
dann  mit  ihm  ausgegangen  sei.  In  der  Rue  de  la  Parcheminerie  sei 
Corneille  in  die  Bude  eines  Schuhmachers  getreten,  um  sich  seine  zer- 
rissenen Schuhe  flicken  zu  lassen.  Wieder  zu  Hause  angelangt,  habe  er, 
der  Schreiber,  dem  Dichter  seine  Börse  angeboten,  dieser  aber  jede  Gabe 
abgelehnt.  Die  ganze  Geschichte  klingt  nicht  so  entsetzlich.  Corneille 
hielt  nicht  viel  auf  sein  Äußeres,  und  warum  sollte  er  sich  nicht  auch 
einmal  seine  Schuhe  flicken  lassen?  Aber  die  Erzählung  gewinnt  einen 
andern  Charakter  durch  den  kleineu  Satz,  mit  dem  der  Freund  aus 
Ronen  schließt:  „Ich  habe  darüber  geweint,  daß  ein  solches  Genie  in  so 
tiefes  Elend  versunken  ist!"  Damit  bekommt  sein  Bericht  eine  düstere 
Färbung.  Um  so  sprechen  zu  können,  muß  er  andere  deutliche  Spuren 
der  Armut  und  Bedrängnis  gesehen  haben,  und  die  Klage  preßte  sich 
in  diesem  letzten  Satz  zusammen.*) 

1)  S.  Corneille,  Oeuvres  X,  Nr.  LXXXVII,  S.  309:  „Au  roi." 
-j  Corneille,    Band  X,  Nr.  XCII,    S.  334.     A  Monseigneur,  siir  son  ma- 
riage,  v.  7 

Quel  supplice  pour  moi,  que  l'äge  a  tout  use. 
De  n'avoir  ä  t'offrir  qu'un  esprit  epuise! 
^)  M.  Emanuel  Gaillard  hat  zuerst  diesen  Brief  mitgeteilt.  S.  Precis  des 
traveaux  de  TAeademie  de  Roueu  pour  l'anuee  1634,  p.  167. 

■*)  Ahnliches  weiß  Voltaire  zu  berichten.  Er  hörte  von  den  Freunden 
seines  Vaters  oft  genug  bitter  über  die  Vernachlässigung  klagen,  die  man  Cor- 


458 

Seit  vier  Jahren  schon  hatte  Corneille  die  königliche  Pension  ver- 
loren. Einzelne  Stimmen  haben  versucht,  die  Überlieferung  von  der 
Armut  Corneilles  zu  bestreiten.  Allein  die  Verhältnisse  sprechen  zu  laut. 
Ein  Greis,  der  berühmteste  Dichter,  den  Frankreich  bis  dahin  noch  be- 
sessen, verliert,  da  er  schwach  und  krank  wird,  den  kleinen  Ehrensold, 
den  ihm  der  König  früher  bewilligt  hat.  Ludwig  XIV.  hat  ihn  vergessen, 
die  Minister  haben  Wichtigeres  zu  thun  als  für  einen  Corneille  zu  sorgen, 
der  nur  schlecht  gelernt  hat  sich  zu  bücken:  keiner  der  vielen  vor- 
nehmen Herren,  die  so  gern  Mäcenas  spielen,  denkt  daran,  dem  großen 
Mann  zu  helfen.  Sie  haben  für  Andere  zu  sorgen,  die  kleiner  an  Geist, 
aber  amüsanter  als  Gesellschafter  sind.  Es  ist  eine  Schande,  daß  Cor- 
neille sich  zuletzt  gezwungen  sah,  eine  Bittschrift  an  Colbert  zu  richten, 
und  ihn  um  Auszahlung  der  Pension  anzuflehen.  Aber  auch  da  noch 
verfolgte  ihn  das  Unglück ;  Colbert  starb  um  jene  Zeit,  und  so  blieb  das 
Gesuch  unbeachtet.  Die  Kräfte  des  Dichters  waren  erschöpft,  er  wurde 
krank,  und  seine  Krankheit  zehrte  die  letzten  Mittel  auf.  Die  Not  muß 
dringend  gewesen  sein,  sonst  hätte  Boileau,  der  ihm  persönlich  fremd 
war.  und  ihn  mehr  als  einmal  angegriffen  hatte,  sich  nicht  in  der  Weise 
für  ihn  verwendet,  wie  er  es  that.  Als  er  von  der  traurigen  Lage  Cor- 
neilles hörte,  eilte  er  zum  König  und  schilderte  ihm  des  Dichters  Not. 
Er  erbot  sich,  auf  seine  eigene  Pension  zu  dessen  Gunsten  zu  verzichten, 
wenn  die  Staatskasse  außer  Stand  sei  zu  zahlen.  Ludwig  XIV.  schickte 
dem  Kranken  auf  der  Stelle  200  Louisd'or,  allein  die  Hilfe  kam  zu  spät. 
Zwei  Tage  nachdem  ihm  die  königliche  Spende  überbracht  worden  war, 
hauchte  Corneille  seinen  Geist  aus.  Er  starb  in  den  Frühstunden  des 
1.  Oktober  1684  im  79.  Lebensjahre,  und  seine  Leiche  wurde  in  der 
Kirche  St.  Roch  beigesetzt.  Aber  erst  Ludwig  Philipp  von  Orleans,  der 
spätere  König,  ließ  1821  die  Stätte  durch  eine  Büste  und  eine  Gedenk- 
tafel bezeichnen. 

Das  Äußere  Corneilles  war  nicht  gerade  ansprechend.  Die  wenigen 
Porträts,  die  man  von  ihm  besitzt,  zeigen  ihn  mit  einem  ziemlich  regel- 
mäßigen Gesicht,  starker  Nase,  zurückweichender,  nicht  sehr  hoher  Stirn, 
etwas  hervortretendem  Mund,  aber  schwachem  Kinn.  Der  Ausdruck  des 
Gesichts  ist  trotz  der  scharf  geschnittenen  Züge  nicht  gerade  bedeutend.') 
Im  Foj^er  des  Theätre  franv'ais  steht   an    einem  Ehrenplatz  seine  Büste 

neille  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  habe  zu  teil  werden  lassen.  (Brief 
Voltaires  an  Duclos  v.  31.  August  1761.)  Noch  schärfer  spricht  er  in  dem  Brief 
an  den  Abbe  d'Olivet  (September  1761):  „Croyez-moi,  le  pauvre  homme  etait 
neglige  comme  tout  grand  homme  doit  l'etre  parmi  nous.  11  n'avait  nulle  con- 
sideration,  on  se  moquait  de  lui;  il  allait  &  pied,  il  arrivait  crotte  de  chez  son 
libraire  ä  la  comedie;  on  siffla  ses  douze  dernieres  pieces,  ä  peine  trouva-t-il 
des  comediens  qui  daignassent  les  jouer.  Oubliez-vous  que  j'ai  ete  eleve  dans  la 
cour  du  Palais,  par  des  personues.qui  avaient  vu  longtemps  Corneille?"  Vol- 
taire ist  etwas  übereilt  in  seinen  Äußerungen;  wir  wissen,  daß  das  Schicksal 
der  letzten  Stücke  Corneilles  nicht  so  traurig  war.  Aber  ein  gut  Teil  Wahrheit 
steckt  doch  in  Voltaires  Worten. 

1)  Die  besten  Bilder  sind  die  Stiche  von  Michel  Lasne  und  Fiequet.  Ein 
Porträt  Corneilles  war  von  Lebrun  gemalt. 


459 


von  Caffieri,  die  aber  nur  nach  den  Porträts  gefertigt  ist.  Sie  stammt 
aus  dem  Jahr  1777,  und  kann  also  keinen  Anspruch  auf  besondere 
Ähnlichkeit  erheben. 

Im  Umgang  war  Corneille  schwerfällig,  seine  Unterhaltung  schleppend. 
Sagte  er  doch  von  sich  selbst: 

J'ai  la  plume  feconde  et  la  bouche  sterile, 
Bon  galant  au  theätre  et  fort  mauvais  en  ville, 
Et  l'ün  peut  rarement  m'ecouter  sans  ennui 
Que  quand  je  me  produis  par  la  bouche  d'autrui.i) 

„Wenn  man  Mr.  de  Corneille  sah",  sagt  ein  Zeitgenosse,  „hätte 
man  nicht  geglaubt,  daß  er  die  Griechen  und  Eömer  so  trefflich  reden 
ließe,  und  daß  er  die  Gefühle  und  Gedanken  der  Helden  so  vorzüglich 
zum  Ausdruck  bringen  könnte.  Das  erste  Mal,  daß  ich  ihn  sah,  hielt  ich 
ihn  für  einen  Kaufmann  aus  Rouen:  sein  Äußeres  sprach  nicht  für  seinen 
Geist,  und  seine  Unterhaltung  war  so  schwerfällig,  daß  sie  jedem  lästig 
ward,  wenn  sie  länger  dauerte.  Gewiß,  Mr.  de  Corneille  vernachlässigte 
sich  zu  sehr.^)  ..."  Derselbe  Gewährsmann  behauptet,  Corneille  habe 
nie  korrekt  französisch  gesprochen. 

Mit  solchem  Charakter  konnte  Corneille  an  dem  glänzenden  Hof 
Ludwigs  kein  Glück  machen.  Er  war  zu  unabhängigen  Geistes  und  zu 
stolz,  um  sich  viel  zu  beugen.  Man  hat  ihm  allerdings  einige  über- 
triebene Dedikationen  vorgeworfen,  und  gewiß,  Corneille  war  keiner  jener 
antiken  Charaktere,  die  er  selbst  so  gern  zeichnete,  aber  bei  alledem 
war  er  kein  Schmeichler.  Er  fühlte  seinen  Wert  und  glaubte,  daß  er 
reichen  Lohn  verdient  habe  und  ihn  nicht  erst  zu  erbetteln  brauche. 
Diesem  Gefühl  hat  er  manchmal  Worte  geliehen,  wenn  die  Verlegenheiten 
des  äußeren  Lebens  ihn  zu  stark  bedrängten.  So  brachte  ihn,  was  viel- 
leicht nur  der  naive  Ausdruck  seines  unpraktischen  Wesens  war,  in  den 
Euf  der  niederen  Habsucht.  So  lang  seine  Verhältnisse  nicht  genauer 
bekannt  sind,  sollte  man  sich  hüten,  auf  ein  paar  Verse  hin  einen  Mann 
wie  Corneille  zu  verurteilen.  Wäre  sein  Charakter  geschmeidiger  gewesen, 
so  hätte  er  mit  leichter  Mühe  seine  Einkünfte  verdoppelt.  Aber  er  war 
eben  kein  Höfling  und  kein  Diplomat.  Wir  haben  gesehen,  wie  scliarf 
er  Ludwig  XIV.  an  sein  Versprechen  erinnerte,  und  die  Verse,  in 
welchen  er  es  that,  blieben  nicht  etwa  unbekannt.  Sie  finden  sicli  in 
dem  „Mercure  galant"  vom  Jahr  1677  abgedruckt.  Mit  erstaunlichem 
Freimut  hatte  er  schon  früher  in  dem  Prolog  zu  dem  „Goldenen  Vließ" 
zum  König  gesprochen.  Er  ließ  darin  das  Land  Frankreich  auftreten 
und  zur  Siegesgöttin,  die  sich  über  Undankbarkeit  beschwert,  die  kühnen 
Worte  sagen: 


^)  Siehe  den  Brief  Corneilles  an  Pellisson,  wahrscheinlich  aus  dem 
Jahr  1636.  Corneille,  ed.  Marty-Laveaux.  X,  S.  477. 

2)  S.  Melanges  d'histoire  et  de  litteratiire  par  M.  de  Vigneul-Mar ville 
4.  edit.  Paris  1725,  t.  I,  pag.  193.  Vergl.  Voltaires  Brief  an  den  Abbe  d'Olivet, 
Sept.  1861 :  „Mon  pere  avait  bu  avec  Corneille:  il  me  disait  que  ce  grand  hemme 
etait  le  plus  ennuyeux  mortel  qu'il  eüt  jamais  vu  et  rhomme  qui  avait  la  con- 
versation  la  plus  basse." 


460 


Sind  meine  Söhne  nur  zum  Krieg  geboren? 

Der  Ruhm,  der  sie  umstrahlt,  wird  mir  verderblieh. 

Ich  zitt're  vor  mir  selbst  und  meinen  Siegen. 

Mich  zu  beschützen,  ziehn  zum  Kampf  sie  aus, 

Doch  kehren  sie  als  Sieger  nur  zurück. 

Um  meine  Lande  zu  verwüsten.  — 


Vom  Sieg  gekrönt,  fühl"  ich  die  Kraft  mir  schwinden. 

Der  Staat  ist  blühend,  doch  die  Völker  seufzen. 

Und  ihre  welken  Glieder  beugen  sich. 

Erdrückt  von  meiner  stolzen  Thaten  Last. 

Der  Ruhm  des  Thrones  wird  des  Volkes  Unheil. i) 

So  redete  er  in  dem  Festspiel,  das  er  zu  Ehren  der  Vermählung 
Ludwig  XIV.  dichtete,  als  Frankreich  verhältnismäßig  noch  gesund  und 
kräftig  dastand.  Wie  viel  schärfer  mag  sein  ürtheil  später  geklungen 
haben.  Freilich  begann  um  jene  Zeit  bereits  der  Eroberungs-  und  Ruhmes- 
taumel die  Köpfe  zu  verdrehen.  Damals  erwuchs  im  Land  der  Glaube 
an  die  Unüberwindlichkeit  der  französischen  Heere,  und  allgemein  wurde 
die  Überzeugung,  daß  Frankreich  berufen  sei,  über  Europa  zu  herrschen. 
So  dürfen  wir  uns  nicht  wundern,  später  auch  manche  verkehrte  An- 
sicht über  die  kriegerische  Politik  des  Königs  in  Corneilles  Gedichten 
zu  finden. 

Es  bleibt  uns  noch  ein  Wort  über  die  Familie  Corneilles  zu 
sagen  übrig. 

Daß  ein  überaus  herzliches,  schönes  Verhältnis  in  Corneilles  Haus 
geherrscht  hat,  wird  von  allen  bestätigt,  die  die  Familie  kannten.  Thomas 
führte  die  Schwester  der  Frau  Pierre  Corneille  als  Gattin  heim,  und  es 
heißt,  die  beiden  Paare  hätten  lange  nur  Einen  Haushalt,  nur  Ein  ge- 
meinsames Besitztum  gehabt.  Eine  Schwester  der  beiden  Dichter,  Martha 
Corneille  (geb.  1623),  war  die  Vertraute  ihrer  poetischen  Arbeiten. 
Pierre  soll  ihr  gewöhnlich  zuerst  seine  Dichtungen  vorgelesen  und  ihren 
Rat  darüber  eingeholt  haben.  Sie  heiratete  einen  Advokaten  zu  Rouen, 
Le  Bovier  de  Fontenelle,  und  wurde  die  Matter  des  in  der  französischen 
Litteratur  lange  mit  Anerkennung  genannten  Dichters  und  Schriftstellers 
Fontenelle  (lt)57  — 1757),  der  auch  eine  Biographie  seines  großen  Oheims 
schrieb. 

Pierre  Corneilles  Witwe  zog  sich  nach  Les  Andelys  zurück,  wo 
sie  ihre  Jugend  verlebt  hatte,  und  starb  dort  im  Jahr  1694.   Von  seinen 

')  La  Toison  d'or.  Prologue,  v.  20. 

La  France: 
Ah!  Victoire,  pour  fils  n'ai-je  que  des  soldats? 
La  gloire  qui  les  couvre,  a  moi  meme  fuueste. 
Sous  mes  plus  beaux  succes  fait  trembler  tout  le  reste; 
Ils  ne  vont  au  bombat  que  pour  me  proteger. 
11s  n'en  sortent  vainqueurs  que  pour  me  ravager. 


A  vaincre  tant  de  fois  mes  forces  s'affoiblissent : 
L'Etat  est  florissant,  mais  le  peuples  gemissent; 
Leurs  membres  decharnes  courbent  sous  me  hauts  faits. 
Et  la  gloire  du  tröne  aceable  les  sujets! 


461 


Kindern  waren  ihm  zwei  Söhne  in  den  Tod  vorausgegangen;  ein  anderer 
Sohn  und  die  jüngste  Tochter  hatten  die  Weihen  erhalten;  der  erstere 
war  Abbe  von  Aiguevive  in  der  Touraine  geworden,  die  letztere  in  ein 
Dominicanerinnen-Kloster  getreten.  So  blieb  nur  der  älteste  Sohn,  Pierre, 
der  als  Hauptmann  in  einem  Kavallerieregiment  den  Dienst  aufgab  und 
sich  mit  Marie  Cauchois,  der  Tochter  eines  wohlhabenden  Kaufmanns 
ausEouen,  vermählte.  Er  starb  schon  1698  und  hinterließ  einen  Sohn, 
Pierre-Alexis,  dessen  Nachkommenschaft  ziemlich  zahlreich  bis  auf  unsere 
Zeit  zu  verfolgen  ist.  Ein  Pierre-Alexis  Corneille  starb  1868  als  Mitglied 
der  Deputiertenkammer,  und  an  seiner  Stelle  wurde  sein  Sohn  gewählt. 
Doch  muß  man  bemerken,  daß  neuerdings  berechtigte  Zweifel  aufgestiegen 
sind,  ob  der  Hauptmann  Pierre  Corneille  wirklich  einen  Sohn  hinter- 
lassen habe.  Denn  im  Jahr  1699  wird  in  den  Akten  des  Parlaments 
von  Kouen  Antoine  Corneille,  Abbe  von  Aiguevive,  als  der  einzige  Erbe 
des  im  Jahr  zuvor  verstorbenen  Pierre  Corneille  genannt.  Dann  wären 
Pierre-Alexis  und  seine  Nachkommenschaft  als  Glieder  einer  andern 
Familie  zu  betrachten.^) 

Die  älteste  Tochter  des  Dichters,  Marie,  war  in  zweiter  Ehe  mit 
Jaques  Adrian  de  Farcy  aus  einer  normannischen  Adelsfamilie  ver- 
heiratet. Deren  Tochter  vermählte  sich  1701  mit  Adrian  de  Cordaj.  Die 
Urenkelin  dieses  Mannes  war  Charlotte  de  Corday,  welche  1793  auf  dem 
Schaffet  endete.  So  sehen  wir  in  dem  heldenmütigen  Mädchen,  das  in 
seinen  Adern  das  Blut  des  großen  Corneille  fühlte,  die  letzte  jener  he- 
roischen Frauen,  welche  der  Dichter  mit  so  viel  Vorliebe  gezeichnet  hat. 
In  mancher  stillen,  stimmungsvollen  Nacht  mag  sich  die  Enkelin  an 
ihres  Ahns  flammenden  Versen  begeistert  haben.  Vielleicht  fühlte  sie 
sich  der  hohen  Seele  einer  Camilla  verwandt,  oder  sie  gedachte,  da  sie 
in  patriotischer  Verblendung  ihr  Vaterland  durch  einen  Mord  zu  retten 
suchte,  der  Worte  Emilias,  die  Rom  durch  den  Tod  Augusts  befreien 
wollte : 

Wie  ist  es  süß,  den  Tod  der  Seinen  rächen! 

Doch  höh'rer  Euhm  krönt  den  Tyrannenmord! 

In  ganz  Italien  soll  man  jubelnd  rufen: 

Die  Freiheit  Eoms  ist  der  Emilia  Werk!-) 


")  S.  Gosselin,  Pierre  Corneille  le  pere.  Reuen  1864,  S.  42. 

2)  Cinna  I,  2,  5.5: 

Joingnons  a  la  douceur  de  venger  aus  parents, 
La  gloire  qu'on  remporte  ä  panier  les  tyrans, 
Et  faisons  publier  par  toute  l'Italie: 
„La  liberte  de  Rome  est  l'oeuvre  d'Emilie  " 


IX. 

Corneilles  Ideen  über  das  Drama.  —  Sein  Stil  und 
poetischer  Charakter. 

Die  vorausgehenden  Abschnitte  haben  zwar  die  dramaturgischen 
und  ästhetischen  Anschauungen,  von  welchen  sich  Corneille  leiten  ließ, 
im  allgemeinen  deutlich  erkennen  lassen.  Doch  ist  es  bei  einem  Mann 
von  seiner  Bedeutung  wünschenswert,  sie  noch  einmal  genau  und  im 
Zusammenhang   zu  betrachten. 

Corneille  selbst  erleichtert  uns  diese  Aufgabe.  In  den  späteren 
Jahren  seines  Lebens  hat  er  mehrere  Aufsätze  veröffentlicht,  in  welchen 
er  die  Gesetze  des  Dramas  untersuchte.  Er  gründete  dabei  seine  Aus- 
führungen zumeist  auf  Beispiele,  die  er  seinen  eigenen  Werken  entnahm. 
Man  biaucht  daraus  nicht  zu  schließen,  daß  er  diese  Aufsätze  haupt- 
sächlich in  der  Absicht  geschrieben  habe,  seine  Dichtungen  zu  vertei- 
digen; denn  sein  Ruhm  war  gerade  zu  jener  Zeit  am  wenigsten  bestritten. 
Seit  seinen  ersten  Lustspielen  hatte  er  sich  mit  der  Theorie  des  Dramas 
beschäftigt  und  sich  stets  Rechenschaft  von  seiner  Arbeit  zu  geben  ver- 
sucht. Wir  erkennen  in  seinen  Dichtungen  deutlich  die  Spuren  einer 
genau  abwägenden  Überlegung  und  wissen,  wie  eifrig  er  bemüht  war, 
die  Formen  des  Dramas  innerhalb  gewisser  Grenzen  umzubilden.  Von 
dem  Tag  an,  da  er  nach  der  Aufführung  der  ..Melite"  von  der  Existenz 
der  strengen  dramatischen  Gesetze  vernahm,  quälte  er  sich  mit  ihren  For- 
derungen ab.  In  den  Vorreden  zu  seinen  Stücken  kam  er  immer  wieder 
auf  sie  zurück,  aber  er  ließ  sich  nicht  einschüchtern  und  behauptete  im 
ganzen  immer  denselben  Standpunkt.  War  er  auch  als  Sohn  seiner  Zeit 
für  Regelmäßigkeit  und  Ordnung  eingenommen  und  opferte  er  deren  Ge- 
boten mehr  als  uns  gut  dünkt,  so  war  er  doch  zu  sehr  Dichter,  als  daß 
er  sich  nicht  gegen  die  peinliche  Strenge  rein  formaler,  willkürlicher  Vor- 
schriften gesträubt  hätte. 

Die  Ausgabe  der  Werke,  weiche  Corneille  im  Jahr  1648  veran- 
staltete, enthielt  in  dem  zweiten  Band  eine  erste  größere  Abhandlung 
über  die  Regeln  des  Dramas,  und  als  er  im  Jahr  1660  eine  neue,  ver- 
mehrte Sammlung  seiner  dramatischen  Werke  veröffentlichte,  begann  er 
jeden  Band  mit  einem  besonderen  Aufsatz  über  diese  Fragen,  die  ihm 
so  wichtig  erschienen.  Der  erste  Aufsatz  behandelt  den  Nutzen  des  dra- 
matischen Gedichts  und  dessen  einzelne  Teile  (de  l'utilite  et  des  parties 
du  poeme  dramatique);  in  dem  zweiten  spricht  Corneille  von  der  Tra- 
gödie überhaupt  (discours   sur  la  tragedie  et  sur  les  moyens  de  la  traiter 


463 


Selon  le  vraiseiiiblable  et  le  necessaire),  und  in  dem  dritten  untersucht 
er  die  Gesetze  von  den  drei  Einheiten  des  Dramas,  nämlich  der  Hand- 
lung, der  Zeit  und  des  Orts.  In  bescheidener  Weise  und  gewissermaßen 
entschuldigend,  sagt  er  im  Beginn  der  ersten  Abhandlung,  daß  er  es 
wage,  seine  Ansichten  vorzubringen,  da  er  sich  auf  eine  fünfzigjährige 
Erfahrung  stützen  könne. ^) 

Lessing  ist  daher  zu  scharf  gegen  Corneille  aufgetreten,  wenn  er 
in  seiner  Dramaturgie  (76.  Stück)  von  ihm  sagt:  ,.Corneille  hatte  seine 
Stücke  schon  alle  geschrieben,  als  er  sich  hinsetzte,  über  die  Dicht- 
kunst des  Aristoteles  zu  kommentieren.  Er  hatte  50  Jahre  für  das  Theater 
gearbeitet  und  nach  dieser  Erfahrung  würde  er  uns  unstreitig  vortreff- 
liche Dinge  über  den  alten  dramatischen  Codex  haben  sagen  können, 
wenn  er  ihn  nur  auch  während  der  Zeit  seiner  Arbeit  fleißiger  zu  Rat 
gezogen  hätte.  Allein  dies  scheint  er  höchstens  nur  in  Absicht  auf  die 
mechanischen  Kegeln  der  Kunst  gethan  zu  haben.  In  den  wesentlicheren 
ließ  er  sich  um  ihn  unbekümmert,  und  als  er  am  Ende  fand,  daß  er 
wider  ihn  verstoßen,  gleichwol  nicht  wider  ihn  verstoßen  haben  wollte, 
so  suchte  er  sich  durch  Auslegungen  zu  helfen  und  ließ  seinen  vortreff- 
lichen Lehrmeister  Dinge  sagen,  an  die  er  offenbar  nie  gedacht  hatte." 

Lessing  irrt  hier  in  mehreren  Punkten.  Wir  haben  gesehen,  wie 
Corneille  sich  während  seines  ganzen  Lebens,  und  nicht  erst  im  Alter, 
mit  Aristoteles  und  den  dramatischen  Gesetzen  beschäftigte.  Er  hat  seine 
Abhandlungen  auch  nicht  verfaßt,  als  er  alle  seine  Stücke  schon  ge- 
schrieben hatte,  denn  er  ließ  später  noch  neun  Dramen  folgen,  darunter 
„Sertorius",  „Othon"  und  „Psyche".  Am  wenigsten  aber  erlaubt  ist  ein 
Zweifel  an  der  Aufrichtigkeit  Corneilles.  Gegen  sich  selbst  war  der 
Dichter  immer  streng  und  sagte  es  offen,  wenn  er  gefehlt  zu  haben 
glaubte.  Daß  er  die  Poetik  des  Aristoteles  in  manchen  Punkten  falsch 
verstand,  daß  er  ihn  äußerlicher  auffaßte,  als  —  Dank  Lessing  —  die 
lieutigen  Erklärer  thun,  ist  gewiß.  Aber  dies  ist  ein  Vorwurf,  der  die 
ganze  frühere  Zeit  trifft.  Lessing  hätte  eben  früher  kommen  sollen.  Wie 
oft  finden  sich  in  einem  Mann  die  Eigenschaften  des  Dichters  und  des 
Kritikers,  des  Philosophen  und  Philologen  in  so  wunderbarer  Weise  wie 
in  ihm  vereinigt?  Corneille  war  wol  Dichter,  aber  er  machte  keinen 
Anspruch  darauf,  Philosoph  zu  sein. 

Darum  betonte  er  auch,  daß  er  nicht  glaube,  unfehlbar  zu  sein. 
Viele  seiner  Dramen  hätten  keinen  Beifall  gefunden,  und  so  liege  es 
ihm  fern,  anderen  seine  Ideen  aufdrängen  oder  selbst  eigensinnig  an 
ihnen  festhalten  zu  wollen.  Er  habe  nicht  den  Ehrgeiz,  einen  Codex 
der  Dramaturgie  zu  geben,  dazu  seien  seine  Studien  nicht  gründlich 
genug.  Er  wolle  nur  auseinandersetzen,  wie  seine  Anschauungen  über 
das  Drama  sich  allmählich  in  ihm  entwickelt  hätten.  Das  erklärt  denn 
auch,  warum  er  die  Beispiele  zumeist  seinen  Dichtungen  entlehnte.  Er 
übte  damit  eine  Art  Selbstkritik  aus,  und  nur  unter  diesem  Gesichts- 
punkt sind  seine  Aufsätze  zu  beurteilen.  Wir  beschäftigen  uns  mit  ihnen. 


'j  „Je  basarderai  qiic4que  chose  sur  cinquante  ans  de  travail  sur  la  scene. 


464 


nicht  um  die  Gesetze  der  dramatisclieii  Poesie  besser  kennen  zu  lernen. 
sondern  um  Corneille,  den.  Dichter,  richtiger  zu  würdigen. 

Versuchen  wir  es  nun,  aus  den  verschiedenen  Aufsätzen  und  den 
in  seinen  Vorreden  zerstreuten  Bemerkungen  seine  Hauptideen  über  das 
Theater  und  besonders  über  die  Tragödie  zusammenzustellen. 

Corneille  geht,  wie  dies  nicht  anders  zu  erwarten  ist.  von  dem 
antiken  Theater  aus.  Er  kennt  keinen  höheren  Eichter  in  Sachen  der 
Ästhetik  als  Aristoteles,  den  er  einmal  ,,notre  docteur  unique"')  nennt. 
Ebenso  erfüllt  ihn  Horaz  mit  Hochachtung,  und  er  citiert  ihn  oft  zur 
Bekräftigung  seiner  Ideen.  Trotzdem  unterwirft  er  sich  der  Autorität 
der  Alten  nicht  in  allen  Punkten;  er  ist  Aristoteles  nicht  sklavisch 
unterthan  und  z.  B.  mit  dessen  Erklärung  von  dem  Wesen  der  Komödie 
durchaus  nicht  einverstanden.-)  Die  Kenntnis  der  Alten  gilt  ihm  nicht 
als  eine  hinreichende  Vorbereitung  für  den  dramatischen  Dichter.^)  In 
dieser  Überzeugung  von  der  notwendigen  Selbständigkeit  der  modernen 
Bühne  hat  Corneille  manche  Neuerung  versucht  und  dadurch  die  Ent- 
wicklung des  französischen  Dramas  wesentlich  gefördert.  Dieses  Ver- 
dienstes war  er  sich  bewußt,  und  am  Schluß  seiner  Abhandlung  über 
den  Nutzen  des  dramatischen  Gedichts  wiederholt  er  denn  auch,  was  er 
schon  Jahre  zuvor  gesagt  hatte,  daß  der  moderne  Dramatiker  allerdings 
die  Vorschriften  der  Griechen  möglichst  befolgen  möge,  daß  er  aber  auch 
weiter  gehen  dürfe.  Sklavisch  solle  man  jene  Regeln  nicht  befolgen,  sei 
es  auch  nur  um  das  Lob  des  Horaz  zu  verdienen,  der  von  den  Dichtern 
seiner  Zeit  gesagt  habe : 

Nee  minimum  meruere  decus,  vestigia  graeca 
Ausi  deserere,*) 

oder  um  das  Wort  desselben  Dichters: 

0  imitatores,  servura  pecus 

zu  vermeiden.'')  Mit  Selbstgefühl  citiert  er  den  Satz  des  Tacitus,  daü. 
einst  als  alt  und  mustergiltig  erscheinen  werde,  was  jetzt  noch  neu  sei 
und  durch  frühere  Beispiele  entschuldigt  werden  müsse.'') 


^)  Siehe  Vorrede  zum  „Heraclius". 

2)  Vergl.  Aristoteles,  Über  die  Dichtkunst,  herausgegeben  von  Moriz 
Schmidt  (Jena  1875,  bei  Dufft),  S.  10  und  11:  „Die  Komödie  dagegen  ist,  wie 
gesagt,  eine  nachahmende  Darstellung  gemeiner  Naturen  u.  s.  w." 

3)  Epitre  zur  „Suivante-' :  „Pour  faire  maintenant  reussir  une  piece,  ce 
n'est  pas  assez  d'avoir  etudie  dans  les  livres  d'Aristote  et  d'Horace." 

**)  Horat.  Epist.  ad  Pisones,  v.  286: 

Nicht  gering  erscheint  das  Verdienst  der  heimischen  Dichter, 

Die,  voll  Mut,  es  verschmähten,  die  Bahn  der  Griechen  zu  wandeln. 

•^)  Horat.  Epist.  lib.  I,  19,  v.  19: 

0  nachäffende  Schar,  blind  dienendes  Vieh! 

")  Tacitus,  Annal.  XI,  c.  24:  „Inveteraseet  hoc  quoque  et  quod  hodie  ex- 
emplis  tuemur,  inter  exempla  erit." 


465 


Corneille  hatte  erkannt,  daß  sich  das  moderne  Theater  nicht  allzu 
ängstlich  beschränken  dürfe,  und  ihn  beseelte  die  Hoffnung*,  daß  auch 
manches  Werk  seines  Geistes  späteren  Dichtern  als  Vorbild  dienen  werde. 
Wenn  Aristoteles  sagt,  die  Geschichte  nur  weniger  Familien  der  Vorzeit 
biete  den  Stoff  zu  wahrhaft  schönen  Tragödien,^)  so  beansprucht  Cor- 
neille das  Recht,  seine  Helden  auch  aus  der  Geschichte  der  späteren 
Jahrhunderte  zu  wählen.  Ohnehin  werde  durch  den  Wegfall  des  Chors 
das  Drama  zu  arm  und  der  moderne  Dichter  müsse  sein  Stück  durch 
Episoden  beleben.  Noch  nachdrücklicher  sagt  er  einige  Jahre  später,  die 
Art  des  griechischen  Schauspiels  passe  nicht  füi-  die  neue  Zeit,  und  wer 
nur  ihren  Spuren  folgen  wolle,  werde  wenig  Erfolg  erzielen.  „Allerdings", 
fügt  er  hinzu,  „läuft  man  Gefahr,  sich  zu  verirren,  wenn  man  den  be- 
tretenen Weg  verläßt,  und  man  verirrt  sich  oft  genug ;  doch  verirrt  man 
sich  nicht  jedesmal,  und  manche  kommen  sogar  schneller  zu  ihrem  Ziel.-) 

So  zeigt  sich  in  seinen  Meinungen  ein  gewisser  Zwiespalt;  er 
schwankt  fortwährend  zwischen  zwei  Richtungen  hin  und  her.  Denn  wenn 
er  einerseits  größere  Beweglichkeit  verlangt,  als  ihm  die  Gesetze  des 
antiken  Theaters  zu  bieten  scheinen,  so  empfiehlt  er  anderseits  manche 
strengere,  willkürlich  ersonnene  Regel.  Er  meint  unter  anderem,  alle 
irgend  wichtigen  Personen  einer  Tragödie  müßten  schon  im  ersten  Akt 
vorgeführt  werden. 

Ganz  besonders  beschäftigt  sich  Corneille  auch  mit  der  Frage  des 
Zwecks,  den  das  Drama  habe.  Er  sucht  ihn  in  dem  moralischen  Ein- 
fluß, den  es  durch  seine  Sentenzen  und  edlen  Gedanken  ausüben  könne. 
Direkter  noch  wirke  es  dadurch,  daß  es  Laster  und  Tugenden  in  leben- 
digem Bild  schildere  und  die  ersteren  verabscheuen,  die  letzteren  lieben 
lehre.  Man  brauche  nicht  zu  besorgen,  daß  die  bewundernswerte  Schil- 
derung eines  lasterhaften  Menschen  darum  den  Zuschauer  verleite,  das 
Laster  selbst  zu  bewundern.  Dies  klar  zu  machen,  sagt  er:  „Wie  das 
Bildnis  einer  häßlichen  Frau  doch  schön  sein  kann  und  man  nicht  nötig 
hat,  hervorzuheben,  daß  das  Original  dadurch  noch  nicht  liebenswürdig 
wird,  so  geht  es  auch  mit  unserem  lebendigen  Gemälde."  ^) 


1)  Siehe  Aristoteles,   Über  die  Dichtkunst,   ed.  M.  Schmidt,  S.  30  u.  31. 

2)  Examen  d'Agesilas  (1666):  „Leurs  regles  sont  bonnes,  mais  leur  me- 
thode  n'est  pas  de  notre  siecle,  et  qui  s'attacheroit  ä  ne  marcher  que  sur  leurs 
pas,  feroit  sans  deute  peu  de  progres  et  divertiroit  mal  son  auditoire.  On  court 
a  la  verite  quelque  risque  de  s'egarer,  et  meme  on  s'egare  assez  souvent  quaud 
on  s'ecarte  du  chemin  battu:  mais  on  ne  s'egare  pas  toutes  les  fois  qu'on  s'en 
ecarte ;  quelques-uns  en  arrivent  plus  tot  oü  ils  pretendent,  et  chacun  peut  ha- 
sarder ä  ses  perils." 

3)  Siehe  Corneüles  Epitre  vor  der  „Suite  du  Menteur".  Nachdem  er  dort 
gesagt  hat,  daß  er  zweierlei  Nutzen  findet,  fährt  er  fort :  „Celle-lä  se  rencontre 
aux  sentences  et,  reflexions  que  Ton  peut  adroitement  semer  presque  partout ; 
celle-ci  en  est  la  naive  peinture  des  vices  et  des  vertus.  Pourvu  qu'on  les  saehe 
mettre  leur  jour,  et  les  faire  connoitre  par  leurs  veritables  caracteres,  celles-ci 
se  feront  aimer,  quoique  malheureuses,  et  ceux-lä  se  feront  detester,  quoique 
triomphants.  Et  comme  le  portrait  d'uae  laide  femme  ne  laisse  pas  d'etre  beau, 
et  qu'il  n'est  pas  besoin  d'avertir  que  Foriginal  n'en  est  pas  aimable  pour  em- 
pecher  qu'on  l'aime,  ü  en  est  de  meme  dans  notre  peinture  parlante". 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  3q 


466 

Der  Aufsatz  über  die  Tragödie  beschäftigt  sich  ganz  besonders 
mit  dieser  Frage  und  der  Definition,  welche  Aristoteles  von  der  Auf- 
gabe der  Tragödie  giebt. 

Der  Stagirite  sagt  bekanntlich,  die  Tragödie  solle  so  angelegt  sein, 
daß  sie  durch  Furcht  und  Mitleid  eine  von  derartigen  Affekten  reini- 
gende Wirkung  übe.  Um  diese  Wirkung  zu  erreichen,  müsse  uns  der 
Dichter  Menschen  zeigen,  die  weder  vollkommen  gut,  noch  völlig  schlecht 
seien;  Menschen,  die  weder  durch  Tugend  und  Gerechtigkeit  besonders 
hochgestellt  seien,  noch  durch  Laster  und  Verworfenheit  ins  Unglück 
gestürzt  würden,  vielmehr  Menschen,  die  nicht  infolge  sittlicher  Schlech- 
tigkeit, sondern  schwerer  Verirrung  von  Unglück  betroffen  würden.^) 
Erst  Lessing  hat  diese  Definition  des  Aristoteles  richtig  aufgefaßt.  Cor- 
neille kam  über  die  alte  Erklärung  nicht  hinaus,  nach  welcher  die  Tra- 
gödie die  Zuschauer  von  den  in  dem  Stück  geschilderten  Leidenschaften 
reinigen  und  heilen  solle. 

Er  kann  sich  aber  deshalb  mit  der  so  verstandenen  Lehre  des 
Aristoteles  nicht  befreunden.  Sein  „Cid"  habe  großen  Erfolg  gehabt, 
meint  er,  und  widerlege  damit  den  Aristoteles.  Rodrigo  und  Chimene 
fehlen  nur  aus  Liebesleidenschaft,  aber  sie  erwecken  in  keinem  Zuschauer 
den  Abscheu  vor  der  Liebe  und  heilen  also  keineswegs  von  dieser 
Schwäche.  Auch  die  Erklärung  des  griechischen  Philosophen,  daß  es  der 
Zweck  der  Tragödie  sei,  Mitleid  und  Furcht  zu  erwecken,  und  daß  ihre 
Helden  weder  vollkommen  edel,  noch  vollkommen  schlecht  sein  dürften, 
scheint  ihm  nicht  ganz  richtig.  Er  beruft  sich  dabei  auf  seinen  „Poly- 
eucte".  der  außerordentlich  gefallen  habe,  obwol  der  Held  des  Stücks 
ohne  Fehl  sei.  Ebenso  seien  sein  Heraclius  und  Mcomede  vortreffliche 
Männer,  die  wol  Mitleid,  aber  keine  Furcht  einflößen  könnten.  Umgekehrt 
habe  die  „Rodogune"  gefallen  und  doch  sei  die  Hauptfigur  der  Tragödie, 
Königin  Kleopatra,  ein  durch  und  durch  verworfenes  Weib.  Sie  diene 
allerdings  als  warnendes  Beispiel  und  könne  die  Zuschauer  bessern.  Nicht 
als  ob  viele  Mütter  mit  dem  Gedanken  an  Kindesmord  sich  trügen,  aber 
manche  Frau  werde  doch,  gleich  Kleopatra,  durch  Habsucht  auf  einen 
falschen  Weg  geleitet,  und  erkenne  hier  vielleicht,  bis  wohin  jene  Leiden- 
schaft führen  könne.  Um  Aristoteles'  Ansicht  gelten  zu  lassen,  will  Cor- 
neille daher  die  Stelle  so  verstanden  wissen,  daß  die  Tragödie  entweder 
Mitleid  oder  Furcht  erwecken  müsse. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  Corneille  sich  in  seiner  Auslegung 
geirrt  und  die  Aufgabe  der  Tragödie  höchst  äußerlich  aufgefaßt  hat. 
Lessings  Erläuterungen  zu  der  Stelle  des  Aristoteles  gehören  gewiß  zu 
den  geistreichsten  und  scharfsinnigsten  Interpretationen,  die  je  versucht 
worden  sind.  Er  weist  überzeugend  nach,  daß  nach  der  Ansicht  des 
Aristoteles  die  Tragödie  zugleich  Mitleid  und  Furcht  in  uns  erregen  soll, 
Mitleid  mit  dem  Schicksal  des  Helden,  und  Furcht,  daß  das  „so  bemit- 
leidete Übel"   uns  selbst  treffen  könne.  Lessing  beweist,  daß  die  Tragödie 


1)  Siehe  Aristoteles,   Über  die  Dichtkunst,   ed.  M.  Schmidt,  S.  14  u.  15, 
sowie  S.  28—31. 


467 


die  Zuschauer  nicht  von  den  Leidenschaften  heilen  soll,  die  sie  ihnen 
auf  der  Bühne  vorführt,  sondern  daß  sie  „unser  Mitleid  und  unsere  Furcht 
erregen  soll,  bloß  um  diese  und  dergleichen  Leidenschaften,  nicht  aber 
alle  Leidenschaften  ohne  Unterschied  zu  reinigen".  Sie  soll  diese  Furcht 
reinigen  und  klären,  und  gerade  darin,  in  diesem  erhebenden  Moment 
liegt  die  sittliche  Stärkung,  welche  die  Tragödie  bietet. 

Mit  dieser  Erklärung  sind  alle  Einwände,  welche  Corneille  gegen 
Aristoteles  erhob,  widerlegt.  Deshalb  braucht  man  Corneille  dieses  Miß- 
verständnis nicht  als  Verbrechen  anzurechnen,  und  wenn  Lessing  be- 
hauptet, die  Aufsätze  Corneilles  hätten  der  französischen  Tragödie  in 
ihrer  Entwicklung  sehr  geschadet,  so  ist  er  zu  streng.  Lessing  meint, 
die  späteren  Zeiten  hätten  die  Ansichten  Corneilles  als  Orakelsprüche 
verehrt,  und  die  französische  Tragödie  würde  ohne  ihren  Einfluß  eine 
andere  Form  angenommen  haben.  Allein  dem  ist  nicht  so.  Daß  Cor- 
neille sehr  bald  nach  der  Veröffentlichung  seiner  Abhandlungen  eine  neue, 
ihm  nicht  gerade  freundlich  gesinnte  Dichterschule  sich  erheben  sah, 
widerlegt  die  Ansicht  von  seiner  alle  bezwingenden  Autorität. 

Von  größerem  Belang  als  diese  Untersuchungen  erscheinen  die 
Aufsätze,  in  welchen  sich  Corneille  über  die  einzelnen  Gesetze  der  dra- 
matischen KoTQposition  genauer  Rechenschaft  zu  geben  versuchte.  Denn 
diese  Ansichten  haben  oft  einen  bestimmenden  Einfluß  auf  seine  Werke 
ausgeübt.  Wir  sollten  hier  vielleicht  die  Gesetze  der  griechischen  Tragödie 
zur  Vergleichung  heranziehen,  denn  das  athenische  Theater  war  in  Frank- 
reich jedenfalls  lange  und  mehr  als  in  anderen  Ländern  das  Vorbild  der 
tragischen  Dichter.  Allein  wir  verschieben  diese  Gegenüberstellung  der 
durch  eine  zweitausendjährige  Kluft  getrennten  Welten  bis  zu  der 
Zeit,  da  wir  von  der  vollendeten  Form  zu  sprechen  haben,  in  welche 
Racine  die  nationale  Tragödie  zu  kleiden  wußte. 

Wir  wollen  hier  nur  das  Zunächstliegende  ins  Auge  fassen,  und 
sehen,  wie  sich  Corneille  den  Gesetzen  gegenüber  verhielt,  welche  von 
den  Gelehrten  aufgestellt  und  vom  Publikum  bereitwillig  hingenommen 
worden  waren,  die  aber  den  Dichtern  oft  sehr  lästig  und  hemmend  er- 
schienen. 

Corneille  verlangt  zunächst  als  Vorwurf  für  eine  dramatische  Dich- 
tung eine  mächtige  historische  Begebenheit.  Jede  Tragödie  soll  einen 
großen  Hintergrund  haben  und  eine  besondere  Idee  verkörpern.  In  seinem 
„Horace"  will  er  den  Patriotismus,  in  „Cinna"  die  letzten  Zuckungen 
der  republikanischen  Freiheit  in  Rom,  in  „Sertorius"  den  Widerstand 
gegen  die  Diktatur  einzelner  glücklicher  Feldherren  darstellen.  Noch  seine 
letzte  Tragödie  „Surena"  zeigt  den  Kampf  des  Orients  mit  dem  vor- 
dringenden Römertum.  Nicht  selten  irrt  sich  Corneille  in  seiner  Auf- 
fassung des  Stoffs  und  gefährdet  damit  von  Anfang  an  den  Erfolg  seiner 
Dichtung.  Aber  er  stellt  sich  mit  dieser  Anschauung  von  der  Aufgabe 
des  Dramas  auf  einen  hohen  Standpunkt,  und  seine  Dichtung  wird  freier 
und  idealeren  Schwungs  als  die  Werke  seiner  Zeitgenossen. 

Corneille  lehrt  ferner,  daß  die  Liebe  nur  die  zweite  Stelle  in  einer 
Tragödie   einnehmen    dürfe,    und  er  erlaubt    sich  öfters  heftige  Ausfälle 

30* 


468 


gegen  die  zarten,  schmachtenden  Dichter  seiner  Zeit,  welche  die  Liebes- 
sehnsucht als  einziges  Motiv  aller  Handlungen  kennen,  und  nur  Liebes- 
tragödien schreiben. \)  Nichtsdestoweniger  kranken  auch  seine  Helden  an 
dieser  von  ihm  getadelten  Schwäche.  Sie  tragen  alle  eine  große  Liebe 
im  Herzen;  so  verlangte  es  das  Ideal  des  Ritters  und  Helden,  wie  die 
damalige  Gesellschaft  es  verstand.  Die  Heroen  Corneilles  reden  viel  von 
ihrer  Liebe,  sind  galant  und  wahre  Muster  ritterlichen  Edelsinns.  Die 
Ehre  steht  ihnen  aber  noch  höher  als  die  Liebe.  In  ihrem  „großen  Sinn" 
besiegen  sie  die  gefährliche  Leidenschaft  und  opfern  sich  und  ihr  Glück 
der  großen  Sache,  die  sie  verteidigen.  Leider  hängt  von  dem  Kampf  mit 
der  Liebe,  den  sie  auszufechten  haben,  stets  die  Entscheidung  der  tra- 
gischen Verwicklung  ab,  und  so  mag  Corneille  eine  politische  Frage, 
eine  historische  Begebenheit  behandeln,  welche  er  will,  und  so  groß  sie 
sei,  er  schiebt  sie  zumeist  in  den  Hintergrund,  und  sein  Stück  dreht 
sich  fast  immer  um  eine  unbedeutende  und  oft  interesselose  Liebes- 
geschichte. Einen  Schritt  weiter,  und  die  Tragödie  räumt  der  Darstellung 
der  Herzenskämpfe ,  den  Schilderungen  der  Liebesleidenschaft  grund- 
sätzlich die  erste  Stelle  ein,  und  gelangt  damit  zu  Racine. 

In  seiner  dritten  Abhandlung  bespricht  Corneille  die  Gesetze  der 
dramatischen  Einheiten,  —  der  Handlung,  der  Zeit  und  des  Orts.  Er 
beschäftigt  sich  darin  zunächst  mit  der  Einheit  der  Handlung  (der  „unite 
d'action",  die  er  auch  „unite  d'intrigue"  und  „unite  de  peril"  nennt), 
und  erklärt  sich  mit  dieser  ersten  Forderung  für  völlig  einverstanden. 
Er  tadelt  sich  selbst,  daß  er  in  seinem  „Horace"  diese  Einheit  des  In- 
teresses nicht  gewahrt,  sondern  in  den  beiden  letzten  Akten  ein  völlig 
neues  Drama  angefügt  habe.  In  der  That  wird  niemand  die  Regel  von 
der  Einheit  der  Handlung  bestreiten,  wenn  sie  nicht  zu  engherzig  auf- 
gefaßt wird.  Schon  Euripides  erlaubte  sich  mehrere  Fabeln  in  einem 
Stück  zu  mischen,  und  Aristoteles  bezeichnet  diese  Art,  für  die  er  sich 
allerdings  nicht  begeistert,  als  episodische  Tragödie.  Die  französische 
Dichtung  faßte  aber  das  Gebot  der  Einheit  ganz  außerordentlich  streng 
auf  und  verbannte  jeden  Vorgang,  welcher  nicht  unumgänglich  notwendig 
zum  Verständnis  der  Haupthandlung  war.  Sie  vergaß,  daß  auch  im  Leben 
jede  größere  Begebenheit  durch  verschiedene  Einflüsse  bestimmt  wird 
und  auf  vielfache  Veranlassungen  zurückzuführen  ist.  Im  Streben  nach 
Klarheit  übersah  man,  daß  es  auch  eine  höhere  dramatische  Einheit 
giebt,  in  welcher  mehrere  scheinbar  getrennte,  nebeneinander  hergehende 
Handlungen  sich  schließlich  zusammenfinden.  Die  Tragödie  geriet  damit 
in  Gefahr,  leer  und  monoton  zu  werden  ;  sie  erlahmte  und  wurde  ver- 
anlaßt, die  Lücken  in  den  einzelnen  Akten  durch  ermüdende  Reden  und 
Gegenreden  auszufüllen. 

Von  dem  Gesetz  über  die  Einheit  gelangt  Corneille  in  seiner  Ab- 
handlung   zu  den  Regeln    über    den  Aufbau    der  Tragödie    und    zu  der 


*)  S.  u.  a.  seine  Vorrede  zur  „Sophonisbe"  1663.  Eacines  „Alexandre" 
erschien  erst  1665;  Corneilles  Tadel  ist  also  nicht  gegen  ihn,  sondern  gegen 
Quinault  gemünzt. 


469 


Verbindung  der  Scenen  untereinander,  zu  der  von  den  Franzosen  lange 
Zeit  so  hoch  gerühmten  Kunst  der  „liaison  des  scenes".  Die  Idee,  daß 
ein  jeder  Akt  ein  in  sich  abgeschlossenes  Kunstwerk  sein  müsse,  führte 
zu  der  Vorschrift,  daß  keine  völlige  Unterbrechung  in  dem  Spiel  ein- 
treten, und  die  Scene  während  eines  Aktes  nie  leer  bleiben  dürfe.  Über 
diese  Vorschrift  hatte  Corneille  schon  in  einem  früheren  Aufsatz  (in  der 
Ausgabe  von  1648)  gesprochen.  Er  giebt  zu,  daß  sie  weder  Aristoteles 
noch  Horaz  kennen,  daß  auch  Guarini  in  seinem  „Pastor  Mo"  sie 
nicht  beobachtet  habe.  So  wenig  kritischen  Sinns  war  die  Zeit,  daß  man 
eine  solche  Zusammenstellung  vertragen  konnte.  Auch  Corneille  hält  die 
Beobachtung  der  Regel  von  der  Verbindung  der  Scenen  nicht  für  uner- 
läßlich, aber  er  ist  der  Meinung,  daß  sie  zur  Verschönerung  eines  Werks 
beitrage.  Wie  äußerlich  man  damals  noch  alles  auffaßte,  zeigt  Corneille 
wieder  mit  seiner  Beweisführung.  Er  beruft  sich  auf  zwei  seiner  Frauen- 
rollen, die  Infantin  im  „Cid"  und  Sabine  im  „Horace".  Beide  seien 
ziemlich  passiv.  Aber  nur  die  erstere  werde  als  unnötig  getadelt.  Cor- 
neille findet  diesen  Tadel  nicht  ungerecht,  aber  er  sucht  den  Grund  dazu 
nur  in  dem  Umstand,  daß  die  Scene  einmal  nach  Abgang  der  Infantin 
leer  bleibe.^)  Ihr  Erscheinen  wäre  gerechtfertigt,  wenn  mit  ihrer  Hilfe 
eine  engere  Verbindung  der  Scenen  hergestellt  worden  wäre.  Die  Rolle 
der  Sabine  erfülle  diese  Aufgabe,  und  deshalb  werde  sie  geduldet,  obwol 
sie,  genau  betrachtet,  ebenso  unnötig  sei,  wie  die  Infantin. 

Das  zweite  Gesetz  bezieht  sich  auf  die  Einheit  der  Zeit  („l'unite 
de  temps").  Auch  Aristoteles  dringt  auf  die  Beobachtung  derselben. 
„Die  Tragödie,  sagt  er,  ist  nach  Möglichkeit  beflissen,  den  Zeitraum 
eines  Tags  als  Dauer  der  Handlung  innezuhalten,  oder  überschreitet  ihn 
nur  unbedeutend."^)  Corneille  quält  sich  nun  mit  der  Untersuchung  der 
Frage,  ob  ein  Tag  hierbei  als  ein  Zeitraum  von  24  oder  nur  von 
12  Stunden  zu  gelten  habe.  Die  großen  Begebenheiten,  die  sich  zumeist 
auf  eine  längere  Epoche  verteilen,  müßten  in  der  Tragödie  zusammen- 
gedrängt werden.  Er  beruft  sich  dabei  auf  Aeschylus,  der  in  seinem 
„Agamemnon"  zuerst  den  Wächter  die  Feuersignale  sehen  läßt,  welche 
den  Fall  Trojas  verkünden,  und  gleich  darauf  den  siegreich  heimkehrenden 
Völkerfürsten  selbst  einführt.  Der  Dichter  dürfte  nicht  zu  sehr  gegen 
die  Wahrscheinlichkeit  sündigen,  meint  Corneille.  Eine  Vorstellung,  welche 
höchstens  zwei  Stunden  dauere,  könne  doch  nicht  einen  gar  zu  langen 
Zeitraum  umfassen,  denn  die  dramatische  Dichtung  sei  eine  Nachahmung 
des  Lebens,  und  je  wahrscheinlicher  und  der  Wirklichkeit  entsprechender 
die  Entwicklung  des  Dramas  sich  gestalte,  umso  vollendeter  sei  es. 
Der  nüchtern  verständige  Sinn,  der  sich  in  dieser  Beweisführung  geltend 
macht,  irrt  diesmal,  oder  vielmehr,  er  sieht  zu  kurz.  Es  ist  dem  Zu- 
schauer gewiß  ebenso  schwer,  sich  vorzustellen,  daß  die  Ereignisse  sich 
im  Laufe  eines  Tags  so  überstürzen,  wie  die  französische  Tragödie  es 
häufig  zeigt,  als  binnen  zwei  Stunden  in  seiner  Phantasie  die  Begeben- 


')  Nach  ihrem  Monolog  I,  3. 

-)  Aristoteles,  ed.  M.  Schmidt,  p.  12  und  13. 


470 

heiten  mehrerer  Jahre  vorübergleiten  zu  lassen.  Die  Arbeit  der  Phantasie 
ist  dieselbe,  ob  sie  sich  im  Theater  eine  große  Begebenheit  als  in 
24  Stunden  oder  in  eben  so  viel  Monaten  abgespiegelt  vorstellen  soll. 
Beruht  doch  das  ganze  damatische  Spiel  auf  der  Mithilfe  der  Einbildungs- 
kraft des  Zuschauers.  Es  soll  wol  ein  Bild,  nicht  aber  eine  sklavische 
Nachahmung  des  menschlichen  Lebens  bieten. 

Um  aber  innerhalb  der  engen  Grenzen,  welche  durch  die  Regel 
der  dramatischen  Einheiten  für  die  Darstellung  einer  Begebenheit  ge- 
zogen sind,  doch  etwas  Freiheit  der  Bewegung  zu  bewahren,  empfiehlt 
Corneille  das  Mittel  der  Erzählungen.  Mit  ihrer  Hilfe  kann  man  jede 
grelle  That  von  der  Bühne  verbannen,  man  kann  aber  auch  die  Ereig- 
nisse selbst  beliebig  beschleunigen,  ohne  die  Handlung  auf  der  Bühne 
in  schnelleren  Gang  zu  bringen.  Die  Einrichtung  der  Scene,  besonders 
die  Zulassung  der  Zuschauer  [auf  ihr,  nötigte  die  Dichter,  immer 
häufigeren  Gebrauch  von  der  Erzählung  zu  machen,  und  schließlich  ver- 
schwand jeder  energische  Vorgang  von  der  Bühne.  '"So  wurde  die  Er- 
zählung, trotz  der  Kunst,  die  dabei  oft  angewandt  ward,  zu  einem 
der  leidigsten  Teile  der  französischen  Tragödie,  zumal  gewöhnlich  einer 
jener  frostigen  Vertrauten  den  Bericht  vorzutragen  hatte.  Sei  es  übrigens 
noch  einmal  bemerkt,  daß  Corneille  sich  dieser  Regel  nicht  erst  nach 
dem  „Cid"  unterwarf,  sondern  sie  schon  in  seinen  vorausgehenden  Lust- 
spielen beobachtete. 

Das  dritte  Gesetz  bezog  sich  auf  die  Einheit  des  Orts.  Die 
Griechen  kannten  es  nicht.  In  den  ,.Eumeniden"  des  Aeschylus  sieht 
man  zuerst  das  Heiligtum  zu  Delphi,  dann  wird  die  Scene  nach  Athen 
vor  den  Tempel  der  Pallas  und  zuletzt  in  den  Areopag  am  Fuß  des  Ares- 
hügels verlegt.  Der  „Ajax"  des  Sophokles  spielt  zuerst  im  Lager  der 
Griechen,  dann  in  einer  einsamen  Gegend  am  Ufer  des  Meers.  Es  war 
den  gelehrten  Ästhetikern  in  der  Zeit  der  Nach-Renaissance  vorbehalten, 
diese  Regel  von  der  Einheit  des  Orts  auszuklügeln.  Die  Dichter  sträubten 
sich  zwar  lang  gegen  sie,  allein  da  sie  sich  in  Bezug  auf  Handlung 
und  Zeit  so  strengen  Einschränkungen  unterwarfen,  konnten  sie  auf  die 
Dauer  auch  dieser  Forderung  nicht  widerstehen.  Corneille  hat  sich  seine 
Freiheit  bis  zu  einem  gewissen  Grad  in  dieser  Frage  gewahrt.  Im  „Cid" 
wechselt  der  Ort  mehrmals.  Daß  man  dabei  keine  Verwandlung  der  De- 
korationen brauchte,  werden  wir  später  sehen. ^)  In  „Cinna""  spielt  die 
Scene  bald  im  Palast  des  Augustus,  bald  im  Haus  der  Emilia,  im  „Men- 
teur"  sieht  man  sich  abwechselnd  im  Garten  der  Tuilerien  und  auf  der 
Place  Royale.  Auch  in  den  späteren  Stücken  erlaubte  sich  der  Dichter 
die  Scene  zu  wechseln.  Er  suchte  sich  mit  der  Erklärung  zu  helfen, 
daß,  wenn  ein  Stück  nur  in  demselben  Haus,  in  derselben  Stadt  oder 
in  der  Umgebung  der  Stadt  spiele,  die  Einheit  des  Orts  doch  gewahrt 
sei.  Nur  drei  seiner  Stücke,  „Horace",  „Pompee"  und  „Polyeucte",  be- 
wahren die  Einheit  des  Orts  ganz  streng.  Die  erste  Tragödie  spielt  in 
einem  Saal  in  der  Behausung    des  greisen  Horatius,   „Pompee"  in  dem 


Siehe  Abschnitt  XI,  „Die  Bühne  und  die  Vorstellungen" 


471 


königlichen  Palast  zu  Alexandria  und  „Polyeucte"  in  einem  Vorsaal,  der 
zu  den  Gemächern  des  Felix,  des  Polyeucte  und  der  Pauline  führt.  Die 
Eücksicht  auf  diese  Einheit  nötigte  den  Dichter  bereits,  Polyeucte  seihst 
als  Gefangenen  in  diesem  Saal  bewachen  zu  lassen.  Die  Bestimmung  des 
Orts  wurde  in  der  französischen  Tragödie  mit  der  Zeit  immer  unbe- 
stimmter und  verschwommener,  und  das  folgende  Jahrhundert  verlegte 
die  Tragödien  oft  in  einen  ganz  ideal  gehaltenen  Raum. 


In  seinen  aphoristischen  Bemerkungen  über  die  französische  Litte- 
ratur  hat  La  Bruyere  ein  feines  Urteil  über  Corneille  gefällt.  Er  ver- 
gleicht ihn  mit  Racine.  Denn  die  Frage  über  den  Wert  der  beiden 
Dichter  und  den  Vorzug,  der  dem  einen  vor  dem  andern  gebühre,  wurde 
damals  in  Frankreich  ebenso  eifrig  verhandelt,  wie  später  in  Deutsch- 
land der  Streit  über  die  Stellung,  welche  Goethe  und  Schiller  zu  ein- 
ander einnehmen. 

La  Bruyere  sagt  an  der  erwähnten  Stelle:  „Corneille  ist  in  seinen 
besten  Stellen  unerreichbar;  er  hat  dann  ein  ihm  eigentümliches  Ge- 
präge, das  nicht  nachgeahmt  werden  kann.  Aber  er  ist  ungleich.  Cor- 
neille zwingt  uns  seine  Charaktere  und  seine  Ideen  auf,  Racine  schmiegt 
sich  den  unseren  an;  jener  zeichnet  die  Menschen,  wie  sie  sein  sollten, 
dieser  zeichnet  sie,  wie  sie  sind.  Der  erstere",  setzt  er  hinzu,  „wirke 
mehr  mit  dem  Verstand,  der  andere  durch  die  Leidenschaft".^)  Diese 
Worte  sind  zwar  sehr  anerkennend  für  Corneille,  enthalten  aber,  ohne 
es  zu  wollen,  einen  starken  Tadel.  Wenn  Corneille  seine  Menschen 
zeichnet,  wie  sie  sein  sollten,  und  nicht,  wie  sie  sind,  so  entsprechen 
seine  dramatischen  Gemälde  nicht  der  Wirklichkeit,  sind  nicht  in  allen 
Punkten  wahr.  Wir  bestreiten  diese  Auffassung  keineswegs.  Aus  allen 
Dramen  Corneilles  geht  hervor,  daß  er  nur  wenig  in  der  Weit,  im  Ver- 
kehr mit  den  Menschen  gelebt  hat.  Die  eigentliche  Menschenkenntnis 
geht  ihm  ab;  er  dringt  nicht  in  die  Tiefe  des  Herzens,  um  den  ge- 
heimsten Regungen  der  menschlichen  Natur  nachzugehen  und  die  lei- 
sesten Schwingungen  der  Seele  zu  erforschen.  Corneille  bildet  seine  Fi- 
guren aus  der  Phantasie  heraus,  oft  über  Lebensgröße ;  er  verleiht  ihnen 
riesige  Verhältnisse,  gewaltige  Leidenschaften.  Sein  Talent  verweist  ihn 
auf  die  große  Komposition;  er  muß  „al  fresco"  malen.  Aber  seine  Welt 
ist  nicht  recht  die  unsere.  Sie  ist  vielleicht  größer,  fester^  und  seine 
Menschen  erscheinen  anders  geartet.  Seine  Helden  haben  etwas  Starres; 
so  sind  sie,    so  bleiben  sie.     Von  psychologischer  Entwicklung  ist  nicht 


1)  La  Bruyere,  „Caracteres"  in  dem  Kapitel  „Des  ouvrages  de  Tesprit", 
Nr.  54:  „Corneille  ne  peut  etre  egale  dans  les  endroits  oü  il  excelle;  11  a  pour 
lors  un  caractere  original  et  inimitable;  mais  il  est  inegal.  ..  Corneille  nous 
assujettit  ä  ses  caracteres  et  ä  sesidees;  Kacine  se  conforme  aux  nötres;  celui- 
lä  peint  les  hommes  comme  ils  devraient  etre,  celui-ci  les  peint  tels  qu'ils  sont. . . 
Ce  qu'il  y  a  de  plus  beau,  de  plus  noble  et  de  plus  imperieux  dans  la  raison, 
est  manie  par  le  premier ;  et  par  l'autre  ce  qu'il  y  a  de  plus  fiatteur  et  de  plus 
delicat  dans  la  passion". 


472 


viel  bei  ihnen  zu  findea ;  Corneille  kennt  keine  schwankenden,  keine  wer- 
denden Charaktere.  Er  zeigt  nirgends ,  wie  selbst  ein  starker  Mensch 
unter  dem  Druck  der  Begebenheiten  sich  allmählich  wandeln  kann,  wie 
ein  Macbeth  zum  Tyrannen  wird,  wie  sich  Nero  aus  einem  wohlwollenden 
Kegenten  zum  blutigen  Ungeheuer  entwickelt.^)  Corneille  giebt  seinen 
Charakteren  ein-  für  allemal  ihre  Haltung.  Seine  Personen  sagen  selbst, 
wie  sie  sind,  und  sie  sagen  es  öfters  da,  wo  sie  es  besser  durch  Thaten 
kund  thäten.  Corneille  stellt  in  seinen  Dramen  verschiedene  Charaktere 
einander  gegenüber,  und  aus  ihrem  Zusammenstoß  entsteht  ein  Konflikt, 
der  gewöhnlich  mit  dem  Untergang  des  einen  Kämpfers  endet.  In  diesem 
Zwiespalt  giebt  es  kaum  einen  Zweifel,  ein  Bedenken ;  ein  jeder  schreitet 
gerade  auf  seinem  Weg  fort.  Der  Cid  zögert  einen  Moment,  ob  er  dem 
Gebot  der  Ehre  oder  der  Liebe  folgen  soll.  Aber  nach  diesem  einen 
Augenblick  der  Schwäche  ist  er  gefeit  und  fest.  So  hat  auch  Cinna  einen 
Moment  des  Schwankens,  aber  seine  Emilia,  die  eigentliche  Heldin  des 
Stücks,  kennt  keine  Schwäche,  so  wenig  wie  Polyeucte.  In  .,Horace" 
sind  die  Römer  wie  aus  einem  Guß,  ehern  und  kaum  einer  menschlichen 
Rührung  fähig;  selbst  Kamilla  hat  etwas  Starres  in  ihrem  Charakter, 
und  nur  Curiatius,  der  Vertreter  des  unterliegenden  Volkes,  zeigt  wahr- 
haft humane  Regungen.  Vielleicht  in  dem  Bewußtsein  dieser  etwas  ge- 
waltsamen Charakteristik  bemüht  sich  Corneille  ersichtlich  um  psycholo- 
gische Detailmalerei,  allein  er  wird  dabei  zu  leicht  subtil  und  verliert 
sich  in  Kleinigkeiten.  Dazu  kommt  seine  Vorliebe  für  den  Redekampf. 
Nur  zu  häufig  stellt  er  zwei  Feinde  einander  gegenüber  und  läßt  sie 
ihre  Sache  wie  vor  Gericht  verteidigen.  Dann  sehen  wir  keine  Hand- 
lungen, sondern  hören  nur  Reden  darüber,  und  man  gedenkt  dabei  leicht 
der  äußeren  Lebensstellung  des  Dichters. 

So  streiten  in  „Horace"  (III,  4)  in  dem  Augenblick,  da  das  ganze 
Glück  der  Familie  und  des  Vaterlands  auf  dem  Spiel  steht,  Sabina  und 
Kamilla  miteinander,  wer  von  ihnen  mehr  verlieren  könne.  Auch  der 
ganze  fünfte  Akt  dieses  Schauspiels  ist  nur  eine  Gerichtsscene  mit  An- 
klage- und  Verteidigungsreden  und  dem  schließlichen  Urteil.  Ein  an- 
deres Beispiel  bietet  „Don  Sanche".  In  diesem  Stück  soll,  wie  schon 
früher  erzählt  worden  ist,  die  Königin  Isabella  von  Kastilien  zur  Wahl 
eines  Gemahls  schreiten.  Die  Stände  des  Reichs  haben  ihr  aus  den  Großen 
des  Landes  drei  edle  Herren  vorgeschlagen,  und  diese  sollen  sich  nun 
im  Einzelkampf  mit  Don  Carlos  messen.  Wer  ihn  besiegt,  erhält  die 
Hand  der  Fürstin.  Don  Alvar  wird  zuerst  aufgerufen,  aber  vor  dem  Be- 
ginn des  Zweikampfs  enthüllt  er  uns  seine  Verlegenheit.  Er  liebt  die 
Prinzessin  Elvira;  siegt  er,  so  gewinnt  er  zwar  die  Hand  der  Königin 
und  die  Krone,  aber  er  verliert  seine  Geliebte.  Der  Sieg  würde  ihm 
darum  wie  eine  Strafe  erscheinen.  Also,  wird  man  denken,  verzichtet  er 
auf  den  Kampf  und  den  möglichen  Sieg.  Mit  nichten.  Einem  Tliron  zu 
entsagen,  wenn  man  ihn  erlangen  kann,  ist  nach  den  Anschauungen 
jener  fiktiven  Ritterwelt  unehrenhaft.    Don  Alvar  wäre  Elvirens  unwert, 


')  Wie  in  Racines  „Britannicus' 


473 

wenn  er  sie  in  einem  solchen  Fall  nicht"  aufgäbe.  Er  streitet  also  um 
Isabellens  Besitz,  d.  h.  er  kämpft  in  der  Absicht,  Elvira  zu  verlieren; 
aber  er  will  sie  nur  verlieren,  um  sich  ihrer  würdig  zu  erweisen.  Das 
ist  keine  Leidenschaft  mehr  und  kein  wahres  Gefühl,  das  ist  schon 
Künstelei,  zumal  der  ritterliche  Don  Alvar  nicht  bedenkt,  daß  er  im 
Fall  des  Siegs  sich  einer  Täuschung  der  Königin,  die  auf  Liebe  rechnet, 
schuldig  machen  würde.  Derlei  Beispiele  könnten  noch  mehr  angeführt 
werden. 

Die  Zeitgenossen  rühmten  Corneille  nach,  daß  er  die  Personen 
seiner  geschichtlichen  Dramen  nicht  reden  lasse,  wie  moderne  Menschen, 
sondern  daß  er  ihnen  den  historischen  Charakter  gebe  und  sie  im  Geist 
ihrer  Zeit,  im  Charakter  ihres  Landes  sprechen  lasse.  Diese  Bemerkung 
ist  richtig,  wenn  man  Corneilles  Dichtungen  mit  den  Erzeugnissen  an- 
derer gleichzeitiger  und  späterer  Dramatiker  vergleicht.  Man  würde  heute 
sagen,  daß  Corneille  die  Lokalfarbe  zu  bewahren  strebt,  allerdings  nicht 
in  der  pedantischen  Weise  des  modernen  Theaters,  das  oft  die  ganze 
Kunst  in  den  Aufgaben  des  Dekorateurs  und  des  Regisseurs  zu  finden 
scheint. 

Saint-Evremont,  der  bekannte  Kritiker  des  17.  Jahrhunderts  und 
ein  warmer  Verehrer  Corneilles,  sagt  in  einem  seiner  Aufsätze  über  den 
„Alexandre"  des  Racine,  dem  jungen  Dichter  fehle  noch  das  wahre  Ver- 
ständnis des  Altertums.  Diejenigen,  welche  einen  Helden  der  alten  Ge- 
schichte dramatisch  behandeln  wollten,  müßten  zuvor  in  den  Geist  des 
zu  schildernden  Volkes  eindringen,  sowie  den  Charakter  des  Helden  selbst 
und  seiner  Zeit  ergründen.  Ein  asiatischer  Despot  müsse  anders  als  ein 
römischer  Konsul  reden.  Aber  man  liebe  diese  historische  Treue  in  Frank- 
reich nicht.  Das  habe  Corneille  bei  seiner  „Sophonisbe"  erfahren,  die 
nur  deshalb  mißfalle,  weil  darin  die  karthagische  Fürstentochter  ihrem 
Charakter  gemäß  gezeichnet  sei.')  Saint-Evreniont  irrt  hier  mit  seinem 
Dichter.  Nicht  die  historische  Treue  an  sich  mißfiel,  sondern  daß  Cor- 
neille im  Eifer,  historisch  wahr  zu  sein,  die  Gesetze  der  dramatischen 
Schönheit  verletzte.  Der  Dichter  darf  nie  vergessen,  daß  er  für  Menschen 
seiner  eigenen  Zeit  und  seines  eigenen  Landes  dichtet,  und  daß  er  nicht 
jeden  fremden,  ungeregelten  Sinn ,  jede  wilde  Leidenschaft  als  Zeichen 
eines  heroischen  Geistes  kann  gelten  lassen.  Unter  welchem  Kostüm  der 
Dichter  den  Menschen  auch  zeige,  er  muß  stets  die  menschliche  Natur 
schildern,    wie    wir    sie    verstehen.^')    Corneille    hat   die  verschiedensten 


1)  Saint-Evremont,  Dissertation  sur  la  tragedie  de  Racine,  intitulee 
Alexandre  le  Grand,  II.  Bd.  S.  300,  in  der  Amsterdamer  Ausgabe  1706 :  „De  lä 
vient  t|u'on  nous  reproche  justement  de  ne  savoir  las  choses  (jue  par  le  rapport 
«lu'elles  ont  avec  nous;  dont  Corneille  a  fait  une  injuste  et  fächeuse  experience 
dans  sa  „Sophonisbe"....  Corneille,  qui  presque  seul  a  le  bon  goüt  de  l'anti- 
quite,  a  eu  le  malheur  de  ne  plaire  pas  ä  notre  siecle,  pour  etre  entre  dans  le 
genie  de  ces  nations,  et  avoir  conserve  ä  la  fiUe  d'Asdrubal  son  veritable  ca- 
ractere. " 

2)  Die  historische  Wahrheit  ist  dem  dramatischen  Dichter  nicht  Zweck, 
sondern  Mittel  zum  Zweck  —  sagt  Lessing  (Dramaturgie,  11.  Stück). 


474 

Völkerstämme  auf  die  Bühne  gebracht,  abei'  es  ist  ihm  nicht  immer  ge- 
lungen, in  seinen  Personen  das  Pulsieren  eines  warmen  Herzens  zu 
zeigen.  „Corneilles  Griechen  reden  besser,  als  die  wirklichen  Griechen 
einst  geredet  haben",  ruft  Saint-Evremont  begeistert  aus,  „und  seine 
Kömer  und  Karthager  besser,  als  die  ehemaligen  Bewohner  von  Rom 
und  Karthago!"  Dieses  Lob  und  das  anerkennende  Urteil  La  Bruyeres 
enthalten  genau  denselben  Tadel. 

Charakteristisch  für  Corneille  ist  besonders  die  Art,  wie  er  seine 
Heldenfiguren  als  fehler-  und  fleckenlose  Muster  hinstellt.  Er  freut 
sich  ihrer  moralischen  Größe,  ihrer  Reinheit  und  ihres  edlen  Sinnes. 
Eodrigo,  Polyeucte,  Cäsar,  Xicomede,  Don  Sanche,  Heraclius  gehören 
alle  zu  diesen  ideal  gehaltenen  Charakteren.  Corneille  lehrt  in  seinen 
Dramen  wie  kaum  ein  anderer  Dichter  den  Adel  der  Pflichterfüllung,  die 
Größe  selbstloser  Hingebung  und  heroischen  Opfermuts.  Freilich  ver- 
lieren seine  Helden  an  dramatischem  Interesse,  wenn  sie  jeder  mensch- 
lichen Schwäche  bar  erscheinen.  Aber  was  die  Dichtung  einbüßt,  gewinnt 
der  Dichter.  Es  ist  ein  bemerkenswerter  Zug  in  seinem  Charakter,  daß 
er  sich  in  dem  Gedanken  menschlicher  Größe  wie  berauschen  konnte. 

Verbrecherische  und  elende  Charaktere  finden  sich  dementsprechend 
nicht  viel  in  der  großen  Reihe  seiner  dramatischen  Gestalten,  und  wenn 
er  einen  Verbrecher  oder  einen  Tyrannen  zeichnet,  giebt  er  auch  ihm 
immer  noch  einige  menschliche  Regungen. 

Attila  freilich  ist  ohne  einen  gewinnenden  Zug  geschildert,  und 
furchtbarer,  unmenschlicher  noch  als  er  erscheint  Kleopatra  in  der  „Rodo- 
gune".  Sie  ist  ein  Ausbund  von  Abscheulichkeit,  die  keiner  Regung  des 
Mitleids  zugänglich  ist  und  die  eigenen  Söhne  dem  Tod  weiht,  wie  sie 
Jahre  zuvor  ihren  Gemahl  ermordet  hat.  Die  Berechtigung  eines  solchen 
Charakters  mag  manchen  fraglich  erscheinen,  weil  sie  nicht  an  die  ab- 
solute Schlechtigkeit  eines  Menschen  glauben  mögen.  Jedenfalls  haben 
Shakespeare  in  Eichard  IIL  und  Jago,  Schiller  in  seinem  Franz  Moor 
würdige  Gegenstücke  geboten.  Lessing  urteilt  streng,  wenn  er  bei  Be- 
sprechung der  „Rodogune"  sagt:  „Dergleichen  miß  geschilderte  Charak- 
tere, dergleichen  schaudernde  Tiraden  sind  bei  keinem  Dichter  häufiger 
als  bei  Corneille,  und  es  könnte  leicht  sein,  daß  sich  zum  Teil  sein  Bei- 
name des  Großen  mit  darauf  gründe.  Es  ist  wahr,  alles  atmet  bei  ihm 
Heroismus,  aber  auch  das,  was  keines  fähig  sein  sollte  und  wirklich 
auch  keines  fähig  ist,  das  Laster.  Den  Ungeheuren,  den  Gigantischen 
hätte  man  ihn  nennen  sollen,  nicht  den  Großen.  Denn  nichts  ist  groß, 
was  nicht  wahr  ist."  ^  Wenn  Lessing  von  Crebillon  so  gesprochen  hätte, 
wäre  es  richtiger  gewesen.  Corneille  aber  hat  im  allgemeinen  keinen  Ge- 
fallen an  dem  absolut  Greulichen. 

Die  Vorzüge  des  Corneille'schen  Dramas  liegen  nicht  zum  gering- 
sten Teil  in  den  kraftvoll  gestalteten  Situationen,  in  der  Macht  der  be- 
geisterten Rede,  die  wie  ein  Strom  donnernd  dahinbraust  und  das  Herz 
des  Zuhörers  in  mitfühlendem  Jubel  schwellen  oder  ihn  in  banger  Sorge 


^)  Lessings  Dramaturgie,  31.  Stück. 


475 


erzittern  macht.  Corneille  ist  Meister  in  der  Kunst,  zu  packen,  zu  er- 
schüttern, mit  sich  fortzureißen;  sein  Dialog  ist  oft  fesselnd  und  span- 
nend. Das  spanische  Theater  hatte  ihn  das  Geheimniß  gelehrt,  wie  ein 
Drama  energisch  vorangeführt  werden  muß  und  ihn  zugleich  in  seinem 
verwandten  heroischen  Naturell  bestärkt.  Er  selbst  charakterisiert  sich 
einmal  sehr  richtig  als  eine  „Mischung  von  Kraft  und  Klarheit".') 
Darum  gelang  ihm  auch  der  Ausdruck  milder  Wehmut  viel  weniger  und 
das  Naive  fehlte  ihm  gänzlich. 

Oorneilles  Sprache  trägt  das  Gepräge  seines  Geistes.  Sie  ist  markig 
und  nachdrücklich,  klar  und  bestimmt,  aber  ungleich.  Sein  Wortvorrat 
ist  groß,  und  er  scheut  auch  die  Ausdrücke  des  gewöhnlichen  Lebens 
nicht.  In  der  Zeit  der  raschen  sprachlichen  Entwicklung  hat  er  viel  von 
dem  Reichtum  der  früheren  Epoche  bewahrt,  und  doch  spricht  er  bereits 
mit  der  stilvollen  Beschränkung  der  späteren  Zeit.  Wie  seine  Dramen 
direkt  und  ohne  Episodenbeiwerk  auf  ihr  Ziel  lossteuern,  so  ist  auch 
seine  Sprache  knapp  und  entschieden.  Es  ist  ihr  mehr  um  die  Sache 
zu  thun  als  um  den  Schmuck.  Corneille  ist  im  Gebrauch  von  Bildern 
und  poetischen  Umschreibungen  mäßig,  aber  seine  Rede  ist  doch  öfters 
rhetorisch  gefärbt.  Sie  liebt  Antithesen  und  symmetrisch  gebaute  Kon- 
struktionen. In  diesem  Punkt  unterscheidet  sich  Corneille  wesentlich  von 
Racine,  der  in  Gedanken  und  Haltung  einfacher,  in  der  Behandlung 
der  Sprache  aber  kunstvoller  ist.  Corneilles  Stil  ist  altvaterisch  ver- 
glichen mit  der  wie  ein  Kunstwerk  ausgearbeiteten,  fein  ciselierten, 
bilderreichen  Sprache  Racines.  Corneille  redet  fest,  männlich,  mit  prä- 
gnanter Kürze,  gerät  dabei  aber  leicht  in  falsches  Pathos  und  wird  un- 
gelenk; Racine  ist  leidenschaftlich  und  bezaubert  den  Zuhörer  allein 
schon  durch  die  Harmonie  seiner  Verse. ^) 

^)  Corneille,  Vers  ä  Foucquet,  als  Widmung  vor  seinem  „Oedipe",  v.  47  ff: 

Que  dix  lustres  et  plus  n'ont  pas  empörte 
Cet  assemblage  heureux  de  force  et  de  clarte, 
Ces  Prestiges  secrets  de  l'aimable  imposture 
Qu'ä  l'envi  m'ont  pretee  et  l'art  et  la  nature. 

.  '^)  Ein  Beispiel  des  symmetrischen  Aufbaues,  „Cid",  II,  8,  v.  13 : 
Sire,  mon  pere  est  mort;  raes  yeux  ont  vu  son  sang 
Couler  ä  gros  bouillons  de  son  genereux  flaue; 
Ce  sang  qui  tant  de  fois  garantit  vos  murailles, 
Ce  sang  qui  tant  de  fois  vous  gagna  des  batailles, 
Ce  sang  qui  tout  sorti  fume  encor  de  courroux 
De  se  voir  repandu  pour  d'autres  pour  vous... 
Oder  „Cid",  IV,  3,  v.  91 : 

Et  la  terre,  et  le  fleuve,  et  leur  flotte  et  le  port 
Sont  des  champs  de  carnage  oii  triomphe  la  mort. 

Beispiele  von  Antithesen,  Cinna,  I,  3,  21: 

Vous  eussiez  vu  leurs  yeux  s'enflammer  de  fureur, 
Et  dans  un  meme  instant,  par  un  effet  contraire, 
Leur  front  pälir  d'horreur  et  rougir  de  colere. . . 

Oder  noch  gesuchter,  Polyeucte,  II,  2,  10,  Severe  sagt,  daß  er  in  der  Schlacht 

den  Tod  suchen  will: 


476 

Unter  Corneilles  23  historischen  und  mythologischen  Schauspielen 
behandelt  nur  der  ,.Cid"  eine  Begebenheit  der  neueren  Geschichte;  am 
zahlreichsten  sind  die  ßömerdramen  vertreten.  Bei  der  unbestrittenen 
Herrschaft  der  klassischen  Studien  in  der  damaligen  Zeit  war  die  Vor- 
liebe für  dramatische  Bearbeitung  der  alten  Geschichte  nur  natürlich. 
Der  Dramatiker  hatte  zudem  den  Vorteil,  daß  er  in  diesen  längst  ver- 
gangenen Begebenheiten  ein  großes  kräftiges  Leben  und  doch  neutralen 
Boden  fand.  So  bewegt  sich  denn  auch  Corneille  mit  Vorliebe  im  alten 
Rom.  „Corneille  lebt  zu  ßouen,  doch  sein  Geist  ist  in  Rom",  sagt  ein 
moderner  Dichter  von  ihm.^)  Entgegen  den  Lobsprüchen  Saint-Evremonts 
finden  wir  freilich  in  Corneilles  Römerdramen  keine  große  historische 
Treue ;  sie  versetzen  uns  vielmehr  in  eine  eingebildete  Welt.  Wie  Balzac 
diese  römische  Welt  verstanden  und  sie  der  Gesellschaft  des  Hauses 
Rambouillet  zu  Gefallen  aufgeputzt  hatte,  haben  wir  schon  gesehen.-) 
Aber  ist  das  Bild  der  alten  hellenischen  und  römischen  Zustände,  wie 
es  sich  die  moderne  Zeit  entwirft,  nicht  auch  nur  eine  Fiktion?  In  der 
Bemerkung,  daß  die  französischen  Römerdramen  unhistorisch  sind,  liegt 
also  kein  Vorwurf.  Aber  sie  fehlen  darin,  daß  sie  die  menschliche  Natur, 
die  sich  immer  gleich  bleibt,  insofern  entstellen,  als  sie  den  Helden  des 
Altertums  einen  Heroismus  geben,  der  mehr  und  mehr  erstarrt  und  sich 
schließlich  nur  in  sonoren  Phrasen  vom  Römertum  ergeht.  Auch  Cor- 
neilles Dramen  sind  nicht  frei  von  diesem  Fehler.  Schon  im  „Pompee" 
macht  sich  diese  Richtung  geltend  und  gewinnt  in  den  späteren  Werken 
immer  mehr  an  Kraft. 

Was  ihnen  aber  dennoch  eine  gute  Aufnahme  sicherte,  war 
die  Übereinstimmung  des  Dichters  mit  seinem  Publikum  in  der  Auf- 
fassung der  Begriffe  von  Ehre  und  Ruhm.  Die  Dichtungen  Corneilles 
waren    für  ein  kriegerisches  Volk,    für   einen  unruhigen,  kriegslustigen 


Si  toutefois.  apres  ce  coup  morte)  du  sort, 
J'ai  de  la  vie  assez  pour  chereher  une  mort. 

Berühmt  ist  das  Wort  des  Cid  (IV,  3,  65)  von  der  „obscure  clarte  qui 
tombe  des  etoiles". 

Schließhch  seien  auch  einige  Stellen  angeführt,  welche  die  Art  des 
knappen,  kräftigen  Ausdrucks  erkennen  lassen. 

Horatius,  II,  1,  39: 

Qui  veut  mourir  ou  vaincre,  est  vaincu  rarement. 
Horatius,  IV,  5,  32: 

Je  Fadorois  vivant,  et  je  le  pleure  mort. 
Cinna,  III,  4,  85: 

Pour  etre  plus  quun  roi,  tu  te  crois  quelque  chose! 
Heraclius,  II,  1,  39  :  „Das  Bild  eines  Tyrannen" : 

S'il  ne  craint,  il  opprime,  et  s'il  n'opprime,  il  craint. 
^)  Victor  Hugo,  Contemplations,  t.  I,  livre  1,  n^  9 : 

Corneille  est  ä  Reuen,  mais  son  äme  est  ä  Rome. 
2j  Siehe  I.  Teil.  VII,  S.  113. 


477 


Adel  eine  kräftige  Anregung;  mochte  das  Ideal  irrig  sein,  es  war  nicht 
entnervend,  sondern  stärkte  den  Sinn  zu  mutiger  That.  Das  erklärt  die 
Vorliebe  Napoleons  für  Corneille;  sagte  er  doch,  er  hätte  den  Dichter 
zu  einem  Fürsten  und  Pair  seines  Soldatenreichs  erhoben,  wenn  er  zu 
seiner  Zeit  gelebt  hätte. 

Ähnlichen  Charakters  wie  die  Helden  Corneilles  sind  auch  seine 
Frauengestalten.  Auch  bei  ihnen  zeigt  sich  mehr  Abstraktion  als  wirk- 
liche Menschenkenntnis.  Frauencharaktere  so  zarter,  hingebender  Natur, 
wie  sie  Racine  in  seiner  „Andromaque",  seiner  „Monime",  seiner  „Iphi- 
genie"  schuf,  sucht  man  bei  Corneille  vergebens.  Er  bildet  lieber  Hel- 
dinnen, heroisch,  groß  und  hoheitsvoll.  Zwar  läßt  er  Dirce  sagen,  daß 
die  Frauen  vom  Himmel  geschaffen  seien,  um  zu  lieben  und  geliebt  zu 
werden,-)  aber  er  zeichnet  in  ihnen  doch  vor  allem  Heldinnen,  die 
nichts  Höheres  als  Ehre  und  Euhm  kennen  und  jedes  weichere  Gefühl 
ihren  Geboten  unterwerfen.  Sie  haben  alle  eine  gewisse  Familienähnlich- 
keit, hassen  selbst  aus  Pflichtgefühl  und  schreiten  ihrem  Ziel  zu,  un- 
bekümmert ob  der  Folgen,  die  sie  treffen  können.  Umso  merkwürdiger 
ist  es,  daß  gerade  Corneilles  Frauenbilder  populär  geworden  sind.  Die 
großen  Figuren  einer  Chimene,  Kamilla  und  Paulina  sind  in  das  Be- 
wußtsein des  Volkes  übergegangen,  wie  kaum  eine  andere  Gestalt  der 
Dichtung;  sie  sind  gleich  Heldinnen  der  nationalen  Geschichte  noch  heute 
lebendig.  Auch  in  seinen  späteren  Dramen  finden  sich  ähnliche,  wenn 
auch  blassere  Figuren,  so  Pulcherie,   Viriate  und  Aristie. 

Kein  Wunder,  daß  der  Dichter  lange  Zeit  der  Liebling  gerade  der 
Frauen  war.  Die  französischen  Damen,  die  sich  in  der  Zeit  der  Fronde 
an  die  Spitze  des  Aufstands  stellten  und  das  Volk  zum  Kampf  auf- 
riefen, wie  die  Herzogin  von  Longueville  oder  wie  Mademoiselle  de  Mont- 
pensier,  waren  zwar  keineswegs  Muster  von  Reinheit  und  sittlicher  Größe, 
und  konnten  keinen  Anspruch  erheben,  als  Ideal  echter  Weiblichkeit  ge- 
ehrt zu  werden,  aber  sie  hatten  Kraft  und  Energie  und  fühlten  in  sich 
einen  Hauch  jenes  Geistes,  der  die  Heldinnen  Corneilles  belebte.  „Vive 
donc  notre  vieil  ami  Corneille!"  rief  Frau  von  Sevigne  noch  entzückt 
aus,  als  schon  längst  eine  andere  Zeit  angebrochen  war.  andere  An- 
schauungen herrschten  und  der  Sänger  des  Heroismus  anfing,  vernach- 
lässigt zu  werden.^) 


1)  Oedipe,  1. 1,  65. 

2)  Mme.  de  Sevigne  ä  Mrae.  de  Grignan,  16  mars  1672:  „Vive  donc  notre 
vieil  ami  Corneille!  Pardonnons-lui  de  mechants  vers,  en  faveur  des  divines  et 
sublimes  beautes  qui  nous  transportent :  ce  sont  des  traits  de  maitre  qui  sont 
inimitables". 


X. 

Rotrou  und  Du  Ryer. 

Neben  Corneille  kannte  die  Zeit  der  „fröhlichen"  Regentschaft 
noch  viele  Dichter,  deren  dramatische  Werke  sich  großen  Beifalls  er- 
freuten. Doch  hat  die  Nachwelt  die  meisten  von  ihnen  so  gut  wie  ver- 
gessen, und  die  Namen  nur  weniger  Männer  in  ehrender  Erinnerung 
bewahrt.  Wir  nennen  hier  nur  Jean  de  Kotrou  und  Pierre  du  Ryer. 
Auch  ihre  Arbeiten  sind  zwar  veraltet,  allein  man  erkennt  in  ihnen 
doch  dramatisches  Talent,  und  wir  sehen  aus  ihnen  am  besten,  was 
Corneille  mit  den  zeitgenössischen  Dramatikern  gemein  hatte  und  worin 
er  sich  von  ihnen  unterschied. 

Jean  de  Rotrou  stammte  aus  einer  angesehenen  Familie  von  Dreux 
in  der  Provinz  Isle  de  France  (heute  Departement  Eure  et  Loire).  Die 
Familie  Rotrou  rühmte  sich,  dem  Staatsdienst  und  dem  Richterstand 
schon  viele  tüchtige  Männer  geliefert  zu  haben.  Jean  de  Rotrou  selbst 
war  am  19.  August  1609  geboren,  also  drei  Jahre  jünger  als  Corneille. 
Von  seinen  Lebensschicksalen  wird  uns  nicht  viel  berichtet.  Zu  keiner 
Partei  gehörig,  und  unbekümmert  um  äußeren  Erfolg,  hat  er  niemand 
mit  Lobgedichten  geschmeichelt,  aber  auch  keinem  mit  feindlichem  Tadel 
weh  gethan.  Er  ist  wie  ein  sorgloser  Geselle  durchs  Leben  gegangen, 
hat  es  genossen,  so  gut  er  konnte,  hat  mit  dem  Elend  gekämpft  und 
ist  seiner  niemals  Herr  geworden.  In  dem  Foyer  des  Theätre  frangais, 
wo  eine  Reihe  von  Büsten  und  Standbildern  an  die  hervorragenden 
dramatischen  Dichter  Frankreichs  erinnert,  sieht  man  nicht  weit  vom 
Bild  Corneilles  einen  interessanten  Kopf,  in  dessen  freien,  kecken  Zügen 
sich  Kraft  und  Offenheit  aussprechen.  Es  ist  die  Büste  Rotrous,  welche 
der  Bildhauer  Caffieri  1783  gearbeitet  hat.  Die  Porträtähnlichkeit  mag 
nicht  ganz  sicher  sein.  Wer  aber  des  Dichters  Schicksal  kennt,  findet 
in  dem  Gesicht  die  Eigenschaften  ausgedrückt,  welche  auf  sein  Leben 
so  großen  Einfluß  hatten.  Leichtsinn,  Mut  und  Sinnlichkeit.  Sein  Kopf 
erinnert  an  die  Büste  Molieres,  die  von  Houdon  gefertigt  ist;  nur  zeigt 
er  nicht  die  Melancholie,  welche  des  letzteren  Antlitz  verschleiert. 

Rotrou  mag  die  damals  übliche  klassische  Schulbildung  genossen 
haben.  Schon  mit  16  Jahren  schrieb  er  Gedichte,  welche  in  den  litte- 
rarischen Kreisen  beifällig  aufgenommen  wurden.  Es  war  die  Zeit,  da 
die  fade  Lyrik  in  ihrer  höchsten  Blüte  stand,  und  man  kann  nicht  er- 
warten, daß  ein  junger  Mensch  von  so  wenig  Erfahrung  anders  als  im  Stil 
der  herrschenden  Mode  gedichtet  habe.   Der  Erfolg  seiner  Gedichte  gab 


479 

ihm  den  Mut,  sich  auf  der  Bühne  zu  versuchen.  So  fand  er  sich,  wie 
wir  gesehen  haben,  mit  Corneille  zusammen,  und  gehörte  zu  der  Schar 
jugendlicher  Dichter,  welche  sich  neben  Mairet  geltend  machten.') 

Sein  erstes  dramatisches  Werk,  die  Tragikomödie  „L'hypocondriaque 
ou  le  mort  amoureux",  wurde  im  Jahr  1628  zum  erstenmal  aufgeführt.") 
Die  Hauptidee  des  unglaublich  verwickelten  Stücks  ist  kurz  die,  daß  ein 
junger  griechischer  Cavalier,  Cloridan,  von  seinem  Vater  an  den  Hof 
nach  Korinth  geschickt  wird.  Nur  ungern  verläßt  er  seine  geliebte  Perside. 
Unterwegs  hat  er  das  Glück,  die  schöne  Cleonice  vor  dem  frechen  An- 
griff eines  tollen  Liebhabers  zu  retten,  und  er  gewinnt  dadurch,  ohne 
es  zu  wollen,  die  Neigung  der  Geretteten.  Durch  eine  abscheuliche  List 
bringt  diese  Cloridan  dazu,  an  den  Tod  seiner  Perside  zu  glauben.  Aber 
der  böse  Anschlag  bringt  ihr  keinen  Nutzen.  Cloridan  wird  wahnsinnig, 
wie  das  die  Liebhaber  damals  so  gern  thaten,  und  glaubt  selbst  gestorben 
zu  sein.  In  einer  Grabkapelle  des  Schlosses,  in  dem  er  Aufnahme  ge- 
funden, legt  er  sich  in  einen  offenen  Sarg,  und  es  kostet  eine  ganz 
besondere  List,  ihn  wieder  zur  Vernunft  zurückzubringen.  Man  sagt  ihm, 
er  werde  eine  zauberische  Musik  hören,  welche  die  Kraft  besitze,  die 
Seelen  der  Abgeschiedenen  aus  der  Unterwelt  zurückzurufen.  Dann  ertönt 
eine  feierliche  Melodie,  und  hinter  den  Grabmonumenten  hervor  treten  die 
früheren  Besitzer  des  Schlosses  und  erheben  bittere  Klage,  daß  man 
sie  in  ihrer  Grabesruhe  störe.  Der  eine  Schatten  schießt  sogar  voll 
Zorn  auf  Cloridan.  Dieser  fühlt  nichts  von  der  zwingenden  Macht  der 
Musik.  Statt  daraus  zu  schließen,  sie  tauge  nichts,  kommt  er  in  einer 
allerdings  wahnsinnigen  Logik  zu  dem  Schluß,  daß  er  doch  nicht  tot 
sein  könne,  da  die  Musik  ihn  nicht  belebt  habe.  So  wird  er  gerettet 
und  das  Stück  endet  mit  dem  Glück  zweier  Liebespaare.  Der  bescheidene 
Dichter  ließ  sich  von  dem  Beifall,  den  er  erntete,  nicht  blenden.  In  dem 
Vorwort,  mit  dem  er  sein  Stück  begleitete,  entschuldigte  er  sich  damit, 
daß  er  nur  einem  Auftrag  des  Grafen  von  Soissons  nachgekommen  sei. 
Es  giebt  wol  treffliche  Dichter,  aber  nicht  mit  20  Jahren.^) 

Die  Liste  seiner  weiteren  dramatischen  Dichtungen  ist  groß.  Fast 
jedes  Jahr  schrieb  er  zwei  oder  mehrere  Stücke,  die  meistens  auf  der 
Bühne  des  Hotel  de  Bourgogne  aufgeführt  wurden.  Allein,  da  sie  noch 
ganz  in  der  Manier  Hardys  verfaßt  sind,  beanspruchen  sie  keine  besondere 
Beachtung.  Rotrou  selbst  legte  ihnen  wol  kaum  sehr  großen  Wert  bei. 
Er  stürzte  sich  in  das  wilde  Pariser  Treiben  und  führte,  wie  es  scheint, 
mit  lockeren  Kameraden  ein  wahres  Vagabundenleben. 

Die  Leidenschaft  des  Spiels  beherrschte  ihn,  und  er  lebte  hin  im 
„Taumel  und  schmerzlichen  Genuß".  Sein  Talent  diente  ihm  nur  dazu, 
die  Mittel  zu  solchem  Leben  zu  gewinnen.  Freilich  konnte  ihm  die  kärg- 
liche Entlohnung,    die  ihm  das  Theater  gab,    nicht  genügen,  und  wenn 


1)  Siehe  Abschnitt  III  dieses  Bands,  S.  293  ff. 

2)  Sie  erschien  im  Druck  zu  Paris  1631,  bei  Toussaint  du  Bray. 

3)  „II  y  a  d'exeellents  poetes,  mais  non  pas  ä  Tage  de  vingt  ans."  Über 
die  scenische  Ausstattung  des  Stücks  vergl.  Abschnitt  XI  dieses  Bands. 


480 


er  auch  vielleicht  von  Seiten  seiner  wohlhabenden  Familie  unterstützt 
wurde,  geriet  er  doch  in  Schulden.  So  oft  die  Bedrängnis  gar  zu  hoch 
stieg,  warf  er  hastig  ein  neues  Stück  auf  das  Papier.  Das  unerschöpf- 
liche Kepertoire  des  spanischen  Theaters  bot  ihm  dabei  Vorbild  und 
Stütze.  Man  glaubt,  Eotrou  sei  geradezu  als  Dramaturg  bei  dem  Hotel 
de  Bourgogne  angestellt  gewesen.  Jedenfalls  stand  er  in  enger  Ver- 
bindung mit  dem  Theater,  was  ihn  noch  mehr  in  den  Strudel  des  auf- 
reibenden Lebens  mit  fortriß.  In  späteren  Jahren  gedachte  er  dieser 
Stürme  seines  Jünglingsalters  mit  Bedauern.') 

Zum  Glück  war  Eotrou  nicht  ohne  Freunde,  die  er  durch  sein 
Talent  und  auch  sein  offenes,  liebenswürdiges  Wesen  gewonnen  hatte. 
Bald  machte  er  die  Bekanntschaft  Chapelains  (1632)  und  erwarb  des 
einflußreichen  Mannes  Gunst.  In  einem  Brief  an  Godeau,  den  Bischof 
von  Grasse,  that  Chapelain  des  jungen  Dichters  Erwähnung.  Es  sei 
Schade,  daß  ein  Mensch  von  so  schöner  Begabung  in  so  schimpflichen 
Banden  liege  („ait  pris  une  servitude  si  honteuse");  was  aber  in  seiner 
Macht  sei,  werde  er  thun,  ihn  daraus  zu  befreien.  Bezog  sich  dieses 
Wort  auf  Rotrous  Stellung  zum  Theater?  Aber  schimpflich  konnte  man 
doch  das  Amt  eines  Theaterdichters  nicht  nennen,  und  Chapelain  meinte 
vielleicht  nur  die  böse  Gesellschaft,  in  die  Rotrou  geraten  war,  und 
die  Leidenschaften,  von  welchen  er  sich  beherrschen  ließ.  Jedenfalls 
hielt  er  Wort  und  machte  Richelieu  auf  den  jungen  Dramatiker  auf- 
merksam. Der  Kardinal  nahm  ihn  in  seinen  Dienst  und  gesellte  ihn  zu 
den  anderen  Dichtern,  welche  seine  dramatischen  Ideen  auszuführen  hatten. 
So  besserte  sich  Rotrous  äußere  Lage.  Neben  seiner  Arbeit  für  den 
Kardinal  schrieb  er  immer  noch  für  das  Hotel  de  Bourgogne,  und  er 
gehörte  zu  den  fruchtbarsten  und  beliebtesten  Schauspieldichtern.  Mit 
Corneille  war  er  befreundet  und  blieb  ihm  auch  später,  nach  dem  Erfolg 
des  „Cid",  getreu,  obwol  er  durch  seine  Stellung  beim  Kardinal  leicht 
in  die  Intrigue  gegen  ihn  hätte  verwickelt  werden  können.  Rotrou  kannte 
keinen  Neid,  und  so  erhielt  sich  fortwährend  ein  schönes  Verhältnis 
zwischen  den  beiden  Männern.  Corneille  nannte  den  Freund  einmal  seinen 
„Vater",  vielleicht  um  anzudeuten,  daß  ihn  derselbe  zuerst  in  die  Ge- 
heimnisse der  dramatischen  Technik  eingeweiht  habe.  Noch  später 
scherzte  er  einmal,  daß  er  und  Rotrou  genügten,  um  das  armseligste 
Theater  über  dem  Wasser  zu  erhalten.  Rotrou  seinerseits  erkannte  sehr 
bald  die  Ueberlegenheit    seines  Freundes,    und  gab    sich  willig    dessen 

1)  So  klagt  er  in  einem  Gedicht  „A  son  ami  M**  qui  veut  partir  pour 
Dreux"  (zwölfte  Strophe): 

Lors  je  me  resouviens  des  sales  voluptes, 
Oü  jadis  nous  faisions  une  chute  commune, 


Mais  que  le  souvenir  de  ces  jours  criminels 
En  l'etat  oii  je  suis,  m'offense  la  memoire. 

Als  Rotrou  diese  Verse  schrieb,  war  er  noch  ein  Jüngling!  Das  Gedicht 
findet  sich  in  einer  kleinen  Sammlung  Gedichte,  betitelt:  „Autres  oeuvres  poe- 
tiqiies  du  Sr.  Rotrou.  A  Paris  1631,  chez  Toussaint  du  Bray. 


481 


Einfluß  hin.  Auf  Corneilles  Anraten  soll  er  sich  noch  einmal  dem  Stadium 
der  alten  dramatischen  Dichter  zugewandt  haben.  Das  tiefere  Verständnis 
des  antiken  Geistes  blieb  ihm  zwar  verschlossen,  aber  seine  fortschreitende 
Entwicklung,  sein  Streben  nach  Maß  und  dramatischer  Gestaltung  mag 
doch  zum  Teil  auf  diese  nachträgliche  Bekanntschaft  zurückgeführt 
werden.  So  schrieb  er  denn  auch  nach  griechischem  Vorbild  eine  „Anti- 
gene" (1G38)  und  eine  „Iphigenie  in  Aulis"  (1640),  aber  freilich  ganz 
in  dem  Geist  seiner  eigenen  Zeit.  Selbst  in  der  schwachen  Bearbeitung 
scheint  indessen  die  dramatische  Kraft  des  euripideischen  Dramas  mächtig 
gewirkt  zu  haben.  Auch  einige  plautinische  Possen  bearbeitete  Rotrou. 
Am  meisten  verdankte  er  jedoch  unstreitig  dem  direkten  Einfluß  Cor- 
neilles, dem  er  in  einer  seiner  letzten  und  bekanntesten  Tragödien,  dem 
„Veritable  Saint-Genest",  ein  Ehrendenkmal  errichtet  hat,  das  ihn  selbst 
nicht  minder  ehrt.') 

Obwol  Rotrou  zu  den  bekanntesten  und  beliebtesten  dramatischen 
Dichtern  gehörte,  hat  sich  doch  kaum  eine  genaue  Nachricht  über  seine 
Lebensumstände  erhalten.  Aus  den  Dedikationen,  mit  welchen  er  seine 
Werke  begleitete,  ersehen  wir,  daß  er  in  einem  gewissen  Verhältnis  zu 
den  miteinander  verwandten  Häusern  Soissons  und  Longueville  stand.-) 
Er  las  dort  gelegentlich  seine  Arbeiten  vor,  scheint  sich  aber  doch  seine 
Freiheit  bewahrt  zu  haben.  Daneben  hatte  er  sich,  vielleicht  auf  An- 
dringen der  Familie,  in  seiner  Vaterstadt  Dreux  die  Stelle  eines  „lieute- 
nant  particulier  et  civil,  assesseur  criminel  et  commissaire  examinatenr 
au  bailliage  et  comte  de  Dreux"  gekauft.  Trotz  dieses  langen  Titels 
scheint  ihm  das  Amt  Muße  genug  gelassen  zu  haben,  denn  er  gab  sich 
auch  ferner  in  Paris  seiner  gewohnten  Lebensweise  hin.  Seine  Verhält- 
nisse wurden  nicht  besser,  und  die  Gläubiger  bedrängten  ihn  nach  wie 
vor.  Das  Geld,  das  er  einnahm,  verschwand  in  der  kürzesten  Zeit.  Um 
sich  einen  Notpfennig  zu  sichern,  habe  er  öfters  die  Goldstücke,  die  er 
erworben,  in  einen  Haufen  Reisig  geworfen,  so  erzählt  eine  launige  Tra- 
dition. Sie  dort  zusammenzusuchen,  sei  ihm  zu  lästig  gewesen,  aber  in 
dem  Maß,  als  der  Holzvorrat  sich  verringert  habe,  sei  er  allmählich  wieder 
zu  seinem  Geld  gekommen.  Sicherer  als  die  Geschichte  von  dieser  eigen- 
tümlichen Sparbüchse  ist  die  Nachricht,  daß  Rotrou  im  Jahr  1647  einer 
kleinen  Summe  wegen  in  das  Schuldgefänguis  wanderte.  Sich  aus  der 
Haft  zu  erlösen,  verkaufte  er  seinen  „Venceslas",  das  beste  seiner  Stücke, 
um  zwanzig  Pistolen.  In  dieser  Tragödie  hatte  er  wol  gegeben,  was 
seine  Kräfte  erreichen  konnten.  Die  folgenden  Dichtungen  waren  schon 
schwächer,  und  es  ist  kaum  anzunehmen,  daß  Rntrous  Talent  sich  noch 
mehr  geklärt  und  gekräftigt  hätte,  auch  wenn  er  länger  gelebt  hätte. 
Aber  ein  frühzeitiger  Tod  raff'te  ihn  im  besten  Mannesalter  hinweg.  Eine 
bösartige  Epidemie,  eine  Art  Fleckfieber,  brach  in  Dreux  aus,  und  ver- 
breitete Schrecken    und  Trauer.     Rotrou  war  gerade   in  Paris,  aber  anf 


1)  Vergl.  oben  S.  428. 

-)  Siehe  die  Widmung   des  Stücks  „Les  deux  pucelles"    an  das  Fräulein 
von  Longueville.  Darin  nennt  er  sich  „un  tidele  sujet  de  la  maison  de  Soissons." 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  ijj 


482 


die  Kunde  davon  eilte  er  pflichtgetreu  nach  Dreux  zurück,  um  seines 
Amtes  zu  walten.  Einem  Freund  in  Paris  meldete  er  noch  von  der 
schrecklichen  Zahl  der  Menschen,  welche  der  Krankheit  in  der  kleinen 
Stadt  zum  Opfer  fielen.  „In  dem  Augenblick,  da  ich  schreibe,  läuten 
die  Glocken  für  die  zweiundzwanzigste  Person,  die  heute  gestorben  ist. 
Mich  wird  es  treffen",  fügte  er  hinzu, -„wenn  es  Gott  gefällt."  Wenige 
Tage  darauf  traf  es  ihn,   und  er  starb  den  27.  Juni  IGöO. 

Bei  seiner  sorglosen  Manier  war  ihm  nie  der  Gedanke  gekommen, 
seine  dramatischen  Werke  in  einer  Gesamtausgabe  zu  vereinigen.  Seine 
35  Stücke  sind  alle  nur  einzeln  im  Druck  erschienen.')  Mehrere  hatten 
großen  Erfolg,  aber  der  Umstand,  daß  man  auch  später  nicht  daran 
dachte,  wenigstens  eine  Auswahl  neu  zu  drucken,  beweist,  daß  seine 
Popularität  rasch  verschwand.  Er  starb  während  der  Unruhen  der  Fronde, 
und  nach  deren  Beendigung  zeigte  es  sich  sehr  bald,  welch  große  Wand- 
lung der  Geschmack  erlitten  hatte.  Corneilles  Ruhm  überstand  die  ge- 
fährliche Krisis;  die  geringeren  Dichter  wurden  vergessen,  denn  sie  ver- 
alteten nach  wenig  Jahren. 

Dennoch  haben  die  späteren  Dichter  Rotrou  recht  wohl  gewürdigt, 
und  manchen  komischen  Zug,  manche  Scene  aus  ihm  entlehnt.  So  er- 
innert eine  Scene  in  Molieres  „Fourberies  de  Scapin"  an  einen  ähnlichen 
Auftritt  in  Rotrous  Lustspiel  „La  soeur".  Auch  die  tolle  Scene  des 
„Bourgeois  gentilhomme"  (IV,  5);  wo  Herr  Jourdain  zum  Mamamouchi 
erhoben  wird,  scheint  einer  Scene  desselben  Rotrou'schen  Stücks  nach- 
gebildet, wenn  man  nicht  etwa  annehmen  will,  daß  Rotrou  und  Moliere 
aus  einer  dritten  italienischen  Quelle  geschöpft  haben. 

Zwei  Tragödien  Rotrous  verdienen  es,  daß  man  ihnen  einen  Augen- 
blick der  Aufmerksamkeit  widmet,  sein  „Saint-Genest"  (1646)  und  sein 
„Venceslas"  (1657).  Zu  der  ersteren  war  er  durch  „Polyeucte"  angeregt 
worden,  mit  welchem  Stück  Corneille  die  Märtyrertragödien  eingeführt 
hatte.  Schon  1645  hatte  Des  Fontaines  in  einer  Tragödie  die  Legende 
des  Saint-Genest  dramatisiert.-)  Sanctus  Genesius  war  Schauspieler  und 
hatte,  wie  es  in  der  Überlieferung  heißt,  einst  auf  der  Bühne  einen 
Christen  darzustellen.  Während  seines  Spiels  wurde  er  von  der  Wahrheit 
der  Worte,  die  ihm  der  Dichter  in  den  Mund  legte,  so  betroffen,  daß 
er  sich  ernstlich  vor  dem  versammelten  Publikum  als  Anhänger  Christi 
bekannte,  und  auf  Befehl  des  Diokletian  sterben  mußte.  Ein  Jahr  später 
als  Des  Fontaines  bearbeitete  Rotrou  denselben  Stoff,  aber  in  anderer 
Weise.  Er  suchte  seinem  Stück  besonders  dadurch  größeres  Leben  zu 
geben,  daß  er  nicht  allein  auf  der  Bühne  eine  Bühne  zeigte  (das  hatte 
ja  auch  Corneille  in  der  „Illusion"  gethan),  sondern  daß  er  auch  hinter 
dieselbe,  zu  den  Maschinisten  und  den  sich  kostümierenden  und  in  der 
Erwartung  auf-  und  abgehenden  Schauspieler  n^  sowie  in  die  kaiserliche 
Loge  führte.  Die  scenische  Einrichtung  war  durch  diese  Mannigfaltigkeit 
des  Schauplatzes  nicht  sonderlich  erschwert,  da   man  sich  damals  durch 


1)  Die  Liste  derselben  s.  Parfaict  IV,  S.  410. 

2)  Les   freres  Parfaict,  VI,  S.  363. 


483 


die  gemischte  Dekoration    zu    helfen    wußte,    von  der  wir    weiter  unten 
reden  werden.^) 

Das  zweite  der  genannten  Stücke  führt  uns  nach  Polen.  Der  König 
dieses  Landes,  Venceslas,  hat  zwei  Söhne.  Ladislas  und  Alexandre.  Der 
ältere  ist  leidenschaftlich,  ausschweifend,  eine  gewaltthätige,  wilde  Natur. 
Nachts  durchstreift  er  die  Straßen  der  Stadt,  und  jeden  Frevel,  den  man  zu 
beklagen  hat,  jede  Mordthat,  welche  nächtlicher  Weile  verübt  wird,  scheint 
den  erschreckten  Bürgern  von  dem  Prinzen  angestiftet,  wenn  nicht  selbst 
vollbracht.  Ladislas  läßt  sich  sogar  zu  drohenden  Worten  über  seinen 
Vater  hinreißen,  der  ihm  zu  lange  lebt.  Kurz,  er  hat,  wie  der  letztere 
ihm  vorwirft,  von  einem  König  nichts,  als  nur  die  Begierde,  König  zu 
sein.^j  Auch  seinen  Bruder,  den  edlen  und  milden  Prinzen  Alexandre, 
haßt  er.  Hat  er  doch  schon  den  Degen  gegen  ihn  gezückt,  und 
er  wagt  es,  dem  König  ins  Gesicht  zu  erklären,  daß,  ehe  die  Sonne 
ihren  Lauf  vollendet  habe,  er  sich  an  dem  Prinzen  gerächt  haben  müsse. 
König  Venceslas  ist  ein  ebenso  guter  als  schwacher  Herr.  Da  weder 
Bitten,  noch  Drohungen,  selbst  das  Gefängnis  den  Sinn  des  Thronfolgers 
nicht  bändigen  können,  versucht  er  es  mit  einem  andern  Mittel  und 
ernennt  ihn  zum  Mitregenten.  Er  hofft  nun,  der  Regent  werde  vergessen, 
was  er  als  Prinz  gehaßt,  doch  er  irrt  sich.  Ladislas  erklärt  ihm  rund 
heraus,  daß  er  seinen  Haß  vorziehe.  Mit  derselben  Feindschaft,  wie  den 
Bruder,  verfolgt  er  auch  den  Günstling  des  Königs,  den  Herzog  von 
Kurland,  zumal  da  dieser  im  Begriffe  steht,  sich  mit  der  reizenden 
Herzogin  Cassandra  zu  vermählen,  die  auch  Ladislas  mit  seiner  unge- 
stümen Liebeswerbung  verfolgt.  Cassandra  weist  den  Prinzen  standhaft, 
ja  verächtlich  zurück,  und  entflammt  damit  dessen  heißes  Blut  zum 
höchsten  Zorn.  Offen  droht  er,  ihren  Geliebten  zu  ermorden.^)  Und  nur 
zu  schnei!  führt  er  seine  Drohung  aus.  Er  hört,  daß  der  Herzog  von 
Kurland  sich  in  aller  Stille  mit  Cassandra  vermählt  hat.  Wenige  Stunden 
nach  der  Trauung  lauert  er  seinem  Rivalen  auf,  und  von  der  Dunkelheit 
begünstigt,  erdolcht  er  ihn.  Aber  nicht  den  Herzog,  seinen  eigenen 
Bruder  hat  er  getötet.  Es  zeigt  sich  jetzt,  daß  der  Herzog  nur  zum 
Schein  um  Cassandra  warb,  um  ihre  Ehe  mit  dem  Prinzen  Alexandre 
zu  verheimlichen.  Der  König  ist  über  den  Brudermord  entsetzt  und  will 
die  ganze  Strenge  des  Gesetzes  walten  lassen.  Ladislas  wird  zum  Tod 
verurteilt  und  soll  auf  dem  Schaffot  sterben.  Aber  trotz  seiner  Greuel- 
thaten  ist  er  bei  dem  Volke  wegen  seiner  Tapferkeit,  seines  freien, 
leutseligen  Benehmens  beliebt,  und  die  empörte  Menge  umringt  bittend 
und  drohend  das  Schloß.  Der  König  nimmt  Abschied  von  seinem  Sohn 
und  ermahnt  ihn,  würdig  zu  sterben.  Angesichts  des  Todes  findet  Ladislas 
seinen  großen  Sinn  wieder.  Von  allen  Seiten  bestürmt  man  den  König 
um  Gnade,    selbst  Cassandra    bittet  für  den  Prinzen.     Um    aber   gerecht 


1)  Vergl.  Abschnitt  XI  dieses  Teils. 

2)  Eotrou,  Venceslas  I,  1,  20: 

„Vous  n'avez  rien  d'un  roi  que  le  desir  de  l'etre. 
8)  Ibid.  II,  2,  114  ff. 


31* 


484 

zu  bleiben,  und  doch  seinen  Sohn  zu  retten,  verfällt  Venceslas  auf  einen 
sonderbaren  Ausweg.  Er  entsagt  der  Krone,  und  Ladislas  wird  dadurch 
zum  König  und  unverletzlich.  So  ist  er  gerettet.  Doch  zeigt  er  sich  der 
Gnade  auch  wert,  denn  er  erscheint  nun  wie  umgewandelt.  Seine  edle 
Natur  hat  obgesiegt,  und  mit  Vertrauen  kann  man  ihm  das  Scepter 
in  die  Hand  legen.  Ja,  das  Stuck  schließt  mit  einer  Hinweisung  auf  die 
mögliche  Verbindung  zwischen  ihm  und  Cassandra. 

Das  Hauptthema,  der  Bruderzwist,  ist  oft  behandelt  worden  und 
kann  zu  wahrhafter  Tragik  entwickelt  werden.  Auch  Eotrou  ist,  in  den 
ersten  Akten  wenigstens,  glücklich.  Er  hat  spannende  Scenen,  eine 
scharfe  Charakteristik  und  seine  Sprache  ist  bei  aller  Einfachheit  im 
ganzen  kräftig  und  schön.  Die  Leidenschaft  pulsiert  in  der  Dichtung. 
Aber  die  Lösung  wirkt  abschwächend.  Wie  sollen  wir  mit  einem  Male 
an  die  Wandlung  eines  so  wilden,  störrischen  und  bösartigen  Charakter.s 
glauben?  Statt  uns  der  Kettung  des  Ladislas  zu  erfreuen,  empfangen 
wir  nur  einen  peinlichen  Eindruck  von  der  Schwäche  des  Königs.  Auch 
Shakespeare  zeigt  in  seinem  Prinzen  Heinz  einen  tollen,  lebenslustigen 
•Jüngling,  der  sich  in  der  Gesellschaft  von  Fallstaff  gefällt  und  voll 
Übermut  allerlei  nächtlichen  Unfug  treibt;  aber  sein  Heinz  ist  kein 
schlechter  Mensch,  kein  Räuber  und  Mörder,  und  wenn  die  schwere 
Stunde  kommt,  die  ihn  zum  Thron  beruft,  findet  sie  ihn  ernst  und  ent- 
schlossen. In  Rotrous  Stück  verletzt  besonders  die  Aussicht  auf  die  Ehe 
zwischen  Ladislas  und  Cassandra,  mit  welcher  das  Stück  schließt.  Man 
gedenkt  hier  unwillkürlich  des  „Cid",  der  auch  in  dem  Hinweis  auf  die 
besänftigende  Einwirkung  der  Zeit  den  erfreulichen  Abschluß  findet.  Und 
doch  lassen  sich  die  beiden  Stücke  in  dieser  Hinsicht  kaum  vergleichen. 
Eodrigo  ist  das  Ideal  des  ritterlichen  Helden,  der  sein  Leben  im  ge- 
fährlichen Zweikampf  mit  dem  berühmtesten  Krieger  seiner  Zeit  wagt, 
nur  um  die  Ehre  seines  Vaters  zu  retten,  und  der  alles  seiner  Pflicht 
opfert.  Ladislas  dagegen  erdolcht  aus  elender  Eifersucht  den  Gemahl  der 
von  ihm  geliebten  Frau,  und  damit,  allerdings  ohne  es  zu  wollen,  seinen 
Bruder.  Wie  kann  die  Witwe  des  so  freventlich  Gemordeten  dem  Mörder 
ihre  Hand  reichen,  ohne  sich  selbst  zu  entwürdigen?  Darum  änderte 
später  auch  Marmontel  den  Schluß  des  Stücks  ab  und  ließ  Cassandra 
sich  erdolchen.  Denn  noch  im  vorigen  Jahrhundert  wurde  „Venceslas"' 
mit  Erfolg  gespielt.  Es  geht  ein  kräftiger  Geist  durch  das  Ganze,  wenn 
es  auch  die  großen  Werke  Corneilles  nicht  erreicht.  Man  vergleiche  z.  B. 
die  dramatische  Scene  im  „Cid",  wo  Chimene  vor  dem  König  erscheint 
und  um  Rache  fleht  (II,  8),  mit  der  ähnlichen  Scene  in  „Venceslas" 
(IV,  6),  in  der  Cassandra  sich  dem  Monarchen  zu  Füßen  wirft  und  den 
Prinzen  Ladislas  als  Mörder  ihres  Gatten  anklagt.^) 


M  Die  Schlußworte  des  Cid: 

Pour  vaincre  un  point  d'honneur  qui  combat  contre  toi 
Laisse  faire  le  temps,  ta  vaillance  et  ton  roi 
haben  geradezu  Piotrou  die  Schlufjworte  seines  „Venceslas"  eingegeben: 


485 


Wie  Corneille  und  Rotrou,  gehörte  auch  Pierre  du  Kyer  zu  der 
damals  noch  geringen  Zahl  von  Dichtern,  welche  ihren  bürgerlichen 
Stolz  nicht  opfern  mochten.  Wie  jene  beiden  Dichter,  sah  er  sich  deshalb 
auch  im  Kampf  mit  den  Sorgen  des  täglichen  Lebens,  aber  besser  als 
jene  hat  er  es  verstanden,  dieselben  durch  einen  genügsamen  Sinn  zu 
bannen.  Die  Liebe  zur  Unabhängigkeit  hatte  er  von  seinem  Vater  Isaac 
du  Ryer  geerbt.  Schon  jener  hatte  eine  gute  Stelle  als  Sekretär  bei  dem 
Herzog  von  Bellegarde  aufgegeben,  und  bescheiden  von  dem  Ertrag  einer 
kleinen  Stelle  im  Hafenamt  bei  Saint-Paul  in  Paris  gelebt.  Eine  Samm- 
lung von  Schäfergedichten  und  andere  Poesien  hatte  er  unter  dem  Titel 
,.Les  printemps  perdu'"  veröffentlicht,  und  der  Sohn  setzte  die  litterarische 
Tradition  fort.  Er  muß  ums  Jahr  1600  geboren  sein,  denn  schon  1618 
ließ  er  sein  erstes  Stück,  „Aretaphile",  aufführen,  das  zwar  nie  gedruckt 
wurde,  sich  aber  in  einigen  Abschriften  erhielt.')  In  den  folgenden  Jahren 
verfaßte  er  eine  Reihe  dramatischer  Werke,  darunter  zwei  nach  dem 
englischen  Schäferroman  „Argenis"  des  Barclay  (1630  und  1631).  Du 
Ryer  schien  vom  Glück  begünstigt;  der  König  ernannte  ihn  zu  seinem 
Sekretär,  und  so  durfte  er  auf  eine  sorgenfreie  Zukunft  rechnen.  Aber 
schon  1633  verkaufte  er  das  Amt  wieder,  denn  er  suchte  sein  Glück 
an  anderer  Stelle.  Er  wollte  heiraten.  Die  Frau,  die  er  sich  wählte,  Gene- 
vieve  Fournier,  stammte  aus  der  Klasse  des  kleinen  Bürgertums,  und 
er  führte  mit  ihr  ein  glückliches  Leben.  Aber  es  galt  nun,  doppelt 
fleißig  zu  arbeiten,  da  er  auf  sich  allein  angewiesen  war,  und  die  litte- 
rarische Arbeit  zu  jener  Zeit  nur  selten  goldene  Früchte  trug.  Um  ein- 
facher leben  zu  können,  floh  er  die  geräuschvolle  Stadt,  und  zog  in  ein 
Dorf  unweit  Paris,  in  der  südöstlichen  Richtung  nach  Picpus  zu  gelegen. 
Dort  lebte  er  ungestört  seiner  bald  zahlreichen  Familie  und  seinen  Ar- 
beiten, nahe  genug  der  Stadt,  um  der  litterarischen  Welt  und  dem  Theater 
sich  nicht  zu  entfremden,  und  doch  weit  genug,    um  sich  aller  Vorteile 


Cassandre 
Puis-je  Sans  un  trop  lache  et  trop  sensible  efifort 
Epouser  le  meurtrier,  etant  veuve  du  mort? 
Puis-je. . . 

Le  roi 
Le  temps,  ma  fille. 

Cassandre 
—  Ah,  quel,  temps  le  peut  faire? 

Le  prince 
Si  je  n'obtiens  au  moins,  perraettez  que  j'espere, 
Taut  de  soumissious  lasseront  vos  mepiis, 
Qu'enfiü  de  mon  amour  vos  voeux  seront  le  prix. 

Die  Stelle  mag  zugleich  den  Unterschied  in  der  Sprache  zeigen,  die  ge- 
drungene Kraft  Corneilles  und  die  abschwächende,  verbreiternde  Manier  Rotrous, 
der  doch  noch  weit  über  den  anderen  Dramatikern  stand. 

')  Die  Brüder  Parfaict  setzen  seine  Geburt  in  das  Jahr  160ö.  Dann 
könnte  das  Datum  des  ersten  Stücks  nicht  passen,  und  doch  scheint  diese  letztere 
Angabe  sicher.  Parfaict,  bist,  du  th.  fr.  V,  535  ff. 


486 

eines  gesunden  und  stillen  Landlebens  zu  erfreuen.  Von  Zeit  zu  Zeit 
kam  ein  Freund,  ihn  in  der  Einsamkeit  aufzasuclien,  und  Du  Eyer  tischte 
dann  anf,  was  sein  Haus  besaß.  Schwarzbrot  und  Milch,  auch  Obst, 
wenn  die  Jahreszeit  es  gerade  bot.  Die  Städter  glaubten  ihn  arm  und 
unglücklich,  während  er  doch  in  seiner  philosophischen  Einfachheit  zu- 
frieden war.  Seine  Frau  stand  ihm  als  sorgsame  Haushälterin  und  Mutter 
seiner  Kinder  treu  zur  Seite,  und  erleichterte  ihm  die  Arbeit  durch  ihre 
Sparsamkeit  und  praktische  Art.  Geistige  Anregung  bot  sie  ihm  nicht, 
und  er  scheint  deren  auch  nicht  bedurft  zu  haben.  In  dem  Brief  an 
einen  Freund  preist  er  ihre  Tugenden  mit  manchem  naiven  Wort.  „Sie 
haben  gewiß  von  dem  armen  B  .  .  .  reden  gehört.  Er  hatte  ein  vor- 
nehmes, englisches  Fräulein  geheiratet,  die  ihn  mit  dem  Stock  bearbeitete, 
wenn  er  ihrer  Ansicht  nach  nicht  fleißig  genug  war.  Meine  Frau  ist 
weder  Engländerin,  noch  vornehm:  aber  sie  ist  eine  gute  Frau,  die  mich 
in  unglaublicher  Weise  liebt  und  ehrt.  Sie  schafft  im  Haus  mehr,  als  ich 
von  sechs  Dienstboten  fordern  könnte.  Sie  hält  mein  Zimmer  und  meinen 
Alkoven  rein  und  glänzend  wie  zwei  Spiegel;  sie  macht  mein  Bett  so 
vorzüglich,  daß  ich  besser  ruhe  als  ein  Prinz  auf  der  ganzen  Erde,  und 
überdies  versteht  sie  eine  treffliche  Suppe  zu  bereiten.  Ich  meinerseits 
kann  nicht  begreifen,  wie  man  mit  so  wenig  Geld  so  gutes  Essen  liefern 
kann,  und  so  bewundern  wir  uns  gegenseitig  trotz  unser  Armut.  Sie 
bewundert  mein  Übersetzertalent,  und  ich  bewundere  ihr  Talent  als 
Hausfrau."^) 

Zunächst  widmete  sich  Du  Ryer  mit  Eifer  dem  Theater,  doch  war 
er  weniger  fruchtbar  als  die  meisten  seiner  Genossen.  Auch  auf  ihn 
scheint  Corneille  starken  Einfluß  geübt  zu  haben.  Die  ersten  Stücke, 
meist  Tragikomödien,  behandelten  jene  faden,  den  Schäferromanen  ent- 
nommenen Abenteuer.  Erst  die  feinere  Behandlung  des  Lustspiels,  welche 
Corneille  in  seinen  ersten  Werken  versuchte,  führte  auch  die  anderen 
Dramatiker  dazu,  die  wirklichen  Verhältnisse  ihrer  Zeit  und  der  sie  um- 
gebenden Gesellschaft  als  Thema  ihrer  Komödien  zu  wählen.  So  entstand 
1635  Du  Eyers  Stück  „Les  vendanges  de  Surenes",  das  in  dem  kleinen, 
westlich  von  Paris  gelegenen  weinreichen  Ort  Surenes  spielt,  ohne  je- 
doch sonst  auf  die  Gegend  besonderen  Bezug  zu  nehmen.  Du  Ryer  zeich- 
nete darin  die  wohlhabende  Bürgerklasse  von  Paris  und  würzte  sein 
Stück  mit  allerlei  Anspielungen  auf  den  Zeitgeschmack  und  die  zeit- 
genössische Litteratur.  Während  der  eine  in  respektvoller  Liebe  schmachtet, 
wie  es  die  feine  Mode  verlangt,  spottet  ein  anderer  über  die  galanten 
Liebhaber,  die  den  Celadon  und  die  Helden  der  .,Asträa-  nachäffen.  Es 
fallen  scharfe  Worte  über  die  Dichterlinge  und  besonders  über  jene,  die 


^)  Der  Brief,  der  in  (Furetieres)  Essai  de  Lettres  familieres,  1690 
;,p.  16),  mitgeteilt  wird,  findet  sich  auch  abgedruckt  hei  Edouard  Fournier:  „Le 
theätre  fran^ais  au  Ißme  et  au  ITme  siecle,  ou  choix  des  comedies  les  plus 
remarquables  anterieures  ä  Meliere"  (Paris,  bei  Laplace,  Sanchez  &  Cie.,  2  Bde.), 
Band  II,  S.  73  ider  kleinen  Ausgabe).  Man  vergl.  ziigleieh  den  ganzen  Aufsatz 
Fourniers  über  Du  Eyer,  der  als  Einleitung  vor  dessen  Lustspiel  „Les  ven- 
danges de  Surenes"  steht. 


487 


sich  im  Theater  auch  noch  zu  Kritikern  über  die  Werke  der  anderen 
aufwerfen.  Im  ganzen  hat  das  Lustspiel  manchen  glücklichen  Vers,  aber 
auch  noch  manche  Derbheit,  und  die  kleine  Intrigue  ist  für  fünf  Akte 
gar  zu  leer  und  schwach. 

Deutlicher  noch  als  in  dem  genannten  Lustspiel  zeigen  die  spä- 
teren Schauspiele  Du  Ryers  wachsenden  Ernst  in  der  Auffassung  und 
Behandlung  der  Stoffe.  Es  konnte  wol  auch  kaum  anders  sein,  nachdem 
Corneille  in  einer  Reihe  von  trefflichen  Werken  ein  Vorbild  gegeben 
hatte,  das  nicht  gut  zu  übersehen  war.  Du  Rycr  nahm  später  gern  seine 
Helden  aus  der  griechischen  und  lateinischen  oder  auch  der  biblischen 
Geschichte.  So  schrieb  er  eine  „Lucrezia"',  einen  „Saul",  eine  „Esther", 
einen  „Scävola".  Das  letztere  Stück  gilt  neben  seiner  ,,Alcyonee",  einer 
trotz  mehrerer  kräftigen  Verse  schwächlichen  Arbeit,  als  sein  bestes  Werk, 
und  gewinnt  an  Interesse  durch  die  Notiz ,  daß  es  von  einer  neuen 
Schauspielertruppe  unter  der  Leitung  des  jungen  Moliere  mit  Erfolg  auf- 
geführt worden  sei  ^)  (1646).  Du  Ryer  bemühte  sich  offenbar,  den  heroi- 
schen Geist,  den  Corneille  seinen  Römern  eingehaucht  hatte,  zu  bewahren. 
In  seinen  Römerdramen  redet  man  denn  auch  viel  von  der  unüberwind- 
lichen römischen  Tapferkeit,  und  das  gerade  in  dem  Augenblick,  da  Rom 
fast  verloren  ist.  Seine  Römer  schreiten  stets  auf  Stelzen  einher,  und 
das  einfache,  natürliche  Gefühl,  das  bei  Corneille  immer  noch  mächtig 
hervorbricht,  geht  bei  Du  Ruyer  fast  ganz  verloren.  Es  sei  hier  nicht 
weiter  hervorgehoben,  wie  naiv  man  den  Tyrannenmord  als  Heldenthat 
feierte,  sobald  er  im  Nebel  der  alten  Geschichte  vorkam  und  nicht  zu 
ahnen  schien,  daß  man  die  seltsame  Theorie  auch  auf  die  Neuzeit  an- 
wenden könne,  ja  schon  angewendet  hatte.  Wenn  in  Du  Ryers  Drama 
Mucius  Scävola  nach  seiner  That  vor  Porsenna  geführt  wird  und  des 
Tods  gewärtig  ist,  prahlt  er,  man  erkenne  die  allzeit  unbesiegbaren 
Römer  daran,  daß  sie  Unmögliches  zu  vollbringen  und  zu  erdulden 
wüßten.')  Gegenüber  diesem  Heldenjüngling  steht  Junia,  die  Tochter  des 
Brutus,  die  römische  Jungfrau.  Als  Gefangene  in  das  Lager  des  Por- 
senna gebracht,  geht  sie  dort  frei  herum  und  feuert  durch  ihr  Zureden 
den  ohnehin  schon  mordlustigen  Scävola  noch  mehr  an.  Die  beiden  lieben 
sich,  obwol  Junia  sich  darüber  Vorwürfe  macht.  „Denn  in  dem  Herzen 
einer  echten  Römerin  darf  nur  die  Liebe  zum  Vaterland  herrschen.''^) 
Sie  erklärt  Scävola,  daß  ihre  Neigung  zu  ihm  augenblicklich  schwinden 
wenn  sie  sähe,  daß  er  zu  der  großen  befreienden  That  erst  an- 


1)  Man  vergleiche  den  Aufsatz  von  Eudore  Soulie  darüber  in  dem  „Cor- 
respondent  litteraire'*,  25  janvier  1865,  p.  !;4  ff. 

-)  Du  Ryer,  Scevole,  IV,  5,  v.  7 : 

Je  suis  Romain,  Porsenne, 

Et  tu  vois  sur  mon  front  la  liberte  Romaine. 


Le  propre  des  Romains  en  tous  lieux  invincibles, 
C'est  de  faire  et  souffrir  les  choses  impossibles. 


3)  Scevole,  II,  1,  v.  1. 


488 

gefeuert  werden  müßte. ^)  Tarquinius  ist  noch  am  besten  gezeichnet;  sein 
Hochmut  und  seine  Härte  treten  deutlich  zu  Tage,  während  König  Por- 
senna  ohne  besondere  Charakteristik  ist,  und  dessen  Sohn  Aruns,  der 
Junia  liebt,  dabei  ein  Freund  des  Scävola  ist,  und  vermitteln  will,  ganz 
der  unwahren  Romantik  des  17.  Jahrhunderts  angehört.  Merkwürdig  ist 
eine  Scene  zwischen  Tarquinius  und  Porsenna.  Der  erstere  drängt  zum 
Angriif  auf  das  fast  wehrlose  Rom;  Porsenna  zögert,  weil  die  Auguren 
keine  befriedigende  Antwort  geben.  Die  Eingeweide  der  Opfertiere  zeigen 
unheilvolle  Vorbedeutungen.  Tarquinius  läßt  solchen  Grund  nicht  gelten. 
Er  braust  auf,  daß  ein  tapferer  Mann  sich  nach  einem  toten  Tier  richten 
könne.  Derlei  Grübeleien  und  solcher  Aberglaube  seien  gut,  um  das  nie- 
dere Volk  zu  täuschen,  aber  ein  Mann  wie  Porsenna  dürfe  doch  nicht 
glauben,  daß  die  Eingeweide  der  Tiere  das  Heiligtum  seien,  in  welchem 
das  Schicksal  seinen  Willen  verkünde.  Das  beste  Augurium  liege  für 
einen  Herrscher  in  seiner  Macht  und  seinem  Mut.-) 

Tarquin  zeigt  sich  hier  als  böser  Rationalist.  Aber  deshalb  darf 
man  nicht  zu  weit  gehen  und  glauben,  daß  Du  Ryer  einen  versteckten 
Angriff  gegen  die  christliche  Kirche  damit  gewagt  habe.  Ausfälle  ähn- 
licher Art  waren  zwar  den  Dichtern  des  folgenden  Jahrhunderts  ge- 
läufig,") aber  Du  Ryer  wollte  mit  diesen  Worten  nur  zeigen,  welch  höh- 
nische Verachtung  Tarquinius  gegen  alle  ihm  unbequemen  Einrichtungen 
zur  Schau  trug. 

Trotz  aller  Geschicklichkeit  seiner  trefflichen  Hausfrau,  der  koch- 
kundigen Frau  Genevieve,  reichten  die  Einkünfte,  welche  Du  Ruyer  durch 
seine  dramatischen  Werke  hatte,  nicht  hin,  alle  Bedürfnisse  der  Familie 
zu  befriedigen.  Die  Kinder  wuchsen  heran  und  verursachten  größere 
Ausgaben.  Diese  zu  bestreiten,  verlegte  sich  Du  Ryer  auf  Übersetzungen 
aus  dem  Griechischen  und  Lateinischen.  Ciceronianische  Schriften,  Livius, 
Seneca,  De  Thou  wurden  der  Reihe  nach  von  ihm  üliertragen  und  seine 


1)  Scevole,  III,  sc.  4,  v.  59  ff.  und  v.  87  ff. 

2)  Scevole,  II,  4,  v.  5ff.: 

Quoi,  vous  vous  etormez?  Cette  äme  grande  et  forte 
Craint  un  presage  vain,  craint  une  bete  morte? 

Donc,  vous  vous  figurez  qu'une  bi'te  assommee 
Tienne  notre  fortiine  en  son  ventre  enfermee. 
Et  que  des  animaux  les  sales  intestins 
Soient  un  temple  adorable  oii  parlent  les  destins? 
Ces  superstitions  et  tout  ce  grand  mystere 
Sout  propres  seulement  ä  trompeur  le  vulgaire. 
C'est  par  lä  qu'on  le  pousse  ou  qu'ou  retient  ses  pas, 
Selon  qu'il  est  utile  au  bien  des  potentats. 
Mais  les  reis,  meprisent  ces  pleurs  et  ces  bassesses, 
Doivent  etre  au-dessus  de  toutes  ces  foiblesses, 
Ils  ont  des  bons  succes  les  presages  en  eux, 
Selon  qu'ils  sont  puissants  ou  qu'ils  sont  courageux. 
^)  So  z.  B.  Voltaire  in  seinem  „Oedipe" : 

Les  pretres  ne  sont  pas  ce  qu'un  vain  peuple  pense, 
Notre  credulite  fait  toute  leur  science. 


4^9 

Arbeiten  fanden  Beifall.  Andere  Schriftsteller  des  klassischen  Altertums, 
wie  Horodot,  bot  er  nur  in  modernisierter  Ausgabe.  Er  nahm  zu  diesem 
Behuf  eine  ältere  Übersetzung,  deren  Französisch  er  verbesserte  und  im 
Geschmack  seiner  Zeit  umgestaltete.  Sein  Schicksal  recht  tragisch  hin- 
zustellen, vielleicht  auch  aus  Spott  über  des  Mannes  bürgerlich  prosaische 
Lebensweise,  erzählte  man  sich  im  Kreise  der  „guten  Freunde",  daß 
seine  Übersetzungen  mit  3  Frauken  für  den  Druckbogen  bezahlt  würden 
und  daG  man  ihm  für  je  100  Alexandriner  4  Franken,  für  je  100  klei- 
nere Verse  gar  nur  40  Sous  berechne.  Daß  diese  Ziffern  falsch  sind, 
liegt  auf  der  Hand.  Das  Honorar,  welches  die  Schriftsteller  von  Ruf 
damals  gewöhnlich  bezogen,  war  nicht  unbeträchtlich,  und  Du  Eyer  ge- 
hörte zu  den  bekanntesten  Dichtern.  Auch  seine  Übersetzungen  waren 
sehr  gesucht,  obwol  er  selbst  nicht  viel  davon  hielt.  Darüber  giebt  er 
uns  in  dem  schon  erwähnten  Brief  den  besten  Aufschluß.^) 

„Sie  loben  also  meine  Seneca-Übersetzung !  Gehen  Sie  doch!  Mich 
fangen  Sie  damit  nicht.  Ich  will  Ihnen  nur  gestehen,  lieber  Herr,  daß 
ich  sie  in  sechs  Monaten  gefertigt  habe,  und  daß  ich  sechs  Jahre  nötig 
hätte,  wenn  ich  eine  gute  Arbeit  liefern  wollte.  Meine  Übersetzung  ist 
nur  eine  Übersetzung  von  Villeloin.  Ein  einziger  Unterschied  besteht 
zwischen  ihm  und  mir.  Er  glaubt  es  gut  zu  macheu  und  versteht  es 
auch  nicht  besser;  ich  aber  kenne  meine  Fehler  und  könnte  Besseres 
liefern.  Ja,  ich  bin  eitel  genug,  zu  glauben,  daß  ich  ein  d'Ablancourt 
oder  ein  Vaugelas  sein  könnte,  und  bin  nur  ein  Marolles  geworden.-) 
0,  Fortuna,  Du  bist  hart!  Du  hast  mich  gegen  meinen  Willen  genötigt, 
meinen  Euf  zu  opfern!  Doch  Du  wirst  mich  nie  dazu  bringen,  auch 
meine  Ehre  zu  opfern,  und  meinen  Freund  will  ich  nicht  betrügen.  Ich 
schulde  Ihnen  diese  offene  Sprache,  weil  Sie  so  gütig  sind,  mir  manch- 
mal Geld  zu  leihen.  Ich  sende  Ihnen  hierbei  die  20  Pistolen,  die  Sie 
mir  neulich  vorgeschossen  haben. 

„Die  Buchhändler  haben  mich  neulich  hier  in  meinem  Dorf  auf- 
gesucht und  mir  200  Ecus  gebracht.  Ich  habe  sie  augenblicklich  meiner 
Hausfrau  überliefert,  die  davon  entzückt  ist  und  mich  in  meinem  Elend 
glücklich  macht....  Übrigens  muß  ich  Ihnen  erzählen,  daß  Madame 
Bilaine  mit  meinem  guten  Freund  Courbe  mir  die  200  Ecus,  die  sie 
mir  für  die  Übersetzung  der  Ciceronianischen  Eeden  noch  schuldete, 
selbst  gebracht  hat.  Ich  werde  Ihnen  diese  letzteren  nächstens  schicken. 
Die  feine  Buchhändlerin  kam  in  großem  Staatsgewand  und  küßte  mich 
so  freundlich,  daß  man  wol  sieht,  wie  man  im  Justizpalast  "ebenso  gut 
wie  bei  Hof  die  artige  Weise  des  Grußes  erlernen  kann,  die  neuerdings 
von  unserer  galanten  Nation  in  die  Sitten  eingeführt  worden  ist.  Kurz, 
Madame  Bilaine  hat  mein  Herz  gewonnen  und  hat  mir  einen  Vorschuß 

1)  Siehe    Fournier,  a.  a.  0.,  S.  73. 

2)  Ablancourt  (Nicolas  Perret  d')  1606—1664  übersetzte  Thukydides,  Xeno- 
p hon,. .Cäsar,  Tacitus  u.  a.  m.  Vaugelas,  der  berühmte  Grammatiker,  fertigte 
eine  Übersetzung  des  Curtius,  an  der  er  30  Jahre  gearbeitet  haben  soll.  Ville- 
loin, Abbe  de  Marolles  (1600—1681)  übersetzte  Virgil  und  Martial.  Menage  be- 
zeichnete die  Übersetzung  des  letzteren  als  „Epigrammes  contro  Martial". 


490 

von  1000  Livres  auf  meine  Livius-Übersetzung  angeboten,  die  tüchtig 
voranschreitet.  Meine  Hausfrau  spitzte  bei  diesem  Vorschlag  die  Ohren 
und  flüsterte  mir  zu:  .Nimm  sie  beim  Wort,  mein  lieber  Mann".  Ich 
folgte  ihr,  und  die  1000  Livres  wurden  dem  armen  Du  Eyer  in  blanken 
Gold-  und  Silberstücken  ausgezahlt.  Aber  ich  will  nicht  weiter  davon 
reden,  um  Sie  nicht  zu  langweilen.  Nur  werde  ich  mich  bemühen,  künftig 
besser  als  bisher  zu  arbeiten.  Ich  kann  das  jetzt  versprechen,  da  ich 
Sie  bezahlt  und  doch  noch  immer  400  Ecus  vor  mir  habe:  solange  es 
mir  gedenkt,  bin  ich  nie  so  reich,  das  heißt  weniger  arm  gewesen." 

Der  Brief,  der  übrigens  für  die  Öffentlichkeit  bestimmt  war,  be- 
weist, daß  Du  Eyer  zwar  vielfach  von  Geldverlegenheiten  gee[uält  wurde, 
aber  daß  er  doch  nicht  so  schlechtes  Honorar  bezog,  wie  man  erzählte. 
Ein  Mann,  den  die  Verleger  aufsuchen  und  den  sie  durch  Vorschüsse 
zu  fesseln  suchen,  mußte  beim  Publikum  beliebt  sein.  Auch  andere  Nach- 
richten bestätigen  das  Ansehen,  dessen  Du  Eyer  genoß.  Der  Erfolg  seiner 
Übersetzungen  mußte  ihm  umso  willkommener  sein,  als  die  dramatischen 
Werke,  die  er  in  den  Jahren  1648 — 1654  auf  seinen  „Scävola"  folgen 
ließ,  wenig  Beifall  fanden,^)  und  er  sich,  gleich  Corneille,  entschloß,  sein 
Glück  auf  der  Bühne  nicht  mehr  zu  versuchen. 

Die  letzten  Jahre  seines  Lebens  erscheinen  uns  wie  der  matte  Ab- 
schluß eines  gut  begonnenen  Schauspiels.  Denn  der  Philosoph  Du  Eyer. 
der  die  Unabhängigkeit  so  hochgeschätzt,  der  sich  in  die  Einsamkeit 
und  Einfachheit  zurückgezogen  hatte,  verwandelte  sich  schließlich  doch 
in  einen  Höfling,  um  sich  eine  gute  Stelle  und  ein  schönes  Einkommen 
zu  sichern.  Seine  Frau  starb  und  nach  ihrem  Tod  war  der  kleine  Haus- 
halt bald  zerrüttet,  zumal  das  Theater  keine  Einnahme  mehr  brachte. 
So  entschloß  sich  Du  Eyer  denn  doch  wieder,  in  die  Dienste  eines  hohen 
Herrn  einzutreten.  Er  wurde  Sekretär  des  Herzogs  von  Vendöme,  der 
ihm  bald  auch  die  gut  bezahlte  Sinekure  eines  Historiographen  von 
Frankreich  verschaffte.  Nun  war  er  ein  gemachter  Mann,  und  als  er 
gar  1655  sich  zum  zweitenmal,  und  zwar  mit  einer  reichen  Frau,  Marie 
de  Bonnaire,  verheiratete,  schien  sein  Glück  begründet.  Der  finanziellen 
Sorgen  ledig,  bewohnte  er  ein  Haus  in  dem  scliönsten  Teil  des  dama- 
ligen Paris,  in  der  Eue  des  Tournelles  und  später  ein  anderes  in  der 
Nähe  des  Chäteau  de  Bercy.  Aber  er  sollte  sich  nicht  lange  eines  sorg- 
losen Lebens  erfreuen.  Der  Tod  ereilte  ihn  drei  Jahre  nach  seiner  Heirat, 
im  Jahr  1658.  Von  den  Dichtern,  welche  mutig  und  hoffnungsfreudig 
in  den  dreißiger  Jahren  sich  dem  aufblühenden  Drama  gewidmet  und  so 
wohlverdienten  Erfolg  errungen  hatten,  blieb  nur  Corneille,  um  die  Tradi- 
tionen der  heroischen  Tragödie  gegenüber  einer  neuen,  anders  denkenden 
Schule  zu  verteidigen. 


1)  Es  waren  dies  die  Tragödien:    „Themistocle",   „Nitocris,  reine  de  Ba- 
bylone",  und  die  Tragikomödien:    „Dinamis,  reine  de  Carie-*  und  „Anaxandre" 


XL 

Die  Bühne  und  die  Aufführungen. 

Wir  haben  die  Entwicklung  des  französischen  Theaters  aufmerksam 
verfolgt;  aber  unsere  Darstellung  wäre  unvollständig,  wenn  wir  seine 
äußeren  Verhältnisse  unberücksichtigt  lassen  wollten.  Ein  dramatisches 
Werk  kann  in  seiner  wahren  Bedeutung  nur  erkannt  werden,  wenn  es, 
seiner  Natur  entsprechend,  lebendig  dargestellt  wird.  Je  mehr  es  wirk- 
lich dramatisch  gedacht  und  gearbeitet  ist,  umso  nachdrücklicher  ver- 
langt es  auf  der  Bühne  selbst,  seine  Kraft  zu  erweisen,  und  diese 
Forderung  ist  doppelt  gerechtfertigt,  wenn  die  Dichtung  einer  früheren, 
uns  schon  fremd  gewordenen  Epoche  angehört.  Wir  mögen  uns  noch 
so  sehr  in  das  Studium  der  tragischen  Werke  längst  vergangener  Zeiten 
vertiefen,  wir  werden  ihnen  nie  das  volle  Verständnis  abgewinnen, 
solange  sie  nicht  von  der  Bühne  herab  zu  uns  gesprochen  haben.  Erst 
das  lebendige  Wort  und  die  Darstellung  führen  wahrhaft  in  den  Geist 
der  dramatischen  Dichtung  ein,  denn  sie  allein  erlauben  uns,  ihren  Cha- 
rakter und  den  Eindruck,  den  sie  ausüben  kann,  völlig  zu  erkennen. 

Darum  erfüllt  die  nationale  Bühne  eines  Landes  nur  ihre  Pflicht, 
wenn  sie  die  klassischen  Werke  ihrer  Litteratur  auch  nach  Jahrhunderten 
noch  durch  pietätvolle  Aufführungen  in  dem  Sinn  des  Volkes  lebendig 
erhält. 

In  einem  großen  dramatischen  Werk  birgt  sich  indessen  ein  zwei- 
facher Geist.  In  ihm,  wie  in  jeder  echten  Dichtung,  lebt,  über  den 
Wechsel  der  Zeit  und  des  Geschmacks  erhaben,  in  ewiger  Schönheit  der 
Geist  der  wahren  Poesie.  Daneben  aber  spricht  aus  ihm  auch  der  Geist 
des  Jahrhunderts,  in  dem  es  entstanden  ist.  Äußere  Umstände,  ge- 
schichtliche und  sociale  Verhältnisse  sind  von  zwingendem  Einfluß  auf 
einen  Dichter,  und  geben  seinem  Werk  das,  was  späteren  Generationen 
oft  fremd  und  unverständlich  darin  erscheint.  Die  mo'dernen  Auf- 
führungen älterer  Dramen  suchen  mit  Recht  dieses  Nebensächliche,  diese 
fremdartige  Zuthat  soviel  wie  möglich  abzustreifen,  um  die  Größe  und 
Schönheit  der  Dichtung  rein  und  ungemischt  zur  Geltung  zu  bringen. 
Mit  dieser  Änderung  wird  sie  freilich  modernisiert,  denn  die  äußeren 
Verhältnisse  der  Bühne,  die  Einrichtung  und  Ausstattung  der  Scene,  die 
Manier  des  Vortrags  und  des  Spiels  sind  der  Mode  unterworfen  und 
verändern  sich  mit  jedem  Jahrhundert.  Es  ist  klar,  daß  eine  historisch 
ganz  getreue  Wiederholung  älterer  Schauspiele,  d.  h.  ihre  Darstellung 
in  der  Weise  der  früheren  Zeit,  nicht  möglich  ist.  Da  sie  von  modernen 


492 


Schauspielern  vor  einem  modernen  Publikum  aufgeführt  werden,  geht  auch 
ein  Hauch  moderner  Auffassung  und  modernen  Lebens  in  sie  über. 

Umso  gewisser  erwächst  dem  Literarhistoriker  die  Aufgabe,  jene 
äußeren  Verhältnisse  und  scheinbar  unwichtigen  Nebenumstände  zu  be- 
rücksichtigen. So  wertlos  sie  beim  ersten  Anblick  auch  für  das  Ver- 
ständnis eines  Dichtwerkes  erscheinen  mögen,  man  findet  bald,  dass  sie 
oft  wesentlich  zur  Kenntnis  eines  Dichters  beitragen.  Was  anfangs 
vielleicht  als  unbegreifliche  Eigentümlichkeit  eines  Mannes  erschien,  das 
enthüllt  sich  bei  genauerer  Betrachtung  dieser  äußeren  Verhältnisse  gar 
manchmal  als  das  Ergebnis  zwingender  Umstände. 

Wir  wollen  es  also  versuchen,  im  Geist  die  alte  Bühne  wieder 
aufzubauen,  wie  sie  Corneille  in  den  ersten  Jahren  seiner  Thätigkeit 
kannte.  Denn  auch  in  diesen  Äußerlichkeiten  unterschied  sich  das 
Theater  der  späteren  Zeit,  die  Bühne  Racines,  vielfach  von  dem  Theater, 
auf  welchem  zuerst  der  „Cid"  und  „Polyeucte"  gespielt  wurden.  Wenn 
es  gelingt,  eine  lebendige  Anschauung  der  alten  Bühne  mit  ihren  uns 
so  seltsam  anmutenden  Einrichtungen  zu  geben  und  die  damalige  Weise 
des  dramatischen  Spiels  deutlich  zu  machen,  so  ist  das  ein  großer 
Gewinn.  Dann  ist  der  richtige  Hintergrund  gefunden,  auf  dem  sich 
die  Helden  und  Heldinnen  Corneilles  deutlich  abheben  und  in  ihrer 
wahren  Natur  erkennen  lassen. 

Wir  haben  schon  früher  Gelegenheit  gefunden,  die  Einrichtung 
eines  Theaters  und  die  Art  der  Aufführungen  während  der  ersten  Jahr- 
zehnte des  17.  Jahrhunderts  zu  schildern.  \)  Seitdem  hatten  sich  die 
äußeren  Verhältnisse  nur  langsam  geändert. 

Bei  den  wandernden  Truppen  zumal  war  alles  noch  wie  zuvor; 
wir  haben  das  aus  der  „Comedie  des  Comediens"  von  Scudery  gesehen 
und  auch  Scarrons  „Eoman  comique"  belehrt  uns  zur  Genüge  darüber, 
der  Provinz  wäre,  dürfen  wir  uns  doch  hier  nicht  weiter  damit  ab- 
geben. Daß  aber  auch  in  Paris  die  Schauspielhäuser  noch  nicht  viel 
So  interessant  indessen  eine  Betrachtung  des  Schauspielerlebens  in 
für  die  Schönheit  und  Bequemlichkeit  gethan  hatten,  beweist  ein  im 
Jahr  1643  erschienenes  Buch  von  Sorel  („La  maison  des  jeux).-)  Der 
Verfasser  beschreibt  darin  ausführlich  die  verschiedenen  Gesellschafts- 
spiele und  andere  Arten  der  Unterhaltung.  Dabei  spricht  er  auch  vom 
Eoman  und  vom  Schauspiel.  Den  ersteren  verurteilt  er  entschieden; 
über  den  Wert  des  zweiten  läßt  er  einige  Freunde  streiten.  Einer  der- 
selben, Ariste,  erhebt  sich  gegen  die  Regellosigkeit  der  Stücke  und 
tadelt  die  Theatersäle.  Die  Galerien  mißfallen  ihm  besonders,  weil  man 
die  Schauspieler  dort  nur  von  der  Seite  sehe.     Das  Parterre    sei  wegen 


1)  Siehe  I.  Teil  dieses  Werks,  Abschnitt  X,  S.  189  ff. 

2)  La  maison  des  jeux,  oü  se  treuvent  les  divertissemens  d'une  Com- 
pagnie,  par  des  narrations  agreables  et  par  des  jeux  d'esprit  et  autres  entretiens 
D'une  honneste  conversation.  A  Paris  1643,  chez  Nicolas  de  Sercy.  2  Bände. 
Der  Name  des  Verfassers.  Sorel,  ist  auf  dem  Titel  nicht  genannt. 


493 

des  Gedränges  sehr  unbequem.  Eine  Menge  Strolche  mische  sich  dort 
unter  die  anständigen  Leute,  um  Streit  anzufangen,  nach  dem  Degen 
zu  greifen  und  die  Vorstellung  zu  stören.  Ariste  klagt,  dass  diese 
Menschen  im  Theater  schwatzen,  pfeifen  und  unaufhörlich  schreien.  Da 
sie  umsonst  eingelassen  würden  und  nur  kämen,  um  die  Zeit  tot- 
zuschlagen, so  hätten  sie  nicht  das  mindeste  Interesse  an  dem  aufzu- 
führenden Stück.  Diese  Beschwerden  sucht  sein  Freund  Hermogene  als 
unbegründet  zurückzuweisen,  wobei  er  die  Theater  und  die  neuen 
dramatischen  Dichtungen  verteidigt.  Früher  sei  das  Hotel  de  Bour- 
gogne  allerdings  nur  eine  Stätte  für  grobe  und  kunstlose  Gaukler 
gewesen,  die  ihr  Publikum  mit  der  Trommel  eingeladen  und  nur  den 
Pariser  Pöbel  als  Zuschauer  gehabt  hätten.  Nun  aber  sei  es  anders. 
.,Jetzt  haben  wir  berühmte  Schauspieler,  welche  von  dem  König  und 
dem  Prinzen  unterstützt  werden,  und  welche  ernste,  tüchtige  Stücke 
aufführen,  Stücke,  welche  das  keuscheste  Ohr  anhören  kann  und  die  des 
strengsten  Philosophen  würdig  sind".^) 

Die  dramatischen  Aufführungen,  welche  bei  festlichen  Gelegen- 
heiten dem  Hof  und  dem  hohen  Adel  geboten  wurden,  waren  allerdings 
mit  besonderer  Pracht  ausgestattet.  Aber  das  eigentliche  Theater  war  zur 
Zeit,  da  Corneille  seine  Hauptwerke  schuf,  noch  nicht  viel  eleganter  ein- 
gerichtet, als  es  unter  Alexandre  Hardy  gewesen  war.  Der  Geist  freilich, 
der  in  dem  Hause  waltete,  hatte  sich  in  der  kurzen  Zeit  unverkennbar 
veredelt,  und  das  war  die  Hauptsache. 

Eine  ganz  besondere  Beachtung  erheischt  die  scenische  Einrichtung 
der  älteren  französischen  Bühne. 

Während  man  in  England  noch  zu  Shakespeares  Zeit  eigentliche 
Dekorationen  nicht  kannte,  sondern  in  einem  von  Teppichen  geschlossenen, 
vom  Publikum  rings  umgebenen  Raum  spielte,  und  somit  der  Ein- 
bildungskraft freiesten  Spielraum  ließ,  ging  man  in  Frankreich  einen 
andern  Weg  und  folgte  mehr  dem  Vorbild  Italiens.  Der  künstlerische 
Sinn  des  italienischen  Volkes  suchte  auf  der  Bühne  auch  für  das  Auge 
Befriedigung  und  verlangte  von  der  scenischen  Einrichtung  gefällige 
Bilder.  So  hatte  man  in  den  italienischen  Theatern  bald  schöne  Deko- 
rationen, künstliche  Maschinerien  und  fein  ausgesonnene  Verwandlungen, 
kurz,  eine  reiche  Ausstattung  der  Scene.  In  solcher  Umgebung  konnte 
man  Frauenrollen  nicht  von  jungen  Männern  spielen  lassen,  sondern 
öffnete  bald  auch  Künstlerinnen  den  Zugang  zur  Bühne.  Wir  haben 
schon  erzählt,  mit  welcher  Begeisterung  man  in  Frankreich  die  ersten 
italienischen  Schauspielergesellschaften,  welche  zu  Gastspieleu  über  die 
Alpen  kamen,  begrüßte.  ^)  Bald  eiferten  die  heimischen  Komödianten 
den  fremden  Künstlern  nach,  und  gingen  auch  ihrerseits  in  die  Fremde, 
ihre  Geschicklichkeit  zu  zeigen.  Im  Jahr  162U  wagte  sich  eine 
fi-anzösische  Truppe    nach  London,    und    versprach    sich  von    dem  Auf- 


1)  La  maison  des  jeux.     Band  I.    Drittes  Buch.    S.  400  ff.    —  S.  421  ff. 
über  das  Theater. 

2)  Siehe  I.  Teil  dieses  Werks,    Abschnitt  X,  S.  176  ff. 


494 

treten  einiger  Künstlerinnen,  die  zu  ilir  geliörten,  besonderen  Erfolg. 
Allein  ihre  Erwartungen  wurden  grausam  getäuscht.  Die  puritanischen 
Lehren  hatten  in  England  bereits  die  Oberhand  gewonnen.  Jedes 
Maskenspiel  und  jede  dramatische  Ergötzung  wurde  von  den  Eiferern  als 
eitel  Trug  und  sündhafte  Gaukelei  verdammt.  Die  französischen  Schau- 
spielerinnen wurden  ausgezischt  und  gröblich  insultiert,  ihr  Auftreten  als 
ein  unverzeihlicher  Verstoß  gegen  den  Anstand  verschrieen. 

Nicht  minderes  Ärgernis  gab  wenige  Jahre  später,  1633,  eine 
andere  französische  Gesellschaft,  die  über  den  Kanal  kam;  der  bekannte 
puritanische  Agitator  Prynne  veröffentlichte  damals  seine  heftige  Streit- 
schrift gegen  das  Theater,  „Histriomastix",  die  er  freilich  mit  dem 
Verlust  seiner  Ohren  bezahlte.  Denn  man  fand  in  ihr  eine  Beleidigung 
der  Königin,  die  bei  einem  Hoffest  in  einem  Maskenspiel  mitgewirkt 
hatte.') 

Wenn  das  französische  Theater  sich  beeilte,  vieles  von  der  Spiel- 
weise der  Italiener  anzunehmen,  auch  die  Frauen  auf  der  Bühne  zuzu- 
lassen, so  fand  es  dagegen  mehr  Schwierigkeit  in  der  Behandlung  der 
Dekorationen.  Großen  Aufwand  konnte  es  sich  hierin  vorderhand  nicht 
gestatten. 

Bis  vor  kurzem  hat  man  auf  die  Frage  nach  der  dekorativen 
Ausstattung  der  älteren  französischen  Bühne  keine  genügende  Antwort 
zu  geben  gewußt.  Es  war  sicher,  daß  man  zur  Zeit  Hardys  und  Cor- 
neilles  nicht  die  nötigen  Maschinen  und  überhaupt  nicht  die  Mittel 
besaß,  viele  scenische  Verwandlungen  vorzunehmen.  Und  doch  verlegten 
die  Dichter  die  einzelnen  Scenen  ihrer  Stücke  oft  in  die  verschiedensten 
Gegenden,  und  in  den  gedruckten  Tragödien  wird  der  Wechsel  der  Scene 
wenigstens  teilweise  angegeben.^)  So  spielt  Eotrous  „Hypocondriaque". 
wie  wir  gesehen  haben,  auf  dem  Weg  nach  Korinth,  in  einem  düsteren 
Wald,  einem  Schloß  und  einem  Grabgewölbe.  Corneilles  „Illusion" 
beginnt  mit  einer  Scene  in  der  Wildnis,  vor  der  Höhle  eines  Zauberers : 
die  nächsten  Akte  spielen  auf  der  Straße,  der  vierte  im  Gefängnis  und 
der  fünfte  führt  wieder  zur  Höhle  zurück.  Der  „Cid"  hat  offenbar  als 
Schauplatz  abwechselnd  den  Palast  des  Königs,  das  Gemach  der  Infantin. 
einen  öffentlichen  Platz  und  die  Wohnung  der  Chimene.  Wie  nun  hat 
man  sich  die  Einrichtung  der  Bühne  vorzustellen,  da  sie  den  Anforde- 
rungen des  Dichters  entsprechend  verschiedene  Scenerien  vorstellen  sollte, 
und  doch  den  Wechsel  der  Dekoration  vermeiden  mußte? 

Ein  Manuskript,  das  zu  dem  Archiv  des  „Hotel  de  Bourgogne" 
gehörte  und  jetzt  in  der  Nationalbibliothek  aufbewahrt  wird,  giebt  auf 
diese  Frage  eine  überraschende  Antwort.^)     Es  enthält  die  Beschreibung 

1)  Vergl.  Ben  Jenson  und  seine  Schule.  Von  Wolf  Grafen  von  Baudissin, 
Leipzig  1835,  Brockhaus.    Bd.  1,  S.  XLVI  und  XLVII. 

')  So  heißt  es,  um  ein  Beispiel  anzuführen,  in  Scuderys  Lustspiel:  „Le 
fils  suppose",  Paris  16.36,  chez  Aug.  Courbe  im  zweiten  Akt:  „la  scene  change"; 
„la  scene  change  encore";  im  dritten  Akt:  „la  scene  rechange  encore",  ohne 
weiter  anzugeben,  in  welcher  Art  die  Scene  wechselt. 

sj  „Memoire  de  plusieurs    deeorations . .  commence   par  Laurent  Mahelot 


495 

der  Dekorationen  von  71  Stücken  des  alten  Repertoires,  und  viele  er- 
läuternde Zeichnungen  dazu.  Man  findet  darunter  die  Vorschriften  für 
die  Inscenierung  von  Tragödien  und  Tragikomödien  Hardys,  Rotrous, 
Scuderys,  Corneilles   u.  a.  m. 

Wir  erkennen  daraus,  wie  das  Theater  durch  die  Tradition  wenig- 
stens äußerlich  noch  mit  den  alten  Mysterienspielen  zusammenhing. 
Denn  in  der  Anordnung  der  Dekorationen  findet  sich  noch  das  frühere 
Princip  des  Nebeneinander  gewahrt.  Jn  dem  Mysterium  „von  dem 
Leben,  Leiden  und  Tod,  von  der  Auferstehung  und  Himmelfahrt  Christi", 
das  1547  zu  Valenciennes  vor  der  Sanct  Nikolauskirche  aufgeführt 
wurde,  wies  die  außerordentlich  breite  Bühne  zehn  verschiedene  Scenen 
gleichzeitig  und  nebeneinander  auf.  An  dem  einen  Ende  war  das 
Paradies  dargestellt,  wo  sich  wahrscheinlich  Gott,  von  der  Engelschar 
umringt,  zeigte ;  weiterhin  sah  man  Nazareth ,  dann  den  jüdischen 
Tempel,  die  Stadt  Jerusalem,  und  so  weiter  bis  zu  der  Hölle,  die 
am  andern  Ende  der  Bühne  angebracht  war.  Die  Dekorationen  waren 
nicht  weiter  voneinander  geschieden.  Auf  dem  einen  breiten  Hinter- 
grund sah  man  neben  der  Krippe  zu  Nazareth  einen  schmalen  Tempel, 
daneben  ein  paar  Häuser  u.  s.  f.  Das  Spiel  währte  25  Tage,  während 
dessen  die  Bühne  unverändert  blieb,  nur  daß  die  verschiedenen  Auf- 
tritte an  den  entsprechenden  Plätzen  bald  vor  der  einen,  bald  vor  der 
andern  Dekoration  zur  Darstellung  kamen. ') 

In  ähnlicher  Weise  stellte  auch  das  Theater  zu  Hardys  und  Cor- 
neilles Zeit  seine  Dekorationen  zusammen. 

So  zeigte  die  Bühne  in  Hardys  „La  folie  de  Clidamant"  (um  1619) 
im  Hintergrund  einen  Palast,  links  als  Seitendekoration  das  Meer  mit 
einem  Schilf,  und  rechts  ein  schönes  Zimmer,  das  sich  öffnen  und 
schließen  ließ,  und  in  dem  man  ein  Bett  stehen  sah.  („Bien  pare  avec 
des  draps",  wie  das  Manuskript  vorschreibt.)  Hardys  Stück  hat  sich  nicht 
erhalten.  Wol  aber  kennen  wir  Rotrous  „Hypocondriaque"',  und  die  Vor- 
schriften des  Manuskripts  über  dessen  Inscenierung  sind  daher  doppelt 
interessant.  Als  Hintergrund  sah  man  eine  Totenkapelle,  die  durch  zwei 
große  Kandelaber  erleuchtet  wurde,  und  in  der  mehrere  Särge  standen. 
Die  eine  Seitendekoration  stellte  ein  Schloß  vor  und  daneben  stand  ein 
Baum,  an  den  im  vierten  Akt  ein  Page  gefesselt  wurde,  während  sich 
auf  der  andern  Seite  ein  Wald  mit  einer  Höhle  und  einer  Quelle  zeigte. 
Durch  eine  besondere  Vorrichtung,  wahrscheinlich  durch  einen  Teppich, 
war   der   Hintergrund,    die    Kapelle,    verhüllt,    um    erst    im.  geeigneten 


et  continue  par  Michel  Laurent  en  l'anuee  1673."  Es  war  ein  glücklicher 
Gedanke,  auf  der  Pariser  Weltausstellung  1878  eine  Exposition  theätrale  zu 
veranstalten,  und  darin  eine  Anzahl  dieser  Bühnendekorationen  in  verkleinertem 
Maßstab,  aber  genau  nach  der  Angabe  der  Handschrift  herstellen  zu  lassen. 
Man  konnte  sich  auf  diese  Weise  von  dem  Eindruck  einer  solchen  Buhnen- 
einrichtung die  beste  Eecheuschaft  geben. 

1)  Die  Bühne  des  Mysteriums  zu  Valenciennes  war  ebenfalls  in  der 
Exposition  theätrale  ausgestellt.  Es  standen  dazu  drei  gut  erhaltene  Manu- 
skripte mit  Malereien  zu  Gebote. 


496 


Moment  gezeigt  zu  werden.  Damit  war  der  erste  Schritt  gethan,  der  zu 
der  Kunst  der  scenischen  Verwandlungen  führen  sollte;  aber  allerdings 
war  der  Weg  noch  weit  bis  zu  der  Geschicklichkeit,  mit  der  die  heutigen 
Theaterniaschinisten  die  Bühne  beherrschen. 

Auch  die  „Illusion"  von  Corneille  findet  sich  unter  den  Stücken, 
deren  Dekoration  von  dem  Manuskript  angegeben  wird.  Auch  hier  bot 
der  Hintergrund  das  Bild  eines  stattlichen  Palastes.  Auf  der  rechten 
Seite,  vom  Zuschauer  aus  gerechnet,  erhob  sich  ein  grüner  Hügel,  an 
dessen  Abhang  mehrere  Stufen  zu  dem  Eingang  einer  Höhle  führten. 
Auf  der  linken  Seite  sah  man  einige  Bäume,  welche  nach  der  Angabe 
des  Manuskripts  einen  Park  vorstellten.  Als  weitere,  im  Stück  notwendige 
Requisiten,  werden  „eine  Xacht,  ein  beweglicher  Mond,  Nachtigallen, 
ein  Zauberspiegel,  ein  Zauberstab"  und  einige  andere  Kleinigkeiten  an- 
geführt. 

In  „Lisandre  et  Caliste"  von  Du  Eyer  (1636)  war  die  Dekoration 
noch  mannigfaltiger.  „In  der  Mitte  des  Theaters",  heißt  es  im  Manuskript, 
„erhebt  sich  das  kleine  Kastell  aus  der  Rue  Saint-Jacques,  in  der  die 
Fleischer  wohnen.  Der  eine  Fleischerladen  hat  ein  Fenster,  dem  gegen- 
über ein  anderes  vergittertes  Fenster  in  dem  Gefängnis  zu  sehen  ist,  so 
daß  Lisandre  mit  Caliste  reden  kann.  Das  Ganze  muß  im  ersten  Akt 
noch  verdeckt  sein,  und  darf  sich  nur  im  zweiten  Akt  zeigen,  in  dem 
es  auch  wieder  verhüllt  wird.  Der  Vorhang  kann  zugleich  ein  Schloß 
darstellen.')  Auf  der  einen  Seite  der  Bühne  erhebt  sich  ein  Berg,  auf 
dessen  Gipfel  eine  Einsiedelei  steht.  Aus  einer  zweiten  Einsiedelei  am 
Fuß  dieser  Höhe  tritt  ein  Eremit.  Auf  der  andern  Seite  sieht  man  ein 
Zimmer,  zu  dem  man  einige  Stufen  hinaufsteigt,  und  in  das  man  von 
hinten  eintreten  kann  .  .  .  Man  braucht  auch  eine  Nacht." 

Diese  Beispiele  zeigen  zur  Genüge,  wie  das  ältere  französische 
Theater  die  Bühnendekoration  verstand.  Von  dem  Wunsch  beseelt,  den 
Schauplatz  des  Stücks  schon  durch  die  Dekoration  kenntlich  zu  machen, 
bei  dem  Mangel  an  Maschinerien  jedoch  in  die  Unmöglichkeit  versetzt, 
bei  jedem  Scenenwechsel  auch  die  Dekorationen  zu  ändern,  fand  man 
den  Ausweg,  alle  in  dem  Stück  vorkommenden  Örtlichkeiten  in  einem 
Gesamtbild  zu  vereinigen.  Natürlich  waren  manche  nur  angedeutet;  aber 
so  nur  war  es  den  Schauspielern  möglich,  ihr  Spiel  bald  in  die  Wildnis, 
bald  auf  eine  Straße  oder  wohin  der  Dichter  wollte,  zu  verlegen,  ohne 
sich  mit  mühsamen  Verwandlungen  abgeben  zu  müssen.  Sie  brauchten 
sich  nur  beim  Beginn  jedes  Aufzugs  in  der  Nähe  der  Coulisse  zu  halten, 
welche  den  Ort  der  beginnenden  Handlung  bezeichnete.  Wechselte  er 
im  Lauf  des  Akts,  so  genügte  eine  weitere  ähnliche  Andeutung  von 
Seiten  der  Künstler.  Wenn  der  Dichter  trotzdem  ein  Mißverständnis  oder 
eine  Unklarheit  in  Bezug  auf  den  Ort  befürchtete,  so  trug  er  Sorge, 
eine  der  Personen  alsbald  durch  ein  Wort  genügende  Aufklärung  bringen 
zu  lassen.  Auch  hier  mag  Corneilles  „Illusion"  uns  einige  Belege  geben. 


')  „La  fermeture  sert  de  palais."  Otfenbar  wurde  eine  Art  Vorhang  vor- 
gezogen, auf  dem  ein  Schloß  gemalt  war. 


497 


Der  erste  Akt  spielt,  wie  schon  gesagt,  vor  der  Höhle  des  Magiers,  und 
gleich  der  Beginn  der  ersten  Scene  belehrt  den  Zuschauer  über  die  Gegend, 
in  die  er  sich  versetzen  soll.     Dorante   deutet  auf  die  Höhle  und  sagt: 

„Der  Zauberer,  dem  die  Natur  gehorcht, 
Hat  diese  dunkle  Grotte  sich  erwählt 
Zum  Aufenthalt." ') 

Die  folgenden  Aufzüge  waren  auf  den  freien  Platz  vor  einem  Palast 
und  in  einen  Park  verlegt;  aber  der  Zuschauer  wußte  bereits,  daß  alle 
Vorgänge  nur  als  Schattenbilder  zu  gelten  hatten,  die  der  Magier  herauf- 
beschwor. Unter  anderm  führt  eine  Scene  ins  Gefängnis.  Da  aber  das 
oben  erwähnte  Manuskript  bei  der  Anordnung  der  Dekoration  darauf 
nicht  Rücksicht  nimmt,  darf  man  annehmen,  daß  auch  hier  ein  Vorhang 
half,  der  den  Hintergrund  verbarg.  Wenn  dann  Clindor  in  Ketten  er- 
schien und  von  den  Schrecken  seiner  Lage  redete  (IV,  7,  3),  so  ver- 
stand das  Publikum,  wohin  es  sich  versetzen  sollte. 

In  ähnlicher  Weise  half  sich  Corneille  auch  in  den  anderen  Jugend- 
werken mit  einem  gelegentlichen  Wort,  selbst  wenn  die  Scenerie  kaum 
einer  Erklärung  bedurfte.  So  heißt  es  in  der  „Galerie  du  Palais"  gleich 
zu  Beginn: 

„—  —  —  Seh'  ich  recht, 

Führt  ihn  sein  Vater  her  zu  uns'rer  Straüe."  ~) 

Die  Scene  spielte  also  auf  der  Straße,  wie  auch  die  Dekorationen 
zu  beiden  Seiten  der  Bühne  genugsam  andeuteten.  Auch  in  diesem  Stück 
war  der  Hintergrund  anfangs  durch  einen  Vorhang  geschlossen.  Erst 
in  der  vierten  Scene  des  ersten  Akts  wurde  derselbe  weggezogen,  und 
bot  dem  Publikum  eine  doppelte  Überraschung.  Einmal  hatte  es  eine 
Verwandlung  der  Scene  mitten  im  Akt,  und  dann  sah  es  ein  Bild  der 
eigenen  Stadt.  Denn  der  Hintergrund  zeigte  die  Verkaufsläden  in  der 
großen  Galerie  des  Justizpalastes.  Natürlich  waren  nur  einzelne  Buden 
zu  sehen,  aber  Käufer  und  Verkäufer  unterhielten  sich  über  die  aus- 
gelegten Gegenstände,  und  Dorimant  fordert  einen  Freund  zu  einem  Gang 
durch  die  Halle  auf.^)  Ein  Irrthum  war  also  kaum  möglich. 

In  der  Tragikomödie  „Les  folies  de  Gardenie"  von  Pichou  (1629) 
stellte  die  Bühne  auf  der  einen  Seite  eine  Straße,  auf  der  andern  einen 
öden  Wald  vor.  In  der  ersten  Scene  des  zweiten  Akts  sagt  Cardenio, 
daß  er  sich  der  Wohnung  der  Geliebten  nähere :  die  Scene  spielt  also 
in  der  Stadt.  Wenn  Cardenio  dann  im  Beginn  des  dritten  Akts  ausruft, 
er  habe  sich   die  öde,    schreckensvolle  Gegend    zum  Aufenthalt  erkoren, 


1)  Corneille,  „L'illlusion  comique-',  I,  1,  v.  1  und  2: 

Ce  mage,  qui  d'un  mot  renverse  la  nature, 
N'a  choisi  pour  palais  que  cette  grotte  obscure. 

2)  Corneille,  la  Galerie  du  Palais  I,  1,  v.  21: 

Si  j'ai  bonne  vue, 

Le  voilä  que  son  pcre  amene  vers  la  rue. 

3)  Ibid.  I,  8,  2: 

„Faisons  un  tour  de  salle." 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  32 


498 

so  ersteht  vor  dem  Geist  des  Zuschauers  alsbald  das  Bild  einer  einsamen 
Landschaft.') 

Im  Jahr  1635  ließ  Pierre  Du  Eyer  sein  Lustspiel  „Les  vendanges 
de  Surenes"  aufführen,  und  das  Manuskript  der  Nationalbibliothek  schreibt 
vor,  daß  man  im  Hintergrund  auf  einer  von  der  Seine  bespülten  Anhöhe 
das  Dorf  Surenes  sehen  müsse,  und  die  Seitencoulissen  Weinberge  und 
Obstgärten  vorzustellen  hätten.^)  Der  größeren  Deutlichkeit  halber  be- 
ginnt das  Stück  mit  der  Frage  Philemons  an  seinen  Freund  Tirsis: 

„Bist  Du  nur  deshalb  nach  Surenes  gekommen, 
Um  elend  hier  zu  leben,  oder  gar 
Zu  sterben?"'") 

Ähnlich  legten  die  griechischen  Dramatiker  den  Personen  ihrer 
Tragödien  beim  Auftreten  einige  erklärende  Worte  in  den  Mund,  um 
dem  Zuschauer  deutlich  zu  machen,  wen  er  vor  sich  sah  und  in  welche 
Gegend  er  sich  zu  versetzen  hatte. 

Diese  Beispiele  werden  genügen,  das  System  der  Inscenierung  klar 
zu  machen. 

Zu  der  modernen  Manier,  die  scenischen  Bilder  sorgsam  und  bis 
ins  Kleinste  getreu  der  Wirklichkeit  nachzubilden,  steht  jene  alte  Weise 
freilich  in  grellem  Gegensatz.  Die  Kückkehr  zu  ihr  käme  dem  mo- 
dernen Theaterpublikum  als  eine  Barbarei  vor,  und  wäre  in  der  That 
unmöglich.  Ob  aber  das  heutige  System  der  Ausstattung  höher  steht 
und  künstlerischer  ist,  bleibt  die  Frage.  Das  allzugroße  Gewicht,  das 
man  jetzt  auf  die  Genauigkeit  der  scenischen  Einrichtung  legt,  ist  kein 
gutes  Zeichen.  Die  Bühne  mag  noch  so  trefflich  gemalte  Dekorationen, 
noch  so  überraschende  Maschinerien  und  geschmackvoll  ausgedachte 
Gruppierungen  aufweisen,  sie  muß  doch  immer  an  die  Einbildungskraft 
der  Zuschauer  und  ihren  guten  Willen  appellieren.  In  diesem  Fall  aber 
kommt  es  auf  ein  bischen  mehr  oder  weniger  gemalte  Leinwand  nicht 
an,  und  eine  einfache  Dekoration,  welche  die  Aufmerksamkeit  des  Zu- 
schauers von  der  Hauptsache,  der  Dichtung  und  deren  Darstellung,  nicht 
ablenkt,  ist  besser  als  eine  Inscenierung,  in  welcher  die  Kunst  des  Malers 
und  Maschinisten  Triumphe  feiert,  durch  die  aber  das  Schauspiel  selbst 
gefährdet  wird.  Die  Dekorationsweise  des  älteren  französischen  Theaters 
ist  jedoch  aus  einem  andern  Grund  zu  tadeln.  Die  Zusammenstellung 
der  verschiedenartigsten  Coulissen,  das  Gemisch  von  Architektur.  Land- 


1)  Pichou,  Les  folies  de  Gardenie,  II,  1,  59: 

J'approche  du  legis  oü  ma  belle  captive 
Abandonne  aux  soupirs  sa  passion  craintive. 
Ibid.  III,  1,  v.  9: 

J'ai  choisi  ce  desert  et  rhorreur  de  ces  lieux. 

2)  „ mais  aus  deux  eötes  du  theatre  11  faut  planter  de  vignes,  fa^ou 

de  Bourgogne,  peintes  sur  du  cartou  taille  ä  jour." 

^)  Du  Eyer,  Les  vendanges  de  Surenes,  I,  1,  1: 
N'as-tu  quitte  Paris  pour  venir  ä  Surene, 
Qu'ä  dessein  d\  mourir  ou  d'v  vivre  ä  la  gene? 


499 


Schaft  und  Zimmereinrichtung  macht  jede  einfache  harmonische  Anordnung 
der  Dekoration  unmöglich  und  ist  deshalb  aus  ästhetischen  Gründen  zu 
verwerfen. 

Die  Einsicht  in  diese  scenische  Anordnung  der  alten  französischen 
Bühne  gewährt  uns  Aufklärung  über  manche  bisher  unverstandene  Eigen- 
tümlichkeiten der  Dramen  jener  Zeit. 

Tnter  anderen  Verhältnissen  hätte  diese  Weise  der  Dekoration 
allmählich  zu  einer  größeren  Beweglichkeit  des  Theaters  geführt:  im 
17.  Jahrhundert  mußte  sie  das  Streben  nach  Eegelmäßigkeit  begünstigen. 
Allerdings  bewahrten  die  Dichter  bei  dieser  Art  der  kombinierten  Dekora- 
tionen die  Freiheit  ihrer  Bewegung,  aber  sie  konnten  sich  doch  der 
Überzeugung  nicht  verschließen,  daß  sie  dem  Publikum  das  Verständnis 
oft  erschwerten.  Wenn  Scudery  in  seiner  Streitschrift  gegen  den  „Cid'* 
Corneille  den  Vorwurf  machte,  er  besäße  die  Technik  der  Bühne  nicht, ^J 
so  bezog  sich  derselbe  wahrscheinlich  auf  den  Scenenwechsel.  Aber 
Scudery  wollte  damit  nicht  tadeln,  daß  der  Schauplatz  so  oft  wechsle, 
sondern  nur,  daß  Corneille  dem  Publikum  nicht  klar  mache,  welchen 
Schauplatz  es  sich  bei  einer  neuen  Scene  vorstellen  solle.  Statt  nun  zu 
versuchen,  diesem  Übelstand  durch  wirklichen  Wechsel  der  Dekorationen 
abzuhelfen,  schlugen  die  Dramatiker  den  entgegengesetzten  Weg  ein, 
und  vermieden  mehr  und  mehr,  den  Schauplatz  wenigstens  innerhalb 
eines  Akts  zu  verändern. 

Wie  aber  kleine  Umstände  und  scheinbar  unbedeutende  Einrich- 
tungen oftmals  nachhaltigen  Einfluß  auf  große  Verhältnisse  ausüben 
können,  wenn  sie  in  einem  entscheidenden  Zeitpunkt  hervortreten,  so 
half  auch  damals  eine  an  sich  unwichtige  Kassenspekulation  der  Richtung, 
welche  im  Sinn  der  Theoretiker  die  strengste  Einheit  der  Komposition 
verlangte,  zum  Sieg. 

Bei  Gelegenheit  eines  großen  Bühnenerfolgs  räumten  die  Künstler 
des  „Hotel  de  Bourgogne"  einigen  Zuschauern  Plätze  auf  der  Bühne 
ein.  Wann  dies  zum  erstenmal  geschah,  ist  nicht  mit  Sicherheit  fest- 
zustellen. Aber  die  einmalige  Vergünstigung  wurde  bald  zur  festeu  Ein- 
richtung, und  man  sah  seitdem  auf  jeder  Seite  der  Bühne  eine,  bald 
auch  mehrere  Eeihen  Sitze  für  das  Publikum.  Die  Plätze  waren  teuer; 
Moliere  sagt  einmal,  daß  sie  einen  halben  Louisd'or  kosten,  ein  für  jene 
Zeit  sehr  hohes  Eintrittsgeld.  Eine  niedrige  Balustrade  schied  sie  von 
den  Schauspielern.  Das  Publikum,  das  sich  an  diesen  bevorzugten  Plätzen 
zusammenfand,  bestand  meistens  aus  vornehmen  jungen  Leuten,  reichen 
Theaterfreunden  und  Gönnern,  welche  sich  viel  erlauben  durften,  oft  in 
das  Spiel  hineinredeten  und   recht  störend  werden   konnten.-)    Aber  die 


1)  Siehe  Abschnitt  VI  dieses  Bands,  S.  381  und  384. 

2)  Crebillon  sagt  in  seiner  „Lettre  sur  les  spectacles":  On  ne  savait 
quelquefois,  si  le  jeune  seigneur  qui  allait  prendre  sa  place,  a'etait  point  Tamou- 
reux    de  la  piece  qui   venait  jouer  son  röle.    C'est   ce  qui  donna  lieu  ä  ce  vers 

„On  attendait  Pyrrhus:  on  vit  paraitre  un  fat!" 
Später  fanden  sich  auf  jeder  Seite  der  Bühne  neun  Reihen  Sitze,  welche 
durch  eine  vergoldete  Balustrade  von  den  Schauspielern  getrennt  waren.    Aber 


500 


Sitte  war  in  England  schon  recht  heimisch,  und  hatte  bei  dein  Fehlen 
jeder  Dekoration  auch  keinen  großen  Nachteil  gebracht;  die  heutigen 
Prosceniumlogen  sind  kaum  etwas  anders,  als  die  alten  Bühnensitze. 
Treten  heute  die  Schauspieler,  wie  das  häufig  geschieht,  auf  das  Pro- 
scenium  vor,  so  spielen  sie  inmitten  des  Publikums,  ohne  daß  es  diesem 
einfiele,  sich  darüber  zu  beklagen.  Ja,  einige  neuere  Theater,  wie  z.  B. 
das  Pariser  Opernhaus,  kennen  sogar  Logen  auf  der  Bühne,  die  vom 
Publikum  geschieden  sind,  wenn  der  Vorhang  fällt. 

Allein  bei  der  schmalen  Scene  des  alten  französischen  Theaters 
hatte  das  Vordringen  des  Publikums  auf  die  Bühne  eine  schlimme  Folge. 
Die  Seitendekorationen  wurden  verdeckt  und  verloren  ihre  Bedeutung. 
Damit  wurde  die  kombinierte  Dekoration  unmöglich,  und  in  der  That 
scheint  sie  bereits  gegen  die  Mitte  des  Jahrhunderts  außer  Gebrauch 
gekommen  zu  sein. 

So  sahen  sich  die  Dichter  genötigt,  den  halb  widerwillig  ein- 
geschlagenen Weg  weiter  zu  verfolgen.  Sie  fügten  sich  der  Regel  von 
der  Einheit  des  Orts.  Die  weitere  konsequente  Entwicklung  dieser  Regel 
führte  mit  der  Zeit  zu  einer  neutralen,  fast  ideellen  Scene,  wo  sich  alle 
Parteien  trafen  und  jeder  Streit  ausgefochten  wurde.  Schließlich  ver- 
schwand aus  der  Tragödie  jede  Beziehung  auf  nationale  und  historische 
Verhältnisse,  und  der  Pulsschlag  des  Lebens  stockte  in  diesen  Werken.^) 

Doch  diese  Form  des  Dramas  sollte  sich  erst  später,  in  dem 
18.  Jahrhundert  entwickeln.  Zur  Zeit  Corneilles  und  Racines  besaß  das 
Theater  noch  Freiheit  und  Kraft,  und  ließ  nur  in  einzelnen  Erschei- 
nungen die  Anzeichen  künftiger  Erstarrung  erkennen. 

Wie  völlig  übrigens  die  Erinnerung  an  die  kombinierte  Dekoration 
selbst  den  Zeitgenossen  schwand,  beweist  das  Urteil,  welches  einer  der 
bekanntesten  Ästhetiker  des  Jahrhunderts,  der  trockene  und  pedantische 
d'Aubignac,  über  Corneilles  „Cinna"  fällte.  Er  könne  nicht  begreifen, 
schrieb  er,  wie  man  in  einem  offenbar  sehr  belebten  Saal  des  kaiser- 
lichen Palasts  sich  über  geheime  Anschläge  gegen  den  Kaiser  besprechen 
könne.    Er    habe  nie  verstanden,    wie    der  Dichter   an  einem  und  dem- 


die  vornehmen  und  übermütigen  Herren,  die  hier  zumeist  ihre  Plätze  fanden,, 
begnügten  sich  nicht  immer  mit  ihrem  Sitz  und  versperrten  oft  jeden  Zugang. 
Darüber  wäre  u.  a.  die  Tragödie  „Childeric"  von  Morand  beinahe  gefallen 
(173G).  In  einer  besonders  pathetischen  Scene  sollte  ein  Bote  mit  einem  Brief 
kommen,  konnte  aber  durch  die  Masse  der  auf  der  Bühne  stehenden  Zuschauer 
trotz  aller  Mühe  nicht  durchdringen.  Plötzlich  rief  eine  Stimme  aus  dem  Par- 
terre: „Place  au  facteuri"  und  die  tragische  Stimmung  des  Publikums  wich 
einer  allgemeinen  Heiterkeit.  Man  vergleiche  die  interessanten  Grundrisse  des 
Saals  der  Comedie  fran9aise  in  dem  Werk  „Arehitecture  fran^aise"  von  Blondei 
(Paris  1752],  dann  die  „Notice  historique  sur  les  anciens  bätiments  de  la  Comedie 
franyaise",  par  M.  Jules  Bonnassies.  Paris  1867,  und  Ad.  Jullien,  „La  comedie  et 
la  galanterie  au  ISme  siecle".  Paris  1879  (Les  spectateurs  sur  le  theätre), 
p.  63  ff. 

1)  Man  vergleiche  über  die  Pariser  Theater-Ausstellung  und  die  daran 
sich  knüpfenden  Fragen  einen  Aufsatz  von  Francisque  Sarcey  in  dem  Feuilleton 
des  Journals  „Le  Temps"  vom  23.  September  1878  und  einen  andern  von  Hugo 
Wittmann  in  der  Wiener  „Neuen  Freien  Presse"  vom  1.  November  1878. 


501 


selben  Ort  Cinna  und  Emilia  von  der  Verschwörung  gegen  das  Leben 
des  Augustus,  und  Augustus  mit  Cinna  über  die  Ordnung  des  Staats 
reden  lassen  könne. ^)  D'Aubignacs  Kritik  erschien  im  Jahr  1669  in 
seinem  Werk  über  das  Theater.  Offenbar  spielte  man  .,Cinna"  unter 
Beachtung  der  Einheit  des  Orts,  und  nabm  der  Handlung  damit  jeden 
Charakter  der  "Wahrscheinlichkeit.  Und  doch  hätte  man  sich  erinnern 
müssen,  daß  das  Stück  früher  jedenfalls  als  an  zwei  Orten  spielend  dar- 
gestellt wurde,  wenn  auch  keine  Verwandlung  stattgehabt  hatte.  Aber 
selbst  Corneille  vermied  es,  an  die  kombinierte  Dekoration  zu  erinnern. 
Vielleicht  erschien  sie  ihm  als  barbarisch,  und  er  begnügte  sich,  in 
seinem  kritischen  Vorwort  zu  „Cinna"  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
daß  das  Stück  an  zwei  verschiedenen  Orten  spiele,  im  Palast  des  Kaisers 
und  in  der  Wohnung  der  Emilia.  „Um  jene  Teilung  des  Orts  etwas  zu 
verbessern",  schrieb  er  in  seiner  Abhandlung  über  die  drei  Einheiten, 
„möchte  ich  zweierlei  vorschlagen:  einmal,  daß  man  nie  während  eines 
Akts  wechsle,  sondern  nur  zwischen  den  Akten,  wie  dies  für  die  drei 
ersten  Aufzüge  des  „Cinna"  der  Fall  ist,  und  zweitens,  daß  diese 
beiden  Orte  nie  verschiedene  Dekorationen  nötig  hätten, 
und  daß  keiner  der  beiden  Orte  je  genannt  werde,  sondern  daß  man 
nur  allgemein  angebe,  die  Scene  spiele  zu  Paris,  Kom,  Lyon  u.  s.  w." 
Wie  in  dem  System  der  Dekorationen,  unterscheidet  sich  das  ältere 
Theater  auch  in  der  sonstigen  Weise  der  Ausstattung,  besonders  in  Be- 
zug auf  das  Kostüm,  von  der  modernen  Bühne.  Wir  lesen  wol  oft,  daß 
man  bei  besonderen  Gelegenheiten,  bei  Festvorstellungen  oder  der  Auf- 
führung neuer  Stücke,  von  welchen  man  sich  viel  versprach,  durch  die 
Pracht  der  Kostüme  zu  glänzen  gesucht  habe.  Man  berichtet  von  der 
Freigebigkeit  Richelieus  und  anderer  Gönner  des  Theaters,  welche  den 
Schauspielern  die  Mittel  zu  kostbarer  Ausstattung  gaben.  Aber  man  darf 
dabei  nicht  an  historisch  treue  Kostüme  denken  und  nicht  etwa  glauben, 
daß  die  Regie  des  alten  Theaters  in  einem  Stück  aus  der  römischen  Ge- 
schichte für  Römertracht,  in  einer  Tragödie,  die  im  Orient  spielt,  für 
orientalische  Anzüge  gesorgt  habe.  Die  Tracht  des  17.  Jahrhunderts, 
das  Staatskleid,  wie  die  herrschende  Mode  es  vorschrieb,  war  ein-  für 
allemal  das  Kostüm,  in  dem  der  Schauspieler  auftrat,  mochte  er  einen 
Heros  der  Mythologie  wie  Herkules,  oder  einen  Pompejus,  oder  einen 
Cid  spielen.'^)  Selbst  Attila  mußte  es  sich  gefallen  lassen,  seine  hunnische 
Tracht  gegen  das  vornehme  Gewand  des  17.  Jahrhunderts  zu  vortauschen. 
Die  großen  Perrücken  kamen  für  Helden  und  Götter  des  Theaters  (nicht 
für  die  Gesellschaft)  um  das  Jahr  1621»  in  die  Mode.  Wir  wissen,  daß 
Mondory  sich  dagegen  auflehnte  und  mit  kurz  geschnittenem  Haar  spielte, 
wegen  dieser  Kühnheit  aber  auffiel  und  mit  seiner  Ansicht  nicht  durch- 
drang.^)   Daß   wir   diese  Nichtbeachtung  des  historischen  Charakters    in 


1)  D'Aubignac,  Pratique  du  theätre,  p.  396. 

2)  Sorel,  La  maison  des  jeux,  p.  453. 

•')  Vergl.  Taschereau,  Noten  zu  dem  L  Buch,  Nr.  9,  S.  279. 


502 

der  Anordnung  der  Kostüme  nicht  billigen,  haben  wir  wol  kaum  zu  sagen. 
Aber  man  braucht  sich  auch  nicht  über  jene  Weise  der  früheren  Zeit 
zu  entsetzen.  Auch  hier  vYie  bei  der  Dekoration  ist  vieles  Sache  der 
Konvention,  und  die  großen  Dramatiker  der  Spanier,  Engländer  und 
Franzosen  fühlten  sich  durch  das  unhistorische  Kostüm,  das  die  Schau- 
spieler zu  ihrer  Zeit  trugen,  in  keiner  Weise  beengt.  Shakespeares  und 
Calderons  Stücke  wurden  von  den  Schauspielern  in  der  Tracht  ihrer  Zeit 
dargestellt,  und  noch  im  vorigen  Jahrhundert  hat  Garrick  keine  andere 
Weise,  sich  zu  kostümieren,  gekannt.  Höchstens  gab  man  als  Andeu- 
tung eine  leichte  Zuthat  zum  modernen  Kleid,  dem  römischen  Krieger 
einen  antiken  Helm  oder  einen  Mantel,  der  an  eine  Toga  erinnern  konnte. 
Scarron  erzählt  in  seinem  Roman  von  einem  umherziehenden  Komödianten, 
der  eine  Nachtmütze  mit  verschiedenfarbigen  Strumpfbändern  aufputzt 
und  zu  einer  Art  Turban  formt.  Derselbe  Künstler  trägt  Hosen  wie  die 
Schauspieler,  wenn  sie  einen  Helden  des  Altertums  vorstellen.^)  Mehr 
noch  für  Äußerlichkeiten  dieser  Art  zu  thun,  hielt  man  nicht  für  nötig. 
Der  Respekt  vor  der  historischen  Treue,  der  realistische  Sinn  der 
Gegenwart  kann  sich  schwer  mit  einer  solchen  Auffassung  befreunden, 
und  doch  fragt  es  sich,  ob  nicht  die  ängstliche  Sorge,  in  jedem  Punkt 
dem  geschichtlichen  Charakter  einer  Zeit  und  eines  Landes  zu  entsprechen, 
der  modernen  dramatischen  Poesie  sehr  geschadet;  ob  nicht  die  Gelehr- 
samkeit den  dichterischen  Sinn  gedrückt  hat?  Gerade  die  modernen 
Werke,  die  ganz  in  Lokalfarbe  getaucht  sind  und  die  Menschen  der  ver- 
schiedensten Zeiten  und  Völker  getreu  so  schildern  wollen,  wie  die  Ge- 
schichtsbücher sie  uns  zeigen,  sind  gar  häufig  unwahr  und  gespreizt 
bis  zum  Äußersten.  Wo  sind  die  modernen  Römerdramen,  die  sich  mit 
Shakespeares  „Julius  Cäsar"  oder  selbst  Corneilles  „Horace"  vergleichen 
lassen?  Die  Helden  dieser  Tragödien  aber  trugen  das  spanische  Kostüm, 
wie  es  im  16.  und  17.  Jahrhundert  in  Europa  getragen  wurde.  Die 
erste  Ausgabe  des  „Polyeucte"  (1643)  ist  mit  einer  Vignette  geziert, 
welche  den  Helden  des  Stücks  zeigt.  Er  ist  dargestellt,  wie  er  im  Tempel 
die  heidnischen  Idole  mit  einem  Hammer  zerschlägt,  und  der  Zeichner 
gab  ihm  den  spanischen  Wams,  die  kurzen,  gepufften  spanischen  Hosen, 
Handschuhe  und  einen  Federhut.  Sicherlich  war  er  so  auf  der  Bühne 
erschienen.  Noch  Voltaire  sah  ihn  in  ähnlichem  Anzug,  nur  hatte  zu 
dessen  Zeit  das  spanische  Kostüm  der  französischen  Hoftracht  Platz  ge- 
macht. Aber  damals  noch  wie  früher  nahm  Polyeucte  seinen  Hut  ab, 
wenn  er  beten  wollte;  noch  immer  zog  er  die  Handschuhe  aus,  bevor 
er  die  Hände  faltete,  und  Sever  kam  mit  dem  Hut  auf  dem  Kopf,  wäh- 
rend Felix  ehrerbietig  vor  ihm  das  Haupt  entblößte.^)  Wenn  wir  in  den 
Ausgaben  anderer  Tragödien  Kupfer  finden,  die  sich  in  der  Zeichnung 
des  Kostüms  mehr  an  die  historische.  Wahrheit  halten,  darf  uns  das 
nicht  beirren.    Bringt    z.  B.  der   „Scävola"   des    Pierre  du  Ryer  (1647) 


1)  Scarron,  Ptoman  comique,   chap.  I,  p.  9,  edit.  Victoire    Fournel    (Paris 
1857,  Jannet). 

')  Vergl.  Voltaires  Kommentar  zu  „Polyeucte-',  IV,  3,  v.  107. 


503 


ein  Bild,  welches  König  Porsenna,  Tarquinius  und  Muciiis  Scävola  in  alt- 
römischer  Tracht  vorstellt,  so  können  wir  daraus  nur  schließen,  daß  der 
Zeichner  sich  bei  der  Ausschmückung  des  Buchs  an  die  Geschichte  ge- 
halten habe,  nicht  aber,  daß  die  Schauspieler  bei  der  Aufführung  in 
römischem  Gewand  erschienen  seien.')  Voltaire  bringt  eine  ähnliche  Notiz 
wie  über  „Polyeucte"  auch  über  die  Aufführung  des  „Cinna".  Er  be- 
zieht sich  in  seinem  Kommentar  auf  einen  Ausspruch  Penelons  über  die 
allzu  prunkhafte  Sprache,  welche  man  oft  in  der  Tragödie  den  Körnern 
gebe,  und  fügt  hinzu.  „Der  Erzbischof  von  Cambray  hatte  umsomehr 
Recht,  dieses  falsche  Pathos  zu  tadeln,  als  die  Schauspieler  zu  seiner 
Zeit  diese  Schwäche  durch  eine  lächerliche  Übertreibung  in  der  Klei- 
dung, der  Deklamation  und  dem  Spiel  noch  fühlbarer  machten.  Augustus 
erschien  in  der  Haltung  eines  Matamore;  er  trug  eine  Perücke,  die 
vorn  bis  zu  den  Hüften  herabfiel  und  mit  Lorbeerblättern  ausstaffiert 
war.  Darüber  trug  er  einen  Hut  mit  zwei  Reihen  roter  Federn.  So  von 
gallischen  Gauklern  auf  einer  kleinen  Bühne  dargestellt,  bekam  Augustus 
einen  sonderbaren  Charakter.  Er  setzte  sich  auf  einen  riesigen  Lehn- 
sessel, zu  dem  man  zwei  Stufen  emporstieg,  und  Maxime  und  Cinna 
saßen  auf  zwei  kleinen  Taboui'ets.  Die  hochtrabende  Deklamation  ent- 
sprach vollkommen  diesem  Aufputz,  und  besonders  verfehlte  Augustus 
nicht,  auf  Cinna  and  Maxime  mit  edler  Verachtung  herabzublicken''.^) 
In  Mairets  „Sophonisbe"  findet  sich  allerdings  ein  Vers,  der  für 
eine  größere  Rücksicht  auf  historisches  Kostüm  zu  sprechen  scheint. 
Massinissa  sieht  am  Schluß  des  vierten  Akts  einen  Soldaten  herbeieilen 
und  fragt,  was  der  Krieger  „in  römischer  Tracht"  bringe?  Indessen  ist 
schon  oben  bemerkt  worden,  daß  man  sich,  um  ein  besonderes  Kostüm 
anzudeuten,  oft  mit  kleinen  Abzeichen  begnügte,  und  so  mag  es  auch 
dort  gewesen  sein.  Denn  daß  man  zur  Zeit  Mairets  die  Kostümfrage 
anders  aufgefaßt  und  die  historische  Wahrheit  sorgfältiger  zu  bewahren 
gesucht  hätte,  ist  undenkbar.  Wenn  man  das  Publikum  einmal  daran 
gewöhnt  hat,  auch  in  dieser  Hinsicht  eine  gewisse  Treue  zu  fordern,  so 
kann  man  nicht  mehr  zu  der  naiveren  Art  zurückkehren.  Zudem  be- 
weisen uns  andere  Berichte  über  die  Aufführungen  von  Mairets  „Sopho- 
nisbe",  daß  das  Publikum  damals  durchaus  nicht  an  den  Realismus  der 
Inscenierung  gewöhnt  war.  König  Siphax  erschien  im  Lauf  des  Stücks 
als  Gefangener  in  Ketten,  und  selbst  diese  schienen  schon  zu  viel.  Sie 
beleidigten  das  ästhetische  Gefühl  jener  Zeit.  Darum  riet  auch  Corneille 
später,  solche  äußeren  Mittel  wegzulassen.  „Das  Gefängnis,  in  das  ich 
Ägeus  werfen  lasse,  bietet  einen  unangenehmen  Anblick,  den  ich  zu  ver- 


^)  Le  Scevole  de  M.  Du  Ryer.   Paris  1647,  chez  Antoiue  de  Sommavüle. 

-)  Voltaire,  Kommentar  zu  „Ciuna",  II,  1,  v.  3.    Daß   noch  Moliere,  der 

sich  auch  mit  tragischen  Rollen  abgab,  als  Cäsar  in  Corneilles  „Pompee"  mit 

einem  großen  Lorbeerkranz   erschien,    geht  aus   den  Spottversen  seiner  Gegner 

hervor : 

Sa  perruque  qui  suit  le  cöte  qu'il  avance 
Plus  pleine  de  laurier  qu'un  jambon  de  Mayence. . . 
heißt  es  in  dem  „Impromptu  de  l'hötel  de  Conde",  sc.  4,  v.  24. 


504 


meiden  rate.  Gitter,  welche  den  Schauspieler  vom  Publikum  trennen  und 
mehr  als  die  Hälfte  seiner  Person  verbergen,  haben  zur  Folge,  daß  die 
Handlung  schleppend  wird.  Manchmal  läßt  es  sich  nicht  vermeiden,  und 
einige  der  Hauptpersonen  müssen  auf  der  Bühne  verhaftet  werden;  aber 
dann  begnügt  man  sich  besser  damit,  ihnen  Wächter  zu  geben,  welche 
ihnen  überall  folgen  und  weder  Schauspiel  noch  Handlung  beeinträchtigen." ') 
In  „Polyeucte"  diente  darum  der  Saal,  in  dem  sich  auch  die  anderen 
Personen  trafen,  zugleich  als  Gefängnis  des  Märtyrers,  und  seine  Haft 
war.  wie  schon  früher  gesagt  wurde,  nur  durch  die  ihn  begleitenden 
Wächter  angedeutet. 

Im  Lustspiel  und  in  der  Posse  fand  man  solch  ängstliche  Rück- 
sicht nicht  für  nötig.  Die  Würde  eines  Kunstwerks,  die  sich  auch  in 
der  einheitlichen  Form  zeigen  sollte,  wurde  hier  nicht  beansprucht.  Darum 
erlaubten  sich  die  Dichter  des  Lustspiels  größere  Freiheit  in  der  Anord- 
nung und  dem  Wechsel  der  Scenen.  Der  „Menteur"  spielt  an  zwei  ganz 
verschiedeneu  Orten,  die  nach  Unterdrückung  der  kombinierten  Dekora- 
tion auch  auf  der  Bühne  durch  zwei  Scenerien  deutlich  unterschieden 
wurden.  Ähnlich  verhielt  es  sich  mit  den  übrigen  Lustspielen.  Daß  später 
das  höhere  Lust-  und  Charakterschauspiel,  wie  der  „Misanthrope"  und 
„Tartufe",  sich  an  die  strenge  Weise  der  Komposition  hielt,  kann  nicht 
überraschen.  Dieselbe  Freiheit,  welche  das  Lustspiel  und  die  Posse  für 
den  Bau  und  die  Haltung  ihrer  Stücke  bewahrten,  besaßen  sie  auch  für 
die  Kostüme.  Von  der  feinen,  modischen  Tracht  der  vornehmen,  adeligen 
Gesellschaft  und  der  solid  einfachen  Kleidung  des  Bürgerstands  bis  herab 
zur  bunten,  phantastischen  Jacke  des  Lustigmachers  fanden  alle  Kostüme 
ihre  Anwendung.  Besonders  in  der  Posse  war  der  tollen  Laune  alle  Frei- 
heit gelassen.  Und  darum  wurde  sie  auch  noch  längere  Zeit  mit  der 
Maske  gespielt,  wie  ja  auch  die  Damen  unter  den  Zuschauern  das  Ge- 
sicht unter  einer  Halbmaske  verbargen.  Solange  die  Frauenrollen  durch 
junge  Leute  dargestellt  wurden,  trugen  diese  eine  Maske,  was  umso 
weniger  auffiel,  als  die  Damen  im  gewöhnlichen  Verkehr  auf  der  Straße 
und  auf  Reisen  noch  lange  die  Maske  gebrauchten.  Besonders  wurden 
die  alten  Dienerinnen  (les  nnurrices)  und  die  Soubretten,  deren  Sprache 
mehr  als  frei  war,  von  jungen  Leuten  dargestellt,  nachdem  schon  lange 
Schauspielerinnen  in  den  feineren  Rollen  auftraten.  Daß  Corneille  in 
seiner  ,. Galerie  du  Palais"  die  gemeine  „Xourrice"  durch  eine  Zofe  er- 
setzte und  sie  von  einer  Schauspielerin  darstellen  ließ,  ist  schon  gesagt 
worden.  Aber  auch  die  Männer  maskierten  sich  öfters  auf  der  Bühne. 
In  der  ,. Suite  du  Menteur"  erzählt  der  Diener  seinem  Herrn,  daß  man 
ihn  in  Paris  aufs  Theater  gebracht  habe  und  selbst  den  seligen  alten 
Herrn  mit  der  Maske  spiele.-)  Andere,  zumal  die  Clowns  der  Posse,  die 
durchtriebenen  Diener,    die  in  dem  Kostüm  der  italienischen  Zunni  auf- 


1)  Comeille,  „Examen"  zu  Medee. 

2)  Corneille,  Suite  du  Menteur,  I,  3,  42: 

,.Votre  feu  pere  meme  est  joue  sous  le  masque*- 


505 

traten,  puderten  sich  das  Gesicht.^)  Von  Moliere  wissen  wir,  daß  er  noch 
den  Mascarille  in  seinen   „Precieuses  ridicules"   mit  einer  Maske  gab. 

Einen  merkwürdigen  Einblick  in  das  bunte  Treiben  der  Schau- 
spieler hinter  der  Scene  gewährt  uns  Kotrou  in  seinem  „Saint-Genest". 
Der  römische  Schauspieler  Genest  (Genesius)  bespricht  sich  in  der  ersten 
Scene  des  zweiten  Akts,  während  er  sich  ankleidet  und  seine  Rolle  über- 
blickt, mit  dem  Dekorateur  und  sagt  ihm,  daß  er  etwas  mehr  für  die 
Schönheit  der  Coulissen  hätte  thun  sollen.  In  der  dritten  Scene  sehen 
wir  eine  Schauspielerin  Marcelle,  welche  ihr  Kostüm  bereits  angelegt  hat 
und,  ebenfalls  mit  der  Rolle  in  der  Hand,   von  ihren  Triumphen  träumt.-) 

Schließlich  sei  noch  mit  einem  Wort  des  Vortrags  und  des  Spiels 
gedacht.  Wir  haben  zwar  nicht  viel  genaue  Angaben  über  die  Art. 
in  welcher  die  Schauspieler  die  Verse  recitierten,  und  wie  weit  sie  in 
ihrem  Spiel  realistisch  waren,  aber  soviel  ersehen  wir  doch,  daß  der 
Unterschied  der  älteren  Spielweise  von  der  neueren  groß  war.  Es  liegt 
4ies  in  der  Natur  der  Sache.  Wie  in  der  Beredsamkeit  die  Art  des 
Vortrags  sich  fortwährend  ändert  und  der  Mode  unterworfen  ist,  so 
auch  die  dramatische  Kunst.  Man  spielt  heute  in  Frankreich  ganz 
anders  als  vor  hundert  Jahren,  sowie  man  damals  anders  auf  den 
Brettern  redete,  als  man  es  im  17.  Jahrhundert  gethan  hat.  Dennoch 
zwang  der  strenge  Charakter  der  französischen  Tragödie,  der  sich 
während  zweier  Jahrhunderte  erhielt,  auch  den  Schauspieler,  gewisse 
Regeln    immer  zu  beobachten.     Die  Tragödie  war  durch  die  Forderung 


')  Scarron,  Rom.  com.,  I,  eh.  5,  S.  27:  „11  se  farinoit  ä  la  farce". 

-)  Rotrou,  Le  veritable  Saint-Genest,  II,  1.  Saint-Genest  zum  Dekorateur 
über  die  Dekoration: 

11  est  beau;  mais  encor,  avec  peu  de  depense, 

Yous  pouviez  ajouter  ä  sa  magnitic-ence, 

N'y  laisser  rien  d'aveugle,  y  mettre  plus  de  jour, 

Donner  plus  de  hauleur  aux  travaux  d'alentour, 

En  marbrer  les  dehors,  en  Jasper  les  colonnes, 

Enrichir  leur  tirapans,  leurs  cimes,  leurs  couronnes 

Mettre  en  vos  coloris  plus  de  diversite, 

En  vos  carnations  plus  de  vivacite, 

Dl  aper  mieux  ces  habits,  reculer  ces  paysages, 

Y  lancer  des  jets  d'eau.  refondre  leurs  oinbrages; 

Et  surtout  en  la  toile  oii  vous  peignez  vos  cieux 

Faire  uu  jour  naturel,  au  jugement  des  yeux; 

Au  lieu  que  la  couleur  m'en  semble  un  peu  nieurtrie. 

Le  decorateur 
Le  temps  nous  a  manque  plutot  que  l'industrie. 

In  der    dritten  Scene    kommt  Marcelle   (achevant  de  s'habiUer  et  tenant 
son  i-üle) : 

Dieux!  comment  en  ces  lieux  faire  la  comedie? 

De  combien   d'etonrdis  j'ai  la  tete  etourdie! 

Combien,  ä  les  ou'ir,  je  fais  de  languissans! 

Par  combien  d'attentats  j'entreprends  sur  les  sens! 

Ma  Vüix  rendroit  les  bois  et  les  rochers  sensibles; 

j\les  plus  simples  regards  sont  des  nieurtres  visibles.  etc. 


506 

der  Einheiten  in  gewisser  Hinsicht  realistisch;  sie  begab  sich  aber 
durch  die  Behandlung  des  Dialogs,  die  eigentümliche  Zeichnung  der 
Charaktere  und  die  ängstliche  Scheu  vor  jeder  Handlung  auf  der  Bühne, 
kurz  durch  ihre  ganze  sonstige  Haltung  auf  ein  ideales  Gebiet.  Diesen 
doppelten  Charakter  trug  auch  das  Spiel  der  Künstler.  Nur  muß  man 
dabei  nicht  außer  acht  lassen,  daß  man  im  17.  Jahrhundert  sich 
stärkerer  Nerven  als  heute  rühmen  konnte,  und  daß  man  auch  im 
Theater  gern  grelle  Farben  und  entschiedenen  Ton  liebte.  Noch  bi& 
zum  heutigen  Tag  spricht  der  französische  Schauspieler  eine  tragische 
Eolle  anders,  als  sie  von  einem  nordischen  Künstler  gegeben  wird. 
Daran  ist  zum  Teil  schon  der  Alexandriner  Schuld,  dessen  ganzer  Bau 
in  seiner  Regelmäßigkeit,  seinem  Tonfall  und  durch  den  Zwang  der 
Keime  dem  Vortragenden  eine  schwere  Arbeit  auferlegt,  nur  um  nicht 
in  Monotonie  zu  verfallen.  Der  französische  Künstler  hat  unendliche 
Mühe,  diese  Klippe  zu  vermeiden;  er  sucht  nach  Nuancen,  nach  Har- 
monie und  Abwechslung,  wo  der  englische  und  deutsche  Schauspieler 
den  fünffüßigen  jambischen  Vers  einfach  behandeln  und  fast  wie  in 
Prosa  reden  kann.  Das  französische  Publikum  freut  sich  darum  auch 
mehr  als  ein  anderes  an  dem  Klang  des  schön  dahinrollenden  Verses. 
Der  Schauspieler  gefällt  ihm,  der  die  vornehme  tragische  Sprache  mit 
besonderer  Rücksicht  anf  den  AYohlklang  behandelt,  sie  bald  im  Donner- 
gang dahin  brausen,  bald  wieder  in  langsamem  Vortrag  voll  und  gewichtig 
ins  Ohr  fallen  läßt,  ohne  daß  jede  Nuance  der  Deklamation  gerade  dem 
Inhalt  des  Verses  völlig  entspräche.  Dies  ist  die  alte  Tradition  der 
Tragödie,  während  die  französischen  Künstler  im  Schau-  und  Lustspiel 
den  natürlichen  Ton  bewahren  und,  wie  bekannt,  in  der  meisterhaften 
Einfachheit  und  Harmonie  des  Spiels  unübertroffen  sind. 

In  früheren  Zeiten  war  die  ebenerwähnte  Art  der  Recitation  in 
der  Tragödie  noch  bedeutend  stärker,  und  der  Vortrag  näherte  sich 
öfters  dem  Recitativ.  So  verspottet  Moliere  in  seinem  „Impromptu  du 
Versailles"  die  emphatische  Weise  der  Schauspieler  des  Hotel  de  Bour- 
gogne,  die  einem  König  selbst  in  einfachen  Scenen  immer  einen  „ton 
de  demoniaque"  geben,  und  z.  B.  in  Corneilles  „Horace"  Cariatius  und 
Camilla  einander  anschreien  lassen  ^).     Wenn  das  noch  zur  Zeit  Moliere& 


1)  Moliere,  „Impromptu  de  Versailles",  sc.  1.  Moliere  erzählt  dort  von 
einem  Stück,  das  er  früher  einmal  zu  schreiben  beabsichtigt.  Darin  hätte  er 
einen  Dichter  und  einen  Schauspieler  zusammenbringen  wollen.  Der  Schau- 
spieler hätte  zur  Probe  einige  A'erse  aus  dem  „Nicomede"  in  einfacher  Weise 
vorzutragen  und  der  Dichter  ihn  zu  unterbrechen:  „Comment!  vous  appelez 
cela  reciter?     C'est  se  railler;  il  faut  dire  les  choses  avec  emphase.     Ecoutez-moi." 

(II  contrefait  Montfleury,  comedien  de  rhotei  de  Bourgogne ) 
„Te  le  dirai-je,  AraspeV"    etc. 

Voyez-vous  cette  posture?  Remarquez  bien  cela.  La,  appuyez  comme 
il  faut  le  dernier  vers.  Voilä  ce  qui  attire  l'approbation  et  fait  faire  le  brouhaha. 
Mais,  Monsier,  auroit  repondu  le  comedien,  il  me  semble  qu'un  roi  pui  s'en- 
tretient  tout    seul  avec  son  capitaine  des  gardes,    parle  un  peu  plus    humaine- 

ment  et  ne  preud  guere  ce  ton  de  demoniaque Dann  folgt  eine  Stelle  aus 

„Horace":    „Voiei  comme  11  faut   reciter  cela.     (II  imite  MUe.  de  Beauchäteau, 


507 


der  herrschende  Ton  auf  der  Bühne  war,  wieviel  mehr  muß  er  früher 
daselbst  heimisch  gewesen  sein !  Waren  doch  die  Monologe  deshalb 
hauptsächlich  bei  den  Schauspielern  beliebt,  besonders  wenn  sie  in 
Stanzenform  gefaßt  waren,  weil  sie  eine  schöne  Deklamation  erlaubten. 
Wir  würden  heute  sagen,  weil  man  darin  recht  schreien  konnte.  Voltaire 
bestätigt  das  in  seinem  Commentar  zu  „Horace"  (III,  1).  „Die  Schau- 
spieler verlangten  damals  Monologe.  Die  Deklamation  und  besonders 
der  Vortrag  der  Frauen  ähnelte  dem  Gesang.  Die  Dichter  waren  ihnen 
hierin  willfährig." 

Suchen  wir  uns  nach  dem  Gesagten  in  die  Vergangenheit  zurück- 
zuversetzen und  folgen  wir  der  Menge,  wie  sie  sich  eines  schönen  Nach- 
mittags zur  Zeit  der  prunkvollen  Regentschaft  in  das  Schauspielhaus 
des  „Hotel  de  Bourgogne"  in  der  Rue  Mauconseil  drängt.  Wol  fühlen 
wir  uns  darin  anfangs  seltsam  befangen.  Das  starke  Parfüm  des 
17.  Jahrhunderts  hat  uns  etwas  Befremdendes,  es  betäubt  uns  den 
Sinn.  Aber  wenn  wir  uns  nur  ein  wenig  an  diese  Luft  gewöhnt 
haben,  schwindet  der  erste  Eindruck.  Eine  längst  versunkene  Welt 
ersteht  vor  unseren  Blicken  zu  neuem  Sein.  Immer  lebendiger  wird 
das  Bild.  Der  von  einigen  Kerzen  spärlich  beleuchtete  Saal  füllt  sich, 
in  dem  Parterre  steht  die  ungeduldige,  unruhige  Menge,  in  der  Logen- 
reihe nehmen  vornehme  Herren  neben  feinen  Damen  mit  Halbmasken 
Platz;  auf  einer  besonderen  Bank  lassen  sich  die  Kollegen  des  Verfassers, 
die  dramatischen  Dichter  und  die  Kritiker  nieder.  ^)  Auf  der  Bühne 
selbst  engen  auf  jeder  Seite  einige  Reihen  Zuschauer  den  schmalen  Raum 
noch  mehr  ein,  und  zwischen  ihnen  beginnen  die  Künstler  ihr  Spiel. 
Es  ist  das  rechte  Publikum  für  diese  Stücke.  Es  versteht  noch  so 
manches,  was  den  Späteren  fremd  erscheint,  denn  es  lebt  noch  in  der 
Welt  der  Ideen  und  Empfindungen,  die  der  Dichter,  wenn  auch  verklärt, 
in  seinem  Werk  zur  Darstellung  bringt.  So  sind  Schauspieler  und 
Publikum  durch  das  Bewußtsein  gegenseitigen  Verhältnisses,  geheimer 
Sympathie  verbunden.  Voll  Spannung  und  nicht  ohne  Gefühl  des  Schauers 
sehen  wir  den  Brettern  des  „Hotel  Bourgogne"  wunderbare  Gestalten 
entsteigen.  Schatten  umschweben  uns,  Helden  und  Heldinnen  der  früheren 
Zeit,  die  sich  bald  zu  wirklichen  Menschen  von  Fleisch  und  Blut  ver- 
körpern. Die  tote  Scene  belebt  sich  und  hallt  wieder  von  dem  Ausdruck 
ritterlichen  Edelsinns  und  zartfühlender  Liebe.     Bilder  voll  Leidenschaft 

eomedienne  de  l'hötel  de  Bourgogne.)  Voj-ez-vous  comme  cela  'est  naturel  et 
passionne?  Admirez  ce  visage  riant  qu'elle  conserve  dans  le  plus  grandes 
afflictions"  etc. 

Man  vergl.  ferner  die  Stelle  aus  der  Schrift  „Avertissement  du  theätre 
de  M.  M.  Montfleury  pere  et  Als",  3  vols.  (Paris  1739),  mitgeteilt  von  Parfaict 
VII,  133:  „On  ignoroit  alors  au  theätre  l'art  de  parier  en  i-ecitant  des  vers 
tragiques;  le  spectateur  etoit  seduit  par  une  prononciatiou  cadencee,  qui  tenoit 
plus  du  chant  que  de  la  declamation ;  l'acteur  ne  savoit  emouvoir  qu'en  outrant 
les  sentiments;  la  simple  nature,  ornee  uniquement  des  graces  necessaires  pour 
l'embellir  sans  la  defigurer,  eüt  paru  froide..." 

1)  Eine  interessante  Stelle  über  diese  besonderen  Sitze  der  Dichter  und 
Kritiker  findet  man  in  Du  Ryers  „Vendanges  de  Surenes",  III,  2,  75  ff. 


508 


und  Hoheit  ziehen  an  uns  vorüber  und  führen  uns  in  ein  Leben  ein, 
das  zu  dem  Gebaren  der  heutigen  Welt  in  vielfachem  Gegensatz  steht, 
das  uns  aber  durch  seine  bewußte  Originalität  den  Beweis  liefert,  wie 
berechtigt  es  einst  gewesen  ist. 

Mag  die  spätere  Kritik  noch  so  viel  an  jenen  Dramen  aussetzen: 
sie  sind  doch  in  Wahrheit  der  entschiedenste  Ausdruck  ihrer  Zeit.  Und 
darum  zündet  die  kräftige  Eede,  darum  facht  das  zarte  Wort  des 
Liebenden,  wie  die  romantische  That  des  Ritters  die  Begeisterung  der 
Zuschauer  zu  hellen  Flammen  an.  Die  eben  noch  so  laute  Menge  im 
Parterre  lauscht  in  andächtiger  Stille,  um  bald  stürmischen  Beifall  durch 
den  Saal  erbrausen  zu  lassen. 

Die  französische  Tragödie  ist  heute  tot.  Aber  sie  hat  zwei- 
hundert Jahre  lang  gelebt  und  geherrscht,  nicht  bloß  im  eigenen  Land, 
sondern  auch  bei  den  Nachbarvölkern.  Sie  war  eine  Macht,  die  Be- 
achtung erheischt,  und  die  Grundlage  zu  dieser  Größe  haben  Corneille 
und  die  aristokratische  Gesellschaft  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts 
gelegt. 


XII. 

Die  philosophische  Arbeit. 


Descartes. 

Neben  der  Entwicklung  auf  dem  politischen,  kirchlichen  und  socialen 
Gebiet,  die  auch  von  dem  schwächsten  Auge  bemerkt  werden  konnte, 
neben  der  unverkennbaren  Wandlung  im  künstlerischen  und  litterarischen 
Geschmack  der  Nation  ging  eine  andere  Bewegung  einher,  die  zwar 
nicht  so  sehr  in  die  Augen  fiel,  aber  deshalb  nicht  weniger  tiefgreifend 
in  ihrer  Wirkung  war.  Es  ist  dies  die  philosophische  Bewegung.  Die 
jeweilig  herrschende  Eichtung  in  der  Philosophie  lehrt  uns  nicht  allein 
die  innerste  Gedankenwelt  einer  Zeit  und  ihre  Stimmung  erkennen,  sie 
zeigt  auch  deutlich  den  Weg,  den  die  kommenden  Generationen  ein- 
schlagen werden.  Unbemerkt,  aber  umso  sicherer,  dringen  die  Lehren 
der  gerade  geltenden  Philosophie  in  alle  Anschauungen  des  Lebens  ein ; 
sie  beeinflussen  die  Wissenschaft,  die  Politik,  die  Litteratur.  So  herrschte 
Kant  während  des  vorigen  Jahrhunderts  in  Deutschland,  so  machte  sich 
später  die  Lehre  Hegels  geltend,  und  welche  Rolle  im  Leben  der  heutigen 
Zeit  der  Satz  Darwins  vom  Kampf  ums  Dasein  spielt,  ist  bekannt.  Darum 
ist  es  keine  müßige  Frage,  wenn  wir  nach  der  philosophischen  Arbeit 
des  17.  .Jahrhunderts  in  Frankreich  forschen.  Erst  wenn  wir  diese  ver- 
stehen, wird  uns  das  Wesen  der  ganzen  Zeit  und  dadurch  auch  der 
Charakter  der  litterarischen  Thätigkeit  vollkommen  verständlich.  Es  kann 
uns  nicht  in  den  Sinn  kommen,  eine  erschöpfende  Geschichte  der  fran- 
sösischen  Philosoiphie  in  jener  Zeit  zu  geben.  Nur  soweit  sie  zur  Litte- 
raturgeschichte  gehört  und  diese  erklären  kann,  darf  sie  hier  ihren 
Platz  ^nden. 

Die  Scholastik  hatte  Jahrhunderte  lang  ihre  Herrschaft  bewahrt, 
bis  sie  in  der  Zeit  der  Renaissance  und  der  Reformation  nicht  mehr 
genügte,  und  ein  neuer,  kräftiger  Hauch  das  Geistesleben  der  Völker 
erfrischte.  Aber  die  Reformationsversuche  weckten  den  Widerstand,  und 
so  lang  fanatisch  erregte  Parteien  in  blutigem  Kampf  miteinander  rangen, 
war  an  eine  fortschreitende  Geistesarbeit  kaum  zu  denken.  Schließlich 
mußte  freilich  aus  der  allgemeinen  Verwirrung  und  dem  Haß  eine 
mildere  Auffassung    der   Dinge    und    gegenseitige    Toleranz    erwachsen. 


510 


sowie  auch  die  Morgensonne  siegreich  aus  den  dichten  Nebeln  der  Xacht 
emporsteigt. 

"Wir  haben  gesehen,  wie  Montaigne  und  Charron  als  Kern  ihrer 
Lehre  die  Ansicht  von  der  Unsicherheit  alles  Urteils  aufstellten,  und 
einen  gemäßigten  Skepticismus  empfahlen.') 

Jedoch  mit  dem  bloßen  Zweifel  mag  sich  die  Menschheit  nicht 
lange  begnügen.  Kaum  hatten  die  Kämpfe  ausgetobt,  so  begann  die 
geistige  Arbeit  wieder  aufs  neue.  Abermals  wurde  eine  Eeformation  ver- 
sucht, nicht  minder  gewaltig  und  folgenschwer  als  die  kirchliche,  die 
Reformation  auf  dem  Gebiet  des  Denkens  und  der  philosophischen  An- 
schauung. 

Der  alte  Kampf,  der  die  Gemüter  der  Men  sehen  von  jeher  be- 
schäftigt und  die  Welt  in  zwei  feindliche  Lager  spaltet,  der  Kampf 
zwischen  den  Geboten  streng  kirchlichen  Glaubens  und  den  Forderungen 
des  logischen  Denkens  entspann  sich  schon  unter  Heinrich  IV.  aufs 
neue.  Nach  den  Kriegen  der  Liga  erhob  sich  die  katholische  Kirche 
wieder  zu  neuer  Macht,  und  mit  der  Stärkung  der  Staatsgewalt  ging 
die  Kräftigung  der  Kirche  Hand  in  Hand.  Gleichzeitig  lebten  aber,  wenn 
auch  in  schwachem  Anfang,  die  philosophischen  Studien  wieder  auf. 
Eine  Zeit  lang  standen  sich  Theologie  und  Philosophie  nicht  gerade 
feindlich  gegenüber.  Doch  bald  wuchs  die  Bewegung;  denn  die  Philo- 
sophie traute  sich  die  Kraft  zu.  selbständig  die  Wahrheit  zu  finden. 
Freilich  konnte  das  nicht  mit  Hilfe  der  alten  Methode  geschehen.  In 
der  Erkenntnis  der  Natur  sah  man  nun  das  Mittel,  zum  Ziel  zu  gelangen, 
und  diese  Wendung  machte  eine  längere  Dauer  des  Waffenstillstands 
zwischen  den  beiden  Gewalten  "unmöglich.  Langsam,  aber  sicher  bereitete 
sich  der  Umschwung  vor,  und  dieser  noch  halb  verdeckte  Widerstreit 
erfüllte  das  17.  Jahrhundert.  Der  offene  und  erbitterte  Kampf  sollte  erst 
in  der  darauffolgenden  Epoche  ausbrechen. 

Gleich  im  Beginn  der  neuen  philosophischen  Bewegung  zeigten 
sich  zwei  verschiedene  Richtungen  innerhalb  derselben,  eine  sensualistisch- 
skeptische  und  eine  idealistische  Schule. 

Die  erstere  erhob  sich  zuerst,  und  wurde  besonders  in  England 
mächtig,  während  sie  in  Frankreich  lange  Zeit  Mühe  hatte,  zur  Geltung 
zu  gelangen. 

Italien  war  auch  hier  vorangegangen.  Schon  1565  hatte  Telesio 
mit  seinem  Werk  über  die  Erforschung  der  natürlichen  Ursachen  den 
Weg  gezeigt.  Giordano  Bruno,  der  begeisterte  Apostel  eines  reinen 
Naturalismus,  hatte  seine  Lehre  mit  dem  Tod  gebüßt  (1600).  England 
folgte.  Man  wendete  sich  vorzugsweise  der  Physik  zu,  mit  welchem 
Namen  man  alles  bezeichnete,  was  zur  Sinnenwelt  gehört,  und  strebte 
nach  der  Erkenntnis  der  Dinge  und  ihres  innersten  Wesens. 

„Daü  ich  erkenne,  was  die  Welt 

Im  Innersten  zusammenhält, 

Schau  alle  Wirkenskraft  und  Samen, 

Und  thu'  nicht  mehr  in  Worten  kramen  I" 


1)  Siehe  Teil  I  dieses  Werks,  Abschnitt  II,  S.  39  ff. 


511 


Diese  Verse,  die  Goethe  seinem  von  Wissensdurst  gequälten  Faust 
in  den  Mund  legt,  spiegeln  wunderbar  das  Streben  der  englischen  Philo- 
sophie des  17.  Jahrhunderts  wieder.  Im  Jahr  1620  veröffentlichte  Francis 
Bacon  sein  Epoche  machendes  Werk,  das  Xovum  Organon,  worin  er 
der  neuen  Philosophie  den  Weg  zeigte.  Er  verwies  auf  die  Induktion 
als  die  allein  richtige  Methode,  die  von  dem  einzelnen  ausgeht,  um  sich 
zu  dem  Allgemeinen  zu  erheben.  Bacon  lehrte,  daß  nur  die  genaue  Be- 
achtung vieler  einzelnen  Thatsachen,  nur  das  Experiment,  zur  sicheren 
Erkenntnis  der  Wahrheit  führt,  und  wurde  damit  der  Begründer  der 
modernen  Wissenschaft. 

Gleichzeitig  mit  Bacon  lebte  Thomas  Hobbes  (1588 — 1679),  wenn 
auch  seine  Hauptwerke  erst  lange  nach  dem  Novum  Organon  erschienen. 
Hobbes  kam  öfters  nach  Paris,  lebte  längere  2reit  daselbst  und  trat  in 
regen  Verkehr  mit  den  hervorragenden  französischen  Philosophen  Gas- 
sendi,  Descartes,  Mersenne  u.  a.  m.  Wie  er  auf  sie  einwirkte,  so  erhielt 
er  auch  lebendige  Anregung  von  ihnen,  und  zum  erstenmal  seit  langer 
Zeit  traten  die  beiden  Länder,  England  und  Frankreich,  in  lebendigere 
geistige  Verbindung.  Der  Verkehr  sollte  immer  stärker  werden  und  das 
so  lange  feindlich  abgeschlossene  Inselreich  von  unberechenbarer  Ein- 
wirkung auf  Frankreich  werden. 

Hobbes  bekannte  sich  offen  zum  Sensualismus ;  er  lehrte,  daß  alle 
Beobachtungen,  die  der  Mensch  machen  kann,  nur  mit  Hilfe  der  Sinne 
vor  sich  gehen,  daß  jeder  Gedanke,  jede  Erkenntnis  des  Menschen  auf 
der  Thätigkeit  der  Sinne  beruht.  Wir  können  die  Dinge  selbst  nicht 
erkennen,  sondern  haben  nur  Sinneseindrücke  von  ihnen,  welche  je  nach 
dem  Zustand  unserer  Sinne  sich  ändern.  So  ist  unsere  Erkenntnis  mangel- 
haft, unser  Wissen  schwankend.  Empfinden  und  Denken  sind  nach  Hobbes 
nur  verschiedene  körperliche  Vorgänge,  bedingt  durch  Veränderungen  im 
Körper.  Alles  Leben,  alles  Sein  beruht  auf  Bewegung,  und  der  Mensch 
ist  einer  Maschine  vergleichbar,  die  durch  bestimmte  Kräfte  getrieben 
wird.  Hobbes  ist,  was  die  Erkenntnislehre  betrifft,  Skeptiker,  und  wird 
zum  Fatalisten,  wenn  er  seine  Lehre  auf  die  moralische  Welt  anwendet. 

Die  sensualistische  Philosophie  hatte  auch  in  Frankreich  ihre 
Anhänger.  Ihr  Haupt  war  Pierre  Gassendl  (eigentlich  Gassend),  dessen 
Ansehen  bei  seinen  Zeitgenossen  groß  war,  wenn  es  auch  später  bei  dem 
steigenden  Ruhm  seines  Gegners  Descartes  Not  litt.  Gassendl  stammte 
aus  der  Provence.  Er  war  am  22.  Januar  1592  zu  Champtercler  bei 
Digne  geboren.  Seine  Eltern  waren  sehr  arm,  und  bestimmten  ihn,  da 
er  geistige  Begabung  zeigte,  für  die  Kirche.  Schon  In  seinen  jungen 
Jahren  erregte  er  Aufsehen  durch  sein  Wissen;  bald  wurde  er  zum 
Lehrer  an  der  lateinischen  Schule  in  Digne  ernannt,  und  studieite  neben- 
her Theologie  und  scholastische  Philosophie.  Im  Jahr  1617  wurde  er 
als  Professor  nach  Alx  berufen,  wo  er  die  aristotelische  Philosophie 
vortragen  sollte,  aber  schon  damals  gegen  sie  auftrat.  Die  aristote- 
lische Philosophie  war  im  Lauf  der  Zeit  so  umgestaltet  worden,  daß  von 
der  ursprünglichen  Lehre  des  Gründers  wenig  mehr  erhalten  war.  Gas- 
sendl aber  huldigte  dem  Skeptlcismus    und    sein  erstes  Buch  war  gegen 


512 

die  Aristoteliker  gerichtet/)  Gasseudi  fand  viele  Freunde,  wurde  später 
Abbe  in  Digne,  und  Richelieu  übertrug  ihm  1641  eine  Lehrkanzel  der 
Mathematik  in  Paris.  In  der  Hauptstadt  trat  er  in  regen  Verkehr  mit 
den  vorzüglichsten  Gelehrten  und  Denkern  seiner  Zeit,  mit  Hobbes,  Des- 
cartes,  La  Mothe,  Le  Vayer  u.  a.  Mit  Galilei  tauschte  er  Briefe.  Aber 
er  trat  mit  seinen  Werken  nicht  hervur,  sondern  begnügte  sich  zumeist 
mit  dem  direkten  Einfluß,  den  er  auf  seine  zahlreichen  Schüler  ausübte. 
Er  starb  den  24  Oktober  1655,  und  erst  nach  seinem  Tod  wurden  seine 
philosophischen  Hauptschriften  veröffentlicht.-) 

Bayle  nennt  in  seinem  „Dictionnaire  historique  et  critique"  Gas- 
sendi  den  größten  Philosophen  unter  den  Philologen,  und  den  größten 
Philologen  unter  den  Philosophen.  Das  Urteil  ist  nicht  ohne  L-onie,  und 
beweist,  daß  Bayle  der  Lehre  Gassendis  keine  höhere  Bedeutung  zu- 
schrieb. Aber  wenn  dies  auch  richtig  ist,  dürfen  wir  sie  doch  nicht 
übersehen.  Gassendi  war  der  Vertreter  einer  in  der  ersten  Hälfte  seines 
Jahrhunderts  sehr  verbreiteten  Anschauung,  die  er  in  seiner  Weise 
mäßigend  zur  öffentlichen  Geltung  brachte.  Heinrich  Ritter  sagt  von  ihm 
sehr  richtig  in  seiner  „Geschichte  der  Philosophie" :  .,Je  weniger  nun 
Gassendi  darauf  Anspruch  machen  kann,  durch  eigene  Erfahrungen  zu 
glänzen,  umso  geeigneter  ist  die  Sammlung  seiner  Meinungen,  uns  ein 
Bild  von  der  Stimmung  unter  den  philosophierenden  Gelehrten  zu  geben, 
wie  sie  unter  den  Einflüssen  der  Reform  Bacons  und  ehe  der  Ratio- 
nalismus der  cartesianischen  Schule  durchdrang,  sich  im  allgemeinen 
gestaltet  hatte.  "^) 

Gassendi  erhob  sich  an  dem  Schluß  einer  langen  Entwicklung.  Er 
stand  an  dem  Ausgang  aus  der  Scholastik,  welche  die  Philosophie  zu 
einer  Dienerin  der  Theologie  gemacht  hatte,  und  gänzlich  konnte  er 
sich  von  den  Fesseln  der  Lehren,  die  so  lang  geherrscht  hatten,  nicht 
lösen.  Zudem  war  er  Geistlicher  und  hatte  eine  theologische  Erziehung 
gehabt.  So  scharfen  und  feinen  Geistes  er  auch  war,  konnte  er  das 
doch  nie  verleugnen,  und  er  zeigte  sich  oft  schwankend  und  unbestimmt. 
Vor  allem  betonte  er,  daß  man  die  religiösen  und  kirchlichen  Fragen 
völlig  von  der  Philosophie  scheiden  müsse.  Was  die  katholische  Kirche 
als  Glaubenssatz  lehre,  sei  unbestreitbar  und  über  jeden  Zweifel  erhaben. 
Damit  hatten  sich  schon  frühere  Philosophen  geholfen,  und  auch  Bacon 
hatte  erklärt,  daß  die  Forschung  durch  die  Religion  beschränkt  bleiben 
müsse.^)  Ob  diese  Aussprüche  durch  die  Vorsicht  diktiert  waren,  ob  sie 
die  innerste  Überzeugung    enthielten,    bleibe  dahingestellt.     Wir  können 


1)  „Exercitationes  paradoxicae  adversus  Aristotelaeos"  (Grenoble  1624). 

■■')  Syntagma  philosophiae  Epicuri  cum  refutationibus  dogmatiim  quae 
contra  fidem  christianam.  (Lyon  1658,  3  Bde.  Fol.)  —  Syntagma  philosophicum. 
(Lyon  1658,  2  Bde.)  Daneben  hatte  er  viele  Schriften  mathematischen  und  astro- 
nomischen Lihalts  verfaßt. 

3)  H.  Ritter,  Geschichte  der  Philosophie,  10.  Band,  S.  566. 

*)  Siehe  Teil  I  dieses  Werks,  Abschnitt  II,  S.  41.  —  Bacon,  Interpre- 
tation of  nature  p.  72:  „Knowledge  is  to  be  limited  by  religion." 


513 

uns  vorstellen,    daß  Gassendi,    der   von  Jugend    auf  unter  dem  Einfluß 
der  Theologie  stand,  es  für  möglich  hielt,    den  Kirchenglauben  und  die 
Philosophie  miteinander  zu  vereinen.   Hat  man  doch  auch  bis  zur  heutigen 
Zeit  ähnliche  Versuche  einer  Versöhnung  der  beiden  Gegensätze  gewagt. 
Überall   aber,    wo    die   Rücksicht    auf  die    Lehre   der   katholischen 
Kirche  nicht  ins  Spiel  kam,  sprach  Gassendi  frei  und  kühn.   Er  erklärte 
sich  für  Epikur.    dessen  Atomenlehre    und  Ethik   die  Grundlagen  seiner 
Philosophie  wurden.    Dabei  fand  er  sich  in  vielfacher  Übereinstimmung 
mit  Hobbes,  mit  welchem  er  wahrscheinlich  persönlich  verkehrte.    Seine 
Erkenntoißlehre    und   seine  Lehre   von  der  Seele   erinnern    beide   an  die 
Behauptungen    des   englischen  Philosophen.     Auch   Gassendi   findet,   daß 
jede  Erkenntnis  durch  die  Sinne  vermittelt  wird.  Die  Seele  vergleicht  er 
mit  einer   leeren  Tafel,    auf  der  die  Sinne    niederschreiben,    was  sie  be- 
merken.   Der  menschliche  Verstand  besitzt  somit  nichts,   was  ihm  nicht 
durch  die  Sinne  gegeben  worden  wäre.    Dabei    greift  Grassendi  auf  die 
Atomenlehre  des  Epikur  und  des  Lucrez  zui'ück.  Auch  Bacon  und  Hobbes 
hatten  auf  die  kleinsten  Formen  in  der  Körperwelt  ihre  besondere  Auf- 
merksamkeit gerichtet.  Gassendi  nennt  die  Körper,  welche  keine  Kraft  der 
Natur  mehr  teilen  kann,  Atome.  In  ihnen   sieht  er  das  eigentlich  Wirk- 
liche, das  wahrhaft  Bestehende.  Die  Atome  haben  Ausdehnung  und  Form, 
sonst  aber  keine  sinnlich  wahrnehmbaren  Eigenschaften.  Sie  sind  in  fort- 
währender Bewegung  und  bilden  in  immer  neuem  Wechsel  die  verschie- 
densten Erscheinungen.  Je  nachdem  sie  sich  zusammensetzen,  bilden  sie 
Körper,  die  wir  wahrnehmen  können,  und  welche  die  mannigfaltigsten  Eigen- 
schaften besitzen.  Die  Wärme,  das  Licht,  die  Farbe,  der  Ton  sind  nur 
durch  die  Zusammensetzung  und  Bewegung  der  Atome  zu  erklären.  Die 
moderne  Chemie  sucht,  wenn    auch  auf  anderem  Weg,  nach  einem  ähn- 
lichen Ergebnis.  Es  ist  ihr  gelungen,  die  verschiedensten  Körper  als  das 
Resultat   der  Verbindung    weniger  Grundelemente   zu  erkennen,    und  sie 
verzweifelt   nicht,    auch   diese  wenigen  Elemente    noch  weiter  aufzulösen 
und   ein  einziges    als  Grundstoff    aller  übrigen    zu  finden.     Das    wären 
dann  die  Atome  Epikurs  und  Gassendis.  Freilich  können  diese  ihre  Atomen- 
lehre nicht  beweisen,  und  Gassendi  erklärt  sie  für  eine  „wahrscheinliche 
Hypothese".    Aber  er  tröstet  sich,    daß  der  Mensch  niemals  über  Hypo- 
thesen hinauskomme  und  Klarheit  erst  im  künftigen  Leben  finden  werde. 
Denn  Gassendi    glaubt   trotz   seiner   sensualistischen  Lehre    an   die  Un- 
sterblichkeit  der  Seele.    Da   die  Atome   in  steter  Bewegung    sind,    muß 
man    wol  fragen,    woher   der  erste  Anstoß    zu   dieser  Beweg'ung    rührt? 
Da  sie  sich  nicht  von  selbst  in  Bewegung  setzen  können,  muß  der  An- 
stoß von  außen  kommen,  und  Gassendi  nimmt  somit  eine  fremde  äußere 
Ursache    aller  Dinge   an,    mit   anderen  Worten  Gott,    der  somit  als  der 
Schöpfer  der  Welt  erkannt  wird.  So  wie  Gassendi  den  Glauben  an  Gott 
festhält,    klammert   er  sich  auch  an  den  Glauben    an  die  Existenz  einer 
unsterblichen  Seele.    Er  unterscheidet  im  Menschen  die  vernünftige  und 
die  tierische  Seele.  Letztere  ist  materiell,  erstere  unkörperlich.  Auf  diese 
Ausführungen,    die    mit    seiner    Erkenntnislehre    schlecht    harmonieren, 
brauchen  wir  nicht  weiter  einzugehen,  zumal  er  selbst  sagt,  daß  er  über 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  -jq 


514 


die  Frage  der  meüschlicben  Seele  nur  lallend  etwas  Wahrscheinliches 
sagen  könne. 

Wie  Hobbes  streng  logisch  seine  Lehre  ausbildete  und  den  freien 
Willen  des  Menschen  leugnete,  so  hätte  Gassend i,  von  denselben  An- 
schauungen ausgehend,  zu  ähnlichen  Resultaten  gelangen  müssen.  Die 
Atomenlehre  führt  leicht  zu  einem  gewissen  Fatalismus.  Wenn  alles 
Leben,  alles  Körperliche  von  der  Bewegung  der  Atome  herzuleiten  ist, 
die  Atome  aber  sich  nach  bestimmten  Gesetzen  bewegen,  kann  von  freiem 
Willen  der  Menschen  kaum  noch  die  Rede  sein.  Aber  Gassendi  nimmt 
die  Lehre  vom  freien  Willen  doch  in  sein  System  auf,  wenn  seine  Be- 
weisführung auch  sehr  schwach  ist.  Der  Verstand  dringt,  sagt  er,  in 
seiner  Erkenntnis  sehr  oft  nur  bis  zur  Wahrscheinlichkeit,  nicht  bis  zur 
Gewißheit  vor.  In  solchen  Fällen  erhält  er  sich  indifferent,  und  diese 
Indifferenz  erlaubt  dem  Menschen,  zwischen  zwei  entgegensetzten  Hand- 
lungen nach  freiem  Willen  zu  wählen. 

Bedeutender  erscheint  Gassendi  in  seiner  Ethik,  in  welcher  er 
Epikurs  Lehre  von  der  Lust  als  dem  höchsten  Glück  aufnahm  und  aus- 
führte. Die  Lust  besteht  aber  nach  Epikur  keineswegs  in  der  Befriedigung 
der  Sinnlichkeit,  sondern  in  der  Schmerzlosigkeit  des  Körpers  und  der 
Ruhe  des  Geistes.  Dieses  Glück  zu  erreichen,  muß  der  Mensch  sich  von 
jeder  Leidenschaft  frei  halten,  von  keiner  Reue  gequält  sein.  Daß  diese 
Lehre  zum  Egoismus  führt,  ist  klar.  Gassendi  spricht  dies  auch  deutlich 
aus.  Denn  er  stellt  es  als  ein  Naturgesetz  auf,  daß  jeder  sich  mehr 
liebe  als  die  anderen,  und  daß  das  gesellige  und  staatliche  Leben  nur 
auf  einem  Vertrag  zwischen  den  Menschen  beruhe,  den  ein  jeder  um 
seines  Vorteils  willen  schließe,  weil  er  der  Hilfe  der  anderen  Menschen 
bedürfe.  In  jener  Zeit,  da  der  Staat  nach  Alleinherrschaft  strebte  und 
alles  auf  sich  bezog,  war  ein  solcher  Protest  besonders  bedeutsam.  Über 
100  Jahre  später  sollte  Jean  Jacques  Rousseau  in  seinem  „Contrat 
social"  die  These  aufs  neue  behandeln,  sie  aber  zu  einer  furchtbaren 
AVaffe  der  Revolution  umgestalten. 

Gassendi  hat  zahlreiche  Schüler  gefunden,  denn  seine  Lehre  ent- 
sprach den  Anschauungen  eines  großen  Kreises,  und  sie  erhielt  sich, 
wenn  auch  in  bescheidenem  Maß,  während  des  ganzen  Jahrhunderts 
lebendig.  Für  uns  ist  es  weniger  wichtig,  seine  Lehren  im  Einzelnen 
zu  prüfen,  und  zu  erkennen,  wie  weit  er  die  Philosophie  Epikurs  um- 
bildete und  den  Sensualismus  Hobbes  annahm,  worin  er  sich  widerspach 
oder  schwankend  schien;  für  uns  ist  wesentlich  die  Thatsache  von  Be- 
deutung, daß  die  sensuaiistische  Lehre  überhaupt  schon  in  der  ersten 
Hälfte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  in  Frankreich  auftrat.  Noch  gelang 
es  ihr  nicht,  eine  dominierende  Stellung  zu  erringen,  denn  der  Geist  der 
Zeit  widerstrebte  ihr.  Aber  eine  beträchtliche  Schule  erhielt  sich  doch, 
und  so  fand  Voltaire  später  den  Boden  vorbereitet,  als  er  die  englische 
Philosophie  aufs  Neue  nach  Frankreich  verpflanzte  und  die  Herrschaft 
der  „Aufklärung"  begründete.  In  der  Lehre  Gassendis  und  seiner 
Freunde  ersehen  wir  deutlich  die  vorbereitende  Arbeit,  welche  die  spätere 
Entwicklung  erleichterte.     Nicht  wenige  Anhänsfer  Gassendis  haben  sich 


515 


auch  in  der  Litteratai'gesclüchte  einen  Namen  gemacht,  und  wir  werden 
von  einzelnen  früher  oder  später  zu  reden  haben.  So  zählten  Chapelle, 
der  lebenslustige  Gefährte  Boileaus  und  Racines,  Furetiere,  der  durch 
seinen  „Roman  bourgeois",  sowie  durch  sein  Wörterbuch  und  seinen 
Streit  mit  der  Akademie  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zog,  zu  den 
eifrigsten  Schülern  Gassendis.  Cyrano  Bergerac,  der  stürmische  und 
talentvolle  Führer  einer  eigentümlichen  Opposition,  von  der  im  näch- 
sten Abschnitt  genauer  die  Rede  sein  wird,  drängte  sich  Gassendi 
fast  mit  Gewalt  als  Schüler  auf  und  nahm  Teil  an  dem  Unterricht, 
den  derselbe  seinen  jungen  Freunden  Chapelle  und  Moliere  erteilte. 
Neben  den  Genannten  findet  man  noch  den  Dichter  Jean  Hesnault, 
sowie  Francois  Bernier,  der  sich  später  durch  seine  großen  Reisen  in 
Asien  einen  Namen  erwarb.  Vor  allen  aber  ist  Moliere  hier  zu  nennen. 
Den  größten  Dichter  Frankreichs  unter  seine  Schüler  gezählt  zu  haben, 
ist  ein  Ruhmesstrahl,  der  auf  Gassendi  verklärend  fällt.  Die  humane 
Weltanschauung  des  Lehrers,  der  den  Sinnen  ihr  Recht  beließ  und 
sich  von  jeder  ängstlichen  Einseitigkeit  fernhielt,  ging  auf  den  ge- 
nialen Schüler  über.  Gewiß  hat  Moliere  das  Beste  aus  sich  selbst 
geschöpft,  aus  dem  reichen  Schatz  seines  tiefen  Gemüts  und  seines  hohen 
Geistes,  aber  ebenso  sicher  dürfen  wir  annehmen,  daß  die  Bekanntschaft 
mit  den  Lehren  Epikurs  und  das  Versenken  in  das  poesie-  und  gedanken- 
volle Gedicht  des  Lucrez  von  höchster  Wirkung  auf  ihn  gewesen  sein  muß. 
Lucrez  galt  im  Kreise  Gassendis  ganz  besonders  hoch,  wie  die  Versuche 
der  Schüler,  ihn  ins  Französische  zu  übertragen,  beweisen.  Jean  Hesnault 
arbeitete  an  einer  Übersetzung,  verbrannte  aber  später  auf  Andringen 
seines  Beichtvaters  die  sündige  Arbeit.  Auch  Moliere  hatte  eine  solche 
begonnen,  veröffentlichte  sie  aber  nicht  und  fügte  nur  ein  kleines  Bruch- 
stück davon  in  freiester  Bearbeitung  in  seinen  „Misanthrope"  ein.\)  Viel 
später  noch  hielt  Fenelon  es  für  nötig,  in  seinem  „Traite  de  l'existence 
de  Dieu"  auf  Epikurs  Kosmogonie  zurückzukommen,  und  ihre  Wider- 
legung und  somit  auch  der  Lehre  Gassendis  zu  versuchen. 

Der  sensualistischen  Schule,  die  ihren  Hauptsitz  in  England  hatte, 
und  in  Frankreich  von  Gassendi  vertreten  wurde,  stellte  sich  bald  eine 
andere,  spiritualistische  Schule  entgegen.  Ihr  Begründer  war  Descartes, 
wol  der  größte  Philosoph  Frankreichs,  gewiß  einer  der  größten  Denker 
der  neueren  Zeit.  Nur  selten  zeigt  sich  das  äußere  Leben  eines  Mannes 
in  so  völliger  Harmonie  mit  seinem  Charakter  und  inneren  Wesen,  wie 
bei  Descartes.  Er  selbst  hat  uns  in  seinen  Werken  höchst  anziehende 
Mitteilungen  über  sich  und  sein  Leben  gemacht.  So  wenig  er  auch  dabei 
von  großen  Ereignissen  oder  besonderen  Thaten  zu  reden  hatte,  wußte  er 
doch  seinen  Schilderungen  einen  besonderen  Reiz  dadurch  zu  geben,  daß 
er  uns  in  die  innerste  Werkstätte  seines  Geistes  blicken  ließ,  und  durch 
seine  Biographie  einen  Schlüssel  zum  Verständnis  seiner  Lehre  gab. 


1)  „Le  misanthrope",  II,  sc.  4.  Eliantes  Rede  über  die  Verblendung  der  Lie- 
senden. Das  Manuskript  ist  später  von  der  Witwe  Molieres  um  600  L.  an  den  Buch- 
händler Barbin  verkauft  worden.  Dieser  wagte  nicht,  es  dann  drucken  zu  lassen. 
Vgl.  J.  Loiseleur,  Les  points  obscurs  dans  la  vie  de  Moliere,  Paris  1877,  S.  49. 

33* 


516 


Rene  Descartes  stammte  aus  einem  alten  vornehmen  Geschlecht. 
Sein  Vater  war  Parlamentsrat  in  Rennes,  aber  Rene  erblickte  das  Licht 
der  Welt  auf  einem  Gut  zu  La  Haye  in  der  Touraine  am  31.  März  1596. 
Er  war  das  dritte  Kind,  und  seine  Mutter  erlag  bald  nach  seiner  Ge- 
burt einem  Brustleiden.  Ihre  zarte  Xatur  war  auf  ihn  übergegangen, 
und  er  mußte  mit  großer  Vorsicht  und  Schonung  behandelt  werden. 
Mit  acht  Jahren  (1604)  wurde  er  der  königlichen  Erziehungsanstalt  zu 
La  Fleche  in  Anjou  übergeben.  Heinrich  IV.  hatte  sie  gegründet  und 
der  Leitung  der  Jesuiten  anvertraut.  Hundert  Söhne  adeliger  Familien 
sollten  darin  Aufnahme  finden  und  allseitig  ausgebildet  werden.  Der 
junge  Descartes  gehörte  bald  zu.  den  besten  Schülern.  Je  schwächer 
sein  Körper  erschien,  desto  mehr  überraschte  er  durch  die  Kraft  seines 
Geistes.  Dabei  verriet  er  schon  frühe  die  methodische  Richtung  seines 
Verstands.  Er  lernte  nicht  allein  mit  großer  Leichtigkeit,  er  prüfte 
auch  den  Wert  des  Gelernten  und  kam  dabei  zu  besonderen  Ergebnissen. 
Er  hat  sich  darüber  selbst  ausgesprochen,  und  was  er  sagt,  ist  so  schön, 
daß  seine  eigenen  Worte  hier  folgen  mögen : 

„Ich  glaube  darin  viel  Glück  gehabt  zu  haben",  sagte  er  in  seinem 
.Discours  de  la  methode",  „daß  ich  schon  seit  meiner  Jugend  mich  auf 
auf  solchen  Wegen  angetroffen,  die  mich  zu  Betrachtungen  und  Grund- 
sätzen führten,  aus  denen  ich  mir  eine  Methode  gebildet,  und  durch 
diese  Methode  meine  ich  das  Mittel  gewonnen  zu  haben,  um  meine  Er- 
kenntnis stufenweise  zu  vermehren,  und  sie  allmählich  zu  dem  höchsten 
Ziel  zu  erheben,  welches  sie  bei  der  Mittelmäßigkeit  meines  Geistes  und 
der  kurzen  Dauer  meines  Lebens  erreichen  kann  .  .  ."'M 

Was  ihm  die  Schule  bot,  befriedigte  ihn  wenig.  Xur  in  der  Mathe- 
matik fand  er  genügende  Klarheit  und  Ordnung,  und  nur  sie  schien  ihm 
mit  einer  sicheren  Methode  zu  arbeiten.  Die  anderen  Wissenschaften 
konnten  nicht,  wie  die  Mathematik,  mit  solcher  Gewißheit  die  Wahrheit 
ihrer  Sätze  behaupten,  und  darum  gewann  ihn  die  letztere.  „Von  Kind- 
heit an  bin  ich  für  die  Wissenschaften  erzogen  worden,  und  da  man 
mich  glauben  machte,  daß  durch  sie  eine  klare  und  sichere  Erkenntnis 
alles  dessen,  was  dem  Leben  frommt,  zu  erreichen  sei,  so  hatte  ich  eine 
außerordentlich  große  Begierde,  sie  zu  lernen.  Doch  wie  ich  den  ganzen 
Studiengang  beendet  hatte,  an  dessen  Ziel  man  gewöhnlich  in  die  Reihe 
der  Gelehrten  aufgenommen  wird,  änderte  ich  vollständig  meine  Ansicht. 
Denn  ich  befand  mich  im  Gedränge  so  vieler  Zweifel  und  Irrtümer,  daß- 
ich  von  meiner  Lernbegierde  keinen  andern  Nutzen  gehabt  zu  haben 
schien,  als  daß  ich  mehr  und  mehr  meine  Unwissenheit  entdeckt  hatte 
Und  ich  war  doch  in  einer  der  berühmtesten  Schulen  Europas,  wo  es  nach 
meiner  Meinung,  wenn  irgendwo  auf  der  Erde,  gelehrte  Männer  geben 
mußte.  Ich  hatte  dort  alles  gelernt,  was  die  übrigen  dort  lernten,  und 
da  mein  Wissensdurst  weiter  ging  als  die  Wissenschaften,  die  man  uns 


I 


1)  Kuno  Fischer,  Geschichte  der  neueren  Philosophie,  I,  Band  Descartes 
und  seine  Schule,  1.  Teil,  2.  Auflage,  Anhang  S.  4,  München  1868.  Bassermann. 
Die  Citate  aus  den  Descartes'schen  Schriften  sind  alle  der  trefflichen  Über- 
setzung entnommen,  welche  Fischer  in  dem  „Anhang"  gegeben  hat. 


517 


lehrte,  so  hatte  ich  alle  Bücher,  so  viel  ich  deren  habhaft  werden  konnte, 
durchlaufen,  die  von  den  anerkannt  merkwürdigsten  und  seltensten 
Wissenschaften  handelten.  Dabei  wußte  ich,  wie  die  anderen  von  mir 
urteilten,  und  ich  sah,  daß  man  mich  nicht  für  weniger  hielt,  als  meine 
Mitschüler,  obwol  unter  diesen  einige  dazu  bestimmt  waren,  an  die 
Stelle  unserer  Lehrer  zu  treten.  Endlich  schien  mir  unser  Jahrhundert 
ebenso  reif  und  fruchtbar  an  guten  Köpfen,  als  irgend  ein  früheres. 
So  nahm  ich  mir  die  Freiheit,  alle  anderen  nach  mir  zu  beurteilen  und 
zu  meinen,  daß  es  keine  Wissenschaft  in  der  Welt  gebe,  die  so  wäre, 
als  man  mich  ehedem  hatte  hoffen  lassen."^) 

Descartes  prüft  dann  den  Wert  der  einzelnen  Wissenschaften,  der 
Theologie,  Philosophie,  Philologie,  der  Medicin  und  der  Rechtswissen- 
schaft, und  kommt  zu  dem  bitteren  Schluß,  daß  sie  sowol  wie  die  anderen 
Zweige  des  Wissens  niemals  zur  Wahrheit  führen,  daß  es  aber  gut  ist, 
sie  sämtlich  geprüft  zu  haben,  um  ihren  richtigen  Wert  zu  kennen 
und  sich  vor  Täuschung  zu  bewahren.  „Und  sehe,  daß  wir  nichts  wissen 
können!"  Diesen  Schmerzensruf  Fausts  hören  wir  auch  von  Descartes. 
Auch  er  hatte  jene  qualvolle  Krisis  durchzukämpfen,  in  der  ihm  alles, 
was  er  bis  dahin  hoch  geschätzt  hatte,  zusammenbrach;  wo  seine  Ideale 
sanken  und  ihm  die  ganze  Welt  als  ein  eitel  leeres  Trug-  und  Gaukel- 
spiel erschien.  Auch  ihm  wollte  schier  „das  Herz  verbrennen".  Descartes 
sagt  nichts  von  seinen  inneren  Kämpfen,  weil  es  dort,  wo  er  von  seiner 
Methode  spricht,  wol  am  Platze  war,  zu  zeigen,  auf  welchem  Weg  er 
sie  gefunden,  nicht  aber,  unter  welchen  Mühen  er  diese  Bahn  ge- 
gangen war.  Er  liebte  es  nicht,  persönlich  hervorzutreten,  und  nichts 
lag  ihm  ferner  als  Eitelkeit.  Er  fährt  darum  einfach  in  seiner  Darstellung 
fort:  „Deshalb  gab  ich  das  Studium  der  Wissenschaften  vollständig  auf, 
sobald  das  Alter  mir  erlaubte,  aus  der  untergeordneten  Stellung  des 
Schülers  herauszutreten.  Ich  wollte  keine  andere  Wissenschaft  mehr 
suchen,  als  die  ich  in  mir  selbst  oder  in  dem  großen  Buch  der  Welt 
würde  finden  können,  und  so  verwendete  ich  den  Eest  meiner  Jugend 
auf  Eeisen,  um  Höfe  und  Herren  kennen  zu  lernen,  mit  Menschen  von 
vei'schiedener  Gemütsart  und  Lebensstellung  zu  verkehren,  mannigfaltige 
Erfahrungen  einzusammeln,  in  den  Lagen,  in  welche  das  Schicksal  mich 
brachte,  mich  selbst  zu  erproben,  und  was  sich  mir  immer  darbot,  so 
zu  betrachten,  daß  ich  einen  Gewinn  davon  haben  könnte.  So  befreite 
ich  mich  allmählich  von  vielen  Irrtümern,  die  unser  natürliches  Licht 
verdunkeln  und  uns  weniger  fähig  machen,  auf  die  Vernunft  zu  hören. 
Nachdem  ich  einige  Jahre  darauf  verwendet  hatte,  auf  solche  Weise  in 
dem  Buch  der  Welt  zu  studieren,  und  mit  aller  Mühe  Erfahrungen  zu 
erwerben,  entschloß  ich  mich  eines  Tags,  ebenso  in  mir  selbst  zu 
studieren,  und  alle  Kräfte  meines  Geistes  aufzubieten,  um  die  Wege 
zu  finden,  die  ich  nehmen  mußte.  Und  dies  gelang  mir  nun,  wie  ich 
glaube,  weit  besser,  als  wenn  ich  mich  nie  von  meinem  Vaterland  und 
meinen  Büchern  entfernt  hätte." 


')  Siehe  ,.Discours"  a. 


518 

Um  sich  einen  solchen  Lebensgang  vorzeichnen  zu  Icönnen,  muß 
man  freilich  in  einer  völlig  unabhängigen  Stellung  sein.  Descartes  be- 
fand sich  in  dieser  glücklichen  Lage.  Im  Jahr  1613  ging  er  nach  Paris, 
um  sich  dort  in  der  vornehmen  Gesellschaft  auszubilden.  Allein  die  Kreise, 
in  die  er  trat,  sagten  ihm  nicht  zu.  Die  jungen  Leute  seines  Standes 
hatten  andere  Interessen,  andern  Sinn.  So  verschwand  er  plötzlich  aus 
ihrer  lärmenden  Schar  und  niemand  wußte  zu  sagen,  was  aus  ihm  ge- 
worden war.  In  der  Vorstadt  Saint-Germain  hatte  er  ein  Haus  gemietet 
und  dort  verbrachte  er  zwei  Jahre  in  der  Einsamkeit,  hauptsächlich  mit 
mathematischen  Studien  beschäftigt.  Als  man  ihn  endlich  wieder  auf- 
fand und  in  die  Gesellschaft  zurückführte,  wahrte  er  doch  seine  ernste 
Weise.  Da  er  viel  Musik  hörte,  kam  er  auf  den  Gedanken,  die  Gesetze 
der  Musik  zu  untersuchen.  Aber  lange  hielt  es  ihn  nicht  mehr  in  Paris. 
Er  wollte  die  AVeit  sehen  und  legte  deshalb  auf  einige  Zeit  das  Soldaten- 
kleid an.  Fischer  sagt  mit  Recht,  daß  nur  dem  Soldaten  damals  die  Welt 
offen  gestanden  habe.  So  darf  es  uns  auch  nicht  wundern,  wenn  wir 
Descartes  einmal  im  protestantischen,  dann  im  katholischen  Lager  finden. 
Daß  er  Soldat  wurde,  war  bei  ihm  weder  Sache  des  Glaubens,  noch 
Abenteuerlust,  sondern  Wissensdurst.  Im  Jahr  1617  trat  er  zunächst 
als  Freiwilliger  in  die  Armee  des  Oraniers  ein.  Der  Waffenstillstand,  der 
gerade  herrschte,  erlaubte  ihm,  sich  mit  den  Ingenieurarbeiten,  haupt- 
sächlich der  Befestigungskunst  zu  beschäftigen.  Aber  nach  einiger  Zeit 
trieb  es  ihn  weiter.  Er  ging  16 li»  nach  Deutschland  und  wohnte  in 
Frankfurt  der  Wahl  und  Krönung  Kaiser  Ferdinands  II.  bei.  Dann  trat 
er  wieder  als  Freiwilliger  in  das  ba3'rische  Heer  ein.  Auch  hier  kam 
er  anfangs  nicht  dazu,  den  Krieg  in  seiner  Wirklichkeit  zu  sehen.  Die 
Bayern  bedrohten  zunächst  Württemberg  und  bezogen,  da  diplomatische 
Unterhandlungen  begannen,  im  Winter  1619 — 1620  ihre  Quartiere  an 
der  Donau.  Descartes  verbrachte  so  einige  stille  Monate  in  Neuburg  an 
der  Donau,  und  hier  scheint  er  in  seiner  geistigen  Arbeit  sehr  gefördert 
worden  zu  sein.  Denn  fortwährend  beschäftigte  ihn  die  Frage  nach  der 
Wahrheit  und  dem  Wesen  der  Dinge.  Den  10.  November  1619  bezeich- 
nete er  in  seinem  Tagebuch  als  den  glücklichen  Tag,  an  dem  er  eine 
wunderbare  Entdeckung  gemacht  habe,  und  man  wird  wol  nicht  irren, 
wenn  man  annimmt,  daß  er  damals  den  Ausgangspunkt  für  sein  philo- 
sophisches System  gefunden  hat.  Im  Frühjahr  1620  rückte  er  mit  den 
Bayern  in  Böhmen  ein  und  wohnte  wahrscheinlich  der  Schlacht  am 
Weißen  Berg  bei,  schloß  sich  im  folgenden  Jahr  den  Kaiserlichen  an 
und  machte  unter  Boucquoi  den  Feldzug  in  Ungarn  gegen  Bethlen  Ga^or 
mit.  Nach  dem  Tod  des  Feldherru,  welcher  in  demselben  Jahr  bei  Neu- 
häusel fiel,  gab  Descartes  das  Soldatenleben  auf  und  beschloß,  auf  einem 
Umweg  durch  Norddeutschland  und  Holland  nacli  Paris  zurückzukehren. 
Er  durchzog  Brandenburg,  Pommern,  Mecklenburg,  schiffte  sich  in  Emden 
ein  und  wäre  unterwegs  ein  Opfer  der  Matrosen  geworden,  wenn  er  nicht 
durch  seine  Kaltblütigkeit  ihre  Mordpläne  vereitelt  hätte.  Im  Februar 
1623  kam  er  endlich  wieder  nach  Paris  zurück.  Noch  hatte  er  nichts 
veröffentlicht  und  doch  stand  er  als  Mathematiker  im  höchsten  Ansehen. 


519 


In  Paris  fand  er  viele  Freunde,  besonders  unter  den  Gelehrten.  Ein  Jugend- 
freund, der  Klostergeistliche  Mersenne,  der  sich  in  der  Wissenschaft  einen 
geachteten  Namen  erworben  hatte,  stand  ihm  besonders  nahe.  Aber  die 
Verhältnisse  scheinen  ihm  doch  mißfallen  zu  haben.  Er  verkaufte  seine 
Güter  in  Poitou,  um  sich  ganz  unabhängig  zu  machen,  und  ging  dann 
über  Florenz  nach  Eom.  Im  Jahr  162;")  fluden  wir  ihn  wieder  in  Frank- 
reich. Während  der  Belagerung  von  La  Rochelle  schloß  er  sich  dem  Ge- 
folge Ludwigs  XIII.  an,  denn  die  großen  Belagerungsarbeiten  inter- 
essierten ihn  mächtig.  Aber  immer  und  überall  blieb  er,  seinem  Plan 
getreu,  nur  Beobachter.  Er  selbst  sagt  von  seinen  Wanderjahren:  „Wäh- 
rend der  ganzen  Zeit  that  ich  nichts,  als  bald  da,  bald  dort  in  der 
Welt  umherzuschweifen,  indem  ich  in  den  Komödien,  die  dort  spielen, 
lieber  Zuschauer  als  Akteur  sein  wollte,  und  da  ich  bei  jeder  Sache  ganz 
besonders  darauf  achtete,  was  sie  bedenklich  machen  und  uns  Anlaß  zur 
Täuschung  geben  könnte,  so  schaffte  ich  im  Lauf  der  Zeit  aus  meinem 
Geist  alle  Irrtümer  mit  der  Wurzel  fort,  die  sich  ehedem  hier  ein- 
geschlichen hatten.  Nicht  daß  ich  deshalb  die  Skeptiker  nachgeahmt  hätte, 
die  nur  zweifeln,  um  zu  zweifeln,  und  immer  unentschieden  sein  wollen, 
denn  meine  Absicht  war  im  Gegentheile  darauf  gerichtet,  mir  Sicherheit 
zu  verschaffen,  und  den  schwankenden  Boden  und  Sand  bei  Seite  zu 
werfen,  um  Gestein  oder  Schiefer  zu  finden". ■*)  Den  Ernst  seines  Strebens 
betont  noch  mehr,  wenn  er  etwas  weiter  sagt:  „So  lebte  ich  nun  nach 
außen  ganz  wie  die  Leute,  die  nichts  zu  thun  haben,  als  ein  angenehmes 
und  harmloses  Leben  zu  führen ;  die  sich  bestreben,  ihre  Vergnügungen 
von  den  Lastern  zu  trennen,  und  die,  um  ihre  Muße  zu  genießen,  ohne 
sich  zu  langweilen,  alle  ehrbaren  Zerstreuungen  mitnehmen.  Doch  unter 
dieser  Außenseite  ließ  ich  nicht  ab,  in  meinem  Plan  vorwärts  zu  schreiten 
und  in  der  Erkenntnis  der  Wahrheit  vielleicht  mehr  zu  gewinnen,  als 
wenn  ich  nie  etwas  anders  gethan  hätte,  als  Bücher  lesen  und  mit  Ge- 
lehrten umgehen." 

Die  Freunde  hatten  die  große  geistige  Kraft  Descartes'  schon  längst 
erkannt.  Gewiß  hatte  er  in  ernsten  Gesprächen  schon  manchen  seiner 
kühnen  Gedanken  mitgeteilt  und  die  Grundzüge  des  neuen  Systems,  das 
ihn  beschäftigte,  angedeutet.  Aber  er  hatte  geradezu  Scheu  vor  der  Öffent- 
lichkeit, und  es  bedurfte  der  eindringlichen  Vorstellungen  seiner  Freunde, 
um  ihn  zu  dem  Entschluß  zu  bringen,  seine  Ideen  niederzuschreiben.  In 
Paris  schien  ihm  dies  unmöglich;  er  mußte  einsam  und  ungestört  sein, 
wenn  er  sich  in  seine  Gedankenwelt  versenken  und  seine  Ansichten  in 
vollendetem  Ausdruck  klar  und  bestimmt  hinstellen  wollte.  So  zog  er 
sich  1629  nach  Holland  zurück,  wo  er  unerkannt  leben  und  ohne  Stö- 
rung sich  in  seine  Studien  vertiefen,  jederzeit  aber,  wenn  er  anregende 
Gesellschaft  wünschte,  unter  gebildete  Menschen  treten  konnte.  War  doch 
Holland  durch  die  Bildung  und  den  Kunstsinn  seiner  Bewohner,  den 
Schwung  des  Handels,  den  Reichtum  der  Städte  ebenso  bekannt,  wie 
durch  den  freiheitlichen,  männlichen  Sinn  seiner  Bürger.  Descartes  ver- 


')  Siehe  „Discours",  Kap.  III,  S.  27. 


520 

lebte  nun  eine  Reihe  von  Jahren  in  diesem  Land  und  schrieb  hier  die 
wichtigsten  Werke.  Dabei  wechselte  er  häufig  seinen  Wohnort.  Er  lebte 
eine  Zeit  lang  in  Amsterdam,  in  Utrecht,  in  der  Abtei  Eginond.  zu 
Leyden  und  in  dem  nahegelegenen  Schloß  Endegeest,  zu  Franecker  und 
Leuwarden  in  Friesland,  zu  Harderwijk  in  Geldern  und  noch  an  manchem 
andern  Ort,  der  in  der  Geschichte  seines  Lebens  weniger  wichtig  ist. 
Was  er  im  Geist  bisher  ausgearbeitet  hatte,  das  wollte  er  nun  in  ein 
System  geordnet  niederschreiben.  Er  stellte  sich  die  Aufgabe,  die  Wahr- 
heit zu  erforschen  und  das  Geheimnis  alles  Seins  aufzuklären,  soweit 
«lies  möglich  ist.  So  viele  hatten  das  schon  vor  ihm  versucht  und  waren 
gescheitert.  Die  Erfolglosigkeit  der  früheren  Bestrebungen  erkannte  Des- 
cartes  zunächst  in  den  mangelhaften  Methoden  der  Forschung,  die  man 
vor  ihm  angewendet  hatte,  und  so  war  sein  erstes  Bestreben,  eine  bessere 
Weise  der  Untersuchung  zu  finden.  Das  führte  ihn  bald  auf  eine  ganz 
neue  Bahn.  Im  Jahr  1629  vollendete  er  in  Franecker  seine  „Medita- 
tiones  de  prima  philosophia".  In  ihnen  findet  sich  bereits  seine  Haupt- 
lehre dargestellt.  Er  geht  darin  von  dem  Punkt  aus.  auf  den  sich  die 
Sensualisten  gestellt  hatten,  daß  er  seine  Wahrnehmungen  durch  die 
Vermittlung  der  Sinne  empfangen  hat,  und  daß  die  Sinne  sich  täuschen 
können,  daß  sie  also  keine  absolute  Gewißheit  verschaffen.  Dann  aber 
geht  er  gleich  einen  entschiedenen  Schritt  weiter.  Er  will  einmal  an 
allem,  was  er  früher  glaubte,  zweifeln,  an  den  einfachsten  Wahrheiten 
der  Mathematik,  wie  an  der  Existenz  Gottes.  Alle  Meinungen,  die  er 
bisher  für  wahr  gehalten,  will  er  einmal  als  Gebilde  der  Phantasie  be- 
trachten. „So  will  ich  denn  annehmen,  daß  nicht  der  allgütige  Gott  die 
Quelle  der  Wahrheit  sei,  sondern  irgend  ein  böser  und  zugleich  sehr 
mächtiger  und  listiger  Dämon,  der  alle  seine  Kunst  daran  gesetzt  habe, 
mich  in  Irrtum  zu  stürzen.  Ich  will  meinen,  Himmel,  Luft.  Erde,  Farben. 
Formen,  Töne  und  alles,  was  ich  außer  mir  wahrnehme,  seien  Trug- 
bilder der  Träume,  mit  denen  jener  böse  Geist  meiner  Leichtgläubigkeit 
nachstellt.  Ich  will  mich  selbst  so  betrachten,  als  ob  ich  weder  Augen, 
noch  Fleisch,  noch  Blut,  noch  irgend  einen  Sinn  in  Wahrheit,  sondern 
alle  diese  Dinge  nur  in  der  Einbildung  hätte."  ^)  Doch  wie  Arcliiuiedes 
nur  einen  festen  Punkt  verlangte,  um  die  Erde  aus  ihren  Angeln  zu 
lieben,  so  rettet  Descartes  seine  Welt,  indem  er  in  dem  Wirbel  dieses 
scheinbar  allumfassenden  Zweifels  eine  Überzeugung  findet,  die  ihm  sicher 
und  unerschütterlich  ist.  Der  Mensch  mag  sich  noch  so  sehr  und  noch 
so  oft  täuschen,  niemals  wird  er,  solange  er  überhaupt  denken  kann, 
denken,  daß  er  selbst  nicht  sei.  So  gelangt  Descartes  zu  dem  Funda- 
mentalsatz seiner  Philosophie:  „Der  Satz:  ich  bin,  ich  existiere,  ist  in 
dem  Augenblick,  wo  ich  ihn  ausspreche  oder  denke,  vollkommen  wahr.'"-) 
Davon  ausgehend,  fragt  nun  Descartes  weiter,  wer  er  ist,  nachdem 
er  sich  versichert  hat.  daß  er  ist.  Auch  hier  will  er  alles  entfernen, 
was  irgendwie  bezweifelt  werden  kann,  selbst  die  Merkmale  der  körper- 

1)  Meditationes,  1.  Betrachtung,  S.  78. 

2)  Ibid.  2.  Betrachtung,  S.  81. 


521 

lieben  Xatur,  selbst  die  Empfindungen,  die  Bewegungen.  Denn  aucb  im 
Traum  glaubt  man  vieles  zu  sehen  und  zu  empfinden,  was  doch  der 
Wirklichkeit  nicht  entspricht.  So  kann  alles  von  uns  als  zweifelhaft  ab- 
getrennt werden.  „Das  Denken  allein  kann  von  meinem  Wesen  nicht 
abgetrennt  werden,  ich  bin,  ich  existiere:  dieser  Satz  ist  gewiß."  .  .  . 
„Jetzt  lasse  ich  nichts  gelten,  als  was  notwendig  wahr  ist.  Also  ich 
bin  streng  genommen  ein  denkendes  Wesen,  d.  h.  ein  Wesen,  welches 
zweifelt,  einsieht,  bejaht,  verneint,  will,  nicht  will,  auch  einbildet  und 
empfindet  .  .  .  Ich  sehe  Licht,  ich  höre  Geräusch,  ich  fühle  Wärme  — 
das  alles  ist  falsch,  denn  ich  schlafe.  Aber  daß  ich  mir  einbilde  zu 
sehen,  zu  hören,  warm  zu  werden,  das  kann  nicht  falsch  sein." 

Um  zu  beweisen,  daß  wir  nicht  die  Körper,  die  wir  sehen  und 
betasten,  am  deutlichsten  erkennen,  führt  Descartes  ein  Beispiel  an.  Er 
hat  ein  Stück  Wachs  vor  sich,  das  kurz  zuvor  der  Honigscheibe  ent- 
nommen worden  ist.  Es  hat  noch  etwas  von  dem  Honiggeschmack,  von 
dem  Duft  der  Blumen;  es  ist  kalt  und  hart.  Doch  es  kommt  dem  Feuer 
nahe,  verändert  seine  Gestalt,  verliert  seine  Härte,  verändert  die  Farbe, 
<Ien  Duft  und  wird  zuletzt  flüssig.  Es  ist  noch  dasselbe  Wachs  und 
doch  etwas  ganz  anderes.  Und  so  kann  es  unzählige  Formveränderungen 
erleiden.  Wir  können  es  uns  also  nicht  vorstellen,  wir  können  es 
bloß  denken,  d.  h.  wir  haben  die  geistige  Einsicht,  aus  welchen  Be- 
standteilen es  gebildet  ist.  Der  Sprachgebrauch  beirrt  uns  hier.  Wir 
pflegen  zu  sagen :  wir  sehen  das  Wachs,  wenn  es  vorhanden  ist,  und 
sagen  nicht:  wir  urteilen  aus  der  Farbe  oder  der  Figur,  daß  es  vor- 
handen sei.  Noch  drastischer  ist  ein  zweites  Beispiel.  Menschen  gehen 
auf  der  Straße  vor  meinem  Fenster  vorüber.  Ich  sage,  der  Gewohnheit 
gemäß:  ich  sehe  Menschen  vorübergehen.  Was  aber  sehe  ich  anderes, 
als  Hüte  und  Kleider,  unter  denen  auch  Puppen  stecken  könnten?  Daß 
CS  Menschen  sind,  urteile  ich.  Und  so  erfasse  ich.  was  ich  mit  den 
Augen  zu  sehen  wähne,  lediglich  durch  die  Urteilskraft  meines  Geistes. 
Auch  die  Körper  werden  nicht  eigentlich  von  den  Sinnen,  sondern  bloß 
vom  Denken  wahrgenommen.  Ich  nehme  sie  wahr,  nicht  weil  ich  sie 
betaste  oder  sehe,  sondern  weil  ich  sie  denke. 

So  ist  Descartes,  von  dem  Skepticismus  ausgehend,  zur  Gewißheit 
gelangt,  und  im  geraden  Gegensatz  zu  den  Sensualisten  ist  die  Existenz 
des  Geistes  für  ihn  das  allein  Wahre  und  Sichere.  Wenn  er  aber  gewiß 
ist,  daß  er  selbst  existiert,  so  fragt  er  nun  weiter,  was  dazu  erforderlich 
ist,  daß  er  einer  Sache  gewiß  werde.  Und  er  findet  das  Kriterium  der 
Gewißheit  darin,  daß  er  eine  klare  und  deutliche  Einsicht  in  diese  Sache 
habe.  „Alles,  was  ich  klar  und  deutlich  einsehe,  ist  wahr.''  So  kann  er 
an  der  Wahrheit  des  Satzes,  daß  zwei  und  drei  zusammen  fünf  sind, 
nicht  zweifeln,  so  wenig  wie  an  dem  Satz,  daß  jedes  Quadrat  vier  Seiten 
hat.  Damit  ist  wieder  ein  fester  Boden  gefunden,  und  Descartes  geht 
nun  abermals  weiter  und  untersucht  die  Frage,  ob  ein  Gott  ist,  und  wenn 
er  ist,  ob  er  ein  Lügengeist  sein  kann. 

Um  hierüber  zur  Klarheit  zu  kommen,  prüft  er  zunächst  die  Natur 
seiner  Vorstellunsren.     Er   kommt    dabei    zu    dem  Satz,    daß  niemals  ein 


522 

Etwas  sich  aus  dem  Xichts  entwickeln  kann,  daß  jedes  Etwas  die 
Wirkung  einer  erzeugenden  Ursache  ist.  Ein  Stein,  der  nicht  vorhanden 
war,  kann  nur  entstehen,  wenn  er  von  Etwas  hervorgebracht  wird,  das 
entweder  ebensoviel  oder  mehr  in  sich  enthält.  Etwas,  das  nicht  warm 
war,  kann  nur  von  einem  Wesen  erwärmt  werden,  das  Wärme  hat.  So 
ist  es  auch  mit  den  Ideen.  Eine  Idee  kann  als  Ursache  nur  Etwas 
haben,  was  zum  mindesten  ebenso  viel  Realität  in  sich  hat,  als  diese 
selbst.  Die  Idee  der  Körper  ist  in  unserer  denkenden  Natur  enthalten : 
unser  eigenes  Wesen  hat  mehr  Realität  als  die  Vorstellung  eines  Korpers. 
Diese  Ideen  können  also  von  uns  gebildet  werden.  Aber  eine  Idee  giebt 
es,  die  nicht  von  uns  hat  hervorgebracht  werden  können,  die  Gottesidee. 
Wir  sind  endliche  Wesen  und  unvollkommen,  so  können  wir  die  Ursache 
dieser  Idee  von  einem  vollkommenen  Wesen  nicht  sein.  Diese  Idee  kann 
uns  nur  von  einem  Wesen  eingegeben  worden  sein,  das  die  Fülle  der 
Vollkommenheit  in  sich  hat.  Von  allen  Ideen,  die  wir  besitzen,  ist  diese 
aber  die  klarste,  und  sie  hat  mehr  objektive  Realität,  als  jede  andere. 
So  giebt  es  folglich  keine  Idee,  an  der  man  weniger  zweifeln  könnte. 
Descartes  fragt  weiter,  wie  er  zu  der  Idee  von  Gott  gekommen  sei? 
Aus  den  Sinnen  hat  er  sie  nicht  geschöpft,  noch  ist  sie  ihm  daraus 
unwillkürlich  gekommen.  Auch  hat  er  sie  nicht  selbst  gebildet,  nicht 
erdichtet,  denn  er  kann  nichts  von  ihr  abnehmen,  ihr  nichts  zufügen. 
Sie  ist  ihm  vielmehr  angeboren,  wie  die  Idee  der  eigenen  Persönlichkeit. 
Daraus  aber,  daß  wir  die  Idee  eines  vollkommenen  Wesens  in  uns  haben, 
folgt  mit  Sicherheit,  daß  dieses  vollkommene  Wesen  existieren  muß.  Der 
vorzüglichste  Beweis  dafür  liegt  aber  in  dem  Begriff  von  Gott  selbst. 
Denn  zu  dem  Begriff  des  vollkommenen  ewigen  Gottes  gehört  die  Existenz. 
Fehlte  diese,  wäre  die  Vollkommenheit  nicht  erreicht. 

Mit  diesem  Resultat  hat  Descartes  viel  gewonnen.  Wenn  Gott  voll- 
kommen ist,  ist  er  auch  wahrhaftig.  Wenn  er  wahrhaftig  ist,  kann  er 
die  Menschen  nicht  zum  Irrtum  erschaffen  haben.  Betrügen  wollen  ist 
ja  ein  Zeichen  der  Bosheit.  Wir  Menschen  wissen,  daß  wir  zwar  dem 
Irrtum  ausgesetzt  sind,  aber  wir  sind  nun  auch  gewiß,  daß  wir  nicht 
irren  können,  wenn  wir  ein  Objekt  klar  und  deutlich  erkannt  haben. 
Somit  fließt  aus  der  Gewißheit  von  der  Existenz  Gottes  jede  andere  Ge- 
wißheit. 

Die  weiteren  Ausführungen  Descartes'  können  wir  noch  kürzer 
behandeln,  da  sie  zwar  in  der  Geschichte  der  Philosophie  zum  Teil  sehr 
wichtige  Folgen  hatten,  aber  auf  die  Geistesrichtuug  des  17.  Jahrhunderts 
weniger  Einfluß  ausüben  konnten.  Nachdem  Descartes  die  erwähnten 
Sätze  festgestellt  hat,  geht  er  weiter  zur  Erforschung  der  Dinge  und 
sucht  die  Naturphilosophie  zu  begründen. 

Aus  der  Gottesidee  ergiebt  sich  ihm  die  Lehre  der  beiden  Sub- 
stanzen, der  denkenden  Substanz,  des  Geistes,  und  der  körperlichen 
Substanz,  der  Materie.  Substanz  ist  nach  seinem  Ausdruck,  was  zu  seiner 
Existenz  keines  anderen  bedarf.  Im  höchsten  Sinn  ist  daher  nur  Gott 
Substanz.  Aber  im  weiteren  Sinn  nennt  er  Substanzen  alle  Dinge,  die 
zu  ihrer  Existenz    nur  der  Mitwirkung  Gottes    bedürfen.    Jede  Substanz 


523 


hat  ein  Attribut,  das  ihr  Wesen  ausmacht.  Die  Materie  hat  als  Attribut 
die  Ausdehnung,  denn  alles,  was  sonst  noch  vom  Korper  ausgesagt 
werden  kann,  setzt  die  Ausdehnung  voraus.  Das  Attribut  des  Geistes 
ist  das  Denken.  Sein  Wille  ist  frei,  Descartes  betont  dies  ausdrücklich. 
„Ich  kann  mich  nicht  beklagen,  daß  der  Wille  oder  die  Willensfreiheit, 
die  ich  von  Gott  erhalten  habe,  nicht  weit  und  vollkommen  genug  sei, 
denn  in  der  That,  ich  mache  die  Erfahrung,  daß  dieses  Vermögen  frei 
ist  von  allen  Schranken."')  Er  steht  damit  wieder  in  offenem  Gegensatz 
zu  den  Sensualisten,  die  mehr  und  mehr  zur  Leugnung  des  freien 
Willens  gedrängt  werden.  Nach  der  Ansicht  von  Descartes  haben  Geist 
und  Körper  nichts  miteinander  gemein.  Sie  sind  wol  aneinander  ge- 
bunden, aber  ihre  Vereinigung  ist  nur  mechanisch;  der  Leib  ist  eine 
Maschine,  zu  der  die  Seele  noch  hinzutritt.  Der  Körper  ist  seiner  Natur 
nach  teilbar,  der  Geist  ist  es  nicht.  Die  logische  Folgerung  aus  diesen 
Sätzen  ist  denn  auch  die  Überzeugung,  die  Descartes  an  anderer  Stelle 
ausspricht,  daß  die  Tiere,  die  keine  Vernunft,  d.  h.  keinen  Geist  haben, 
nur  Maschinen,  also  ohne  wirkliche  Empfindung  sind.-) 

Descartes  muß  diese  Ideen  schon  reif  in  seinem  Geist  gehabt 
haben,  dem  er  schrieb  seine  „Meditationes"  in  raschem  Zug  nieder. 
Noch  im  Jahr  1629  konnte  er,  wie  gesagt,  die  Vollendung  seiner  Arbeit 
melden.  Aber  er  scheute  vor  der  Veröffentlichung  zurück.  Zuvor  wollte 
er  noch  ein  anderes  Werk  beendigen,  das  den  praktischen  Beweis  liefern 
sollte,  was  man  überhaupt  mit  seiner  Methode  erreichen  könnte.  Er 
plante  ein  großes  naturwissenschaftliches  Werk,  das  er  „Le  monde" 
betitelte,  und  das  eine  Eeihe  physikalischer  Arbeiten  über  das  Licht,  die 
Himmelskörper,  die  Erde,  die  Ebbe  und  Flut,  die  Winde  u.  s.  w. 
enthalten  sollte.  Drei  Jahr  lang  arbeitete  er  an  seinem  Buch,  von 
1630 — 1633,  bis  er  endlich  seinem  vertrauten  Freund  Mersenne  die 
Vollendung  auch  dieses  Werks  melden  konnte.  Schon  hofften  die  Pariser 
Freunde,  daß  sie  die  lang  ersehnten  Arbeiten,  von  welchen  sie  sich  Großes 
versprachen,  im  Druck  erhalten  würden.  Da  hielt  Descartes  aufs  neue 
ein,  und  schrieb  von  seiner  Absicht,  seine  Papiere  samt  und  sonders  zu 
verbrennen.  Die  Veranlassung  zu  dieser  überraschenden  Meinungsänderung 
lag  in  der  traurigen  Kunde,  welche  ihm  aus  Rom  zugegangen  war.  Im 
Jahr  1632  war  Galileis  Dialog  über  die  Weltsysteme  des  Ptolemäus  und 
Kopernikus  erschienen,  und  darin  die  Wahrheit  der  kopernikanischen 
Lehre  nachgewiesen  worden.  Es  ist  bekannt,  durch  welche  Mittel  der 
greise  Gelehrte  zum  Widerruf  gezwungen  wurde.  Die  Nachricht  davon 
wirkte  erschütternd  auf  Descartes.  Wenn  die  Lehre  des  Kopernikus  und 
des  Galilei  falsch  sei,  schrieb  er  an  Mersenne,  so  sei  auch  seine  Philo- 
sophie irrig,  denn  sie  gründe  sich  auf  jene.  Nun  war  Descartes  nichts 
weniger  als  streitlustig.  „Bene  vixit  qui  bene  latuit"  galt  ihm  als  eine 
goldene  Weisheitsregel,  und  am  wenigsten  wollte  er  Ärgernis  und  Anstoß 
geben.     So  ließ    er  sein  Manuskript    liegen,    und   hat  es    später  wahr- 


1)  Meditationes,  4,  Betrachtung,  S.  114  ff. 

2)  Discours  de  la  metbode,  K;ip.  V. 


524 


scheinlich  verloren.  In  seinem  Nachlaß  fand  sich  nur  ein  kleiner  Abriß 
des  Werks  „Le  monde",  der  auch  im  Jahr  1664  gedruckt  worden  ist. 
Dennoch  konnte  er  nicht  immer  schweigen.  Er  hatte  zu  viel  zu 
sagen,  und  war  von  der  Wahrheit  dessen,  was  er  gefunden  hatte,  doch 
zu  fest  überzeugt,  als  daß  er  nicht  schließlich  dem  Andringen  seiner 
Freunde  nachgegeben  hätte.  Einem  Philosophen  muß  die  Diskussion  seiner 
Ideen  doch  am  Herzen  liegen.  Aber  Descartes  verötfentlichte  nicht  zuerst 
seine  „Meditationes".  sondern  ein  anderes  AVerk,  das  er  mittlerweile 
geschrieben  hatte.  Im  Jahr  1636  hatte  er  seine  „Essais  philosophiques" 
beendet,  und  diese  ließ  er  als  sein  erstes  Werk  1637  erscheinen.  Sie 
bezeichnen  einen  wichtigen  Moment  in  der  Geschichte  der  Philosophie, 
wie  in  der  Entwicklung  der  französischen  Sprache.  Unter  den  „Essais" 
befand  sich  auch  der  „Discours  de  la  methode^S  jene  unvergleichliche 
Schrift,  welche  eine  Umwälzung  in  der  Philosophie  herbeiführte  und  die 
klassische  Prosa  der  Franzosen  begründete.  Der  ., Discoars"  war  in  fran- 
zösischer Sprache  geschrieben. \)  Schon  diese  Neuerung  war  kühn  für 
ein  philosophisches  Werk,  aber  noch  kühner  war  es,  daß  Descartes  darin 
die  herkömmliche  dunkle,  von  philosophischen  Schulausdrücken  strotzende 
Beweisführung  aufgab  und  sich  an  das  große  gebildete  Publikum  wen- 
dete. Genau  betrachtet,  entwickelt  er  darin  nicht  seine  Methode,  son- 
dern er  spricht  nur  über  sie.  Die  „Meditationes",  die  er  1641  zuerst  in 
lateinischer,  dann  in  französischer  Sprache  folgen  ließ,  ergänzen  und 
erweitern  die  Beweisführung  des  „Discours".  Beide  Schriften  sind  schwer 
voneinander  zu  trennen.  Sie  sind  in  ihrer  Weise  einzig  in  der  philo- 
sophischen Litteratur.  „Man  erwartet",  sagt  Kuno  Fischer,  „bei  der 
ersten  Schrift  eine  Methodenlehre  und  findet  diese  in  Form  einer  Lebens- 
geschichte ;  man  erwartet  bei  der  zweiten  eine  metaphysische  Unter- 
suchung und  empfängt  diese  in  der  Form  von  Konfessionen."-)  Im  „Dis- 
cours" erzählt  Descartes,  wie  er  zu  seiner  Methode  kam.  In  dem  ersten 
Abschnitt  spricht  er  von  seinen  Erfahrungen  auf  der  Schule  und  seinem 
weiteren  Bildungsgang.  Wir  haben  einige  der  wichtigsten  Stellen  daraus 
schon  mitgeteilt.  In  dem  zweiten  Abschnitt  erzählt  Descartes  dann  aus- 
führlich, welche  Regeln  er  für  seine  Methode,  und  wie  er  sie  ge- 
funden hat.  Es  waren  hauptsächlich  vier  einfache  Gesetze'  deren  Beob- 
achtung er  sich  zur  Pflicht  machte.  Er  nahm  sich  vor,  niemals  eine 
Sache  als  wahr  anzunehmen,  die  er  nicht  deutlich  als  wahr  erkannt 
hätte;  jede  Schwierigkeit,  die  er  untersuchen  wollte,  in  so  viel  Theile 
zu  zerlegen  als  möglich;  die  Gedanken  richtig  zu  ordnen,  mit  den  ein- 
fachsten Objekten  zu  beginnen  und  stufenweise  zur  Erkenntnis  der 
höchsten  aufzusteigen ;  endlich,  so  vollzählige  Aufzählungen  und  so  voll- 
ständige Übersichten  zu  machen,  daß  er  sicher  wäre,  nichts  auszulassen. 
Im  dritten  Abschnitt  wendet  er,  gleichsam  zur  Probe,  diese  Methode 
auf  einige  Regeln    der  Sittenlehre    an,    und  beschäftigt   sich  im    letzten 


1)  Allerdings  hat  er  sein  Buch  fast  gleichzeitig  ins  Lateinische  übersetzt. 
um  es  den  Gebildeten  anderer  Länder  zugänglich  zu  machen. 

-■;  K.  Fischer,  Geschichte  der  neueren  Philosophie,  Band  I.  Anhang,  S.  IX. 


525 


Absclmitt  mit  Gott  und  der  menschlichen  Seele.  Darin  giebt  er  dieselbe 
Beweisführung,  wie  in  seinen  „Meditationes",  die  ja  schon  geschrieben, 
wenn  auch  noch  nicht  veröffentlicht  waren.  Der  Satz  der  letzteren :  „Ich 
bin,  ich  existiere"  wird  in  dem  „Discours"  nur  noch  schärfer  gefaßt 
und  lautet:   ,.Je  pense,  donc  je  suis.  Cogito,  ergo  sum". 

Wenn  Descartes  seine  naturwissenschaftlichen  Untersuchungen  nicht 
veröffentlicht  hatte,  um  nicht  gegen  die  Kirchenlehre  zu  verstoßen,  so 
glaubte  er  sich  für  seine  beiden  philosophischen  Schriften  der  Billigung 
seitens  der  Kirche  sicher.  Schloß  er  doch  seine  „Meditationes"  mit  den 
Worten:  „Dazu  müssen  wir  unserem  Gedächtnis  als  oberste  Regel  ein- 
prägen, daß  die  göttlichen  Offenbarungen  zu  glauben  sind  als  unter  allen 
Wahrheiten  die  sichersten.  Und  wenn  auch  das  Licht  der  Vernunft  uns 
auf  das  Klarste  und  Einleuchtendste  etwas  anderes  darzubieten  den  Schein 
hätte,  so  ist  doch  das  göttliche  Ansehen  glaubwürdiger  als  unser  eigenes 
Urteil.  Aber  in  den  Dingen,  worüber  die  Religion  nichts  lehrt,  darf  der 
Philosoph  nichts  für  wahr  gelten  lassen,  das  er  nicht  als  wahr  ein- 
gesehen hat,  und  wenn  er  den  Sinnen  mehr  Glauben  schenkt,  so  heißt 
dies  so  viel,  als  den  unbedachten  Urteilen  des  kindischen  Alters  mehr 
trauen  als  der  reifen  Vernunft."  ')  Descartes  ging  sogar  noch  weiter  und 
unterwarf  sein  Buch  der  kirchlichen  Zensur,  die  es  auch  unbeanstandet 
ließ.  Erst  22  Jahre  später  erkannte  man  in  Rom,  welche  Gefahr  seine 
Philosophie  für  den  Glauben  in  sich  barg,  und  setzte  die  „Meditationes" 
auf  den  Index.  Einwendungen  blieben  freilich  auch  gleich  bei  dem  Er- 
scheinen nicht  aus,  so  z.  B.  von  Hobbes,  von  Antoine  Arnauld,  dem 
späteren  Haupt  der  Jansenisten,  und  Gassendi,  mit  welchem  Descartes 
sogar  in  eine  Fehde  geriet,  die  teilweise  in  gereiztem  Ton  geführt  wurde. 

Im  Jahr  1644  erschien  bei  Elzevir  in  Amsterdam  das  dritte  Haupt- 
werk, die  „Principia  philosophiae",  welche  eine  Darstellung  des  ganzen 
Systems  geben  und  eine  Erweiterung  der  schon  früher  entwickelten  Ideen 
enthalten. 

Die  „Principia"  zerfallen  in  vier  Bücher,  von  welchen  die  beiden 
ersten  die  Lehre  von  der  menschlichen  Erkenntnis  und  den  Körpern, 
d.  h.  die  Metaphysik  und  Naturphilosophie,  enthalten.  Das  dritte  und 
vierte  Buch  handelt  von  der  sichtbaren  Welt  und  von  der  Erde.  Er 
schrieb  dieses  Werk,  getragen  und  ermutigt  von  dem  großen  Erfolg  seiner 
früheren  Schriften,  in  der  Ruhe  des  schönen  Schlosses  von  Endegeest,  wo 
ihm  der  Umgang  mit  der  geistvollen  Prinzessin  Elisabeth  von  der  Pfalz 
besonders  wertvoll  war.  Elisabeth  war  die  älteste  Tochter  -des  Winter- 
königs von  Böhmen,  Friedrich  von  der  Pfalz.  Geboren  1»)18,  stand  sie 
damals  in  der  Blüte  ihrer  Jahre  und  war  eine  begeisterte  Schülerin  Des- 
cartes'.^) Ihr  sind  auch  die  „Principia"  gewidmet.  Ebenso  schrieb  Des- 
cartes für  sie  1645  die   „Briefe  über  das  menschliche  Glück"   und   1649 


1)  „Beweisgründe  für  das  Dasein  Gottes  und  der  Unterschied  der  Seele 
vom  Körper,  nach  geometrischer  Methode  geordnet"  (§.  7G). 

^)  Sie  starb  1680  als  reichsfürstliche  Äbtissin  der  Lutherischen  Abtei 
von  Herforden  in  Westfalen. 


526 


seine  Abhandlung  „Über  die  Leidenschaften  der  Seele".  Diese  Zeit  war 
die  glücklichste  seines  Lebens.'')  Im  Anfang  seiner  „Meditationes"  sagt 
er:  ^Die  Gegenwart  ist  mir  günstig.  Ich  habe  mein  Gemüt  befreit  von 
allen  Sorgen,  habe  eine  ungestörte  Muße  gewonnen,  lebe  einsam  in  der 
Einsamkeit  und  werde  mich  nun  ganz  mit  ernstem  und  freiem  Geist 
meiner  Aufgabe  widmen".  Sein  Euhm  war  durch  die  ganze  Welt  ver- 
breitet, und  besonders  groß  war  er  in  Frankreich  und  Holland.  Allein 
was  er  ahnend  vorhergesehen,  sollte  sich  nun  auch  erfüllen.  Mißgunst. 
gekränkte  Eigenliebe  und  Fanatismus  reizten  manche,  aus  ihrer  beschau- 
lichen Ruhe  aufgestörte  Philosophen  der  alten  Schule  zu  einem  erbit- 
terten Krieg  gegen  ihn.  Hämische  Gegner  fand  er  zumeist  an  den  Uni- 
versitäten zu  Utrecht  und  Leyden.  Es  kam  zu  unerquicklichen  Streitig- 
keiten, Schmähschriften  wurden  gegen  ihn  verbreitet  und  Descartes  sah 
sich  genötigt,  zu  antworten,  niedere  Intriguen  zu  durchkreuzen,  elende 
Verleumdungen  zu  widerlegen.  Mehr  als  einmal  war  selbst  seine  persön- 
liche Sicherheit  bedroht,  obwol  der  Prinz  von  Oranien  ihm  seinen  Schutz 
versprach  und  der  französische  Gesandte  sich  seiner  annahm.  Bitter  be- 
reute er,  das  Glück  des  unbekannten,  aber  friedlichen  Lebens  freiwillig 
aufgegeben  und  vor  die  Öffentlichkeit  getreten  zu  sein.  In  einem  Brief 
vom  1.  November  1646  au  seinen  Freund  Chanut,  der  als  Gesandter 
nach  Stockholm  gegangen  war.  schrieb  er:  ,.Wäre  ich  so  klug  gewesen, 
als  nach  dem  Glauben  der  Wilden  die  Affen  sind,  so  würde  kein  Mensch 
der  Welt  wissen,  daß  ich  Bücher  schreibe.  Die  Wilden  nämlich,  so  sagt 
man,  bilden  sich  ein.  daß  die  Affen  sprechen  könnten,  wenn  sie  wollten, 
sie  thäten  es  aber  absichtlich  nicht,  damit  man  sie  nicht  zu  arbeiten 
zwinge.  Ich  bin  nicht  so  klug  gewesen,  das  Schreiben  zu  lassen:  darum 
habe  ich  nicht  mehr  so  viel  Ruhe  und  Muße,  als  ich  durch  Schweigen 
behalten  hätte.  Indessen  der  Fehler  ist  einmal  gemacht,  ich  bin  von 
zahllosen  Schulnachtretern  gekannt,  die  meine  Schriften  schief  ansehen 
und  von  allen  Seiten  mir  zu  schaden  suchen, . . "  -)  _Ein  Pater  hat  mich 
des  Skepticismus  beschuldigt,  weil  ich  die  Skeptiker  widerlegt  habe;  ein 
Prediger  hat  mich  als  Atheisten  verschrieen,  weil  ich  versucht  habe,  die 
Existenz  Gottes  zu  beweisen.  Was  würden  sie  erst  sagen,  wenn  ich  den 
wahren  Wert  aller  Dinge,  die  man  begehrt  oder  verabscheut,  unter- 
suchen wollte,  den  Zustand  der  Seele  nach  dem  Tod,  bis  zu  welchem 
Grad  wir  das  Leben  lieben  dürfen  und  wie  wir  beschaffen  sein  müssen, 
um  den  Tod  nicht  zu  fürchten !  Und  wenn  meine  Ansichten  noch  so  sehr 
dem  religiösen  Glauben  gemäß  und  dem  Staat  nützlich  wären,  so  würde 
man  mir  nach  beiden  Seiten  gerade  die  entgegengesetzten  Meinungen 
auf  den  Hals  reden.  Darum  halte  ich  für  das  Beste,  überhaupt  keine 
Bücher  mehr  zu  schreiben  und  mit  Seneca  zu  sagen:  Der  Tod  ist  eine 
schwere  Last,  wenn  man  stirbt,  allen  bekannt,  nur  sich  selbst  nicht. 
Ich  will  nur  noch  für  meine  Selbstbelehrung  arbeiten  und  meine  Ge- 
danken im  Privatgespräch  mitteilen." 


^)  Tgl.  Foucher  de  Careil,  Descartes  et  la  priucesse  palatine.  Paris  1862. 
2)  Descartes,  Oeuvres,  t.  X,  p.  413.    Siehe  auch  K.  Fischer,  S.  240. 


527 


Pedanterie  und  Fanatismus  haben  uns,  wie  aus  diesen  Worten 
hervorgellt,  um  manche  Arbeit  gebracht,  die  an  Tiefe  gewiß  nicht  den 
früheren  nachgestanden  hätte.  Allerdings  verfaßte  er  noch  einige  be- 
deutsame Schriften,  aber  nicht  für  die  große  Öffentlichkeit,  und  es  fehlte 
der  Anstoß,  der  ihn  dazu  gebracht  hätte,  seine  weiteren  Ideen  aufzu- 
y.eichnen.  Mit  der  Zeit  wurde  ihm  der  Aufenthalt  in  dem  freien  Holland 
unerträglich.  Schon  im  Jahr  1646  war  er,  einer  Aufforderung  der  Königin- 
Regentin  folgend,  nach  Paris  gegangen.  Man  hatte  ihn  eingeladen,  seinen 
Wohnsitz  in  Paris  zu  nehmen,  und  ihm  ein  Jahrgehalt  versprochen. 
Allein  als  er  1648  wieder  nach  Paris  kam,  wurde  er  zwar  sehr  ehren- 
voll empfangen,  doch  fehlte  es  an  Geld,  ihn  zu  bezahlen,  und  die  Fronde, 
die  bald  darauf  ausbrach,  machte  alle  Aussichten  auf  ein  friedliches  und 
angenehmes  Leben  in  seinem  Vaterland  zu  nichte.  So  kehrte  er  wieder 
nach  Holland  zurück.  Bald  jedoch  erhielt  er  eine  neue  Einladung.  Die 
Königin  Christine  von  Schweden,  die  seit  1644  die  Regierung  persön- 
lich führte,  hatte  sich  in  die  Schriften  des  Philosophen  vertieft  und 
nahm  die  „Principia"  selbst  auf  ihre  Reisen  mit.  Chanut  wurde  oft 
berufen,  sie  zu  erläutern.  Eines  Tags  geriet  sie  auf  den  Gedanken, 
sich  direkt  an  Descartes  zu  wenden.  Im  Geist  der  Zeit  und  dem  Ge- 
schmack der  vornehmen  Welt  entsprechend,  ließ  sie  ihn  um  Beantwor- 
tung der  Fragen  bitten,  worin  das  Wesen  der  Liebe  bestehe;  ob  die  na- 
türliche Erkenntnis  uns  schon  lehre,  Gott  zu  lieben,  und  endlich,  was 
schlimmer  sei,  das  Unmaß  der  Liebe  oder  das  Unmaß  des  Hasses?  Des- 
cartes antwortete  darauf  in  einem  ausführlichen  Brief  vom  1.  Februar 
1647  an  Chanut,^)  in  welchem  er  zunächst  das  Wesen  der  Liebe  be- 
sprach und  eine  rein  intellektuelle  und  eine  leidenschaftliche,  sinnliche 
Liebe  unterschied.  Die  erstere  scheint  ihm  dann  zu  entstehen,  wenn 
unser  Geist  ein  gegenwärtiges  oder  entferntes  Objekt  bemerkt,  dessen 
Besitz  uns  Freude  macht  und  dessen  Verlast  uns  Schmerz  bereitet.  Zu 
diesen  Gefühlen  der  Freude  und  des  Schmerzes  kommt  noch  der  Wunsch 
nach  dem  Besitz,  und  so  verbindet  sich  mit  der  Liebe  noch  Freude, 
Schmerz  und  Verlangen.  In  allen  diesen  Änßei'ungen  des  Willens 
herrscht  Klarheit,  denn  die  Erkenntnis  des  gewünschten  Objekts  ist  klar 
und  rein  intellektuell.  Allein  die  Seele  ist  mit  dem  Körper  verbunden, 
und  so  entsteht  ein  unklares,  sensitives  Verlangen,  die  sensuelle  oder 
sensitive  Liebe,  die  aber  häufig  mit  der  intellektuellen  verbunden  ist. 
Wahrhaft  lieben  kann  man  also  nur  wirklich,  was  man  verstehen  kann. 
Gott  ist  aber  zu  hoch  erhaben  über  der  Menschennatur,  als  daß  man 
sich  sein  Wesen  klar  vorstellen  könnte.  Darum  wundert  sich  Descartes 
nicht,  daß  einige  Philosophen  behaupten,  nur  die  christliche  Religion 
mit  dem  Mysterium  der  Menschwerdung  Gottes  könne  uns  Liebe  zu  Gott 
einflößen.  Descartes  will  glauben,  daß  man  Gott  auch  ohne  diese  Lehre 
lieben  kann;  er  will  jedoch  nicht  behaupten,  daß  eine  solche  Liebe  ohne 
die  „Gnade"  noch  verdienstlich  sei.  Darüber  mögen  die  Theologen  ent- 
scheiden.   Ihm  ist  nur  klar,    daß  die  Liebe  zu  Gott  die  mächtigste  und 


')  Oeuvres,  publ.  par  V.  Cousin,  t.  X,  S.  3—22. 


528 

nützlichste  aller  Leidenschaften  sein  kann.  Die  ddtte  Frage  beantwortet 
Descartes  dahin,  daß  das  Unmaß  der  Liebe  jedenfalls  gefährlicher  sei 
als  das  Unmaß  des  Hasses.  Auf  diese  letztere  Ausführung  werden  wir 
später  noch  einmal  zurückkommen,  wenn  wir  von  dem  Einfluß  Descartes' 
auf  den  Geist  seiner  Zeitgenossen  zu  reden  haben.  Hier  sei  nur  bemerkt, 
daß  Kuno  Fischer  den  Brief  ein  kleines  Meisterwerk  nennt,  ,,ein  wirk- 
liches Kabinetstück,  bei  dem  jeder  Kenner  des  Philosophen,  der  von  dem 
Verfasser  und  der  Veranlassung  der  Schrift  nichts  wüßte  und  bloß  den 
Ganc  der  Untersuchung,  die  Art  der  Ideen,  die  Wahl  der  Ausdrücke 
beachtete,  sogleich  sagen  würde:  ein  echter  Descartes.  Es  giebt  keine 
zweite  Schrift  so  geringen  Umfangs,  woraus  dieser  Denker  besser  zu  er- 
kennen wäre,  vorausgesetzt,  daß  man  zwischen  den  Zeilen  eines  Philo- 
sophen zu  lesen  versteht".')  Offen  gestanden,  behagt  es  uns  nicht,  daß 
man  bei  einem  Philosophen  zwischen  den  Zeilen  lesen  soll,  statt  ein 
offenes  Wort  zu  linden,  und  wir  vermissen  gerade  in  dieser  kleinen  Ab- 
handlung den  freien,  hohen  Geist,  der  seiner  Zeit  vorauseilte.  Königin 
Christine  war  jedoch  mit  der  Antwort  sehr  zufrieden  und  stellte  ihm 
bald  eine  neue  Frage.  Sie  wollte  nun  seine  Ideen  über  „das  höchste 
Gut"  wissen,  und  diesmal  sandte  Descartes  seine  Antwort  direkt  an  die 
Könic'"in  (20.  November  1647).  Diese  neue  Schrift  ist  vielleicht  weniger 
philosophisch  durchgearbeitet,  aber  sie  atmet  ganz  den  edlen  Sinn,  den 
wir  in  anderen  Schriften  Descartes'  so  sehr  bewundert  haben.  Er  zeigt 
sich  darin  als  vorurteilsfreier  Mann,  als  wahrer  Weltweiser.  Das  höchste 
Gut  im  absoluten  Sinn  sei  allerdings  Gott,  schreibt  er.  Aber  er  wolle 
r.ntersuchen,  was  dem  einzelnen  Menschen  als  höchstes  Gut  erscheinen 
müsse.  Es  müsse  das  ein  erreichbares  Gut  sein,  das  ganz  in  unserer 
Alacht  liege.  Äußere  und  materielle  Güter  seien  das  nicht,  ihr  Besitz 
hänge  oft  von  anderen  Umständen  ab.  Das  höchste  Gut  könne  nur  in 
der  Erkenntnis  und  im  Willen  liegen,  es  könne  nur  geistig  sein.  Auch 
die  Königin  werde  ihre  Krone  gewiß  weniger  schätzen  als  ihre  Tugend. 
Die  äußeren  Güter  könnten  nicht  geehrt  und  gepriesen  werden,  wenn  sie 
auch  geschätzt  werden  müßten.  Der  Mensch  sei  am  glücklichsten,  wenn 
er  innerlich  befriedigt  sei.  Das  höchste  Gut  liege  in  dem  richtigen  Ge- 
brauch des  freien  Willens.-) 

Diese  kleineren  philosophischen  Abhandlungen  lenkten  Descartes 
von  seinen  Hauptstudien  nicht  ab.  Er  hatte  die  kühne  Idee,  durch  das 
Studium  der  vergleichenden  Anatomie  und  durch  eingehende  physiolo- 
o-ische  Arbeiten  eine  genauere  Kenntnis  der  menschlichen  Seele  und 
fhrer  Verbindung  mit  dem  Körper  zu  gewinnen.  Einige  Schriften  darüber, 
die  er  noch  in  Holland  ausarbeitete,  erschienen  jedoch  erst  nach  seinem 
Tod.^)  Seine  Thätigkeit  war  gerade  in  diesem  letzten  Jahr  sehr  groß. 
Verfaßte  er  doch  auch  noch  (1646)    eine  Schrift  über  die  menschlichen 


1)  K.  Fischer,  Geschichte  der  neuereu  Philosophie,  Bd.  I,  S.  251. 

2)  Oeuvres,  t.  X,  p.  59—64.  —  K.  Fischer,  Bd.  I,  S.  254. 

3)  „Traite  de  la  formation  du  foetus",  und  „Traite  de  rhomme-* 


529 

Leidenschaften  („Les  passions  de  l'äme"),  die  aber  erst  1650  in  Amsterdam 
bei  Elzevir  erschien. 

Doch  der  Aufenthalt  in  Holland  war  ihm  verleidet.  Hatte  er  in 
Frankreich  nicht  die  erhoffte  friedliche  Stätte  gefunden,  so  bot  ihm  nun 
Christine  von  Schweden  ein  Asyl  in  ihrem  Eeich  an.  Christine  hatte 
weit  ausschauende  Pläne.  Vor  allem  sollte  Descartes  in  ihrer  nächsten 
Nähe  leben,  aber  in  vollster  Freiheit  seinen  philosophischen  Arbeiten 
sich  widmen;  er  sollte  eine  Akademie  begründen,  den  Vorsitz  darin 
führen  und  dadurch  einen  hervorragenden  Einfluß  auf  das  geistige 
Leben  Schwedens  gewinnen.  Sie  versprach  ihm  Besitzungen  in  ihren 
deutschen  Provinzen,  deren  Klima  mehr  dem  milden  Himmel  Hollands 
entsprach.  Dennoch  entschloß  sich  Descartes  nur  sehr  schwer  zu  der 
Übersiedlung  nach  Stockholm.  Seine  Briefe  zeigen,  daß  er,  dessen  Ge- 
sundheit immer  zart  war,  die  rauhe  Luft  des  Nordens  fürchtete.  Endlich 
willigte  er  doch  ein  und  verließ  im  September  1649  Holland,  das  ihm 
so  lang  eine  zweite  Heimat  gewesen  war.  Die  Königin  empfing  ihn  aufs 
ehrenvollste.  Jeden  Tag  mußte  er  bei  ihr  im  Schloß  erscheinen,  um  die 
Lehren  seiner  Philosophie  zu  erklären  und  die  weiteren  Pläne  mit  ihr 
zu  besprechen.  Aber  bei  alier  Verehrung  für  ihn  zeigte  sich  die  Fürstin 
doch  rücksichtslos.  Weil  es  ihr  nichts  ausmachte,  in  der  Frühe  auf- 
zustehen, verlangte  sie  ein  Gleiches  von  Descartes.  In  den  strengen 
Wintermonaten  mußte  er  täglich  morgens  um  5  Uhr  schon  in  der 
Bibliothek  auf  die  Königin  warten,  welche  diese  frühen  Stunden  für  ihre 
Privatstudien  benutzte,  bevor  sie  sich  den  Regierungsgeschäften  widmete. 
Für  Descartes  war  diese  Forderung  gefährlich.  Im  Januar  1650  erkrankte 
sein  Freund  Chanut  an  einer  Lungenentzündung.  Descartes  pflegte  ihn 
treulich,  ohne  seine  Konferenzen  mit  der  Königin  aufzugeben.  Aber  schon 
im  Februar  erkrankte  auch  er,  und  nach  wenigen  Tagen  raffte  ihn  der 
Tod  hinweg  (11.  Februar  1650).  Er  hatte  das  Alter  von  nicht  ganz 
54  Jahren  erreicht.  Im  Jahr  1666  wurde  die  Leiche  nach  Paris  ge- 
bracht und  im  nächsten  Jahr  in  der  Kirche  Saint-Genevieve  (dem  Pan- 
theon) beigesetzt.  So  lange  hatte  der  Widerstand  der  Geistlichkeit  ge- 
dauert, welche  Descartes  nicht  in  einer  Kirche  aufnehmen  wollte,  da 
Rom  seine  Ansichten  verurteilt  hatte.  Sie  gab  erst  nach,  als  man  zu 
einer  komischen  Lüge  Zuflucht  nahm,  und  Descartes  als  den  Mann  hin- 
stellte, welcher  das  Hauptverdienst  an  der  Bekehrung  Christinens  zur 
katholischen  Religion  gehabt  habe! 

Descartes  war  unvermählt  geblieben.  Aber  er  lebte  seit  dem  Winter 
1634/35  mit  einem  Mädchen  aus  Amsterdam.  Über  die  näheren  Ver- 
hältnisse dieses  Bunds  weiß  man  nichts.  Eine  Tochter,  Francine,  welche 
1635  geboren  wurde,  starb  schon  nach  fünf  Jahren,  und  scheint  das 
einzige  Kind  Descartes'  gewesen  zu  sein.'') 


1)  Vergl.  außer  K.  Fischers  „Geschichte  der  neueren  Philosophie"  und 
Cousins  großer  Ausgabe  der  Werke  des  Descartes  noch  Millet,  „Histoire  de 
Descartes  avant  1637",    Paris  1867,  und   Millet,  „Histoire   de  Descartes  depuis 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  o^ 


530 

Descartes  hat  eine  neue  Epoche  in  der  Philosophie  eröffnet.  Wie 
Bacon  die  modernen  Naturwissenschaften,  so  hat  er  durch  das  Fallen- 
lassen jeder  Voraussetzung  die  moderne  Philosophie  begründet.  Denn  in 
ihr  gilt  seitdem  als  erstes  Princip,  nichts  mehr  zuzulassen,  was  nicht 
in  loo-ischer  Ausführung  bewiesen  werden  könne.  Descartes  hat  denn 
auch  die  Anregung  zu  den  verschiedensten  philosophischen  Systemen 
gegeben.  Einer  seiner  begeistertsten  Anhänger  war  Xicolas  Malebranche 
(1638—1715),  der  sein  System  selbständig  weiter  ausbildete.  Vor  allen 
aber,  die  weiter  bauten  auf  der  Grundlage,  die  Descartes  gelegt  hatte, 
steht  Baruch  Spinoza  (1632 — 1677),  der  von  den  Begriffen  der  Substanz 
und  der  Attribute  ausging,  die  Ideen  Descartes'  erweiterte  und  zu  einer 
wahrhaft  großartigen  Weltanschauung  gelangte.  Eine  andere  Lehre  des 
französischen  Philosophen  besagte,  daß  manches,  was  uns  in  der  Welt 
als  unvollkommen  erscheint,  vielleicht  als  Teil  des  großen  Ganzen  be- 
trachtet, vollkommen  ist;  und  von  diesem  Gedanken  ausgehend,  gelangte 
der  große  deutsche  Philosoph  Gottfried  Wilhelm  Leibnitz  (1646 — 1716) 
zu  seiner  ..Theodicee'".  So  sehen  wir  schon  zur  Genüge,  welchen  Einfluß 
Descartes  auf  die  verschiedensten  Menschen"  ausgeübt  hat,  und  wie  seine 
Philosophie  nicht  allein  in  Frankreich  und  Holland,  sondern  auch  in 
Deutschland  und  den  civilisierten  Staaten  Europas  überhaupt  einen 
wesentlichen  Anteil  an  der  Entwicklung  des  geistigen  Lebens  gehabt  hat. 
Wir  haben  uns  hier  mit  dem  philosophischen  System  des  Descartes  nicht 
eingehender  zu  befassen ;  für  uns  ist  es  nur  noch  wichtig,  seine  Stellung 
zur  Litteratur  und  zu  seinem  Volk  genauer  zu  erforschen. 

Bei  der  Betrachtung  des  Mannes  und  seines  Lebens  gewinnen  wir 
alsbald  die  Überzeugung,  daß  wir  es  in  ihm  mit  einer  seltenen  Er- 
scheinung, einem  Charakter  von  antik  einfacher  Größe  zu  thun  haben. 
Dabei  erkennen  wir  in  ihm  manche  treffliche  Eigenschaft,  welche  zum 
französischen  Nationalcharakter  gehört.  Denn  obwol  Descartes  einen 
großen  Teil  seines  Lebens  im  Ausland  verbrachte,  war  und  blieb  er 
doch  ein  echter  Sohn  seines  Landes.  Noch  mehr,  er  war  auch  ein  echtes 
Kind  seines  Jahrhunderts,  so  sehr  er  ihm  auch  in  vielen  Punkten  vor- 
ausgeeilt war.  Mit  diesem  teilte  er  das  Streben  nach  Klarheit  und  Ord- 
nung, nach  schöner  Form.  Es  ist  ein  merkwürdiges  Zusammentreffen, 
daß  in  demselben  Jahr  1636,  in  welchem  Corneille  durch  seinen  ,.Cid" 
die  poetische  Sprache  zur  Höhe  führte,  Descartes  seinen  ,.  Discours " 
schrieb,  in  welchem  zum  erstenmal  die  französische  Prosa  ihre  klassische 
Form  fand.  Allerdings  hatten  schon  früher  Honore  d'Urfe,  Balzac  und 
andere  den  Wert  einer  abgerundeten  Konstruktion  erkannt,  hatten  nach 
Gleichmaß  und  Harmonie  gestrebt,  und  besonders  Balzac  hat  den  ßuhm 
geerntet,  der  Vater  der  modernen  Prosa  zu  sein.  Über  solche  Ansprüche 
endgiltig  zu  entscheiden,  ist  schwer.  Denn  die  schöne  Beweglichkeit  und 


1637",  Paris  1870.  Fr.  Bouillier,  Histoire  de  la  philosophie  cartesienne.  2.  Bd., 
Paris  1854.  Gerade,  da  diese  Seiten  in  die  Presse  gehen,  wird  ein  neues  Buch 
von  A.  Foucher   de  Careil:  ,.Descartes,  la  princesse  Elisabeth  et  la  reine  Chri- 


von  A.  ioucner   de  Lareü:  ,.L>escartes,  la  princesse  i^i 
stine,  d'apres  des  lettres  inedites"  (Paris,  G.  BailliereJ 


lugezeigt. 


531 


«die  Form  einer  Sprache  wird  nicht  mit  einem  Mal  über  Nacht  ge- 
funden; sie  ist  das  Werk  langer  und  mühsamer  Arbeit.  Balzac  hat  das 
Verdienst,  durch  seine  sorgsam  gefeilten  Schriften  die  Wertschätzung 
einer  schönen  Prosa  gelehrt  und  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Form  auch 
in  weiteren  Kreisen  erweckt  zu  haben.  Wenn  wir  aber  die  Prosa  dann 
erst  klassisch  nennen  wollen,  wenn  sie  in  einfacher  Schönheit,  _ohne 
Überladung  und  falschen  Pomp,  in  krystallheller  Eeinheit  erscheint  und 
die  schwierigsten  Fragen  bei  aller  Gründlichkeit  doch  mit  Anmut  und 
selbst  mit  einer  gewissen  naiven  Grazie  zu  behandeln  versteht,  so  werden 
wir  sagen,  daß  erst  Descartes  die  klassische  Prosa  der  Franzosen  ge- 
schaffen hat.  Sie  hat  in  dem  ganzen  Jahrhundert  den  Charakter  bei- 
behalten, den  ihr  Descartes  gegeben,  und  durch  welchen  der  Sinn  der 
Zeit  so  wunderbar  zum  Ausdruck  gebracht  wird:  sie  hat  immer  etwas 
Getragenes,  Abgewogenes.  Wie  die  Tragödie  bei  der  Schilderung  der 
wildesten  Leidenschaft  doch  immer  Maß  zu  halten  weiß,  so  auch  die 
Prosa,  selbst  in  Stellen  der  größten  Erregung.  Das  17.  Jahrhundert 
steht  unter  der  Herrschaft  des  alten  Rom,  und  seine  Prosa  liebt,  nach 
dem  Vorbild  der  Lateiner,  lange,  freilich  klare  Konstruktionen. 

Descartes  war  ein  Meister  der  Form,  wie  nach  ihm  kein  zweiter 
Philosoph  mehr.  Er  verstand  es,  philosophische  Werke  zu  schreiben, 
die  so  frei  von  philosophischen  Schulausdrücken  sind,  daß  sie  von  jedem 
Gebildeten  ohne  weitere  Vorstudien  verstanden  werden  können.  Somit 
verdient  Descartes  gewiß  einen  hervorragenden  Platz  nicht  nur  in  der 
Geschichte  der  Philosophie,  sondern  auch  in  der  Geschichte  der  fran- 
zösischen Litteratur. 

Merkwürdig  bleibt  es  zu  sehen,  wie  sehr  Descartes  in  vielen  Be- 
ziehungen den  Charakter  seiner  Zeit  trug,  und  wie  er  gerade  infolge 
dieser  Harmonie  auf  die  Anschauungen  seiner  Landsleute  bestimmend 
einwirkte. 

So  hatten  wir  schon  öfters  die  starke  Strömung  zu  konstatieren, 
welche  zu  der  Aufrichtung  einer  autokratischen  Monarchie  in  Frankreich 
trieb.  Von  Heinrich  IV.  zu  Richelieu  und  von  Richelieu  zu  Ludwig  XIV. 
verlor  sich  allmählich  die  Selbständigkeit  der  einzelnen  politischen  Ge- 
walten und  verschiedenen  Klassen.  Der  Sinn  für  staatliches  Leben  schwand 
mehr  und  mehr.  Auch  Descartes  bewies  kein  besonderes  Interesse  und 
die  Politik  kümmerte  ihn  wenig.  Als  französischer  Edelmann  hätte  er 
Veranlassung  genug  gehabt,  sich  an  den  wichtigen  Vorgängen  im  fran- 
zösischen Staatsleben  zu  beteiligen.  Aber  wie  die  meisten  seiner  Standes- 
genossen, vernachlässigte  er  diese  Pflicht  und  zog  es  vor,  ausschließlich 
sich  selbst  und  seinen  Gedanken  zu  leben.  Daß  ein  Mann  wie  Descartes, 
der  auf  dem  Gebiet  der  Philosophie  so  Großes  geleistet  hat,  die  Freiheit 
haben  mußte,  nach  seinem  Gefallen  zu  leben,  versteht  sich  von  selbst, 
und  niemand  wird  ihm  aus  seiner  politischen  Indifferenz  einen  Vorwurf 
machen  wollen.  Aber  ein  charakteristisches  Zeichen  bleibt  solche  Gleich- 
giltigkeit  dennoch.  Ja,  Descartes  ging  in  dieser  Richtung  noch  weiter. 
Unähnlich  darin  seinen  Landsleuten,  scheint  er  sich  in  der  Fremde 
wohler  befunden  zu  haben    als  in  seinem  Vaterland.    Er  war  überhaupt 

34* 


532 


streng  konservativer  Gesinnung,  in  religiöser  wie  in  politischer  Hinsicht, 
und  hat  sich  stets  als  rechtgläubiger  Katholik  gezeigt.  Als  er  seine 
Schrift  „Le  monde"  nicht  veröffentlichen  wollte,  weil  ihn  die  Verurteilung 
Galileis  erschreckte,  schrieb  er  seinem  Freund  Mersenne  nach  Paris : 
„Um  keinen  Preis  will  ich  eine  Schrift  herausgeben,  in  welcher  der 
Kirche  auch  nur  das  kleinste  Wort  mißfallen  könnte".  Er  wollte  den 
religiösen  Ansichten  seiner  Zeit  in  keiner  Weise  entgegentreten,  und 
ebensowenig  dachte  er  an  Keformen  im  Staatsleben.  Wenn  Corneille 
einmal  sagte:  „Le  pire  des  Etats,  c'est  l'Etat  populaire",  so  sprach  sich 
Descartes  für  die  absolute  Monarchie  aus.  „Wenn  Sparta  einst  ein  so 
blühender  Staat  war",    heißt   es  im   „Discours",   ..beruhte  das  nicht  auf 

der  Trefflichkeit    jedes  einzelnen    seiner  Gesetze    im    besonderen 

sondern  es  kam  daher,  daß  die  Gesetze  nur  von  einem  Einzigen  er- 
sonnen und  nur  auf  ein  Ziel  gerichtet  waren. ■■^)  Die  Reform  selbst  des 
kleinsten  Übelstands  begegnet  im  Staatsleben  seiner  Meinung  nach  den 
größten  Schwierigkeiten  und  bereitet  oft  ernste  Gefahren.  „Diese  großen 
Körper  sind  sehr  schwer  wieder  aufzurichten"*,  sagt  er  an  derselben 
Stelle,  „wenn  sie  am  Boden  liegen,  oder  auch  nur  aufzuhalten,  wenn 
sie  schwanken,  und  ihr  Sturz  ist  allemal  sehr  schwer.  Und  was  ihre 
Mängel  betrifft,  wenn  sie  welche  haben,  so  hat  sie  der  Gebrauch  ohne 
Zweifel  sehr  gemildert,  und  sogar  sehr  viele  davon,  denen  sich  mit  keiner 
Klugheit  so  gut  beikommen  ließe,  unmerklich  abgestellt  oder  verbessert, 
und  endlich  sind  diese  Mängel  fast  in  allen  Fällen  erträglicher,  als  ihre 
Veränderung  sein  würde.  Es  verhält  sich  damit  ähnlich  wie  mit  den 
grüßen  Wegen,  die  sich  zwischen  den  Bergen  hinwindeu  und  durch  den 
täglichen  Gebrauch  allmählich  so  eben  und  bequem  werden,  daß  man 
weit  besser  thut,  ihnen  zu  folgen,  als  den  geraden  Weg  zu  nehmen,  indem 
man  über  Felsen  klettert  und  in  die  Tiefe  jäher  Abgründe  hinabsteigt. 
Darum  werde  ich  nie  jene  verworrenen  und  unruhigen  Köpfe  gutheißen 
können,  die,  ohne  von  Geburt  oder  Schicksal  zur  Führung  der  öffent- 
lichen Angelegenheiten  berufen  zu  sein,  doch  fortwährend  auf  diesem 
Gebiet  nach  Ideen  reformieren  wollen ;  und  wenn  ich  dächte,  daß  in 
dieser  Schrift  etwas  wäre,  das  mich  in  den  Verdacht  einer  solchen 
Thorheit  bringen  könnte,  so  würde  es  mir  sehr  leid  sein,  ihre  Veröffent- 
lichung zugelassen  zu  haben.  "^) 

Daß  Descartes  gegen  den  Skepticismus  Front  machte  und  die 
sensualistische  Philosophie  bekämpfte,  haben  wir  schon  gesagt.  Er  ver- 
trat in  diesem  Kampf  offenbar  die  große  Majorität  der  Gebildeten  seiner 
Zeit,  wie  er  hinwiederum  ihre  Denkweise  in  der  zweiten  Hälfte  des 
Jahrhunderts  außerordentlich  beeinflußte.  Man  könnte  sagen,  daß  Des- 
cartes diese  Epoche  beherrscht,  so  sehr  finden  wir  seine  Ideen  überall 
eingedrungen,  so  sehr  haben  sie  beigetragen,  die  früheren  Anschauungen 
umzuwandeln. 


^)  Discours  de  la  methode. 
2)  Ibid.,  S.  15. 


533 


So  haben  wir  gefunden,  daß  der  vornehmen  Gesellschaft  in  der 
früheren  Zeit  Ruhm  und  Ehre  als  höchstes  Ziel,  als  Ideal  vorschwebten. 
Descartes  befreundete  sich  mit  solchen  Ideen  nicht.  Er  erklärte  offen, 
daß  er  den  Ruhm  nicht  übermäßig  liebe,  da  er  ihn  für  einen  Feind  der 
Ruhe  halte,  die  ihm  über  alles  gehe.  Dagegen  nannte  er  in  seiner  Schrift 
„über  die  Leidenschaften"  die  edle,  große  Gesinnung  (.,1a  generosite") 
„den  Schlüssel  aller  übrigen  Tugenden  und  ein  Hauptmittel  gegen  den 
Taumel  der  Leidenschaften'".^)  Und  in  dem  Brief  „über  die  Liebe",  den 
er  an  Chanut  richtete,  betonte  er  die  Macht  der  Liebe,  welche  oft  die 
Menschen  bessere  und  tugendhaft  mache,  selbst  wenn  sie  maßlos  und 
frivol  an  sich  sei.  Die  Liebe  aber  reiße  die  Menschen  zu  den  größten 
Ausschreitungen  hin  und  könne  den  Nebenmenschen  mehr  schaden  als 
der  Haß.  Denn  oft  stifte  der  Liebende  das  größte  Unglück  entweder 
selber  oder  lasse  es  wenigstens  geschehen,  nur  um  der  Geliebten  gefällig 
zu  sein.  Und  zum  Beweis  dieser  Behauptung  erinnert  Descartes  an  eine 
Strophe  des  Theophile  de  Viau,  in  der  Paris  glücklich  gepriesen  wird, 
weil  er  Troja  in  Flammen  gesetzt  habe,  um  seine  eigene  Glut  zu  löschen.^) 

Dieses  Citat  ist  nicht  gerade  glücklich  gewählt.  Wenn  aber  Des- 
cartes die  Macht  der  Liebe  betont  und  zugleich  die  edle  Gesinnung,  die 
„generosite"  und  die  „magnanimite",  als  die  erste  aller  Tugenden  preist, 
so  denken  wir  alsbald  an  die  Richtung,  welche  in  der  Litteratur  zur 
Zeit  Ludwigs  XIV.  mächtig  wurde,  an  die  Helden  und  Liebhaber  der 
Tragödie,  oder  die  Romanfiguren,  welche  solchen  Anforderungen  vorzüg- 
lich entsprachen.  Xoch  mehr.  Descartes  legt  in  seiner  Philosophie  das 
Hauptgewicht  auf  den  Geist  und  verachtet  fast  den  Körper;  nur  was  er 
durch  sein  Denkvermögen  findet,  gilt  ihm  etwas,  und  er  verwirft  jede 
Sinneserfahrung.  Eine  ähnliche  Abwendung  von  der  Natur  und  eine 
mehr  spiritualistische  Richtung  zeigen  fast  alle  Äußerungen  des  Jahr- 
hunderts. AVir  haben  schon  früher  gesehen,  wie  wenig  man  auf  die  Natur 
und  ihre  Schönheit  achtete.  Daß  der  Mensch  seine  Stimmung  in  die 
Natur,  in  eine  Landschaft  überträgt,  ist  allerdings  erst  eine  Eigentüm- 
lichkeit der  neueren  Zeit.  Aber  selten  hat  sich  der  Sinn  eines  Volkes  so 


1)  Les  passions,  III,  art.  CLXI. 

2)  Lettre  ä  M.  Chanut,  Oeuvres,  t.  X,  p.  3—22:  „...Ceux  qui  s'adonnent 
a,  aimer,  encore  meme  que  leur  amour  seit  dereglee  et  frivole,  ne  laissent  pas 
de  se  rendre  souvent  plus  honnetes  gens,  et  plus  vertueux  que  s'ils  occupoient 
leur  esprit  ä  d'autres  pensees...  L'amour  uous  empörte  ä  de  plus  grands  exces 
et  nous  rend  capables  de  faire  plus  de  mal  au  reste  des  hommes,  . . .  d'autant 
qu'elle  a  naturellement  plus  de  force  et  plus  de  vigueur  que  la  haiae . . .  Les 
plus  grands  maux  de  Tamour  ne  sont  pas  ceux  qu'elle  commet  en  cette  fafon 
par  l'entremise  de  la  haine;  les  principaux  et  les  plus  dangereux  sont  ceux 
qu'elle  fait  ou  laisse  faire,  pour  le  seul  plaisir  de  l'objet  aime  ou  pour  le  sien 
propre.  Je  me  souviens  d'une  saillle  de  Theophile  qui  peut  etre  mise  ici  pour 
exemple.  II  fait  dire  ä  une  personne  eperdue  d'amour: 

Dieux!  que  le  beau  Paris  est  une  belle  proie! 

Que  cet  amant  fit  bien, 
Alors  qu'il  alluma  l'embrasement  de  Troie 

Pour  amortir  le  sien. 


534 

sehr  der  Naturbeobachtung  entfremdet,  wie  damals  in  Frankreich.  Darum 
findet  sich  auch  in  der  Poesie  so  selten  ein  Wort  warmen  Xaturgefiihls. 
Man  bezog  eben  alles  auf  den  Menschen.  Nur  ihn,  nur  die  menschliche 
Natur  zu  erkennen  und  zu  schildern,  erschien  als  eine  würdige  Aufgabe; 
die  Tiere  waren  ja  nur  Maschinen,  wie  Descartes  lehrte,  und  selbst  im 
Kleinsten  widerstrebte  man  dem  Willen  der  Natur.  Sowie  die  Allonge- 
perücke zur  Herrschaft  kam,  so  wurden  auch  die  Gärten  und  Parkanlagen 
in  steifer,  architektonischer  Weise  angelegt. 

Langsam  nur  fand  Descartes  auch  in  weiteren  Kreisen  Beachtung^ 
aber  sein  Ansehen  stieg  fortwährend.  Wie  eifrig  man  sich  ein  Menschen- 
alter nach  seinem  Tod  mit  seiner  Philosophie  beschäftigte,  sehen  wir 
aus  vielen  Äußerungen  der  damaligen  Schriftsteller.  Es  kam  ihr  zu 
statten,  daß  sie  in  so  klarer  und  verständlicher  Sprache  redete.  Der 
Name  Descartes  findet  sich  häufig  in  den  Briefen  der  Frau  v.  Sevigne, 
welche  ein  so  treues  Bild  der  damaligen  Gesellschaft  geben.  Offenbar 
war  die  jüngere  Generation  kaitesianisch  gesinnt.  Auch  als  Descartes' 
Name  auf  dem  Index  der  verbotenen  Bücher  prangte,  blieb  Frau  von 
Grignan  ihrem  Philosophen  treu  und  schrieb  an  Bussy  Kabutin,  sie  hoffe 
fest  auf  Descartes'  endlichen  Triumph,  da  die  öffentliche  Meinung  oft 
solche  Umkehr  aufweise.^)  Frau  von  Sevigne  meldet  demselben  Bussy, 
ihre  Tochter  verachte  die  gewöhnlichen  Arzneimittel  und  Behandlungs- 
weisen;  sie  spotte  darüber  und  berufe  sich  auf  Descartes,  der  sie  die 
Anatomie  lehre.  „Enfin  on  ne  mene  pas  une  cartesienne  comme  une 
autre  personne",  setzt  sie  hinzu.-)  In  vielen  Briefen  an  ihre  Tochter 
bezeichnet  sie  den  Philosophen  geradezu  als  „votre  pere"."')  Frau  v.  Se- 
vigne selbst  war  keine  so  eifrige  Philosophin ;  ihr  heiteres,  leichtes  Na- 
turell gestattete  ihr  nicht,  sich  in  schwere  Fragen  einzulassen.  Aber 
Descartes  kam  ihr  deshalb  doch  oft  in  den  Sinn.  Sie  schreibt  einmal 
scherzend,  wie  sie  den  Badearzt  von  Vichy  zum  Studium  des  ., Vaters" 
Descartes  gebracht,  und  wie  sie  mit  philosophischen  Ausdrücken  prunke, 
die  sie  gelegentlich  gehört  habe.*)  Ein  andermal  spricht  sie  ernster  von 
ihm  und  erzählt,  wie  ihre  Freundin,  die  Marquise  de  Vins,  die  karte- 
sianische  Philosophie  studiert.^)  Wenn  sie  Frau  v.  Grignan  ihre  Sehn- 
sucht schildert  und  ihr  sagt,  daß  sie  immer  in  Gedanken  bei  ihr  sei, 
so  fügt  sie  hinzu,  sie  sei  keine  Kartesianerin  und  empfinde  darum  nur 
zu  deutlich,  daß  alles  Einbildung  und  keine  Wirklichkeit  sei.'')  Aber  wir 
sehen  auch  ferner,  daß  die  Theologie  sich  der  Lehre  Descartes'  bemäch- 
tigte, um  sie  als  Waffe  zu  gebrauchen.  Frau  v.  Sevigne  schreibt  ihrer 
Tochter  von  einem  Buch,    den   „Conversations  chretiennes",    und    sagt: 


1)  Brief  vom  24.  November  1678. 

2)  Brief  vom  13.  Juni  1679. 

3)  Z.  B.  Brief  vom  1.  Juni  1676,  vom  21.  Februar  1680  u.  a.  m. 

*)  Brief  vom  1.  Juni  1676:  Je  lui  mets  dans  la  tete  d'apprendre  la  Phi- 
losophie de  votre  pere  Descartes:  je  ramasse  des  mots  que  je  vous  ai  oui  dire". 
•^)  Brief  vom  26.  Juni  1680. 
ö)  Brief  vom  15.  November  1688. 


535 

„Ich  bin  überzeugt,  daß  Du  das  Buch  kennst,  denn  es  enthält  die  ganze 
Philosophie  Deines  , Vaters',  dem  Christentum  angepaßt".^)  Die  karte- 
sianische  Philosophie  hatte  sogar  unter  den  Kirchenfürsten  ihre  Anhänger, 
so  den  Bischof  Montigny  von  Saint-Pol  de  Leon,  welchen  die  Marquise 
als  eifrigen  Kartesianer  für  den  Scheiterhaufen  reif  erklärt.-)  In  den 
Gesellschaften  wurde  die  neue  Philosophie  lebhaft  diskutiert.  Auf  den 
.,Rochers",  der  schönen  Besitzung  der  Frau  v.  Sevigne,  gab  es  lange 
Debatten.  Charles  de  Sevigne  war  Kartesianer,  Graf  Montmoron,  ein  Ver- 
wandter der  Sevigne,  ein  Gegner  des  Descartes  und  Meister  im  Dispu- 
tieren. Da  wechselte  man  eifrige  Rede  und  Gegenrede;  Frau  v.  Sevigne 
selbst  hörte  zu  und  unterhielt  sich  vortrefflich.^)  Ein  andermal  erzählt 
sie  von  einer  Gesellschaft,  der  sie  in  Paris  beigewohnt  und  in  der  man 
eifrig  über  Descartes  gesprochen  und  besonders  die  Frage  von  Gott  als 
der  Ursache  aller  Bewegung  verhandelt  habe,  was  darauf  hinzudeuten 
scheint,  daß  auch  einige  Anhänger  Gassendis  unter  den  Gästen  waren. ^) 

So  ließe  sich  noch  vieles  anführen,  um  zu  beweisen,  wie  weit  die 
Philosophie  Descartes'  in  der  Gesellschaft  sich  verbreitete  und  wie  sehr 
sie  deren  Gedanken  beschäftigte.  Einender  hervorragendsten  Damen 
von  Paris,  in  deren  Salon  sich  ein  großer  Kreis  von  Aristokraten  und 
und  Schöngeistern  zusammenfand,  die  Marquise  de  Sable,  galt  besonders 
als  Kartesianerin,  und  später  noch,  in  den  „Charakteren"  La  Bruyeres, 
wird  die  Lehre  Descartes  zum  öfteren  erwähnt,  abwechselnd  gepriesen 
und  bestritten.  So  polemisiert  La  Bruyere  gegen  ihn,  wenn  er  sagt: 
„Nicht  jede  Musik  ist  geeignet,  Gott  zu  preisen  und  im  Heiligtum  ge- 
hört zu  werden.  Nicht  jede  Philosophie  spricht  in  würdiger  Weise  von 
Gott,  seiner  Macht,  seinen  Werken  und  Mysterien ;  je  subtiler  und  idealer 
diese  Philosophie  ist,  desto  eitler  ist  sie  und  desto  weniger  geeignet, 
etwas  zu  erklären,  das  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grad  verstanden 
werden  kann,  zu  dessen  Verständnis  der  Mensch  aber  nur  einen  offenen 
Sinn  braucht. "  ■') 

An  anderer  Stelle  aber,  wo  er  von  dem  Schicksal  der  großen 
Männer  spricht,  weist  er  mit  Bitterkeit  auf  Descartes  hin,  von  dem  es 
heiße:   „Descartes  ne  Fram^ais,  mort  en  Suede".'') 

AVelches  Beweises  für  die  Verbreitung  der  kartesianischen  Lehre 
aber  bedarf  es  noch,  wenn  wir  finden,  daß  sie  selbst  in  die  Fabeln  La- 
fontaines drang?  Der  Fabulist  konnte  es  nicht  ruhig  hinnehmen,  daß 
man  seine  Tiere,  die  er  mit  so  viel  Witz  und  Laune,  so  viel  mensch- 
lichen Eigenschaften  und  besonders  Schwächen  ausgestattet  hatte,  durch 
die  neue  Lehre  zu  einfachen  Maschinen  herabdrücken  wollte,  zu  Maschinen, 
die  wie  Uhren  sich  bewegen,  eine  Stimme  haben,  die  schreien,  wenn  sie 


1)  Brief  vom  19.  Juni  1680. 

-)  Brief  vom  2.  September  1671. 

3)  Brief  vom  15.  September  1680. 

4)  Brief  vom  16.  Februar  1689. 

^)  La  Bruyere,  Caracteres,  ehap.  „des  esprits  forts". 
'')  Ibid.  chap.  „Biens  de  la  fortune". 


53ß 


geschlagen  werden,  aber  nur  mechanisch  und  nicht  weil  sie  Schmerz  em- 
pfinden.^) Auch  Moliere  stand  der  kartesianischen  Lehre  fremd  gegen- 
über. Als  echter  dramatischer  Dichter  griff  er  in  das  volle  Leben  und 
glaubte  an  die  Kechte  der  Natur  und  der  Sinnenwelt.  Aber  freilich,  er 
trat  auch  aus  dem  Rahmen  seines  Jahrhunderts  heraus.  Während  die 
anderen  Dichter  jener  Zeit  auf  festem  Boden  standen,  erschien  er  im 
Zwiespalt  mit  sich  und  der  Welt,  und  er  allein  von  ihnen  kannte  den 
tiefen  Seelenschmerz,  der  aus  solchen  Kämpfen  erwächst. 

Im  ganzen  trägt  die  französische  Litteratur  des  17.  Jahrhunderts 
denselben  Charakter  ruhiger  Größe,  der  auch  Descartes  auszeichnet.  Der 
Geist  fand  sein  Genüge  in  der  herrschenden  Ideenwelt,  und  die  wunder- 
bare Form,  in  der  sie  sich  kleidete,  vollendete  die  Harmonie  der  Er- 
scheinung. Li  dieser  Übereinstimmung  der  Lieen  und  der  sprachlichen 
Form  liegt  eben  die  Größe  der  französischen  Litteratur  im  17.  Jahr- 
hundert. 

Die  folgenden  Generationen  schlugen  andere  Wege  ein.  In  die  poli- 
tischen und  religiösen  Kämpfe  mischte  sich  streitlustig  und  kampfgeübt 
eine  neue  Philosophie.  Es  vollzog  sich  der  Abfall  vom  Kartesianismus, 
der  Bruch  des  18.  Jahrhunderts  mit  seinem  Vorgänger.  Voltaire  brachte 
die  Lehre  der  englischen  Sensualisten  in  Frankreich  zur  Herrschaft,  und 
die  Aufklärungsphilosophie  knüpfte  somit  wieder  an  den  Versuch  Gas- 
sendis  an. 

Viele  Einrichtungen  des  alten  Königtums  sanken  vor  den  Angriffen 
der  neuen  Zeit,  mancherlei  Traditionen  der  früheren  Jahrhunderte  ver- 
blaßten, und  das  Staatsgebäude,  wie  es  Ludwig  XIV.  errichtet  hatte, 
stand  immer  noch  fest.  Erst  als  in  den  Anschauungen  der  gebildeten 
Klassen  auch  die  Herrschaft  der  kartesianischen  Lehre  gebrochen  war, 
erschien  der  Weg  gebahnt  für  die  Eevolution,  die  nun  rascheren  Schritts 
ihrem  Ziel  sich  näherte. 


1)  Lafontaine,  Fahles,  X,  1  (Les  deux  rats,  le  renard  et  le  cerf).  Die  Fabel 
ist  bezeichnenderweise  Frau  v.  Sable  gewidmet. 

V.  24: Ne  trouvez  pas  mauvais 

Qu'en  ces  fables  aussi  j'entremele  des  traits 
De  certaine  philosophie, 
Subtile,  engageante  et  hardie. 


ippel 
Oui 


parier?  Ils  disent  done 

Que  la  bete  est  une  maehine; 
Qu'en  eile  tout  se  fait  sans  choix  et  par  ressorts: 
Nul  sentiment,  point  d'äme;  en  eile  tout  est  corps. 

Teile  est  la  montre  qui  chemine. 
A  pas  toujours  egaux,  aveugle  et  sans  desseiii. 


XIll. 

Gegenströmungen. 


I)er  Skeptieismus.  Die  Satire  und  die  Burleske. 

Wir  haben  in  allen  Erscheinungen  der  Litteratur,  die  uns  bis  jetzt 
beschäftigen,  die  gleichen  Anschauungen  und  denselben  Geschmack  vor- 
herrschend gefunden.  Diese  Beobachtung  konnte  uns  nicht  Wunder 
nehmen,  da  wir  sahen,  wie  die  gesamte  Dichtung  im  Dienst  eines 
■einzigen  engbegrenzten,  wenn  auch  mächtigen  Kreises  der  Gesellschaft 
stand,  und  nur  die  dort  giltigen  Ideen  zum  Ausdruck  brachte.  Von 
Malherbe  an  bis  zur  Mitte  des  Jahrhunderts  stießen  wir  in  der  Litteratur 
zwar  auf  mannigfaltige  Charaktere,  fanden  sie  aber  alle  unter  dem  Einfluß 
desselben  Geschmacks.  Sie  wiesen  zwar  vielfache  Schattierungen  auf, 
aber  doch  nur  dieselbe  Farbe.  Selbst  Corneille,  der  machtvollste  und 
originellste  Dichter  der  ganzen  Zeit,  bewegte  sich  in  derselben  Welt 
der  Gedanken  und  Empfindungen.  Mochte  zwischen  ihm  und  Scudery 
noch  so  grimmige  Fehde  entbrennen,  beide  schritten  doch  auf  derselben 
Bahn,  vorwärts,  denn  von  all  den  Dichtern,  die  wir  betrachtet  haben, 
war  keiner  gewillt,  keiner  vielleicht  auch  stark  genug,  sich  dem  Strom 
zu  entziehen,  der  in  gewaltiger  Kraft  dahin  fuhr  und  jede  litterarische 
Thätigkeit  in  der  einmal  eingeschlagenen  Eichtung  mit  sich  fortriß. 

Nur  Mathurin  Eegnier  hatte  sich  zu  Anfang  des  Jahrhunderts 
gegen  die  Herrschaft  des  modernen  Geschmacks  aufgelehnt.  Aber  er  galt 
mehr  als  ein  Nachzügler  der  früheren  Zeit,  und  seine  Opposition  blieb 
ohne  nachhaltige  Wirkung. 

Und  doch  kann  ein  so  stark  ausgeprägter  Geschmack  nicht  lang 
ohne  Widerspruch  seine  Herrschaft  behaupten.  In  der  That,  die  gewaltige 
Bewegung,  die  wir  bis  jetzt  ausschließlich  verfolgt  haben,  veranlaßte 
mehrfache  Gegenströmungen,  die  allerdings  nicht  stark  genug  waren, 
dem  Geschmack  eine  völlig  andere  Richtung  zu  geben,  die  aber  doch 
nicht  übersehen  werden  dürfen.  In  der  verhältnismäßig  schwachen  litte- 
rarischen Opposition,  welche  zur  Zeit  Ludwigs  XIII.  und  während  der 
Regentschaft  ihr  Haupt  erhob,  finden  sich  bereits  unverkennbare  An- 
zeichen der  Richtung,  welche  im  18.  Jahrhundert  zur  entschiedenen 
Geltung  kam. 

Wie  die  philosophischen  Studien  ein  neues  Leben  fanden,  und 
unter  Gassendis  Einfluß  die  skeptische  Lebensanschauung  zahlreiche 
Anhänger  fand,  ist  schon  im  vorhergehenden  Abschnitt  dargelegt  worden. 


538 

Allein  neben  den  Männern,  die  sich  mit  philosophischen  Fragen 
beschäftigten,  ohne  deshalb  mit  den  kirchlichen  Lehren  zu  brechen,  gab 
es  große  Kreise,  welche  sich  kurzerhand  in  Gegensatz  gegen  die  Tra- 
ditionen der  Kirche  setzten,  Freigeister,  welche  von  Religion  überhaupt 
nichts  mehr  wissen  wollten.  Während  die  katholische  Kirche  nach  dem 
Abschluß  der  Religionskriege  langsam,  aber  sicher  an  Boden  gewann, 
und  andererseits  der  Aberglaube  immer  noch  so  mächtig  war,  daß  er 
viele  arme  Menschen  unter  der  Beschuldigung  der  Hexerei  dem  qual- 
vollen Flammentod  überantwortete,  wuchs  die  Zahl  der  Männer,  welche 
sich  von  den  Lehren  der  Kirche  unbefriedigt  abwandten,  aber  auch  in 
der  herkömmlichen  Schulphilosophie  keinen  Trost  fanden,  und  so  zu 
einer  Negation  gelangten,  die  je  nach  dem  Charakter  des  einzelnen  bald 
mehr,  bald  weniger  entschieden  klang.  Man  bezeichnete  diese  Freidenker 
mit  den  Xamen  „Libertins".  In  der  Sprache  der  damaligen  Zeit  bedeutete 
dies  Wort  keineswegs,  wie  heute,  Menschen  von  ausschweifender  Lebensart. 
Freilich  traf  es  sich  häufig  genug,  daß  die  meist  jungen  und  heißblütigen 
Leute,  die  man  Libertins  nannte,  in  ihrer  Opposition  gegen  das  Her- 
kommen die  Gebote  der  Sitte  und  bürgerlichen  Moral  als  ebenso  will- 
kürlich und  ungerechtfertigt  verwarfen,  wie  die  Traditionen  der  Kirche. 
Die  Libertins  waren  meist  übermütige,  sarkastische,  in  toller  Lebens- 
lust überschäumende  Gesellen,  die  nichts  als  den  Genuß  des  Lebens 
suchten,  und  jede  ernstere  Frage  mit  Spott  und  Gelächter  von  sich 
zu  halten  suchten.  Bei  ihrer  Mehrzahl  hatte  man  es  nicht  mit  festen 
Überzeugungen  zu  thun,  nicht  mit  einem  in  angestrengtem  geistigen 
Ringen  erworbenen  philosophischen  Besitztum.  Auch  träumten  sie  nicht 
von  der  Zerstörung  der  bestehenden  Verhältnisse  und  der  Herstellung 
besserer  Zustände.  Sie  waren  keine  Schwärmer  und  Fanatiker,  und  keines- 
wegs mit  den  „Nihilisten"'  unserer  Tage  zu  vergleichen.  Wurden  doch 
viele  vornehme  Herren,  welche  in  der  Erleichterung  des  Lebensgenusses 
den  Hauptzweck  aller  Philosophie  fanden,  als  „Libertins"'  bezeichnet.') 
Der  unglücklichste  dieser  Leute  war  Theophile  de  Viau,  den  selbst  di& 
mächtige  Hand  seines  Gönners  Montmorency  nicht  retten  konnte,  und 
den  lange  Kerkerhaft  einem  frühen  Tod  zuführte.  Die  meisten  Libertins 
waren  vorsichtiger  als  Theophile;  sie  hielten  ihre  Zungen  im  Zaum, 
sobald  sie  nicht  in  vertrautem  Kreis  waren,  und  erschienen  einfach  als 
Epikuräer.  So  galten  die  Dichter  Des  Barreaux  und  Saint-Pavin  als 
Lebemänner  und  arge  Freigeister;  auch  Chapelle,  Gassendis  Schüler, 
Saint-Evremond  u.  a.  wären  hier  zu  nennen.'-')  Darf  man  aber  auch 
nicht  aus  jeder  freien  Äußerung,  die  sich  ein  Dichter  erlaubt  oder  die 
er  im  Drama   einer  seiner  Personen   in  den  Mund    legt,  auf  eine    skep- 


1)  Auch  Ninon  de  Lenclos  galt  als  „Libertine".  Tallemant  wirft  einigen 
hohen  Herren   diese  Bekehrung   der  Dame   zu  freigeistigen  Anschauungen  vor. 

2)  Jacques  Vallee,  sieur  des  Barreaux  1599—1673.  Über  ihn  siehe  Talle- 
mant, Historiettes,  und  Goujet,  Bibl.  frany.,  t.  XVIL  —  Saint-Pavin  (1600  bis 
1670)  war  Abbe  von  Livry,  ein  Freund  der  Frau  von  Sevigne,  an  die  er  viele 
Gedichte  richtete.  Seine  Gedichte,  die  übrigens  nichts  von  Freigeisterei  ver- 
raten, sind  neuerdings  von  P.  Paris  (Paris  1861)  herausgegeben  worden. 


539 

tische  Geistesrichtung  bei  ihm  schließen,  so  mag  doch  in  solchen  Worten 
manchmal  ein  verborgener  Protest  gegen  Aberglauben  und  blinde  Unter- 
werfung gelegen  haben.  Auch  diese  Regungen  des  Widerstands  wurden 
später  seltener.  Es  ist  immerhin  auffallend,  daß  sich  in  den  Tragödien 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts,  zumal  in  den  Dichtungen 
Eacines,  keinerlei  skeptisch  angehauchte  Äußerung  findet.  Racine  hätte 
in  seiner  „Iphigenie"  und  an  anderen  Stellen  Gelegenheit  genug  ge- 
funden, Ausfälle  gegen  den  Trug  der  Orakel  und  die  Tyrannei  der 
Priester  einzuflechten.  Allein  er  suchte  sie  eben  nicht.  Die  Zeit  war  eine 
andere,  und  nur  Moliere  scheute  sich  nicht,  religiöse  Fragen  zu  berühren. 

Unbestritten  zu  den  Skeptikern  gehörte  jedoch  Cyrano^  eine  der 
originellsten  Figuren  seiner  Zeit. 

Savinien  de  Cyrano  Bergerac,  der  aus  einem  Gascognergeschlecht 
stammte,  wahrscheinlich  aber  in  Paris  zur  Welt  kam,  ward  im  Jahr  1620 
geboren,  und  starb  bereits  mit  35  Jahren,  1655.  Der  Vater,  ein  ein- 
facher alter  Edelmann,  kümmerte  sich  nicht  viel  um  die  Erziehung 
seines  Sohns,  sondern  übergab  ihn  noch  als  Kind  einem  Landgeistlichen 
zur  weiteren  Pflege  und  Ausbildung.  Später  schickte  er  ihn  auf  das 
College  Beauvais  nach  Paris,  wo  er  unter  der  Leitung  des  Regens  der 
Anstalt,  Grangier,  bis  zu  seinem  19.  Jahr  blieb.  Auf  der  Schule  scheint 
er  ein  lockeres  Leben  geführt  zu  haben ;  auch  sog  er  dort  den  Haß 
gegen  jegliche  Pedanterie  ein,  dem  er  später  so  oft  Ausdruck  verlieh. 
Wir  wissen,  daß  er  gleichzeitig  mit  Moliere  Schüler  Gassendis  war, 
dessen  philosophische  Anschauungen  er  später  in  seinen  Schriften  ver- 
trat. Nachdem  er  die  Schule  verlassen,  trat  er  in  die  königliche  Garde 
ein,  und  erwarb  sich  in  kürzester  Zeit  den  Ruf  eines  Brausekopfs  und 
tollen  Duellisten.  Er  habe  zwar  niemals  einen  persönlichen  Streit  aus- 
zufechten  gehabt,  heißt  es,  sondern  nur  als  Sekundant  in  kürzester  Zeit 
über  100  Duelle  mit  ausgefochten.  Aber  andere  Nachrichten  nennen  ihn 
einen  der  ärgsten  Raufbolde.')  So  lebte  er  in  der  Gesellschaft  renom- 
mierender, streitlustiger  Junker  in  dem  Wirbel  tollen  Soldatenlebens. 
Trotzdem  fand  er  zeitweilig  Muße  und  Stimmung  zu  poetischen  Arbeiten. 
„Ich  sah  ihn  eines  Tags"',  erzählt  sein  Biograph,  „in  der  Wachstube 
an  einer  Elegie  arbeiten,  wobei  er  sich  so  wenig  stören  ließ,  als  sei  er 
in  dem  stillsten  Studierzimmer. •'-)  Er  machte  die  Feldzüge  in  Flandern 
mit,  wurde  bei  der  Belagerung  von  Mouson  durch  einen  Schuß  ver- 
wundet, und  erhielt  vor  Arras  einen  Stich  in  den  Hals  (1640).  Nach 
seiner  Heilung  gab  er  die  militärische  Laufbahn  auf,  zumal  er  bei  seinem 


^)  Cyrano  sagt  in  seinem  Brief  Nr.  15  („Le  duelliste")  (I.  Tl.,  S.  76  der 
Amsterdamer  Ausg.  v.  J.  1709):  „Vraiment  vous  auriez  grand  tort  de  m'appeler 
le  Premier  des  hommes,  car  je  vous  proteste  qu'il  y  a  plus  d'un  mois  ([ue  je 
suis  le  second  de  tout  le  monde-'.  Vergl.  damit  Menagiana,  t.  III,  p.  240: 
„Cyrano  etoit  grand  ferailleur,  son  nez  qu'il  avoit  tout  defigure,  lui  avoit  fait 
tuer  plus  de  dix  personnes,  il  ne  pouvoit  souffrir  qu'on  le  regardät,  et  il  faUoit 
aussitöt  mettre  l'epee  k  la  main".  Vergl.  Parfaict  VII,  391. 

2)  Siehe  die  Biographie  Cyranos  von  M.  Bret,  die  der  Ausgabe  seiner 
Werke  vorgedruckt  ist. 


540 


unabhängigen  Geist  und  wenig  schmiegsamen  Charakter  sich  nur  schwer 
in  die  mannigfaltigen  Verpflichtungen  schickte,  die  ihm  seine  Stellung 
auferlegte.  Gönner  hatte  er  ohnehin  nicht  erworben  und  seine  Aussicht 
auf  Beförderung  war  deshalb  sehr  schwach.  So  widmete  er  sich  seinen 
Studien  und  litterarischen  Arbeiten.  Hauptsächlich  beschäftigten  ihn 
Philosophie  und  Physik,  wie  seine  Schriften  deutlich  beweisen.  Diese 
letzteren  machten  ihn  bald  bekannt  und  erwarben  ihm  Freunde.  Der 
Marschall  Gassion  bot  ihm  eine  Stellung  in  seinem  Haus  an.  Aber  Cy- 
rano  konnte  sich  lange  nicht  entschließen,  seine  Unabhängigkeit  wieder 
aufzugeben,  und  erst  in  den  letzten  Jahren  trat  er  in  den  Dienst  des 
Herzogs  von  Arpajon,  bei  dem  er  sich  aber  auch  nicht  besonders  wohl 
fühlte.  Über  das  weitere  Leben  Cyranos  sind  uns  sehr  wenig  Nach- 
richten erhalten.  Sein  Biograph  rühmt  die  üneigennützigkeit,  auch  Ent- 
haltsamkeit und  Mäßigkeit,  die  Cyrano  bewiesen  habe.  Aber  da  dieser 
offenbar  bemüht  ist,  seines  Freundes  Schwächen  zu  verdecken,  so  muß 
man  seine  Darstellung  mit  einiger  Vorsicht  aufnehmen.  Cyrano  starb 
infolge  eines  unglücklichen  Zufalls.  Eines  Abends  beim  Nachhause- 
gehen  erhielt  er  ein  Scheit  Holz  an  den  Kopf  geworfen,  und  wurde  so 
schwer  verletzt,  daß  er  nach  langwierigen  Leiden  an  den  Folgen  der 
Wunde  starb. 

In  seinen  Schriften  zeigte  Cyrano  ein  doppeltes  Gesicht.  In  seinen 
„Briefen"  und  seiner  Tragödie  „La  mort  d'Agrippine"  huldigte  er  dem 
Geschmack  der  Zeit,  und  freute  sich  der  „Pointen"  sowie  der  bombasti- 
schen Eede.  In  den  „komischen  Erzählungen",  wo  er  seinem  skeptischen 
und  unabhängigen  Geist  die  Freiheit  ließ,  erhob  er  sich  zu  origineller 
Satire.  Nur  in  diesen  erkennen  wir  seine  Bedeutung,  insofern  wir  in 
ihnen  einen  entschiedenen  Widerstand  gegen  die  Eichtung  seiner  Zeit 
ausgesprochen  finden.  Hätte  er  nur  in  der  Art  seiner  ..Briefe"  geschrieben, 
so  würde  er  einfach  als  Nachahmer  Balzacs  anzusehen  sein,  und  er 
könnte  als  Beispiel  dienen,  wie  weit  die  Lust  an  den  Pointen  auch 
talentvolle  Menschen  irre  führte. 

Seine  „Briefe"  sind  nichts  als  rhetorische  Übungen.  „Gegen  den 
Winter",  „gegen  den  Frühling",  »gegen  den  Sommer",  ..gegen  den 
Herbst",  ,.über  den  Schatten,  den  die  Bäume  auf  das  Wasser  werfen", 
„gegen  einen  Feigling",  „gegen  einen  Undankbaren",  „gegen  die  Ärzte" 
—  so  lauten  die  Titel  einiger  der  47  Briefe,  die  alle  ähnlichen  Inhalts 
sind.  Wenn  Jemand  die  Pointe  liebte,  so  war  es  Cyrano.  In  einem  be- 
sonderen Aufsatz  singt  er  ihr  Lob,  und  nennt  sie  ein  liebliches  Spiel 
des  Geistes.  Um  eines  witzigen  Worts  halber  dürfe  man  schon,  was 
schön  wäre,  häßlich  hinstellen;  was  gut  vorgebracht  werde,  sei  auch 
richtig,  und  wenn  es  nur  glänze,  so  brauche  man  sich  um  nichts  weiter 
zu  kümmern.  Genug,  die  Pointe  ist  nach  Cyranos  Ansicht  sich  selbst 
Zweck. ^)  Dementsprechend  wagt  er  in  den  „Briefen"  die  haarsträubendsten 


^)  Cyrano,  „Entretiens  pointus",  preface:  „La  pointe  n'est  pas  d'accord 
avec  la  raison,  c'est  l'agreable  jeu  de  l'esprit,  et  merveilleux  en  ce  point,  qu'il 
reduit  toutes  choses  sur   le  pied  necessaire  k  ses  agremens,  sans  avoir  egard  ä 


541 


Vergleicbungen.  Er  nennt  die  Lilie  einen  Sauermilchriesen,^)  sagt  von 
einer  Cypresse,  sie  sei  so  spitzig,  daß  man  sich  selbst  im  Geist  nicht 
darauf  setzen  könne,-)  und  wenn  er  einen  Sturm  auf  das  Meer  beschreiben 
will,  findet  er  das  schöne  Bild:  „Das  Meer  bricht  sich  über  uns,  und 
wir  brechen  uns  über  ihm.^) 

Daneben  aber  giebt  er  auch  Beweise  seines  unabhängigen  Sinns. 
In  dem  Brief  „gegen  die  Zauberer",  der  richtiger  „gegen  den  Hexen- 
glauben" hieße,  erklärt  er  die  Vernunft  für  seine  Königin  hnd  einzige 
Führerin.  Die  besten  Geister  hätten  geirrt  und  auch  die  alten  Philo- 
sophen hätten  oft  ihre  Lehren  den  politischen  Verhältnissen  gemäß  ge- 
modelt. Auch  sie  hält  er  darum  nicht  für  untrüglich.  Seine  Ansicht  von 
den  griechischen  Weltweisen  erlaubt  uns  aber  vielleicht  einen  richtigen 
Schluß  auf  seine  eigene  Denkart.  Denn  auch  er  tritt  nicht  oifen  mit 
seinen  Ansichten  hervor,  und  wie  sein  Lehrmeister  Gassendi  nimmt  er 
Rücksicht  auf  die  Verhältnisse.  Indessen  scheut  er  nicht,  dem  finsteren 
Aberglauben  energisch  entgegenzutreten.  Nachdem  er  in  einem  ersten 
Brief  die  Gründe  angegeben,  die  man  für  den  Glauben  an  Zauberer  und 
Hexen  anführen  könne,  und  schon  durch  seine  Darstellung  die  Schwäche 
dieser  Gründe  gezeigt  hat,  bekämpft  er  den  gefährlichen  Wahn  in  dem 
folgenden  Brief  mit  allen  Waffen,  die  ihm  zu  Gebot  stehen,  in  einer 
einfachen,  fast  volkstümlichen  Sprache.  Mit  derselben  Entschiedenheit 
erklärt  er  sich  gegen  die  Frondeurs  und  für  Mazarin,  ohne  sich  um 
die  Öffentliche  Stimme  zu  kümmern,  oder  auf  die  Wutausbrüche  der 
Pariser  zu  achten.  Er  war  ein  Aristokrat,  der  das  Volk  verachtete.  „Es 
ist  das  Kennzeichen  einer  gewöhnlichen  Seele,  wie  der  große  Haufe  zu 
denken.  Ich  strebe  mit  aller  Kraft,  dem  reißenden  Strom  zu  wider- 
stehen." Wenn  in  den  Schmähschriften  Mazarin  wegen  seiner  italienischen 
Herkunft  angegriffen  wurde,  so  antwortete  Cyrano,  daß  der  Ehrenmann 
keine  Nationalität  habe,  weder  Franzose,  noch  Deutscher,  noch  Spanier, 
sondern  ein  Weltbürger  sei,  der  sein  Vaterland    überall  finde. ^)    Er  be- 


leur  propre  substance.  S'il  faut  que  pour  la  pointe  l'on  fasse  d'une  belle  chose 
une  laide,  cette  etrange  et  prompte  metamorphose  se  peut  faire  sans  scrupule, 
et  toujours  on  a  bien  fait  pourvu  qu'on  alt  bien  dit ;  on  ne  pese  pas  les  choses ; 
pourvu  q'elles  brillent  il  n'importe.  Oeuvres  t.  II,  p.  332. 

1)  Brief  Nr.  2:  „La  le  lys,  ce  colosse  entre  les  fleurs,  ce  geant  de  lait 
caille  etc."  (I.  Tl.,  S.  6.) 

2)  Brief  Nr.  8  (description  d'un  cypres):  „J'avois  envie  de  vous  envoyer 
la  description  d'un  cypres,  mais  je  ne  Tai  qu'ebauchee,  ä  cause  qu'il  est  si 
pointu,  que  l'esprit  meme  ne  sauroit  s'y  asseoir.  Sa  couleur  et  sa  figure  me 
fönt  Souvenir  d'un  lezard  renverse  qui  pique  le  ciel  en  mordant  la  terre." 
(I.  Tl..  S.  31.) 

3)  Brief  Nr.  9:  „La  mer  vomit  sur  nous  et  nous  jvomissons  sur  eile." 
(I.  Tl.,  S.  34.) 

■*)  Brief  Nr.  37  (I.  Tl.,  S.  164):  „Contre  les  frondeurs"  :  ...Mais  comme 
11  n'y  a  rien  aussi  qui  marque  davantage  une  äme  vulgaire,  que  de  penser  comme 
le  vulgaire,  je  fais  tout  mon  possible  pour  resister  ä  la  rapidite  du  torrent  et  ne 
me  pas  laisser  empörter  ä  la  foule". . .  „Les  premiers  coups  qu'ont  en  vain  tente 


542 


hauptete,  daß  Frankreich  noch  nie  eine  so  glückliche  Zeit  gesehen  habe, 
wie  unter  der  Herrschaft  der  Königin  Anna,  und  daß  die  Frömmigkeit 
so  hoch  stehe,  wie  die  Künste  und  Kriegswissenschaften.  Er,  der  von 
der  Regierung  keine  Pension  bezog,  brauchte  nicht  zu  fürchten,  solchen 
Ausspruch  zu  thun.  Ihm  war  eben  das  Demagogentum  in  der  Seele 
verhaßt;  monarchisch  gesinnt,  erklärte  er.  schon  die  Bibel  verbiete 
einen  Yolksstaat.  und  nach  der  Behauptung  einiger  Rabbiner  seien  die 
Engel  zur  Hölle  verdammt  worden,  weil  sie  die  Gründung  einer  Republik 
geplant  hätten.  Darum  kämpfte  er  auch  mit  besonderer  Heftigkeit  gegen 
Scarron,  der,  die  Wohlthaten  der  Regentin  vergessend,  auf  die  Seite 
der  Frondeurs  getreten  war,  und  in  seinen  Spottliedern  die  gemeinsten 
Angriffe  gegen  Mazarin  veröffentlichte.  Ihm  gegenüber  erwachte  in 
Cyrano  der  alte  Duellist.  Mit  dem  gelähmten  kranken  Mann  konnte  er 
keinen  ernsten  Waffengang  machen,  aber  gegen  den  bissigen  Spötter 
nahm  auch  er  seinen  ganzen  Spott  und  seine  ganze  Grobheit  zusammen, 
und  besonders  in  letzterer  konnte  er  Erstaunliches  leisten.^) 

So  zeigte  sich  Cvrano  in  vieler  Hinsicht  originell  und  trotz  seiner 
Vorliebe  für  die  Pointen  nicht  in  Übereinstimmung  mit  dem  Geschmack 
seiner  Zeitgenossen.  Aber  ihm  fehlte  das  Maß.  die  Ruhe  des  Urteils, 
der  sichere  Geschmack.  So  nur  erklärt  es  sich,  wie  derselbe  Mann,  der 
sich  kaum  erst  als  selbständiger  Denker  offenbart  hatte,  auf  einem  an- 
dern Gebiet  ein  Sklave  der  Tradition  sein  konnte.  Er  versuchte  sich  in 
der  Tragödie  und  der  Posse.  Im  Jahr  1653  erschien  von  ihm  das  Trauer- 
spiel ,.La  mort  d'Agrippine",  das  keinen  Schritt  von  der  gewöhnlichen 
Bahn  abwich.  Cyrano  kannte  weder  die  Kunst  der  dramatischen  Schür- 
zung und  Führung,  noch  hatte  er  die  Gabe  der  Charakteristik.  Sein 
Stück,  das  die  Witwe  des  Germanicus,  Agrippina,  im  Bund  mit  Sejanus 
gegen  die  Herrschaft  des  Tiberius  zeigt,  ist  unwahr  und  unmöglich. 
Agrippina  wird  uns  in  ihrer  blinden  Rachgier  widerlich,  und  die  niedrige 
Seele  eines  Sejan  zeigt  mit  einem  Mal  stoische  Kraft  und  Weisheit. 
Nirgends  eine  Spannung,  eine  Steigerung:  jedermann  verstellt  sich  und 
sucht  die  anderen  zu  täuschen,  aber  die  Handlung  rückt  nicht  vor.  So 
wie  die  Situation  im  ersten  Akt  ist,  ist  sie  noch  im  letzten,  bis  endlich 
der  Blutbefehl  des  Kaisers  die  Verschworenen  zum  Tod  schickt.  Die 
Sprache  strebt  nach  Kraft,  wird  aber  oft  im  höchsten  Grad  schwülstig; 
die  Pointen  häufen  sich  und  der  Dichter  opfert  ihnen  jede  andere  Rück- 
sicht. Ein  Beispiel  genüge.  Livilla.  Tiberius"  Schwiegertochter,  haßt  den 
Kaiser,  und  sie  erklärt  ihm,  daß  sie  seinem  Sohn  nur  die  Hand  ge- 
reicht habe,  um  sich  rächen  zu  können.  Denn  in  ihren  Kindern  sei  sie 
nun  Herrin  des  kaiserlichen  Geschlechts  und  könne  das  Blut  des  Tiberius 


les  poetes  du  Pont-Xeuf  contre  la  reputation  de  ce  grand  homme,  ou  ete  d'al- 
leguer  qu'il  etoit  Italien.  A  cela  je  reponds  qu'un  honnete  homme  u'est  ni  Fran- 
9oi3,  ni  Allemand,  ni  Espagnol;  11  est  citoyen  du  monde  et  sa  patrie  est  partout." 
1)  Brief  Nr.  27  (I.  Tl.,  S.  115):  „Contre  Eonscar"  (Scarroni.  In  einem 
andern  Brief,  Nr.  21  (I.  Tl.,  S.  91),  „Contre  Soucidas",  der  auch  gegen  Searron 
gerichtet  war,  sagte  er:  „Vous  tomberez  si  bas  qu'une  puee  en  leehant  la  terre 
ne  vous  distinguera  pas  du  pave." 


543 

nach  Belieben  vergießen.^)  Sejanus,  der  dem  Tod  mit  Mut  entgegen- 
geht, spricht  als  Stoiker  ein  paar  Verse,  die  bekannt  geworden  sind, 
weil  man  in  ihnen  einen  neuen  Beweis  für  den  skeptischen  Geist  Cy- 
ranos  finden  wollte.  Vielleicht  mit  Recht,  obwol  selbst  der  frommste 
christliche  Dichter  einem  heidnischen  Römer  solche  Sprache  in  den  Mund 
legen  konnte.  Sejan  sagt: 

„War  ich  denn  elend,  als  ich  noch  nicht  lebte  V 
Nach  meinem  Tod  wird  meine  Seele  sein. 
Was  sie  vor  der  Geburt  gewesen  ist. 


So  tief  ich  meinen  Blick  in  nichts  auch  senke 
Und  in  die  lange  Nacht,  ich  finde  nichts 
Als  einen  Zustand  ohne  Schmerz,  der  mich 
Nicht  sehrecken  kann,  noch  meinen  Geist  verstören. 
Bleibt  man  doch  nichts,  nach  jenem  großen  Schritt, 
Als  eines  flücht'gen  Bildes  flücht'ger  Traum. 2) 

Die  Posse  „Le  pedant  joue",  die  erst  1654  im  Druck  erschien, 
soll  von  Cyrano  schon  während  seiner  Schulzeit  verfaßt  worden  sein  und 
ist  ein  Racheakt,  den  Cyrano  an  seinem  Lehrer  Grangier  verübte.  Er 
entlieh  der  italienischen  Stegreifkomödie  die  Hauptfiguren  seines  Stücks, 
den  Pedanten,  den  Renommisten  und  den  durchtriebenen  Diener.  Seine 
Bosheit  bestand  jedoch  darin,  daß  er  den  schmutzigen,  sinnlichen,  eitlen, 
von  grammatischen  Regeln  und  rhetorischen  Phrasen  triefenden  Dottore 
der  Italiener  zum  Rektor  einer  Schule  umwandelte  und  ihm  den  Namen 
seines  früheren  Lehrers  mit  einer  unbedeutenden  Änderung  (Granger) 
beilegte.  Im  übrigen  begnügte  er  sich  mit  der  herkömmlichen  Weise  der 
Commedia  dell'  Arte  und  dachte  nicht  daran,  wirkliche  Scenen  aus  dem 
Schulleben  zu  zeichnen.  In  seiner  Anstalt  sind  gerade  Ferien  und  das 
Schulhaus  ist  Zeuge  tollen  Treibens.  Granger  selbst,  der  „regens  scholae", 
geht  in  seinen  alten  Tagen  noch  einmal  auf  Freiersfüßen  und  will  seines 
Sohnes  Braut  für  sich  gewinnen.  Bei  seiner  Werbung  hält  er  eine  aka- 
demisch kunstgerechte  Rede  voll  überraschender  Metaphern  und  fürchter- 
licher Antithesen,  und  versucht  sich,  in  der  Weise  des  Dottore,  in  Aus- 


ij  La  mort  d'Agrippine,  V,  3,  31: 

Gar  j'avois  dans  ma  couche  ä  ton  lils  donne  place, 
Pour  etre  en  mes  enfants  maitresse  de  ta  race. 
Et  pouvoir  ä  mon  gre  repandre  tout  son  sang, 
Lorsqu'il  seroit  contraint  de  passer  par  mon  flanc. 

2j  La  mort  d'Agrippine,  V,  4,  68  ff.: 

Etois-je  malheureux,  lorsque  je  n'etois  pasV 
Une  heure  apres  ma  mort  notre  äme  evauouie, 
Sera  ce  qu'elle  etoit  une  heure  avant  sa  vie. 

J'ai  beau  plonger  mon  ame  et  mes  regards  funebres 
Dans  ce  vaste  neant  et  ces  longues  tenebres, 
J'y  rencontre  partout  un  etat  sans  douleur 
Qui  n'eleve  ä  mon  front  ni  trouble  ni  terreur, 
Car  puisque  Ton  ne  reste  apres  ce  grand  passage 
Que  le  souge  leger  d'une  legere  Image. . . 


544 


drücken  von  haarsträubender  Galanterie.^)  Granger  will  seinen  Sohn  nach 
Venedig  schicken,  aber  dieser  weiß  mit  Hilfe  seines  Dieners  Corbinelli 
die  Pläne  des  Alten  zu  vereiteln.  Corbinelli  meldet  dem  erschrockenen 
Granger,  sein  Sohn  habe,  von  Neugierde  getrieben,  eine  türkische  Galeere 
bestiegen,  die  auf  der  Seine  bei  Paris  vor  Anker  gegangen  sei,  und  die 
Ungläubigen  drohten  nun,  ihn  als  Sklaven  fortzuführen,  wenn  man  ihnen 
nicht  ein  Lösegeld  von  100  Ecus  zahle.  „Was  zum  Kuckuck  hatte  er 
auf  der  Galeere  zu  suchen ! "  ruft  Granger  ein-  über  das  andere  Mal, 
bequemt  sich  aber  endlich  schweren  Herzens,  die  verlangte  Summe  zu 
zahlen.-)  Damit  wird  die  Ausführung  des  Hauptanschlags  möglich.  Gene- 
vote,  die  Braut  des  jungen  Granger,  willigt  nun  scheinbar  in  die  Ehe 
mit  dem  Vater  ein.  Zur  Feier  giebt  man,  der  Schulsitte  entsprechend, 
eine  dramatische  Aufführung,  und  da  kein  klassisches  Stück  vorbereitet 
ist  und  die  Schüler  abwesend  sind,  improvisiert  man  ein  Lustspiel  nach 
dem  Vorschlag  Corbinellis.  Darin  hat  ein  junges  Paar  einen  Ehekontrakt 
zu  unterzeichnen,  und  man  kann  sich  denken,  wem  die  Rolle  der  Ver- 
lobten zufällt.  Da  der  Gang  des  Festspiels  es  erheischt,  so  muß  auch 
Granger,  der  den  Vater  des  Bräutigams  vorstellt,  unterzeichnen.  Was 
dieser  aber  für  eitel  Komödie  hielt,  war  Ernst.  Er  hat  den  wirklichen 
Ehekontrakt  seines  Sohns  mit  Genevote  unterschrieben  und  ist  somit 
geprellt. 

Cyrano  mag  viel  aus  italienischen  Possen  entlehnt  haben,  und 
manchen  guten  Zug  hat  er  in  dem  viel  gelesenen  Roman  „  Francion " 
von  Sorel  gefunden.^)  Immerhin  bleibt  ihm  noch  genug  originaler  Humor, 
wie  z.  B.  in  der  Rolle  des  plumpen  und  doch  pfiffigen  Bauers  Gareau, 
der  den  Bauerndialekt  auf  die  Bühne  brachte  und  mit  seinen  sprich- 
wörtlichen Redensarten  und  seinen  drastischen  Ausdrücken  sehr  ergötz- 
lich ist.  Moliere  hat  darum  später  manche  Anleihe  bei  Cyrano  gemacht. 
So  ist  z.  B.  die  komische  Scene  der  „Fourberies  de  Scapin",  in  welcher 
Scapin  dem  alten  Geronte  eine  ähnliche  Türkengeschichte  aufbindet  und 
dieser  500  Ecus  zahlt,  um  seinen  Sohn  aus  der  Sklaverei  zu  lösen,  fast 
wörtlich  dem  „Pedant  joue"  entnommen."^)  Ebenso  entspricht  die  Intrigue 
in  Molieres   .,L'amour  medecin"   genau  der  Schlußscene  in  Cyranos  Posse. 


^)  Le  pedant  joue,  III,  2,  Granger:  „Auriez-vous  donc  agreable,  Made- 
moiselle,  lorsque  la  nuit  au  visage  de  more  aura  de  ses  haillons  noirs  embeguine 
le  minois  soutfreteux  de  notre  zenit,  que  je  transporte  mon  individu  aux  lares 
domestiques  de  votre  toity"  —  Oder  IV,  4:  „Mais  si  tu  veiix  que  Tembryon  de 
mes  esperances,  devenant  le  plastron  de  mes  liberalites,  fasse  metamorphoser 
ta  beuche  en  un  microcosme  de  richesses."  —  Man  vergleiche  noch  V,  10:  „Je 
conduis  la  ficelle  de  mes  desirs  au  niveau  de  votre  volontt§...  Qui  de  vous  le 
Premier  estropiera  le  silenceV" 

~)  Le  pedant  joue,  II,  4. 

^)  So  erinnert  z.  B.  die  zweite  Scene  des  dritten  Akts,  in  welchem  Grapger 
die  Liebe  Genevotes  durch  seine  Rhetorik  gewinnen  will,  deutlich  an  das  vierte 
Buch  des  „Francion"  (S.  143  und  147  der  Ausgabe  von  Emile  Colombey,  Paris 
1858,  Delahays).  Über  Sorel  und  Francion  siehe  weiter  unten  S.  557  ff. 

*)  Les  fourberies  de  Scapin,  II,  sc.  11.  Man  vergleiche  ferner  die  sechste 
Scene  in  Molieres  „Jalousie  du  Barbouille"  mit  den  unanständigen  Versen 
Grangers  (I,  1). 


545 

Daß  der  große  Lustspieldichter  die  Arbeit  seines  Jugendbekannten 
in  solcher  Weise  benutzte,  beweist,  daß  er  dessen  komische  Kraft  wür- 
digte. Dennoch  erhob  sich  Cyranos  Posse  nicht  über  ein  gewisses  Maß. 
Ein  Fortschritt  in  dem  Verständnis  des  Lustspiels  und  seiner  eigent- 
lichen Aufgabe  ist  nicht  darin  zu  ersehen. 

Am  originellsten  erscheint  Cyrano  in  seinen  „Histoires  comiques", 
zwei  satirisch-phantastischen  Reisebeschreibungen,  in  welchen  er  seine 
Ausflüge  in  den  Mond  und  in  die  Sonne  beschreibt.')  Seine  Absicht  ist 
dabei,  die  menschliche  Gesellschaft  in  verzerrtem  Abbild  zu  zeigen  und 
die  herrschenden  Anschauungen  durch  die  Darstellung  einer  der  unse- 
rigen  entgegengesetzten  Welt  zu  kritisieren. 

In  der  ersten  Schrift  behandelt  er  das  Reich  im  Mond.  Er  be- 
richtet zunächst,  wie  es  ihm  gelungen  ist,  bis  zu  dem  Mond  emporzu- 
steigen. Eines  Abends,  so  erzählt  er,  kehrte  er  in  Gesellschaft  mehrerer 
Freunde  von  Clamart,  wohin  sie  einen  Ausflug  gemacht  hatten,  nach 
Paris  zurück.  Der  Vollmond  schien  hell  und  das  Gespräch  fiel  von  un- 
gefähr auf  die  Natur  dieses  Himmelskörpers.  Ein  jeder  brachte  seine 
Ansicht  vor,  und  Cyrano  behauptete,  der  Mond  sei  eine  Welt  gleich  der 
Erde.  Darob  entstand  große  Heiterkeit  unter  den  Freunden,  Cyrano  aber 
hielt  trotz  allen  Spotts  an  seiner  Ansicht  fest,  und  der  Gedanke  an  eine 
Entdeckungsreise  in  den  Mond  beschäftigte  ihn  von  nun  an  ernstlich. 
Bald  hatte  er  ein  Mittel  gefunden,  das  ihn  durch  die  Lüfte  tragen  konnte. 
Als  genialer  Physiker  behängte  er  nämlich  seinen  Körper  mit  einer  großen 
Anzahl  Flaschen,  die  er  zuvor  mit  Tau  gefüllt  hatte.  So  gerüstet,  setzte 
er  sich  den  Strahlen  der  Sonne  aus,  und  es  währte  nicht  lange,  so  fühlte 
er  sich  in  die  Lüfte  emporgehoben.  Senkrecht  stieg  er  während  einiger 
Stunden  empor,  und  als  er  wieder  an  den  Heimweg  dachte,  hatte  er  nur 
einige  Flaschen  zu  zerschlagen,  um  alsbald  langsam  niederzusinken.  Zu 
seinem  Erstaunen  landete  er  jedoch  nicht  in  der  Gemarkung  von  Paris, 
sondern  sah  sich  in  einer  wildfremden,  rauhen  und  unkultivierten  Ge- 
gend. Während  seines  Aufenthalts  in  den  Lüften  hatte  sich  die  Erde 
unter  ihm  gedreht,  und  so  war  er,  wie  er  bald  erfuhr,  in  Neu-Frank- 
reich,  in  der  Nähe  von  Quebeck,  niedergegangen.  Damit  hatte  er  den 
Beweis  von  der  Umdrehung  der  Erde  um  ihre  Achse  erbracht;  es  han- 
delte sich  nur  darum ,  daß  die  anderen  Menschen  seiner  Erzählung 
Glauben  schenkten.  Der  glückliche  Versuch  ermutigt  indessen  den  kühnen 
Luftschiffer  zu  größerem  Wagnis.  Cyrano  berichtet  weiter,  wie  er  sich 
in  Quebeck  eine  neue  Flugmaschine  erbaut,  die  ihn  diesmal  bis  zum 
Mond  bringen  soll.  Ein  erster  Versuch  mit  ihr  fällt  kläglich  aus;  Cy- 
rano stürzt  aus  beträchtlicher  Höhe  zur  Erde  herab.  Zerschlagen  an 
allen  Gliedern,  schleppt  er  sich  mühsam  nach  Haus,  reibt  seinen  Körper 
mit  Ochsenmark  ein,  um  sich  wieder  zu  stärken,  und  denkt  dann  erst 
an  die  Rettung  seiner  Maschine.  Diese  ist  aber  bereits  von  einigen  Sol- 


,  1)  Histoire  comique  des  ^tat  et  empire  de  la  lune.  —  Histoire  comique 
des  Etat  et  empire  du  Soleil.  Neu  herausgegeben  sind  die  beiden  Erzählungen 
von  dem  „Bibliophile  Jacob". 

Lotheißen,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  35 


546 

daten  gefunden  worden.  Sachverständige  haben  sie  für  eine  Kriegsmaschine 
erklärt,  die  mit  Eaketen  gespickt  durch  die  Luft  fahren  und  einen  wahren 
Feuerregen  auf  die  Feinde  senden  werde.  Auf  dem  Marktplatz  von  Que- 
beck  soll  ein  Versuch  gemacht  werden.  In  dem  Augenblick,  da  man  die 
ßaketenbatterien  anzünden  will,  erscheint  Cyrano  und  gebietet  Einhalt. 
Voll  Eifer  springt  er  auf  die  Maschine;  aber  in  demselben  Moment  be- 
ginnen die  Raketen  ihr  Spiel,  und  inmitten  eines  sich  stets  erneuernden 
Feuerwerks  wird  der  unfreiwillige  Reisende  samt  seiner  Maschine  in  die 
Luft  gerissen.  Immer  höher  und  höher  steigt  er,  selbst  dann  noch,  als 
die  Raketen  alle  verpufft  sind  und  die  Maschine  unter  ihm  zurückfällt. 
Er  erkennt  die  Wirkungen  des  Mondlichts  auf  das  Mark,  mit  dem  er 
sich  eingerieben  hat.  Bald  fühlt  er,  daß  er  nicht  mehr  steigt,  sondern 
daß  er,  den  Kopf  nach  unten  gerichtet,  fällt.  Und  doch  hat  er  sich  nicht 
überschlagen  oder  seine  Richtung  geändert.  Er  ist  nur  in  den  Bereich 
des  Monds  geraten  und  kommt  ihm  immer  näher.  Er  wäre  verloren  und 
sein  Kopf  würde  elend  auf  dem  harten  Boden  des  Monds  zerschellen, 
wenn  er  nicht  zufällig  in  das  Laubwerk  eines  Baums  stürzte  und  die 
Gewalt  des  Falls  dadurch  abgeschwächt  würde. 

So  ist  nun  Cyrano  wirklich  im  Mond,  dessen  Beschaffenheit  und 
dessen  Bewohner  er  genau  kennen  lernt.  Die  Natur  des  Monds  gleicht 
im  großen  der  Natur  der  Erde.  Man  sieht  auch  dort  Berge,  Ströme 
und  Meere,  Pflanzen  und  Tiere.  Aber  alle  Verhältnisse  sind  dort  ge- 
waltiger. Die  Vegetation  ist  reicher,  die  Bäume  ragen  gleich  Riesen  in 
die  Luft  und  scheinen  eher  den  Boden  zu  tragen,  als  von  ihm  getragen 
zu  werden.  Die  Bewohner  erreichen  eine  Länge  von  etwa  18  Fuß  und 
ein  Alter  von  3000 — 4000  Jahren.  Sie  gehen  auf  allen  Vieren,  und  es 
erscheint  ihnen  würdiger,  den  Blick  auf  den  Boden  zu  richten,  dem  sie 
ihr  Glück  und  ihre  Genüsse  verdanken,  als  nach  dem  Beispiel  der 
Menschen  zum  Himmel  aufblicken,  dem  sie  nichts  zu  beneiden  haben. 
Diese  Mondriesen  lieben  die  Wahrheit  und  sind  frei  von  Pedanterie,  zwei 
Charakterzüge,  die  Cyrano  besonders  schätzt,  und  bei  seinen  Mitmenschen 
so  selten  findet.  Ja,  es  giebt  auf  dem  Mond  sogar  Philosophen,  die  sich 
nur  durch  Vernunftgründe  leiten  lassen!  Zudem  sind  die  Mondleute  trotz 
ihrer  Riesengröße  weniger  sinnlich  als  die  Menschen  und  nähren  sich 
für  gewönlich  nur  durch  den  Geruch.  Freilich  können  sie  auch  derbere 
Kost  bieten.  Cyrano  ist  Zeuge,  wie  man  einmal  Lerchen  schießt,  und 
zwar  mit  so  gut  konstruierten  Flinten,  daß  die  Tierchen  gleich  gerupft 
und  gebraten  herabfallen.  Auch  das  Geld  ist  dem  gesegneten  Mond  un- 
bekannt. Man  zahlt  mit  Gedichten,  die  aber  erst  Kurs  haben,  wenn  sie 
von  einem  besonderen  Gerichtshof  für  gut  erklärt  worden  sind.^)  Die 
starren  Logiker  erkennen  auch  keineswegs  das  Recht  der  Eltern  über 
ihre  Kinder  an.  Im  Gegenteil;  sie  behaupten,  daß  die  Kinder  ihren 
Eltern  keinerlei  Dank  für  ihre  Existenz  schulden,  und  lehren  weiter,  daß 
kräftige,    in  der  Blüte  ihres  Lebens  stehende  Personen  mehr   Gehorsam 


^)  Die  Idee  ist  wiederum  ..Francion"  entlehnt.    Siehe  daselbst  Buch  IX, 
S.  465  (ed.  Colombey). 


547 


verdienen,  als  ältere  Leute,  deren  geistige  Kräfte  schon  abnehmen.  Zwei 
Sprachen  giebt  es  auf  dem  Mond.  Die  Adeligen  reden  in  unartikulierten 
Tönen,  einer  Art  Musik.  Sie  sprechen  Lieder  ohne  Worte,  und  können 
also  ihre  Gedanken  ebenso  gut  auf  einer  Laute,  als  mit  ihrer  Zunge 
ausdrücken.  Das  ist  ein  großer  Vorteil.  Denn  selbst  eine  theologische 
Disputation  oder  eine  Gerichtsverhandlung  wird  dadurch  zum  Ohren- 
schmaus und  gleicht  einem  Konzert.  Das  gemeine  Volk  hingegen  macht 
sich  nur  durch  verschiedenartige  Gliederbewegungen  und  Verrenkungen 
verständlich,  so  daß  bei  einer  lebhaften  Unterhaltung  der  ganze  Körper 
dieser  Leute  oft  ins  Zittern  gerät. 

Der  Aufenthalt  unter  diesen  sonderbaren  Lunariern  scheint  in- 
dessen für  Erdenbewohner  nicht  sehr  angenehm  zu  sein.  Cyrano  wird 
ergriffen,  als  Wundertier  behandelt  und  für  Geld  gezeigt,  bis  er  in  den 
Palast  der  Königin  gelangt,  der  man  schon  ein  ähnliches  Tier  geschenkt 
hat.  Die  Gelehrten  streiten  eifrig  miteinander,  um  die  Species  der  neu- 
gefundenen Bestie  zu  bestimmen.  Sie  kommen  zunächst  zur  Überzeugung, 
daß  sie  eine  Art  Vogel  vor  sich  haben,  da  das  Tier  nur  zwei  Beine 
hat.  Aber  da  es  ohne  Federn  ist  und  nicht  einmal  fliegen  kann,  gehört 
es  offenbar  zu  einer  den  Vögeln  untergeordneten  Klasse.  So  wird  der 
arme  Gefangene  von  den  Vertretern  der  Wissenschaft  schließlich  für 
einen  Papagei  ohne  Federn  erklärt.  Vergebens  sucht  er,  da  er  die 
Sprache  des  Landes  bereits  erlernt  hat,  sich  als  vernünftiges  Wesen  zu 
legitimieren.  Vergebens  führt  er  die  Aussprüche  irdischer  Philosophen 
an,  vergebens  beruft  er  sich  auf  Aristoteles.  Die  Gelehrten  des  Monds 
widerlegen  alle  aristotelischen  Behauptungen  mit  zwei  Worten,  und  die 
hohe  Regierung  verbietet  durch  eine  strenge  Verordnung,  bei  dem  fremden 
Tier  irgendwelche  Vernunft  vorauszusetzen. 

Die  Satire  Cyranos  ist  verständlich.  Wenn  man  von  manchen 
spöttischen  Einfällen  absieht,  findet  man  in  den  Ausführungen  haupt- 
sächlich eine  Verwahrung  gegen  die  Descartes'sche  Anschauung  von  der 
Natur  der  Tiere.  Cyrano  spricht  zwar  an  anderer  Stelle  von  Descartes 
mit  der  größten  Verehrung,  aber  er  war  doch  ein  Schüler  Gassendis 
und  denkt,  wie  dieser,  von  der  Seele  der  Tiere.  Auch  nimmt  er,  gleich 
diesem,  die  Ansicht  vom  leeren  Raum  an.  Cyranos  Schrift  beweist  aufs 
neue,  wie  sehr  Descartes  mit  seiner  Lehre  die  Zeitgenossen  beschäftigte. 
Der  große  Philosoph  hatte  sich  von  der  Natur  mehr  und  mehr  abge- 
wandt und  sah  fast  verächtlich  auf  sie  herab.  Sein  Zeitalter  stand  dabei 
ganz  auf  seiner  Seite.  Cyrano  aber  protestierte  in  der  Schrift  über  den 
Mond  gegen  diese  Anschauungen,  welche  den  Menschen  allein  der  Be- 
achtung wert  fanden,  und  in  ihm  den  Herrn  der  Schöpfung  erblickten. 
Darum  zeigt  er  ihn  so  klein  in  der  fremden  Umgebung,  wo  man  an 
seiner  Einsicht  zweifelt,  weil  man  ihn  nicht  kennt,  ganz  so  wie  die 
Menschen  in  den  Tieren  nur  Maschinen  sehen,  da  sie  sie  nicht  ver- 
stehen. Cyrano  behauptet,  ein  einfacher  Kohlkopf  sei  glücklicher  und 
edler  als  der  Mensch.  Wir  blicken  hier  etwas  tiefer  in  Cyranos  Philo- 
sophie, und  finden  Ideen  angedeutet,  die  er  sonst  verbirgt.  Die  Natur 
ist  nach  ihm  leidenschaftslos,    ohne  Haß   und  ohne  Liebe,    und  hat  den 


548 


Pflanzen  manches  Vermögen  gegeben,  das  wir  Menschen  nur  nicht  er- 
kennen. Aber  wir  begreifen  ja  auch  nicht  die  Xatur  der  höheren  Wesen 
und  glauben  doch  an  sie.  Unsere  Sinne  sind  für  jede  tiefere  Erkenntnis 
zu   schwach. 

Zum  Glück  findet  Cyrano  einen  Freund  auf  dem  Mond.  Der  Dämon 
des  Sokrates,  der  später  Cato  und  Brutus  und  jüngst  noch  Gassendi 
beseelte,  sich  aber  dann  auf  den  Mond  zurückgezogen  hat,  verhilft  ihm 
schließlich  zur  Freiheit  und  Anerkennung  und  bringt  ihn  sogar  zur 
Erde  zurück.  Er  setzt  ihn  in  der  Nähe  von  Rom  ab,  wo  ihn  die  Hunde 
wie  wütend  anbellen,  da  er  noch  den  Mondduft  bewahrt.  Erst  nachdem 
er  sich  tüchtig  ausgelüftet  hat,  kann  er  wie  andere  Menschen  seiner 
Wege  ziehen. 

In  der  zweiten  Schrift  „Histoire  comique  de  l'Etat  et  empire  du 
soleil"  erzählt  Cyrano,  anknüpfend  an  seinen  Bericht  über  die  Reise  in 
den  Mond,  wie  er  nach  Toulouse  heimkehrt  und  dort  in  den  Verdacht 
der  Hexerei  gerät.  Er  wird  eingekerkert,  weiß  sich  aber,  als  moderner 
Dädalus,  eine  neue,  sinnreiche  Maschine  zu  erbauen,  die  ihn  gerades  Wegs 
zur  Sonne  bringt.  Nach  einer  Reise  von  etwa  vier  Monaten  landet  er 
auf  einem  der  vielen  Himmelskörperchen,  die  um  die  Sonne  kreisen,  und 
die  wir  gewöhnlich  als  Nebelflecken  bezeichnen.  Er  wird  dort  von  einem 
kleinen,  nackten  Menschen  angeredet,  und  obwol  er  dessen  Sprache  nie 
gehört  hat,  versteht  er  sie  doch.  Denn  derselbe  spricht  die  Sprache  der 
Wahrheit  und  Natur.  Wie  es  in  der  Wissenschaft  nur  eine  Wahrheit 
giebt,  so  giebt  es  auch  nur  eine  vollkommene  Sprache,  die  alle  Begriffe 
und  alle  Gefühle  klar  und  jedem  verständlich  ausspricht.  Das  ist  die 
Sprache  der  Natur  oder  der  Instinkt.  Wer  diese  Sprache  versteht,  kann 
sich  selbst  mit  den  Tieren  unterreden.  Cyrano  läßt  sich  erzählen,  daß 
die  Menschen  dieses  Himmelskörpers  aus  dem  Boden  hervorwachsen,  und 
hat  sogar  das  Glück,  der  Geburt  eines  solchen  Erdgeborenen  beiwohnen 
zu  können.  Dann  aber  setzt  er  seine  Reise  fort.  Die  Maschine,  in  der 
er  fliegt,  wird  einzig  durch  seinen  glühenden,  festen  Willen  in  Bewegung 
gesetzt,  und  so  gelangt  er  endlich  nach  22  Monaten  zu  der  „weiten 
Ebene  des  Lichts".  Jede  Schwere  schwindet  hier;  Cyrano  fühlt  sein 
ganzes  Wesen  sich  verändern  und  bemerkt,  daß  er  durchsichtig  wird. 
Nach  seinen  Mitteilungen  ist  die  Sonne  ein  lebendes  Wesen.  Was  alles 
auf  den  Planeten  stirbt,  giebt  seinen  Geist  der  Sonne  ab,  mit  deren 
Genius  er  sich  verbindet.  Nur  die  höchsten  Geister  bewahren  ihre  in- 
dividuelle Kraft  und  ihr  eigenes  Leben.  Auf  dem  ungeheueren  Sonnenball 
giebt  es  aber  eine  Menge  von  staatlichen  Gebilden,  Monarchieu  und 
Republiken:  da  ist  der  Staat  der  Vierfüßler,  der  Vögel,  der  Pflanzen, 
der  Steine.  Auch  die  Philosophen,  die  vornehmsten  Bewohner  der  Sonne, 
haben  ihr  eigenes  Reich,  nicht  minder  die  Gerechten,  die  Friedlichen, 
die  Liebenden.  Nachdem  Cyrano  die  Bekanntschaft  einer  Geisterschar 
gemacht  hat,  deren  Einbildungskraft  so  stark  ist,  daß  sie  jeden  Gedanken 
alsbald  zur  Wirklichkeit  werden  läßt,  gerät  er  zu  seinem  Unglück  in 
das  Land  der  Vögel.  An  ihrer  Spitze  steht  zwar  ein  König,  aber  es  ist 
nicht,    wie   man   erwartet,    der  Adler,    dem  diese  Würde  zugefallen  ist. 


549 


Vielmehr  wählen  die  Vögel  alle  sechs  Monate  einen  neuen  König  aus  der 
Zahl  der  sanftmütigen  Tiere.  Denn  er  soll  nicht  hassen  und  keinen  Haß 
erregen.  Er  soll  vor  allem  den  Krieg,  die  Quelle  aller  Übel,  vermeiden. 
Jede  Woche  werden  die  Vögel  zur  Volksversammlung  berufen,  und  sobald 
nur  drei  Vögel  Klage  über  den  König  führen,  wird  derselbe  abgesetzt. 

Zur  Zeit  ist  gerade  die  Taube  mit  der  königlichen  Würde  be- 
kleidet. Aber  trotz  aller  Friedensliebe  bereiten  die  Vögel  dem  Ankömmling 
einen  sehr  üblen  Empfang.  Denn  die  Menschen  sind  ihnen  in  den  Tod 
verhaßt.  Cyrano  wird  verhaftet  und  vor  Gericht  gestellt.  Wie  demütigend 
ist  es  doch  für  den  stolzen  Menschen,  zu  hören,  daß  die  Tiere  durch- 
gehends  voll  Verachtung  für  ihn  sind.  Auch  die  Vögel  spotten  des  arm- 
seligen Geschöpfs,  das  nackt  und  elend  zur  Welt  kommt,  sich  nicht 
selbst  zu  helfen  weiß  und  doch  den  Anspruch  erhebt,  über  die  Tierwelt 
zu  herrschen.  Der  Mensch  ist  ohne  Verstand,  sagen  sie,  denn  er  unter- 
scheidet nicht  einmal  Zucker  von  Arsenik,  Schierling  von  Petersilie,  und 
behauptet  trotz  alledem,  daß  er,  nur  auf  die  Sinne  gestützt,  die  Wahrheit 
finden  könne. 

Um  sich  zu  retten,  erklärt  Cyrauo  vor  Gericht,  er  sei  kein  Mensch, 
er  sei  ein  Affe.  Die  Wahrheit  dieser  Behauptung  zu  untersuchen,  wird 
er  einigen  grundgelehrten  Vögeln  überantwortet,  die  ihn  in  ein  Wäld- 
chen führen  und  dort  alle  möglichen  Sprünge  machen,  Purzelbäume 
schlagen  und  Grimassen  schneiden.  Andern  Tags  erklären  sie  mit  Be- 
stimmtheit, daß  der  Angeklagte  kein  Affe  sei,  denn  er  habe  ihre  Be- 
wegungen niemals  nachzuahmen  versucht.  Es  folgt  dann  eine  lange, 
gründliche  Verhandlung,  bei  welcher  der  öffentliche  Ankläger  in  einer 
meisterhaften  Rede  den  Beweis  für  das  Menschentum  des  Fremden  darauf 
begründet,  daß  derselbe  in  frecher  Weise  lügt,  wie  ein  Narr  lacht,  wie 
ein  Thor  weint,  seine  Nase  putzt  und  was  derlei  Gründe  mehr  sind. 
Cyrano  wird  schließlich  für  schuldig  erkannt,  ein  Mensch  zu  sein,  und 
zum  Tod  verurteilt.  Rechtzeitig  aber  erzählt  ein  Papagei  der  Herrscherin, 
wie  er  einst  durch  des  Verurteilten  Güte  aus  harter  Gefangenschaft 
befreit  worden  sei,  und  so  wird  Cyrano  begnadigt.  Er  beeilt  sich  natür- 
lich, das  ungastliche  Reich  zu  verlassen,  kommt  zunächst  in  einen  Wald, 
dessen  Bäume  miteinander  Zwiesprache  halten,  und  hört  ausführlichen 
Bericht  über  das  Reich  der  Liebenden.  Dies  Reich  ist  häufigen  Über- 
schwemmungen ausgesetzt,  da  seine  Bewohner  Meere  von  Thränen  ver- 
gießen. Wer  sich  dort  eines  Vergehens  schuldig  macht,  berichtet  Cyrano 
mit  bissigem  Spott  gegen  so  viele  zeitgenössische  Dichter  und  Erzähler, 
wird  in  das  Reich  der  Wahrheit  verbannt,  und  es  wird  ihm  bei  Todes- 
strafe verboten,  jemals  wieder  eine  Hyperbel  zu  gebrauchen.  Cyrano 
nähert  sich  zuletzt  dem  Land  der  Weisen.  Unterwegs  sieht  er  einen 
Philosophen  am  Weg  liegen,  der  mit  dem  Tod  ringt.  Der  Arme  hat 
sein  Gehirn  so  mit  Bildern  vollgestopft,  daß  es  endlich  geplatzt  ist. 
Denn  auch  auf  der  Sonne  ist  der  Tod  zu  finden,  der  ja  nichts  ist,  als. 
ein  Durchgang  zu  höherer  Vollkommenheit.  Au  der  Grenze  kommt  ihnen 
der  göttliche  Descartes  entgegen.  Aber  Cyranos  Schilderung  bricht  hier 
ab,    und   überläßt    es   der  Phantasie    des    Lesers,    sich   das    Leben    der 


550 


Philosophen  auf  der  Sonne  und  die  Heimkehr  Cyranos  nach  der  Erde 
auszumalen. 

Bei  der  Beurteilung  Cyranos  muß  man  in  Anschlag  bringen,  daß 
er  einer  der  ersten  Vorläufer  der  späteren  Aufklärungsphilosophie  war. 
Gassendi  war  zwar  der  Lehrer  und  Cyrano  nur  der  Jünger.  Aber  der 
lebhafte,  stürmische  Geist  des  letzteren  mußte  ihn  weiterführen,  mußte 
ihn  in  Konflikte  mit  seiner  Zeit  bringen,  die  er  nicht  völlig  lösen  konnte. 
Als  er  in  jungen  Jahren  starb,  war  er  noch  unfertig,  mit  sich  selbst 
im  Unklaren.  Das  prägt  sich  in  allen  seinen  Werken  aus.  Wäre  ihm 
ein  längeres  Leben  vergönnt  gewesen,  so  hätte  er  sich  vielleicht  auch, 
gleich  seinem  Studiengenossen  Moliere,  nach  sturmvollen,  trüben  Jahren 
abgeklärt  und  die  Harmonie  in  seinem  Wesen  und  seinen  Schriften  ge- 
funden. Aber  ein  feindliches  Geschick  raffte  ihn  dahin.  Wie  später 
Vauvenargues,  der  ebenfalls  früh  ins  Grab  sank,  hätte  auch  er  rufen 
können:  „Wenn  das  Leben  kein  Ende  nähme,  wer  verzweifelte  an  seinem 
Glück.  Der  Tod  macht  das  Unglück  vollständig".  Eine  große  Geistes- 
bewegung, wie  die  des  18.  Jahrhunderts  es  war,  kündigt  sich  lange 
vorher  in  einzelnen  Erscheinungen  an.  Diese  Vorläufer  haben  eine  schwere 
Aufgabe  und  schlimmen  Stand.  Im  Zwiespalt  mit  ihrer  Zeit,  und  doch 
ihres  Ziels  unbewußt,  treiben  sie  unsicher  hin  und  her.  Scharmützeln 
hier  und  da,  ohne  recht  zu  wissen,  um  was  es  sich  in  dem  bevor- 
stehenden Kampf  handeln  wird.  Sie  entfalten  dabei  oft  bedeutsame  geistige 
Kraft,  und  scheinen  doch  immer  nur  mittelmäßig.  Ihre  Streiche  fallen 
nicht  selten  falsch  oder  durchschneiden  nur  die  Luft,  und  so  erscheinen 
diese  Plänkler  mehr  als  eine  Seltsamkeit,  denn  als  wirklich  beachtens- 
werte Streiter. 

Cyrano  Bergerac  ist  voll  Geist,  des  Aufschwungs  fähig;  sein  Witz 
ist  schneidig,  seine  Ideen  frei.  Aber  ihm  mangelt  der  Geschmack,  die 
Mäßigung  an  der  rechten  Stelle.  In  seinem  Kampf  macht  er  manchmal 
den  Eindruck,  als  gehöre  er  zu  der  Klasse  der  windigen  „Capitane", 
und  doch  hat  er  das  Herz  an  der  rechten  Stelle,  und  es  ist  ihm  Ernst 
um  seine  Sache.  Als  Satiriker  ist  er  am  merkwürdigsten,  und  der  Hohn, 
mit  dem  er  die  Menschen  behandelt,  erhebt  sich  an  manchen  Stellen  zu 
wirklicher  Kraft.  Zu  seinem  Vogelreich  mag  er  durch  die  ..Vögel"  des 
Aristophanes  angeregt  worden  sein,  wenn  auch  ein  Abgrund  zwischen 
seiner  Erzählung  und  der  genialen  Dichtung  des  Atheners  liegt.  Eher 
noch  kann  man  seine  komischen  Erzählungen  mit  Francis  Bacons  „Neuer 
Atlantis"  vergleichen.  Auch  in  ihnen  ist  Cyrano  nur  als  Vorläufer  zu 
betrachten.  Er  gab  die  Anregung  für  die  späteren  allegorisch-satirischen 
Reisebeschreibungen,  unter  welchen  Voltaires  ..Micromegas"  hervorragt, 
und  Swifts   ..Gulliver"   als  unübertroffenes  Werk  allen  voransteht. ■*) 

Neben  dem  Wiederaufleben  der  skeptischen  Philosophie,  das  wir 
in    den  Werken  Cyranos    und    in  anderen  Kreisen    beobachten    können, 


1)  Über  Cyrano  vergl.  noch  Victor  Fournel,  ,,La  litterature  independante 
et  les  ecrivains  oublies  au  XVII  siecle."  2me  ed.  Paris  1862,  Didier  &  Cie. 
S.  50  ff. 


551 

zeigten  sich  auch  auf  ausschließlich  litterarischem  und  gesellschaftlichem 
Feld  Anzeichen  einer  beginnenden  Opposition,  und  zwar  ging  sie  aus 
der  aristokratischen  Welt  hervor;  ja  wir  finden,  daß  sie  zum  Teil  von 
Richelieu  selbst  veranlaßt  wurde.  Der  Kardinal  war  für  die  Beobach- 
tung der  festen  Regeln  in  der  Dichtkunst,  besonders  im  Drama,  sehr 
eingenommeo,  und  sah  mit  Unlust,  daß  noch  mancher  Dichter  sich 
sträubte,  deren  Herrschaft  anzuerkennen.  Aber  gleichzeitig  war  er  doch 
ein  Feind  der  Übertreibung  und  Ziererei,  die  sich  allenthalben  zu  regen 
begann,  und  er  verfiel  auf  den  Gedanken,  diese  verschiedenen,  ihm 
widerstrebenden  Erscheinungen  mit  deren  eigenen  Waffen  zu  bekämpfen, 
und  sie  durch  den  Spott  zu  besiegen. 

Daß  dieser  Kampf  nicht  gewaltig  werden  konnte,  ist  klar.  Ein 
Mann  von  den  beschränkten  litterarischen  Ansichten  Richelieus  war  nicht 
geeignet,  eine  Partei,  zu  der  er  doch  selbst  gehörte,  durch  satirische 
Angriffe  zu  reformieren. 

Sein  getreuer  Desmarets,  der  ihm  sonst  schon  in  seinem  drama- 
turgischen Dilettantismus  beigestanden  hatte,  mußte  auch  diesmal  helfen, 
und  er  bekam  den  Auftrag,  in  einem  satyrischen  Lustspiel  die  ver- 
schiedenen, dem  Kardinal  widerwärtigen  Richtungen  anzugreifen.  So 
entstanden  im  Jahr  1640  die  „Visionnaires".  Das  fünfaktige  Stück 
sollte  die  Schwächen  und  Extravaganzen  der  Gesellschaft  zeichnen.  Die 
Idee  war  an  und  für  sich  gewiß  gut,  allein  weder  Desmarets  noch 
Richelieu  besaßen  genug  satirische  Kraft.  Der  Satiriker  muß  entweder 
von  glühendem  Haß  gegen  den  zu  bekämpfenden  Feind  beseelt  sein,  oder 
er  muß  so  freien  Sinn  haben,  daß  er  sich  über  alle  streitenden  Parteien 
hinaus  setzt,  überlegenen  Geistes  von  hoher  Warte  herab  sie  beurteilt 
und  ihre  Fehler  wie  spielend  geißelt.  Keine  dieser  Vorbedingungen  fand 
sich  bei  den  zwei  Männern.  Welch  dankbaren  Stoff  hätte  ein  echter  Satiriker 
in  jener  Zeit  des  Übergangs  gefunden!  Er  hätte  nur  ins  volle  Leben  zu 
greifen  brauchen,  wo  auf  dem  politischen  Gebiet  der  Widerspruch  zwischen 
den  Bestrebungen  des  Adels  ebenso  und  seiner  geringen  Einsicht  auffiel,  wie 
die  Mischung  von  Roheit  und  Affektation,  die  sich  in  der  vornehmen 
Gesellschaft  zeigte.  Mit  welchem  Hohn  hätte  ein  scharfblickender  Kritiker 
die  hohle  Lyrik  der  Zeit,  die  Übertreibung  und  Unwahrheit  der  Romane 
und  Dramen  behandeln  können!  Desmarets  wußte  nur  wenige  dieser 
Züge  zu  benutzen.  Er  führte  in  seinem  Lustspiel  eine  Reihe  von  Zerr- 
bildern vor,  von  welchen  einige  für  seine  Zeit  schon  veraltet  waren. 
So  glaubte  er  nicht  ohne  Renommisten  („Artabaze")  auskommen  zu 
können;  so  führte  er  einen  überspannten  Dichter  Amidor  ein.  der  eher 
eine  Karrikatur  von  Ronsard  und  den  Dichtern  der  Plejade  ist,  als  daß 
er    die    Schwächen    der    modernen    Dichter    zur    Darstellung    brächte.^) 


1)  Nur  selten  sind  Amidors  Worte  auch  auf  die  Zeitgenossen  des  Des- 
marets anwendbar.  So  z.  B.  I,  3,  4,  wo  er  sich  anschickt,  ein  Bacchusfest  zu 
beschreiben. 

par  un  vers  heroique 

Plein  de  mots  ampoules,    d'epithetes  poussans. 


552 


Nicht  übel  ist  dagegen  die  Figur  des  einen  Liebhabers,  Filidan,  der 
ein  gar  entzündliches  Gemüt  hat,  für  jede  Dame^  die  ihm  begegnet,  m 
Liebe  erglüht,  nach  allen  Regeln  des  Eomans  schwärmt  und  gleich 
bereit  ist,  vor  Liebe  zu  sterben.  Der  Dichter  Amidor  beschreibt  ihm 
eine  himmlische  Erscheinung,  die  er  gehabt  habe,  eine  Göttin  „mit 
Korallenaugen,  einem  Azurmund,  braungoldenem  Teint  und  Silberhaaren, 
mit  Zähnen  schwarz  wie  Ebenholz  und  mit  erloschenem  Blick,  von 
kleinem  Wuchs  und  mit  großem  Fuß"  —  und  Filidan  liebt  sie  alsbald 
mit  allem  Feuer  seiner  Seele,  ja  am  Schluß  eines  Monologs  sinkt  er 
bereits  halb  tot  vor  Sehnsucht  zusammen.^) 

Neben  diesen  zwei  komischen  Personen  begegnen  wir  einem 
Vater,  der  seine  drei  Töchter  verheiraten  möchte.  Jedes  dieser  Fräulein 
hat  eine  besondere  Manie;  die  eine  hält  sich  für  wunderbar  schön,  und 
ist  überzeugt,  die  gesamte  Männerwelt  sei  unglücklich  aus  Liebe  zu  ihr; 
die  zweite  verachtet  alle  Männer  ihrer  Zeit  und  liebt  nur  Alexander 
den  Großen;  die  dritte  endlich  schwärmt  nur  für  das  Theater.  Lebens- 
voll ist  aber  keines  der  drei  Mädchen  gezeichnet.  Sestiane,  die  Freundin 
des  Theaters,  läßt  sich  in  eine  längere  Unterhaltung  mit  dem  Dichter 
ein,  der  ein  Feind  der  dramatischen  Regeln  ist  und  auch  Sestiane 
von  der  Nutzlosigkeit  derselben  überzeugt.-)  Zum  Dank  dafür  giebt  ihm 
diese  den  Stoff  zu  einer  Tragikomödie.  Ein  Kind  wird  ausgesetzt,  von 
einer  Tigerin  genährt,  später  gefunden  und  an  einem  Königshof  erzogen. 
Das  Stück  beginnt  mit  der  Kindheit  des  Helden,  schildert  dann  die 
Thaten  und  die  Liebe  des  zum  Mann  Herangereiften  und  schließt  mit  der 
Darstellung  der  Schicksale  seiner  Kinder. 

Diese  verschiedenen  Personen  sind  in  eine  sehr  lose  Komposition 
verflochten.  Auf  der  Jagd  nach  Schwiegersöhnen  findet  der  Vater  der 
genannten  drei  Damen  den  Bramarbas,  den  Dichter  Filidan  und  einen 
vierten  Menschen,  der  ganz  in  seiner  Traumwelt  lebt.  Jedem  dieser  vier 
Männer  verspricht  er  eine  seiner  Töchter  und  entdeckt  zu  spät,  daß  er 
mehr  versprochen  hat,  als  er  halten  kann.  Aber  die  Verlegenheit  ist 
schnell  beseitigt,  denn  die  Töchter  weigern  sich  überhaupt  zu  heiraten. 
Wie  wenig  Desmarets  daran  dachte,  der  aristokratischen  Richtung  seiner 
Zeit  ernstlich  entgegenzutreten,  wie  es  ihm  und  seinem  Herrn  vielmehr 
nur  darum  zu  thun  war,  kleine  Schwächen  zu  verspotten  und  eine 
litterarische  Rancune  zu  befriedigen,  beweisen  die  Verse,  mit  welchen 
er  sein  Vorwort  schließt.  Wie  Horaz  sein  „Odi  profanum  vulgus"  gesagt 
hatte,  so  erklärt  auch  Desmarets,  daß  er  nicht  für  das  dumme  Volk 
schreibe,   dem  er  gar  nicht  gefallen  wolle,    sondern  daß  er  nur  für  die 


Aber  solche  Ausfälle  lassen  sich  auf  die  schlechten  Dichter  jeder  Zeit  an- 
wenden und  verlieren  somit  die  persönliche  Beziehung. 

1)  Les  Visionnnaires,  I,  4,  17  ff.  und  I,  5. 

2)  Ibid.  II,  4,  50: 

Pourquoi  s'assujettir  aux  groteques  chimeres 
De  ces  emmailletes  dans  leurs  regles  austeres? 


553 

auserwählten  und  „edlen"  Menschen  dichte.^)  In  der  That,  Desmarets 
hatte  selbst  zu  viel  in  seinen  dramatischen  Werken  gefehlt,  und  sollte 
später  in  seinem  Epos  „Clovis"  noch  zu  viel  fehlen,  als  daß  er  berufen 
gewesen  wäre,  ein  litterarisches  Richteramt  auszuüben.^) 

Fast  um  dieselbe  Zeit  wie  die  „Visionnaires"  entstand  Saint- 
Evi'emonds  Lustspiel  „Les  Academiciens",  welches  eine  wirklich 
litterarische  Satire,  einen  Angriff  gegen  bekannte  Schriftsteller  enthielt* 
Ja,  es  ließ  diese  letzteren,  die  es  bei  ihrem  wahren  Namen  nannte, 
persönlich  auftreten. 

Charles  de  Saint-Denis,  seigneur  de  Saint-Evremond,  stammte  aus 
einem  altadeligen  Geschlecht  der  Normandie,  und  war  wahrscheinlich 
1613,  vielleicht  auch  erst  ein  oder  zwei  Jahre  später  geboren.  Schon 
mit  16  Jahren  trat  er  in  die  Armee  ein  und  nahm  an  den  großen 
Feldzügen  in  Deutschland  teil,  wohnte  den  Schlachten  von  Freiburg 
und  Nördlingen  bei,  und  trug  eine  schwere  Wunde  am  Bein  davon, 
die  ihn  monatelang  an  das  Krankenlager  fesselte.  Obwol  er  sich  durch 
seinen  Mut  ausgezeichnet  hatte,  verlor  er  doch  die  Gunst  seines 
Generals,  des  Prinzen  Conde,  über  welchen  er  sich  spöttische  Bemerkungen 
erlaubte.  Diese  satirische  Laune  bildete  einen  Hauptzug  seines  Charakters 
und  sollte  auf  sein  ganzes  Leben  bestimmend  wirken.  So  oft  es  ihm 
möglich  war,  kehrte  er  aus  dem  Lager  nach  Paris  zurück,  wo  er  sich 
in  der  Gesellschaft  beliebt  gemacht  hatte.  Ein  Freund  leichten  Lebens- 
genusses, ein  „Libertin"  und  Freund  der  Ninon,  hielt  er  sich  doch 
immer  innerhalb  gewisser  Grenzen.  In  einem  Brief  an  den  Grafen 
d'Olonne  über  den  Lebensgenuß  sagt  er:  „Sie  fragen  mich,  was  ich  auf 
dem  Land  treibe?  Ich  unterhalte  mich  mit  allen  möglichen  Leuten, 
denke  über  alle  möglichen  Fragen  nach,  grüble  über  keine.  Die  Wahr- 
heiten, welche  ich  suche,  bedürfen  keiner  Vertiefung;  überhaupt  will 
ich  mich  über  keinen  Punkt  allzu  lang  und  allzu  ernsthaft  mit  mir  selbst 
befassen".^)  ...  Im  Verlauf  seines  Briefs  emptiehlt  er  dann  das  Maß- 
halten,   das    schon    Epikur    gelehrt,    die    „angenehme    Indolenz"    jenes 


1)  Siehe  d.  „Argument"  zu  den  Visionnaires: 

„Ce  n'est  pour  toi  que  j'ecris, 
Indoete  et  stupide  vulgaire. 
J'ecris  pour  les  nobles  esprits, 
Je  serois  marry  de  te  plaire. 

2)  Richelieu  liebte  überhaupt  diese  Gattung  der  satirischen  Allegorie. 
Man  vergleiche  sein  Manifest  „Europe",  eine  Art  politischer  Komödie,  in  der 
er  durch  Desmarets  Spanien  angreifen  ließ.  In  diesem  Stück  treten  auf:  Franciou, 
Ibere  und  Austrasie.  Die  beiden  ersteren  bewerben  sich  um  die  Gunst  der  Dame 
Europe.  Ibere  macht  sich  jedoch  durch  sein  herrisches,  stolzes  Wesen  verhaßt, 
während  Francion  durch  seine  Liebenswürdigkeit  Europe  für  sich  gewinnt.  Die 
beiden  Ritter  suchen  auch  die  Freundschaft  der  Dame  Austrasie  zu  gewinnen, 
wobei  ebenfalls  Franciou  glücklich  ist.  Austrasie  schenkt  ihm  zum  Beweis  ihrer 
Neigung  drei  Bandschleifen,  welche  die  drei  festen  Städte  Clermont,  Stenai 
und  Jametz  bedeuten  u.  s.  w. 

3)  Sur  les  plaisirs.  Lettre  au  comte  d'Olouue,  Bd.  I,  S.  144  der  Amster- 
damer Ausg.  1706. 


554 

Philosophen,  welche  nicht  als  schmerz-  und  freudloser  Zustand,  sondern 
als  die  feine  Empfindung  einer  reinen  Freude  aufzufassen  sei,  und  die 
auf  der  Reinheit  des  Gewissens  und  dem  Frieden  des  Geistes  beruhe. 
Ohne  großes  Wissen,  aber  mit  scharfem  Geist  und  feinem  Geschmack 
begabt,  zeichnete  sich  Saint-Evremond  bald  in  den  litterarischen  und 
schöngeistigen  Kreisen  aus.  Aber  die  hohle  Schönthuerei  der  Lyriker, 
die  pedantische  und  unpoetische  Manier  vieler  „Größen"  reizten  ihn, 
und  bald  nach  Desmarets  ..Visionnaires"  cirkulierte  in  Abschriften  sein 
schon  oben  erwähntes  Stück  „Les  Academiciens".^)  Er  verspottete  darin 
die  einige  Jahre  zuvor  gegründete  Akademie.  Godeau,  CoUetet,  Chapelain, 
Boisrobert,  Desmarets  und  andere  Leuchten  der  Litteratur  werden  redend 
eingeführt,  und  erweisen  sich  als  kleinliche,  zänkische  Leute,  die  im 
Bewußtsein  ihrer  Würde  und  vom  Weihrauch,  den  sie  sich  gegenseitig 
streuen,  betäubt,  jedes  Verständniß  für  die  wirklichen  Verhältnisse  des 
Leben.s  verloren  haben.  In  lächerlich  pedantischer  Weise  sitzen  sie  über 
einzelne  Wörter  der  französischen  Sprache  zu  Gericht,  und  wollen  sie 
als  veraltet  oder  mißtönend  verbannen.  Die  Satire  ist  umso  gerecht- 
fertigter, als  solche  Vorschläge  wirklich  gemacht  wurden,  und  die  über- 
triebenen Puristen  Wörter  wie  car.  neansmoins,  or  u.  a.  m.  nicht  mehr 
dulden  wollten.  Doch  die  Wortklauberei  und  Pedanterie  ist  an  sich  selbst 
so  armselig,  daß  sie  auch  der  Satire  nur  wenig  Gelegenheit  bietet,  ihre 
Kraft  zu  zeigen.  Daß  sie  in  jener  Zeit  oft  unerträglich  auf  den  freieren 
Geistern  lastete,  zeigt  das  Beispiel  Cyranos.  Saint-Evremonds  und  bald 
auch  Molieres.  Aber  auch  eine  Satire  hat  keinen  Anspruch  auf  gi'ößere 
Beachtung,  wenn  sie  dem  Leser  keinen  weiteren  Horizont  bietet,  als 
Saint-Evremond  in  diesem  Lustspiel  gethan.  Ein  späteres  SeitenstOck 
zu  den  „Academiciens"  war  desselben  Verfassers  „Comedie  des  operas", 
in  welcher  er  die  neu  aus  Italien  herübergebrachte  und  alsbald  sehr 
beliebte  Manier  der  ..gesungenen  Dramen"  verspottet.  Doch  ist  er  darin 
ganz  harmlos.  Zu  satirischer  Kraft  erhebt  er  sich  in  dem  „Gespräch 
des  Marschalls  d'Hoquincourt  mit  dem  Pater  Canaye'".^)  Sainte-Beuve 
setzt  diese  kleine  Erzählung  den  „Lettres  ä  un  provincial"  Pascals 
zur  Seite.  Doch  um  wirklich  mit  Pascal  wetteifern  zu  können,  fehlte 
Saint-Evremond  zunächst  der  Ernst  des  Satirikers.  Er  war  ohne  Be- 
geisterung, selbst  ohne  Wärme.  Ein  Mann,  der  die  Welt  nur  als  ein 
Schauspiel  ansieht,  und  sich  nie  aus  seiner  „angenehmen  Indolenz" 
reißen  läßt,  kann  nicht  zum  wirklichen  Satiriker  werden. 

Saint-Evremond  ist  als  ein  Vorläufer  Boileaus  anzusehen.  Wir 
finden  in  ihm  schon  etwas  von  dem  Charakter  und  der  Weise  der 
modernen  Kritik.     Doch    zeigte    er    sich    als  Kritiker    erst   in  späteren 


1)  Es  entstand  um  das  Jahr  1643  und  trug  anfangs  den  Titel:  „La 
comedie  des  Academistes,  pour  la  reformation  de  la  langue  fran^oise.  Gedruckt 
wurde  es  zuerst  1650  ohne  Vorwissen  des  Verfassers  und  mit  vielen  Fehlern 
und  Entstellungen.  1680  gab  Saint-Evremond  eine  neue,  vielfach  umgeänderte 
Ausgabe  heraus.  S.  Oeuvres,  Bd.  I,  S.  3. 

2)  Oeuvres,  Bd.  II,  S.  33.  Ausführliches  darüber  siehe  Abschnitt  II  dieses 
Bands,  S.  43. 


555 


Jahren,  so  daß  wir  seine  Thätigkeit  auf  diesem  Gebiet  erst  in  einem 
folgenden  Band  besprechen  werden. 

Sein  Leben  wurde  plötzlich  in  eine  andere  Bahn  gelenkt,  und  der 
glänzende,  geistvolle  Mann  in  die  Verbannung  getrieben.  Im  Jahr  1659 
gelang  es  Mazarin,  in  dem  Pyrenäischen  Frieden  die  langjährige  Rivalität 
zwischen  Frankreich  und  Spanien  zu  beenden,  und  zugleich  für  sein 
Land  beträchtliche  Erwerbungen  zu  sichern.  Roussillon  im  Süden,  Artois 
und  eine  Reihe  fester  Punkte  an  der  flandrischen  Grenze  und  in  Loth- 
ringen rundeten  das  Gebiet  des  französischen  Reiches  ab.  Man  sollte 
denken,  daß  der  endliche  Friedensschluß  von  allen  Seiten  mit  Jubel 
begrüßt  worden  wäre.  Allein  es  gab  eine  Partei,  die  nur  im  Krieg 
ihre  Geschäfte  machen  konnte,  oder  die  aus  Abneigung  gegen  den 
Minister  dessen  Politik  verdammte.  Saint-Evremond,  der  seit  1652 
Marechal  de  camp  war  und  sich  bei  einer  Sendung  in  die  Guyenne 
50.000  Livres  erworben  hatte,  gehörte  zu  der  Partei  der  Gegner 
und  schrieb  über  das  Friedenswerk  aus  Saint-Jean  de  Luz  an  seinen 
Freund,  den  Marquis  de  Crequi,  einen  Brief  voll  spöttischer  Ausfälle 
gegen  den  Minister.  Er  stellte  darin  Mazarin  als  den  Überlisteten  hin, 
die  Franzosen  seien  um  die  Früchte  ihrer  Siege  geprellt.  Saint-Evremond 
glaubte  dem  Kardinal  einen  furchtbaren  Vorwurf  zu  machen,  wenn  er 
in  seinem  Brief  sagte,  derselbe  halte  jeden  Frieden  für  günstig,und  es  sei 
ihm  nur  um  die  Ersparnis  der  Kriegskosten  zu  thun.  Daß  Frank- 
reich unter  dem  Druck  der  Kriegslasten  zusammenzubrechen  drohte, 
kümmerte  den  Pamphletisten  nicht.  Er  gab  zu  verstehen,  daß  Mazarin 
die  Millionen  nur  ersparen  wolle,  um  sie  selbst  zu  behalten.  Die 
Maxime  Seiner  Eminenz  sei,  der  Minister  gehöre  nicht  dem  Staat, 
sondern  der  Staat  dem  Minister.^)  In  dieser  beißenden,  aber  gerade  hier 
nicht  gerechtfertigten  Weise  ging  es  fort,  gewiß  zur  lebhaften  Freude 
seines  Freunds  und  dessen  ganzen  Kreises. 

Als  jedoch  1661  Foucquet,  der  mächtige  Finanzminister,  stürzte, 
und  seine  und  seiner  Freunde  Papiere  mit  Beschlag  belegt  wurden, 
kam  der  unglückliche  Brief  in  die  Hände  des  Königs,  und  Saint- 
Evremond  hielt  es  für  geraten,  nach  England  zu  fliehen.  Dort  sah  er 
sich  sehr  freundlich  aufgenommen,  und  blieb  daselbst,  mit  Ausnahme 
einiger  Jahre,  die  er  in  Holland  lebte,  bis  zu  seinem  Tod.  Eine  Nichte 
Mazarins,  die  schöne  Hortense  Mancini,  die  mit  dem  Herzog  von 
Mazarin  verheiratet  war,  aber  nach  mancherlei  unliebsamen  Vorfällen 
sich  auch  nach  London  flüchtete,  sah  ihn  als  treuen  Freund  in  dem 
glänzenden  Kreise,  den  sie  um  sich  versammelte.  Bei  Hof  gerne  ge- 
sehen, mit  den  besten  englischen  Schriftstellern  und  Dichtern  befreundet, 
führte  Saint-Evremond  ein  behagliches  Leben.  Von  den  Ufern  der  Themse 
aus  verfolgte  er  die  Entwicklung  der  vaterländischen  Litteratur  mit  reger 
Aufmerksamkeit  und  sein  Urteil  galt  viel  in  Frankreich.  Bezeichnend 
ist  es  freilich,  daß  er  sich  in  den  langen  Jahren  seines  Aufenthalts  in 
England    weder   um   dessen   Sprache,    noch   dessen  Litteratur  kümmerte. 


')  Der  Brief  ist  datiert  :  November  1659.  S.  Oeuvres,  II,  S.  169. 


556 

Schon  damals  war  die  französische  Sprache  in  England  genug  verbreitet, 
so  daß  er  überall  verstanden  wurde,  und  mehr  verlangte  er  nicht. 
Seine  Kritiken  flogen  über  den  Kanal,  und  verfehlten  selten  ihren 
Eindruck,  da  sie  kurz,  klar  und  scharf  gedacht  waren.  Erst  im  Jahr 
1688  wurde  ihm  die  Erlaubnis  zur  Heimkehr  gewährt.  Diese  lange 
Dauer  der  Verbannung  hat  manche  Historiker,  unter  ihnen  schon  Voltaire, 
auf  den  Gedanken  gebracht,  daß  noch  ein  geheimer  Grund  vorgelegen 
habe,  welcher  Ludwig  XIV.  oder  Colbert  so  unerbittlich  gegen  den 
Verbannten  gestimmt  habe.  Im  Jahr  1688  aber  fühlte  sichSaint-Evremond 
zu  alt,  um  noch  einmal  zu  übersiedeln.  Paris  war  ihm  fremd  geworden,  und 
in  London  hatte  er  sich  eingelebt.  So  lehnte  er  dankend  ab.  Er  starb 
in  hohem  Alter  1703  und  fand  seine  letzte  Ruhestätte  in  dem  Pantheon 
der  Engländer,  der  Westminster-Abtei.^) 

Ebenfalls  in  bewußtem  Gegensatz  gegen  den  Geist,  der  in  der 
Litteratur  und  in  der  Gesellschaft  herrschte,  erhob  sich  der  komische 
Roman.  Dieser  bekämpfte  hauptsächlich  die  süßliche  Manier  der  Schäfer- 
romane und  wollte  den  schwärmerisch  ritterlichen  Sinn,  die  Ideale  der 
damaligen  vornehmen  Gesellschaft,  als  unwahr  nicht  gelten  lassen.  Gegen- 
über den  Schäfern  d'Urfes,  ßacans  und  Theophiles,  und  nicht  minder 
den  salbungsvollen  Phrasen  Balzacs  gegenüber,  schlug  der  komische 
Eoman,  dessen  hauptsächlichste  Vertreter  Sorel.  Scarron  und  später  Pure- 
tiere  waren,  die  realistische  Richtung  ein.  Er  verfiel  dabei  in  das  an- 
dere Extrem,  und  schilderte  die  Welt,  wenn  auch  nicht  immer  gerade 
von  der  Nachtseite,  so  doch  jedes  idealen  Gedankens  beraubt.  Der  Mensch 
erscheint  in  ihm  zumeist  als  ein  sinnlich-lüsternes,  abenteuerliches,  ge- 
meines Geschöpf.  Der  realistische  Roman  glaubt  nicht  an  die  Schönheit 
der  Seele,  die  Hoheit  der  Gesinnung.  Er  spottet  derer,  die  von  solchen 
Dingen  träumen.  Die  Verfasser  dieser  Romane  sind  mit  den  holländi- 
schen Malern  zu  vergleichen,  die  ihre  Kunst  auch  nicht  in  der  Schön- 
heit der  Auffassung  und  Darstellung  finden.  Doch  darf  man  in  den 
Romanen  des  17.  Jahrhunderts  nicht  den  Realismus  der  heutigen  Zeit 
suchen.  Jene  versuchten  es  noch  nicht,  ein  getreues  Abbild  des  wahr- 
haften Lebens  zu  geben.  Sie  waren  noch  zum  größten  Teil  Abenteuer- 
romane, und  wenn  man  diese  auch  als  .,romans  de  moeurs"  bezeichnet, 
so  muß  man  darunter  nicht  das  verstehen,  was  wir  heute  „Sittenroman" 
nennen.-)  Der  damalige  realistische  Roman  dringt  nicht  in  das  Innere 
der  Familie,    giebt    uns    kein  Bild    des    Lebens    auf  den  Schlössern   des 


1)  Vergl.  Sainte-Beuve,  Nouveaux  lundis,  t.  XIII,  t.  425  ff.,  und  die 
beiden  von  der  Akademie  gekrönten  Abhandlungen  über  Saint-Evremond  von 
Gilbert  und  Gidel.  Eine  Auswahl  der  Werke  erschien  1856  bei  Techener  in 
Paris:  Oeuvres  melees  de  Saint-Evremond,  revues,  annotees  et  precedees  d'une 
histoire  de  la  vie  et  des  ouvrages  de  l'auteur  par  M.  Charles  Giraud.  3.  Bd. 
Siehe  auch  Fournel,  La  litterature  independante,  S.  330  ff. 

2)  Man  sagte  von  einem  Eoman,  daß  seine  „moeurs"  entweder  heroisch 
oder  burlesk  wären,  und  verstand  also  unter  dem  Wort  „moeurs"  kaum  etwas 
anderes  als  Abenteuer.  Siehe  Eug.  Maron,  Le  roman  de  moeurs  au  XVII  siecle, 
in  der  „Revue  Independante",  Februarheft  1848. 


557 


Adels  oder  in  dem  Haus  des  Bürgers.  Daß  eine  solche  Darstellung,  von 
jedem  romantischen  Firnis  abgesehen,  anziehen  könne,  davon  hatte  man 
noch  keine  Ahnung.  Der  komische  Roman  behandelt  dieselbe  Welt,  wie 
der  vornehme  Eoman ;  er  hat  Liebesgeschichten,  heitere  und  trübe  Aben- 
teuer in  bunter  Abwechslung  wie  jener.  Beide  unterscheiden  sich  nur  durch 
ihre  Auffassung  und  durch  die  Farbe,  die  sie  ihren  Bildern  geben. 

Der  erste,  der  mit  Erfolg  in  der  Gattung  des  komischen  Romans 
auftrat,  war  Charles  Sorel  de  Souvigny.  Fir  war  ums  Jahr  1597  zu 
Paris  geboren  und  erreichte  ein  hohes  Alter,  denn  er  starb  erst  1674. 
Sorel  gehörte  zu  einer  bürgerlichen  Familie  und  zeigte  das  Janusgesicht, 
das  seine  Kollegen  aus  dem  Bürgerstand  so  oft  und  mit  so  viel  Glück 
zu  tragen  verstanden.  Er  arbeitete  ernsthaft  und  fleißig,  war  ein  Ge- 
lehrter, Historiograph  von  Frankreich  und  hat  als  solcher  eine  Reihe 
von  Büchern  geschrieben,  die  heute  niemand  mehr  liest.  Neben  dem  Ge- 
lehrten aber  lebte  in  ihm  noch  ein  satirischer,  dem  Scherz  geneigter 
Mann.  Dessen  Schriften  hatten  ein  ganz  anderes  Gepräge  und  fanden 
einen  außerordentlichen  Leserkreis.  Hatte  nicht  ebenso  Passerat,  der  ge- 
lehrte Professor  der  Beredsamkeit  zur  Zeit  der  Ligue,  Trink-  und  Liebes- 
lieder, satirische  und  frivole  Gedichte  gefertigt?  Im  Kreise  der  Schrift- 
steller seiner  Zeit  zeichnete  sich  Sorel  durch  seinen  Unabhängigkeits- 
sinn aus.  Er  verschrieb  sich  keinem  hohen  Herrn  zu  Dienst,  zierte  seine 
Werke  mit  keinerlei  Dedikation,  scheute  sich  auch  nicht,  offen  seine 
Meinung  über  die  Werke  seiner  Zeltgenossen  zu  sagen  und  die  Geschmacks- 
richtung der  ganzen  Epoche  zu  verspotten.  Freilich  wußte  er  seine  Kritik 
in  eine  Form  zu  kleiden,  die  der  besten  Aufnahme  sicher  war,  In  die 
Form  einer  Erzählung;  und  diese  schmückte  er  mit  so  viel  satirischen, 
oft  obscönen  Geschichten  aus,  daß  er  selbst  in  Kreisen,  die  sich  um 
seine  lltterarlschen  Ideen  nicht  kümmerten,  zahlreiche  Leser  finden  mußte. 
Ist  doch  eine  halbwegs  gute  Satire  bei  allen,  die  nicht  von  Ihr  getroffen 
werden,  williger  Aufnahme  sicher. 

Wie  „Don  Qulxote"  sich  gegen  die  Ritterromane  erhoben  hatte, 
so  suchte  Sorel  In  seinem  komischen  Roman  „  Francion "  die  Schäfer- 
romane und  die  romantischen  Ideen  der  vornehmen  Welt  zu  verspotten. 
Freilich  fehlte  Ihm  das  Genie  des  spanischen  Dichters  und  sein  „Fran- 
cion" ragt  nicht  von  weitem  an  die  unsterbliche  Erzählung  des  Cer- 
vantes heran.  Aber  Immerhin  erregt  er  unser  Interesse  als  ein  Beweis 
der  starken  Gegenströmung,  die  sich  fast  gleichzeitig  mit  dem  Erscheinen 
der  „Asträa"  bildete.  Der  zweite  Band  des  d'Urfe' sehen  Romans  erschien 
im  Jahr  1622  und  in  demselben  Jahr  wurde  auch  „  Francion "  veröffent- 
licht. Nach  dem  Vorbild  der  In  Spanien  damals  beliebten  Abenteuer- 
romane erzählt  Sorel  In  „Francion"  die  Geschichte  eines  jungen  Adeligen. 
Der  ganze  Roman  dreht  sich  nur  um  den  einen  Mann ;  Abenteuer  reiht 
sich  an  Abenteuer  und  der  Gang  der  schon  an  sich  bunten  Geschichte 
wird  noch  durch  eine  Reihe  von  Novelletten  unterbrochen.  Francion,  so 
heißt  der  Held  der  Geschichte,  stammt  aus  einer  alten  bretonischen  Fa- 
milie, ist  aber  früh  nach  Paris  gekommen,  wo  er  sich  in  allen  mög- 
lichen Kreisen,  In  der  feinsten  Gesellschaft  wie  unter  der  Hefe  des  Volkes, 


558 


umhergetrieben  hat.  Die  ersten  Bücher  zeigen  Francion  in  der  Provinz. 
Er  ist  in  ein  galantes  Abenteuer  auf  einem  Schloß  in  Burgund  ver- 
wickelt, das  mit  einigen  Unannehmlichkeiten  für  ihn  endigt.  Er  muß 
fliehen  und  begegnet  einem  Edelmann,  der  ihn  mit  in  sein  Haus  nimmt. 
Ihm  erzählt  nun  Francion  in  den  folgenden  Büchern  seine  früheren  Er- 
lebnisse, seine  Erfahrungen  auf  der  Schule,  sein  kümmerliches  Leben  in 
Paris,  seine  dichterischen  Versuche,  seine  Verbindungen  mit  der  Diebs- 
welt und  deren  Freundinnen,  und  endlich  seine  Bekanntschaft  mit  einem 
hohen  Herrn,  unter  dem  wahrscheinlich  der  Herzog  von  Orleans  gemeint 
ist.  Im  Verlauf  der  Geschichte  kommt  Francion  nach  Italien,  wo  er  als 
Schäfer  und  Wunderdoktor  seine  Talente  beweist,  und  zum  Schluß  nach 
Rom.  Dort  findet  er  nach  vielen  glücklich  überstandenen  Gefahren  end- 
lich eine  junge  Witwe,  mit  der  er  sich  vermählt  und  die  ihn  zum  Ent- 
schluß bringt,  nach  Frankreich  heimzukehren,  um  daselbst  ruhig  und 
bürgerlich  anständig  zu  leben. 

Dies  ist  der  Eahmen,  in  welchen  Sorel  das  Bild  der  Gesellschaft, 
wie  sie  ihm  erschien,  eingefügt  hat.  Für  die  Kenntnis  der  damaligen 
Sitten  ist  der  Eoman  sehr  wertvoll,  trotzdem  Sorel  oft  mit  gar  grellen 
Farben  aufträgt,  immer  auch  auf  der  Oberfläche  bleibt.  Aber  die  ein- 
zelnen Skizzen,  die  er  entwirft,  bieten  ihm  Gelegenheit,  die  verschieden- 
artigsten Menschen  zu  schildern.  Bald  macht  er  uns  mit  dem  unbestech- 
lichen Richter  bekannt,  der  alle  Geschenke  schroff  abweist,  aber  sie  durch 
seine  Frau  entgegennehmen  läßt;  bald  besuchen  wir  mit  Francion  die 
Schule  und  begegnen  auch  hier  wieder  dem  Pedanten  —  einem  von 
jenen,  die  Cyrano  so  liebt  und  die  ihren  Namen  mit  der  Endsilbe  „us" 
verschönern,  um  sich  den  Anschein  von  Gelehrsamkeit  zu  sichern.  Sie 
arbeiten  mit  Vorliebe  mit  dem  Stock  und  sind  stark  in  etymologischen 
Erklärungen,  wie  z.  B.  daß  das  Wort  „luna"  eine  Zusammenziehung 
aus  „quasi  luce  lucens  aliena"  vorstellt.  Natürlich  vertiefen  sich  die 
Schüler  während  des  Unterrichts  in  die  Lektüre  anderer  Bücher,  ver- 
schlingen alle  möglichen  Ritterromane  und  träumen  von  Helden,  Zau- 
berern und  liebevollen  Prinzessinnen.  Der  Hauptpedant,  Hortensius,  dem 
Francion  auch  in  Rom  wieder  begegnet,  ist  eine  Karikatur  Balzacs.  Dem 
ebenso  eitlen  wie  beschränkten  Menschen  wird  aufs  übelste  mitgespielt, 
in  der  Schule  sowol  wie  später  in  Rom,  wo  man  mit  ihm  eine  wahre 
Posse  ausführt.  Eine  polnische  Gesandtschaft  erscheint  vor  ihm  und  fleht 
ihn  an,  er  wolle  die  polnische  Krone  annehmen.  Hortensius  bläht  sich 
nun  im  Gefühl  seiner  Hoheit  auf  und  dient  der  übermütigen  Gesellschaft, 
in  die  er  geraten  ist,  einige  Tage  als  Zielscheibe  des  Spotts.  Wie  Balzac, 
werden  auch  Boisrobert  und  Poeten  seines  Schlags  unter  anderem  Namen 
gezeichnet,  und  mit  besonderem  Nachdruck  erhebt  sich  Sorel  gegen  den 
Schwulst  in  der  Poesie.  Einer  der  besten  Abschnitte  des  Buchs  ist  die 
Schilderung  des  Buchhändlerladens,  in  welchem  sich  die  Dichter  und 
Schöngeister  treffen,  ihre  Ansichten  austauschen,  ihre  Pläne  und  Arbeiten 
besprechen.  Hier  tritt  die  polemische  Absicht  Sorels  deutlich  zu  Tage. 
Aber  auch  an  anderen  Stellen  spricht  er  sich  offen  aus.  So  läßt  er  im 
zehnten  Buch    eine    Dame,    Joconde,    folgendermaßen    über  die  Schäfer- 


559 


romane  urteilen:  „Die  Schäfer  sind  darin  Philosophen  und  lieben  wie 
der  ritterlichste  Mann  der  Welt.  Und  warum?  Warum  macht  er  (der 
Verfasser)  diese  Perronen  nicht  zu  wohlerzogenen  Kavalieren?  Wenn  er 
sie  dann  Wunder  der  Klugheit  verrichten  und  sie  himmlisch  schön  reden 
ließe,  würde  man  sich  nicht  wie  über  ein  Mirakel  entsetzen.  Die  wahre 
sowol  wie  die  erdichtete  Geschichte  müssen  beide  die  Dinge  der  Natur 
gemäß  darstellen,  sonst  werden  sie  zu  Märchen,  die  wol  Kinder  unter- 
halten können,  nicht  aber  Menschen  von  reichem  Geist.  . .  Ebenso  gut 
könnte  man  einen  Roman  schreiben,  in  dem  verliebte  Kavaliere  vor- 
kommen, die  im  Patois  der  Bauern  reden."')  Aber  Sorel  tadelt  nicht 
allein  die  falsche  Manier  des  Romans,  sondern  auch  den  Ernst,  mit  dem 
er  behandelt  wird.  „Wir  haben  genug  tragische  Geschichten",  beginnt 
er  seine  Erzählung,  „die  uns  immer  nur  traurig  machen;  man  muß  auch 
einmal  eine  komische  Geschichte  haben,  welche  die  verdrossensten  Ge- 
müter aufheitern  kann",  und  später,  zu  Beginn  des  achten  Buchs,  sagt 
er:  „Mag  den  Heraklit  vorstellen,  wer  da  will;  ich  bin  lieber  Demokrit, 
und  die  ernsthaften  Angelegenheiten  hienieden  sollen  mir  nur  noch  als 
Possen  erscheinen". 2) 

Mehr  als  einzelne  Erklärungen,  seien  sie  auch  noch  so  nachdrück- 
lich, spricht  die  ganze  Haltung  des  Buchs  für  die  oppositionelle  Ge- 
sinnung des  Verfassers.  Er  will  nichts  von  jenen  subtilen  Idealen  wissen, 
nichts  von  der  kühlen  Feinheit,  der  vorsichtigen,  züchtigen  Rede.  Er  ist 
ein  Anhänger  des  Rabelais  und  liebt,  wie  jener,  das  freche  Wort  und 
die  cynische  Anekdote.  Nur  beeilt  er  sich,  seine  unzüchtigen  Geschichten 
mit  einer  moralischen  Nutzanwendung  zu  schließen:  er  betont,  daß  er 
solche  Vorgänge  nur  schildere,  um  das  Gefährliche  des  gemeinen  Lebens 
zu  beweisen.  Nicht  anders  klingt  die  Abschreckungstheorie  mancher 
heutigen  Schriftsteller  in  Frankreich,  die  das  Lasterleben  in  eingehender, 
fast  liebevoller  Weise  schildern,  um  moralisch  zu  wirken.  Von  seinem 
Standpunkt  aus  mußte  Sorel  die  stilistische  Sorgfalt  verwerfen,  und  so 
ist  seine  Schreibweise  denn  auch  nachlässig,  seine  Sprache  oft  matt,  und 
von  Aufwallung  oder  Wärme  zeigt  sich  nirgends  eine  Spur  bei  ihm. 
Seine  Personen  sind  entweder  schlecht  oder  liederlich;  das  ganze  Buch 
ist  nur  lose  gefügt  und  ohne  Geschmack  geschrieben. 


1)  Francion,  Livre  X,  S.  387  (ed.  Colombey):  „11  y  a  bien  de  l'apparence: 
Les  bergers  sont  ici  philosophes,  et  fönt  l'amour  de  la  meme  sorte  que  le  plus 
galant  homme  du  monde.  A  quel  propos  tout  ceci?  Que  Tauteur  ne  donne-t-il 
ä  ces  personnages  la  qualite  de  Chevaliers  bien  mourris  ?  Leur  fit-il,  en  tel  etat, 
faire  des  miracles  de  prudence  et  de  bien  dire,  l'on  ne  s'en  etonneroit  point 
comme  d'un  predige.  L'histoire  veritable  ou  feinte  doit  representer  les  choses 
au  plus  pres  du  naturel;  antrement  c'est  uue  fable  qui  ne  sert  qu'ä  entretenir 
les  enfans  au  coin  du  feu,  non  pas  les  esprits  mürs  dont  la  vivacite  penetre 
partout.  II  fait  bon  voir  ici  Tordre  du  monde  renverse.  Je  suis  d'avis,  pour  moi, 
que  Ton  compose  un  livre  des  amours  des  Chevaliers,  ä  qui  l'on  fasse  parier  le 
patois  de  paysans,  et  ä  qui  l'on  fasse  faire  des  badineries  de  village.  La  chose 
ne  sera  point  plus  etrange  que  celle-ci  qui  est  sa  contraire." 

1)  Francion,  livre  I,  S.  19,  und  livre  VIII,  S.  301. 


560 


Trotz  seiner  Schwächen  fand  es  indessen  den  größten  Beifall.  Sorel 
hat  nie  seine  Autorschaft  zugestanden,  aber  bezweifelt  kann  sie  nicht 
werden.  In  den  ersten  zwanzig  Jahren  (von  1622 — 1644)  soll  „Fran- 
cion" fünfundvierzigmal  aufgelegt  worden  sein,  und  die  neuen  Ausgaben 
brachten  viele  Änderungen  und  Zusätze.  Im  Lauf  des  Jahrhunderts  hat 
das  Buch  gar  an  die  sechzig  Auflagen  erlebt;  ein  für  jene  Zeit  uner- 
hörter Absatz,  und  ein  neuer  Beweis  dafür,  daß  auch  in  der  Litteratur 
nicht  immer  das  Beste  gleich  den  größten  Erfolg  hat.  Wenn  „Francion" 
seine  Beliebtheit  vorzugsweise  durch  seine  realistische  Manier  erlangt 
hätte,  so  müßten  wir  in  der  weiteren  Entwicklung  der  Litteratur  eine 
steigende  Tendenz  in  dieser  Richtung  bemerken.  Dies  ist  aber  nicht  der 
Fall,  denn  Romane,  wie  Jean  de  Lannels  ., Roman  satirique"  (1624), 
Clervilles  „Gascon  extravagant"*  oder  Du  Verdiers  „Chevalier  hypocon- 
driaque"  waren  nur  schwache  Nachahmungen  des  Sorel'schen  Werks, 
und  auch  die  späteren  Romane  dieser  Art,  wie  Scarrons  und  Furetieres 
Erzählungen,  erwiesen  sich  ohne  nachhaltige  Wirkung.  Darum  erscheint 
der  Schluß  wol  gerechtfertigt,  daß  „Francion"  seine  Popularität  zum 
großen  Teil  den  eingestreuten  obscönen  Geschichten  verdankt. 

Trotz  seiner  Verbreitung  vermochte  indessen  aach  „Francion"  die 
Popularität  der  Schäferromane  nicht  zu  beeinträchtigen.  Auch  das  neue, 
kampflustige  Werk,  das  Sorel  1627  in  drei  Bänden  veröffentlichte:  „Le 
berger  extravagant",^)  brachte  ihnen  keinen  Schaden.  Sorel  griff  darin 
den  Schäferroman  aufs  neue  an,  wobei  er  sich  unverkennbar  an  das 
Vorbild  des  Don  Quixote  hielt.  Wie  dort  der  Hidalgo  durch  die  Lektüre 
der  Ritterromane  den  Verstand  verliert,  so  hier  Lysis  durch  die  vielen 
Schäferromane  und  Schäfergedichte,  an  deren  Wahrheit  er  glaubt.  Lysis 
kleidet  sich  als  Schäfer,  fällt  eines  Tags  in  den  hohlen  Stamm  einer 
Weide  und  glaubt,  er  sei  in  einen  Baum  verzaubert.  Die  Mittel,  die 
seine  Freunde  anwenden,  ihn  aus  dem  Stamm  heraus  zu  locken,  sind 
allerdings  sehr  ergötzlich,  allein  das  Ganze  ist  zu  lang  und  wird  monoton. 
Zudem  ist  Sorel  so  gänzlich  des  poetischen  Gefühls  bar,  daß  er  jede 
Poesie  als  unwahrscheinlich  und  unnatürlich  verurteilt,  und  von  der 
Iliade  so  wenig  wissen  will,  wie  von  den  girrenden  Pastoralgedichten 
seiner  eigenen  Zeit. 

Weitaus  der  bedeutendste  Roman  der  ganzen  Gattung  war  Scarrons 
„Roman  comique",  der  allerdings  bedeutend  später,  erst  1651 — 1657, 
erschien.  Der  Name  Scarron  führt  uns  zu  der  burlesken  Dichtung  über, 
die  den  schärfsten  Gegensatz  gegen  die  herrschende  Geistesrichtung  dar- 
stellt, und  deren  Hauptvertreter  eben  Scarron  war.  Wir  betrachten  des- 
halb Scarrons  Leben  und  Thätigkeit  im  Zusammenhang,  weil  der  Charakter 
der  einzelnen  Werke  dann  umso  besser  hervortritt. 

Paul  Scarron  war  1610  oder  1611  zu  Paris  geboren.  Sein  Vater 
war  Parlamentsrat,    und  besaß  ein  großes  Vermögen.^)    Die  Kinder  er- 


1)  „Le  berger  extravagant,  oü,  parmi  des  fantasies  amoureuses,  Ton  voit 
les  impertinences  des  romans  et  de  la  poesie."  Manche  Ausgaben  haben  auch 
geradezu  den  Titel  „L'Antiroman". 

2)  Nach  Parfaict  VI,  341  hatte  er  mehr  als  20.000  Livres  Rente. 


561 

li  leiten  eine  gnte  Erziehung,  allein  sie  verloren  frühzeitig  ihre  Mutter. 
Der  Vater  heiratete  noch  einmal,  und  mit  der  Stiefmutter  zog  Zwietracht 
in  das  Haus.  Paul  Scarron  führte  ein  lockeres  Leben  nach  Art  der 
jungen,  reichen  Leute,  und  sah  sich  bald  mit  dem  Vater  aufgespanntem 
Fuß.  Selbst  in  ihren  litterarischen  Ansichten  standen  sie  einander  gegen- 
über. Dieser  pries  Ronsard  und  die  alte  Dichterschule,  der  Sohn  hielt 
es  mit  Malherbe  und  der  neuen  Manier,  und  gefiel  sich  in  freigeistigen 
Ideen.  So  lang  der  Vater  seine  Stellung  inne  hatte,  konnte  Paul  sein 
sorgloses  Leben  fortsetzen,  ging  auch  einmal  nach  Rom.  und,  nahm,  um 
nicht  ganz  ohne  Stellung  zu  sein,  die  kleinen  Weihen.  Das  erlaubte  ihm, 
geistliches  Gewand  anzulegen,  verpflichtete  ihn  aber  zu  nichts.  Im 
Jahr  1639  aber  überfiel  ihn  plötzlich  eine  schwere  Krankheit,  die  ihn 
lähmte  und  zum  armseligen  Krüppel  machte.  Er  war  erst  27  Jahre  alt. 
Seit  jener  Zeit  war  tes  ihm  unmöglich  zu  gehen;  zu  einem  Z  verzogen, 
wie  er  über  sich  selbst  spottend  sagte,  saß  er  unbehilflich  in  einem 
Lehnstuhl,  fortwährend  von  Schmerzen  gepeinigt  und  von  Schlaflosigkeit 
geplagt.  Nur  Opium  brachte  ihm  momentane  Hilfe.  Einige  Jahre  später 
verlor  sein  Vater  seine  Stelle.  Das  Parlament  war  in  ofienen  Streit  mit 
Richelieu  geraten  und  dieser  verbannte  die  heftigsten  Oppositionsredner 
aus  Paris,  ja  er  entsetzte  sie  widerrechtlich  ihres  Amts  (1641).  Zu  diesen 
letzteren  gehörte  auch  Scarron,  der  seinen  Sturz  nur  kurze  Zeit  über- 
lebte. Bei  seinem  Tod  zeigte  es  sich,  daß  das  Vermögen  zerrüttet  war. 
Über  die  Erbschaft  entspann  sich  zudem  noch  ein  Prozeß  zwischen  den 
Kindern  der  ersten  und  zweiten  Ehe,  der  zu  gunsten  dei'  letzteren  ent- 
schieden wurde.  Der  Kranke  sah  sich  mit  einem  Mal  verarmt  und  seine 
Lage  schien  verzweifelt.  Allein  trotz  der  heftigsten  Schmerzen  verlor  er 
seinen  Lebensmut  und  seinen  Humor  nicht,  und  diese  Elasticität  des 
Geistes  rettete  ihn.  Auf  seinen  Lehnsessel  gebannt,  wußte  er  doch  einen 
belebten  Kreis  um  sich  zu  vereinigen.  Seine  elegant  ausgestattete  Woh- 
nung bildete  einen  Hauptsammelplatz  der  frivolen  und  geistreichen  jungen 
Aristokraten.  Man  konnte  sicher  sein,  bei  ihm  gute  Gesellschaft  und 
heiteie  Unterhaltung  zu  finden.  Sein  Witz  war  unerschöpflich,  aber  nicht 
bitter.  Von  Schulden  bedrängt,  ließ  er  sich  deshalb  nicht  aus  seinem 
Gleichmut  bringen.  Ging  es  doch  in  dieser  Hinsicht  vielen  seiner  vor- 
nehmen Bekannten  nicht  besser.  Außer  dem  Humor  hatte  sich  Scarron 
noch  einen  guten  Magen  und  gesunden  Appetit  bewahrt,  und  gar  oft 
fanden  sich  seine  Freunde  zu  einem  fröhlichen  Mahl  bei  ihm  zusammen. 
Jeder  brachte  dann  seine  Spende  für  die  Tafel  mit,  die  dadurch  oft  gar 
sonderbar  zusammengestellte  Gerichte  sah,  um  die  sich  aber  immer  lustige 
Gesellen  gruppierten.  Eine  Reihe  von  Episteln,  gereimten  Briefchen, 
gingen  von  ihm  an  seine  Gönner  und  Gönnerinnen.  Sie  sind  zum  Teil 
erhalten  und  in  seinen  Werken  mitgeteilt.  Sie  richtig  zu  beuiteilen,  darf 
man  sie  nicht  als  Gedichte  ansehen;  sie  haben  keinen  An.spruch  auf 
litterarischen  Wert,  sondern  können  nur  als  Proben  des  Tons  gelten, 
der  in  jener  Gesellschaft  herrschte.  Als  Patient  erlaubte  sich  Scarron 
ganz  besondere  Freiheiten  der  Rede.  Geschmackvoll  waren  seine  Episteln 
selten,    geistvoll  auch    nicht  oft;    der  Reiz,    den  sie  für    seine  Freunde 

Lotheiße II,  Gesch.  d.  franz.  Litteratur.  ^g 


562 


hatten,  lag  hauptsächlich  in  den  eigentümlichen,  possierlichen  Wendungen 
und  dem  burlesken  Ton,  mit  dem  er  ernste  Fragen  behandelte.  Auch  der 
Heroismus,  mit  dem  er  seine  Leiden  ertrug,  mag  viel  zu  der  freundlichen 
Aufnahme,  die  seine  Schreiben  fanden,  beigetragen  haben.  Selbst  dem 
König  erlaubte  sich  Scarron  in  einem  gereimten  Gesuch  zu  sagen,  er 
sei  ein  armer  Krüppel  —  aber  er  wählte  dazu  ein  burleskes  Wort  — 
und  weine  nber  sein  Leiden  wie  ein  Kalb,  cft  auch  wie  zwei  oder  vier 
Kälber. ')  Ein  Dankgedicht  an  einen  Bekannten  schloß  er  mit  den  Worten : 
, Adieu,  je  m'en  vais  me  coucher".-)  An  Pellisson,  der  im  Dienste 
Foucquets  stand  und  für  Scarron  eine  Pension  vom  Minister  erlangt 
hatte,  schrieb  er  in  ähnlichem  Stil,  halb  ernst,  halb  ironisch  gemeint, 
und  schloß  auch  hier  nach  vielen  Worten  des  Lobs  und  der  Erkennt- 
lichkeit: „Mais  il  est  tard,  je  m'en  vais  manger''.^)  Ein  andermal 
schickte  ihm  seine  Freundin,  MUe.  d'Escars,  eine  große  Pastete;  flugs 
antwortete  er  mit  launigen  Versen.  Als  sie  bei  einer  Spazierfahrt  mit 
dem  Wagen  umgeworfen  wurde,  beeilte  er  sich,  ihr  sein  Beileid  auszu- 
drücken, aber  nicht  ohne  derbe  Scherzworte,  und  wieder  mit  dem  trivialen 
Schluß:   „Es  schlägt  ein  Uhr,  ich  geh'  zu  Bett".'*) 

Seine  stete  Geldverlegenheit  machte  ihn  erfindungsreich.  Er  wandte 
.sich  an  die  ßegentin  und  schilderte  ihr  in  seiner  Weise  sein  Unglück. 
Wenn  sie  ihm  etwas  zuwende,  werde  sie  gleich  ein  ganzes  Hospital 
unterstützen,  und  er  bittet,  sie  möge  ihn  zu  ihrem  Hof-Kranken  er- 
nennen.■')  Die  Königin  bewilligte  ihm  ein  Geschenk  von  öOO  Ecus  und 
gab  ihm  bald  auch  dieselbe  Summe  als  jährliche  Pension.  Im  Jahr  1646 
erhielt  er  ferner   eine  kleine  Pfründe  in  Le  Mans.    Dies  genügte  nicht. 


1)  Requete  au  Roi,  v.  1 : 

Grand  monarque  chez  qui  mesdames  les  vertus 

Ont  choisi  leur  demeare, 
Je  suis  un  cul  de  jatte  ä  qui  membres  tortus 

Font  grand  mal  k  toute  heure. 


J'en  pleure  comme  uq  veau,  bien  souveiit  corame  deux. 
Quelquefois  comme  quatre.  . 

^)  Au  reverend  pere  Clausel  de  la  Mercy.  Epitre. 

3)  A.  M.  Pellisson.  Epitre  IL 

*)  A  l'infante  d'Escars,  epitre.  —  A.  Mlle.  d'Escars.  Le  voyage  de  la  Reine 
la  Barre: 

Mais  une  heure  vient  de  sonner, 
Je  ferai  bien  de  terminer 
Cette  bonne  ou  mauvaise  lettre; 
Et  puis  je  ne  sais  plus  qu'y  mettre. 
Pardonnez  ä  votre  cocher 
Adieu,  je  m'en  vais  me  coucher. 

■')  A  la  Reine-mere: 

Je  n'aurai  pas  peu  de  fierte 
D'etre  de  votre  majeste 
Le  tres  obeissant  malade. 


563 

und  so  verfiel  Scarron  auf  den  Gedanken,  auch  durch  seine  Feder  Geld 
zu  verdienen. 

Im  Jahr  1644  veröffentlichte  er  ein  burleskes  Epos  in  fünf  Ge- 
sängen, den  „Typhon".  Damit  führte  er  die  Burleske  in  die  Litteratur 
ein.  Diese  Gattung  ist  genau  betrachtet  nur  die  Negation  jeder  Poesie, 
eine  Verhöhnung  der  edleren  Gefühle  und  des  Sinns  für  Schönheit.  Denn 
die  Burleske  wählt  sich  zumeist  einen  heroischen,  hochdramatischen  Stoff, 
eine  epische  Erzählung,  und  behandelt  ihn  in  niedrig  komischer  Weise. 
Die  großen  Figuren  der  Sage  und  Geschichte,  des  Epos  und  der  Tra- 
gödie bleiben,  aber  sie  werden  zur  Gemeinheit  herabgezerrt.  Durch  diesen 
Gegensatz  allein  sucht  die  Burleske  zu  wirken.  Sie  setzt  an  die  Stelle 
des  wahren  und  schönen  Ausdrucks  ein  falsches  und  häßliches  Wort, 
und  während  sie  das,  was  groß  ist,  mit  kleinlichen  Mitteln  schildert, 
bauscht  sie  das  Armselige,  Vergängliche  durch  hochtrabende,  bombastische 
Redensarten  bis  zur  Lächerlichkeit  auf.  Die  Burleske  giebt  sich  als  die 
Gegnerin  des  gezierten,  unwahren  Stils,  sie  will  die  Affektion  in  der 
Litteratur  bekämpfen,  aber  sie  ist  selbst  nur  ein  Beweis  des  verdorbenen 
Geschmacks.  Wie  jene  steht  auch  sie  auf  schwankem  Boden,  auch  sie 
erhält  sich  nur  durch  die  Unnatur.  So  kann  sie  wol  die  Menge  zum 
Lachen  bringen,  aber  Abhilfe  kann  sie  nicht  schaffen.  Die  Burleske 
unterscheidet  sich  wesentlich  von  dem  heroisch-komischen  Gedicht.  Das 
letztere  besingt  kleine  Vorgänge  in  heroischer  Sprache  und  läßt  Kaum 
für  geistreiches  Spiel.  Denn  es  sinkt  nie  zur  Gemeinheit  herab,  wirkt 
aber  oft  erheiternd  durch  den  Gegensatz  zwischen  Form  und  Inhalt.  Man 
denke  an  den  „Froschmäuslerkrieg''  und  Boileaus  „Lutrin".  Die  burlesken 
Gedichte  waren  der  Mehrzahl  nach  in  achtsilbigen  Versen  verfaßt,  weil 
sich  dieses  Metrum  zur  leichten  Plauderei  am  meisten  eignet  und  der 
Prosa  nahe  kommt.  Bald  sprach  man  kurzerhand  von  dem  „burlesken 
Vers",  was  zu  manchem  Irrtum  Veranlassung  gegeben  hat.  Denn  die 
Leichtigkeit,  mit  der  man  ihn  handhaben  konnte,  bewog  manche  Dichter- 
linge, auch  ernstere  Gegenstände  in  diesem  Maß  zu  behandeln.  Es  ist 
bekannt,  daß  ein  Gedicht,  „La  passion  de  Notre  Seigneur  en  vers  bur- 
lesques",  welches  1649  erschien,  zwar  nicht  bei  den  Zeitgenossen,  wol 
aber  bei  den  späteren  Kritikern,  die  nur  den  Titel  sahen,  als  eine  Blas- 
phemie Entrüstung  hervorrief,  da  es  doch  nur  in  achtzeiligen  Versen 
verfaßt  war. 

Eines  schönen  Sonntag  nachmittags,  nach  einem  guten  Mittag- 
mahl, erzählt  Scarron  im  ersten  Gesang  seines  Epos,  schlägt  Typhon 
seinen  Brüdern  und  Freunden,  den  Titanen,  in  Thessalien  ein  Kegelspiel 
vor.  Der  Vorschlag  wird  angenommen.  Riesige  Felsblöcke  stellen  die 
Kugeln  vor.  Doch  das  Verhängnis  will,  daß  einer  der  Titanen  aus  Un- 
geschicklichkeit Typhon  eine  Kugel  ans  Bein  wirft,  und  dieser  ergreift 
im  ersten  Zorn  Kugeln  und  Kegel  und  schleudert  sie  fort,  so  weit  er 
kann.  Unglücklicherweise  fliegen  sie  bis  auf  den  Olymp  in  die  Behausung 
der  unsterblichen  Götter,  werfen  den  Schenktisch  um.  zerschlagen  Gläser 
und  Teller  und  richten  noch  sonstiges  Unheil  an.  Entrüstet  ob  dieses  Frevels, 
entsendet  Jupiter  seinen  Boten  Merkur    und  fordert  unter  schrecklichen 

36* 


564 


Drohungen  Ersatz,  hundert  venetianische  Gläser  zum  wenigsten.  Abev 
Tj^phon  und  seine  gottlose  Bande  verspotten  den  Abgesandten  der  Olympier 
und  so  beginnt  der  Krieg.  Nachdem  der  zweite  Gesang  von  dem  Kriegsrat 
der  Götter  erzählt  hat,  schildert  der  dritte  den  Überfall,  den  die  Titanen 
wagen,  den  Kampf  und  die  Flucht  der  Götter.  Armselig  ziehen  sie 
durch  die  Lande,  Merkur  versetzt  das  Halsband  der  Venus  und  kauft 
dafür  Kleider  bei  einem  Juden,  und  so  sonderbar  kostümieren  sich  die 
Götter,  daß  man  sie  für  wandernde  Schauspieler  hält.  Zum  Glück  treffen 
sie  Herkules,  der  ihnen,  einem  Orakelspruch  zufolge,  allein  zum  Sieg 
verhelfen  kann.  (Vierter  Gesang.)  Von  frischem  Mut  belebt,  kehren  sie 
zur  Wahlstatt  zurück,  erneuern  den  Kampf  und  siegen  endlich  nach 
großer  Anstrengung. 

Ein  Jahr  nach  dem  Erscheinen  des  „  Typhon "  (1645)  veröffent- 
lichte Scarron  eine  Sammlung  seiner  Gedichte  und  einige  nach  spani- 
schen Mustern  gearbeitete  Novellen.  Einmal  auf  die  große  Litteratur  des 
Nachbarlandes  aufmerksam  gemacht,  fand  er  in  ihr  noch  weitere  Hilfe. 
Eine  reiche  Mine  entdeckte  er  besonders  in  dem  spanischen  Theater, 
aus  dem  er  mehrere  Lustspiele  und  Tragikomödien  ins  Französische 
übertrug.  Er  nahm  den  Plan,  die  Haltung  des  spanischen  Stücks,  änderte 
nicht  einmal  die  Namen  und  den  Schauplatz,  wie  es  Corneille  in  seinem 
„Menteur"  und  der  ..Suite"  gethan  hatte,  und  versuchte  auch  nicht, 
seiner  Bearbeitung  etwas  französischen  Geist  einzuhauchen.  Nur  in  der 
Behandlung  der  Sprache  erlaubte  er  sich,  seine  eigenen  Wege  zu  gehen. 
So  sind  denn  seine  dramatischen  Werke  ohne  besondere  Bedeutung  für 
die  Geschichte  des  französischen  Theaters  geblieben.')  Sie  bieten  die 
Manier  des  spanischen  Degen-  und  Mantelstücks  mit  den  herkömmlichen 
Personen,  den  ritterlichen  Liebhabern,  die  alle  einander  ähnlich  sehen, 
den  heißblütigen  und  etwas  leichtsinnigen  Damen,  und  sie  erheitern  durch 
die  bekannten  Mittel,  durch  Intriguen.  Verkleidungen  und  Verwicklungen 
aller  Art.  Die  traditionelle  Romantik  des  spanischen  Landes  —  Balkon- 
scenen,  Entführungen,  Duelle  —  alles  hat  Scarron  beibehalten.  Nur  die 
Reihe  der  lustigen  Personen  hat  er  durch  seinen  „Jodelet"  vermehrt. 
Jodelet  ist  der  spanische  „Graciosa"  in  seiner  gemeinsten  Metamorphose. 
Er  ist  der  durchtriebene  Diener,  den  das  Lustspiel  der  früheren  Zeit 
nicht  glaubte  entbehren  zu  können.  Aber  Scarron  überbot  in  seiner 
Zeichnung  noch  den  Cynismus  der  früheren  Possen  und  ließ  seiner 
übermütigen  und  frechen  Laune  freien  Lauf.  Er  schilderte  Jodelet  als 
einen  gefräßigen,  plumpen  und  feigen  Menschen,  der  durch  keinen  Zug, 
sei  es  der  Anhänglichkeit  oder  auch  nur  der  Geistesgegenwart  und 
Schlauheit,  die  Sympathie  der  Zuschauer  erwirbt.  Jodelet  bringt  wol  zum 
Lachen,  spielt  aber  eine  durchaus  verächtliche  Rolle.  Scarron  hat  in 
ihm  offenbar  ein  Gegenbild  gegen  den   „Helden"    des  vornehmen  Schau- 


1)  Die  Titel  seiner  Stücke  sind:  „Le  marquis  ridicule",  com.;  „L'ecolier 
de  Salamanque-',  tragicom.;  „L'Heritier  ridicule",  com.;  „Jodelet  duelliste'' 
(früher  betitelt:  „Jodelet  soufflete  ou  les  ^  Dorothees),  com.;  „Jodelet  ou  le 
maitre  valet",  com.;  „Dom  Japhet  d'Armenie",  com.;  „La  fausse  apparence", 
com.;  „Le  prince  corsaire",  tragicom. 


565 


Spiels  und  des  Eomans  aufstellen  wollen.  Dies  tritt  besonders  in  der 
Posse  „Jodelet  ou  le  maitre  valet"  (1645)  zutage.  In  einigen  Stanzen, 
welche  die  Art  der  tragischen  Monologe  persifflieren,  rühmt  Jodelet  dort 
sein  Los.  „Gesegnet  sei  der  Himmel",  ruft  er  aus.  „der  mich  so  arm- 
selig schuf,  daß  ich  den  Knoblauch  höher  schätze,  als  die  Ehre!"  Seiner 
Ansicht  nach  lebt  sichs  in  der  Gemeinheit  am  besten !  Und  warum  sollte 
man  sich  ereifern,  wenn  einem  fünf  Finger  auf  die  Wange  fahren?  Auch 
der  Barbier  legt  den  Leuten  ja  die  Hand  ins  Gesicht.^)  - 

Die  Scarron'schen  Lustspiele  unterscheideii  sich  von  anderen  ähn- 
lichen Stücken  duich  ihren  leichten,  rasch  fließenden  Dialog.  Man  findet 
zwar  nirgends  eine  feine  psychologische  Wendung  oder  eine  auffallende 
Charakterzeichnung.  Scarron  bleibt  auf  der  Oberfläche.  Aber  er  hat  das 
Talent,  die  Scenen  in  unterhaltender,  witziger  Manier  zu  entwickeln,  und 
insofern  hat  er  beigetragen,  Meliere  die  Bahn  zu  ebnen.  Wenn  man 
seine  Lustspiele  jedoch  mit  jenen  Corneilles  vergleicht,  sieht  man  augen- 
blicklich, wie  völlig  Scarron  noch  zu  der  alten  Schule  gehörte.  Das 
Charakterlustspiel  war  ihm  völlig  fremd. 

1648  ließ  Scarron  seinen  „Virgile  travesti"  folgen,  der  noch  mehr 
Glück  hatte  als  der  „Typhon",  und  als  das  Vorbild  und  Hauptwerk  der 
ganzen  Gattung  anerkannt  wurde.  Scarron  travestierte  darin  in  seiner 
platten  Manier  die  Virgil'sche  Äneide.  Es  giebt  kaum  ein  schlimmeres 
Zeichen  für  den  verirrten  Geschmack,  der  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts 
nach  der  Herrschaft  strebte,  als  der  Beifall,  den  dieses  langatmige, 
burleske  Epos  sich  erwarb.  Mit  Recht  fand  Boileau  in  der  niedrigen, 
mit  der  Gemeinheit  der  Gedanken  und  des  Ausdrucks  sich  brüstenden 
Litteratur  die  äußerste  Grenze  des  Ungeschmacks.-)  Einige  gelungene 
Einfälle  können  über  die  W^itzlosigkeit  der  ganzen  Gattung  nicht  täuschen, 
die  darum  auch  bei  dem  Beginn  der  neuen  großen  Epoche  rasch  und 
spurlos  verschwand. 

Dauernde  Bedeutung  erwarb  von  allen  Werken  Scarrons  nur  sein 
.Roman  comique".  Dieses  Buch  führt  uns  zu  der  erzählenden  Litteratur 
'zurück,  in  der  wir  bereits  eine  starke  oppositionelle  Strömung  erkannt 
hatten.  Wie  Sorel  in  seinem  „Francion"  die  realistische  Manier  anzu- 
wenden suchte,  so  wandte  sich  auch  Scarron  in  seinem  Roman  der 
Schilderung  der  derben  Wirklichkeit  zu.  Die  Idee  dazu  soll  er  auf  einer 
Reise  gefunden  haben.  In  Le  Mans  sei  er,  so  wird  erzählt,  mii  einer 
wandernden  Schauspielertruppe  zusammengetroffen,  und  diese  Begegnung 


1)  Jodelet  ou  le  maitre  valet,  IV,  2  (Stances). 
Str.   1.  v.  9—11: 

Que  beni  soyex-vous,  seigneur, 
Qui  m'avez  fait  un  miserable 
Qui  prefere  l'ail  ä  l'honneur. 

Str.  2,  V.  10  und  11: 

D'etre  peu  beaucoup  je  me  prise, 
II  n'est  lien  tel  qu'etre  pied-plat. 

2)  Boileau,  Art  Poetique,  I,  79—90. 


566 


habe  ihm  den  Plan  eingegeben,  die  Kreuz-  und  Querzüge  einer  solchen 
Gesellschaft  zu  erzählen. 

Der  „Roman  comique"  erschien  in  zwei  Teilen  (1651).  In  Form 
und  Anlage  schloß  er  sich  den  früheren  Romanen  an.  Um  eine  einfache 
Erzählung  gruppieren  sich  eine  Menge  Episoden,  selbständiger  Novellen. 
Aber  so  lebhaft  wie  Scarron  hatte  noch  keiner  seiner  französischen 
Vorgänger  erzählt,  und  sein  Roman  bildet  einen  entschiedenen  Fortschritt 
in  der  Novellistik.  Seine  Schilderungen  sind  frisch  und  natürlich ; 
überall  fühlt  man.  wie  er  bemüht  war,  auf  dem  realen  Boden  zu  bleiben. 
Darum  verlegte  er  auch  den  Schauplatz  seiner  Erzählung  in  die  Stadt 
und  Umgegend  von  Le  Maas,  die  er  genau  kannte.  Der  Roman  beginnt 
mit  der  Schilderung  des  malerischen  Einzugs  einiger  Schauspieler 
in  der  genannten  Stadt.  Auf  einem  von  vier  Ochsen  und  einem  Pferd 
gezogenen  Karren  werden  die  Habseligkeiten  der  Gesellschaft  transportirt. 
Auch  eine  Alte  hat  Platz  auf  dem  Fuhrwerk  gefunden,  während  zwei 
Männer  nebenher  schreiten.  Ihre  Tracht  ließe  eher  auf  Zigeuner  schließen. 
Allerdings  sind  sie  mehr  auf  einem  fluchtartigen  Zug  als  auf  einer 
friedlichen  Kunstreise  begriffen.  Sie  hatten  ihre  Bühne  in  Tours  auf- 
geschlagen, aber  ihr  Portier  hatte  dort  das  Unglück,  einen  Mann  zu 
erschlagen,  und  so  brachen  sie  bei  Nacht  und  Nebel  auf,  um  sich  zu 
retten.  Unterwegs  trennten  sie  sich,  mit  dem  Versprechen,  in  Alencon 
wieder  zusammenzutreffen.  Die  paar  Künstler,  die  nach  Le  Mans  kommen, 
erregen  die  Neugierde  des  Publikums,  und  noch  am  Tag  ihres  Ein- 
treffens spielen  sie  trotz  ihrer  geringen  Zahl  vor  dem  kunstsinnigen 
Publikum  des  Städtchens  auf  einer  improvisirten  Bühne  und  mit  sehr 
primitiver  Ausstattung  Tristans  berühmtes  Trauerspiel  „Mariamne". 
Man  weiß  eben  die  Stücke  den  Bedürfnissen  des  Augenblicks  gemäß 
einzurichten.  Bald  finden  sich  noch  andere  Mitglieder  der  versprengten 
Truppe  in  Le  Mans  ein.  und  eine  Reihe  bunter  Bilder  gleitet  an  dem 
Leser  vorüber.  Die  Hauptpersonen  der  Gesellschaft  sind  der  jugendliche 
Held   ^Le  Destin".   der  Sohn  eines  armen  Edelmanns. 

Er  ist  nach  vielen  Abenteuern  endlich  Schauspieler  geworden, 
um  seiner  Geliebten,  Leonore,  die  durch  den  Tod  ihrer  Mutter  in  bittere 
Verlegenheit  geraten  ist,  zu  helfen.  Auch  Leonore  geht  unter 
dem  Namen  „L'Etoile"  auf  die  Bühne  und  entzückt  die  Zuschauer 
jedesmal  durch  ihre  Kunst  und  ihre  Schönheit.  Zudem  ist  sie  untadelhaft 
in  ihrem  Benehmen.  Dafür  wird  ihr  von  vielen  Seiten  nachgestellt. 
Zuerst  von  dem  bösartigen  Polizeibeamten  La  Rappinere,  der  ein  Aus- 
bund von  Gemeinheit  ist,  dann  von  einem  ausschweifenden  Junker,  der 
vor  keiner  Blutthat  zurückscheut,  Leonore  rauben  läßt  und  dem  Lo  Destin 
nur  durch  ein  Zusammentreffen  glücklicher  Umstände  seine  Beute  recht- 
zeitig wieder  entreißen  kann.  Außer  diesen  gefährlichen  Bewerbern 
findet  sie  in  dem  kleinen  Advokaten  Ragotin  noch  einen  komischen 
Verehrer.  Aus  Leidenschaft  für  die  Künstlerin  läßt  er  sich  in  die 
Gesellschaft  aufnehmen ;  seine  Liebe  kostet  ihn  viel  Geld,  da  er  die 
Kameraden  häufig  freihalten  muß,  und  er  gerät  in  eine  Menge  komischer 
und  für  ihn  peinlicher  Abenteuer.  Neben  Le  Destin  und  L'Etoile  erscheint 


567 

noch  eine  Reihe  von  „Künstlern".  An  ihrer  Spitze  der  alte,  durch- 
triebene, gemeine  La  Rancime.  das  Bild  eines  durch  viele  Erfahrungen 
um  jede  Illusion  gebrachten  Menschen,  der  nur  an  sich  denkt,  jeden 
Umstand  zu  benutzen  weiß  und  selbst  einen  gelegentlichen  Diebstahl 
für  einen  hübschen  Scherz  ansieht,  der  jeder  Rolle  gewachsen  ist  und 
sich  für  den  besten  aller  Schauspieler  früherer  und  jetziger  Zeit  hält. 
Die  Schauspieler  haben  oft  auch  Schüler,  die  zugleich  Dienerstelle  ver- 
sehen und  allmählich  in  die  Geheimnisse  der  Kunst  eingeweiht  werden. 
Wir  finden  also  hier  ein  ähnliches  Verhältnis  wie  das  zwischen  den 
..Füchsen"  und  „Burschen"  der  deutschen  Universitäten  in  früheren 
Zeiten.  Scarron  führt  indessen  nicht  allein  in  das  Zigeunerleben  der 
wandernden  Schauspieler  ein ;  wie  im  Vorübergehen  erlaubt  er  einen 
interessanten  Einblick  in  das  Privatleben  des  Bürgertums.  Wenn  er  in 
La  Rappiniere  den  Spottvogel  der  kleinen  Stadt  zeigt,  der  sich  jeden  Abend 
in  den  Wirtshäusern  umhertreibt  und  auf  Kosten  Anderer  zu  zechen  ver- 
steht, so  erzählt  er  uns  dann  auch,  wie  Mademoiselle  La  Rappiniere,  die 
Frau  des  Genannten,  abends  allein  zu  Hause  bei  ihrer  Kohlsuppe  sitzen 
muß.  Durch  eine  Reihe  solcher  kleinen  Züge  weiß  er  seine  Bilder  zu 
beleben  und  anziehend  zu  machen. 

Der  „Roman  comique"  steht  in  litterarischer  Beziehung  weit 
über  dem  „Francion",  und  sein  Einfluß  auf  die  spätere  Entwicklung 
des  Romans  ist  nicht  zu  unterschätzen.  Doch  war  es  Scarron  nicht 
vergönnt,  ihn  zu  beenden,  und  der  letzte  Teil  rührt  von  fremder  Hand 
her.  Die  Fronde  hatte  auch  seine  Stellang  geändert.  Befreundet  mit 
vielen  Herren  des  aufständischen  Adels  und  von  dem  Geist  der  Pariser 
Bevölkerung  mit  fortgerissen,  vergaß  er  den  Dank,  den  er  der  Königin 
schuldete,  und  wurde  einer  der  heftigsten  Frondears.  Man  schrieb,  wie 
schon  gesagt,  ihm  die  schärfsten  Epigramme  und  die  schmutzigsten 
Lieder  zu,  die  damals  gegen  Mazarin  verbreitet  wurden.  Natürlich  verlor 
er  seine  Pension.  Dazu  kam  die  allgemeine  Zerrüttung,  welche  auch  die 
Geschenke  der  Gönner  seltener  machte,  und  so  verschlimmerte  sich  die 
Lage  des  kranken  Manns.  Er  faßte  den  abenteuerlichen  Plan,  auszu- 
wandern. Die  Aufmerksamkeit  Frankreichs  wendete  sich  damals  ganz 
besonders  auf  die  Anlagen  überseeischer  Kolonien.  Erst  später,  unter 
Ludwig  XIV.  und  Colberts  Regierung  wurde  der  Gedanke  in  großem 
Maß  verwirklicht.  In  der  Zeit  der  Regentschaft  hatte  man  aller- 
dings schon  eine  Aktiengesellschaft  gebildet,  und  einen  Kolonisations- 
versuch in  Cayenne  gemacht,  allein  das  Unternehmen  schleppte  sich 
nur  mühsam  hin.  Scarron  glaubte  in  dem  heißen  Klima  von  Südamerika 
seine  Gesundheit  wieder  zu  erlangen  und  zugleich  seine  Vermögens- 
verhältnisse zu  verbessern.  Er  kaufte  für  1000  Ecus  Aktien,  wie  er 
an  seinen  Freund  Sarrasin  schrieb,  und  war  bereit,  Paris,  dem  Theater, 
den  burlesken  Versen  und  dem  Roman  Valet  zu  sagen.  Doch  gab  er 
bald  seinen  Plan  auf,  als  er  vernahm,  wie  wenig  Erfolg  die  erste 
Sendung  von  Auswanderern  am  Orinoko  gehabt  hatte.  Statt  dessen 
entschloß  er  sich  zu  einem  andern  Schritt,  der  bei  ihm  nicht  minder 
überraschen  mußte.     Er   verheiratete    sich  mit  einem  noch  ganz  jungen 


568 


Mädchen,  Francoise  d'Aubigne,  einer  Enkelin  des  Verfassers  der 
„Tragiques"  (Juni  1652).')  Die  Schicksale  dieser  Frau  sind  wechselvoll 
und  abenteuerlich,  wie  die  weniger  Menschen.  Im  Kerker  geboren,  im 
Elend  aufgewachsen,  einem  Krüppel  angetraut,  endete  sie  als  die  Gattin 
des  mächtigsten  Königs  von  Frankreich.  Ihr  Vater  war  Constant 
d'Aubigne,  Agrippa  d'Aubignes  Sohn.  Er  war  von  seinem  Glauben  ab- 
gefallen und  hatte  die  Hugenotten  verraten.  Sein  Vater,  der  starre 
Protestant,  hatte  ihn  dafür  verstoßen  und  verflucht.  Constant  war  ein 
Wüstling  und  Spieler,  ohne  Halt,  und  so  verlor  er  auch  bald  die  Gunst 
des  französischen  Hofes,  der  sich  ihm  anfangs  sehr  gewogen  gezeigt 
hatte.  Auf  Befehl  der  französischen  Regierung  wurde  er,  angeblich 
wegen  geheimer  Verbindungen  mit  England,  verhaftet  und  in  das 
Gefängnis  nach  Niort  gebracht.  Seine  Frau  wollte  sich  nicht  von  ihm 
trennen  und  gebar  (1635)  im  Gefängnis  eine  Tochter,  die  man  Fran9oise 
nannte,  und  die  später  als  Marquise  de  Maintenon  so  einflußreich 
werden  sollte.  Sie  war  das  dritte  Kind  und  wurde  von  einer  Schwester 
Constants,  Madame  de  Villette,  nebst  ihren  beiden  älteren  Geschwistern 
aus  dem  frostigen  Gefängnis  weggenommen,  um  eine  sorgsame  Erziehung 
zu  erhalten,  und  im  Glauben  der  Familie,  im  Protestantismus,  erzogen 
zu  werden.  Aber  Constant  d'Aubigne  erlangte  nach  einiger  Zeit  seine 
Freiheit  wieder  und  ging  mit  seiner  Familie  nach  Martinique,  um  dort 
sein  Glück  zu  versuchen.  Was  ihm  gute  Geschäfte  damals  eintrugen, 
vergeudete  er  im  Spiel,  und  als  er  um  das  Jahr  1645  starb,  hinterließ 
er  die  Seinen  in  Armut.  Die  Witwe,  eine  ernste,  strenge  Frau,  kehrte 
mit  den  Kindern  nach  Frankreich  zurück.  Ihre  Tante  nahm  Franyoise 
wieder  zu  sich,  allein  ein  Befehl  der  Eegierung  entzog  dieselbe  ihrer 
Obhut  und  übergab  sie  einer  andern  Verwandten,  einer  strengen 
Katholikin.  Francoise  d'Aubigne  sollte  dem  katholischen  Glauben  ge- 
wonnen werden,  und  wurde,  da  sie  sich  nicht  fügte,  mit  großer  Strenge 
behandelt.  Zuletzt  steckte  man  sie  in  ein  Ursulinerinnenkloster  zu 
Paris.  Auch  hier  widerstand  sie,  so  lang  man  mit  Zwang  vorging,  gab 
aber  endlich  freundlichem  Zureden  Gehör.  Als  vierzehnjähriges  Mädchen 
war  sie  einmal  durch  ihre  Verwandte  in  das  Haus  Scarrons  geführt 
worden,  und  hatte  den  Kreis  der  Besucher  und  Scarron  selbst  durch 
ihre  Schönheit  und  ihr  schüchternes  Wesen  entzückt.  Mit  ihrer  Mutter 
kehrte  sie  nach  einiger  Zeit  nach  Niort  zurück,  und  als  diese  bald 
darauf  starb,  stand  sie  ganz  allein.  Scarron  interessirte  sich  für  sie. 
er  wechselte  Briefe  mit  ihr  und  bot  ihr  zuletzt  seine  Hand  an.  Francoise 
d'Aubigne  nahm  an,  und  wurde  mit  17  Jahren  die  Frau  eines  gelähmten 
kranken  Mannes  von  42  Jahren.  Scarron  wollte  dem  Mädchen  auf 
diese  Weise  eine  Stellung,  sich  eine  Pflegerin  geben,  und  Francoise 
faßte  den  Vorschlag  in  dieser  Weise  auf.  Sie  zeigte  hier  schon  den 
kühlen  Verstand,  der  sie  in  ihrem  späteren  Leben  so  sicher  und  so 
weit  führte.  Jedenfalls  erfüllte  sie  die  Pflichten,  die  sie  übernommen 
hatte,  getreulich.   Sie  war  seine  sorgsame  Wärterin  in  den  Stunden  des 


')  Vergl.  Loret,  Gazette  du  15  juin  1652. 


569 


Schmerzes,  diente  ihm  als  Schreiberin  in  den  freieren  Augenblicken, 
und  verschönte  zugleich  den  geselligen  Kreis,  der  sich  bei  Scarron 
zusammenfand.  Es  gelang  ihr  sogar,  den  Ton  des  Hauses  zu  verbessern, 
und  mehr  Ordnung  darin  einzuführen.  Kein  Zweifel,  daß  die  Gesell- 
schaft, in  welche  sie  sich  versetzt  sah,  auch  auf  sie  Einfluß  hatte. 
Was  die  damalige  Zeit  bewegte,  wurde  dort  verhandelt,  nicht  in 
schwerfälligen  Debatten,  sondern  in  geistvollem  leichten  Gespräch.  Bald 
war  Madame  Scarron  nicht  allein  als  eine  der  schönsten,  sondern  auch 
als  eine  der  bedeutendsten  Frauen  von  Paris  berühmt,  und  besonders 
bewunderte  man  ihre  Kunst,  eine  feine  Unterhaltung  zu  führen.^)  Die 
Aufgabe,  die  sie  übernommen,  war  schwer  und  wurde  um  so  schwieriger, 
je  trüber  sich  die  äußeren  Verhältnisse  ihres  Gatten  gestalteten.  Scarron 
brauchte  Geld,  und  trug  kein  Bedenken,  nach  der  Besiegung  der  Fronde 
den  Kardinal  Mazarin  in  demütig  grotesker  Weise  um  Gnade  zu  bitten 
und  sich  gegen  seine  bisherigen  Genossen  zu  wenden.-)  Allein  Mazarin 
blieb  taub  und  der  Kranke  erlangte  seine  königliche  Gnade  nicht  wieder. 
Dafür  bewilligte  ihm  Foucquet,  der  mächtige  Finanzminister,  ein  jähr- 
liches Gehalt  von  1600  Livres  aus  seiner  Kasse  und  half  auch  sonst 
noch  durch  wiederholte  reiche  Geldgeschenke.  Er  wendete  ihm  auch 
das  Privilegium  zu,  eine  Anzahl  Leute  an  den  Thoren  der  Stadt  Paris 
aufstellen  zu  dürfen,  welche  den  ankommenden  Frachtfuhrleuten  den 
nächsten  Weg  zu  den  Kaufherren,  ihren  Abnehmern,  zu  zeigen  hatten. 
Scarron  soll  aus  diesem  Geschäft  jährlich  einige  tausend  Livres  ge- 
wonnen haben,  und  so  sah  er  seine  letzten  Jahre  wenigstens  frei  von 
pekuniären  Sorgen.  Er  starb   1660  mutig  und  heiter  wie  immer. 

Man    hat   Scarron    wol   mit   Heinrich  Heine    verglichen.    Aber   die 
Ähnlichkeit   zwischen    beiden    Männern    beruht    fast   nur   auf  Äußerlich- 


1)  Tallemant,  Historiettes.  (Articie  Scarron.)  —  Le  duc  de  Noailles. 
„Histoire  de  Mme.  de  Maintenon",  t.  I,  eh.  V.  Eine  kleine  Anekdote,  deren 
Wahrheit  nicht  verbürgt  ist,  zeigt  den  Stil  des  Hauses  Scarron  und  die  Gabe 
der  jungen  Hausfrau  vortreiflich.  Eines  Tags,  beißt  es,  seien  mehrere  Gäste  zu 
Tisch  bei  Scarron  gewesen.  Mme.  Scarron  habe  durch  ihre  Erzählungen  den 
ganzen  Kreis  belebt.  Da  habe  ihr  der  Diener  ins  Ohr  gesagt:  „Madame,  noch 
eine  Geschichte,  der  Braten  fehlt  uns  heute." 

-)  Sonnet  (Oeuvres  de  Scarron,  Paris  1786.  Bd.  VII,  S.  335): 

Jule,  autrefols  l'objet  de  l'injuste  satire, 

Est  aujourd'hui  Tobjet  de  l'amour  des  Prancois, 


Par  le  malheur  du  temps  ou  plutöt  pour  le  mien, 
J'ai  doute  d'un  merite  aussi  pour  que  les  sien. 
Mais  il  ne  m'a  pas  cru  digne  de  sa  colere. 
Je  confesse  un  peche  que  je  pourrois  eeler ; 
Mais  le  laissant  douteux,  je  croirois  lui  voler 
La  plus  grande  action  qu'il  ait  Jamals  pu  faire. 

Vergl.  das  Triolet  contre  les  frondeurs  (VII,  S.  314). 

Frondeurs,  vous  n'etes  que  des  fous, 
II  faut  desormais  filer  doux. 


570 


keiten,  während  ihre  geistige  Begabung  grundverschieden  war.  Wie 
Scarron  viele  Jahre  hindurch  von  schwerer  Krankheit  gequält  und  des 
Gebrauchs  seiner  Glieder  beraubt  war,  so  duldete  auch  Heine  in  den 
letzten  Jahren  seines  Lebens.  Beide  trugen  ihre  Leiden  mit  gleichem 
Heroismus  und  beide  bewahrten  die  Geistesfrische  und  die  heitere  Laune 
des  Philosophen  bis  zu  ihrem  Ende.  Aber  welche  Gegensätze  bieten  sie, 
wenn  man  genauer  vergleicht.  Heine  hat  nie  die  Großen  angebettelt, 
sich  nie  vor  den  Mächtigen  der  Erde  gedemütigt,  wie  Scarron.  Deshalb 
wollen  wir  mit  letzterem  nicht  allzu  strenge  ins  Gericht  gehen.  Einem 
Menschen  wie  Scarron,  der  nur  ein  halbes  Leben  führt,  erscheint  die 
Welt  in  anderem  Licht,  als  einem  gesunden  Menschen.  Auf  seinen 
Krankenstuhl  gebannt,  hätte  ein  Mann  mit  edlerem  Geist  sich  in  sich 
treibst  vertieft  und  seinen  Blick  auf  das  Große  gerichtet,  wie  es  Pascal, 
Searrons  Zeitgenosse,  gethan  hat.  Für  den  kleinen  Geist  mußte  sich  da- 
gegen der  Horizont  stets  verengern  und  das  Kleinliche.  Unbedeutende, 
Häßliche  an  Wert  gewinnen.  Es  freute  den  Armen,  alles  in  der  Welt 
armselig  zu  finden  und  zu  verspotten.  Aber  auch  in  seinem  Spott  ging 
Scarron  nicht  sehr  tief.  Wenn  er  alles  herabzerrte  in  das  Reich  des  Ge- 
wöhnlichen und  Niedrigen,  so  hatte  er  doch  nicht  die  Schärfe  des  Sati- 
rikers, den  schneidenden  Hohn  des  Menschenfeinds.  Wir  finden  nirgends 
eine  Stelle  bei  ihm,  wo  er  sich  revoltiert,  wo  er  dem  Schicksal  trotzig 
seine  Stirne  bietet,  wie  er  auch  keineswegs  zu  den  „Libertins"  zu  rechnen 
ist.  Seine  „Epitres  chagrines",  eine  Art  von  Satiren,  die  sich  bald  gegen 
einzelne  ungenannte  Mitglieder  der  Akademie  richten,  bald  zudringliche 
Leute  geißeln  oder  auch  einen  geckenhaften,  unwissenden  Poetaster 
zeichnen,  sind,  wenige  glückliche  Stellen  abgerechnet,  farblos  und  ohne 
satirische  Kraft.  Es  fehlte  Scarron  zum  Satiriker  die  Beobachtungsgabe, 
die  ja  doch  nur  im  Strom  des  Lebens  erlangt  und  geübt  wird,  die  Be- 
stimmtheit der  Grundsätze,  der  Schwung  des  Geistes.  Auch  der  Satiriker 
muß  dichterisch  fühlen  und  warm  empfinden,  muß  zürnen  und  sich  be- 
geistern können,  wenn  er  überhaupt  Eindruck  machen  will.  Aber  gerade 
der  Schwung,  die  poetische  Wärme,  das  Gefühl  für  Schönheit  fehlte 
Scarron.  Alle  diese  Eigenschaften  besaß  Heinrich  Heine,  und  wenn  er 
manchmal  an  Scarron  erinnert,  so  ist  dies  nur  in  nebensächlichen  Wen- 
dungen. Scarron  hat  u.  a.  eine  Reihe  von  Sonetten  verfaßt,  welche  in 
pomphaftem  Stil  beginnen,  um  durch  eine  burleske  Wendung  am  Schluß 
zu  überraschen.  Er  schildert  z.  B.  einen  Berg,  der  bis  in  die  Wolken 
lagt,  zerklüftet  und  mit  undurchdringlicher  Waldung  bedeckt  ist,  dessen 
Gipfel  sich  in  Feuer  hüllt,  um  am  Schluß  zu  sagen,  daß  ihm  auf  diesem 
Berg   nichts  Böses   begegnet   sei.')    Oder  er  schildert   den  riesigen  Bau 


1)  Sonnet,  Oeuvres,  VII,  S.  330: 

Un  mont  tout  herisse  de  rochers  et  de  pins, 
Colosse  qua  la  terra  oppose  au  choc  des  nues, 

Sur  ca  süperbe  mont,  jusqu'aux  cieux  eleve, 
Pour  vous  dira  la  chosa  eu  homrae  veritabla, 
II  na  m'est,  sur  mon  dieu,  Jamals  rien  arrive. 


571 


der  Pyramiden,  die  stolzen  Kaiserpaläste  zu  Rom,  die  trotz  ihrer  Festig- 
keit zu  Grunde  gehen,  und  schließt  damit,  daß  er  sich  deshalb  nicht 
wundere,  wenn  sein  Rock  schon  nach  zweijährigem  Dienst  am  Ellbogen 
zerreiße.^) 

Ähnliche  Wendungen,  in  welchen  der  Dichter  sich  selbst  ironisiert 
und  vorsätzlich  die  poetische  Stimmung  zerstört,  finden  sich  in  den  Ge- 
dichten Heines.  Aber  solche  einzelne  Züge,  die  beiden  gemeinsam  sind, 
begründen  noch  keine  Ähnlichkeit.  Selbst  in  der  Behandlung  der  Sprache, 
in  der  sie  auf  den  ersten  Blick  einige  Übereinstimmung  zeigen,  unter- 
scheiden sie  sich.  Bei  Scarron  fällt,  wie  bei  Heine,  zunächst  die  Leichtig- 
keit des  Ausdrucks,  der  Fluß  der  Rede  auf.  Beide  sind  einfach,  ohne 
Schwulst.  Cyrano  Bergerac  rechnete  es  Scarron  als  Hauptfehler  an,  daß 
er  die  Pointen  verschmähe.  Allein  welch  ein  Unterschied  bei  genauerer 
Betrachtung !  Welch  ein  Reichtum  von  Poesie  und  schönen  Bildern,  von 
feinen  Ausdrücken  in  den  leichten  Versen  Heines,  während  Scarron  nüch- 
tern und  schwunglos  bleibt  von  Anfang  bis  zu  Ende.  Mögen  Heines 
geistlose  Nachahmer  in  der  deutschen  Litteratur  viel  Unheil  angestiftet 
haben,  Heine  selbst  war  kein  Feind  der  Poesie,  wie  Scarron,  der  aus 
seiner  Burleske  jedes  poetische  Gefühl  verbannte.  Man  kann  die  Kraft 
und  den  Mut  Scarrons  bewundern,  mit  welchen  er  unter  jahrelangen 
Qualen  den  Humor  bewahrte;  aber  man  ist  deshalb  noch  kein  pedanti- 
scher Rigorist,  wenn  man  den  Witz  des  Dichters  Scarron  arm  und 
schwach  findet,  und  die  Richtung,  die  er  dem  litterarischen  Geschmack 
gab.  bedauert.  Er  war  eben  auch  ein  Produkt  jener  merkwürdigen  Über- 
gangsperiode, welche  gar  verschiedenartige  Erscheinungen  zu  Tage  brachte. 
Sein  Tod  fällt  mit  dem  Beginn  der  neuen  Zeit,  dem  Sieg  des  reineren 
Geschmacks  zusammen.  Auch  wenn  er  länger  gelebt  hätte  oder  wenn 
seine  Witwe  nicht  Ludwigs  XIV.  Gemahlin  geworden  wäre  und  man  so- 
mit nicht  schon  aus  Rücksicht  von  ihm  geschwiegen  hätte,  sein  Name 
wäre  doch  bald  in  das  Dämmerlicht  des  litterarischen  Halbruhms  zurück- 
gesunken. 


1)  Sonnet,  ibidem,  beginnend  mit  dem  Vers: 

Süperbes  monumens  de  Torgueil  des  humains. 
Zweite  Strophe: 

Vieux  palais  ruines,  chefs-d'oeuvre  des  Romains, 
Et  les  derniers  eflforts  de  leur  architecture, 
Collisee,  oü  souvent  ces  peuples  inhumains 
De  s'entr'assassiner  se  donnoient  tablature; 

Si  vos  marbres  si  durs  ont  senti  son  pouvoir, 

Dois-je  trouver  mauvais  qu'un  mechaut  poiirpoint  noir 

Qui  m'a  dure  deux  ans,  seit  peree  par  le  coude? 

Dieses  Sonett  citiert  Lessing  in  seiner  Abhandlung  über  das  Epigramm; 
A.  W.  Schlegel  hat  es  übersetzt., .Vergl.  Michael  Bernays'  „Entstehungsgeschichte 
der  Schlegel'schen  Shakespeare-Übersetzung",  S.  40  -41.  Nach  einer  brieflichen 
Mitteilung  von  Bernays  an  den  Verfasser  vom  21.  September  1884  sind  beide 
citierte  Gedichte  Nachbildungen  zweier  „sonetas  burlescas"  von  Lope  de  Vega. 
Sie  finden  sich  in  Cavetanas  „Tesoro  del  Parnaso  Espanol",  Paris  1838,  S.  288  ff. 


572 


Scarron  hatte  die  Burleske  in  die  Mode  gebracht;  mit  seinem  Tod 
verlor  sie  wieder  ihr  Ansehen,  so  viele  sich  auch  bemühten,  ihn  nach- 
zuahmen und  zu  überbieten.  Diese  Parasiten  der  Litteratur  verdienen 
nicht  weiter  erwähnt  zu  werden,  und  wenn  hier  noch  einmal  des  wan- 
dernden Virtuosen  Dassoucy  gedacht  wird,  so  geschieht  dies  nicht  wegen 
seiner  burlesken  Gedichte,  sondern  weil  der  Mann  durch  sein  Wesen 
einen  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Zeit  giebt  und  das  burleske  Sängertum 
drastisch  illustriert.  Wir  stoßen  plötzlich  auf  ein  kleines  Genrebild,  das 
schon  eines  Blicks  wert  ist. 

Wir  sind  Dassoucy  schon  einmal  begegnet,  als  wir  über  die  Künstler 
sprachen,  die  von  Schloß  zu  Schloß,  von  Stadt  zu  Stadt  zogen,  um  ihre 
Fertigkeit  zu  zeigen.^)  Dassoucy  aber  erhob  auch  den  Anspruch,  als 
Dichter  bewundert  zu  werden.  Nannte  er  sich  doch  selbst  den  „Kaiser 
des  burlesken  Reichs,  den  ersten  seines  Namens". 

Seine  zahlreichen  Dichtungen,  sein  „Ovide  en  belle  humeur",  sein 
,.Jugement  de  Paris"  und  seine  sonstigen  Reimereien,  die  zwar  eine  Zeit 
lang  in  gewissen  Kreisen  bekannt  und  beliebt  waren,  übergehen  wir  ein- 
fach mit  Stillschweigen.  Nur  die  Memoiren,  die  er  in  seinem  Alter  ver- 
öffentlicht hat,  behalten  auch  für  uns  noch  Reiz,  wenn  auch  nur  den 
Reiz  der  Seltsamkeit.") 

Charles  Coypeau,  der  sich  später  Dassoucy  nannte,  war  im  Jahr 
1605  zu  Paris  geboren  und  behielt  sein  Leben  lang  etwas  von  dem  Cha- 
rakter des  Pariser  Gamin.  Sein  Vater  war  Advokat  und  wünschte  ihm 
eine  gute  klassische  Erziehung  zu  geben.  Allein  da  zwischen  den  Eltern 
Unfrieden  herrschte,  mißlang  auch  die  Erziehung  des  Knaben.  Schon  in 
seinem  neunten  Jahr  entfloh  er  dem  Vaterhaus  und  trieb  sich  unstet 
umher,  bis  er  nach  Calais  kam.  Dort  trat  er  mit  unvergleichlicher  Frech- 
heit als  Wunderthäter  auf,  der  alle  Sprachen  des  Orients  rede.  Wie  ei' 
behauptet,  fand  er  viele  Gläubige,  weckte  aber  auch  den  Fanatismus  der 
Menge  und  mußte  froh  sein,  als  ihn  die  Behörde  bei  Nacht  und  Nebel 
entwischen  ließ.  Ein  Nonnenkloster  unweit  Paris,  dessen  Äbtissin  sich 
seiner  annahm  und  ihn  zu  ihrem  Pagen  machte,  bot  ihm  dann  eine  Zu- 
flucht, bis  er  eines  Tags  erkannt  und  zu  seinem  Vater  zurückgebracht 
wurde.  Solcher  Anfang  versprach  viel.  Zum  Glück  fand  sich,  daß  dei- 
Knabe  Talent  für  die  Musik  und  eine  schöne  Stimme  hatte.  So  wurde 
er  zum  Künstler  ausgebildet  und  rühmte  sich  später,  daß  er  in  seinem 
17.  Jahr  alle  Musiker  seiner  Zeit  auf  der  Theorbe  übertroffen  habe.  In 
der  That  wurde  ihm  früh  die  Ehre  zu  teil,  vor  Ludwig  XIII.  und  dem 
königlichen  Hof  zu  spielen.  Bald  durchzog  er  auch,  von  Abenteuer-  und 
Reiselust  getrieben,  das  Land.  Auf  einem  dieser  Virtuosenzüge  traf  er 
in  Lyon  mit  Moliere  zusammen  (1653)  und  wurde,  als  er  bald  darauf 
in  große  Not  geriet,  von  dem  hilfsbereiten  Dichter,  der  mit  seiner  Schau- 


1)  Siehe  S.  273  dieses  Werks. 

-)  „Les  aventures  de  M.  Dassoucy",  neu  herausgegeben  von  E.  Colombey 
Paris  1858,  Delahays.  Vergl.  oben  S.  428,  wo  von  der  Musik  zu  Corneilles  „Au- 
dromede"  die  Rede  ist. 


573 


Spieltruppe  damals  in  dem  Languedoc  Vorstellungen  gab,  einige  Monate 
lang  als  Gast  behandelt.  Mehr  als  einmal  sah  er  sich  auf  seinen  spä- 
teren Keisen  ins  Gefängnis  geworfen,  und  in  Rom  war  sogar  sein  Leben 
bedroht.  Da  wurde  er  plötzlich  im  Kerker  fromm  und  schrieb  ein  ganzes 
Buch  religiöser  Betrachtungen.  Seine  letzten  Jahre  verbrachte  er  in  Paris, 
aber  sein  Ruhm  war  schon  geschwunden,  und  er  war  verbittert,  weil 
er  sich  vernachlässigt  glaubte.  Auch  seine  „concerts  chromatiques" 
machten  keinea» Effekt  mehr.  Er  hatte  einst  zu  Corneilles  „Andromede'- 
und  wahrscheinlich  auch  zu  manchem  Couplet  Molieres  die  Musik  kom- 
poniert. Corneille  hat  ihm  auch  ein  paar  anerkennende  Strophen  ge- 
widmet. Aber  Moliere  wendete  sich  später  von  ihm  ab  und  beauftragte 
einen  andern  Komponisten,  die  Musik  zu  dem  „Malade  imaginaire"  zu 
schreiben.  Dassoucy  sah  darin  nur  den  Stolz  des  Glücklichen,  ein  Vor- 
wurf, der  Moliere  am  wenigsten  treffen  kann.^)  Am  tiefsten  kränkte  ihn 
schließlich  noch  Boileaus  wegwerfendes  Urteil.  In  seiner  „Art  poetique" 
ereifert  er  sich  über  den  schlechten  Geschmack,  der  sich  an  der  Bur- 
leske ergötze,  und  sagt  dabei  verächtlich,  daß  alle  Poetaster  bis  zu 
Dassoucy  herab  eine  Zeit  lang  Leser  gefunden  hätten.-)  „Das  ist  der 
Lohn  für  gute  burleske  Verse!''  rief  der  Verkannte  aus.  „Doch  es  ist 
nicht  selten,  daß  eifersüchtige  Gemüter  gegen  das  Gute  zu  Felde  ziehen 
und  alles  tadeln,   was  ihre  Fähigkeiten  übersteigt."^)  Er  starb  1674. 

Dassoucy  ist  insoferne  zu  beachten,  als  auch  er  sich  wissentlich 
in  Opposition  gegen  die  Ideen  setzte,  welche  die  vornehme  Welt  und 
die  Litteratur  beherrschten.    Er  besang  als  sein  Ideal  die  Hammelkeule. 

„Chere  epaule,  epaule  ma  mie, 
Epaule,  je  m'en  vais  mourir, 
Si  proraptement,  pour  me  guerir 
Dans  la  premiere  hostellerie 
Tu  ne  viens  pour  me  secourir." 

Er  erscheint  wie  eine  Art  Sancho  Pansa  neben  den  Schwärmern 
für  ritterliche  Ehre,  welchen  der  Ruhm  teurer  ist  als  das  Leben.  Er 
redet  über  den  Zweikampf  und  die  Ehre  in  etwas  anderer  Weise  als 
Corneille.  „Wenn  Herr  Ehrenpunkt  mich  tyrannisieren  will,  so  spotte 
ich  seiner,  und  ohne  Rücksicht  auf  sein  Beißen  und  Zerren  thue  ich  nur 
das,  was  zu  meinem  Vergnügen  dient  und  meiner  Gesundheit  zuträglich 
ist."*)    Andererseits  zeigt  er,  was  den  meisten  Dichtern  seiner  Zeit  ab- 


^)  In  den  „Rimes  redoublees"  sagt  er  von  Moliere: 
II  est  vrai  qu'il  ne  maime  guere 
Que  voulez-vousV  C'est  un  malheur. 
L'abondance  fuit  la  misere, 
Et  le  petit  et  pauvre  here 
Ne  quadre  point  ä  gros  seigneur! 

2)  Boileau,  Art  Poetique,  I,  v.  89  und  90: 

Le  plus  mau  vais  plaisant  eut  ses  approbateurs, 
Et  jusqu'a  Dassoucy,  tout  trouva  des  lecteurs. 

3)  Dassoucy,  Aventures  d'Italie,  p.  241. 

*)  Dassoucy,  Aventures,  ed.  Colombey,  p.  41. 


574 

geht,  ein  offenes  Gefühl  für  die  Xatur,  und  er  preist  in  entzückten 
Worten  die  Lust  einer  Fußwanderung  durch  eine  schöne  Landschaft  und 
die  Freude,  die  man  empfindet,  wenn  man  am  Abend  von  einer  Anhöhe 
herab  in  der  Ferne  die  rauchenden  Schornsteine  des  Dorfes  sieht,  das 
man  sich  zum  Nachtquartier  bestimmt  hat.^) 


Wir  haben  im  vorstehenden  übersichtlich  den  Widerstand  ge- 
schildert, welcher  sich  gegen  den  herrschenden  Geschmack  und  die  in 
der  Litteratur  zum  Ausdruck  gelangenden  geistigen  Richtungen  erhob. 
Aber  dieser  Widerstand  war  zu  schwach,  um  mehr  als  einen  kurzen 
Stillstand  in  dem  Gang  der  Entwicklung  zu  erzielen.  Gleich  wie  im 
Frühling  der  Strom  anschwillt  und  von  allen  Höhen  herab  die  Wasser 
ihm  zufließen,  so  wuchs  auch  die  iitterarische  Bewegung  und  drängte 
immer  entschiedener  in  einer  bestimmten  Richtung  vorwärts.  Ein  ge- 
waltiger Bau  kann  die  machtvollen  Fluten  in  ihrem  Lauf  hemmen,  sie 
zu  einem  andern  Weg  nötigen.  Aber  ein  schwacher  Damm,  der  sich 
dem  Wasser  entgegenstellt,  vermag  es  nur  eine  Zeit  lang  aufzuhalten.  Der 
Strom  steigt;  zürnend  über  den  Widerstand,  zerreißt  er  die  hemmende 
Schranke  und  braust  umso  gewaltiger  in  seinem  Lauf  dahin. 

Nicht  anders  zeigt  es  sich  in  der  Geschichte  der  Litteratur.  die 
uns  beschäftigt.  Der  Versuch,  den  Geschmack  von  der  einmal  einge- 
schlagenen Richtung  abzulenken,  war  zu  früh  unternommen  und  erwies 
sich  zu  schwach.  Nach  kurzem  Kampf  erlagen  die  Gegner,  und  umso 
entschiedener  richtete  sich  das  Streben  auf  das  eine  Ziel,  das  man  schon 
lang  ersehnt:  auf  Ordnung,  Klarheit  und  Schönheit  des  Lebens. 

Eine  andere  Zeit  mag  dieselbe  Aufgabe  auf  anderem  Weg  zu  lösen 
suchen,  und  über  die  Begriffe  von  Ordnung  und  Schönheit  anders,  viel- 
leicht richtiger,  denken.  Aber  die  Kraft  des  17.  Jahrhunderts  lag  in 
der  Einigkeit,  mit  der  alle  an  der  Lösung  der  Aufgabe  arbeiteten,  und 
in  der  seltenen  Übereinstimmung,  mit  welcher  man  auf  allen  Gebieten 
demselben  Ziele  zustrebte.  Staat  und  Kirche.  Gesellschaft  und  Kunst  — 
alles  wurde  von  dieser  Strömuns:  ergriffen  und  gehorchte  dem  unwider- 
stehlichen Zug.  Diese  Harmonie  des  WoUens  und  Handelns,  diese  gleich- 
mäßige und  gleichartige  Entwicklung  mußte  allerdings  zu  einer  gewissen 
Dürre  und  Einförmigkeit  führen,  aber  sie  bewirkte  auch  die  Sicherheit 
des  Wesens,  sie  begründete  den  Erfolg.  Das  17.  Jahrhundert  fand  den 
deutlichsten  Ausdruck  seines  Wesens  und  seiner  Anschauungen  in  der 
Litteratur,  und  diese  hat  somit  nicht  unverdient  die  Bezeichnung  der 
klassischen  erworben. 

1)  Ibid.  p.  43. 


,>»ö,^K««<o 


^'^^^^'^m^. 


L^fe^^^^^^fe;!  3^Sx 


M 

-4<f"'^r» 

^^ 

fe 

i 

ä 

% 

w 

p??^^/-*: 

v^  ^ 

fe5 

& 

W: 

^^ 

^^ 

s 

^ 

^i 

w 

y5\xG^^ 

^^ 

^ 

f\^T^ 

S5§ 

'?^ 

^ 

Sj 

^ 

fe- 

Ä 

^^fe*^^^^ 

^^^ 

^ 

^^ 

^ 

m 

ioyj/Tji 


■-*:^§». 


.-r^ 


PQ     Lotheissen,  Ferdinand 

241       Geschichte  der  französischer^^  ^ '  "^ 

L68    Utteratur 

1897 

Bd.l 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


y^^if 


^^ 


:..-^-^VV 


:^:^  ^ 


**^-^ 


}:^m,^ 


^^fZ.^r  ^■ 


v/^:> 


./'%■"  ^'' 


-J'^^  'fi