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Full text of "Geschichte der germanischen philologie vorzugsweise in Deutschland"

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8 


Geſchichte 


der 


Wiſſenſchaften in Deutſchland. 


Henere Zeit, 


Neunter Band. 


Geſchichte der germanifchen Philologie. 





AUF VERANLASSUNG HERAUSGEGEBEN 
UND MIT DURCH DIE 
UNTERSTÜTZUNG HISTORISCHE COMMISSION 
BEINER MAJESTÄT BEI DER 
DES KÖNIGS VON BAYERN KÖNIGL. ACADEMIE DER 
MAXIMILIAN II. WISSENSCHAFTEN. 


Münden, 1870. 
R Oldenbourg. 


Geſchichte 
Germaniſchen Philologie 


vorzugaweiſe in Bentfchland 
von 


Rudolf von Raumer. 





AUF VERANLASSUNG HERAUSGEGEBEN 
UND» MIT DURCH DIE 
UNTERSTÜTZUNG HISTORISCHE COMMISSION 
SEINER MAJESTÄT BEI DER 
DES KÖNIGS VON BAYERN KÖNIGL. ACADEMIE DER 
MAXIMILIAN II. WISSENSCHAFTEN. 





Aünchen, 1870. 
R Oldenbourg. 


Danzeov, Google 
8 


Yorwort. 


Eine Geſchichte der germaniſchen Philologie kann nicht beab- 
fihtigen, nad) Art eines Repertoriums alle auf diefem Gebiet erſchie— 
nenen Schriften zu verzeichnen. Ihre Aufgabe wird vielmehr fein, 
aus der Maſſe des Vorhandenen die Erſcheinungen hervorzuheben, 
welde den Entwillmgsgang der Wiffenfhaft erfennen Laflen. Fir 
die bibliographiſche Seite hat Heinrich Hoffmann's Deutſche Philos 
Iogie (1836) einen guten Anfang gemacht, für bie eigentlich hiftorifche 
Darſtellung unfrer ganzen Wiſſenſchaft aber ift noch wenig gefchehen. 
Bährend ich mit der Ausarbeitung meines Werts beihäftigt war, 
erſchien (1865) W. Scherer's Schrift über Jac. Grimm, und id 
frene mic}, mit biefem geiftvollen Forſcher in vielen Punkten über- 
einzuſtimmen. 

Die Gränze, bis zu welcher ich meine Geſchichte fortführe, 
bilden die älteren Schüler Lachmann's. Das legte Kapitel, fo wie 
Alles, was in den früheren über jene Gränze hinausgreift, bitte ich 
deshalb nur als eine unvermeidliche Dreingabe zu betrachten. 

Ich wilrde außer Stande gewejen fein, dies Buch zu fchreiben, 
wenn ich nicht von ben Vorftehern einiger ber größten Bibliothelen 
in freumblicfter Weiſe unterftägt worden wäre. Ich fage hier vor 
allen meinen wärmften Dank dem Herrn Director Halm, der mir 
in Tiberalfter Weife die Benügung der Königlichen Hof- und Staats⸗ 
bibliothek in Münden ermöglichte. Ebenſo bin ih den Herren Hof- 
rath Hoed und Profeſſor Schweiger für die zuvorkommende Weife, 
in der fie mir den Gebrauch der Göttinger Bibliothek geftatteten, 
und dem Herm Geh. Rath Pers für die freundlichen Mittheilungen 
aus der königlichen Bibliothek zu Berlin dankbar verpflichtet. Die 


vI Vorwort. 


Bibliothek des unter Effenwein’8 nnd Frommann's Leitung ſich kräftig 
entwidelnden Germaniſchen Muſeums fand mir dur Frommann's 
befannte Gefälligfeit zu Gebote. 

Der Drud meines Werkes nahte feiner Vollendung, als plög- 
lich unfrem Vaterland von Frankreich der Krieg aufgebrungen wurde. 
Die herrlichen deutſchen Siege, durch deutſche Einigkeit, Tapferkeit 
und Einfit unter Gottes Beiſtand errungen, zeugen bafir, daß 
unſer Bolt nod in voller Kraft ſteht. Gott wolle unfre Waffen 
ferner feguen! Und möge dann in einem Friedensſchluß, ber ben 
glänzenden Thaten unſres Heeres entfpriht, das nachgeholt werden, 
wos man 1814 und 1815 verfäumt hat! 


Erlangen am 22. Auguſt 1870, 


Rudolf von Raumer. 


Inbalt. 


Etſtes Buch. Die Anfänge der germaniſchen Philologie bis zum 
Jahre 1665. ©. 1. 


Erſtes Kapitel. Ginleitung ©. 1. 
Zweites Kapitel. Die Anfänge ber deutſchen Alterthumsforſchung im Re 
formationggeitalter ©. 4. 

Die Wieberbelebung bes klaſſiſchen Alterthums und die deutſche Alter- 
thumsforſchung &. 5. — Die Reformation ber Kirche unb bie deutſche 
Philologie. Erfte Ausgabe des Otfrid S. 31. — Die Anfänge ber 
vergleichenden Sprachforſchung und bie germaniſche Philologie S. 87. — 
Die deutſchen Juriſten und die germaniſche Philologie S. 46. 

Drittes Kapitel. Die Thaͤtigkeit auf dem Gebiete ber älteren germaniſchen 
Spraden vom Ausgang bes 16. Jahrhunderts bis zum J. 1665 ©. 48, 
Biertes Kapitel. Die grammatiſche Behandlung ber deutſchen Sprache bis 

zum 3. 1665 ©. 61. . 
Die deutfhe Grammatik im fehzehnten Jahthundert ©. 61. — Die 
deuiſche Grammatik im fiebzehnten Jahrhundert Bis zum J. 1665 ©. 70, 
Fünfte Kapitel. Die lexilaliſche Bearbeitung ber deutſchen Sprache bis 
zum 3. 1665 ©. 83, 
Sehfied Kapitel. Die Anfänge der germaniſchen Philologie in den Nieder: 
fanden, in Englanb und in Skandinavien S. 88. 
1. Die Anfänge der germanifhen Philologie in ben Niederlanden Bis 
auf Franciscus Junius &. 88. 
2. Die Anfänge ber germanifden Philologie in England bis auf Fran— 
ciscus Junius ©. 96. 
3, Die Anfänge ber germanifgen Philologie bei ben ffaubinavifgen 
Bölfern bis zum 3. 1665 ©. 100. 


weites Buch. Die germaniſche Philologie von der Herausgabe des 
Eoder argentens bis zum Auftreten der Romantifer 1665 bis 
1797 ©. 106. 


Erfes Rayitel. Die germanifhe Philologie in den Niederlanden, in Eng⸗ 
land und in Sfanbinavien von 1665 bis 1748 ©. 106. 


vm Inhalt. 


1. Die germaniſche Ppilelogie in den Niederlanden und in England von 
1665 bis 1748. Franciscus Junius. George Hides. Lambert ten 
Kate 6. 106, 

Franciscus Junius. Das Leben des Franciseus Junius 
©. 107. — Die Leiftungen des Franciscus Junius S. 121. — 
George Hiees. Das Leben des ©. Hides ©. 129. — Die Lei⸗ 
ſtungen des ©. Hides S. 131. — Lambert ten Kate ©. 139. 

2. Die germanifhe Philologie bei den ſtandinaviſchen Wölfen vom 

3. 1665 bis zum 3. 1748 ©, 146, 


Zweite Kapitel. Die germanifche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 
©. 154. J 
1. Anregungen durch Morhof und Leibniz ©. 154. 
2. Die Thätigkeit auf dem Gebiete der altgermaniſchen Sprachen in 
Deuiſchland vom 3. 1665 bis zum J. 1748 ©. 165. 
3. Grammatiſche und Ierifalifhe Bearbeitung ber neuhochdeutſchen Sprache 
vom 3. 1665 bis zum 9. 1748 ©. 185. 


Drittes Kapitel. Die germanifhe Philologie in ben Niederlanden, in Eng: 
land und in Sfanbinavien von 1743 bis 1797 ©. 198. 


Viertes Lapitel. Die germanifge Philologie in Deutfland von 1748 Bis 
1797 ©. 204. 

1. Grammatiſche und lerifalifcpe Bearbeitung der neuhochdeutſchen Sprache 
vom J. 1748 bis zum 3. 1797 ©. 204. 

2. Die Bearbeitung der deutſchen Vollsmundarten bis zum J. 1797 
©. 242. 

3. Die älteren germanifgen Sprachen unb Piteraturen in Deutſchland 
und die Einwirkung ber deutſchen Klaſſiker auf die germanifde Phi- 
Tologie in den Jahren 1748 bis 1797 ©. MT. 

Die linguiſtiſch-antiquariſche Behandlung ber älteren germani- 
ſchen Sprachen von 1748 bis 1797 ©. 248. — Die Herausgabe 
mittefpogbeutfcper Dichtungen. Oberlin's Gloffar ©. 254. — 
Die Einwirkung ber deutfhen Klaſſiker auf die germaniſche Ppilo- 
logie in ben Jahren 1748 bis 1797 ©. 266. 


Drittes Sud. Vom Auftreten der Romantifer bis zum Erfcheinen 
von Grimm's Grammatik. 1797 bis 1819 ©. 292. 


Erſtes Kapitel. Die Romantifer ©. 292. 
Die Romantifer von 1797 bis 1806 ©. 292. 
2. Lied. Wagenroder ©. 296. — 9. W. Sälegel. F. Schlegel 
©. 304. 
Die Nieberwerfung Deutſchlande durch bie Franzoſen in den Jahren 
1805 und 1806 und das Grivadjen ber deuiſchen Geflnnung. Fichte. 
Arndt. Jahn ©. 313. 


Inhalt. I 


Die Häupter der romantiſchen Schule und deren Thätigfeit auf dem 
Gebiet ber germanifhen Philologie in den Jahren 1806 bis 1819 
©. 321. 


Zweites apitel. Die altbeutihen Gtubien zur Zeit bes Auftretens der 
Brhder Grimm ©. 338. . 
$. 5. vom der Hagen S. 831. — Docen ©. 348. — Die Auf: 
findung des älteren Citurel durch Docen. Docen’s und A. |. Ele 
gels Anfihten über denſelben S. 851. — Die Einführung des Gans: 
frit in ben’Kteis ber beutfchen Forſchung durch Friedrich Schlegel &. 354. 
— Wınolb Kanne ©. 362. — Fol. Gorres ©. 365. — Memim und 
Brentano ©. 372. 


Drittes Aapitel. Das Leben umb bie Arbeiten ber Brüber Grimm bis 
zum J. 1819 ©. 378. 
1. Das Leben ber Brüber Grimm bis zum 3. 1819 S. 878, 
2. Die Arbeiten ber Brüder Grimm in ber erfien Periode ihrer Tätige 
feit 1807 bis 1819 ©. 390. 
Jac. Grimm’s Arbeiten von 1807 bis 1811 6. 392, 

Jac. Grimm's Streit mit Docen und F. H. von ber Hagen 
über bie Minnefänger und Meifterfänger S. 895. — Jac. 
Grimm: Ueber ben alideutſchen Meiſtergeſang. Unterſcheidung 
vom Natur» und Kunſtpoefie S. 402. — Jac. Grimm über bie 
Sage und ihr Verhäliniß zur epiſchen Porfie und Geffichte 
©. 408. 
®. Grimm's Arbeiten von 1807 is 1811 ©, 411. 

®. Srimm’s erfle Arbeiten 1807 bis 1810 ©. 411. — 
®. Grimm’s Altdäniſche Helbenlieber 1811 ©. 419, 

Die gemeinfamen Arbeiten ber Brüder Grimm 1812 bis 1816 
©. 422. 

Die Kinder» und Hausmärden ©. 423. — Die beutfchen 
Sagen ©. 428. — Die Altbentihen Wälder ©. 482, — Die 
Ausgabe bes Oildebrandeliebs S. 435. — Die Ebddalieder 
©. 436. — Der Arme Heinrich ©. 488, 

Die gefonderten Arbeiten Zac. Grimm's und W. Grimm’s 1811 
bis 1817 ©. 489. 

Jar. Grimm „über Mythos, Epos und Geſchichte“ 1813 
©. 489. — ac. Grimm’s Jrmenftrage und Zrmenfäule 1815 
©. 441. — ac. Grimm’s Wlfpanifge Romanen S. 443. — 
Jar. Geimm’s Beiträge zur Zeitfgrift für geicichtliche Reis: 
wiſſenſchaft 1815 bis 1817 ©. 449. — leinere Urbeiten Jac. 
und W. Grimm's 1811 bis 1816 ©. 445, 

Rüdblit auf I. Grimm's Anſichten und Leiftungen während 
ber erften Periode feiner Tpätigfeit 1807 bis 1819 6. 446, 


x Inhalt. 


Biertes Kapitel, Die Wendung zu firengerer Wiſſenſchafilichteit 1815 bie 
1818 ©. 452. 

U W. Schlegel's Beurteilung ber Altdeutſchen Wälder S. 452. 

©. 3. Benede's frühere Arbeiten S. 455. 

K. Lachmann's Anfänge S. 457. 

Franz Bopp's erfles Auftreten ©. 462. 

Fünftes Kapitel. Die germaniſche Philologie in den Niederlanden, England, 
Schottland und Skandinavien 1797 Bis 1819 ©. 467. 

Rofınus Kriftian Raft S. 470. — Raffs Leben S. 479. — Raſt's 
Leiftungen S. 475. — Raſt's Forſchungen auf dem Gebiet ber germa- 
nifgen Sprachen bis zum J. 1822 ©. 477. — Raſt's Arbeiten auf 
bem Gebiet ber germaniſchen Sprachen feit bem J. 1822 ©. 485. 


Sechſtes Kapitel. Die Bearbeitung ber neuhochdeutſchen Schriftſprache und 
ber deutſchen Vollsmundarten in ben Jahren 1797 bis 1819 ©. 487. 


Siebentes Kapitel, Rüdblid S. 492. 


Viertes Buch. Die germanifche Philologie dom Erſcheinen von 
Grimm's Grammatit bis zur Gegenwart. 1819 bis 1869 
©. 495. 


Erſtes Kapitel, Die Brüber Grimm 1819 bis 1840 ©. 495. 

1. Leben ber Brüber Grimm 1819 Bis 1840 ©. 495. 

2. ac. Grimm’s Arbeiten von 1819 bis 1840 ©. 499, 
Die deutſche Grammatik ©. 499. 
Die deutſchen Rechtsaltertfümer S. 523. 
Die deutſche Mythologie S. 525. 
I. Grimm’s Reinhart Fuchs und übrige Arbeiten von 1819 

bis 1840 ©. 531. 
3. W. Grimm’s Arbeiten von 1819 bis 1840. BVerfdiebenheit Jac. 
Srimm’s und W. Grimm’s S. 534. 


Zweites Kapitel. Die Mitforſcher ber Brüder Grimm S. 540. 

1. R. Lachmann (1819—1851). ©. F. Benede (1819—1844) ©. 540. 

2. Joh. Andr. Schmeller ©. 555. 

3. Ludwig Uhland S. 566. 

4. Die anderen Mitforfjer ber VBrüber Grimm ©. 579, 

F. H. von ber Hagen ©. 580. — Mone. Lapberg S. 583. — 

Hoffmann von Fallersieben ©. 585. — Maßmann S. 5%. — 
Staff ©. 598. — Meuſebach S. 596. — Wilhelm Wadernagel 
©. 597. — Moriz Haupt S. 601. — R. Simeod ©. 602. 


Drittes Kapitel, Das Sanskrit und beffen Einwirkung auf bie Erforſchung 
der germaniſchen Sprachen &. 606. 
1. Franz Bopp ©. 606. 


Inhalt. xi 


2. Der fortbauerude Einfluß des Sauskrit auf die Erforſchung ber ger: 
manifen Spraden S. 621. 


Bierted Kapitel. Die ſchulmaͤßige Behandlung bes Neuhochdeutſchen in ben 
Jahren 1819 bis 1840 ©. 624. 


Fünfte Kapitel. Das Leben und die Werke ber Brüder Grimm vom 
3 1840 bis zu ihrem Tob ©. 632. 
1. Das Leben ber Brüder Grimm vom 3. 1840 bis zu ihrem Tod 
©. 632. 
2. 3. Grimm’s Arbeiten vom 3. 1840 bis zum J. 1863 ©. 635. 
Weisthümer S. 635. 
Geſchichte der deutſchen Sprache S. 637. 
Kleinere Arbeiten S. 641. 
3. W. Grimm's Arbeiten vom J. 1840 bis zum 3. 1859 ©. 645. 
4. Das deutſche Wörterbud der Brüber Grimm Sr 648. 
5. Jacob Grimm. Schluß S. 654. 


Cehfied Kapitel. Die Bearbeitung der deutſchen Literaturgeſchichte S. 658. 


Sitbentes Kapitel, Der Zoribau ber germaniſchen Philologie in den neuflen 
Jahrehnden ©. 684. 

Gothiſch S. 688. — Althochdeutſch S. 689. — Altfähf., Angelfächl., 
Frieſiſch, Altnordiſch, Runen S. 691. — Mittelniederdeutſch, Mittel 
niederlã ndiſch Englifh ©. 694. — Mittelhochdeuiſch ©. 696. — 
Neuhochdeutſch S. 711. — Die germanifgen Eigennamen &. 718. — 
Die deutfche Metrit S. 719. — Die Erforſchung ber deutſchen Volts— 
mumbarten ©. 721. — Die beutfe Mythologie &. 725. — Die 
germaniſche Philologie in den Niederlanden, in England und in Sfanbina- 
vien S. 729. — Schluß ©. 734. 


Berbefjjerungen 


©. 32, 3. 10 Ties ſah fi. — ©. 183, 3.30 1. Joscelin — 
S. 215, 3. 181. Im 3. 1659 erigien biefer Nomenelator zum feßten 
mal. (Vgl. Liſch in den Jahrbb. des Vereins für meklenb. Geſch. 23, 139). 
— & 3.30 1. Johann. — ©.38, 3. 10 1. 1815, — ©. 827, 
3. 26 1. das Nibelungenlid. — S. 334 if die Anm. zu ſtreichen. — 
©. 48, 3. 8 1. felbR unfern. — ©. 589, 3. 26 1, bibllographiſchen. 


Erſtes Bud. 


Die Anfänge der germanifhen Philologie bis zum 
Jahre 1665. 


Erfies Aapitel, 
‚Einleitung. 


Ber Gegenftand diefes Wertes iſt bie Geſchichte der germani- 
ſchen Philologie. Das Wort Philologie wird aber in einer dop- 
pelten Bedeutung gebraucht, einer weiteren und einer engeren. Im 
weiteren Sinn ift die Philologie die Wiffenfgaft von den gefamm- 
ten Sebensäußerungen eines Volles; im engeren beſchränkt fie ſich 
auf die Erforſchung der Sprache und Literatur. In diefem zweiten 
Simm nehmen wir das Wort in unferer Geſchichte ber germanifchen 
Philologie. Nicht als wollten wir den Philologen von ber Kennt 
niß deſſen ausſchließen, was ein Volt auf allen übrigen Gebieten 
geleiftet Hat. Vielmehr fordert ein gründliches Studium der Sprache 
und der Literatur, daß ber Philolog fih auch mit ber politifchen 
Geſchichte, mit der Entwidlung der bildenden Künfte und der Mufil, 
mit der ganzen Kulturgeſchichte bes Volkes nad) Kräften bekannt 
made. Auch wir werben Hin umb wieber einen Blick auf biefe 
benachbarten Gebiete werfen. Aber unfere eigentliche Aufgabe ift 
die Geſchichte defien, was die Dentihen für die Erforſchung ber 


germaniſchen Sprachen und Literaturen geleiftet haben 
Raumer, Geſqh. ber germ. Philologie. 


2 Erfies Kapitel. 


Bei dem engen Zuſammenhang der ganzen europäiſchen Bild- 
ung und der ununterbrodenen Wechſelwirkung, welche die wifien« 
ſchaftlichen Leiftungen des einen Voltes auf bie des anderen aus- 
üben, läßt fi die Entwicklung der Wiſſenſchaft bei einem einzelnen 
Volke nicht barftellen, ohne auf das Nüdficht zu nehmen, was 
andere Völlker auf demſelben Gebiet hervorgebracht haben. Wir 
werben deshalb au die Entwidlung der germanifchen Philologie 
bei den Nieberländern, Engländern und Sfandinaviern in unjeren 
Bereich ziehen, jebod nicht, um eine volfftändige Geſchichte unferer 
Wiſſenſchaft bei jenen Völkern zu geben, fondern nur zu dem Zweck, 
um barzuftellen, welden Einfluß die dort gewonnenen Ergebnifie 
auf den Gang der Wiſſenſchaft in Deutſchland gehabt haben. 

Die Geſchichte der germanifcen Philologie in Deutſchland fheidet 
fi) in vier Perioden. Die erfte beginnt mit dem Wiederauffeben 
der altllaſſiſchen Stubien und erftredt ſich vom Ende des 15. bis 
in die zweite Hälfte des 17, Jahrhunderts. Der Anfang der zwei- 
ten Periode ift bezeichnet durch die Herausgabe des Coder 
argentens und die hiemit angebahnte Einführung des Gothiſchen 
in den Kreis der germaniftiihen Forſchung. Die dritte Periode 
bildet die Hinwendung der Romantiler zur deutſchen Vorzeit und 
die Umgeftaltung der romantiſchen Beftrebungen durch die früheren 
Arbeiten der Brüder Grimm. Endli die vierte Periode wird 
begründet durch das Erſcheinen von Jakob Grimm's deutſcher 
Grammatik und erſtreckt ſich bis auf die Gegenwart. 

Die erſte Periode, vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zum 
Jahr 1665, iſt eine Zeit der Anfänge, Vorbereitungen und Ber 
füche. Ohne daß fon ein beftimmtes Ziel mit vollem Bewußtſein 
und klarer Einfiht in die Mittel verfolgt wird, jehen wir allmäh- 
lich die deutſche Sprad-" und Alterthumsforſchung fih aus den 
älteren Zweigen der Wiſſenſchaft herausbilden. Von ſehr verſchie⸗ 
denen Punkten aus entipinnen fi die Anfänge der neuen Wiſſen⸗ 
haft. Das Studium des klaſſiſchen Alterthums eröffnet zugleich 
den Blick in die urfprünglicen Zuftände der germanifhen Völker, 
wie fie den Römern zur Zeit des Cäfar und Tacitus entgegen. 
traten. Von einer ganz anderen Seite Her bahnt ſich die Betrach⸗ 


Einleitung. 3 


tung der deutichen Sprade an. Die allmähliche Entſtehung und 
Ausbildung der neuhochdeutſchen Schriftſprache ruft das Bedürfniß 
grammatiiher Feſtſetzungen hervor. Es entiteht eine Meihe prafti- 
Wer Grammatiken der deutſchen Sprade zum Gebraud der Schu- 
{m und aller derer, die fi eines regelrechten deutſchen Ausdrucs 
betienen wollen. Schon früher treten wörterbuchartige Sammlungen 
hervor, zu fehr verſchiedenen Zweden unternommen. Auch auf die 
alten Quellen der deutſchen Sprache richtet ſich jehr bald das Au— 
genmert ber Gelehrten. Mandes davon wird bereits im 16. Jahr⸗ 
hundert durch den Drud veröffentliht. Anfänglih find es nicht 
deutſch⸗ philologiſche Zwecke, die man dabei verfolgt, fondern über- 
wiegend theologifhe. Aber ſchon vor dem Ablauf diefer erften 
Periode werben wir aud die linguiſtiſch⸗philologiſche Seite bei 
der Beröffentlihung altveutfcher Sprachdenkmäler hervortreten fehen. 
Endlich begegnen uns aud ſchon fehr früh Verſuche, in die älteften 
Sprachzuſtãnde der germanischen Völfer einzubringen, anfangs frei- 
lich mit der Verwegenheit unternommen, die fih überall da findet, 
wo man noch feine Ahnung von der Schwierigfeit der Probleme 
hat und deswegen fein hoch geftedtes Ziel fat immer verfehlt. 
Aber je mehr fich die Kenntniffe vertiefen, um fo richtiger lernt 
man jeine Kräfte ſchätzen, und fo werben wir aud in dieſer erften 
Beriode ſchon manden achtungswerthen Verſuch kennen lernen, in 
den geſchichtlichen Zuſammenhang der ſprachlichen Erſcheinungen ein- 
zudringen. Aber ſo ſehr wir dem redlichen Streben ſeine Ehre 
laſſen wollen, ſo bleibt doch in dieſer erſten Periode Alles nur 
taftender Verſuch. Als Vorbereitung für die künftige Wiſſenſchaft, 
als Ahnungen deſſen, was ſpäter entdeckt und bewieſen werden 
jolfte, find die Arbeiten jener Zeit nicht ohne Intereſſe. Aber von 
einer ſicheren Grundlage, auf welder die Wiſſenſchaft ftätig hätte 
fortbauen Können, ift noch kaum die Rede. 


1° 





4 Zweiteb Kapitel. 


Zweites Kapitel. 
Die Mnfünge der dentſchen Witeriiumsferihung im Refsrmations- 
yeitalter. 


Unter den Ereigniffen, welde den Beginn der neueren Zeit 
bezeichnen, find es vorzugsweile drei, die in nächſter Beziehung zu 
den Anfängen der germanifchen Philologie ftehen: Die Wiederbe- 
lebung des klaſſiſchen Alterthums, die Reformation der Kirche und 
die Erfindung der VBuchdruderkunft. Bei der großen Umwandlung, 
melde die deutſche Literatur am Ausgang des Mittelalter und im 
Beginn der neueren Zeit erfährt, ergreift die neu erfundene Kunft 
des Büderdruds auch noch einen Theil umferer mittelalterlichen 
deutihen Poeſie. Wolfram's Parzival wird im Yahr- 1477 ger 
drudt und um biefelbe Zeit auch der jüngere Titurel und das Hel- 
denbuch. Aber Barzival und Titurel werden vergeffen, und nur 
das deutſche Heldenbuch erhält ſich und erlebt bis gegen Ende bes 
16. Jahrhunderts noch fünf Ausgaben !). Und auch bier wieder 
ift es gewiß nicht zufällig, daß nicht die bei weitem ebeljten umd 
ſchönſten Dichtungen des deutſchen Sagenkreiſes: Nibelungen und 
Gudrun, durch den Druck veröffentlicht und in der Gunſt des 
Volles erhalten werden, ſondern der Wolfdietrich und die anderen 
Dichtungen des Heldenbuchs. Gerade die derbere, von ritterlicher 
Weife weniger berührte Art diefer Dichtungen jtimmte mehr zu dem 
Ton des Voltslieds jener Zeit. Fragen wir, was fi außerdem 
von der mittelalterlihen Dichtung unmittelbar in die neuere Zeit 
hinübergerettet hat, jo ift e8 das Spruchgedicht des Freidank und 
vor allen der. Reinele Fuchs. Das erftere erlebt im Lauf des 16. 
Jahrhunderts acht Ausgaben 2), der Iegtere wird vom Jahr 1498 
bis zum Jahr 1666 mehr als fiehzehnmal in niederdeutſcher 3), 





1) Goedeke, Grunbriß zur Geſchichte der deutſchen Dichtung 1850, 
©. 83. — 2) Goedete a. 0. O. ©. 142 fg. — 3) Ebend. ©. 107. 


Die Anfänge ber deutſchen Altertgumsforfgung im NReformationsgeitälter. 5 


iehzehunmal in hochdeutſcher Sprache !) gedruckt. Alfe diefe Angaben 
begeugen uns, daß ein Theil der mittelalterlihen deutſchen Dich- 
tung fi auch in die neuere Zeit fortpflanzte. Aber man würde 
irren, wenn man in dieſen Ausgaben altveuticher Dichtungen ben 
Anfang der deutſchen Philologie fehen wollte. Sie beweiſen viel- 
mehr nichts, als daß jene Dichtungen wirklich bis in die neuere 
Zeit hinein noch fortlebten. Denn nur das, was in ben Kreis 
der damaligen Borftellungen und Empfindungen noch paßte, eignete 
man fi auf diefe Weife an, und weit entfernt, die alten Dicht- 
ungen als Beugniffe einer vergangenen Zeit in ihrer urfprünglichen 
Form aufzubewahren, näherte man fie vielmehr möglichſt der 
Sprache der Gegenwart an, fo daß fie einen Theil der noch Teben- 
den Literatur bilden. Die Anfänge der germaniſchen Philologie 
dagegen werben wir auf anderen Gebieten zu fuchen haben. 


Die Wiederbelebung des klafifhen Alterthuns und die dentfge Alter- 
thumsforfdung. 


Schon oft hat man auf eine wefentliche Verſchiedenheit zwiſchen 
der Wiederbelebung des Haffiihen Altertfums in Italien und in 
Deutſchland Hingewiefen. Man fand diefe Verſchiedenheit mit Recht 
darin, daß ſich in Deutſchland mit der Wiederbelebung bes flafft- 
ſchen Alterthums die Richtung auf das vollere Verſtändniß und die 
unmittelbare Aneignung der Bibel und auf die Erneuerung der 
Kirche verband, während in Italien dies bibliſch chriſtliche Element 
den meiften Vertretern bes Humanismus fehr fern Liegt und nur 
in ganz vereinzelten Erfheinungen zu Tage tritt. Neben biefem 
ſchon oft beſprochenen Unterjchied aber gibt es einen zweiten, ber 
bisher noch nicht genug hervorgehoben worben ift. Als bie antifen 
Maffiter im 14. und 15. Jahrhundert in Italien ihre Auferftehung 
feierten, betrachteten ſich die Italiener als die geraden Nachkommen 
der alten Römer. Sie fahen die Werke der großen Alten als einen 
Theil ihrer eigenen Literatur an, der nur durch die Ungunft der 
Zeiten in Bergefienheit gerathen war, und behandelten bie Thaten 


1) Eben. ©. 292. 


6 Zweites Kapitel. 


der antiken Römer als die ruhmreichſte Seite ihrer eigenen &e- 
ſchichte. Italien mit feiner antiten vömifhen und feiner neuen 
humaniſtiſchen Bildung ftand ihnen im Mittelpunft der Welt; die 
anderen Bölfer, zumal die germaniſchen, galten fir Barbaren. 
Seldft die Verehrung gegen die neu erwachten Griechen änderte an 
biefer Grundftimmung nichts. Hatte doch die Periode des alten 
Nömerthums, an die man fid zunächſt anſchloß, die Zeit des 
Cicero und Cäfar, des Vergil und Horaz, bereits die griechiſchen 
Vorbilder in Saft und Blut aufgenommen. So eridienen fie als 
ein Beitandtheil der altrömiſchen Bildung und mußten mit dieſer 
zugleich ihre Auferftehung feiern. 

Gleih der erfte und größte unter ben Wiedererwedern des 
Hafftichen Alterthums in Stalien, Francesco Petrarca, Liefert uns 
die Züge zu diefem Bilde des italienifhen Humanismus. Rom 
und Stalien füllen fein ganzes Sinnen und Denfen. Nicht fremde 
Borbilder find ihm die Alten, fondern die Größten unter feinen 
eigenen Landsleuten. Seine Begeifterung für die antifen Klaffifer 
und fein italienifher Patrivtismus fallen in Eins zufammen. Wie 
den alten Nömern, fo ftehen aud den neuen bie Barbaren als 
unwürbige Feinde gegenüber; und wo bie Italiener feines Beitalters 
hinter ihren Vätern, den Marius und Cäfar, zurückbleiben, da ift 
das eben nur beflagenswerthe Entartung. Daß dies Zufammen- 
werfen der neueren Italiener mit den antifen Römern zum guten 
Theil auf Irrthum beruft, haben wir hier nicht weiter auseinan⸗ 
berzufegen. Genug, daß Petrarca und mit ihm die übrigen Häup- 
ter des italieniihen Humanismus in ben alten Römern ihre eigenen 
Väter und in deren Siegen und Grofthaten den Ruhm ihres 
eigenen Volles erblidten. 

Ganz anders ftehen die deutſchen Humaniften dem antiken 
Nömerthum gegenüber. Auch fie verehren in Cicero und Virgil, in 
Living und Horaz die Mufter des guten Geſchmacs, aud ihnen iſt 
die Kenntniß des vateiniſchen und Griechiſchen die unerläßlihe Grund- 
lage der höheren Bildung; aber fo fehr fie aud in die Bewunder⸗ 
ung bes klaſſiſchen Altertfums verfunten find, fo kann ihnen doc 
nicht entgehen, daß fie ſelbſt feine Römer find. Und alle Vorfpiegel- 


Tie Anfänge ber beutfchen Altertgumeforkhung im Reformationggeitalter. 7 


angen vom Römiſchen Reich Deutiher Nation, von den Iateinifchen 
Rufen, die über die Alpen gewandert find, halfen nicht über bie 
Mare Wirklichkeit hinweg, daß man nicht dem alten Römervolfe, 
iondern vielmehr einem VBolte angehörte, das einft der erhittertfte 
und gefährlichfte Feind der alten Römer war, ja deſſen Angriffen 
zuletzt das römiſche Reich und fcheinbar die ganze alte Kultur er- 
legen ift. Wir möüffen den beutfhen Humaniften zu ihrer Ehre 
nachſagen, daß nicht wenige von ihnen ihre vaterländiſch deutſche 
Stellung dem Römerthum gegenüber richtig würdigten. So fehr 
fie aud mit Recht den hohen Geift und edlen Geſchmack der Alten 
bemumdern, fo eifrig fie traten, das Studium der Griechen und 
Römer nad; Deutſchland zu verpflanzen, fo wenig find fie geneigt, 
Ne Ehre des eigenen Volles den Nömern gegenüber Preis zu geben. 
Und obwohl ihre Anfichten noch öfters verworren, ihre Schritte un- 
fiber und ſchwankend find, jo nehmen fie do den wechſelſeitigen 
Beziehungen der Römer und Germanen gegenüber eine ganz andere 
Stellung ein, als ihre italienischen Fachgenoſſen. Wo diefe nur 
Stoff zu Klagen über die Niederlagen der Römer oder Schmähungen 
über die germanifchen Barbaren finden, da ergreift den deutſchen 
Humaniften der Stolz auf die Großthaten der eigenen Landsleute. 
Es gehört aber zu den großartigften Seiten der Maffifhen Studien, 
daß diefe ſelbſt den Stoff zu jener Verherrlihung des deutſchen 
Volles Viefern. Nicht nur wird die Vaterlandsliebe durch das 
Studium der durch und buch patriotifhen antiken Literatur ge⸗ 
näßet, fondern gerabe die Erinnerung an die ruhmvolle Urzeit des 
deuten Bolfes, an feine Sitten und Einrigtungen, feine Helden 
und Großthaten verdankt man den Aufzeichnungen der Römer. Die 
Wiedererwedung ber antifen Klaſſiker eröffnete dem deutſchen Volle 
ten Blid in eine Vergangenheit, die feit einer Meihe von Jahr⸗ 
hunderten jo gut wie vergeffen war. In Deutſchland ſelbſt hatte 
die Bölferwanderung bes vierten bis fehlten Jahrhunderts "bie 
jagenhafte Erinnerung an die älteren Buftände und Thaten ausge 
löfht. Ihr Andenken blieb nur dur die Verichte der römifchen 
Gegner erhalten. Aber auch von diefen Berichten waren bie wich⸗ 
tigften feit mehr als einen halben Jahrtauſend verſchollen, als bie 


8 j Zweites Kapitel. 


antifen Stubien im 15. und 16. Jahrhundert in Deutihland auf- 
blühten i). Es war vor allem Tacitus, an welchem ſich die Kennt- 
niß der alten Germanen entwidelte und die Bewunderung ihrer 
Sitten und Thaten entzünbete. Und was wußte man am Beginn 
des 15. Jahrhunderts von Tacitus? Nicht eines feiner Werle war 
irgend einem der damaligen Gelehrten befannt. Er konnte für voll- 
ftändig verloren gelten. Da tauchte zuerft die Handſchrift auf, 
welche in der erften Hälfte des 15. Jahrhunderts Poggius feinem 
Freunde Niccolo Niccoli nad Florenz heimbrachte. Sie hat uns 
das 11. bis 16. Buch der Annalen und nicht vollftändig die fünf 
erften Bücher der Hiftorien erhalten. Erſt nad der Mitte des 15. 
Jahrhunderts wird die Germania wieder entdeckt. Wahrſcheinlich 
iſt auch fie nur in einer einzigen Handſchrift erhalten worden, die 
jegt nicht mehr vorhanden ift, aus welcher aber alle Handſchriften 
und Drude der Germania mittelbar oder unmittelbar ftammen. 
Kaum ift fie wieder entdedt, fo wird eine große Menge Abſchriften 
von ihr genommen, und bie neu erfundene Kunſt des Bücherdrucks 
wird nit mübe, diefen libellus aureus, wie ihn die alten Druder 
nennen, duch immer neue Ausgaben zu verbreiten. Um das Jahr 
1470 erſcheint die erfte Ausgabe zu Venedig, durch den deutſchen 
Buchdrucker Vindelinus be Spira beforgt, und bald darauf im Jahr 
1473 zwei Ausgaben zu Nürnberg, die erften diefes für unſre 
deutſche Alterthumsforſchung unſchätzbaren Buches in Deutihland 2). 
Noch fehlten von dem, was wir jetzt von Tacitus beſitzen, die ſechs 
erſten Bücher der Annalen und mit ihnen das herrlichſte Zeugniß 
über den größten Helden unſrer Urzeit, Arminius. Eine einzige 
Handſchrift im deutſchen Kloſter Corvey hat fie erhalten. Sie ge- 


1) Bgl. insbefondere über das Verfcollenfein von Tacitus Germania bie 
weiter unten angeführte Ausgabe Maßmann's ©. 163 fg., und im allgemeinen 
Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, Berlin 
1858, 8.1. — 2) Ueber bie Handſchtiften und Musgaben der Germanfa vgl. 
Germania des C. Corn. Tacitus. Mit ben Lesarten ſämmtlicher Handſchriften 
und geſchichtlichen Unterfuhungen über biefe und das Buch feldft. Bon H. 
3. Maßmann. Queblinburg und Leipzig 1847, 


Tee Anfänge ber deutſchen Altertyumsforihung im Reformationszeitalter. 9 


langte unter Pabſt Leo X nad Rom!) und wurde durch Philipp 
Beroaldus im Jahr 1515 zu Rom zum erftenmal herausgegeben. 

Die Schriften des Tacitus bilden den Mittelpuntt fir das 
Studium, weldes die Gründer des Humanismus in Deutſchland 
unfrer Urzeit zuwenden. Daneben ift es befanntlid eine ganze 
Reihe antiker Schriftfteller, die uns Kunde von den älteften Zu- 
ftänden und Thaten unfrer Vorfahren gibt. Wir können die 
Wieverauffindung und Veröffentlihung aller diefer Schriftſteller 
natürlich hier nit im Einzelnen verfolgen. Aber verfegen wir 
uns einmal in die Zeit, in der jene Zeugniffe noch unbelannt 
waren, und wir werben leicht ermefien, melde Umgeftaltung die 

. Kenntniß von dem Urzuftand bes deutſchen Volles erfahren mußte, 
als im 15. und 16. Jahrhundert jener Reichthum geſchichtlicher 
Werle zu Tage kam. Bon biefer Seite wurde ein Theil. unfrer 
erften Humaniften zu Studien über das deutſche Alterthum ange 
vegt, und dieſe Studien bilden bie eine von den Wurzeln, aus denen 
mit der Zeit die Wiſſenſchaft der deutſchen Philologie erwachfen.ift. 
In den folgenden Abfchnitten werden wir das Gefagte an einer 
Reihe deutfher Humaniſten und ihrer hierher gehörigen Schriften 
nachweiſen. 

Als die erſten Regungen einer Wiederbelebung des klaſſiſchen 
Alterthums in Deutſchland ſich zeigten, ſtand an der Spitze des 
Reis ein Fürſt, der für den Aufſchwung neuer wiſſenſchaftlicher 
Beſtrebungen nur wenig Sinn hatte. Denn wenn fih aud Kaiſer 
Friedrich III. Hin und wieder zu einiger Berüdjichtigung wiſſen⸗ 
ſchaftlicher Verbienfte beftimmen Tieß 2), fo Tag ihm doch ein wahrer 
Anteil an dem neu erwachten geiftigen Leben fern®). Ganz anders 
geftalteten fi die Dinge unter feinem Nachfolger Maximilian I. 


1) Bgl. das Schreiben Leo's X vom 1. Dec. 1517, das Pottgaft im 
Anzeiger für Runde der beutfchen Vorzeit 1863, Oct., befannt gemacht hat, — 
2) So wurde er zur Dichterkrönung bes Conrad Eeltis durch Kurfürft Fried: 
tich von Sachſen beftimmt. S. bie Belege bei Engelbert Klüpfel, De vita 
et scriptis Conredi Celtis, P. I, p. 85. — 3) gl. Georg Voigt, bie 
Viederbelebung bes klaſſiſchen Alterijums, Berlin 1859, ©. 377. 


10 Zweites Kapitel. 


(1498— 1519). Obſchon diefer keine fehr forgfältige Erziehung ge⸗ 
noſſen hatte, machten ihm doch Talent und Neigung zum warmen 
Freund der Künfte und Wiſſenſchaften; und zwar fehen wir ihn 
einerfeits das Aufslühen der klaſſiſchen Studien fürdern, während 
ex andrerſeits der vaterländiſchen Gedichte mit Liebe zugethan ift. 
&o find es namentlich die Gelehrten, melde diefe beiden Richtungen 
in ihren Studien verbinden, denen Marimilian feine Neigung und 
fein Vertrauen ſchenkt, Männer wie Conrad Celtis, Conrad Peu- 
tinger, Wilibald Pirkheimer. Auf der Grenzſcheide zweier Zeitalter 
fördert Marimilian das neu erwachte Studium der antiten Klaſſiker 
und fühlt fi zugleih Hingezogen zu den ritterlihen Thaten des 
Mittelalters. Er ftiftet an der Univerfität Wien ein Collegium . 
poeticum ganz im Sinn des neuen Humanismus. Horaz und 
Eicero, Terenz und Living werden nun an der Wiener Hochſchule 
behandelt wie früher bort noch nie. Derjelbe Kaifer aber ließ mit 
großem Eifer die Denkmale der deutſchen Geſchichte, Sprade und 
Literatur 1) aufſuchen. Für ihm wurde in den Jahren 1504 bis 
1517 2) die unſchätzbare Handſchrift gefhrieben, die uns unter 
Anderem eine der jhönften Perlen mittelhochdeutſcher Dichtung: die 
Gudrun, erhalten hat. 

Die deutſchen Humaniften zeigen uns gleih von Anfang an 
die antik klaſſiſchen Studien in Verbindung mit der wärmften Be- 
geifterung für das eigene vaterländiihe Altertfum. Wir nennen 
bier zunäcift zwei @elehrte, die fi nicht ſowohl durch bedeutende 
wiſſenſchaftliche Leitungen, als durch ihren vaftlofen Gifer für die 
Ausbreitung der Haffti hen Studien hervorgethan haben: Jakob 
Wimpheling und Heinrich Bebel. Jakob Wimpheling, geboren 
zu Schlettſtadt im 3. 1450, geftorben ebendafeldft 1528, war wäh- 
rend feines langen Lebens in den Stäbten des Elſaß und ber be 
nachbarten Gebiete durch Lehre und Schriften für die Förderung 





1) 2gl. u. 9. Beatus Rhenanur, Rerum Germanicarum libri tres, 
Basil. 1531, p. 107.— 2) ®gl. Pfeiffer's Germania IX (1864) ©. 381— 
384. 


Die Anfänge ber beutfchen Alterthumsforſchung im Reformationegeitalter. 11 


ter klaſſiſchen Studien thätig '). Zugleih aber war er erfüllt von 
dem regſten Eifer für bie Ehre des deutſchen Vaterlands. In 
diefem Sinn bewog er den Sebaftian Murro, eine hırze Ge- 
idichte der deutſchen Großthaten zu fchreiben, und als Murro über 
diefer Arbeit ftarb, nahm Wimpheling fie ſelbſt in die Hand und 
vollendete fie (1502) ?) in feiner Epitoma Germanicarım rerum. 
Er faßt darin Alles zufammen, was an friegeriihen Großthaten, 
an Tüchtigfeit der Sitte, an Leiftungen auf dem Gebiet der Künfte 
und Wifſenſchaften zum Ruhm des deutichen Voltes gereiäht, und ges 
langt zu dem Ergebniß, daß fein Volt der Erde ſich mit dem deut- 
ſchen meſſen könne. Hier bieten ihm nun die neu aufgeichloffenen 
antifen Quellen für die ältefte deutſche Geſchichte die trefflichſte 
Hülfe. Namentlih dient ihm die Germania des Tacitus 3), um 
die unũberwindliche Tapferkeit und die reine Sitte unfrer Bor- 
fahren zu erweifen. Zugleih aber ſehen wir an Wimpheling’s 
Schrift, wie die Kenntniß unferer älteften Geſchichte an das allmäh- 
liche Belanntwerben ber antiten Schriftfteller gebunden ift. Mehr- 
mals fommt nämlich Wimpheling mit Bewunderung auf den glän- 
senden Sieg ber Germanen über Barus zurüd, aber ohne dabei 
den Namen des Arminius zu nennen 4). Sicerlih würde er dies 
nit unterlaffen Haben, wenn ihm ſchon die berühmte Stelle in den 
Annalen des Tacitus über die Größe des Arminius 5) belannt ge 
weien wäre. Aber diefe Stelle findet ſich im fehlten Bud der 
Annalen und wurde mithin erft im Jahre 1515 durch ben Drud 
zugänglich gemadt 6). Wie bie ältefte, jo behandelt dann Wimphe- 


1) gl. Melch. Adam. Vitae Theologorum (3) 1706, p. 11. &. 
Hagen, Teutſchlande literar. und relig. Verhältniſſe im Reformationszeitalter, 
&.L, 1841, ©. 2449 fg. — 2) ©. bie Witinung an Thomas Wolf vom 24. 
Sept. 1502 in Wimpheling's Epitoma bei Schard (1574) p. 350. — 
3) Bgl. Wimpheling's Epitoma c. 4 (p. 353 bei Sqhard), c. 7I (p. 399 
bei Eqhard). — 4) Bol. ebenb. 0.4 (p. 358 Schard), c. 69 Ip. 398 
&erb). — 5) Annal. 11.88. 6) Die erften ſechs Bücher von Tacitus Annalen 
zuerſi herausgegeben won Phil. Beroalbus 1515. Dieſelbe Beobachtung Täpt 
fi an den weiter unten beſprochenen Schriften des Heine, Bebel vom I. 1501 


12 Zweiles Kapitel. 


ling aud) die folgende Zeit als einen Spiegel deutſchen Ruhmes, 
und nicht ohne Wehmuth Iefen wir, wie er vor allen die Vorzüge 
feines gefegneten Elſaß preift ') und beifen echte und uralte Deutfch- 
heit Frankreich gegenüber hervorhebt 2). Was Wimpheling für den 
Elſaß, das war für das württembergiſche Schwaben Heinrich 
Bebel. Geboren zu Yuftingen auf der raufen Alb um 1472 
wurde er 1497 Lehrer der Beredſamleit und Pocfie zu Tübingen 
und wirkte dort bis zu feinem Tod (1516) mit großem Beifall für 
die Ausbreitung der Haffiihen Studien 3). ber fo fehr er Die 
Alten und ihren Geſchmad als Mufter pries, fo innig hieng er an 
feinem deutſchen und befonber3 wieder an feinem ſchwäbiſchen Bater- 
land. Das Erftere zeigt er in feiner 1501 gehaltenen Oratio ad 
regem Maximilianum de ejus atque Germanise laudibus +), 
das Zweite in feiner 1504 geicriebenen Epitoma laudum Bue- 
vorum 5). Auch er gründet fein Lob der alten Germanen auf die 
Zeugniffe der antifen Schriftfteller ©), meint jedoch, wenn wir die 
Thaten unferer Vorfahren aus deutſchen Berichten erfahren könnten, 
fo würden fie noch weit glänzender erſcheinen ). Hätten die 
Deutſchen in den Jahrhunderten feit Karl dem Großen folde Ge— 


und 1504 maden. Auch hier wird bie Nieberlage bes Varus mehrfach her— 
vorgehoben, aber immer ohne Nennung bes Arminius. Dagegen erfüllt der 
Name des Mrminius bald nad dem 3. 1515 die Schriften der deutſchen Pa: 
trioten. ©. Ulrich) von Hutten: In ducem Wirtenpergensem oratio tertia 
8. 19 (Opera ed. Böcking V, 45) vom 3. 1517, verglichen mit Tac. ann. 
1, 88, und guten’ Arminius (Böcking IV, 407 sq.) vom 9. 1520, 
— 1). 0.72 (p. 399 sq. Schard.) Auch den Straßburger Münfter (c. 67, 
p- 397) und Martin Schön's Gemälde (c. 68, p. 397) erhebt Wimpheling 
mit gerechtem Stolze. — 2) ©. 349 fg. bei Schar. — 8) Bol. ben Artikel 
Bebel von Eonz in der Allgem. Encyelop. von Erf und Gruber Thl. 8 (1822) 
©. 274 fg. — 4) Gebrudt mit mehreren anderen Schriften Bebel's Phorce 
1504. — 5) In Gofbaf’s Suericarım rerum scriptores aliquot, Francof. 
1605, p. 28 sq. — 6) Bergl. Laudum Suer. Epit. p. 29 (bei Golbaft 
1605). Oratio de laud. Germ, 8I, 8b. — 7) Laudum Suer. Epit. 
p 9. 


Die Anfänge ber deutſchen Alterthumsforſchung im Reformationsgeitalter. 18 


ſcichtſchteiber gehabt, wie bie Griehen und Nömer, fo würden die 
großen Männer unferer eigenen Vorzeit ben gerühmten Griechen 
md Römern noch voranftehen‘). Bor allen aber preift Bebel 
feine großen ſchwäbiſchen Kaiſer, die Staufer Friedrich ben Erſten 
und Friedrich ben Zweiten 2). 

Die Verbindung, welche die klaſſiſchen Studien in Deutſchland 
mit der Erforſchung bes deutſchen Alterthums eingiengen, tritt uns 
beſonders deutlich entgegen an einigen der Gelehrten, welche zu 
Kaijer Maximilian I. in näherer Beziehung ftanden?). Conrad 
Geltis, geboren zu Wipfeld unmeit Schweinfurt in Franken am 
1. Februar 1459, als Sohn eines unbemittelten Weinbauern, machte 
jine Studien zu Köln, Leipzig, Erfurt und Heidelberg. Einer der 
thätigften Begründer der klaſſiſchen Studien in Deutſchland zeih- 
nete ſich Celtis beſonders durch feine Geſchicklichleit in Verfertig- 
ung lateiniſcher Verſe aus, und dieſe Eigenſchaft brachte ihm die 
hohe Ehre, daß ihn Kaiſer Friedrich I. im Jahr 1487 auf der 
Burg zu Nürnberg feierlich zum Dichter krönte. Celtis gehörte 
zu ben Gelehrten, die auch, nachdem fte bie Jahre der Jugend Hin: 
ter fih haben, es nicht lange an einem und demſelben Orte aus- 
halten. Bald nad; jeiner Dichterkrönung tritt er eine Reife nad 
alien an. Er lernt die dortigen Humaniften kennen, beſucht zu 
Rom die Alademie des Pomponius Laetus, findet fi aber in Ita 
lien wenig befriebigt, da ihn der Hochmuth verlegt, mit welchem 
die Italiener auf die beutihen Gelehrten herabbliden. Aus Ita 
lien zurüctgefehrt, hält er ſich bald in Nürnberg, bald in Ingol⸗ 
ftabt, Bald im Heidelberg und Mainz auf. Hier ftiftet er bie 
rheiniſche Gelehrten Gefelliaft für die Veförberung ber Naffifhen 
Kiteratur und die Erforihung vaterländifher Geſchichte. Endlich 
folgt er einem Auf an die Univerfität Wien, den Kaiſer Marimi- 
lian im Jahr 1497 an ihn ergehen läßt. Aber auch fein bortiger 


4) Or. de laud. Germ. 8. 5. — 5) Or. de land. Germ. 
U. 13b fg. Laudum Suev. Epit. p. 38 6q. — 6) Auch Wimppeling 
und Bebel Tafjen Marimitian’s Lob ertönen, und ber Leblere dankte ihm ein 
Bappergeichen (Gom a. a. O. 278), 


14 . Zweites Kapitel. 


Aufenthalt ift unterbrochen durch mannigfahe Reifen, namentlich 
durch eine im Jahr 1498 und 99 unternommene, die fih bis in 
den flanbinavifcen Norden und nad Lappland und Livland er- 
firedte. Alle diefe Reifen ftehen in näcfter Beziehung zu dem Le- 
bensplan des Geltis. Mit feinen eifrigen Bemühungen für die 
Förderung der Haffiigen Studien verband nämlich Celtis den Plan, 
ein großes Wert über Deutjhland und die Deutſchen zu fchreiben, 
dem er den Titel Germania illustrata geben wollte. Auf feinen 
Neifen fpürte er den Quellen des deutſchen Altertfums nad) und 
ſuchte Land und Leute aus eigener Anſchauung Tennen zu Ternen. 
Auf der Univerfität zu Wien las er nicht mur über Horaz, 
Terenz und andere Gegenftände der ausſchließlich klaſſiſchen 
Philologie, fondern aud über allgemeine Geſchichte, über Geo⸗ 
graphie nah Ptolemaeus und über die Urgeſchichte Deutſch⸗ 
lands mit Bugrunbelegung bes Tacitus, Cr veranftaltete eine 
Ausgabe von Tacitus Germania, entbete die antite Land- 
tarte, die umter dem Namen der Tabula Peutingeriana be- 
Tannt ift, und war ber erfte, der die Stüde der Ganbersheimer 
Nonne Hrofwitha veröffentlichte. Das Heldengedicht Ligurinus, 
das die Thaten des Kaifers Friedrich Barbaroſſa feiert, wollte 
Celtis im Kloſter Eberach gefunden Haben: Er übergab e8 feinem 
Freund Conrad Pentinger, der es 1507 zu Augsburg herausgab. 
Die neuere Kritit hat die Unechtheit dieſes Werkes erwieſen. Iſt 
es von Conrad Celtis felbft gemadt, fo beweift es, „wie gut es 
ihm gelungen war, eine lebendige Anſchauung ber mittelalterlichen 
Zuftände fi zu erwerben“ 1). Das große Lebenswerk, das Celtis 
ſich vorgefeßt, die Germania illustrate, fam nit zur Ausführung. 
Mitten in feinen Sammlungen und Vorarbeiten traf ihn am 
4. Februar 1508 der Tod. Das Gedicht de situ et moribus 
Germaniae, das fih unter ben Schriften des Celtis findet, gibt 
zwar feine Vorftellung von dem, was er in jenem umfaffenden 
Wert zu leiften vorhatte 2), aber dod läßt es ebenfo, wie die an⸗ 

1) Worte Wattenbach's, Deutſchlande Geſchichtoquellen, Berlin 1858, 
©. 3. Bol. aber auch die zweite Aufl, 1866, ©. 3. — 2) Ueber Conrad 





Die Anfänge der deutſchen Altertgumsforfung im Reformationszeitalter. 18 


deren Eihriften des Geltis fehr zweifelhaft erſcheinen, ob die großen 
Erwartungen, bie man von feinem Werke hegte, in Erfüllung ge 
gangen fein würden. 

Eine der eigenthũmlichſten Erſcheinungen in der Gedichte des 
deutigen Humanismus ift der Abt Johannes Trithemins. 
Geboren im J. 1462 in dem Dorfe Trittenheim bei Trier, warf 
er fih nach harten Jugendſchichſalen zu Heidelberg auf das Stur 
dinm der lateiniſchen, griechiſchen und hebräiſchen Sprade. Conrad 
Geltis war fein Lehrer im Griehifhen. Später wurde er durch 
Johann Reuchlin im Griechiſchen und Hebräiihen weiter gefürbert. 
Im J 1482 in das Benedictiner Klofter zu Sponheim an ber 
Nahe eingetreten, wurde er 1483 Abt dieſes Kloſters. Als ſolcher 
förderte er mit größtem Eifer gelehrte Studien und ſammelte eine 
Bibliothek, die zu den berühmteften jener Zeit gehörte. Im J. 
1506 wurde er Abt des Schottenklofters St. Jakob in Würzburg. 
Hier ſiarb er am 13. December 1516 '). Trithemius galt feinen 
Zeitgenoſſen für ein Wunder der Gelehrſamleit. Er war nit nur 
mit den drei alten Spraden: dem Lateiniichen, Griechiſchen und 
Hebräiichen, befannt, ſondern er hatte ſich zugleich umfafjende 
Kenntniſſe auf dem Gebiet der Theologie und Geſchichte erworben; 
und jeine Beſchäftigung mit der Geheimfhrift, die er in wunder⸗ 
fie fabbaliftiiche Formen kleidete, brachte ihn fogar in den Auf ber 
Zauberei. Als Geſchichtſchreiber hat Trithemius lange Zeit in 
hohem Anſehen geſtanden. Je mehr aber die genauere Kenntniß 
der Geſchichte wuchs, um fo tiefer ift die Achtung vor den Angaben 
des Trithemins gefunten. Insbeſondere ift dies der Fall mit ber 
älteren deutſchen Geſchichte, auf deren Darftellung ſich Trithemius 
in mehreren feiner Werte eingelafjen Hat. Hier nämlich ſchöpft er 


Geltis vgl. De vita et scriptis Conradi Celtis Protucii — opus pos- 
thumam B, Engelberti Klüpfelii, Friburgi Brisgoviae 1827. — Artitel 
Geltes in der Algem. Encyclop. von Erſch und Gruber, Theil 21, 
6. 135 — 140. — Siephan Endlicher in Hormayı's Archiv für Geſchichte, 
Satißit m f. f. 1821. 1825. — 1) Die obigen Angaben find entnommen 
aus Dr. Silbernagel, Johannes Trithemius, Landehut 1868. 


16 Zweites Kapitel. 


aus Quellen, von deren Dafein fonft niemand etwas weiß. So 
aus einem alten fränkiſchen Chronographen Hunibald, der zur Zeit 
des Chlodwig gelebt Haben und feinerfeits wieder den Sicamber 
Wafthald benugt haben ſoll i). Daß bier eine Fälſchung vorfiege, 
vermutheten ſchon ſchärfer blickende Zeitgenofien des Trithemius, 
die Folgezeit aber hat nicht nur dieſen groben Betrug vollſtändig 
nachgewieſen, ſondern auch zu einem hohen Grab von Wahrſchein⸗ 
lichkeit gebracht, daß Trithemius feldft der Fälſcher war 2). Unter 
folgen Umftänden könnte es feinen, als wenn Trithemius kaum 
der Berüdfichtigung werth fei. Aber jo fehr auch Trithemius durch 
feine Fälſchungen feinem Ruf geſchadet Hat, fo war er doch nach 
manden Seiten hin ein fehr verbienter Gelehrter. Namentlich tru- 
gen feine literargeſchichtlichen Arbeiten zur Ausbreitung mannige 
facher Kenntniſſe bei, und dieſe find es, welche auch uns Bier zu- 
nächft angehen. Im J. 1494 vollendete Trithemius ein Wer! De 
seriptoribus ecclesiasticis ?). Aufgeforbert von Jakob Wimphe- 
ling *), dem patriotifden Humaniften zu Schlettftabt, Tieß er im 
J. 1495 darauf folgen einen Catalogus illustrium virorum Ger- 
maniam suis ingeniis et lucubrationibus omnifariam exornan- 
tium 5). In diefen Heiden Werken findet fi die erfte Erwähnung 
des Otfried von Weißenburg und feines Evangelienbuchs ©), als 
deſſen Titel Tritfemius Gratis theotisce ’) bezeichnet. Die ver- 
worrenen Angaben des Trithemius zeigen ebenſo deutlich, daß ihm 
wirklich eine Handſchrift von Otfried's Evangelienbuch vorgelegen 
hat, wie daß er dieſelbe nur obenhin durchblättert haben kann 8). 


NE. bes Trithemius De origine gentis Francorum compendium 
in (Scharb’e) Historicum opus, Tom. I., Basileae (1574) p. 301 6q. — 
2) ©. das oben angeführte Werf von Silbernagel &.189—195. — }B) Ueber 
eine frühere und eine fpätere Bearbeitung ſ. Silbernagel a. a, DO. S. 66. — 
4) Bgl. die Epistola des Trügemius an Wimpheling vor dem Catalogus, — 
5) Aud Hier eine doppelte Ausarbeitung. Gilbernagel S. 66. — 6) De 
seriptoribus ecelesiasticis, Paris. 1512, fol. 68b. Cathalogus (sic) etc. 
8.1. et a fol. 7b. — 7) Cathal. fol. 8. — 8) Vgl. Otfribs Evangelien- 
Bud, von Joh. Kelle, Einl. ©. 24. 


Die Anfänge der deutſchen Alterigumsforfgung im Reformationgzeitalter. 17 


Bern ex übrigens von Otfrid's Dichtungen fagt: „Quae nemo 
facile nostra aetate legere et intelligere potest, quantumcun- 
que sermonis nostri peritus® !), fo zeigt er ſich hierin einſichts⸗ 
voller, al mande Spätere. Freilich follte er nicht in feiner über- 
treibenden Weife hinzufügen: „quippe cum sermo ille regulatus 
nostro plus differat quam ethruscus a latino“ ?). Wobei nicht 
mr in dem etruscus a Iatino eine ftarle Webertreibung, fondern 
and) noch in dem regulatus die irrige Meinung liegt, als famen 
Oiftid's volle und dem 15. Jahrhundert umerftänblihe Formen 
daher, daß Otfrid feine deutſche Sprache geregelt habe, und zwar, 
wie Trithemius ammimmt, nad) der Grammatik, die Karl der Große 
gemacht Habe >). Mit biefer Grammatik ſetzt Trithemius den Ot⸗ 
frid auch nod in einem anderen Werk in Beziehung, nämlid in 
feiner 1508 4) vollendeten und 1518 im Drud erfdienenen Poly- 
graphia 5). Dieſe, fowie bie übrigen Nachrichten, die Trithemius 
über Otfrid gibt, würden natürlich einen bedeutend Höheren Werth 
haben, wenn ihr Verfafler ein zuverläffigerer Mann wäre. In 
eben jener Polygraphia findet fi übrigens noch eine andere 
unſrem Gebiet angehörende Merkwürdigkeit, nämlich bie Mittheil- 
ung eines von Trithemius ben franzöſiſchen Normannen zugeſchrie⸗ 
benen Runenalphabets 6). 

Wie Conrad Celtis, fo verband fein Freund Conrad Beu- 
tinger das Studium des llaſſiſchen mit dem des deutſchen Alter- 
thıms. Einer angefehenen Familie Augsburgs entfprofien, wurde 
Conrad Pentinger am 15. Oftober 1465 in diefer Stabt geboren. 
Seine humaniſtiſche, fo wie feine juriftifhe Bildung erwarb er ſich 
durch einen mehrjährigen Aufenthalt in Italien, wo er in Pabua, 
Bologna, Florenz und Rom bie angefehenften Vertreter des italie- 
niſchen Humanismus perſönlich kennen lernte. In feine Vaterſtadt 
zurüdgelehrt, trat er im Jahr 1490 in deren Dienſt, wurde 1497 


1) Cathal. 1.1. — 2) Cathal. .1.— 8) Eben. — 4) ©. bie 
Polygraphiae libri sex, 1518, ®[. 11. — 5) Ebend. 1. VL, 8.4. — 
6) Wuf dem zweiten BI. des 6. Buche der Polhgraphia (1518). Bol. ®. 
Grimm, Ueber deuiſche Runen, 1821. ©. 161g. 

Raumer, Geh. der germ. Philologie. 2 


18 Zweites Kapitel. 


Stadtſchreiber auf Lebenszeit und vertrat die Intereſſen Augsburgs 
bei den wichtigften Angelegenheiten. Diefe Thätigleit brachte Peu⸗ 
tinger in nahe Berührung mit Kaifer Marimilian L, der ihm den 
Titel eines Taiferlihen Rathes verlieh und ihn nicht nur als 
Staatsmann und Mechtskundigen, fondern eben fo fehr als Ge— 
lehrten und Runftverftänbigen Hodfhäßte. Die Iegten Jahre feines 
Lebens brachte Peutinger in ftiller Zurüdgezogenheit zu, nachdem 
ex im Jahr 1534 feinen Abſchied aus den Dienften der Stadt ge- 
nommen hatte, weil er bie entſchiedene Durchführung der Firchlicden 
Reformation nicht billige. In hohem Alter und in den glüdlich- 
ften Familienverhältniſſen farb er am 28. December 1547. Peu⸗ 
tinger ftand in Verbindung mit den angefehenften Humaniſten fei- 
ner Zeit. Sein ftattlihes Haus Bilbete einen Mittelpunkt der 
Gaftfreigeit für ihren Verkehr. Die reichſten Sammlungen von 
Büchern, Inſchriften und Münzen ftanden ihnen dort in liberalſter 
Weiſe zur VBenugung offen. Wie bedeutend diefe wiſſenſchaftlichen 
Schätze waren, erfieht man aus den bewunbernden Beugnifjen der 
Zeitgenoffen °). Knupft fih doch bis auf den heutigen Tag. Peu- 
tinger's Name an einen der merhvürbigften Mefte des römiſchen 
Alterthums, an jene mittelalterliche Copie einer Reichscharte aus 
der römifchen Kaiferzeit, die Conrad Celtis auffand und feinem 
Freund Peutinger vermacte, und die dann nad mannigfachen 
Shidfalen in die Bibliothek des Prinzen Eugen und mit dieſer in 
die laiſerliche Bibliothel in Wien kam. Für Peutinger felbft bildete 
die eigenthümlihe Stellung, welche das uralte Augsburg fon in 
der Römerzeit einnimmt, gewilfermaßen das Bindeglied für bie 
llaſſiſchantile und bie deutjch⸗geſchichtliche Forſchung. Die römiſchen 
Inſchriften, welche der Boden Augsburgs und ſeiner Umgebung in 
reicher Anzahl liefert, veranlaßten Peutinger im Jahr 1508 zur 
Herausgabe feiner Romanae vetustatis fragmenta in Augusta 
Vindelicorum et eius dioecesi. Zugleich aber gaben ihm bie 


1) ©. d. Epistola nuncupatoria des Beatus Rhenanus vor ber (far 
teinifpen) Ausg. des Procop. de rebus Gothorum etc. Basil. 1531. — 
Lotter-Veith p. 54 2q. — Herberge ©. 37 fg. 


Die Anfänge ber deutſchen Alterthumeforſchung im Neformationszeitalter. 19 


alten Zuftänbe. des linken Rheinufers Gelegenheit, mit dem Anfger 
bot einer feltenen Belefenheit in den antilen Autoren ben Beweis 
zu führen, daß jene Gegenben ſchon in und vor ber Zeit des Julius 
Cäfar von Germanen befet worden find. Er that bies im der 
Schrift, die im Jahr 1506 zu Straßburg unter dem Titel erſchien 
Sermones convivales, in quibus multa de mirandis Germaniae 
antiquitatibus referuntur. Peutinger's XThätigfeit beſchränkte fi 
aber nicht auf jene älteften germaniſch⸗römiſchen Verhältniffe. Er 
erwarb fich vielmehr auf um bie Gedichte der Völkerwanderung 
und der mittelalterlihen Zeit große Verdienſte dur Herausgabe 
widtiger Quellen. Den Jornandes De rebus Getieis veröffent- 
fihte er, Augsburg 1515, zuerft, und den ihm vorangeſchickten 
Paulus Warnefridi zwar nicht, wie er glaubte, zuerft, aber doc 
weit befier als im vorangehenden Jahre Afcenfius zu Paris ). 
In demſelben Jahr 1515 ebierte Pentinger dic Chronik des Abtes 
von Ursperg, eine der wichtigſten Quellen der Stauferzeit; und 
wenn ex, gleichfalls im Jahr 1515, die Fabeleien feines Freundes 
Trithemius über die Urgeſchichte der Franken zum Drud beförderte, 
jo durchſchaute fein kritiſcher Blid doch ganz Har die Unwahrheit 
dieſes Machwerks 2). 

Was Conrad Celtis im Sinne gehabt, eine Germania illu- 
strata, das fuchte fein Schüler Johann Turmair zur Ausführ- 
ung zu bringen. Geboren im Jahr 1477 zu Abensberg in Nie 
derbayern, nannte er fi von dieſem feinem Geburtsort Aventi⸗ 
uns. Auf der Univerfität Ingolſtadt widmete er fih vom Jahr 
1495 His 99 dem Studium der antilen Literatur. Unter feinen 
Lehrern war Conrad Eeltis, und als diefer im 3.1497 nad Wien 


1) Bgl. Wattenbach, Deutſchlands Gefchictsquellen im Mittelalter 
&. 3. — 2) 6. bie handſchrifiliche Randbemerfung Peutinger's in Historia 
vitae atque meritorum Conradi Peutingeri. Post Jo. Ge. Lotterum 
&d. Franc. Anton, Veith, Augustae Vindel. 1788, p. 87. — Außer dem 
hen angeführten Werk vgl. Über Peutinger: Gonrad Peutinger in feinem 
Verhältniffe zum Kaifer Marimilien I. Bon Theodor Herberger, Augsburg 


1851. 
ge 


20 Zweites Kapitel. 


überftebelte, folgte ihm 1499 Aventinus nad und lebte bort im 
vertrauten Umgang mit feinem berühmten Lehrer 1). Nah man- 
nigfachen Wanderungen Tehrte Aventin (1507) in fein Vaterland 
zurüd und wurde im darauf folgenden Jahre von Herzog Wil- 
heim IV. von Bayern zum Erzieher von beffen jüngeren Brüdern 
Ludwig und Ernſt berufen. Bu diefem Poften war Aventin wie 
gefhaffen. Denn mit einem tüchtigen Charakter vereinigte er nicht 
Bloß eine gründliche Maffifhe Bildung, fondern auch bie wärmfte 
Liebe zur vaterländiſchen Geſchichte, und auf den Unterricht in bie- 
fer legteren wurde von dem bayeriſchen Fürſten ein Befonberes 
Gewicht gelegt. Als Aventin im J. 1517 feine Aufgabe als Er⸗ 
zieher der beiden Prinzen gelöft hatte, zog er fi in das Privat- 
leben zurüd und wibmete fih nun mit Unterftügung der bayerifchen 
Herzoge ganz der Erforſchung und Darftellung ber deutſchen und 
insbefondere ber bayeriſchen Geſchichte. Seinen Aufenthalt nahm 
ex zuerft in feiner Vaterſtadt Abensberg, fpäter in Regensburg und 
Ingolſtadt. Aber einen großen Theil feines Lebens bradte er auf 
Neifen zu in unermüdlicher Durchforſchung ber Bayeriihen öfter 
lichen und ftäbtifen Archive und Bibliotheken. Am 9. Januar 
1534 ift er zu Regensburg geftorben ?). Unter den Schriften bes 
Aventin kommen außer einigen grammatifchen,.von denen in einem 
fpäteren Abſchnitt die Rede fein wird, insbefondere feine drei vor- 
züglichſten Werke für unferen Zwed in Betracht: Seine Chronik 
der alten Deutfhen, feine Annales und feine bayerifhe Chronik. 
Seine „Chronica von vriprung, herkomen, vnd thaten ber vhr⸗ 
alten Teutſchen,“ die erft im I. 1541 zu Nürnberg im Drud er- 
f&ien, war der Anfang einer Germania illustrata, zu welder 
Agentin im Anhang zu feinem Abacus (1532) den Entwurf mit 


1) Wiedemann (f. u.) ©. 9, nad Aventin's Hauskalender (Berhand- 
ungen bes Giflor. Vereins für den Megenfreis, Jahrgang II.) ©. 10. 
Pol. auch (Bayer.) Chronica 1566 BI. 5a. — 2) Die obigen Angaben 
über Aventin’s Leben find entnommen aus Theodor Wiebemann, Johann 
Turmair, genannt Aventinus, Geſchichtſchreiber des bayerifhen Volkes, reis 
fing 1858, 


Die Anfänge der beutfehen Alterthumoforſchung im Reformationsgeitalter. 21 


getheilt Hatte 1). Bunächft mit Bayern, zugleich aber auch mit ber 
deutſchen Geſchichte überhaupt befhäftigen fich Aventin’s Annalium 
Boioram libri septem (verftümmelt gebruct zu Ingolſtadt 1554 
und vollftändig zu Bafel 1580) 2) und deren deutihe Umarbeitung. 
Diele letztere, Aventin's Hauptwerk, ſchrieb er in ben Jahren 1526 
bis 1538, aber erft lange nad; Aventin's Tobe im J. 1566 erſchien 
fie zu Frankfurt im Drud. Aventin ift ein Geſchichtſchreiber von 
fittlich tüchtigem Charakter und edit deutſcher Gefinnung. Seine 
deutſchen Schriften find in Sprade und Darftellung vorzüglid. 
Er ſucht, die Geſchichte auf Urkunden und Denkmäler zu gründen. 
Auch fehlt es ihm nicht an gefunden kritiſchen Bliden. Im Gan- 
zen aber überwiegt bei ihm bie Bhantafie das kritiſche Urtheil, und 
fo begegnet es ihm 3. B., den untergeſchobenen Berofus des An- 
nins von BViterbo als eine echte Quelle zu benützen ®). Aber eben 
diefe an einem Hiftorifer leineswegs lobenswerthe Eigenſchaft kommt 
ifm gerade auf unſerem befonderen Gebiet zu ftatten, indem er nicht 
aur die Urkunden und Hiftorifer, fondern auch die Lieber und Sagen 
bes beutfchen Volles unter feine Quellen aufnimmt *). Aud Cornelius 
Tacitus, fagt er, „brauche ſich difer vorgebachten alten lieder ger 
zeugnus.“ „Darumb will id aud; in diſem werd vnſerer alten 
vorfordern gefang, lieber vnd geſchicht ſchreiber zimlicher weis vnd 
mit höchſtem vrtheil vnd vnterſcheid gebrauchen.“ Danach verfährt 
Aventin auch in feinen anderen geſchichtlichen Werken. Ex kennt 
und benutzt bie deutſche Heldenpoeſie und die noch fortlebende 
Vollsdichtung. „Bon diefen dingen und ſachen allen”, fagt er ein- 
mal in feiner Bayeriſchen Chronik, „feind noch viel alte Teutſche 
Neimen und Meiftergefeng vorhanden in vnſern Stifften ond Klö— 
ftern, denn ſolche Lieder allein feind die alte Teutſche Chronica, wie 
denn bey vns noch ber Landsknecht brauch ift, die allweg von ihren 
Schlachten ein Lied machen.“ 5) Aventin beruft fi) dann auch aus- 
drüclich auf einzelne Theile unferer alten Heldendichtung. So fagt 


1) Biebemann a. a O. ©. 248 fg. — 2) Ebend. ©. 276. — 
3) Bol. Gayer.) Chronica 1580 BI. 3a. 4a. — 4) Chronica von vr⸗ 
ſprung, Herfomen vnd thaten ber vhralten Teutſchen, BL. 20b. — D Johan⸗ 
nis Aventini Chronica, Frandfurt 1566, BI. 802 b. 


22 Zweites Kapitel. 


er in der bayerifchen Chronik: „König Lareyn, von weldem wir noch 
viel fingen vnd fagen, feyn alte Reimen ein gang Buch voll von 
jm noch vorhanden, doch auff Poetiſch art gefegt.“ *) „Vnſer Leut”, 
beißt es am einer anderen Stelle von Dietrih von Bern, „fingen 
vnd fagen noch viel von jm, man findet nit bald ein alten König, 
der dem gemeinen Mann bey uns fo bekannt ſey, von bem fie fo 
viel wiſſen zu ſagen.“ 2) Aventin kennt den lateiniſchen Waltharius 3) 
und benugt bie altdeutſchen Dichtungen über Karl den Großen. 4) 
Aber Aventin zieht nicht bloß bie deutſche Sage, fondern auch die 
deutſche Sprache in ben Vereich feiner geſchichtlichen Forſchung. Im 
Anſchluß an Johann von Dalburg, Trittenheim und Conrad Celtis, 
„etwan“ feinen „Lehrmeifter“,5) ſammelt er Wörter, „fo den Grie⸗ 
hen vnd Teutſchen ein Ding heiſſen“, e) wollte au ein „Büchel“ 
darüber herausgeben.®) Denn „fürwar” jagt er, „die Teuti Sprach, 
vnd vorauß die Sächſiſch vnd Niderländiſch, vergleicht ſich faft in 
alfen dingen Griechiſcher zungen, gehet faft auff die Griechiſchen 
art." 6) Beſonders aber hat Aventin fein Abſehen gerichtet auf die 
etymologiſche Erflärung der deutfhen Namen. Denn auf die Nas 
men hätten unfere Vorfahren einen großen Werth gelegt.”) Daß 
Aventin bei dem bamaligen Stand der Kenntniſſe noch nichts Halt- 
bares für die Erflärung der beutihen Eigennamen leiften Tonnte, 
verſteht fih von ſelbſt. Merhwürdig aber ift e8, wie er trog aller 
Mißgriffe doch bereit in manden Dingen die richtigen Wege ahnt. 
So fieht er, daß die Römer und Griechen die deutfhen Namen 
öfters verändert haben, weil ihre Ausſprache von der deutſchen ver- 
ſchieden war. 2) Bon befonderem Werth aber ift für unferen Zwei, 
was Aventin bei dieſer Gelegenheit über die Verſchiedenheiten der 


1) Gayeriſche) Chronica 1580, BI. 360. — 2) Ebend. BI. 259 a. — 
3) Annal. Boj. 1580, p. 165. Bgl. W. Grimm, Deutſche Heldenfage (2) 
&.805. — 4) Aventini Annalium Boiorum libri VI, Basil 1580, p. 217. 
238. — 5) (Baperifje) Chronica 1566 BI. 5a. — 6) Ehend. BL. 25a. Bgl. 
Aventin’s Chronica von vrfprung ber vhralten Teutſchen, Nürnberg 1541, 
Bl. 35. — 7) Bayer. Ehron. 1566, BI. 5a. (Bgl. Ehronica von vrſprung — 
der vhralten Teutſchen, 1541, BL 40 fg.) — 8) Ebend. 


Die Anfänge ber deutſchen Altertfumsforihung im Reformationszeitalter. 23 


deutſchen Munbarten beibringt. So fagt er ımter Anderem: „Ph 
fpregen die Hochteutſchen grob auß, als wers pf. Die Sachſen 
wie die Griechen recht, als denn feyn fol. Niderländer brauchens 
d allein, wo das Oberland pf hat, Balk, Pfalk, Pferdt, Perdt, 
Baff, Baff.“ *) Und ferner: „T haben die Sachſen wo die andern 
Teutſchen | Haben, nad dem Griechiſchen brauch, Wittenberg, 
Weiſſenberg, Watter, Waffer.” 2) 

Eine ber bebeutenbften Stellen unter ben deutſchen Humaniften, 
melde ihre klaſſiſche Gelehrſamleit der Erforſchung des germanifden 
Alterthums zu gute kommen Tießen, nimmt Beatus Rhenanus 
en. Sein eigentliher Familienname war Bilde, aber ſchon fein 
Vater hatte, als er von Rheinau nah Schlettſtadt zog, Hier den 
Ramen Rhenanus erhalten... In Schlettftabt wurbe im J. 1485 
Beatus Rhenanus geboren. Auf der dortigen Schule vorgebildet, 
ging er nad) Paris und wibmete fih dem Studium der griechiſchen 
und römiſchen Literatur. Nah Deutſchland zurückgekehrt, lebte er 
zu Straßburg, Bafel und Schlettftabt ein fleißiges, ftilles Gelehr- 
tenleben. Allem Streit in religiöfen wie in wiſſenſchaftlichen Din- 
gen abgeneigt, wirb er vorzüglich wegen feiner Friedensliebe ge- 
priefen. Mit vielen namhaften Humaniften feiner Zeit ftand er in 
perſönlichem und brieflihem Verkehr. So mit Conrad Bentinger, 
in defien gaftfreiem Haufe er fi während des Reichstags zu Augs- 
burg im Jahr 1530 aufhielt. Nach einer vieljährigen geräufchlofen, 
aber ununterbrochenen und ſehr verdienten gelehrten Thätigfeit ſtarb 
er im Jahr 1547 zu Etrafburg 3). Unter den klaſſiſch-philologi⸗ 
ſchen Leiftungen des Beatus Rhenanus ftehen die namhafteften in 
Beziehung zum deutſchen Atertfum. Er war es, der den römiſchen 
Geſchichtſchreiber Vellejus Paterculus, den Hauptzeugen über die 
Larusfhlacht, entdeckte und aus ber einzigen damals noch vorhan- 
denen und ſeitdem verlorenen Handſchrift zuerft herausgab. Ihm 


1) Ebend. BI. 8b. — 2) Ebend. — 3) Ueber das Leben bes Bentus 
Nenanus ſ. bie Vita Beati Rhenani a Joanne Sturmio eleganter con- 
weripta vor ber zweiten Ausgabe von Beati Rhenani rerum Germani- 
carım libri tres, Basileae 1551. 


24 Zweites Kapitel. 


verdankt man eine Ausgabe des Tacitus, in welcher namentlid die 
Textbehandlung der Germania epodemadend war.!) Denn wenn 
auch fpäter eine grünbli—ere Kenntniß fo mande Emendation bes 
Rhenanus wieder über Borb geworfen hat, fo bleibt ihm dod das . 
Berbienft, tiefer in den Sinn der Germania eingebrungen zu fein, 
als irgend einer feiner Zeitgenoffen 2). Weit wichtiger nod war das 
eigentlie Hauptwerk des Beatus Rhenanus, nämlich feine Rerum 
Germanicarum libri tres, die im jahr 1531 zu Bafel erſchienen. 
Es find eingehende, auf umfaflendes uellenftubium gegründete 
Unterfuungen über die Geographie und Ethnographie des alten 
Germaniens. Cine Menge bis dahin noch Iandläufiger Irrtümer 
wird bier befeitigt und der Grund zu einer wiſſenſchaftlichen Be⸗ 
handlung des Gegenſtandes gelegt, fo weit er aus ben Iateinifchen 
und griechiſchen Quellen zu gewinnen ift. Ja au von der Ber 
nugung des Elements, das erft in der neueren Wiſſenſchaft zu feiner 
vollen Bedeutung gelangt ift, nämlich der alten Sprade, findet ſich 
in biefem Wert des Beatus Rhenanus bereits ein, wenn aud noch 
geringer Anfang. So fagt er, wo er von ber Volksthümlichkeit 
der Franken redet, daß bie Sprade ber Franken bie deutſche ge⸗ 
weſen jei, ergebe ſich aus unzähligen Beweisgründen, vor allem aber 
bezeuge es daS ausgezeichnete in’s Fränkiſche, das Heißt, Deutſche 
übertragene Evangelienbud. Während des Augsburger Reichstags 
im Jahr 1530, erzählt er, habe er einen Abſtecher nad) Freifing 
gemacht, um dort in der Bibliothef des Heiligen Eorbinian nad den 
Deladen des Livius zu ſuchen. Da fei er auf eine Handſchrift ge 
ftoßen, die den Titel führe: Liber Euangeliorum in Teodiscam 
linguam uersus. Das Wert beftehe ganz aus Rhythmen, und 
fein Hohes Alter ergebe fi daraus, daß am Ende ftehe: Waldo 
me fieri iussit. Die Handſchrift ſei alfo ungefähr ſechshundert 


1) Die erſie Ausgabe erſchien zu Bafel 1519, Die zweite eigentlich) epochemachende 
ebend. 1533. — 2) Bier Jahre nach dem Tode des Beatus Rhenanus erjchien 
eine zweite verbefferie Ausgabe: Beati Rhenani Belestadiensis rerum Ger- 
manicarum libri tres, ab ipso antore diligenter reuisi et emendati, 
Basileae 1551. 


Die Anfänge der deutſchen Alierthumoſotſchung im Reformationsjeitalter. 25 


Sabre alt. Und nun theilt er einige Proben aus dem Buch mit, 
in denen wir die erſten gebrudten Zeilen aus der Dichtung bes 
Otfrid von Weißenburg vor uns haben. Beatus Rhenanus hat 
aber noch feine Ahnımg von dem Uriprung umd dem Verfaſſer bes 
Berls. Gr glaubt, es ſtamme aus der Zeit, als die Franken ſich 
zum Ghriftentfum befehrten; das wäre alfo etwa aus dem Ende 
des fünften Jahrhunderts. Mit der von Trithemius gegebenen 
Rotiz über Otfrid bringt er es in Feine Beziehung. !) 

Die gelebrte Erforihung bes deutſchen Wltertfums war dem 
Beatus Rhenanus nicht Bloß ein zufällig ergriffener Theil der 
Erudition. Vielmehr geht durch alle feine Arbeiten ein Bug vater- 
ländifher Freude an der Größe bes deutſchen Volles. Wir follten 
uns nicht immer bloß mit den Geſchichten fremder Völler beſchäf⸗ 
tigen, fagt er in feiner Ausgabe des Profop, während wir doch zu 
Haufe haben, was unfre Bewunderung verdient, und was nicht 
bloß der Kenntniß, fondern auch der Nachahmung werth feinen 
Eönnte. Denn unfer, fagt er, find die Triumphe der Gothen, Van⸗ 
dalen und Franken. Uns gehört der Ruhm der Reiche, welche jene 
in den herrlichſten Provinzen der Römer, ja in Stalien und in 
Rom felbft, der Königin aller Städte, gegrünbet haben. 2) 

Die von Beatus Rhenanus begonnene Unterſuchung der alten 
Bölternerhältniffe ſetzte einige Jahrzehnte fpäter Wolfgang La- 
sinus fort. Geboren zu Wien im Jahr 1514 machte Wolfgang 
Lazius feine Studien auf der dortigen Univerfität. Seinen Lebens» 
beruf fand er in der Arzneikunde, zugleich aber widmete er ſich mit 
Vorliebe philologiſchen und Hiftoriigen Studien. Er wurde ein 
angefehener Arzt in feiner Vaterſtadt, daneben aber übernahm er 
an der Univerfität erft eine Profeffur der artes liberales, fpäter 
eine der Mebicin. König Ferdinand ernannte ihn zu feinem Rath 
und Geſchichtſchreiber. Hochgeehrt ftarb Lazius im Jahr 1565 zu 
Bin.) Lazins war ein ungemein thätiger und fruchtbarer Ger 


1) Im ber erflen Ausgabe (1581) p. 107. — 2) Hinter der Ausgabe 
iss Procop. Basil. 1531, p. 513. — 3) Melchior Adam, vitae Germa- 


26 Zweites Kapitel. 


lehrter auf verfdiebenen Gebieten. Das Wert, bas uns hier zu- 
nãchſt angeht, find feine im Jahre 1557 zu Bafel erſchienenen De 
gentium aliquot migrationibus, sedibus fixis, reliquiis lingua- 
rumque initiis et immutationibus ac dialectis libri XII. Als 
feine Vorgänger betraditet er den Aventinus und den Beatus 
Nhenanus, 1) indem cr, wie diefe, die germaniſchen Völker in ihren 
Wanderungen und Neihsgründungen verfolgt. Ex hat es dabei, 
wie ſchon der Titel feines Werks beſagt, neben ben politiihen ganz 
beſonders auch auf die ſprachlichen Verhältniffe der Völker abge- 
fehen. Aus den Wanderungen und Miſchungen der Völfer follen 
wir ertennen, woher fo viele und fo mannigfaltige Dialekte der 
deutſchen Sprade entftanden find, 2) und wie es andrerjeits zuge- 
gangen ift, daß fo manche Völter, die jet Feine deutſche Sprache 
ſprechen, 3. B. die Spanier, die Franzofen, die Italiener, dennoch 
deutſchen Urfprungs find. 3) Wir müſſen ben eigentlich geſchicht- 
lichen Inhalt des umfangreichen und gelehrten Werts Hier bei Seite 
laffen und uns auf beffen Beziehungen zur deutſchen Sprache und 
Literatur beſchränken. Hier ift ohne Frage das Wert des Lazius 
eins der interefjanteften des ganzen 16. Jahrhunderts. So macht 
3 B. Lazius den Verſuch, ben Unterfhied der Deftreiher und der 
Schwaben aud an ihren Mundarten nachzuweiſen. Wo die Schwa- 
ben den Vocal u Haben, bemerkt er, da ſetzen die Deftreiher und 
„die übrigen von den Marcomanen und Bojen abftammenden Völ⸗ 
ter” den Diphthong au, 3.8. „mul, buch, maul, bauch.“ Außer 
einigen anderen lautlichen Unterſchieden führt Lazins eine Reihe von 
Begriffen auf, welche der Deftreicher mit einem anderen Wort be- 
zeichnet, als der Schwabe. Wo der Schwabe jagt Gelten, da fagt 
der Deftreicher Schaff, den judex nennt ber Oeſtreicher Richter, 
der Schwabe Schulthays u. ſ. w.) Nah Anführung einer An⸗ 
zahl eigenthümliher Ausdrücke der öſtreichiſchen Mundart bemerkt 


norum medicorum (3) 1706, p. 60 sq. Ejusd. vitae philosophorum 
(8) 1706, p. Al sg. Lambecii comment. de bibl. Vindobonensi I, 
1665, p. 37 eq. — 1) Praef. p. 1. — 2) Ebend. p. 5. 10. — 3) Ebend. 
p- 4 sg. p. 7 sq. — 4) Lasius de gentium migrationibus p. 627. 


Die Anfänge ber beutfchen Alterthumeforſchung im Reformationsgeitalter. 27 


dann Lazius, daß in neuerer Zeit ber große Verkehr und der zahl- 
reihe Zuzug aus Schwaben und Franken die Eigenthümlicfeiten 
der öftreichifchen Mundart in Wien und ben anderen größeren 
Städten mehr und mehr verwiſche. Auf dem Lande dagegen und 
in den Heineren Städten habe ſich jene alte, von ben ührigen 
Deutfehen ſehr verſchiedene Mundart noch erhalten.‘) An einer 
andern Stelle beruft fi Lazius auf bie Mundart der Gotſcheer in 
Lrain als einen Meft des alten Schwäbiſchen, und macht bei biefer 
Gelegenheit einige merkwürdige Mittheilungen aus dieſer Mundart.?) 
Wer Lagius begnügt fih nicht mit der Beobachtung der Sprade 
der Gegenwart, fonbern er ſucht in den Bibliothefen der Klöſter, 
die er für feine Fwede unermüdlich durchforſcht, nad Denkmälern 
der alten deutſchen Sprache. So theilt er zuerft bie althochdeutſche 
gereimte Bearbeitung des 138 (139) Pfalms 3) mit, und ebenfo 
ein Stud aus dem althochdeutſchen Phyfiologus ). An einer 
andern Stelle gibt er Proben althochdeutſcher Gloſſen aus einer 
Handſchrift der Canones 9). Das Meifte, was er mittfeilt, ift frei- 
lich fo fehlerhaft, daß man fieht, er hat nur wenig davon verftan- 
den. Aber ſchon die Veröffentlichung feldft gehört zu den bemer⸗ 
Ienswertheften Anfängen unfrer Wiſſenſchaft. Ebenſo die Mittheil- 
ung marcomannifher Runen aus einer „uralten Membrane.“ 6) 
Aber bei weitem das Wichtigſte, deffen erſte Veröffentlichung Lazius 
vergönnt war, find die Brucdftüde aus unferen Nibelungen. Er 
führt fie an als geſchichtliche Zeugniffe ”), von ihrem dichteriſchen 
Werth hat er keine Ahnung, bezeichnet vielmehr ihren Verfaſſer ge- 
legentlich als „poetaster ille Gothicus.* 8) Aber bei dem allen 


1) Eend. ©. 628. — 2) Ebend. S. 451. — 3) Ebend. S. 81. (Aus 
der jebigen Sf. 1609 der Hofbibliothek zu Bien. Nr. XII in Mütlenhoff's 
nd Scherer's Denkmälern.) — 4) Ebend. &. 81. (Mus ber jebigen Hf. 
Kr. 223 der Hofbibfiotget zu Wien. Nr. LXXXI bei Müllenhoff und 
Scherer.) — 5) Ebend. ©. 71 fg. (Mus der Hſ. 40 jur. can. ber Wiener 
doſbibliechel. Gebrudt in Graffs Dintisfa IT, 34-337). — 6) Ebend. 
6.644 fg. (Bgl. W. Grimm, Ueber beutfe Runen, 1821, ©. 79. 80.) — 
7) Ehend. S. 353. 680. 683. 707. 757. — 8) Ebend. ©. 682. 


28 Zweites Kapitel. 


find dieſe Anführungen des Lazius (im J. 1557) eben doch bie 
erften gebrudten Zeilen aus unfrem größten deutſchen Epos !). 
Endlich will ich noch bemerken, daß Lazius auch darin auf dem 
richtigen Wege war, daß er einen Theil der franzöſiſchen Wörter 
aus dem Deutſchen ableitet, wenn er fih aud im Einzelnen ſtark 
vergreift 2). Eine Bufammenftellung der Wörter, welde die Deutſchen 
theils aus dem Griechiſchen, theils aus dem Lateiniſchen entlehnt haben 
folfen, mifht, wie fid erwarten läßt, Entlehntes und Umerwandtes 
* bunt burdeinander 3). Wie fern überhaupt dem Lazius noch eine 
wiſſenſchaftliche Kenntniß ber älteren deutſchen Sprache Tag, zeigt 
ſich fon darin, daß er die vollen Endungen des Althochdeutſchen 
für Nachahmungen des Lateinifhen Hält +). Bon dem Zuftand der 
damaligen Etymologie aber wird man fih einen Begriff machen, 
wenn man hört, daß Lazius meint, die deutſche Betheurung: „auff 
mein trat“, fomme „forte a Druidibus, sacerdotibus ac vati- 
bus Germanorum“ 5). In dem allen aber fteht Lazius nur auf 
ber Entwilungsftufe feiner Zeit, und wir dürfen uns dadurch 
nit hindern laſſen, den der Wiſſenſchaft höchſt fürderlichen Eifer, 
die umfafjende Gelehrfamteit und ben lebendigen Sinn, den Lazius 
als Forſcher zeigt, rühmend anzuerkennen. 


Wir Können nicht alle Humaniften, die mit dem deutſchen Al- 
tertfum in Berührung Tamen, im Einzelnen beſprechen, fondern 
müſſen uns auf die bebeutendften derartigen Erſcheinungen beſchrän⸗ 
ten. ber noch einige von den Männern, die das Studium des 
Haffifgen und bes vaterländifcen Altertfums mit einander verban« 
den, wollen wir ſchließlich kurz berühren. Zuvörderſt bemerken wir 
hier, daß auch der bedeutendfte deutſche Geograph jener Zeit, Ser 
Baftian Münfter, einen Beitrag zur Kenntniß des Altdeutſchen lie⸗ 
fert. Sebaftian Münfter, geboren zu Ingelheim im J. 1489, 


1) Son 1553 findet ſich zwar bei Gafp. Bruſch (de Laureaco, Basil. 
1558, p. 119) die Anbeutung einer Nibelungenhanbfgrift, aber ohne Mit- 
theilung einer Stelle. — 2) Lazius de gentium migr. p. 57. 76 fg. — 
3) Ebend. ©. 25 fg. — 4) Ebend. S. 72, — 5) Ebend. ©. 78, 


Die Anfänge der beutfehen Alierihumefotſchung im Reformationszeitafter. 29 


unde 1529 Profeffor der hebraiſchen Sprache an ber Univerfität 
Bafel und ſtarb daſelbſt im J. 1552 1). Seine Eosmographei ift 
das angefehenfte geographifce Wert, das während des 16. Jahr 
handerts in deutſchet Sprache geſchrieben worden ift. Obwohl 
Sprodforiger von Beruf, — er war befanntlich einer ber erften 
Semitiften feiner Beit —, nimmt Mänfter in feiner Cosmographei 
im Ganzen doch auffallend wenig Rüdfiht auf die Sprachen der 
Völler. Aber gerade bei dem Deutſchen fühlt er fi bemogen, aus 
äiner alten Handſchrift eine „Offne Altfrendife Veit‘, ein alt- 
hohdeutihes Denkmal aus dem Ende des 10. Jahrhunderts, mit 
ntheilen ). Ueberhaupt finden wir in ber Schweiz fon in jener 
deit eine vorzüglie Neigung, ben Dentmälern der altdeutſchen 
Sprade feine Aufmerkſamleit zuzuwenden. So bei Joachim von 
Batt (Babianus). Geboren im J. 1484 zu St. Gallen, macht 
badianus feine Studien zu Wien, wird bort 1518 Doctor der 
Redicin und in feine Vaterſtadt zurüdgelehrt 1526 deren Bürger- 
meifter. Als folder fördert er mit aller Kraft die Reformation 
der Sirhe. Ex ſtarb im J. 1561). Unter feinen zahlreichen Schrif- 
ten findet fi aud eine de collegiis et monasteriis Germaniae 
veteribus, und Bier gibt er bie erfte Kunde von Notker's althoch⸗ 
deutiher Ueberfegung der Pialmen. Ex irrt zwar no im Ver⸗ 
fer, indem er dem Notker Balbulus das Werk zuſchreibt. Aber 
keine Mittheilung war um fo wertfvolfer, als er zur Probe das 
Later unfer und das apoſioliſche Glaubensbekenntniß in althoch- 
deutſhet Sprache aus derſelben Hanbigrift aushob. Zum Drud 
fördert wurde zwar bies Merk erft (1606) durch Golbaft *). 





1) Berg. Melch. Adam. Vitae Germanorum philosophorum (8) 
p 66 24. — 2) Seh. Münfter’s Eosmographei, in ber Ausgabe von 1578, 
6.465. Berbeffert gebruit in Maßmann's Deutſchen Abfhrwörungsfermen 
1899, 6. 181 fg. unb in ben Denkm. von Müllenhoff u. Scherer 1864, 
8.187. WgL. eb. ©. 492. — 8) Bgl. Alamannicarım reram soriptores, 
Tom. IIL, ex bibliotheca Goldasti, 1780, p. 1 ng. — 4) Im britten 
Til der Alamannicarum reruan scriptores 1606. Die obige Stelle über 
Rotter findet fih in biefer Ausg. ©. 47 (in der Gendenberg’ien ©. 37). 
Tab Pater Unfer zulebt bei Müllenhoff und Scherer Nr. LXXVIII. 





80 Zweites Kapitel. 


Aber ſchon viel früher erhielt jenes altbeutihe Vaterunfer Joha n⸗ 
nes Stumpf von Babianus. Diefer (geboren zu Bruchſal im 
J. 1500, 1522 Pfarrer zu Bubilon im Bürder Gebiet und Au⸗ 
Hänger Zwingf’s, geftorben 1566 zu Bürih)) theilte es 1547 im 
feiner Schweizer Chronik mit, und von ihm wieder entnahm es 
Conrad Geßner für feinen Mithribates 2). Wie Stumpf, fo war 
auch fein berũhmterer Zeitgenoſſe Aegidius Tſchudi, der größte 
Schweizeriſche Geſchichtsforſcher des 16. Jahrhunderts, der Be- 
ſchäftigung mit den Dentmälern der altdeutſchen Sprache zugethan. 
Geboren 1505 in der Kirchmatt wibmete ex fi zu Baſel unter ber 
Leitung bes Heinrich Glareanus llaſſiſchen und hiſtoriſchen Studien. 
Er blieb zeitlebens der römischen Kiche anhänglich, aber von maß- 
voller Dentungsart. 1558 wurde er Landammann von Glarus 
und ſtarb im J. 15729. Mit unermũdlichem Fleiß durchforſchte 
er die Urkunden und Geſchichtſchreiber der Schweiz, und dies führte 
ihn auch zu den Denkmälern unſrer alten Sprache. Er erwähnt 
„ein alt bermentin Euangelibuch“ „vor ſechßhundert jaren geſchri⸗ 
ben”, das ſich in dem Kloſter St. Gallen befinde, „aber“, ſagt er, 
„onder fünff worten merdt einer kum einß, wo nit das latin dar—⸗ 
nebend find" 5). Es iſt die althochdeutſche Ueberfegung von der 
Evangelienharmonie des Ammonius, die bier zum erſtenmal er- 
mwähnt wird. Tſchudi felbft war im Beſitz einer ausgezeichneten 
Bibliothek. Aus feinem Nachlaß ift die berühmte Handſchrift der 
Nibelungen in die Bibliothek zu St. Gallen gekommen 9). 


1) Bet. 9. 3. Leu, Allgemeines Sqhweiberiſches Sericon, Thl. XVIL, 
Züri) 1762, ©. 717 fg. — 2) Bol. Bartholomäus Sqhobinger's Additio- 
nes zu ber obigen Schrift bes Babiamıs in Sendenberg’6 Ausgabe von 
Golbaf’s Rerum Alamannicarum Scriptores, III, p. 107 sq. — 3) Bgl. 
die Vorrebe Joh. Rudolf Iſelin's zu feiner Ausgabe von Tſchudi's Chronit, 
Erſtet Thl, Bafel 1734. — 4) Bol. die vralt warhafftig Aupiſch RKhetia — 
durch — Gilg Tſchudi, Bafel 1538, P. ij. — 5) Ebend. — 6) 3. 9. v. 
ber Hagen, Literar. Grundriß 1812, 6. 80. 


Die Anfänge ber deutſchen Altertgumsforihung im Neformationszeitalter. 81 


Die Reformation der Airche und die deutſche Philologie. Erhe Ausgabe 
des Oifrid. 


Die kirchliche Neformation mußte in den mannigfaltigften Be- 
Aehungen einen höchſt bebeutenden Einfluß auf die Gründung und 
Entwidlung der deutſchen Philologie üben Der Kampf gegen 
Rom wecte in den Deutſchen zugleich das Gefühl von dem Werth 
des eigenen Volles umd erinnerte an die alten Kämpfe, in denen 
mfere Borfahren das römiſche Joch abgeſchüttelt und die römiſche 
Weltherrſchaft geftürzt Hatten. In diefem Sinn faßte vor allen 
Urih von Hutten bie Befreiung des deutſchen Volkes vom 
pähftfihen Joche auf. Der Kampf gegen Mom geht bei ihm Hand 
in Hand mit der begeifterten Verberrlihung des alten Arminius. 
Die Knechtſchaft Deutſchlands abzuſchütteln, ift fein hauptſächlichſtes 
Ziel). Auch bei Luther klingt dieſe Saite bisweilen an. So 
in der gewaltigen Schrift an ben Chriftlichen Adel Deutſcher Nation 
(1520). Aber es würde wenig Verftändniß von Luthers Weſen 
verraten, wollte man hierin fein eigentliches und hauptſachlichſies 
Streben ſuchen. Sein Biel war vielmehr ein ftreng Teligiöfes. 
Den reinen chriſtlichen Glauben wieder herzuftellen, dazu fühlte er 
fih von Gott berufen. Aber gerade dies Beftreben, getragen von 
einer fo grunddeutſchen Natur, Tam auch in hohem Maß ber För⸗ 
derung des deutſchen Weſens zu gute. Indem Luther die Scheide- 
wand zwiſchen Klerus und Laien niederriß und alle Chriften durch 
die Taufe zu Prieftern berufen erflärte, mußte er zugleich darauf 
bedacht fein, Der ganzen Gemeinde das Wort Gottes als bie Richt- 
fOmur ihres Glaubens und Wandels zugänglich zu machen. So 
entftand (1522 — 1584) Luther's Bibelüberſetzung. Sie vor allem 
wurde neben ben anberen deutſchen Schriften Luther's die Grund⸗ 
Inge unferer neueren ſchriftſprachlichen Entwidlung, und wir werben 


1) Bel. 3 8. Hutten’s umvollendeten Dialog Arminius in Böding’e 
Antgabe von Huiten’6 Werten Vd. IV., ©. 407 fg., und Ranke's Schilderung 
Sutten'6 in ber Deutſchen Geſchichte im Zeitalter ber Reformation Wh. I. 
(1839), ©. 415 fg. 


32 Zweites Kapitel. 


in einem fpäteren Abſchnitt ſehen, wie hieran wieder vorzugsweife 
die Entftefung und Ausbildung der deutſchen Grammatik fih an⸗ 
genüpft hat. Aber auch der älteren deutſchen Sprade und Litera- 
tur gegenüber enthielt die kirchliche Reformation neue Antriebe ber 
Forſchung '). Zwar mußte unläugbar der Sinn für die romantiſche 
Dichtung des Mittelalters durch bie Reformation ebenfo, wie 
andrerſeits buch das Wiederaufleben des Maffifhen Alterthums, 
zunãchſt beeinträchtigt werden. Aber nad einer anderen Seite hin 
wurde gerade die lirchliche Meformation Anlaß zu tieferer Erforſch⸗ 
ung unferer älteren Literatur. Die kirchliche Reformation hat fich 


1) Nicht wegen einer befondern Beziehung auf die Reformation, ſondern 
wegen bes Zufanmenhangs, in ben man es mit bem Namen bes großen Re— 
formators gebracht Hat, wollen wir hier eines Buchleins gedenken, das den 
Eiteratoren nicht wenig zu ſchaffen gemadt Ha. Im J. 1537 erfhien zu 
Wittenberg ohne Nennung des Verſaſſers: Aliguot nomina propria Ger- 
manorum ad priscam etymologiam restituta. Cine fpätere Ausgabe 
vom 3. 1554 (fie befindet fih auf der Erlanger Univerfltätsbisliothet) fügt 
hinzu: Autore reverendo D. Martino Luthero, und unter diefem Namen 
iR die Sqhriſt dann im 16. bis 18, Jahrhundert noch oftmals gebrudt wor: 
ben. Ob Luther wirklich der Werfaffer fei, if Rreitig. (Bel. u. A. V. E. 
Loescheri Literator Celta, onrante J. A. Egenolf, wo ber S. 104 mit: 
getheilte Brief des Erasmus den Streit für Luther's Autorſchaft entfcheiden 
würbe, wenn nicht gerabe bie auf unfer Büchlein bezüglichen Worte in dem 
Ausgaben ber Briefe des Erasmus, — in ber Londoner von 1642, Sp. 
1515 —, fehlten. — S. au J. G. Eocard, Hist. studii etymologiei 
linguae Germanicae, 1711, p. 4isq. F. J. Beyschlag, Bylloge va- 
riorum opusculorum, Tom. I., Halae Svevorum' 1729, p. 455 sg. @. 
€, Reiharb, Verſuch einer Hiſtorie der deutſchen Sprachtunſt, Hanıburg 1747, 
S. 17 fg). Der innere Werth des Büchleins lohnt die viele Mühe nicht. 
Es iſt nicht ſchlechter, aber auch nicht beſſer, als bie anderen mißglüdien 
Berfuche jener Zeit, mit gänzlich ungenügenden Mitteln bie deutſchen Namen 
eiymologifd erklären zu wollen. Deutungen, wie „Ofwalt, rectius Hufwalt, 
gubernator domus“, „Larpold, Hoc proprie dici debet, Liebholt, no- 
mine composito, siont Ratgülff ete. Quasi dicas, Sieb und hold, ama- 
bilis et dileotus“ und viele andere der Urt zeigen uns, wie jene Zeit von 
deutſcher Eihmologie noch feine Ahnung hatte. 


Die Anfänge ber deutſchen Alterifumsforfhung im Reformationszeitalter. 88 


nömlih darauf hingewieſen, durch eine eimbringende Unterfuchung 
der gefchichtlicden Vergangenheit ihre Stellung zu rechtfertigen. 
Die Anhänger der proteftantifen Lehre thaten dies mit einen 
Eifer und einem Erfolg, der nit nur in ihrem eigenen Lager, 
ſondern auch in bem ihrer Gegner eine neue Epoche der Kirchen⸗ 
geſchichte begründet hat. Der bebeutendfte Vertreter diefer kirchen⸗ 
geihihtlihen Forſchung war auf Lutheriſcher Seite Matthias 
Flacius Illyricus. Geboren im J. 1520 zu Albona auf 
der iſtriſchen Halbinfel, ging Matthias Vlacich als neunzehnjähri- 
ger Jüngling über die Alpen in bie Länder der deutſchen Proteftan- - 
ten, machte feine Studien in Bafel, Tübingen und Wittenberg und 
wurde einer ber eifrigften und ftreitbarften Theologen der Iutheri- 
ſchen Kirche. Wir können feinem fehr unruhigen Lebensgang hier 
nicht weiter folgen und bemerken nur, daß er zu Frankfurt am 
Rein am 11. März 1575 geftorben ift. Unter feinen Arbeiten 
nehmen die lirchengeſchichtlichen die erfte Stelle ein. Das Streben, 
die Ueberzeugungen der Reformation auch in früheren Jahrhunderten 
nachzuweiſen, veranlaßte ihn zur Sammlung und Herausgabe feines 
Catalogus testium veritatis. Einen folden Zeugen ber Wahrheit 
mm glaubte Flacius auch in Otfrid von Weißenburg und feinem 
Gvangelienbud gefunden zu Haben. In der erften Ausgabe feines 
Catalogus, die im Jahr 1556 zu Bafel erſchien, erwähnt er ihn 
nod nicht, aber in der zweiten, die er am 1. Februar 1562 her⸗ 
ausgab, führt er ihn auf. Ex betrieb num mit dem ihm eigenthüm« 
lien Eifer die Herausgabe des Werks. In dieſem Streben kam ihm 
der angeſehne Augsburger Arzt Achilles Pirminius Gaffar 
entgegen. Diefer -(geboren zu Lindau im J. 1505, + 1577) 
war ein ſehr vielfeitig gebilbeter Mann, wie das Verzeihniß feiner 
Schriften darthut, unter denen fi meben ben mebicinifhen auch 
mannigfache Hiftorifche finden. Mit Flacius führte ihn ;die gleiche 
teligiöfe Ueberzeugung zufammen!). In welcher Weiſe bie Hand⸗ 
ichrift, nach welcher die erſte Ausgabe von Otfrid's Evangelienbuch 


1) Bgl. Brucker de vita et scriptis A. P. Gasseri in ( Sqhelhorn's) 
Amoenitates literariae Tom. X., Francof, et Lips. 1729, p. 1007 sq. 
Raumer, GSeſch. der germ. Philologie. 8 


84 Zweites Kapitel. 


gemacht wurde, aufgefunden worben ift, wird ums nicht berichtet. 
Es war, wie ſich aus ber Vergleihung der Texte ergibt, die Hand» 
ſchrift, die fich jegt auf der Heidelberger Bibliothek befindet. Dort- 
Hin iſt fie mit den übrigen Schägen ber Bücherſammlung bes Ul- 
rich Fugger durch deſſen Vermächtniß gefommen. In Fugger's 
Bibliothek zu Augsburg wurde fie aufgefunden und im Jahr 1560 
von Gaſſar abgefärieben 1), ber eifrigen Antheil nahm an ber 
Förderung des großen kirchengeſchichtlichen Werls der Magdeburger 
Centurien, daß unter der Leitung feines Freundes Flacius erſchien. 
Gaſſar ſuchte nun einen Verleger für die Herausgabe des Otfrid und 
briefwechſelte darüber mit Conrad Geßner in Züri 2). Aber feine 
Bemühungen waren vergeblig. Da nahm Flacius die Sache ſelbſt 
in die Hand und erreichte im Jahr 1571 fein Ziel®). In diefem 
Jahr erihien zu Baſel die erfte Ausgabe von Otfrid's Evangelien- 
bud unter dem Titel: „Otfridi evangeliorum liber: ueterum 
Germanorum grammaticae, poeseos, theologise, praeclarum 
monimentum. Euangelien Buch, in altfrendijhen reimen, duch 
Dtfriden von Weiffenburg, Münd zu S. Gallen, vor ſibenhundert 
jaren beſchriben: Jetz aber mit gunft dei geftrengen ehremueften 
herrn Adolphen Herman Niedefel, Erbmarihald zu Heſſen, der 
alten Teutſchen ſpraach vnd gottsfordt zuerlernen, in trud ver⸗ 
fertiget. Basileae MDLXXI.“ Flacius ſchidt dem Gedicht eine 
lateiniſche und deutſche Vorrede voraus, in denen er die Gründe, 
bie ihm zu feinem Unternehmen bewogen, darlegt. Seine erften 
und hauptſãchlichſten Gründe find, wie fi denken läßt, veligiöfe, 
Was Otfrid felbft als den Beweggrund feiner Dichtung angibt, 
die Menfchen vom Singen und Leſen unnüger oder ſchädlicher Lies 
ber und Schriften zum heilſamen Leſen und Singen bes Evange- 


1) Gaſſar's Abſchrift iſt noch vorhanden im Schottenkfofter zu Wien. 
©. Kelle's Einleitung zum Oiftid, &. 124. — 2) Epistolarum medici- 
nalium Conradi Gesneri libri III, Tiguri 1577, 81. 23b, 24. 26b. 28. 
— 3) Bgl. über dieſe erfle Ausgabe bie Einleitung Kelle's zu feiner Ausgabe 
bes Otfrib, Bb. I. (Regensburg 1856) ©. 100 fg., und dazu, was Preger, 
dlacius Zügrieus II., 470 fg. fagt. 


Die Anfänge der deutſchen Altertgumsforihung im Reſormationszeitalier. 35 


Inms einzuladen, das wolle auch er. Wenn man alles Alter 
thũmliche ſchon um feines Altertfums willen bemwundere, wie viel 
mehr müßten Alle dies uralte Denkmal hochhalten, das überdies die 
heifige Lehre darbiete. Hier habe man für ben jetzt Heftig entbrann⸗ 
ten Streit, ob bie Menge die Heilige Schrift in ber Vollsſprache 
leſen dürfe, eine leuchtende Entſcheidung, daß in der Zeit der Karo 
linger es nit nur für recht und der Meligion entſprechend gegolten 
habe, daß das Bolt die heilige Schrift in Händen habe, fonbern 
au, daß es dieſelbe in vollsthümlichen Weifen überall finge und 
feiere. 

In dem Inhalt des Otfrid'ſchen Evangelienbuchs glaubt 
Flacius den Beweis zu finden, daß der Verfaffer die proteſtantiſche 
Lehre von der Gnabe gehabt habe. Der eine von feinen Beweis⸗ 
gründen ift freilich fonderbar genug. Flacius mißverftcht nämlich 
die Ueberſchrift bes Erſten Buchs: „Jncipit liber evangeliorum 
domini gratia Theotisce conscriptus“, dahin, daß er domini 
gratia für den Nominativ und den Titel des Werks nimmt. Das 
Bud ſei „Gratia dei, die gnad Gottes genant worden." Mehr 
Gewicht läßt fih auf feinen anderen Beweisgrund, auf die von ihm 
angeführte Stelle aus dem erften Buch!) Iegen. Aber wenn auch 
für Flacius die religiöfen Gründe obenan ftehen, fo entgehen ihm 
doch auch die übrigen nicht. „Wiewol wann glei Fein andere 
vrſach were,“ fagt er in der zweiten Vorrede, „warumb bie freie und 
ehrliebende Teutſchen folten diß Buch lieb haben und hochachten, fo 
ift diefe wichtig und groß genug, das nad dem alle menſchen gern 
von jhren eltern und vorfarn viel wiffen wöllen, aud) alles fo bei 
jnen gewonlich vnd gebreuhlih, hochhalten, weil auch alle menſchen 
gern etwas beides von den vralten, vnd von frembden ſpraachen 
wiſſen: ſo muß jhe gar ein ſtock, vnd ſo zureden, kein rechter Teut⸗ 
ſcher ſein, der nit auch gern etwas wiſſen wolt von der alten ſpraach 
ſeiner vorfarn vnd eltern, welches man dann auffs beſt vnd leichteſt 
auß dieſem Buch haben vnd vernemmen kan.“ Und was er hier 


1) I, 2, 4346. Bol. jebo Kelle in der Einleitung zu feiner Aus: 
gabe des Oifrib. ©. 107. 
3* 


36 Zweites Kapitel. 


in derben Worten ben ehrlichenden Deutſchen an's Herz legt, das 
führt ex in der lateiniſchen Vorrede in mehr wiſſenſchaftlicher Weife 
aus. Die Kenntnig diefes Buches und feiner Sprade werde fehr 
viel beitragen zur Erforſchung der Etymologieen und Urfprünge der 
deutf hen Wörter und überhaupt zur volleren Erkenntniß dieſer 
Sprade. Denn die Berzweigungen ber verfciebenen Wörter wür⸗ 
den aus jenen erften Thematibus oder (wie die hebräiſchen Gram⸗ 
matiler fi ausdrüdten) Wurzeln abgeleitet, und aus jenem alten 
Gebrauch der Wörter könne ihre gegenwärtige Bebeutung und ihr 
Gebrauch und Mißbrauch gründlicher erfannt werben. Kurz, man 
könne ohne alles Bedenlen jagen, daß ohne diefe Art von Etymolo- 
gicum biefer Sprade Niemand fie völlig und gründlich erforichen 
könne. — Man erfennt an biefen treffenden Bemerkungen den ums 
faffenden Linguiften, der Zlacius war. Aber man würde fi täu⸗ 
fen, wenn man nun von ber Anwendung feiner Grundfäge ſowohl 
in Bezug auf feine Etymologieen, als auf feine Ausgabe des Otfrid 
zu viel erwartete. Die Aufgabe war zu neu und die Kenntniß der 
alten Sprache noch viel zu ungenügend, al3 daß etwas Anderes als 
ein nur mangelhafter Tert zu Etande kommen konnte. Einen nicht 
geringen Theil des Verdienftes, daß die Ausgabe doch wenigftens 
fo wurde, wie fie ift, hat oßne Zweifel Pirminius Gaffar in An- 
fprud zu nehmen. Die „Erklerung der alten Teutſchen worten“, 
die dem Gedicht vorausgeſchickt wird und bie von Gaffar herrührt, 
bemeift trog aller Verftöße, daß er fi in das Lerifalifde ber 
Sprade Hineinzuleben fuchte. Einen weſentlichen Fortſchritt in der 
Beurteilung des Ganzen zeigen Gaffar und Flacius darin, daß fie, 
auf den Angaben des Zrithemius fußend, Otfrid von Weißenburg 
als den Verfafjer erkennen. Und unter allen Umftänden hatte man 
den Herausgebern für ihre Ausgabe Dank zu wilfen, da fie über 
anderhald Jahrhunderte, bis zum Jahr 1726, die einzige blieb. ) 

1) Ein weiteres Eingefen auf dieſe Editio princeps des Oifrid und bie 
daran fich Anüpfenden Fragen geftattet Hier der Raum nicht. Ich verweife auf 
Kelle's Einleitung zu feiner Ausgabe bes Otfrid (B. I, ‚Regensburg 1856), 
und über Flacius überhaupt auf: Wilhelm Preger, Matthias Flacius Illyricus 
und feine Zeit, Erlangen I. 1859; II 1861. 


Die Anfänge ber deutſchen Altertfumsforfhung im Reformationsgeitalter. 37 


Die Anfänge der vergleihenden Sprachforſchung und die germaniſche 
Philologie. 


Die germanifhe Philologie hat in ihrer ganzen Entwidlung 
in enger Wechſelbeziehung zur vergleichenden Sprachforſchung ge 
fionden. Wir werben dies Verhältniß in feiner tiefiten Bedeutung 
tennen lernen, wenn wir den großartigen Aufſchwung zu ſchildern 
haben, den bie germaniſche Philologie in neuerer Zeit genommen 
det. Aber fhon in ihren Anfängen wachen beide Wiſſenſchaften 
gemeinfam empor. Wenn es aud nicht an einzelnen vorangehen⸗ 
den Berſuchen fehlt; fo war doc der eigentliche Gründer der neue 
ven Linguiftit Conrad Geßner, jener reich begabte Gelehrte, den 
die verfchiedenften Gebiete der Wiſſenſchaft als Bahnbrecher ver» 
ehren. Conrad Geßner, oder, wie er fih in feinen Iateinifchen 
Werlen fchreibt, Gesnerus wurde geboren zu’ Zürich den 26. März 
1516. Sein Bater, ein unbemittelter Kürſchner, vermochte die zahle 
reihe Familie kaum zu ernähren. So hatte der junge Geßner eine 
ſehr Harte Jugend zu durchleben. Aber es wurde ihm ein guter 
Haffifcher Schulunterricht zu Theil, und aud zur Beobachtung der 
Natur legte der Aufenthalt des Knaben bei feinem Großoheim, dem 
Caplan Frick, der ein Freund der Pflanzenkunde war, den erften 
Grund. ALS fein Vater in dem Treffen am Zugerberge im Jahr 
1531 gefallen war, wurde Geßner auf Empfehlung des Myconius 
Famulus bei Capito in Straßburg, wo er ſich beſonders im He 
bräifcden vervolffommmete. Entſcheidend aber wurde für feine Ent» 
wilung, daß ihm ein Züriher Stipendium die Möglichkeit ver- 
ſchaffte, feine Studien im Jahr 1533 in Bourges, 1534 in Paris 
fortzufegen. In den reichen VBibliothelen von Paris legte er ben 
Grund zu ber umfafjenden Kenntniß der alten und neuen Literatur, 
die ihm dann bei allen feinen Unternehmungen zu Statten kam. 
In Jahr 1585 übernahm er eine Schulftelle in feiner Vaterftabt 
Züri, die ihn nöthigte, für ſehr geringe Beſoldung die Elemente 
des Lateinischen und Griehiihen zu lehren. In demſelben Jahr 
heiratete er ein armes Mädchen. Nichtsdeftoweniger trieb ihn feine 
mermübliche Wißbegier im folgenden Jahr nah Baſel zu gehen, 


88 Zweites Kapitel. 


um dort Mebicin zu ftudieren. Klaſſiſche und naturwiſſenſchaftliche 
Studien giengen aud hier bei ihm Hand in Hand. Im Septem- 
ber 1537 erhielt er die Profeffur der griedifhen Sprache an der 
neu errichteten Afabemie zu Laufanne. Zwei Stunden täglih er- 
Märte er griechiſche Stlaffiter, für ihm eine Teichte Aufgabe, fo daß 
er Zeit genug behielt für feine Titerarifhen Arbeiten und feine 
Neigung zur Botanil. Nah einem breijährigen Aufenthalt in 
Laufanne erhielt er dur Vermittlung feiner Freunde in Zürich ein 
Stipendium zur Fortfegung feiner medicinifhen Studien. Er gieng 
nad Montpellier und bereiherte dort feine anatomiſchen und bota⸗ 
nifgen Kenntniſſe. Nachdem er im Jahr 1541 zu Baſel Doctor 
der Medicin geworben mar, kehrte er in feine Baterftabt Zürich 
zurüd, wo er dann bald eine Profefjur der Phyſik und Naturge- 
ſchichte erhielt. Seine Lage blieb aber fortwährend eine äußerft bürf- 
tige. Denn aud) feine Ernennung zum erften Stadtarzte brachte ihm 
nur zwanzig Gulden Zulage. Erſt nad; Iangjäßrigem Warten und 
wiederholten Bittſchriften erhielt er auf Betrieb feines Freundes, bes 
Theologen Bullinger im Jahr 1558 ein anftändiges Austommen. 
Aber feine Gefundheit war dur die lange drüdende Dürftigteit bei 
tiefenmäßigen’ Arbeiten gebrochen. Doc weber durch die Gicht 
ſchmerzen, gegen welche die warmen Bäder in Baden im Yargan 
nur vorübergehend Linderung gewährten, noch durch die Abnahme 
feiner Körperfräfte ließ fi Geßner an der unermüdlichen Fort⸗ 
fegung feiner wiffenfhaftlihen Arbeiten hindern. Bei ber ver- 
heerenden Pet, die im Jahr 1564 und 65 Zürich Heimfuchte, bot 
ex mit größter Aufopferung, wo er e3 vermochte, ärztliche Hülfe; 
aber nachdem er jo Manchem das Leben gerettet, wurbe er ſelbſt am 
18. December 1565 von der ſchredlichen Krankheit hingerafft. 

Die wiſſenſchaftliche Thätigkeit Conrad Geßner's ift wahrhaft 
Staunen erregend. Durch fein großes Wert über die Thiere wird 
er ber Begründer ber neueren Zoologie, durch feine botanifchen 
Forſchungen ein Mitbegründer der neueren Botanik; und berjelbe 
Mann verfaßt ein gelehrtes griechiſch⸗lateiniſches Wörterbuch, gibt 
den Stobaeus in fehr verbefjertem Tert und mit einem Commentar 
heraus, ber von feiner umfafienden Kenntniß der Griechen zeugt, 


Die Anfänge der deutſchen Altertfumsforigung im Reformationggeitalter. 39 


ſchreibt außerdem auf alle den genannten Eebieten und auf bem 
der Mebicin eine Unzahl tüchtiger Schriften und wird durch feine 
im J. 1545 erſchienene Bibliotheca universalis ber Gründer ber 
neueren Literaturwiſſenſchaft. 

Aus diefem Zuſammenwirken der verfdiebenften wiſſenſchaft⸗ 
lichen Thätigleiten entſprang aud bie Richtung in Geßner's Stu⸗ 
dien, mit ber wir es hier zu thun haben. Wenn wir fein großes 
Thierwerk durchblättern, fehen wir feine ſprachvergleichenden Be- 
ſtrebungen gleihfam vor umfern Augen entftehen. Er beginnt bie 
Beihreibung jedes Thieres mit der Aufzählung der Namen, die 
& in ben verfdiebenen ihm irgend erreichbaren Sprachen hat, 
und fließt fie mit etymologiſchen, literariſchen und culturgefchicht- 
fihen Bemerkungen über die Beziehungen des gefchilderten Thieres. 
Schon diefer Anfhluß der mannigfachften ſprachlichen Bezeichnungen 
an die beobachteten Gegenſtünde feloft mußte dem Trieb der Sprad- 
vergleihung Nahrung geben. Aber es war noch eine andere Seite, 
welde der vergleichenden Sprachforihung den Boden bereitete, näm⸗ 
fi das Stubium der Bibel und ihre Uebertragung in bie verſchie⸗ 
denften Sprachen ber Völfer. Berband fi mit dem Allen bie 
laffiſch⸗ philologiſche Gründlichleit und das univerſelle literariſche 
Intereſſe, die Geßner auszeichnen, ſo waren die Bedingungen gege⸗ 
ben zur Eutſtehung der vergleichenden Sprachforſchung. 

Die Schrift, in welcher Geßner ſeine linguiſtiſchen Forſchungen 
niederlegte, führt den Titel: Mithridates. De differentiis lin- 
guarum tum veterum tum quae hodie apud diversas natio- 
nes in toto orbe terrarum in usu sunt, Conradi Gesneri Ti- 
gurini observationes. Anno MDLV. Tiguri excudebat Fro- 
schoverus. In der Widmung des Buches an den Engländer 
Johannes Balaeus fagt Geßner: „ES gibt in der That eine 
große Mannigfaltigkeit der Sprachen und Mundarten, [durch welche 
die Menſchen bie Gedanken des Geiftes unter einander ausſprechen 
und fih barüber verftändigen. Es ſcheint aber nicht ſowohl eine 
Sache der Neugierde, als der wiffenfdaftlihen Bildung zu fein, 
daß wir einfehen, melde Sprachen mehr ober weniger unter ein. 
ander verwandt, welche gänzlich; verſchieden find. Denn da allein 


40 Zweites Kapitel 


- der Menſch unter den Thieren fowohl mit Vernunft, als mit 
Sprade begabt ift, fo gehört es nad) meiner Weberzeugung zu den 
Studien eines gebildeten und philofophifhen Geiftes, die Verſchie- 
benheiten der Rede und ber Sprachen zu Iennen. Ich veröffent- 
lie deshalb das, was ih auf diefem Gebiet, wie es eben gehen 
wollte, beobachtet habe, nicht als etwas Vollendetes und nad Ge— 
bühr Ausgearbeitetes, fondern jo viel ich eben gegenwärtig zu lei⸗ 
ften vermochte, nur wie ein Merkzeihen, wodurch angeregt und 
vielleicht auch gefördert Andere nah mir Alles fleißiger und voll- 
kommener behandeln mögen.“ In der Abhandlung felbft gibt 
Geßner erſt feine allgemeinen Bemerkungen über die Verſchieden— 
heiten der Spraden. Er knüpft daran an, wie feine Zeit mit dem 
Studium der drei Sprachen: des Griechiſchen, des Lateiniſchen und 
des Hebräifchen, das Evangelium habe erwachen jehen, und wie das 
Evangelium dur Bücher und Predigt auch unter bie übrigen Völ- 
ter verbreitet werde. Darauf ftellt cr die Nachrichten der Alten 
über die Zahl und Verfdiedenheit der Spraden zufammen. Die 
hebräiſche Sprache ift nad} feiner eigenen Anſicht die erfte und ältefte 
von allen und die einzige reine und unvermiſchte. Nach einigen zum 
Theil treffenden, zum Theil natürlich noch ſehr unvolllommenen Bemer- 
Tungen über die Mifhung der Sprachen, den Urjprung der Wörter u. 
ſ. w. geht er dann zu einer alphabetiihen Aufzählung der Sprachen 
über, indem er unter jeder das einträgt, was ihm darüber befannt 
geworden. Man findet hier nicht Weniges, was man in einem 
Wert aus der Mitte des 16. Jahrhunderts kaum erwartet, und 
freut fi der raftlofen, überallhin gerichteten Beobachtung des un- 
ermüdlichen Gelehrten., Andererjeits geben uns die Anfihten des 
größten Linguiften feiner Zeit einen Maßſtab dafür an bie Hand, 
welche großartigen Fortſchritte die Sprachforſchung in den Tolgen- 
den brei Jahrhunderten gemacht hat. Ich will in dieſer Beziehung 
zu bem, was oben über die hebräifhe Sprache ausgehoben worden 
ift, nur nod das Eine Hinzufügen, daß Geßner die Spraden fo 
eintheilt, baß auf der einen Seite das Griechiſche und Lateinifche, 
auf ber anderen die barbariihen Sprachen ftehen. Doch will er 
aud das Hebräifhe von den barbarifhen Sprachen ausnchmen, 


Tie Anfänge ber deutſchen Altertpumsforfhung im Reformationszeitafter. 41 


weil dasſelbe einerſeits bie ältefte und wie die Mutter ber anderen, 
andrerſeits die heilige und göttliche Sprache feit). Die übrigen 
Sprachen aber ſcheidet er wieber in folde, die ganz und gar barba- 
ic find, daS Heißt, mit der griechiſchen und Kateinifhen gar nichts 
gemein haben, wie unfere deutſche; und in fehlerhafte (soloecae), 
wie dem Latein gegenüber das Stalienifhe, Spanifhe und Fran: 
zoſiſche 2). Doch entgehen ihm andererjeits die vielfahen Berüh— 
zungen der deutſchen und ber griechiſchen Sprache nicht, und mit 
Lerufung auf Dalberg 3), Aventin *), Andreas Althamer®) und 
Sigismund Gelenius 6) weift er auf die vielen dem Griechifchen 
und Deutſchen gemeinfamen Wörter hin 7). 

Was uns hier vor allem angeht, find Geßner's Anfichten über 
die germanifhen Spraden. Er hat fie in mehreren befonbers 
eingehenden Abſchnitten feines Mithridates niedergelegt und dann 
iräterhin noch ergänzt in der Borrede, bie er zu Joſua Maaler's 
im Jahr 1561 eridienenen Dictionarium Germanicolatinum 
iärieb. Da Geßner in bedeutendem Umfang kannte, was feine 
Torgänger über ben Gegenftand gefchrieben hatten, auch ſelbſt mit 
Vorliebe gerade die germaniſchen Spraden behandelte, fo bietet er 
ms ein Bild von dem Zuftand der damaligen Kenntniffe: einer- 
jäts, wie weit fie bereits gelangt, und andrerſeits, wie weit fie 
noch zurüd waren. Suchen wir nach beiden Seiten eine richtige 
Lorftellung zu gewinnen. Bor allem berührt uns wohltuend ber 


1) Mithridates Bf. 3. — 2) Pandectarum sive partitionum uni- 
versalium Conradi Gesneri — libri XXI, Tiguri 1548, Bl. 34. — 
3) Ueber Johannes Dalberg's Zuſammenſiellung griedifder und beutfher 
Bter ſ. Trithemius' Polygraph, 1518, 1. VI, 81.4. — 4) [. 0. 6.22, — 
5) Andreas Althamer, Scholia zur Germania des Tacitus bei Schard I 
11574) p. 64 sg. — 6) Sigismund Gelenius in feinem Lexicon sym- 
phonum quo quatuor linguarum Europae familiarium, Graecae scili- 
t, Latinse, Germanicae ac Sclauinicae concordia consonantiaque 
indiestur, Basilene 1537, fielt viele Wörter jener Sprachen zufammen, 
dog mir nach ſcheinbarem Gleichtlang, und ohne zwiſchen Urverwandtem und 
Eutlehntem zu unterjheiden. — 7) Mithridates Bl. 84 b. 


42 Zweites Kapitel. 


warme Gifer, mit dem Gefner feinen Gegenftand behandelt 1). Er 
Tennt fo ziemlih die Ausbreitung ber damaligen germanifchen 
Spraden. Außer dem Deutihen in feinen verſchiedenen Mund- 
arten gibt er vom Flandriſchen und Friefiihen Beſcheid 2. Er 
weiß, daß die ffanbinavifhen Spraden dem Deutſchen nahe ver- 
wandt find; unter dem Artifel De lingus Germanica theilt er im 
Mithridates auch in isländifher Sprache das Vaterunfer mit 3). 
Syn der Vorrede zum Maaler fügt er es dann aud in ſchwediſcher 
Sprade Hinzu, umb bemerkt dabei, das Isländiſche, Normegifche, 
Gothiſche, Schwediſche und Däniſche feien unter fih ähnlich und 
ftünden dem Sächſiſchen nicht allzufern ). Das Engliſche kennt er 
als eine Miſchſprache, aber mit weit überwiegender germanifcher 
Grundlage. Er hat gehört, daß noch vor wenig Jahren weit we- 
niger franzöfifhe und Iateinifhe Wörter im Engliſchen gewefen 
feien, an denen es jetzt jo überreih fei. Denn in ber Unterhal- 
tung haſchten viele danach und in ihren Schriften mifchten fie die⸗ 
felden ein als Blumen und Schminke (veluti flosculos ac pig- 
menta), fo daß das Volk ohne Weberfegung fie nicht verftehen 
könne. Der größte Theil jedoch ſei jegt noch ſächſiſch. Bücher 
aber, die vor zwei oder dreihundert Jahren in England geſchrieben 
ſeien, gehörten faſt ganz der ſächſiſchen Sprache an 5). Innerhalb 
der deutſchen Sprache geht Geßner den einzelnen Mundarten nach. 
Er verzeichnet bie ihm bekannten Unterſchiede zwiſchen der ſchwei⸗ 
zeriſchen und ſchwäbiſchen Mundart, wie fie namentli in der Ver⸗ 
tretung des ſchweizeriſchen f buch ei, des A durch au und in fo 
manden anderen Punkten fih zeigen 6). Aus Fabian Frand 7) 
theilt er eine Reihe von Eigenthümlicfeiten anderer deutſcher Mund⸗ 
arten mit 3). Unter den deuten Mundarten, fagt er, meinen 
Einige, fei die, deren ſich die Oberbeutfhen (superiores Germani) 


1) Gehner's Vorr. zu Maaler's Dietionarium. Vgl, u. das 5. Kapitel 
unferes Buche. — 2) Mithridates BI. 39. — 3) Mithridates BI. 40. — 
4) — „similes inter se sunt aque Saxonica non alienae.“ Praef. 
zum Maaler Bl. 4 rw. — 5) Mithridates BL. 8 mw. — 6) Mithrid. 
1.38. — 7) S. u. — 8) Mithrid. Bl. 40 fg. 


Tie Anfänge ber deutſchen Altertfumsforfhung im Reformationggeitalter. 48 


bedienen, die befte umd vorzüglicfte umd am wenigften verborben. 
Manche ertheilen der Leipziger Gegend (mo and; Luther feine Bü- 
der geſchrieben Habe) bie erfte Stelle in Bezug auf Feinheit der 
Sprache; Andere Halten vielmehr die Sprade ber Augsburger, 
noch Andere die ber Basler in ben meiften Stüden für richtig !). 
Die Sprache der Schweizer, das ift, wie Geßner fagt, die des 
oberen Deutſchlands, bezeichnet er als gleichſam die deutſche Ge 
meinſprache (communis Germanica lingua) ?). Auch über bie 
deutſche Verskunſt gibt Geßner anziehende Bemerkungen. Diele 
ſchrieben gereimte Verſe; Gedichte aber, in denen bie Quantität 
ter Sylben Beobachtet werde, Niemand. Er felbit habe ſich einft, 
wenn auch mit wenig. Glüd, in deutſchen Herametern verfucht. Und 
darauf theilt er einige merkwürdige Proben bavon mit ®). Gefner 
beihräntt fich endlich nicht auf die germaniſchen Spraden der Ger 
genwart, er läßt fi auch auf das Altveutihe ein. Im Mithri- 
dates theilt er eine althochdeutſche Ueberfegung des Vaterunſer und 
des apoftoliichen Symbolums mit und fügt hinzu, er höre, daß 
aud) der Pjalter in ähnlicher Weife überfegt im Kloſter des heili⸗ 
gen Gallus vorhanden fei‘) In der Vorrede zum Maaler führt 
er eine Strophe aus Otfrid's Evangelienbuh an) und verbindet 
damit die Bemerkung: „Vor hırzem hat der berühmte Augsbur- 
ger Arzt Achilles P. Gafferus verfproden, er werde die Evangelien 
dieſes Otfrid, ſo wie ſie von ihm übertragen worden ſind, von 
feiner Hand ſorgfältig abgeſchrieben mir zur Herausgabe ſchicken.“ 
Das iſt dann auch geſchehen. Geßner wählte ſich eine Probe für 
die zweite Ausgabe ſeines Mithridates aus, doch dieſe Ausgabe 
lam nicht zu Stande. Einen Verleger für den Otfrid konnte Geß⸗ 


i) Praef. zu Maaler Bl. 4 ıw. — 2) Ebend. Daß Geßner an 
lieſet Etelle unter nostra lingus bie der Schweiger mit ihren i (= ei) 
md d (= am) verfleht, ergibt ſich aus dem Mithrid. Bl. 37 mitgeteilten 
Saterunfer „in lingua Germanics communi, uel Heluetica.“ — 8) Mi- 
thrid. 81. 36 rw. — 4) Sowohl biefe Nachricht, als die von Geßner 
nitgetheilten althochdeutſchen Stüde ſtammen von Joachim Badianus. ©. o. 
6.30. — 5) Praef. zu Maaler's Dietionarium BI. 6b. 


44 „Zweites Kapitel. 


ner dem Gaffar nicht verihaffen‘), und fo erſchien der Otfrid erft 
ſechs Jahr nad; Geßners Tod, durch die gemeinfamen Bemühungen 
des Gaſſar und des Flacius Illyricus. Auch auf die Grund- 
lagen zu einer deutſchen Literaturgefchichte richtete Gefner fein Augen⸗ 
merf. Am Schluß ber Vorrede zum Maaler ſpricht er den Wunfch 
aus, daß ein ähnliches Werk, wie er ſelbſt es in feiner Bibliotheca 
universalis für die griechiſche, lateiniſche und hebräiſche Literatur 
geliefert Hatte, über das Deutſche erfcheinen möchte, und erbietet fich, 
dem, der ein foldes unternehmen wolle, feine nit geringen 
Sammlungen über die deutſchen Bücher bereitwillig zu überlaffen. 
Wir fehen aus alle dem, wie der fleißige und univerfelle Ge- 
lehrte nach den verſchiedenſten Seiten hin die. richtigen Wege betritt. 
Zu fehr Vielem, was in der fpäteren Entwidlung der Wiffenfhaft 
zur Entfaltung Tam, erbliden wir die Keime ſchon bei Geßner. 
Wollte man aber aus diefen Andeutungen den Schluß ziehen, Daß 
Geßner bereit? den Entdedungen und Erwerbungen nahe geweſen 
fei, die uns die Geſchichte der germaniſchen Philologie in den fol- 
genden brei Jahrhunderten vorführen wird, fo würde man ſich jehr 
täufcen. Aus dem Gefihtspunkt, den wir jegt einnehmen, erſchei⸗ 
nen uns vielmehr Geßner's Beftrebungen, fo ehrenwerth fie für 
ihre Zeit find, nur als die erften ſchwachen Anfänge. Gleich die 
genauere Betrachtung der von Geßner mitgetheilten kurzen Sprach⸗ 
proben zeigt uns, daß er von dem Bau und Wejen ber älteren, 
fo wie der ihm ferner liegenden gleichzeitigen germaniſchen Spra- 
Gen Feine Ahnung hatte 2). Dasfelbe tritt uns entgegen, wenn 
wir die Etgmologieen, die er entweder felbft macht oder von Anderen 
ohne Mißbilligung entlehnt, in's Auge faffen. So meint er z. B. 
ber Göttername Aleis bei Tacitus (Germ. 43) fei nichts Anderes 
als das ſchwäbiſche Halgen, id est sancti. Denn die Afpira- 
tion werde von ben Lateinern oft weggelaffen, und bie Eonfonanten 


1) ©. die Ausüge aus den Epistol. medieinal. Conradi Geaneri in 
Kelle's Ausgabe bes Difrid I, S. 100 fg. — 2) Bol. z. B. bie Strophe, 
die er aus Otfrid aufügrt, fo wie bie übrigen in Geßuer's Mithridates mit: 
geteilten Sprachproben. 


Die Anfänge der deutſchen AltertGumsforihung im Neformationszeitalter. 45 


e und g feien mit einander verwandt‘). In Bezug auf die Alteften 
germaniſchen Völlerverhältniſſe ſteht Geßner's Wiſſen, wie das fei- 
ner mitforſchenden humaniſtiſchen Zeitgenoſſen, weit über Allem, 
was man ein Jahrhundert früher davon kannte. Denn Cäſar, 
Tacitus, Ammianus Marcellinus u. |. w.?) ftehen ihm zu Gebote, 
md er fußte auf den Forſchungen feiner unmitteldaren Vorgänger, 
namentlih bes Beatus Nhenanus und des Aventinus 3). Aber 
von einer kritiſchen Sichtung der Quellen, wie fie ung jegt zur 
zweiten Natur gehört, ift auch bei Geßner noch wenig bie Rede. 
Die Fabeleien des untergeihobenen Beroſus führt er ganz arge 
los ala Hiftorifge Duelle an). Den Hunibald, dag Machwerk 
des Trithemius, ftellt er neben Gregor von Tours für die Ge 
ſchichte der Franken). Das Angeführte, das ſich durch fehr viele 
ähnliche Züge erweitern ließe, wird hinreichen, um fi von Geh- 
ners wirflihen Wiſſen eine richtige Vorftellung zu maden. Zum 
Schluß will ich noch einen Gegenftand berühren, der uns in die 
erften Anfänge eines der wichtigften Zweige der germanifchen Phi 
Iofogie einen vorläufigen Blid thun läßt. Mit befonderem Eifer 
geht Geßner in feinem Mithridates den Spuren der alten Gothen 
nach. Die Eigennamen ihrer Fürften bezeugen ihm ihre germani- 
ide Sprache. Aus Syatob Ziegler ©) und Joſaphat Barbarus 7) 
jucht er das Fortleben der Gothen am Schwarzen Meer zu ermeifen. 
Rod aber weiß er (1555) nichts davon, daf fi Reſte jener ural- 
ten Sprache handſchriftlich erhalten Haben. Doc; während er im letzten 
dahrzehend feines Lebens für eine zweite erweiterte Ausgabe des 
Mitgridates fortfammelt, erhält er (um 1563) von Johann Wilr 
helm Meyffenftein, der fi damals unweit Stolberg aufhielt und 
von Georg Caffander aus Köln einige Proben der alten gothiſchen 
Eprae ſelbſt 2). Er würde fie ebenfo, wie den Otfrid, ben ihm 


1) Mithrid. 31. 35. — 2) 2gl. Mithrid. 91. 32, — 3) Mithrid. 
%.3;32. — 4) Mithrid. Bl. 81 m; Bl. 34, ww. — 5) S. u. 
Gehnexs Pandectae (1548) Bl. 135b. — 6) Mithrid. Bf, 27 b. — 
7) Ebend. 1.43. — 8) ©. Geßner's Brief an Gaffar vom 22. April 1563 
is Epistolaram medicinalium Conradi Gesneri — libri II, Tiguri 
1877, BL 28. 


46 . Zweites Kapitel. 


fein gelehrter Freund Gaffar in Augsburg mittheilte, für die zweite 
Ausgabe feines Mithridates benügt haben '). Uber bevor diefe zu 
Stande lam, ereilte ihn ber Tod. 


Die deutſchen Inriken nad die germanifche Philologie. 


Die Rehtsverftändigen ftehen in einer zwiefachen Beziehung 
zur Gründung und Fortbildung der germanischen Philologie. Er- 
ftens haben fie einen weſentlichen Antheil an der Feſtſetzung ber 
deutſchen Schriftiprage; und zweitens werden fie durh das Stu- 
dium ber altdeutſchen Rechtsquellen auch auf die Erforfhung der alt- 
deutſchen Sprache und Literatur geführt. Die erftere Seite werden 
wir fpäter noch berühren. Was aber die zweite betrifft, fo werden wir 
in der Folgezeit das Feld der altdeutſchen Philologie mit Vorliebe 
von Juriſten angebaut finden. In biefer Periode aber, im Zeit 
alter der Neformation, begegnen wir nur den erften ſchwachen An- 
füngen diefer Beftrebungen. Wir müſſen uns nämlich erinnern, 
daß wir es Bier nicht mit ber Rechtsgelehrſamkeit als folder zu 
thun haben, fondern nur mit der Erforſchung der altveutfchen 
Sprache und Literatur, infofern diefelbe von Seite der Rechtsge⸗ 
lehrſamtkeit gefördert wurde. Hier find es vorzüglid zwei Gebiete, 
welche die Rechtsgelehrſamleit mit der Sprachforſchung in Verbin- 
dung fegen, nämlich erftens die alten germaniſchen Vollksrechte, die 
fogenannten leges barbarorum, und zweitens die Rechtsbücher aus 
den fpäteren Jahrhunderten des Mittelalters. Was num zuerft dieſe 
legteren betrifft, fo werden fie im Lauf des 15. und 16. Jahrhunderts 
in zahlreihen Ausgaben durch den Drud veröffentlicht. Aber diefe 
Veröffentlijungen haben damals noch mit der deutſchen Philologie 
wenig zu thun. Sie haben nicht den Zweck, die alten Rechtsbücher 
als Denkmäler einer vergangenen Zeit zu erforfhen, fondern fie 
ſollen dem praktiſchen Bedürfniß dienen, infofern jene Rechtsbücher 
noch als lebendes Recht galten 2). So widtig deshalb diefe Ber 


1) Gbend. — 2) Des Sachsenspiegels erster Theil, her. von Ho- 
meyer (3) 1861, 8. 73. 


Die Anfänge ber deutſchen Alterthumeforſchung im Reformationgzeitalter. 47 


firefungen für bie deutſche Rechtsgeſchichte find, fo fern liegen fie 
der deutſchen Philologie. Anders verhält es fi mit ben altger” 
naniſchen Volksrechten. Zu dieſen führt ein geſchichtlich wiſſen⸗ 
ſcaftliches Streben, und es iſt aller Ehren werth, daß trotz der 
überwältigenden Herrſchaft, bie damals das römiſche Recht über bie 
juriſtiſchen Köpfe ausübte, doch einzelne Gelehrte fih auch jenen 
Reſten des alten deutſchen Rechts zumandten. So Johannes 
Sichard, geboren 1499 zu Biſchofsheim an ber Tauber, 1525 
Brofeffor der Rhetorik in Bafel, 1530 in Freiburg Schüler des 
Uri Zaſius im römiſchen Recht, 1585 bis zu feinem Tode 1652 
Profefor des Eober in Tübingen '). Im Jahr 1530 veröffent- 
lichte Sichard zu Bajel zum erften Mal die Leges Ribuariorum, 
Bejuvariorum und Alamannorum. Ihm folgte Johannes 
Herold. Geboren zu Höchſtädt an der Donau 1511, ftndierte er 
zu Baſel Theologie und Geſchichte, erhielt eine Landpfarrei im Ba- 
feler Gebiet, z0g aber 1546 wieber nach Bafel, um ſich ganz lite— 
rariſchen Arbeiten zu widmen. Er lebte no im J. 1566 9). Im 
dahr 1557 gab er zu Bafel eine Sammlung der germaniſchen Volls⸗ 
tehte heraus, die außer den von Sichard veröffentlichten auch nod die 
meiften übrigen in lateiniſcher Sprache aufgezeichneten enthielt. Diefe 
Ausgaben der Vollsrechte waren no fehr unvolitommen ®), und 
eft der Verſuch, die in ihnen enthaltenen auch ſprachlich germani- 
fden Elemente zu erläutern *), wurde bann fpäter der Anlaß zu 
altgermaniſchen Sprachſtudien. Aber doch war es von nidt gerin« 


* ger Wichtigkeit, daß vorläufig nur irgend ein Text diefer unfhäg- 


1) Melchior Adam., Vitae Germanorum jureconsultorum (3) 1706, 
4. Gtinging, Urih Zafius, 1857, S. 286. 0. Stobbe, Geschichte 
der dentschen Rechtsquellen I, 1860, 8. 8. II, 1864, 8.42. — 
9) Bayle, Dictionnaire hist. et critique s. n. Eſcher in Etſch's und 
Grubers Algen. Encyflop., Zweite Section, Thl.6 (1829) ©. 404406. — 
3) BL Johannes Merkel's Einleitung zur, Lex Alamannorum in feiner 
Ausgabe derjelben bei Pertz, Monum., Leges, Tom. III, p. 28, 1. 29, 5. 
4) Die von Herold verſprochenen Erläuterungen find nicht erſchienen (Merkel 
LLP , 2.) 


48 Zweites Kapitel. 


baren Reſte bes altgermanifchen Lebens den Forſchern in die Hand 
gegeben war. Wenn wir Sohannes Herold nicht feines Standes, 
fondern nur der eben befprocdhenen Arbeit wegen in biefem Abſchnitt 
erwähnen, jo können wir ſchließlich noch eines Juriften von Beruf 
gebenfen, der uns zeigt, welchen Antheil die Rechtsgelehrten auch 
ſchon in unferer Periode an der Erforſchung der germanifchen 
Spraden nahmen. Wolfgang Hunger, geb. zu Waflerburg 
um 1511, Brofeffor des römiſchen Rechts an der Univerfität Ingol⸗ 
ftadt, geft. 1555 zu Augsburg als Kanzler des Biſchofs von Frei— 
fing ) fehrieb gegen den Franzofen Bovillus eine Linguae Ger- 
manicae vindicatio, worin er einen Theil der franzöſiſchen Wör⸗ 

ter aus dem Deutſchen abzuleiten fuchte. Herausgegeben wurde 
dies Buch erft im Jahr 1586 zu Straßburg durch den Sohn bes 
Verfaffers. 


Drittes Kapitel. 


Die Thätigkeit auf bem Gebiete ber älteren germaniſchen Sprachen 
dom Ausgang des 16ten Jahrhunderts bis zum 3. 1665. 


Schon bei den erften Anfängen ber germanifgen Philologie 
haben wir neben den Humaniften und Theologen bie Juriften be- 
theiligt gejehen. Dieſer Antheil der Juriften an ber Förderung der 
altgermaniſchen Studien wächſt in der nächſtfolgenden Zeit in ſolchem 
Maß, daß vorzugsweiſe Juriften als Vertreter diefer Studien zu 
nennen find: Männer, wie Friedrich Lindenbrog, Marquard Freher 
und Melchior Goldaft; und aud der bebeutendfte beutihe Gram⸗ 
matifer bes 17ten Jahrhunderts, Juſtus Schottelius, war feinem 
Lebensberuf nach Yurift. Es ift diefelbe Zeit, in welder das Stu- 


1) Jo. Nep. Mederer, Annales Ingolstadiensie academiae; P. I, 
Ingolstadii 1782, p. 175. 208. 211. 


Die ält. germ. Sprachen von Ausg. bes 16. Ihs. bis 1665. 49 


dium des deutſchen Rechts in Verbindung mit dem der deutſchen 
Geſchichte und des deutſchen Altertfums duch Hermann Conring 
(geb. 1606 zu Norden in Djtfriesland, 1632 Profeffor an der 
Univerfität Helmſtädt, geftorben 1681) einen fo bedeutenden Auf- 
ichwung nahm ). 

Friedrich Lindenbrog wurde im J. 1573 zu Hamburg 
geboren. Sein Bater Erpold Lindenbrog lebte dort als Taiferlicher 
Notar und hat fi durch mannigfache Schriften über die ältere 
deutſche Geſchichte, beſonders aber durch feine Ausgabe des Adam 
von Bremen befannt gemadt. Der Sohn bezog um das J. 1594 
die Univerfität Leiden und wibmete ſich dort neben ber Rechtswiſſen⸗ 
ſchaft philologiſchen und BHiftorifhen Studien. Unter feinen Leh- 
ven werden auch Bonaventura Vulcanius und Paulus Merula 
genannt, die wir als die Mitgründer der germaniſchen Philologie 
in den Niederlanden werben kennen lernen. Er durchreiſte hierauf 
England, Frankreich und Italien und kehrte dann in feine Bater- 
ftabt Hamburg zurüd, wo er im J. 1648 als ein angejehener 
Rechtsgelehrter geftorben ift. Friedrich Lindenbrog verband auch 
als Schriftſteller die antik klaſſiſche Gelehrſamleit mit ben altger- 
maniſchen Studien. Er gab den Statius und den Terenz heraus - 
und ftand mit den Koryphäen der klaſſiſchen Philologie, mit Jo⸗ 
ſeph Scaliger und Iſaak Cafaubonus, in vegem Verkehr. Seine 
vorzüglichfte Thätigleit aber wendet er den Quellen ber älteren 
deutſchen Geſchichte zu. Er gibt den Ammianus Marcellinus, den 
Jornandes, Paul Warnefridi und Anderes Heraus. Sein Haupt 
wert aber ift der im J. 1613 erſchienene Codex legum antiqua- 
rum, eine neue Recenſion der lateiniſch gefchriebenen germaniſchen 
Vollsrechte, welder Lindenbrog ein Gloffarium zur Erläuterung der 
dunlleren Wörter beifägte. Diefe Arbeiten führten ihn immer mehr 
dem Studium ber älteren germanifhen Sprachen zu, und im 


1) Gomeing’s Leben vor Hermanni Conringii epistolarum syntag- 
mata duo, Helmstadii 1694. Sein Hauptwerf de origine juris Germa- 
niei erffeint 1649. Ueber Conring's epochemachende SWebeutung fiehe 
0.8tobbe's Geschichte der deutschen Rechtsquellen II ge 8.418 fg. 

Reumer, Seid. ber germ. Philologie. 


50 Drittes Kapitel. 


%.1633 fand ihn Hugo Grotius mit der Ausarbeitung eines Lexikons 
der altdeutſchen Sprache beihäftigt 1). Lindenbrog kam zwar mit 
diefem Wert nicht zu Stande, aber ſchon ber Verſuch bazu blieb nicht 
ohne Nachwirkung. Unter Lindenbrog's Sammlungen, die er mit ſei⸗ 
ner übrigen Bibliothek feiner Vaterſtadt Hamburg vermachte, fanden fich 
neben mandem Anderen auch die althochdeutſchen Bloffen, die dann 
im J. 1729 Chart veröffentlicht Hat 2). Won befonderer Bedeut⸗ 
ung aber war es, daß Linbenbrog auf feinen wieberholten Reifen nach 
England mit den englifhen Gelehrten in Verbindung trat, bie ſich 
die Erforihung des Angelfächfiihen zur Aufgabe gemacht hatten, 
mit Heinrih Spelman und Wilfelm Camben. Unter Lindenbrog’s 
nachgelaſſenen Papieren fand man Legum Anglicarum libri IV 
a & Lindenbrogio latine versi ?). 

In Deutſchland waren vorzüglih Marquard Freher und Mel- 
chior Goldaft die Genoffen Friedrich Lindenbrog's in Erforſchung 
des deutſchen Altertfums. Marquard Freher, der Sohn eines 
angefehenen Rechtsgelehrten, wurde geboren zu Augsburg im J. 1565. 
Er ftudierte zuerft in Altdorf, dann in Bourges die Rechte und 
wurde am Iegterem Orte im 3. 1585 durch ben berühmten Cuja- 
cius zum Licenciatus juris gemacht. Ex wurde darauf pfälziiher Rath 
und 1596 zum Professor Codieis in Heidelberg befignier. Im 
J. 1598 gab er diefe Stellung auf, indem er vom Churfürften 
Friedrich IV. von der Pfalz zu wiätigen diplomatifhen Geſchäften 
verwendet wurde. Er ftarb zu Heidelberg im J. 16144). Freher 
warf ſich mit unermüdlichem Eifer auf die Erforſchung des deut⸗ 


1) ©. ben Brief des Hugo Grotius an Johannes Eorbefius vom 11. Apr, 
1633 in Hugonis Grotüi epistol. Amstel. 1687, p. 112. — 2) Com- 
mentarii de rebus Franciae orientalis II, 991 — 1002. — 3) Joann. 
Molleri Cimbria literata, Tom. III, p. 423. Moller's Werk bin ich auch 
in den obigen Angaben über Linbenbrog’s Leben gefolgt, ba fie einen zuver⸗ 
Häffigeren Gindrud machen, als die zum Theil abweichenden bes 1723 zu 
Hamburg erfhienenen „Leben ber Berühmten Lindenbrogiorum.” — 
4) Paul. Freher. Theatrum viroram eruditione clarorum, Noribergae 
1688, p. 1002 sq. 


Die Alt. germ. Sprachen vom Ausg. bes 16. 366. bis 1665, 51 


ſchen Rechts und ber deutſchen Geſchichte und nimmt durch feine 
Schriften auf beiden Gebieten eine geachtete Stellung ein. Dieſe 
Arbeiten führten ihn auch auf das Studium der alten germaniſchen 
Sprachdenkmaler, und einige der wichtigſten unter den kleineren 
derjelben verdanken ihm ihre Herausgabe. So veröffentlichte er im 
J. 1609 zuerft eine der älteften hochdeutſchen Meberfegungen des 
Baterunfers und des apoſtoliſchen Glaubensbelenntniſſes aus der 
Abſchrift eines St. Galler Codex 1); darauf im J. 1610 eine an- 
gelſaͤchſiſche Ueberfegung bes Dekalogs, des Waterunfers und des 
apoſtoliſchen Symbolums. Im J. 1611 gab er von neuem bie 
Eide der Könige und der Völfer zu Straßburg vom J. 842 her- 
aus, die zuerft P. Pithoeus in feiner Ausgabe des Nithard (1588) 
veröffentlicht Hatte. In den Anmerkungen, die Freher diefen Mei- 
nen Dentmälern Hinzufügt, zeigt ex ſich befannt mit den damals 
fon veröffentlichten altdeutſchen Schriften, mit Otfeid 2), mit Not⸗ 
ler's Baterunfer und apoftolifgem Symbolum, wie es Stumpf, 
Geßner und Vadian (bei Goldaft 1606) mittheilen 3). Er fennt 
und fördert die wichtigen Veröffentlihungen Goldaſt's, mit denen 
wir uns im Folgenden beihäftigen werben, und berüdjictigt das 
gothiſche Vaterunfer bei Bonaventura Vulcanius (1597) und ar 
nus Gruter (1602) 4). Ebenſo find ihm die angelſächſiſchen Ver: 
öffentfihungen der Engländer nicht unbelannt 5). Aber Freher be⸗ 
ſchrãnkt ſich nit auf das Gebrudte. Er kennt auch die bamals 
no ungedrudten Palmen Notler's 6) und benugt Kero's und 
Anderer althochdeutſche Gloffen ). Die St. Galler Handiärift 
von Notker’s Pſalmen befand ſich (1602) eine Zeit Yang durch 
Schobinger's Vermittlung zu Heidelberg %), und Freher erzäplt 


1) Handferift zu St. Gallen bei Müllenhoff und Scherer Nr. LVII. 
2) Orationis dominicae et symboli apostolici Alamannica versio vetus- 
tissima. Marg. Freheri notis exposita 1609 81. 3. 6. — 3) Ebend. 
8.3. — 4) Ebend. Bl. 4. — 5) Cr führt Lambard's "Apyasorouie 
(Lond. 1568) an in feiner Ausg. des agj. Decalogus u. |. w. 1610, 
8.5. — 6) Ebend. BL. 7. — 7) Ebenb. Bl. 6. — 8) Viroram Cl. 
ad Goldastum epistolae, Francof. 1688, p. 80. 

4* 


52 Drittes Kapitel. 


felöft, daß er fie ganz durchgearbeitet habe, wünſcht aber zu wie- 
derholtem Studium eine Abſchrift derſelben 1), — Freher wurde 
in der Kraft feiner Jahre hingerafft. Er trug ſich mit einer 
Menge von Planen. Er bereitete eine neue Ausgabe des William 
und des Otfrid vor ?) und wollte ein Lexicon ober Etymologi- 
cum Alamannicum ſchreiben ®). 

Sehr verſchieden von Freher's ruhiger und georbneter Lebens⸗ 
bahn war die feines Freundes und Arbeitsgenoſſen Meldior 
Goldaſt. Geboren im J. 1576 4) zu Biſchofzell unweit St. Gal- 
Ien von veformierten Eltern erhielt Melchior Haiminsfeld 
Goldaſt feine Zugendbildung in feiner Vaterftadt. Zum Jüng⸗ 
King Berangereift gieng er zuerft nad) Ingolſtadt, dann (1595) nach 
Altdorf, um fi dem Studium des Rechts umd der Philologie und 
Geſchichte zu widmen. An Fleiß und Eifer läßt er es nicht feh- 
Ien, und bald zieht fein bedeutendes Talent bie Aufmerhamteit fei- 
ner Lehrer und Genoffen auf fi. Aber drüdende Armuth verfolgt 
ihn von Jugend an, und eine gewiſſe Unruhe feines Weſens treibt 
ihn von einer Lebenslage in die andere, ohne ihn jemals ein 
dauerndes Lebensglüd erreichen zu laſſen. Im J. 1598 in feine 
Heimath zurüdgekehrt fand er in dem wohlhabenden Rechtsgelehrten 
Bartholomäus Schobinger zu St. Gallen einen Freund 
und freigebigen Gönner. Geboren zu St. Gallen im J. 1566 5) 


I) Freher's Brief an Goldaft vom 10. Aug. 1605. Ebend. S. 121. — 
2) Die 1681 in Worms erſchienene Ausgabe bes Wilitam (Goedeke, 
Grundriez zur Geach. der deutschen Dichtung I. (1859) 8. 13) unb 
Freher's Emendationes et annotationes zum Oifrid, Worms 1639 (Otfr. 
v. Kelle I. Einl. S. 104) kenne ich nur ans zweiter Hand. Ich habe bieje 
Bücher auf einer Anzahl ber berühmteften deutſchen Bibliotheken vergeblich ges 
fügt. — 3) Melch. Adam., Vitae Germanorum Jureconsultorum 
(8) 1706, p. 221. — 4) Ober 1578. ©. Henr. Christian. Sencken- 
berg, Melchioris Goldasti memoria, Francof. 1730 (vor Sendenberg’s 
Ausg. von Goldaft’s Rer. Alam, scriptores) p. 2. — 5) ©. die Angabe 
Marcus Welſer's in feinem Brief an Goldaft vom 8. Sept. 1604 in den 
Virorum Cll, ad Goldastum epistolae 1688, p. 119. Ueber Schobinger 
und feine Familie vgl. auh H. I. Leu, Allgem. Scähweigerifhes Lericon, 
ZH. XVI, Züri 1760, ©. 425 fg. 


Die alt. germ. Sprachen vom Ausg. des 16. Ihs. bis 1665. 58 


teilte Schobinger Goldaſt's Eifer für die Erforſchung des deut⸗ 
fen Alterthums, aber fon im J. 1604 wurde er ihm durch den 
Tod entriifen ). Bon Schobinger unterftägt hielt ſich Goldaft 
eine Zeit Yang in Bern, Genf und Laufanne auf, gieng dann im Ge- 
folge des Herzogs von Bouillon nad) Heidelberg und Frankfurt, wurde 
(1604) Hofmeifter eines Barons von Hohenfar zu Hohenfar und 
dorſteck hielt fi dann wieder abwechſelnd in Züri, Biſchofzell und 
St. Gallen auf, bis er im J. 1606 nad Frankfurt üderfiebelte, 
wo er ſich durch Herausgeben und Corrigieren von Büchern nährte. 
Bir Eönnen hier Goldaft nicht in allen feinen Verſuchen, eine fefte 
Stellung zu gewinnen, verfolgen. Im J. 1611 wurde er an den 
Weimar'ſchen Hof berufen, 1615 gieng er als Rath des Grafen 
von Schaumburg nah Büdehurg, 1625 kehrte er wieder nad 
Frankfurt zurüd. Da er aber die Ueberführung feiner Bibliothek 
von Büdeburg nad Frankfurt in den damaligen kriegeriſchen Zeite 
lauften nicht für ſicher hielt, fo übergab er fie der Stadt Bremen 
zur Aufbewahrung. Im J. 1627 wurde er zum Rath des Kai— 
fers und bes Ehurfürften von Trier ernannt. Zuletzt trat er im 
die Dienfte des Landgrafen von Heſſen-Darmſtadt. Bon feinem 
neuen Herrn nad; Gießen berufen ift er im Anfang des Jahrs 
- 1685 dafelft geftorben?). Man muß fi das unruhige und wechſel⸗ 
volle Leben Goldaſt's gegenwärtig halten, um feine bedeutenden 
wiffenfchaftlichen Verdienfte richtig zu würdigen. Während eines von 
Armuth und mannigfacher Drangfal erfüllten Lebens ift er uner- 
mũdlich thätig in Veröffentlihung von Quellen der deutſchen Ge- 
ſchichte und des deutſchen Rechts und in Abfaffung juriſtiſcher und 
hiſtoriſcher Schriften. Aber freilich Hat er feinen Ruf als Samm- 
ler und Herausgeber dadurch befledt, daß er ſich nicht ſcheut, Ger 
ſete u. ſ. f. zu erbichten und feine Fälſchungen unter die echten 
Denkmale einzuſchmuggeln 3). Auf dem Gebiet der altdeutſchen 


D) Virorum CL ad Goldastum epist. p. 114. — 2) Die obigen 
Angaben über Goldaſt's Leben find entnommen aus Sendenberg's Goldasti 
memoria 1730. Vgl. auch ben Artikel Goldast bei Bayle. — 3) Bgl. 
Hamann Conring's, der fonft Goldaf’s Verdienſte wohl zu würbigen weiß, 
ſqatſes Urteil in feiner Schtift De origine juris Germanici, 1695, p. 27 2q. 








[71 ' Drittes Kapitel. 


Sprache ımb Literatur Tommt dieſe üble Seite Golbaft’3 weniger 

in Betracht, und wir dürfen hier feine Verdienſte um fo höher an⸗ 
(lagen. Goldaft Kat in mehreren feiner Werke zu Erweiterung 
unferer Kenntniß der altdeutſchen Sprache und Literatur weſentlich 
beigetragen. In feinen Alamannicarum rerum scriptores ali- 
quot vestuti, Francofarti 1606, veröffentlicht er zum erftenmal 
die althochdeutſchen Gloſſen des Hrabanıs Maurus de partibus 
corporis 1) und die Schrift desfelben de inventione linguarum ?), 
worin fi u. A. ein Runenalphabet 3) findet. Ebenſo macht er 
zum erftenmal Mittheilungen aus der dem Kero zugeſchriebenen 
althochdeutſchen Ueberſetzung der Benebictinerregel, indem er bie 
lateiniſchen Wörter alphabetifh ordnet und jedesmal die althoch⸗ 
deutſche Ueberfegung Hinzufügt ). Daß in eben biefem Werk die 
Schrift des Vadianus, worin fid die Stüde aus Notker finden, ab- 
gedrudt ift, haben wir früher fon erwähnt 6). Ebenſo gibt Hier 
Goldaſt zwei bereits früher veröffentlichte althochdeutſche latechetiſche 
Dentmöler in beſſeren Texten 9). Schon 1601 Hatte er in feinen 
Anmerkungen zum Balerianus Cimelenfis ein Meines Stüd aus der 
St. Galler Handſchrift von Notler's Pfalmen mitgetheilt 7). 

Aber bei weitem wichtiger als alles dies waren Goldaft’s 
Beröffentligungen aus ber mittelhochdeutſchen Lyrik. Die deutſche 
Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts war am Beginn der neueren 
Zeit faft ganz verſchollen. Mean hatte zwar in ben Ueberlieferun⸗ 
gen ber Meifterfänger eine bunfle und verworrene Kunde von dem 
Dafein jener früheren Dichter. Aber ihre Gedichte felbft waren im 


1) Tom. II, p. 89. — 2) Ebend. p. 91. — 3) Einen Teil biefes 
Runenalphabets Hatte ſchon Wolfgang Lazius veröffentliht. ©. o. ©. 27. 
Dgl. W. Grimm, Ueber deutſche Runen 1821, ©. 79. — 4) Tom. II, 
p. 4122. — 5)6.0.6.29. — 6) Tom, II, p. 173. 174. Zu 
bem Symbolum p. 173 vgl. Müllenhoff und Scherer Nr. XCIIL Zu der 
Beichte p. 174 vgl. die deutſchen Abſchwörungsformeln, Her. von Maßmann, 
1839, ©. 42, Nr. 27. Müllenhoff u. Scherer Nr. LXXIL. — 7) 8. 
Valeriani Cimelensis episc. De bono disciplinge sermo. S. Isidori 
Hisp. episc. de praelatis fragmentum. Melior Hamenvelto Goldastus 
dedit cum collectaneis 1601, p. 82. 


Die ält. germ. Sprachen vom Ausg. bes 16. Ihs. bis 1665. 55 


16. Jahrhundert vergeffen. Wie weit die Kenntniß aud der ge» 
Icheteften Forſcher in diefer Beziehung reichte, erfehen wir aus 
einem Werk, das gegen ben Schluß jenes Jahrhunderts gefchriehen 
worden ift. In J. 1598 nämlich verfaßte Cyriacus Span- 
genberg (geb. zu Norbhaufen im J. 1528 1), geft. zu Straßburg 
1604)2) ein Bud: „Bon der edlen unnd hochberuembten Kunft 
der Mufica unnd deren Ankunft, Lob, Nug unnd Wirkung, auch 
wie die Meifterfenger aufffhommmenn volllhommener Bericht“ 3), zu 
Ehren der löblichen und ehrjamen Geſellſchaft der Meifterfinger in 
der freien Reichsſtadt Straßburg. Aus diefem Bud, das hand- 
föriftlih von den Meifterfängern zu Straßburg aufbewahrt und in 
großen Ehren gehalten wurde, fehen wir, daß die letzten Ausläufer 
der mittelhochdeutſchen Sprit: Frauenlob 4) und Regenboge d), fo 
wie der Menner des Hugo von Trimberg ©), in ber Erinnerung 
noch fortlebten. Dagegen find die Dichtungen der Blüthenzeit fo 
mbelannt, daß Spangenberg ſelbſt von Walther von ıder Bogel- 
weide nur eine ſchwache Kunde aus zweiter Hand: hat”). Dies 
Duntel follte fih nun mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts lic» 
ten. Die Freiherren von Hohenſax, deren Stammſchloß im Rhein⸗ 
thal oberhalb des Bodenſees gelegen ift, waren im Befig der koſt⸗ 
baren Liederhandſchrift, die jet nad) mannigfahen Schidfalen eine der 
größten Zierden der laiſerlichen Bibliothek in Paris bildet. Während 
des 16. Jahrhunderts findet ſich nur bei dem ſchweizeriſchen Geſchicht⸗ 
ſchreiber Johannes Stumpf eine kurze Erwähnung diefer Handſchrift ). 
Aber da er keins ihrer Lieder mittheilt, gieng ſeine Anführung 
ſpurlos vorüber. Anders geſtaltete ſich die Sache, als gegen Ende 
des 16. Jahrhunderts die Handſchrift den drei Gelehrten belannt 


1) Job. &g. Leucfeld, Historia Spangenbergensis, Quedlinbutg 1712, 
6.1 und S. 6, Anm f. — 2) Ebend. ©. 79. — 3) Herausgegeben 
durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1861. Die großen Znitialen rühren 
den mir her. — 4) Ebend. ©. 131. — 5) Ebend. ©. 132. — 6) Ebend. 
6.127 fg. — 7) Ebend. ©. 124. — 8) ©. die Geschichte der Manes- 
schen Handschrift vor (Bodmer’s) Sammlung von Minnesingern, 1., 
Zyrich 1757, 8. XV. 


56 i Drittes Kapitel. 


wurde, die damals allen Anderen in der eifrigen Erforſchung des 
deutſchen Alterthums vorangiengen, nämlich Freher, Schobinger 
und Goldaft. reger, der die Handſchrift auf dem Schloſſe Forſteck 
bei ihrem Befiger, dem Freiherrn Johann Philipp von Hohenſar, 
gejehen und benutzt Hatte 1), betrieb nad deſſen Tod auf das eif- 
rigfte die Erwerbung berfelben für den Churfürften Friedrich IV. 
von der Pfalz, Schobinger ſchrieb einen großen Theil derſelben ab 2), 
und Goldaft war ber erfte, der Bruchitüde aus ihr durch den 
Drud befannt machte. Er that dies zuerft im J. 1601 in feinen 
Colfectaneen zu dem Bruchſtũck des Iſidorus Hifpalenfis de Prae- 
latis 3). Drei Jahre darauf machte Goldaft weitere und größere 
Mittheilungen, indem er in feiner Paraeneticorum veterum pars I., 
Insulae ad Lacum Acronium (b. i. Lindau) 1604 Hinter einer 
Anzahl lateiniſchet Schriften den „Klnig Tyro von Schotten®, 
den Winsbeken und die Winsbekin abdruden ließ. Allen breien 
fügte er erläuternde Anmerkungen hinzu mit zahlreichen Auszügen 
aus den übrigen Theilen der großen Lieberhandihrift. Bei allem 
Ungeſchick, das dem erften Anlauf notwendig anfleben mußte, fehen 
wir Goldaft in manden Dingen auf dem rechten Wege. Er ver- 
mißt ſich nicht, die alten Dichter durch bloßes Nathen verftehen zu 
wollen, fondern er fucht, die Bedeutung ihrer Ausdrücke durch 
zahlreiche Parallelftellen zu erflärent). Dies kommt dann neben- 


1) Freher's Brief an Goldaft vom 26, Sept. 1601, in Viroram Cl. 
ad Goldastum epistolae 1688, p. 58. — 2) Freher's Brief an Golbaft 
vom 23. Jan.'1608, ebend. p. 226, und Goldaft vor dem 3. Theil ber 
Alam, rer. scriptores 1606, Bl. 6b.— 3) In der oben S.54 angef. Ausg. 
©. 120. 153 fg. — 4) gl. 3. 8. Goldaſi's Bemerkungen über von schul- 
den ©. 355 fg., über wiht ©. 390, über scham ©. 445 fg., über Minne 
©. 454 fg. Am ſchwächſten find natürlich Goldaf’s etymologiſche Verſuche. 
(&9t. 4 8. 361 kurn. ©. 362 Kürisser). Aber doch fält ihm aud Hier 
glüctich auf, daß das deutſche f das griechiſche und laieiniſche p vertritt und 
er fammelte dafür (5.489) eine Menge von Belegen. Freilich ſtellt er dann 
ebenba ben Uebergang des lat. p in deutſches pf mit dem von p in f auf 
Eine Linie, indem er zugleich auch für Iehteren Mebergang eine große Anzahl 
von Belegen gibt. ö 


Die ält. germ. Sprachen vom Ausg. bes 16. 398. bis 1665. 57 


bei der Sache um fo mehr zu gut, als dem Lefer eine Menge von 
Serien und ganzen Strophen aus den mittelhodbeutfchen Lyrikern 
vorgeführt werden. So find nun hier und in den Anmerkungen 
zum Balerianus Cimelenfis neben vielem Anderen zum erftenmal 
Terfe unferes größten alten Lyrikers, Walther's von der Vogels 
weide, durch ben Drud veröffentlicht. „Optimus vitiorum censor 
ae morum castigator acerrimus® nennt ihn Goldaſt i). Was 
Männer wie Goldaft und Freher unjern alten Dichtern zuführt, 
iſt freilich zunächſt der Gebrauch, der fih von ihnen machen Täßt 
zur Erläuterung der deutſchen Staats» und Rechtsgeſchichte. Nie 
mand, fagt Goldaft, Tann die Gebräude des Lehensweſens gehörig 
erläutern, niemand die mittelalterlihen Geſchichtſchreiber, niemand 
die Benennungen der Aemter und Würden verftehen ohne jene alt- 
deutſchen Schriften. Er ſelbſt Habe die Sitten und Einrichtungen 
unjerer Vorfahren nicht verftanden, Dis er ihre eigenen Schriften 
gelejen Habe?). — Aber obwohl dies der Ausgangspunkt war, 
fo findet ſich doch ungeſucht aud die Freude am ben Dichtungen 
jelbft ein. Wahrhaft naiv ſpricht dies der Taiferlihe Rath Johann 
von Schellenberg aus, dem Goldaft als einem großen Gönner der 
geſchichtlichen Studien feine deutihen Paraenetifer gewidmet hatte. 
„Jucundum certe fuit, fagt er in einem Brief an Schobinger, 
antiquorum Germanorum vocabula et proverbia legere; neo 
satis mirari possum, nobiles etiam illo saeculo taliter, qua- 
liter literis instructos, et martialia ingenis cantilenis istis 
amatoriis mansueta reddidisse“ °), So Haben auch Goldaſt t) 
und Freher 5) ihre Freude ar jenen Liebern felbft. Der gelehrte 
Marcus Welfer in Augsburg ergögt fi vor alfem an König Tys 
vol und dem Winsbelen und wünſcht bringend bie Herausgabe der 
ganzen Liederhandſchrift e), und Friedrich Taubmann, der witzige 
Herausgeber des Plautus, iſt hingeriſſen von Goldaſt's Mittheil⸗ 


1) Ebend. S. 420. — 2) Ebend. S. 348. — 3) Ebend. ©. 271. — 
4) Paraenetici vet. p. 263. 266. 346. — 5) Freher an Goldaft d. 26. 
Sept. 1609 in ben Virorum CI. ad Goldastum epist. 1688, p. 58. — 
6) Belfer an Golbaſt b. 8, Sept, 1604. Ebend. ©. 120. — 


58 Drittes Kapitel. 


ungen unb empört, daß man biefe Schäte edht deutſcher Poeſie fo 
lange vernadjläffigt Habe '). Der Churfürft Friedrich IV. von der 
Pfalz Hatte das größte Verlangen, die loſtbare Liederhandſchrift 
felöft zu befigen. Er ruht nicht, Bis er fie enblih (1607) durch 
Freher und Golbaft für feinen Heidelberger Bücherſchatz erworben 
hat?). Er vertraut fie dannn noch eimmal (1609) Goldaft an, 
um die von Schobinger begonnene Abſchrift zu vollenden, bringt 
aber auf baldige Zurüdgabe 3). 

Wenn wir die Studien Goldaft'3 überbliden, fo erhalten wir 
eine Borftellung von dem damaligen Umfang der altdeutſchen Kennt⸗ 
niffe- Außer dem bereits oben bei Freher und bei Goldaſt ſelbſt 
Erwãhnten lennt er das deutſche Heldenbuch, Eden Ausfahrt, den 
hörnen Siegfried und den Herzog Ernſt); dann den Wigalois bes 
Wirnt von Gravenberg 5), des Strider’s Karl), die mittelhoch- 
deutſche Paraphraſe bes Alten Teftaments 7), den Nenner des 
Hugo von Trimberg ®) und einige Andere. Dagegen find ihm 
die Nibelungen 9), Wolfram's Parzival 1%) und Hartmann's 
Iwein 11) unbelannt, wenigftens damals, als er bie Baraenetifer 
herausgab. Sehen wir nun aud, wie gerade das Wichtigſte Goldaft 
noch abgieng, und find - die.von ihm veröffentlichten Texte auch 
nichts weniger als kritiſch, ſo war dod ein fhöner Anfang gemacht 
zu weiterem ortireiten. Goldaft hatte auch nod weit gehende 


1) S. Taubmann's Praefatio zu feiner Ausgabe von Birgil’s Culex, 
Wittebergae 1609. — 2)Virorum Cll. ad Goldastum epist. p. 176. 177. 
180. 185. 186. 193. 205. — 3) &bend. p. 337. — 4) Paraenet. vet. p.346 5q. 
Dpl. >Anonymus in Ecken Vfarte p. 364. — 5) Ebend. ©. 368. 
378. — 6) Ebenb. S. 359. — 7) Ebend. ©. 359. 367. 372. — 8) Vi- 
roram Cl. ad Goldastum epist. 1688, p- 249. 294. 298. — 9) Bel. 
die Aufzählung in den Paraenet, p. 346 sq. — 10) Zu Tyrol 42 bemertt 
Golbaſt Paraenet. p. 384: »Flenetnise etc. Amphartys. Fabula ig- 
nota nobis, quam qui indicauerit, ei praemium indieinae dabitur.e 
>Li Romans de Parceuale citiert er p. 378. 400. 414. — 11) Zur 
Winsbefin 11 fagt Golbaft Paraenet. p. 448: »Lunet Historiam non 
legimuse, Dann führt er Stellen aus Tanhuſer und Wirnt’s Wigalois an, 
in benen Lunete genannt wird. 


Die Alt. germ. Sprachen vom Ausg. bes 16. Ihs. bis 1665. 59 


Plane. Er wollte die ganze Heidelberger (jet Parifer) Liederhand⸗ 
ſchrift veröffentlichen 1) und gieng mit einer Herausgabe von Not- 
ter’ Pfalmen um). Aber von alle dem kam nichts zu Stande. 
Nur einige weitere Mittheilungen aus jener berühmten Liederhand⸗ 
igrift Hat Goldaft (1611) noch gemadt®). Die gewitterſchwüle 
Zeit vor dem Ausbruch des großen Meligionsfrieges war umfafjen- 
den buchhändlerifchen Unternehmungen der Art nicht günftig 4), und 
ala num vollends der Krieg ſelbſt entbrannte, war an die Ausführ- 
ung folder Plane nit weiter zu denken. Die Toftbaren Heidel⸗ 
berger Bücherfäge wurden geraubt (1623), Goldaſt's eigene Pa- 
piere wurden zum Theil (1625) nach Bremen geflüchtet, und erft 
mehr als ein Jahrhundert fpäter kam allmählich das zur Ausführ- 
mg, was ſchon Golbaft und Freher im Sinne gehabt hatten. 
Aber ihre Arbeit war nicht verloren. Denn nicht nur blieb fie 
finger als ein Jahrhundert die Quelle, aus ber alle Folgenden 
fHöpften $), fondern wir werben fpäter fehen, wie auch noch im 
38., ja bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts hinein der weis 
tere Fortſchritt der Wiſſenſchaft mit ihr zufammenhängt 9. 

So jehr der ſchreckliche breißigjährige Krieg allen wiffen- 
jcaftlichen Unternehmungen in den Weg trat, fo waren doch auch 
Ne Jahre von 1618 bis zum Schluß unfrer Periode (1665) für 
die Vermehrung des altdeutſchen Quellenmaterials nidt ganz un 
ftuchtbar. Der gelehrte Jeſuit Chriſtoph Bromer (geb. zu 
Ambeim 1559, geft. zu Trier 1617)%) Hatte ſchon in feinen An- 
tiquitates Fuldenses (1612) eine bereits von Flacius und Gaffar 
in ihrem Otfrid (1571) veröffentlichte althochdeutſche Beichtformel 


1) Parsenet. p. 266. Freher an Goldaſt d. 10. Aug. 1605 in den 
Virer. CH. epist. 1688, p. 121. Ebend. (1607) p. 176. — 2) Freher 
eu Gelbaft 10. Aug. 1605 a. a. D. ©. 121. — 8) In feiner Replicatio 
pro Bac. Caesarea — majestate, Hanovise 1611, p. 281 6q. — 
4) Belfer an Gofdaft 8. Sep. 1604, a. a O. 6.119. — 5) Bl. J. 
Sim, Ueber den altbeutfen Meiftergefang, 1811, ©. 192. — 6) ©. u. 
in umferem zweiten und britten Bud. — 7) Bol. Wyttenbach in Crfd's 
u Grubers Allgem. Engl, Thi. i8 (1824) ©. 101. 102. 


60 Drittes Kapitel. 


von neuem aus einer Fuldaer Handſchrift mitgetheilt 1). In den 
nad feinem Tod herausgegebenen Antiquitates annalium Tre- 
virensium (1626) findet fi zuerſt die merkwürdige altnieder- 
rheiniſche Interlinearverſion eines Theiles eines Capitulars aus 
dem 9. Jahrhundert 2). Ein anderes Meines, aber äußerft werth⸗ 
volles Denkmal: das ſächſiſche Taufgelöhnig aus dem 8. Jahrhun⸗ 
dert, wurde veröffentlicht aus dem Nachlaß des vieljeitigen und 
grundgelehrten Lucas Holftenius (geb. zu Hamburg 1596, um 
1627 in Paris zur römiſchen Kirche übergetreten, geft. in Rom 
1661) 3) zu Straßburg 1664 in den Miscella antiquae lectionis 
des Buchändlers Simon Paulli. Auch ein bedeutendes poeti- 
{des Denkmal wurde in jener Zeit zum erftenmal veröffentlicht. 
Im %. 1639, dem letzten feines Lebens, gab nämlih Martin 
Opiz, ber berühmte Gründer der jchlefiihen Dichterſchule, zu 
Danzig das Gedicht über ben heiligen Anno heraus. So Bieles 
ſelbſtverſtändlich Text und Anmerkungen zu wünſchen faflen, fo 
zeugen bie letzteren dod von einem eifrigen und nicht erfolglofen 
Studium der bis dahin veröffentlichten altdeutſchen Werke, und 
befonders anzichend ift e8, zu fehen, weld bedeutenden Eindrud 
Goldaft’3 Anführungen aus den mittelhochdeutſchen Lyrifern auf 
den Anfänger der neueren deutſchen Dichtung gemacht Haben. Ihre 
„anmuthsvollen“ Verſe weden in ihm das „fehnlihe Verlangen“ 
nad) weiteren Mittheilungen, und als Goldaſt geftorben ift, ohne 
feinen wiederholten Mahnungen nadzulommen, Hofft er, Lucas 
Holſtenius werde nun ben grüßtentheils nah Mom entführten 
Schatz alter Dichtungen zur Ehre Deutſchlands Heben t). 

1) Brower, Fuldensium antiguitatum libri II, Antverpise 
1612, p. 158, 159. Es ift Nr. LXXI bei Müllenhoff und Scherer, 
und biefelbe, bie wir oben S. 54 bei Goldaſt erwähnt haben. — 
2) Die Stabibibfiothet zu Trier befigt ein Exemplar jener äußert feltenen 
Ausgabe von 1626. ©. Wyttenbach a. a. DO. Das Stüd ift dann Bfters 
wieber herausgegeben, aber immer auf Grunblage von Brower's Tert, ba bie 
Handfärift noch nicht wieder aufgefunden if, Müllenhoff und Scherer 
©. 477. — 3) Joh. Molleri Cimbria literate III, 321 sg. — 
4) Incerti Poetae Teutoniei Rhythmus de Sancto Annone. — Martinus 
Opitius primus ex membrana veteri edidit et Animadversionibus il- 
lustravit, Dantisci 1639, p. 30. ®gl. p. 15. 


6 


Biertes Stapitel. 


Die grammatiſche Behandlung der deuiſchen Sprade bis zum 
Jahr 1665. 


Die deutſche Grammatik im ſechzehnten Jahrhundert. 


Wie bei anderen Völfern, jo ift aud) bei den Deutſchen nicht die 
wiſſenſchaftliche Forſchung, ſondern das praftiihe Bedürfniß ber 
erfte Anlaß zur grammatiſchen Behandlung der eigenen Sprache 
geworden. Sobald man anfängt, eine Sprache zu ſchreiben, zeigt 
ih auch die Nothwendigfeit, gewiſſe, wenn aud noch fo elemen« 
tare grammatifche Feitfegungen zu treffen. Und fo fehen wir denn 
auch wirklich ſchon in der althochdeutſchen Periode, zumal kei dei 
Et. Gallen, die erften Anfänge davon. Zu einer eigentlichen 
dentf hen Grammatit aber bringt es erſt das Neuhochdeutſche. Bei 
teren Entftehung dürfen wir nicht außer Acht laſſen, daß die gram- 
natiſchen Kategorien nicht von den, beutihen Grammatilern erft 
entdedt worden find; vielmehr find fie ihnen von den Römern 
überfiefert, und dieſe haben fie wieder von den eigentlichen Ent» 
teten, den Griechen, erhalten. So hängt die Entftehung ber 
deutſchen Grammatik auf das engfte mit den Ueberlieferungen des 
laſſiſchen Altertfums zufammen. In der That ſehen wir auch, 
gleichſam als ein Vorſpiel für das Hervortreten der deutſchen 
Grammatik feldft, in der Beit der wieder erwachenden klaſſiſchen 
Studien das Deutſche zunähft nur als ein Hülfsmittel zur Er⸗ 
kißterung des Sateinlernens benutzt. So in ber Iateinijhen Gram⸗ 
matit, die der bayeriihe Geſchichtſchreiber Johannes Tur- 
mair, nad feinem Geburtsort Abensberg Aventinus genannt 
(geb. 1477, + 1584) 1), im J. 1512 zu Münden unter dem Titel 
heiausgab: Grammatica omnium vtilissima et brevissima. — 
Sunt vbique dietionum significata vernacula lingua addita. 
Preterea translatio casuum et temporum in nostram linguam 


160.6. 19 fg. 


62 Biertes Kapitel. 


Eorundemque formatio brevis et elegans etc. Eine beutjche 
Grammatik Kann man das natürlich noch nit nennen. Eine folde 
entfteht vielmehr und entwidelt fi mit der Entftehung und Aus⸗ 
bildung der neuhochdeutſchen Schriftſprache. Und wie diefe fi an 
die Taiferlihe Kanzlei und dann an die Form anfnüpft, welche die 
deutſche Gemeinſprache in Luther's Schriften angenommen hatte, jo 
fehen wir diefe beiden Elemente auch die Grundlage der deutfchen 
Grammatik bilden. Der erfte, von bem uns berichtet wird, daß 
ex eine Grammatik. der deutſchen Sprade unternommen habe, war 
Hans Krahenberger, kaiſerlicher Math und Secretarius am 
Hofe Friedrich's II. und Maximilian's I. Das opus grammaticale 
de lingua Germanica certis adstrieta legibus war feine letzte 
Arbeit. Er ift darüber Hingeftorben, ohne fie zu vollenden und zu 
veröffentlichen ?). " 

Wie nahe die Entftefung der deutſchen Grammatik mit dem 
Aufkommen der deuten Schriftſprache zufammenhieng, zeigt ſich 
au an der Art, wie man allmählich zu einer volfftändigen deut- 
fhen Grammatif gelangte. Das nächſtliegende Bedürfniß nämlich, 
das zuerſt Befriedigung erheiſchte, war die Kunſt, richtig zu fehrei- 
ben. Die Bemühungen um die deutſche Grammatik beginnen daher 
mit Anweifungen zur deutſchen Orthographie. Diefe Schriften Ha- 
ben es theils auf eine Anleitung zur Schreiberei abgefehen, theils 
faffen fie das Lefen- und Schreibenlernen des ganzen Volles mit 
befonderer Nüdficht auf die religiöfe Leftüre in’s Auge. Der 
exfteren Gattung gehört urſprünglich ein vorzüglices Meines Buch 
an, das Magifter Fabian Frangk, „Burger zum Buntzlaw,“ im 
Jahr 1531 umter dem Titel Herausgab: „Teutiher Sprach Art 
vnd Eygenſchafft. Orthographia, Gerecht Buͤchſtaͤig Teutſch 


1) S. Engelb. Klüpfel, De vita et soriptis Conradi Celtis, 
Friburgi Brisgoviae 1827, p. 179. Dies Unternejmen bes Gecretärs 
Kaifer Marimilian’s ſtimmt merkwürdig zu Luther’s Ausſpruch: Kaifer Maris 
mifian und Kurfürſt Friedrich Haben im römifden Reich die deutſchen Sprachen 
alfo in eine gewiffe Spradje gezogen. (Luther’s Tiſchteden, Eisleben 1566, 
81. 578). 


Die grammaliſche Behandlung der deutſchen Sprade bis zum Jahr 1665. 68 


wihreiben. New Cantzlei, ie bräudiger, gerechter Practich 
Formliche Miſſiuen vnd Schriften an iede Perjonen rechtmeſſig 
zuſtellen, auffs kürtzſt begriffen“. Frangk war geboren zu „Aßlaw“ 
(aſſel im Regierungsbezirk Liegnitz), lebte, als er ſein Buch zum 
erſtenmal herausgab, zu Bunzlau und wurde ſpäter nad Frankfurt 
an der Ober berufen, um dort eine deutſche Schule zu gründen 1). 
Hier arbeitete er feine Schrift um und gab fie fehr erweitert und . 
mehr für die Zwede der Schule eingerichtet im Jahr 15382) von 
nem heraus. Wir finden den Verfaſſer (ſchon 1531) auf dem 
tihtigen Wege, die gemeinfame deutſche Schriftfprage von den 
landſchaftlichen Mundarten zu unterſcheiden. Ex hat fi unter den 
verihiebenen Mundarten Deutſchlands umgefehen und bie eigen 
tümlide Ausiprade des Franken, Bayern, Schleſiers und 
Meichtners“, des Oberländers und Niederländers, belauſcht. Aber 
er hat gefunden, daß nirgends das Schriftdeutſche geſprochen wird *). 
Vielmehr beantwortet er die Frage: „Warauß man recht und reyn 
Zeutſch lerne“ dahin: „Wer aber fülde mißbreuch meiden, vnd 
tehtförmig Teutſch ſchreiben, odber reden wil, der muß Teutſcher 
fragen auff eins Lands art vnd brauch allenthalben, nicht 
nacuolgen. Nüglih vnd güt ifts einem iedlichen, viler Lande 
Irraen mit jren mißbröuchen zewiffen, damit man bag vnrecht ınög _ 
meiden, Aber dz 9 fürnemlichft ift fo zu diſer fach forderlich vnd 
dienſtlich iſt, das man guͤter Eremplar warneme, das ift, gütter 
Teutſcher Bücher und verbrieffungen, ſchrifftlich oder im Trud ver- 
faßt und aufgangen, die mit fleiffe Iefe, und jnen in dem das an- 
jumemen und recht ift, naduolge. Vnder wölhenn mir etwan bes 
temven (hoch loblicher gedechtnuß) Keyſer Marimilians Canlei, 


H Wagiſter Fabian Frand, der erſte deutſche Orthograph. Bon Dr. 
drang Weber. Separatabdrud aus ber Zeitſchrift de Vereins fr Geſchichte 
mu Altertjum Schlefiens, Breslau 1863, S. 6 fg. Ftangk ſchwankt in der 
Shreisung feines Namens zwiſchen Ftangt und Frand. (Weber a. a. O. 
6.6, Anm. 8). — 2) Am Schluß: „Gedrudt zu Wittenberg buch Hans 
Wen. M. D. XXXIX.“ (Weber a, a. D. ©. 6). — 8) 8.9 ber 
Ausgabe von 1531. — 4) = das. 


64 Biertes Kapitel, 


vnnd diſer zeit D. Luthers ſchreiben, vnd dz 1) vnuerfaͤlſchet, bie 
emendirtſten vnd reynſten zuhanden lommen fein“ 2). Die andere 
Gattung, die es auf das Leſen- und Schreibenlernen bes ganzen 
Volles abfieht, — das Erftere hauptſächlich zu geiftlihen Zweden —, 
ftellt ung das Büchlein dar, das Johann Kolroß, „Teutſch 
Lefermayfter zu Baſel“, (wahrſcheinlich im J. 1529) veröffentlichte: 
„Encheridion. Das ift, hantbuͤchlin teutſcher Orthographi, Hod- 
teutſche ſpraͤch, artlich zeſchreyben und leſen, ſampt einem Negifter- 
lein über die gantze Bibel.“ Solcher Anleitungen zur deutſchen 
Orthographie iſt dann von jener Zeit an eine große Anzahl er- 
ſchienen, und dahin gehört auch eigentlih das Meine Buch, das 
ſich zuerft den Namen einer deutſchen Grammatit beilegte. Im 
5.1531 ober bald danach ſchrieb nämlich Valentin Seelfamer, 
An Anhänger Luthers und eine Zeit lang des Schwärmers Karl- 
ftadt, feine „Zentihe Grammatica Darauß ainer von jm ſelbs 
mag leſen lernen, mit allem dem, fo zum Teutſchen Lefen vnnd 
deſſelben Orthographian mangel und überfluß, auch anderm vil 
mehr, zu wiffen gehört“). Ickelſamer ift ein feuriger Kopf. Er 
nimmt einen Anlauf zu einer deutſchen Grammatif, und es fehlt 
ihm nicht an eigenthümlichen Gedanken, aber in- der Ausführung 
bringt er e8 troß des vielverſprechenden Titels doch nicht über eine 
Anleitung zum Lefenlernen und zur deutſchen Orthographie hinaus. 

Erft vierzig Jahre nah Icelſamer kommt es zur Herausgabe 
einer wirklichen deutſchen Grammatif, und merkwürdiger Weiſe 
treten nun plöglich faft zu gleiher Zeit zwei deutſche Grammatiken 
in die Oeffentlichkeit, die das Zeichen der Zwillingsbrüberihaft un 
vertennbar an ber Stirne tragen. Die Geſchichte der wirklich aus- 
geführten und an die Oeffentlichkeit gelangten deutien Gramıma- 
tifen beginnt nämlich mit einem feltfamen literarifhen Räthſel. 
In demfelben “Jahre, (1573), erſchienen zwei deutſche Gram⸗ 
matifen, bie eine von dem Straßburger öffentlichen Notar Albert 

1i) S das. — 2) 81.2 der Ausgabe von 1531. — 3) Ausgabe 
ohne Ort und Jahr, auf ber k. Bibliothet zu Berlin. Neue Ausgabe, Nürn- 
berg durch Johann Petreius 1537, auf der Univerfudtsbibliotgek zu Göttingen. 





Die graumatiſche Behandlung der deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 66 


Delinger, die andere von dem Oftfranfen Laurentius Al- 
bertus, und beide geben fi für den erften Verfud einer deutſchen 
Grammatit aus. So weit num hätte die Sache noch nichts ber 
ſonders Wunderbares. Denn warum follten nicht Albert Delinger, 
der in Straßburg lebt, und Laurentius Albertus, ber feinen Aufent- 
halt in Würzburg Hat 1), beide in aufrictigfter Meinung glauben, 
fie hätten feinen Vorgänger in ber Abfaffung einer deutſchen Gram⸗ 
matif? Sie brauchten ja, eben da ihre Bücher gleichzeitig erſchienen, 
bei der Herausgabe derjelden Nichts von einander zu wiſſen. ber 
das Auffallende beginnt, wenn wir ben Inhalt der Bücher ſelbſt 
anfehen. Hier bleibt uns nämlich bald Fein Zweifel, daß der Eine 
die Arbeit des Anderen gelannt haben muß. Nicht nur in der 
Behandlung des Stoffes, fondern auch in der Form des Ausbruds 
finden wir öfters eine ſolche Uebereinftimmung, daß an ein zu- 
fälliges Zufammentreffen nicht zu denken ift. Eine nähere Unter- 
juchung führt zu dem Ergebniß, daß Laurentius Albertus feine 
Grammatik zwar vor der des Delinger verüffentlit, daß er aber 
bei Ausarbeitung feines Werks Mittheilungen aus der Handſchrift 
Oelinger's in unredlicher Weife benugt hat?). Wir dürfen jomit 
den Straßburger Notar Albert Delinger als den Erften be 
zeichnen, von dem wir eine eigentliche deutihe Grammatil befigen. 
Sein Buch hat den Titel: Vnderricht der Hoch Teutihen Spraad: 
Grammatica Seu Institutio Verae Germanicae linguae, in 
qua Etymologia, Syntaxis et reliquae partes omnes suo or- 
dine breviter tractantur. In usum iuventutis maxime Galli- 
«se, ante annos aliquot conscripta, nunc autem quorundam 
instinetu in lucem edita, plaerisque uieinis nationibus, non 
minus utilis quam necessari.. Cum D. Joan. Sturmij sen- 
tentie, de cognitiine et exercitatione linguarum nostri 


1) Er unterzeichnet bie Widmung feines Bude: Wurzburgi, 20 
Septemb: anno 72. — 2) Eine genaue Vergleichung beider Bücher beflätigt, 
we bie Inteinifchen Gedichte, bie Delinger's Grammatik vorausgeſchidt find, 
eutorüdtich jagen, daf Oelinger feine Handſchriſt deshalb jegt ſchon in Drud 
9b, weil ein Anderer ihn beftohlen habe, 

Raumer, Sei. ber germ. Pillofagie. 5 


66 Viertes Kapitel. 


saeculi. Alberto Oelingero Argent. Notario publico Auctore, 
Argentorati, exeudebat Nicolaus Wyriot. M. D. LXXIII. °). 
Diefem Titel und feinem ar ausgefprochenen Zweck entfpricht der 
Anhalt des Buches. Es behandelt in lateiniſcher Sprache die deut- 
fe Grammatik ganz nad dem Schema’ der antifen, befpricht zuerft 
die Buchſtaben und deren Ausſprache, dann den Artitel, das No: 
men, das Pronomen, das Verbum, das Participium, das Adver⸗ 
bium, die Praepofition, die Conjunction und die Interjection, gibt 
dann eine ganz kurze Syntax und endlich eine noch kürzere Brosobie. 
Die Behandlung ift dem Zwed des Buchs entſprechend eine pral- 
tifche. Die Kategorien liefert die antile Grammatik. Von einem 
tieferen Eindringen in den Bau der deutſchen Sprade ift noch Feine 
Nebe; doch fehlt es nicht an einzelnen treffenden Bemerkungen. So 
gibt der Verfaffer zuerſt die deutſchen, den lateiniſchen entjprecen- 
den Tempora, umſchriebene und nicht umfchriebene, fährt dann aber 
fort: „Proprie vero Germani duo tantum habent tempora, 
nempe praesens, ef praeteritum imperfectum: reliqua eir- 
cumloquuntur, praeterita per verba auxiliaria, haben, vel 
fein, et futura per verba wollen et werden“ 2). Auch verdient 
bemerkt zu werben, da Delinger die deutſchen Verba nicht fo ein» 
theilt, daß er die [wachen als regelmäßige, die ſtarken als une 
gelmäßige behandelt. Vielmehr macht er vier Conjugationen, unter 
deren drei erfte er die ablautenden Zeitwörter vertheilt, während 
er aus den ſchwachen bie vierte bildet.- 

Wir haben den Zwilling Delinger’s, Laurentius Albertus, 
von dem Vorwurf des Plagiats leider nicht freiſprechen Tönnen. 
Aber trotz feiner Entlehnungen aus Delinger bietet er doch vieles 
Eigene. Sein Buch führt den Titel: Teutih Grammatid oder 
Sprad-Kunft. Certissima ratio discendae, augendae, ornan- 
dee, propagandae, conseruandaeque lingnae Alemanorum 
siue Germanorum, grammaticis regulis et exemplis compre- 
hensa et conseripta: per Laurentium Albertum Ostro- 


1) &o auf dem Titel des Göttinger Eremplars. Am Schluß bes Budes 
aber: Excudebat Nicolaus Wyriot. Anno M.D.LXXII. — 2) p. 9%. 


Die grammatiſche Behandlung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 67 


francum. Cum gratia et privilegio Imperial. Augustae 
„Vindelicorum excudebat Michaöl Manger. M. D. LXXIII. 
Der Berfaffer nimmt nit nur auf die örtlichen Mundarten, fon 
dern bisweilen fogar auf die ältere deutſche Sprache Rüdfiht. So 
bemerft er, nachdem er die Bildung ber Feminina auf in (König, 
Königin) dargeſtellt hat: „Nota quod in rithinis (fies: rhythmis) 
apud veteres foemininis in in, non raro litera e, tanquam iis 
propria adjieistur: als fürftinne, Koniginne, aut syllaba, gund 
ala Königumb, quod deinde proprium nomen factum est“ 1). 
Beweift der Anfang diefer Stelle, daß Laurentius ältere deutſche 
Schriften kannte, fo zeigt der Schluß, daß er von ihrer Sprade 
kein Verſtändniß hatte. — In anerkennenswerther Weife richtet 
Raurentius Albertus fein Augenmerk auf die Ableitung der Wörter. 
So ftellt er 3. B. die „terminationes“ zufammen, durch welde 
Verbalia von Verbis und deren Partieipiis gebildet werden, mie 
ung in Rechnung, er in Schreiber u. |. w. Aber wie fehr 
die deut he Grammatik hier noch in den allererften Anfängen fteht, 
dafür genügt es anzuführen, daß unter jenen und ähnlihen End» 
folden ſich aud die Bemerfung findet: „9. Odt, als gebodt 
mandatum, gebietten, mandare“ 2). Ja fogar die Zurüdführung 
des ganzen deutſchen Sprahihages auf Wurzeln ift dem Albertus 
nit fremd. „Alle primitiven Wurzeln unfrer deutſchen Sprache, 
fagt er, find einfylbig und treten in biefer Beziehung dem Hebräi- 
fen fehr nahe, eine Kürze, die fihherlich weder die Griechen, noch 
die Lateiner überall aufweiſen können“ >). Auch in diefer Stelle 
tritt uns neben einem aufleuchtenden richtigen Gedanken fofort bie 
dunlle Finfterniß entgegen, bie damals nod über der vergleichen. 
den Sprachforſchung lag. Aber vorausgefegt, daß Albertus nicht 
and) in diefen Theilen feines Buchs Andere ausgefchrieben hat und 
wir mer feinen Vorlagen noch nicht auf die Spur gefommen find, 
beweifen die angeführten Stellen und fo mande andere, daß er ein 
firebfamer Gelehrter war. Dafür feheint auch zu ſprechen, daß er 
an mehr als einer Stelle noch weitere Linguiftiihe Unternehmungen, 


ij) Bl. D. 6. ww. — 2) Bl. F. 8. — 8.02 m. 
5° 


68 Viertes Kapitel 


die er im Sinn Bat, ankündigt !), fo namentlich bie Ausarbeitung 
eines beutien Wörterbuds 2). 
Ein größeres und länger behauptetes Anfehen, als feine bei⸗ 
den Vorgänger, hat fih wenige Jahre nah ihnen Johannes 
Clajus erworben. Geboren zu Herzberg an der Schwarzen El⸗ 
fter ftudierte er zu Leipzig Theologie, wirkte dann als Schulmann 
zu Goldberg, Franfenftein in Schleſien und Norbhaufen, bis er im 
5%. 1573 Prediger zu Benbeleben in Thüringen wurde, wofelöft ex 
im J. 1592 ſtarb ®). In der lateiniſchen, griechiſchen und hebräi- 
ſchen Sprache wohlbewandert richtete er doch fein hauptſächlichſtes 
Augenmerk auf die Herſtellung einer deutſchen Grammatil. Nad- 
dem er mehr als zwanzig Jahre daran gearbeitet hatte, gab er die 
Frucht feiner Bemühungen im 3. 1578 zu Leipzig unter dem Titel 
heraus: Girammatica Germanicae linguae M. Johannis Claij 
Hirtzbergensis: Ex. Bibliis Lutheri Germanieis et aliis eius 
libris collecta. Ein begeifterter Anhänger Luthers legt Clajus 
deffen Sprade feiner Grammatik zu Grunde. Die einzelnen Theile 
derjelben behandelt er in der Weife der damaligen lateiniſchen 
Grammatifen, nämlih 1) die Orthographie, 2) die Prosodie, 8) die 
Etymologie, 4) die Syntar. Darauf folgen noch zwei Abſchnitte 
de ratione carminum veteri apud Germanos (d. h. von ger 
reimten Gedichten) und de ratione carminum nova (d. 5. von 
der Nahbildung antiker Metra im Deutſchen). Fleiß, im Einzel- 
nen öfters richtige Beobachtung und eine gewiſſe praktiihe Brauch⸗ 
Barfeit für feine Zeit wird man dem Bude bes Elajus nicht ab⸗ 
ſprechen; aber wie fehr die deutſche Grammatik noch in ihren erften 
Anfängen ftand, das zeigt ſich darin aller Orten. Wie feine Bor 
gänger, fo ſchließt ſich auch Clajus im der Behandlung der deut 
fen Sprade eng an die gegebene Form der Iateinifhen Gram⸗ 
matik an, und zwar geht er hier in ſtlaviſcher Uebertragung der 
Methode bisweilen noch weiter als Delinger und Laurentius Alber⸗ 
tus. Alle drei behandeln fie 3. B. erft das natürliche Geſchlecht, 


18.06 — 98.02 — 3) Jörbene, Lexikon deutſcher 
Dichter und Proſaiſten I, 302, Claji gramm. Germ. ling. Praef. 


Die grammatiſche Behanblung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 69 


dann das durch die grammatifche Form gegebene. Wenn nun auch 
das natürliche Geſchlecht fid in ähnlicher Weiſe beſprechen läßt wie in 
den antiten Sprachen, fo ift mit den abgeftumpften Flexionen des 
Neuhochdeutſchen für das grammatiſche Geſchlecht meift nicht viel 
auszurichten. Dennoch wollen diefe erften deutihen Grammatifer 
das Geflecht der Wörter nad) den Endungen beftimmen. Delin- 
ger und Laurentius Albertus bedienen fi dazu der Endſyl⸗ 
ben. Dadurch betreten fie wenigftens in einigen Fällen den Weg, 
gewiffe Ableitungsſylben mit einem beftimmten Geſchlecht in Ver⸗ 
bindung zu bringen. 3. 8. wenn Delinger!) die „nomina 
finientia in umb“ für Neutra erflärt, „ut das hergogthumb, das 
heyligthumb, jerthunmb“ ; oder wenn Albertus fagt: „Verbalia in 
er masculina sunt, et formant foeminina in In, als ber 
Shtreiber, seriba, die ſchreiberin, Koch, köchin 2c.” Aber meiftens 
find ihre Annahmen ohne alles Verſtändniß der Wortbildung. So 
lautet die ganze Regel Delingers, welche das oben über umb 
Angeführte einfäließt: „Item nomina finientia in ct, es, echt, 
end, ment, od, bt, pt, umb, et quae formant pluralem a singu- 
lari additione er plaeraque neutra sunt.* Und demgemäß heißt 
& dann 3. B.: „In et, vi bas bett, das brett, das pareth. Ex- 
dpiuntur quaedam, vleuti (lies veluti) die bancquet, bie Fett, 
teomet, paftet.” Laurentius Albertus, der in diefer Be 
ziehung den Delinger übertrifft, bringt aber dod neben ber rich 
tigen Beobachtung, daß die Wörter auf ung, ey, heit und keit 
generis feminini find, die Megel, daß dies auch bei denen auf ag 
der Fall fei: „Ag, die zufag promissio, die Mag, querela ıc.“ 2). 
Benn nun ſchon diefe Beifpiele zeigen, daß Delinger und Al- 
bertus faum die erften Schritte zu einer richtigen Einſicht thun, 
fo bleibt Elajus in diefem Punkt noch Hinter ihnen zurüd, indem 
er ganz roh die Wörter nach ihren Enbbuchftaben durchnimmt und 
danach ihr Geſchlecht beſtimmen will. Er Handelt einen Buchſtaben 
nach dem anderen ab vom a bis zum tz. Da werben bemm 
38.3) unter # erft eine Menge Wörter aller Arten aufgezählt, 


Dpse,— 2) Bl. E. — 32.48 0q. 


70 Biertes Kapitel 


von benen es heißt: „Desinentia in t. Masculina sunt: ber 
Rath, Benatus, Consilium, Consiliarius. Der Grat, Spina 
piscium, et dorsi. Salat, Lactuca. Der Gott, Deus. Der 
Hut, Muth, Pileus, Animus. Der Abt, Abbas“ u. |. f. Dann: 
„Foeminina sunt: die That, Factum. Nat, Suture. Die Not, 
Angustia. Die Stut, Equa. Brut, exclusio ouorum* u. ſ. w. 
Endlich: „Neutra sunt: das Niet, Pascuum. Das Brot, Lot, 
Panis, Drachma. Gut, Blut, Bonum, Sanguis“ u. ſ. w. 

Ich habe dieſen Gegenftand etwas ausführlicher beſprochen, 
weil er uns ein recht beutlihes Bild gibt von der noch überaus 
geringen Einſicht, welde jene erften deutſchen Grammatifer in das 
Weſen der deutſchen Sprade hatten. In manden anderen Theilen 
der Grammatik zeigen fie ſchon einen etwas helleren Blid. Doch 
läuft aud hier das Richtige und Verfehlte oft ſeltſam durcheinander. 
So gibt 3. B. Elajus mande richtige allgemeine Beftimmung über 
die deutſche Conjugation !); dann aber hat er den fonderharen Ein- 
fall, die Abwandlung der einzelnen deutſchen Beitwörter fo zu bes 
handeln, daß er die Zeitwörter nad ihren Endſylben ordnet und 
unter jeder Endſylbe bie verchiedenartigften Verba zufammenfteltt. 
Auf diefe Weife wird natürlich das Zufammengehörige faft durch- 
weg außeinanbergerifjen und das Fremdartigſte vereinigt. Auch 
hier waren Delinger und Albertus ſchon auf dem richtigeren 
Wege. Aber andrerjeits ift nicht zu verkennen, daß Elajus fie 
an Reichhaltigkeit und Sorgfalt in der Ausführung übertrifft. 


Die deutſche Grammatik im ſiebjehnten Jahrhundert bis zum Jahr 1665. 


Zwiſchen den deutſchen Grammatiten bes 16. Jahrhunderts 
und denen des 17. Liegen wichtige Vorgänge, die ber allgemeinen 
deutſchen Literatur» und Kulturgefhichte angehören und die wir 
deshalb Gier nur berühren dürfen. Die Poeſie des Opig (geb. 
1597 } 1639) beginnt einen neuen Abſchnitt in der Geſchichte der 
deutſchen Diätung, unmittelbar aber greift er ein in einen wich⸗ 
tigen Theil der deutſchen Grammatik: die deutſche Metrit, durch 


1) p. 142 29. 


Die grammatifcje Behandlung der deutſchen Sprache Bis zum Jahr 1665. 71 


fein Buch „von der Deutfhen Poeterey,“ das im J. 1624 zu 
Brieg gedruckt und zu Breslau verlegt wurde. Hier wird zuerit 
für die deutfche Poeſie die Negel feitgeftellt, daß ber Accent die 
Stelle der antiten Ohantität zu vertreten habe‘). Saft gleichzeitig 
mit Opig war der merkwürdige Verfuh, den Wolfgang Rati— 
Hins (geb. zu Wilfter in Holftein 1571, + 1635) zur Umgeftalt- 
ung des Schulwefens machte. Mit der ‚allgemeinen Methode des 
Natichius umd den übertriebenen Erwartungen, die er daran fnüpfte, 
haben wir e8 hier nicht zu thun. Für uns ift das Wichtige an fei- 
nem Berſuch, daß er den Sprachunterricht mit der deutſchen Gram- 
matit beginnen und das Deutſche wenigftens theilweiſe zur Uns 
terrichtsſprache machen wollte. So vieles Seltſame und Verkehrte 
auch Ratichius in feine Unternehmungen mifchte, fo bleibt ihm doch 
das Berbienft, weſentlich dazu beigetragen zu haben, daß die Wif- 
ſenſchaft allmählich ihr lateiniſches Gewand mit einer deutſchen 
vertaufjchte- Gerade von dieſer Seite fand er auch bei mehreren 
der bebeutendften Gelehrten feiner Zeit bleibende Anerkennung, fo 
bei Joachim Jungius und Ehriftophorus Helvicus. — Die dritte 
Eſcheinung, die aud für die Entwidlung der deutſchen Sprad- 
wiſſenſchaft von Bedeutung war, bildet die Gründung der deutſchen 
Sprachgeſellſchaften. Nah dem Vorgang der Italiener wurden fie 
im Lauf des 17. Jahrhunderts geftiftet und trugen troß aller 
Wunderlichleiten und Geſchmacloſigkeiten doch nicht wenig dazu 
bei, in einer jammervollen Zeit die Liebe zur deutſchen Mutter⸗ 
ſprache wach zu erhalten. Die angefehenfte unter dieſen Geſell⸗ 
ſhaſten: die „feuchtöringende”, geftiftet im J. 1617, werben wir 
mit ben bebentendften grammatiſchen Leiftungen des 17. Jahrhun⸗ 
derts in nahem Zufammenhang fehen; und aud der Pegneſiſche 
Hirten und Blumenorden hat fi nicht ausſchließlich auf Spielereien 
beſchränlt, vielmehr ſpricht fein Stifter ©. Ph. Harsdörffer in 
feinem Specimen Philologiae Germanicae, (Norimbergae 1646) 


1) Blatt & ij der Erſten Ausgabe, deren Titel mod) nicht die Worte Pros- 
odia Germanica ber fräteren Ausgaben enthält, 





72 Viertes Kapitel. 


fo manden gefunden Gebanten über die Wichtigfeit der deutſchen 
Sprade für die ganze deutſche Bildung aus. 

Unter den deutſchen Grammatiten des 17. Jahrhunderts er- 
wähnen wir zuerft eine, die fi unmittelbar an bie oben beſpro⸗ 
chene Neuerung des Ratichius anſchließt. Es ift die „Deutſche 
Grammatica, Zum newen Methodo, der Jugend zum beſten, zuge⸗ 
richtet. Für die Weymariſche Schuel, Auff ſonderbaren Fürſtl. 
Gn. Befehl. Gedrudt Zu Weymar. — Im Jahr 16181." Ein 
zweiter Titel (mit der Jahrzahl 1619) nennt dann den M. Jo⸗ 
hannes Kromayer (geb. zu Döbeln 1576, Generalfuperinten- 
dent zu Weimar, } 1643) als Verfaſſer. Was den Stoff betrifft, 
fo wird man von einem Elementarbüchlein nit verlangen, daß es 
höher ftehe, als die Gelehrten feiner Zeit. Doc zeigt fi der 
Verfaſſer als ein Mann von Einfiht 2). Das Hauptgewidt aber 
legt er auf die didaltiſche Methode, und hier ift fein Bud in dop⸗ 
pelter Beziehung merkwürdig, erftens, weil es die erfte nicht in 
lateiniſcher, fondern in deutſcher Sprache geſchriebene deutſche Gram⸗ 
matif ift 3), und zweitens, weil es trotz der Wunderlichkeiten der 
Ratich ſchen Methode doch einen achtungswerthen Anfang zur Her- 
ftellung einer wirflichen deutſchen Elementargrammatit macht 4). — 
Bon den übrigen Grammatilen unferes Zeitraums wollen wir bie 
Deutihe Sprachkunſt des Tilemann Dlearius, Halle 1680, 
den „Deutſcher Sprachlehre Entwurf‘ von Chriftian Gueing, 
Eöthen 1641, und „Die Deutſche Grammatica oder Sprachkunſt“ 
des Johannes Girbert, Mülhauſen 1653, nur nennen, um 
etwas länger bei dem bebeutendften beutihen Grammatiler bes 
17. Jahrhunderts, Schottelius, verweilen zu können. Juſtus 
Georgius Schottelius wurbe geboren im Jahr 1612 zu Eim- 
bed, wo fein Vater Prediger war. Nachdem er die Schule zu 


1) Muf der Bibfiotgek zu Göttingen. — 2) Bgl. z. V. feine Eintheil: 
ung ber deutſchen Gonjugationen S. 27 fg., befonders ©. 88, XXL — 
3) Icdelfamer’s Bücjlein nennt fih zwar eine deutſche Grammatit, ift aber 
keine. S. o. S. 64. — 4) Bgl.4. B. bie praktiſche Unterſcheidung ber 
Subſtantiva und Abjectiva ©. 8, IX u. X. 


Die grammatiſche Behandlung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 73 


Hibeseim und das Gymnafium zu Hamburg beſucht Hatte, gieng 
er nad Holland und ftubierte von 1633 Bis 1636 zu Leiden ſchöne 
Wiſſenſchaften und Jurisprudenz. Leiden war damals nicht nur 
die erfte Hochſchule Europa's für Maffiige Philologie, fondern feine 
großen Gelehrten nahmen zugleih den wärmften Antheil an bem 
Auffchwung des niederländifhen Staats und ber niederländiſchen 
Sprache; ja auch die Erforfäung ber älteren germanifden Spra- 
sen hatte hier einen bemerkenswerthen Anfang genommen 1). Es 
war deshalb für den Lebensgang des Schottelius nicht ohne Bes 
deutung, daß er feine Univerfitätsftubien in Leiden machte und 
daß Hier gerade Daniel Heinfius, der große Philolog und geachtete 
hollandiſche Dichter 2), fein Hauptfäglichfter Lehrer wurde. Im J. 
1636 gieng Schottelius zur Fortfegung feiner Stubien nad Wit 
tenderg, von wo ihn im J. 1638 die Stürme des breißigjährigen 
Kriegs nah Haufe trieben. In bemfelben Jahr noch berief ihn 
Herzog Auguft von Braunſchweig, der Gründer ber berühmten 
BVolfenbütteler Bibliothek, zum Erzieher feines Sohnes Anton 
Ulrich. Schottelius blieb von da an im Dienft der braunſchwei⸗ 
giſchen Fürſten und ſtarb als Hof- Kanzley- und Kammerrath den 
%. Oftober 1676 zu Wolfenbüttel 3). 

Schottelius war einer der trefflihen Männer, die während 
der traurigſten Zeit innerer Zerriſſenheit und ausländiſcher Ein- 
miſchung nicht an der Zukunft ihres deutſchen Vaterlands verzwei⸗ 
felten und nach Kräften an deſſen Aufrichtung und innerer Stärk⸗ 
ung arbeiteten. Aus dieſem Geſichtspunkte haben wir feine lang⸗ 
jährigen Bemühmgen um bie deutſche Sprache vor allem zu be 
ttachten. Sie find durdzogen von der tiefften Trauer über ben 
politiſchen Zuftand Deutſchlands und von ber feiteften Zuverſicht 
auf deſſen Tünftige Größe. Noch in einer feiner legten Schriften 


)6&.u — 2) Schottelius rühmt ihn in der Ausführlichen Arbeit, 
1663, ©. 86 fg., ©. 91, ©. 1169 als Dichter. — 3) Bgl. El. Cafp. Rei 
Gerd, Verſuch einer Hiſtorie ber deutſchen Sprachkunſt, Hamburg 1747, 
6.98 fg. — 8. H. Zörbens, Lericon deutſchet Dichter und Profaiften, 8.4 
&ı 1809, ©. 614 fg. 


74 Viertes Kapitel. 


heißt es: „Reine Heersmacht in der gangen Welt wird ber Teut⸗ 
ſchen Heerstraft Abbruch können thun, jo fern die Teutſchen umter 
einander eins und einanderreht meinen, wozu bilfig bie fonft 
angeborne Treu und Reblicgfeit fie unzertrenlich ſollte veranlaffen“ 1). 
Als Mitglied ber fruchtbringenden Geſellſchaft, in welcher er den 
bezeichnenden Namen des Suchen den führte, begnügte er fih 
nicht mit den mwohlgemeinten YWeußerlicleiten, fondern er ftrebte, 
der Geſellſchaft und dem Vaterland durch raftlofe Bearbeitung ber 
deuten Sprade Ehre und Vortheil zu Bringen. Er kennt fehr 
wohl den engen Zufammenhang, in welchem das Gebeihen der 
Mutterſprache mit dem Wohl des Staates fteht ?). Er ift des- 
bald entrüftet über die Berunftaltung der deutſchen Sprache durch 
das Einmengen unzähliger franzöfiiher und anderer Fremdwörter, 
das gerade in feiner Zeit in fo erihredender Weife um fih griff, 
und ſucht diefem Unheil nach Kräften zu fteuern 3). Doc ift er 
bei all feinem berechtigten Eifern gegen diefe „Sprachverberberey“ +) 
kein überfpannter Sprachreiniger, wie mande feiner Beitgenoffen, 
fondern er vertheidigt die Beibehaltung gemiffer Fremdwörter, wie 
Altar, Bifhof und dergleichen ©) gegen „die effelfuht und aus⸗ 
mufterung der jenigen, jo fein Teutſch, als was ihren Ohren nur 
Teutſch Minget, zulaffen“ 6). „Jedoch, fügt er Hinzu, wird mit 
nichten das a la modo parliven und bie eingeihobene almodo — 
Lappmwörter oder das unnötig eingemengte Latein hierdurch ver⸗ 
ftanden“ 9). . 

Es war für Schottelius nicht gleichgültig, daß er feinem 
Lebensberuf nach Zurift war. Unter den Juriſten haben wir im 
der erſten Hälfte des 17. Jahrhunderts die bebeutendften Förderer 
der altveutjhen Spradftubien: Freher und Goldaſt, gefunden. 
Aber auch andere Rechtsgelehrte in nicht geringer Zahl wurben 


1) Horrendum Bellum Grammaticale, Braunfgweig 1673, ©. 68. 
Dgl. ebend. ©.5. 8. 39, 43. 57. 59, 67. 68, 76. 91.— 2) Auefuhrliche Ar⸗ 
beit 1663, ©. 1453. Bgl. S. 1013. 149 fg, — 3) Ebend. ©. 1013, 
1014. 1027 u, font oft. — 4) Ebend. S. 1018. — 5) Ebend. 6,455. — 
6) Ebend. S. 1273. Bol. auch ©, 1245. 1248. 1250, 


Die grammatiſche Behändlung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 75 


mals dur ihre Studien auf die Unterſuchung altdeutſcher Rechts⸗ 
ausbrüde geführt. So Paul Matthias Wehner ') (f 1612), 
Chriſtoph Befold 2) (F 1638), Joh. Gryphiander 9) 
{f 1652), Joh. Jak. Speidel‘) (um 1640), Joh. Lim— 
naeusd) (f 1665). Wie diefe, fo beſchäftigte fih auch Schotte» 
fins mit der Unterſuchung eigenthümlicher deutſcher Rechtsgebräuche, 
ala deren Frucht ev 1671 ein (beutihes) Wert De singularibus 
qubusdam et antiquis in Germania juribus et observatis 
herausgab. Diefe Beichäftigung mit den alten deutſchen Rechten 
bradite es von feldft mit fi, daß er ſich auch um die Sprade, in 
welcher die alten Mechtsquellen abgefaßt waren, kümmern mußte, 
md fo erhob fich ſchon badurd feine Behandlung der deutſchen 
Sprache über die Bemühungen jo mancher Pedanten feiner Zeit. 
Schottelius hat die Früdte feiner germanifhen Studien in 
einer ganzen Reihe von Schriften niedergelegt, von denen wir hier 
natürlich mur die bebeutenberen namhaft machen fünnen. Er begann 
mit einer „Teutſchen Sprachkunſt“, die im J. 1641 zu Braum- 
ſchweig erſchien und im J. 1651 „zum anderen mahle* ebendafelbft 
herauslam. Auf Grundlage diefer Bücher gab er dann fein großes 
Hauptwert herans: Ausführliche Arbeit von der Teutſchen Haubt 
Sprache, Braunſchweig 1663. Das Werk zerfällt, abgejehen von 
einigen Beigaben, in fünf Bücher, von benen das erfte zehn „Lob- 
reden von ber ubralten Teutjchen HaubtSprache” enthält, dag zweite 
bie „Wortforfhung der Teutſchen Sprache”, das dritte die „Wort 
fügung” (Syntaxis), das vierte die „Teutſche Verskunſt“, endlich 
das fünfte fieben verſchiedene „Zractate*, unter denen wir nur ben 
von den „Sprichwörtern der Teutſchen“ und ben von den „Stamm- 





1) Practicarum juris observationum liber singularis, neu fer. von 
Ih. Gäilter, Argentor. 1785. — 2) Thesaurus practicas, Tubing. 
1629, meu Her. von Chriſtoph Ludw. Dietherr, Norimb. 1679. — 8) De 
Weichbildis Saxonis, Francof. 1625. — 4) Speculum juridico - poli- 
tieo - philologico- historicarum observationum ete. Norimb, 1657. — 
5) De jure publioo imperii Romano Germaniei tomi tres, Argentor. 
1645, 


76 Viertes Kapitel. 


wörtern der Teutſchen Sprache nebft ihrer Erflärung” hervorheben 
wollen. Den Abſchluß feiner grammatiſchen Thätigfeit machte 
Schottelius mit zwei ohne feinen Namen erſchienenen MHeineren 
Schriften. Die erfte derfelben iſt eine eigenthümliche geiſtreich 
humoriſtiſche Dichtung, in welder er feine politifgen und gramma- 
tiſchen Gedanken miteinander verſchmilzt und welcher er den Titel 
gab: „Horrendum Bellum Grammaticale Teutonum antiquis- 
simorum Wunderbarer Ausführlicher Bericht, Welcher geſtalt Bor 
Tänger als Zwey Tauſend Jahren in dem alten Teutſchlande das 
Sprad-Regiment gründlich verfaffet geweſen: Hernach aber, Wie 
durch Mistrauen und Uneinigteit ber uhralten Teutſchen Sprach⸗ 
Negenten ein graufamer Krieg, famt vielem Unheil entftanden, 
daher guten Theils noch jeko rühren Die, in unfer Teutſchen 
Mutter Sprache vorhandene Mundarten, Unarten, Wortmängel“ 
Braunſchweig 1673. Die letzte Schrift des Schottelius war ein 
Heiner Auszug aus feinem großen Hauptwerk, eine „Sure und 
gründlige Anleitung Zu ber NehtSchreibung Und zu der Wort- 
Forihung In der Teutihen Sprade. Für die Jugend in ben 
Säulen, und fonft überall nüglih und dienlich.“ Braunſchweig 
1676. 

Bel der Beurtheilung von Schottel's Leiftungen müſſen wir 
zwei Gefihtspunfte wohl auseinanderhalten. Cinerfeits nämlich 
bilden die Arbeiten desfelben ein wichtiges Glied in der Reihe der 
Grammatifer, welde unfere Schriftipradie feftgeftellt haben, und 
andrerſeits befafien fie fi zugleich mit der gelehrten Unterfuhung 
der Sprachgeſchichte. Iu erfterer Beziehung ſetzt Schottelius bie 
Beftrebungen des Delinger, bes Albertus, des Clajus fort. Er 
Tennt deren deutſche Grammatiten 1), aber er weiß auch, daß die 
Aufgabe, die er fich felbft ſtellt, eine viel umfaffendere iſt 2). Ex ſchließt 
fi nämlich mit klarem Bewußtſein dem antiten Begriff der Gram⸗ 
matik an, wie ihn Gerhard Voſſius, „der Hochgelahrte Mann“, 


1) Delinger, ſ. Schottelius Ausfügel. Arbeit ©. 4. Oſtrofrank, ebend. ©. 4. 
1183. Clajus ©. 4. 1204. Auch Icelfamer kennt er, ebend. ©. 4. 19 
59. — 2) Schottelius Ausfühel. Arbeit S. 1188 fg. 


Die grammatiſche Behandlung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 77 


in feinem Wert de arte grammatica entwidelt hatte‘). Was 
die griechifgen Grammatifer ben Griechen, bie lateiniſchen ben 
Römern gewefen waren, das wollte er ben Deutjden fein. Er 
femt den Streit der antifen Grammatiker über Analogie und 
Anomalie umd fucht, für ſich felbft einen haltbaren Standpunkt in 
diefer Grumdfrage zu gewinnen, indem er ben „guten Gebrauch“ 
von der „mißbräuchlichen Verfälſchung“ unterſcheidet 2). Ueberall 
aber ſetzt er ſich die Feſtſtellung der „Hochteutſchen Sprache oder 
der rechten Hochteutſchen Mundart” 5) zum Ziel. „Die Hod- 
teutſche Sprade, fagt er, bavon wir Handelen und worauff dieſes 
Bud) zielet, ift nicht ein Dialeotus eigentlich, fondern Lingua ipsa 
Germanica, sicut viri docti, sapientes et periti eam tandem 
receperunt et usurpant“‘). Dieſe lingua ipss Germanica ift 
nun keineswegs ex usu zu erlernen 5); vielmehr muß „die Mutter» 
ſprache nicht in der alltäglichen ungewiffen Gewonheit, fonderen in 
kanftmöffigen Lehrfägen und gründlicher Anleitung feit beftehen“ ©). 
Wie ein fefter ausgepfälter Grund ift der einige gewiſſe Aufent» 
halt eines Gebäues, aljo ift gleichfals die Grammatica die Seule 
und Grundfeſte, worauf jeber Sprache Kunftgebäu beruhen und 
richtigen ſicheren Aufenthalt haben muß: Hat fi aud feine 
Spradie eintziger kunſtmäſſigen Gemisheit und völligen Vermögens 
zrũhmen, noch höher zufteigen erkühnen Tünnen, es fey denn, daß 
fie durch untriegliche Staffelen der Grammatic den rechten Anfang 
und Grund angewiefen Habe“ 7). So ift es mit dem Griechiſchen und 
bateiniſchen gegangen, und fo muß und wird es aud) mit bem Deut- 
füen gehen. Denn „bie befreyete unacht und unbetrachtete Unges 
wißheit thut der Teutſchen Sprache wol ben gröffeiten Schaben 
und Wiberftand, daß fie bishero zu Feiner völligen, feften Ehren⸗ 
Raffel, gleich anderen Haubtſprachen, Bat gelangen mögen“ ®), 
Man wird das Richtige in biefen Anſichten nicht verfennen. Es 
galt, die deutſche Schriftiprage zu einer grammatiih feft abge⸗ 


1) Eend. S. 141. 177. — 2) hend. &.9 fg. — 3) Ebend, 
6.174,7. — 4) Ebend. ©. 174, 8. — 5) Ebend. ©. 1458. — 
9) Ebenb, ©. 148. — 7) Ebend. ©. 178. — 8) Ebend. ©. 167. 


78 Biertes Kapitel. 


grängten zu erheben, wie dies bei allen völlig entwidelten Schrift- 
ſprachen der Fall geweſen ift. Längft vor Gottſched und Adelung 
hat Schottelius dies Ziel mit klarem Bewußtſein in's Auge 
gefaßt und nicht mit Unrecht ift er von ber Wichtigkeit desſelben 
durchdrungen. Aber man bemerkt auch leicht die Gefahr, welche 
diefe Anſicht von der Sprade einfeitig aufgefaßt mit fih führen 
mußte. Die unmittelbaren, ſchöpferiſchen Quellen der Sprache 
werben verfannt. Was nicht durch bewußte Thätigkeit „in Funft- 
mäfjige Gewisheit gejegt ift”, wird mit wegwerfender Verachtung 
als „Pöbelgebrauch“ bezeichnet 1). Woher foll da die richtige Ein- 
fiht in die wahre Entwidlung der Sprahe kommen? Schottelius 
war aud wirflid weit entfernt von einer ſolchen Einfiät, und wenn 
er nichtsdeſtoweniger ſich mit Liebe den alten Sprachdenkmalen 
zuwendet, fo geichieht e3, weil fein von Natur gefunder Sinn jenen 
verfehrten Anfihten die Waage hält. Er freut fih innig an ven 
„fühlen Geheimnüffen der Spraden“ 2). „Was ift nebenft andern 
Geheimniffen der Göttlihen Gaben, welde das Menihlihe Ge 
müßt befiget, fagt er, mol herrlicher als die innerfte Erkenntniß 
der Sprachen“ 2). „Die Rede als der allerköftlichfte Cha und 
höchſtkünſtliche Exrflärerinn der Vernunft ift nur des Menſchen 
Eigentuhm, und fie ift eine geordnete, fi fügende und deutende 
Stimm, darin, wie in einem Spiegel das Geſichte, aljo unſer Ge 
müßt und Her Tan erfant werben” 2). Mit befonderer Bor- 
liebe fammelt und behandelt Schottelius die Sprüchwörter, „nach⸗ 
denflihe, mit wenig viel Dinges in fi enthaltene Redarten“ 4), 
wie er fagt. Er rühmt „die gar alten Teutſchen Schriften glei 
dem alten Silber in einer Erbſchaft, welches man deswegen nicht 
weg wirft, weil das Geſchirr daraus gemacht uns unbräuchlich oder 
zum itzigen austrinfen unbequem ſcheinet, fondern man verwahret 
foldjes alte Silber oder Ieffet daraus etwas neues, blanles, ſchönes 
und igiger Manier gemeßes verfertigen“ 5). Gr fammelt alte 


y Em. 6.18. Bl. 6.158. — 2) Em. S. 74. — 
8) Ebend. ©. 1109. — 4) Ebend. ©, 1102. — 5) Ebend. ©. 1998, 


Die graumatiſche Behandlung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 79 


deutfhe Wörter aus den alten Gefegen und fucht fie zu erflären?). 
& ift, wie er fagt, in feinem Werk „nicht allein ein Anzahl vieler 
taufend ſchöner Wörter hervorgebracht, fondern auch fo manmgig- 
faltige Erflärung und Andeutung, fo bie gange Sprahe und das 
alte Teutfche Wefen angehet, geihehen, daß unſchwer daher zu ver⸗ 
nünfftigen, wie viel vornefme alte und neue Schriften und Bücher 
haben müffen burchgelefen, und was hie nötig, gefamlet werden“ 2). 
Und wirklich hat er fih aud in den altdeutſchen Schriften, fo weit 
fie damals zugänglich) waren‘, fleißig umgefehen. Er lennt nicht 
nur die alten Rechtsbücher, fondern aud die Dichter find ihm nicht : 
fremd. Er beruft ſich auf das Heldenbuch®), auf Goldaſt's Aus- 
gabe des Königs Tirolt) und des Wiesbelen und der Wieshefind). 
& kennt den Otfrid und bemußt ihn im ber Ausgabe von 
15719. Er beruft fih auf Willeram ) und kennt die Ausgabe 
von 15988) und die Noten des Franciscus Yunius zum Wille 
ram). Mit befonderer Vorliebe bezieht er fi auf das Nie 
derdeutſche. „Die Niederſächſiſche oder Niederteutſche Sprache, 
meint ex, als worin das Altertuhm gutenteihls unverendert ge⸗ 
blieben, muß bei Erklärung (altdeutſcher Wörter) gemeiniglih das 
befte tuhn, die ausgeſchliffene Sigmatifirende Hochteutihe Mundart 
trit von der ber alten Geltifchen Ausrede weiter ab“ 10) „Otfridus, 
Willeramus und viele andere, als anfängere des alten Fränkiſchen 
(ternach per seculs nad; gerade ausgefchliffenen und genanten 
Hochteutſchen) Dinlecti, haben angefangen, fih des zz, 6, B an 
flat des t oder d — zubedienen“ 1), Ja au das Altnordiſche 
md die beginnende Forihung der ſtandinaviſchen Gelehrten läßt 
Schottelius nicht unbeachtet. Er bezieht fih auf Dlaus Wor- 





1) Gbend. S. 688 fg. — 2) Ebend. ©. 178. Bol. auch S. 5. — 
9) Cbend. ©. 1198. 1184. — 4) Ebend. ©. 1196 fg. Bol. ©. 110. — 
5) Cbeub. ©. 1021 fg. 1196. — 6) Ebend. DI. 9. ©. 42. 43. 98. 145. 
132.119. — 7) Ebend. 6.48. 152. — 8) Eben. S. 1170. — 
9) Chend. S. 1037. — 10) Ebend. ©. 690. Mt. 157 fg. — 11) Ebend. 
6.152, 


80 Viertes Kapitel, 


mins 1), auf Arngrimus Yonas ?) und Andere und theilt das 
Baterunfer in islandiſcher, ſchwediſcher, däniſcher und norwegiſcher 
Sprache mit ). Er erwähnt der Runen und gibt auf Grundlage 
feiner fandinavifhen Gewährsmänner eine Abbildung derſelben *). 
Eine weſentliche Lũcke aber bildet bei Schottelius, daß ihm das Go⸗ 
thiſche noch fo gut wie unbelannt iſt. Zwar iſt ihm das Wenige, 

was man im Jahr 1663, als er fein Hauptwerk herausgab, vom 
Gothiſchen wiffen konnte, nicht entgangen. Er kennt die Schrift 
des Bonaventura Vulcanius de literis et lingus Gothorum 5); 
aber das Lit, das diefe Meine Schrift aufftedte, war fo gering, 
daß Schottelius noch ſagt: Ulphilas, ein Gotiſcher Biſchof, foll 
die Heilige Schrift in die Teutſche Sprache gebracht haben ©), und 
daß er an einer anderen Stelle das Gothiſche und das Altnor- 
diſche durcheinanderwirrt 7). 

Fragen wir nun, was Schottelius auf Grundlage dieſer Kennt⸗ 
niffe für die Erforſchung ber deutſchen Sprache geleiftet hat, fo 
wollen wir nicht Yäugnen, daß er mande ganz richtige Blide ge- 
than und feine Anfichten mit großem Fleiß ausgeführt habe. So 
iſt z. B., was er über die deutſche Wortbildung, und insbejondere, 
was er im Anſchluß an den holländiſchen Mathematiker Stevinus, 
über die große Fähigkeit der germaniſchen Spraden, Compofita zu 
bilden, jagt, aller Anerkennung werth ®). Wie weit aber Schotter 
lius noch entfernt war von einer richtigen Erkenntniß des deutſchen 
Sprachbaus, dafür wollen wir nur zwei Umftände anführen. Was 
das Genus ber deutſchen Wörter Betrifft, fo begnügt er ſich, 
einige wenige Regeln vorauszufciden, und dann führt er bie 
Wörter nad) ihren Endbuchſtaben auf ). Die deutſchen Verba aber 


1) Ebend. ©. 53. 1024. 1162 fg. — 2) Ebend. €. 56. 1024. — 
8) Ebend. ©. 130. — 4) In der 2. Ausgabe der Teutſchen Sprachtunſt, 
Vraunſchweig 1651, ©. 111; im der Ausfühelichen Arbeit 1668 fehlt bie 
Tafel. — 5) Ebend. €. 56. — 6) Ebend. S. 48, — 7) Ebend. 6.54. 
8) Ebend. ©. 72 fg. 398 fg. Stevin's Anficht eb. ©. 409. Auch außer: 
dem begießt fi) Schottelius nicht felten auf jenen patriotiſchen holländiſchen 
Seleprten. Vol. 4.8. ©. 12. 41. 55. 61. 98. 1167. 1975. — 9) Gbend. 
S. 209 fg. Up. 8. ©. 281. 


Die grammatifche Behandlung der deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 81 


vertheilt er unter zwei Konjugationen: „die gleichflieffende (Regu- 
laris) und ungleichflieſſende (Irregularis) oder „die ordentliche und 
mordentliche" 1). Bon den „ungleichflieſſenden“, d. h. ſtarken Zeit 
wörtern aber fagt er, daß man ihre „Formirung nicht Teichtlich in 
liche Lehrſätze faſſen könne“ 2), und begnügt fi dann, fie in al» 
phabetiſcher Meihenfolge aufzuführen 3). 

In Bezug auf die geſchichtliche Erforſchung der deutfhen Sprache 
iſt es ſchon ſehr ehrenwerth, daß Schottelius ſich mit nicht geringem 
Aufwand von Fleiß auf eine Geſchichte der deutſchen Sprache ein⸗ 
gt‘). Er theilt fie in fünf „Denkzeiten oder Epochas.“ Die 
erſte berfelden beginnt mit der „anfänglichen Bildung der Teutſchen 
Wörter“, die zweite mit Karl dem Großen, bie britte mit Rudolf 
von Habsburg, die vierte mit Luther, endlich die fünfte und letzte 
Dentzeit „möchte auf die Jahre einfallen, darin das aufländifche 
werberbende Lapp⸗ und Flikweſen fünte von ber Teutſchen Sprade 
abgefehret, und fie in ihrem veinlichen angebornen Schmuffe und 
Leuſchheit erhalten, auch darin zugleich die rechten durchgehende 
Gründe und Kunftwege alſo künten gelegt und beliebet, aud ein 
völliges Wörterbuch verfertiget werben, daß man gemähli bie 
Kinfte und Wiſſenſchaften in der Mutterfpradie Iefen, verftehen 
und hören möchte” 5), Auch zeigt Schottelins eine anerkenneng- 
werthe Einfiht in das Hervorwachſen des deutſchen Wortſchatzes 
aus den Stammmörtern der Sprache‘), und es gereicht ihm zum 
Lobe, daß ef den Verſuch macht, die Stammwörter der deutſchen 
Sprade zu fammeln?). Aber auf welcher Stufe feine ganze Sprach⸗ 
forſchung noch ftand und wie völlig fremd ihm die richtige Erkennt 


1) Ebend. ©. 549. Bel. S. 160. — 2) Ebend. ©. 569. — 3) Ebend. 
5. 578 fg. Merlwürdigerweiſe bedient fi Schottelius einmal für die ſtarken 
Berba des Ausdrude „ungleiäflieffend und ablautend“ (Bellum gramma- 
tieale 1673, ©. 48). Aber in berfelben Schrift if S. 90 bie Rebe von 
„Ungewisheit des Ablaut“, und ebenda heißt es mit ſcharfem Tadel: „daß 
mar fo unartig, ablautend und übel fprehen und ausreben müſſen.“ Bei— 
des nicht mit Beziehung auf die flarfen Berba, aber der von biefen gebrauchte: 
Ausorud findet dadurch feine Erläuterung. — 4) Ausführlige Arbeit 1608, 
6.27. — 5) Ebend. ©. 49. — 6) Ebend. S. 68. — Den ©. 1269 fg. 

Ruumer, Gef. der germ. Philelodie. 


82 Biertes Kapitel. 


niß der deutſchen Spradentwidlung war, das wird fi aus bem 
Folgenden zur Genüge ergeben. „Die uhralte Celtiſche oder Teul- 
fe" Sprache ) ift das, movon der Verfaffer bei feinen geſchicht⸗ 
lien Erörterungen überall ausgeht. Diefe „Celtiſche oder alte 
Teutſche Sprache“, ſagt er, „hat vielerlei Mundarten, jo haubtjad- 
lich geteihlet werden in Abſtimmige, darin zwar bie Teutſchen Ge⸗ 
ſchlechtwörter, Hülfwörter, Stammwörter und alſo die Teutſche 
Eigenſchaft befindlich, dennoch aber wegen der Ausrede, Berftüm- 
melung und unfentlih Machung der Teutſchen und Einmengung 
der frömden Wörter faſt abſtimmig von jetziger Teutſchen Sprache 
ſcheinen, wiewol doch Ankunft, Grund und Weſen Teutſch annoch 
iſt und bleibet, als da ſind die Isländiſche, Norwegiſche, Däniſche, 
Schwediſche, Engliſche, Schottiſche, Walliſche, Altgotiſche, ſo annoch 
in Taurica Chersoneso vorhanden?), Und Zuſtimmige“, nämlich 
Hodhteutſche“, d. i. oeſterreichiſche, bayeriſche u. ſ. f., und Nieder 
teutſche, d. i. niederländiſche, frieſiſche, Holfteinifge u. f. f. ®). 
Man erkennt an diefem Stammbaum leicht, wie weit die Ein- 
fiht des Schottelius veichte, und wie unrichtig und verworren 
feine Vorftellungen über die älteren ımb über die auferbeut- 
{den Sprachen waren. Das, worauf es ihm num weiter vor 
allem ankommt, iſt, zu zeigen, daß „unfere itzige Teutſche 
Sprache eben dieſelbe uhralte weltweite Teutſche Sprade ift, ob fie 
ſchon durch mildeften Segen des Himmels zu einer mehr prächtigen 
Zier und Vollkommenheit gerahten ift"*). Wenn er Dies in Bezug 
auf althochdeutſche und altniederdeutſche Wörter geltend macht ), fo 
bat er ja, die Sache richtig verftanden, nicht Unrecht. Aber wie 
denkt ſich Schottelius die Sache? Er weiß recht wohl, daß die 
deutſchen Wörter, namentlich in Bezug auf ihre Endungen, zur 
Zeit Karl's des Großen ſehr anders ausgefehen haben als im 17. 
Jahrhundert 6). Er findet dort on und an ftatt em und dergleichen 


1) Ebend. ©.34. 54. 56. 140, 151. 152. 1453. — 2) Scottelius Tennt 
bie Nachricht des Busbequius. S. Ausführlige Arbeit 1663, ©. 182, — 
3) Ebend. ©, 154. — 4) Ebend. S. 48. — 5) Ebend. S. 47. — 6) Ebend. 
©. 43, 152. 


Die grammatiſche Behandlung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 88 , 


mehr. Da nimmt er nun alles Ernftes an, daß die verfümmerten 
neuhochdeutſchen Formen bie uralten regelrechten feien, von denen 
man fih nur aus Ungeſchick, aus Unachtſamkeit und Geihmadlofig- 
keit), zum Theil auch aus Nachahmung bes Lateinifchen 2) entfernt 
habe. „in den alterälteften Geſchriften und Reimereien“, fagt er, 
nimt man diefes war, daß nach Belieben und Einfällen die Wür- 
ter find geendigt“ 3). In feinem Bellum grammaticale führt er 
dies weiter aus. Da theilt er zum Beleg vier Zeilen aus Otfried 
mit und fährt dann fort: „Diejes ift ja Mar und unftreitig Teutſch, 
aber durch Unart und Unadt der Mundarten beftäubert und er- 
frömdet, Dan Allo ziti thio tho zin heiſſet recht und nun⸗ 
mer wieder alle Zeit die da fein“4) Und dies Letzte 
ſchtieb Schottelius, als bereits durch die Wiederauffindung und 
Herausgabe bes gothiſchen Cober argenteus eine neue Epoche für 
die Erforf gung der deutſchen Sprache angebrochen war. Aber er 
hatte damals bereits mit feinen Anficten abgeſchloſſen, und ver⸗ 
funfen in anderweitige, namentlich theologiſche Studien Hat er, wie 
8 ſcheint, von jener epochemachenden Entdecung feine Einwirkung 
mehr erfahren. Wir fagen dies Alles nicht, um ben trefflichen 
Mann herabzufegen, fondern um recht einleuchtend zu zeigen, wie 
mit Franciscus Junius und der Herausgabe des Ulfilas ein neuer 
Zeitraum für die germanifhe Sprachforſchung beginnt. 


Sünftes Kapitel. 


Die lexilaliſche Bearbeitung der deutſchen Sprache biß zum Jahr 
1665. 


Schon in der althochbeutichen Periode gab es zahlreiche Iatei- 
niſch⸗ deutſche Wörterbücher, die einen Theil der fogenannten Gloſ- 
fen Bilden, und dieſe lexikographiſche Thätigkeit ſetzt ſich fort durch 


1) Ebend. ©: 43. 152. — 2) Ebend. ©. 43. — 3) Ebend. ©. 175.— 
4) Horrendum bellum grammaticale 1673, ©. 88. 
6* 


84 Fünftes Kapitel. 


das ganze Mittelalter bis in den Anfang der neueren Zeit. Nach 
Erfindung der Bucdruderkunit erſcheinen in der zweiten Hälfte des 
15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts eine Menge folder 
Vocabularien im Drud '). Ya auch deutſch-lateiniſche Wörter 
bücher der Art gab es damals ſchon in ziemlicher Anzahl. Dahin 
gehört z. B. der 1482 zu Nürnberg erſchienene Vocabularius 
theutonicus in quo vulgares dictiones ordine alphabetico 
preponuntur et latini termini ipsas direete significantes se- 
quuntur 2). Aber alle dieſe Bücher haben im Grunde mit ber 
deutſchen Philologie nichts zu thun. Sie können dem Germaniften 
ſehr reichhaltige Aufſchlüſſe geben; aber ihre Verfaſſer Hatten nicht die 
Abſicht, den deutſchen Sprachſchatz zu verzeichnen, fondern ihr ganzes 
Streben gieng nur dahin, ein Hülfsmittel zum Verſtändniß bes 
Lateinifhen zu bieten. Wir müſſen diefe beiden Seiten wohl un⸗ 
terfeiden, wenn wir eine richtige Einfiht in die Entwidlung der 
deutſchen Lerifographie bekommen wollen. Der nädfte Schritt, der 
in der erften Hälfte des 16. Jahrhunderts gemacht wurde, hat es 
nämlid gleichfalls noch nicht auf ein Wörterbuch ber deutſchen 
Sprade abgefehen. Es foll vielmehr nur an die Stelle des bar- 
bariſchen Lateins ber bisherigen Vocabularien echtes antik laſſiſches 
Latein gefegt werden, fo daß der Benuger mit Hülfe bes Tateinifch- 
deutſchen Wörterbuchs die alten Klaffiter verftehen, mit Hülfe des 
deutſch⸗ lateiniſchen fi felbft einen guten lateiniſchen Ausdruck an- 
eignen kann. In diefe Klaſſe von Büchern gehört das Dictiona- 
rium Latinogermanicum und das dazu gehörige Dietionarium 
Germanicolatinum, welches ber im J. 1559 verftorbene Lehrer des 
Griechiſchen zu Strakburg?) Petrus Dafypobius im J. 1536 
herausgab. Daß er es in beiden Theilen auf das Lateinifhe ab- 
gefehen hat, ergibt fih aus der Vorrede des Berfaffers zur Genüge. 
Dagegen macht den entſcheidenden Fortſchritt zu einem wirklichen 


1) ®gl. Laur. Diefenbach, Glossarium Latino-Germanicum me- 
diae et infimae aetatis, Francof. 1857, p. XVI »q. — 2) Auf ber 
Münchener Hof> und Staalsbibliothel in mehreren Cremplaren vorhanden. — 
3) G. Matth. König, Bibliotheca vetus et nova, Altdorfi 1678, I, 236. 


Die lexilaliſche Bearbeitung ber deutſchen Sprache Bis zum Jahr 1665. 86 


Wörterbuch der deut ſchen Sprache der Züricher Joſua Maaler 
Eiotorius) in feinem Wert: Die Teütſch ſpraach. Alle wörter, 
namen, vñ arten zů reden in Hochteütſcher ſpraach, den 1 BE 
nad ordentlich geſtellt, vnnd mit gütem Latein gantz fleiſſig vnnd 
eigentlich vertolmetſcht, dergleychen bißhaͤr nie geſaͤhen, Durch Joſua 
Maaler burger zu Zürich. Dietionarium Germanicolatinum no- 
vum. Hoc est, Linguae Teutonicae, superioris praesertim, 
thesaurus, — Tiguri 1561. Der Berfaffer, Pfarrer zu Elgau !) 
im Zürider Gebiet, wurde von Conrad Gesner veranlaft, das 
1556 zu Züri erſchienene lateiniſch-deutſche Dictionarium des 
Joh. Friſius zu einem alphabetiſch geordneten deutſchen Sprach⸗ 
ſchatz umzuarbeiten. Das beigefügte Latein ſollte freilich auch hier 
zugleich dem Lateinſchreibenden eine gute Ueberſetzung der deutſchen 
Redeweifen an die Hand geben; die eigentliche Abſicht aber gieng 
auf eine Sammlung des deutſchen Wortſchatzes. In der gehalt- 
reichen Vorrede, die Conrad Gesner dem Werke Hinzufügte, fagt 
a, in einem Geſpräch zwifchen ihm und Friſius, dem auch Pic- 
terius beimohnte, fei die Rede auf die lebenden Sprachen Euro: 
pa's gefommen, und ba hätten die Unterredenden bemerkt, wie viel 
die den Deutſchen benachbarten Völker: die Franzoſen, Italiener 
und Engländer, für Verſchönerung und Bereicherung ihrer Spra- 
sen thäten, und daß fie reichhaltige Wörterbücher derſelben ber 
fähen, in denen wohl geordnet die einzelnen Ausbrüde, ihre An- 
wendung und Bebentung, und ebenfo die Redensarten erklärt wür- 
ten. „Da empfanden wir es ſchmerzlich“, fährt Gesner fort, „daß 
unſtem Deutjhland ein Mann fehle, der dasfelbe für unfere Sprache 
leiftete.“ So veranlafiten fie den Pictorius, ſich dieſer Arbeit zu 
mterziehen. Wie fehr dabei das Deutſche im Vordergrund fand, 
fieht mar unter Anderem auch daraus, daß der. Verfafler nicht bloß 
der einheimifchen Jugend, fondern au ben Fremden: Franzoſen, 
Yalienern und Engländern, zur Erlernung der deutſchen Sprache 
behülflich jein wollte?). Um ſich zu überzeugen, daß Maaler’s 





1) Elgovium, Maaler's Widmung, und Gesner's Praef. — 2) ©. 
die Vidmung Maaler’s. 


86 Fünftes Kapitel. 


Unternehmen wirflid ein neues war, „bergleichen bisher nie geſehen,“ 
braucht man es nur mit dem vorangehenden deutfch - Tnteinijchen 
Wörterbuch des Dafypodius zu vergleihen ). — Was Joſua 
Maaler begonnen Hatte, das ſuchte ein halbes Jahrhundert fpäter 
Georg Henifc in viel größerem Umfang auszuführen. Geboren 
zu Bartfelven 2) in Ungarn im J. 1549, wurde Henifh 1576 zu 
Bafel Doctor der Mebicin und in demfelben Jahr Profeſſor ber 
Logik und Mathematit am Gymnaſium zu Augsburg. Hier wirkte 
er 518 zu feinem am 31. Mai 1618 erfolgten Tod als Lehrer, 
BVorftand des Gymnafiums und Mitglied des mediciniſchen Colle- 
glums 3). Heniſch gab eine große Zahl klaſſiſch⸗philologiſcher und 
mathematiſch⸗ aftronomifher Schriften Heraus. Was aber feinem 
Namen vor allem einen ehrenvolfen Platz in der Geſchichte der Ge- 
Iehrfamleit fihert, ift fein umfangreiches Werl: Teütſche Sprad 
vnd Weißheit. Thesaurus linguae et sapientiae Germanicae. — 
Pars prima. Augustae Vindelicorum 1616. Mit Recht kann 
Heniſch in der lateiniſch gefhriebenen Widmung an bie Stände von 
Ober⸗ und Niederoefterreih jagen, daß fein Buch fein gewöhnliches 
Dictionarium fei, woraus man nur bie Bedeutung ber einzelnen 
Wörter entnehmen könne, fondern ein Wert reicher und vollfom- 
mener als alle übrigen Lexila. Denn es enthalte nicht bloß bie 
gewöhnlichen Wörter, jondern aud bie feltenen und feltenften, die 
in anderen ähnlichen Büchern vermißt würden. Ueberdies Iehre es, 
bie Wörter auf die Dinge feldft anwenden, fo daß bie Dinge in 
Worte übergiengen. Auch fei das Buch nach einer ſolchen Methode 
geſchrieben, daß nod niemand es in dieſer Folge verſucht habe. 
Denn die einzelnen Wörter hätten neben fi ihre Synonyma, 
Derivate, Epitheta, Phrafes, Sprühmörter und geiftreihe Aus- 
ſprüche weifer Deutfcher ſowohl aus ber Vergangenheit, als aus 


1) Man vgl. 3. B. ben reichhaltigen Artikel Burger und beffen Ableit: 
ungen bei Maaler mit benfelben Wörtern bei Dafypodius. — 2) »Bart- 
phae in Hungaria«, fagt Heniſch felbft auf ber Tepten Seite feiner Dedica- 
tion. — 3) Jocher. Vgl. die Nachrichten, die Henifh ſelbſt am Schluß 
feiner Widmung über fein Leben gibt. 


Die lerifalifhe Bearbeitung der deuten Sprache bis zum Jahr 1665. 87 


der Gegenwart. Und was ber Verfaffer hier verfpricht, das hält 
er redlich in der Ausführung. Sein Werk ift neben allem Anderen 
ein wahrer Schag von Sprüchwörtern und ſprüchwörtlichen Redens⸗ 
arten‘). Daß er in dem eigentlih Sprachwiſſenſchaftlichen, zumal 
in der Etymologie auf dem noch fehr unvollfommenen Standpunkt 
feiner Zeit fteht, wird man ihm nicht zum Vorwurf machen. Leir 
der ift fein reichhaltiges Werk unvollendet geblieben. Der alfein 
erihienene erfte Theil, ein Folioband von 1875 Spalten, umfaßt 
mm die Buchſtaben A bis G. Zwei Jahr nad defien Erjcheinen, 
am 31. Mai 1618, ftarb der Verfaſſer, und in demſelben Jahr 
brach der verwüftende breißigjährige Krieg aus, der auf lange hin 
derartigen Unternehmungen ein Ende machte. 

Einerfeits mit der Lerilographie, andrerſeits mit der Gram- 
matil in nächfter Beziehung ftehen die Schriften, die fi mit der 
Etymologie der beutihen Sprache beichäftigen. Wir haben in die- 
ſem und den vorangehenden Abſchnitten ſchon öfter der gelegentlichen 
Bemühungen um die Ableitung der deutſchen Wörter gedacht, und 
wollen Hier nur noch einige Schriften erwähnen, bie fi ausſchließ⸗ 
fi, mit der beutfchen Etymologie beſchäftigen ). Die erfte: Origi- 
nes dietionum germanicarum, erjdienen 1620, rührte her von 
dem Meflenburger Andreas Helwig (F 1643) und ſuchte auf 
tie damalige Weife die deutſchen Wörter aus dem Lateiniſchen, 
Griechiſchen und Hebräifchen abzuleiten 3). Die andere: Ars ety- 
mologiea Teutonum e philosophiae fontibus derivata, er- 
idienen zu Duisburg 1663, Hatte zum Verfaffer den ſcharfſinnigen 
Cortefianer Johannes Clauberg (geb. 1622 zu Solingen, geft. 
als Prof. der Philofophie und Theologie zu Duisburg 1665) 9. 


D) Bgl. 4. ©. das Wort „arm“ Sp. 108—118, oder das Wort „Gott“ 
Ep. 1688 — 1716. — 2) Wegen einer Menge anderweitiger Schriften mag 
wan Edharl’8 Historia studii etymologiei etc. nachſehen. — 3) Bgl. 
Clauberg'$ Ars etymologica in Leibniz’ Collectanea etymologicn, Ha- 
zoverse 1717, p. 210 sq. — 4) Bgl. die Auszüge aus Clauberg’s Leben 
von Henninius bei Reichard, Verſuch einer Hiftorie der deutſchen Sprachtunſt, 
Sunhurg 1747, ©. Ai fg. 


88 Sechſies Kapitel. 


Clauberg war nit nur ein geübter Denker, fondern er hatte ſich 
auch mit wahrem Verftändniß auf das Studium ber deutſchen 
Sprade geworfen, und fo enthält feine Heine Schrift neben man⸗ 
chem BVerfehlten eine Reihe gejunder Gedanken und Ausführungen 
über deutſche Etymologie ). 


Sechſtes Kapitel. 


Die Anfänge ber germanifen Philologie in den Niederlanden, 
in England und in Stanbinabien. 


1. Die Anfänge der germanifhen Philologie in den Hiederlanden bis auf 
. Frauciscus Iunius. 


Bevor wir die Geſchichte der germanischen Philologie innerhalb 
Deutſchlands weiterführen, müſſen wir einen Blick werfen auf das, 
was unter den übrigen germaniſchen Völkern bis gegen das Jahr 
1665 für unfre Wiſſenſchaft geleiftet worden ift Wir beginnen 
mit den Niederlanden. Man wird vielleicht fragen, warum wir 
nicht die Leiftungen der Niederländer gerade fo, wie die der Schwei— 
zer, den Arbeiten der Deutfchen beizählen. Aber das Verhältniß 
ift in der That ein ganz verſchiedenes. Die Schweizer ſtehen mit 
den übrigen Deutſchen auf dem Boden einer und derſelben Schrift- 
ſprache, dagegen haben die Niederländer fi auf Grundlage ihrer 
Mundarten eine befondere Schriftſprache gebildet. So find fie, 
obwohl die nädften Berwandten der Deutihen, doch ein von 
diefen verſchiedenes Voll. Dies tritt uns gerade bei unferem 
Gegenftand recht Mar entgegen. Die Entwidlung der nieder 
ländifhen Schriftſprache geht ihren befonderen Gang. Sie hat 
ihre eigenen Grammatifer und Lerifographen, jo wie die deutſche 
die ihrigen. "Nun werben wir zwar in diefem Werk die Aus- 
bildung der außerdeutihen Schriftſprachen nicht weiter verfolgen. 

1) Die Schrift ift wieder abgebrudt in den von Edhart herausgegebenen 
Colleotanea etymologica bes Leibniz, Hanov. 1717. gl. bort befonbers 
das ©. 191 Über bie Ableitung des Wortes Vernunft Gefagte. 





Tie Anfänge der germ. Phil. in den Niederl, in Engl. u. in Sfandinavien. 89 


Her auch auf die Erforfhung der älteren Sprache äußert die 
KRüdfiht auf die eigene Mutterſprache den weſentlichſten Einfluß, 
wie wir dies ganz Mar bei den Engländern und Skandinaviern, 
aber auch deutlich genug hei den Niederländern wahrnehmen. Die 
germanijche Sprachforſchung beginnt bei den Niederländern in der 
weiten Hälfte des 16. Jahrhunderts 1), und zwar fehen wir fie 
anfänglich ebenfo in ben ſüdlichen wie in den nördlichen Niederlan- 
den ihren Sig aufſchlagen. Ihr ältefter Vertreter: Johannes 
Goropius Becanus, war freilich einer der feltfamften Käuze, 
de fih je mit Sprachforſchung abgegeben haben. Geboren im 
% 1518 in dem Dorfe Gorp ftubierte er Medicin, gab dann aber 
eine glänzende mebicinifhe Praxis auf, um fi ganz der Erforſch⸗ 
ung der vaterländiſchen Sprache und des vaterländifchen Alterthums 
zu widmen. Er lebte meift zu Antwerpen und ftarb 1572 zu 
Maastricht. Seine vermeintlichen Entdedungen legte er in einigen 
umfangreichen Werfen, den Origines Antwerpianse (Antwerpen 
1569), Hermathena 2) und anderen nieder. Goropius war nicht 
ohne ausgebreitete Gelehrſamkeit, aber kritillos und phantaſtiſch. 
Unter feinen vielen Wunderlicfeiten will ich nur die eine hervor⸗ 
been, daß er’ das Niederländiiche für die Urſprache der Menfchheit 
hält und diefe Anſicht in einer Weife begründet, die noch viel fon- 
derbarer ift, als die Behauptung felbft?). Doch wie zum Lohn 
für jeinen patriotifhen Eifer wurde diefem Sonderling die Ehre zu 
Theil, daß eins feiner Werke, die Origines Antwerpianae, zum erften- 
mal (1569) ein Meines Bruchſtück der gothiſchen Sprache: das 


1) ®ir verfolgen in biefem Werk, wie oben ſchon bemerkt, bei ben 
außerdeutſchen Völkern nur die gelehrte Erforſchung der germaniſchen Sprachen. 
Auferdem hätten wir hier, wie in Deutſchland, mit ben niederländiſch-lateini- 
\gen Wörterbüchern zu beginnen und Hier zugleih ben 1477 zu Köln er— 
Mienenen Teuthonista des Gherard van ber Schueren aus Xanten im 
Herzogtäum Kleve zu erwähnen. Vgl. über ihn und fein Wert Clignett’s 
Borrebe zur neuen Musgabe des Teuthonista (Leyden 1804). Ebend. 
©. LXXVII fg. ein Verzeichniß lateiniſch-niederländiſcher Bocabularien. — 
%) Herausgeg. nad) Goropius Tode zu Antwerpen 1580. — 3) Origines 
Antwerpianae p. 584. 629. Hermathena p. 27, 204. 





90 Sechſtes Kapitel. 


Vaterunſer, veröffentlicht ). Aber das ganze Verfahren bes Goro- 
pius war fo grundverfehrt, feine Schriften wimmeln dermaßen 
von verrüdten Einfälen und tollen Etymologieen, daß wir uns 
nicht wundern dürfen, wenn Joſeph Scaliger ihn auf das heftigfte 
angriff. Sollte die Erforſchung der germanifhen Sprachen ſich 
den Rang einer Wiſſenſchaft erwerben, fo waren andere Wege ein- 
zuſchlagen, und gerade um die Auffindung und Verfolgung dieſer 
richtigen Wege haben fih die Niederlande unfterblide Verdienſte 
erworben. Noch vor dem Schluß des 16. Jahrhunderts (1574) 
gab Cornelis Kiel (Cornelius Kilianus, geb. zu Duffel in 
Brabant, geft. zu Antwerpen, wo er viele Jahre als Corrector der 
Plantin’ihen Druderei lebte, im J. 1607) 2) zu Antwerpen, ein für 
feine Beit vorzügliches niederländiſch⸗lateiniſches Wörterbuch heraus, 
deffen britte Ausgabe (1599) den Titel erhielt: Etymologieum 
Teutonicae lIinguae®). Obwohl er den Goropins Becanus unter 
feinen Quellen nennt %), ihm auch öfters benutzt 6), ift er doch fo 
verftändig, von der Angabe der Etymologieen meift ganz abzuſehen, 
fi neben den germanifhen Sprachen auf die gelegentliche Ber- 
gleihung des Griechiſchen und Lateiniſchen zu beſchränken und, wie 
er fagt, die Ergründung der ganzen babylonifhen Sprachverwirr⸗ 
ung Anderen zu überlaffen 9). Das Werk bes Kilian zeigt uns, 
welche Bedeutung aud bie ſüdlichen Niederlande für die Erforſchung 
der vaterländifhen Sprache hätten gewinnen können. Aber dies 
Wert ift für Iangehin das legte Lebenszeichen, das Brabant und 
Slandern und die übrigen Provinzen, die unter das fpanifche Joch 
fielen, auf dem Gebiet der heimiſchen Sprachforſchung gegeben ha- 
ben. Defto bedeutender aber erwuchſen dieſe Studien auf dem frei 
gewordenen Boden der nördlichen Niederlande Mit dem ruhm⸗ 
vollen Kampf um die veligiöfe und bürgerliche Freiheit gieng hier 


1) Origines Antwerpianse, 1569, lib. VII, p. 739 sq. — 2) Baylo, 
8. v. Kilianus. — Van Kampen, Geschied. I, 216. — 3) ©. Hoffman 
von Fallersleben, Horse Belgicae, P. VII. (2), p. XXI. — 4) Ed. 3. 
(1599) 81.7. — 5) ®gl. 3. B. herd, focus $. 186; hert, cor 8. 187. — 
6) 8. 3. 


Tie Anfänge der germ. Phil. in ben Rieberl., in Engl. u. in Sfanbinavien. 91 


das edelſte Streben nad) höherer Geiftesbildung Hand in Hand, 
Schon bald nach Beginn des Krieges (1575) wurde die Univerfität 
zu %eiden gegründet, die in kurzer Zeit zur angefehenften Hod- 
iäule Europa's erwuchs, und nicht wenige Städte der nördlichen 
Niederlande mwetteiferten mit Leiden in der Pflege der antik klaſſiſchen 
Studien. Denn dieſe waren es vor allem, denen man feine Sorg- 
fült zumandte. So wurden die Niederlande und an ihrer Spike 
die Univerfität Leiden für eine Reihe von Menfchenaltern der Haupt 
fi der llaſſiſchen Philologie. Aber wie wir es bei den Deutſchen 
geiehen haben, fo nehmen auch die niederländiſchen Vertreter der 
Maffiichen Philologie eine ganz andere Stellung’zum klaſſiſchen Al- 
tertfum ein, als ihre italienischen Vorgänger. In Stalien glaubte 
mar, in den alten Römern die eigenen Vorfahren zu ehren, und 
und in dem ftolzen Gefühl, Virgil und Cicero unter die eigenen 
Yandsleute zu zählen, blickte man auf alles Außerklaſſiſche mit Ge- 
ringſchätzung herab. Anders bei den Nieberländern. Man war 
zwar durchdrungen von der hohen Vortrefflichfeit der antiten Klaf- 
fter, man widmete der lateiniſchen und griechiſchen Sprache ein 
eingehendes Studium, man fuchte mit antiquariicher Gelehrſamleit 
in das Leben der alten Griechen und Mömer einzubringen, aber 
man blieb fi bewußt, einem anderen und zwar gleichfalls thaten- 
tigen und hochbegabten Volksſtamm anzugehören. Dazu kam bei 
ten niederländiſchen Philologen noch ein Zweites, was ihren Hori- 
zent über den der Staliener hinaus erweiterte. Die veformierte 
Kirenlehre gründete fi auf das Studium der Bibel Um dieſe 
im Grundtert zu erforſchen, bedurfte es außer den beiden Haffifhen 
Sprachen auch des Hebräiſchen. Diefe vom Griehiihen und La— 
teiniſchen fo verfchiedene Sprache führte dann weiter zur Erforſch- 
ung ifrer eigenen Schweſterſprachen, insbejondere des Arabifchen. 
So wird Leiden ber Mittelpunkt der orientaliſchen Sprachſtudien, 
mb fo ift auch von diefer Seite die Ausbreitung der linguiſtiſchen 
Studien weit Über die Grängen des Lateiniſchen und Griechiſchen 
tinaus angebahnt. Daß aber gerade auch die Mutterfprache in ben 
Heiß der linguiſtiſchen Forfjung gezogen wurde, das lag nicht nur 
in der Univerfalität der ſprachlichen Studien, fondern es ergab ſich 


73 Sechſtes Kapitel. 


von ſelbſt aus dem großartigen Aufſchwung, den damals die nörd⸗ 
lien Niederlande in Staat und Literatur nahmen. Die großen 
Philologen begleiteten diefen Aufihwung mit dem wärmften An- 
theil, und wir find berechtigt, nicht nur was geborene Niederländer 
auf unferem Gebiete leifteten, den Niederlanden zuzurechnen, fon- 
dern in gewiffem Sinn aud das, was Auswärtige duch das 
wiſſenſchaftliche Zuſammenwirken der verfdiedenften Kräfte auf 
nieberländifhem Boden zu Stande brachten, und ebenfo das, was 
auswärts entftanden erſt durch niederländiſche Gelehrte der Deffent- 
lichfeit übergeben wurde. 

Den Begriff der vaterländifen Sprache faßte man, fo ſehr 
man au am Nieberländifhen hieng, doch jo weit, daß man alle 
germanifhen Sprachen in feinen Bereih zog. So wurden die 
Nieberlande die Geburtsftätte der gothiihen Studien. Bonaven- 
tura Bulcanius (urfprünglid de Smet), geb. zu Brügge 
1538, 1578 Profeffor des Griehifhen zu Leiden, geft. 1615 1), 
gab im J. 1597 zu Leiden bie Meine Schrift De Literis et Lin- 
gua Getarum Sive Gothorum heraus, worin außer dem Vater- 
unfer zum -erftenmal noch einige weitere Meine Proben aus ber 
gothifhen Bibelüberfegung mitgetheilt werden. Vulcanius war 
nicht Verfaffer, fondern nur Herausgeber der Abhandlung, in wel 
Her ſich diefe Mittheilungen finden. Der ungenannte Verfaſſer 
war vielmehr Arnold Mercator, (geb. 1537 zu Löwen, geft. 
1587, ein Sohn des berühmten Geographen Gerhard Mercator), 
der auf feinen geographifcfen und antiquariihen Unterſuchungsreiſen 
in dem weſtfäliſchen Klofter Werden den Coder argenteus der 
gothiſchen Evangelien auffand und einige Proben daraus abzeich- 
nete. Aus ihm iſt geſchöpft, was Goropius Becanus (1569) ?), 
Bulcanius (1597) und etwas fpäter (1602) Janus Gruter in ſei⸗ 
nem Inſchriftenwerk 3) an- Gothicis mittheilen *). Aber auch der 

1) Jo. Franc. Foppens, Bibliotheca Belgica, T.I, Bruxellis 1739, 
p. 142. — 9)6.0.6.89. —.3) I, CXLVI. — 4) I folge in Be 
zug auf das von Vulcanius herausgegebene Werk ben gelehrten Erörterumgen 
Mafmann’s in Haupt’s Zeitschrift für deutsches Alterthum I (1841) 
8. 306 fg. Bgl. beſ. ©. 322. 831-337. 





Die Anfänge ber germ. Mil. in den Niederl, in Engl. u. in Sfanbinavien. 93 


übrige Inhalt von Vulcanius Heinem Bud war für feine Zeit 
(1597) von großem Werth. Wir finden hier unter Anderem 
mehrere nordiſche Runenalphabete und Runeninſchriften, die Nach— 
rüsten des Busbequius über Gothen in der Krim, Proben aus 
dem althochdeutſchen Ammonius und aus Willeram's PBaraphrafe 
des Hohen Lieds, den Anfang des Annoliedes und Alfred's angel- 
fühfjhe Vorrede zu Gregor's Cura pastoralis. — Nicht zu ver- 
gleichen an Wichtigfeit mit dem Büchlein des Bulcanius, aber ein 
weiterer Beweis für die vielfeitigen Studien ber nieberlän- 
diſchen Philologen ift die Herausgabe von Willeram’s althod- 
deuticher Paraphraſe des Hohen Lies durch Paulus Merula. 
Paulus Merula, geb. zu Dordrecht 1558, 1592 Profeffor 
der Geſchichte zu Leiden, geft. 1607 zu Noftod 1), gab jenes für 
die Sprachgeſchichte wichtige Wert im J. 1598 zu Leiden heraus mit 
einer niederländifen Ueberfegung und fpracerklärenden Anmerkun- 
gen, die beide von dem gelehrten Juriſten Bancratius Eaftrico- 
mius (geb. zu Altmaar, geft. zu Amfterdam 1619) herrühren ?). 
Bedenken wir, daß wir hier noch in den erften Anfängen der ger- 
maniſchen Philologie ftehen, fo werben wir dieſen Verſuchen troß 
vieler Mißgriffe unfre Anerkennung nit verfagen. Der Verfaſſer 
der Anmerkungen macht unter Anderem bie Beobachtung, daß in 
der Sprache des Willeram das th dem nieberlänbifchen d (thieco 
= dieke), das z dem t (suoze — soete) entſpricht 3). Wie die 
bisher genannten, fo liefern auch andere niederländiſche Philologen 
md Hiftorifer jener Zeit gelegentliche Beiträge zur Vermehrung 
des altgermaniſchen Quellenvorraths. So gibt Juſtus Lipfius 
in einem Briefe vom Jahr 1599 (gedruckt 1605) ) eine Samm- 
fung von Wörtern, die er einer altniederdeutſchen Pfalmenüher- 
jetung entnommen hat; und Abraham VBander-Milius theilt 


1) Foppens, Bibl. Belg. II, 942, — 2) ©. bie ausführlie Crörter- 
um; des F. van Lelyvelb in der 2. Ausg. von Huydecoper's Proeve van 
Taal-en Dichtkunde, Thl. 2 (Leyen 1784) &,551—568. — 3) &.4.— 
4) Jnsti Lipsi epistolarum selectarım centuria tertia ad Belgas, 
Antverp. 1605, epist. XLIV, p. 43 sq. 


9 Sechſtes Kapitel. 


in feinem Bude „Lingua Belgica“ (Leiden 1612) den ganzen 
19. Pſalm aus biefer Ueberfegung mit). Joh. Iſaak Ponta— 
nus (geb. 1571 zu Helfingör von niederländiſchen Eltern, geft. zu 
Hardermijt 1640) ?) veröffentlicht in feinen Originum Franeicarum 
libri VI (Hardervici 1616) einige Rapitel der althochdeutſchen Ueberfeg- 
ung der Evangelienharmonie des Ammonins (oder Tatianus)’). Mar- 
cus Zuerius Borhorn (geb. 1602 zu Bergen op Zoom, Prof. 
der Geſchichte zu Leiden, geft. 1658) *) gab in feinen Prima reli- 
gionis christienae rudimenta antiquissima Saxonum et Ale 
manorum lingus scripta (Xeiden 1650) auf Grundlage Freher's 
und Anderer eine Meine Sammlung folder angelſächſiſchen und 
althochdeutſchen Denkmäler Heraus und veröffentlichte im feiner 
Historia universalis (Leiden 1652) ©) eine alte niederdeutſche Um⸗ 
ſchreibung des Apoftolicums zum erftenmal 9). 

Man begnügte ſich aber nicht, bloß den Schat der altgerma- 
niſchen Quellen zu vermehren, fondern man- verfuchte ſich aud in 
etgmologifgen Combinationen über die Gränzen des Germaniſchen 
hinaus. Im Anſchluß an die deutſchen Vorgänger verglich man 
germanife Wörter mit Iateiniihen und griehifgen, aber ohne 
wiffenfhaftlige Methode und indem man Entlehntes und Urver⸗ 
wanbtes harmlos durcheinander mengte %). ine beftimmtere Vor⸗ 
ftelung von der Urverwandſchaft beginnt aufzudämmern in ber 

- freilich irrigen Annahme, daß Griechen und Germanen von ben 
Scythen ftammen, wie wir fie bei Borhorn 7) finden. Auch zeigt 
fi) bereits eine Vorahnung von dem Bufammenhang der Germa⸗ 


1) Abrab. Vander-Milii Lingua Belgica, Lugd. Bat. 161%, 
p. 152 sq. Der Gelehrienname des Verfaſſers hat bie obige ſeltſame nieder: 
landiſch⸗ lateiniſche Jorm. — 2) Westphalen, Monum. ined. rer. Germ. 
T. II (1740), Praef. p. 48 sq. — 3) p. 589 sg. — 4) A. J. van der 
Aa, Biogr. Woordenboek der Nederlanden II, 3 (Haarlem 1855) 
p- 1122 fg. — 5) p. 102. Ju Müllenhof’s und Scherer's Denkmälern 
Nr. XCVIII. — 6) Bgl. 3. B. Merula's Ausgabe bes Willeram ©. 35 fg- 
— 7) gl’ 4 8. deſſen Griginum Gallicarum liber, Amstelod. 1654, 
p- 110. 


Die Anfänge der germ. Phil. in den Niederf., in Engl. u, in Skandinavien 95 


nen mit ihren afiatifhen Stammverwandten. Das Perfifhe bietet 
dazu die Handhabe. Schon Franciscus Raphelengius (geb. 
zu Lanoi 1589, geft. zu Leiden 1597) theilt dem Bonaventura 
Bulcanius (1597) eine Anzahl perſiſcher Wörter mit, bie mit 
deutſchen übereinftinmen ?), und Juftus Lipfius ftellt (1599. 
1605) nicht nur perfiige und niederländiihe Wörter zufammen, 
jondern ex bemerkt auch, daß die Flexionen der Zeitwörter in jenen 
beiden Sprachen nicht allzuverſchieden feien?). Am tiefften aber 
fah bereits im biefer Beziehung der Schleſier Johannes Eli- 
mann, der als Arzt in Leiden lebte und fi zugleich mit größtem 
Eifer und Erfolg den dort herrſchenden linguiſtiſchen Studien hin- 
gab >). Leider ereilte ihm der Tod (1639), bevor er die wichtigſten 
feiner Arbeiten vollendet hatte, 

Bon befonderer Bedeutung aber ift es, wie tief die germani- 
ſtiſchen Studien in den Niederlanden damals ſchon in ben ganzen 
Betrieb der Wiſſenſchaften eingreifen. Hervorragende Gelehrte der 
verihiedenften Fächer nehmen ein lebhaftes Intereſſe an ihnen. 
Joſeph Scaligerd) und Juſtus Lipſius), die großen 
Bhilologen, Simon Stevin, ber berüßmte Mathematiker °), und 
Hugo Grotius 7), fie alle haben fi an den Anfängen ber ger» 
maniftiihen Studien in den Niederlanden beteiligt. 





1) Bonav. Vulcanius, de Literis et Lingus Getarum, Lugd. Bat. 
1597, p. 87. — 2) Justi Lipsi epist. centuria tertia ad Belgas, 
Antverp. 1605, epist. XLIV, p. 56. — 3) Salmasii praefatio zu Elide 
mann’6 Ausgabe der Tabula Cebetis, Lugd. Bat. 1640, Bl. 8. — 
4) Jos. Justi Scaligeri opuscnla varia, Paris. 1610, p. 119 aq. Ber- 
nays, Scaliger 8. 298. Vgl. auch Scaliger’s Zufhrift an Bonav. Vulca— 
zus vor deſſen De lit. et lingus Getarum. — 8) S. o. 6.9. — 
% 6. die Uytspraeck vande weerdicheyt der duytsche tael und bie 
Sammlung einfglbiger nieberländifger Wörter vor Simon Stevin's Beghin- 
slen der Weeghconst, tot Leyden, 1586. — 7) S. Nomina appella- 
tiva et verba Gotthica, Vandalica et Langobardica quae in hoc 
volumine reperiuntur, cum explicatione, in Historia Gotthorum, Van- 
dalorm, et Langobardorum: Ab Hugone Grotio partim versa, par- 
tim in ordinem digeste, Amstelod. 1655, p. 574 sq. 


96 Sechſtes Kapitel. 


2. Die Anfänge der germanifcen Philologie in England bis auf Franciscus 
Imuius. . 

In England waren es natürlich zunädft bie angelſächſiſchen 
Schriften, welche die Augen der Alterthumsforſcher auf ſich zogen, 
und wie in Deutſchland, fo find es aud in England zuerft nicht 
philologiſche, fondern theologifche Zwecde, die man bei ber Unter: 
ſuchung und Herausgabe angelſächſiſcher Denkmäler verfolgt. Bald 
aber trat in England ein weiteres Intereſſe Hinzu, nämlich das 
hiſtoriſch⸗ juriſtiſche. Auch in Deutſchland fehlte dies zwar nicht, aber 
in England führte es ummittelbarer zum Studium ber alten 
Sprade, weil die angelſächſiſchen Gejege und aud ein Theil der 
geſchichtlichen Aufzeichnungen fi der einheimifhen Sprache bebien- 
ten, während in Deutſchland die älteren ſchriftlichen Abfaſſungen 
der Gefege und Geſchichtsquellen in lateiniſcher Spradie ftattfanden. 
Was die theologifhen Anfänge der angelſächſiſchen Studien betrifft, 
fo glaubten die Anhänger ber kirchlichen Meformation, in den angel- 
ſächſiſchen Quellen Beweiſe ihrer Anfihten zu finden, und bies 
tried fie zu deren Sammlung und Erforfhung. Bor allem ergab 
fi) aus dem Umftand, daß man fo mannigfahe Uebertragungen 
der Heiligen Schrift in die angelſächſiſche Sprache fand, die Ge 
mißheit, daß man im jener älteren Zeit bie Bibel in die Volls- 
ſprache überfegt und nicht bloß dem Lateinverftehenden vorbehalten 
habe. In dieſem Sinn äußert ſich bereits Erzbiſchof Cranmer 
in der Vorrede zu der englifgen Foliobibel, die im Jahr 1539 
oder 40 von Grafton gedrudt wurde 1. — Beſonders eifrig in 
Sammlung angelſächſiſcher Handſchriften war ber erfte wirklich 
proteſtantiſche Erzbifhof von Canterbury Matthäus Parker 
(geb. 1504, geſt. 1575). In der Vorrede zu der engliſchen Folio⸗ 
Bibel vom Jahr 1572 führte er den von feinem Vorgänger Cran⸗ 
mer angetretenen Beweis mit beſſern Hülfsmitteln ausgerüftet noch 
weiter aus 2). Zugleich aber benüßte er feine Kenutniß der angel- 





1) An historical Sketch of the Progress and present State of 
Anglo -Saxon Literature in England. By John Petheram, London 
1840, p. 28. — 2) Petheram 1. 1. p, 28. 


Die Anfänge ber germ. Phil. in den Nieberl., in Engl. u. in Sfandinavien. 97 


fühfifgen Quellen für feine Vertheidigung der Priefterehe. In 
feinem 1562 anonym erſchienenen Wert A Defence of. Priests’ 
Marriages finden fi mehrere Citate in angelſächſiſcher Sprache, 
und dies find die eriten gebrudten Proben bes Angelſächſiſchen, die 
man fennt ?). Wie für die Priefterehe, fo ſuchte man für die anti« 
latholiſche Anficht vom Abendmahl Belege in den kirchlichen Schrif- 
ten der Angelſachſen. Zu dieſem Behuf wurde bereits im Jahr 
1567 durch Parker’ Secretär John Joscelin eine angeljäd« 
füge Ofterpredigt des Aelfric nebft einigen anderen Stüden her- 
ausgegeben 2). Den Drud beforgte der namhafte Buchhändler 
John Day zu London, den Parker veranlaft Hatte, angelſächſiſche 
Dyen ſchneiden zu laſſen, die erften, die e8 gab). Mit raftlofem 
&fer fammelte Erzbiſchof Parker angelſächſiſche Handſchriften. So 
weit irgend fein Einfluß reichte, ließ er fih Mittheilung machen 
von allem, was fi) Derartiges vorfand +). In feiner Ausgabe 
des Affer (1574) veröffentlichte er König Aelfred's angelſächſiſche 
Borrede zu Gregor's Schrift de cura pastorali. Eine andere 
Ftucht diefer Beſtrebungen war die Herausgabe der angelſächſiſchen 
Ueberfegung der vier Evangelien duch Johannes For, die auf 
varker's Koften im Jahr 1571 zu London erfolgte 5). 

Reben Erzbiſchof Parker find die bereits erwähnten Yoscelin 
und For ımb außer ihnen Lawrence Nowel und William 
Lambarde unter ben Gründern des angeljähfifgen Studiums 
zu nennen. Bon Joscelin bat fi ein handſchriftliches angel- 
ſẽchſiſch/ lateiniſches Wörterbuch erhalten 9; und auch eine angel- 
füäfiihe Grammatik war von ihm handſchriftlich vorhanden, aber 
fon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht mehr auf- 


1) Petheram 1. 1, p. 32, nad) Strype's Life of Parker (505). — 
9 6. ben Anhang, ben Hides feiner Ausgabe von Runolphus Jonas Gram- 
matiese Islandicae Rudimenta, Oxon, 1688, hinzugefügt hat, p. 134, und 
Petheram 1. 1. p. 82. 87. — 3) Petheram p. 36. — 4) Wanley, Cata- 
Yogus p. 158. — Petheram p. 34 sg. — 5) Petheram 1. 1. p. 40. — 
6) Ms. Cotton. Titus A. XV. Petheram 1. 1. p. 88. 


Raumer, Geh. der germ. Philologie 7 


98 Sechſies Kapitel. 


zufinden 1). Samrence Nowel Hatte bereits vor dem Jahr 1567 
ein angelſächſiſch⸗ engliſches Wörterbuch angelegt, das ſich unter ben 
Handfäriften der Bodley'ſchen Bibliothel in Orford fowohl im 
Original, als in einer Abſchrift des Franciscus Junius erhalten 
bat 2). Während feines Aufenthalts in Lincoln's Inn unterrichtete 
Nowel feinen Schüler William Lambarde im Angelſächſiſchen 
und ſchenkte ihm eine Abſchrift, die er von der zu Rocheſter auf- 
bewahrten Handſchrift der angeljähfiihen Geſete gemacht Hatte, 
nebſt feinem Vocabularium Saronicum. Auch unterftügte er La m⸗ 
barde ferner bei ber Herausgabe der Archaionomia ober ber 
erſten gebrudten Sammlung der angeljähfiichen Geſetze, die von 
einer Iateinif en Ueberſetzung vambarde's begleitet im Jahr 1568 
zu London eridien 9). 

Auf diefes raſche Aufslühen der angelfähfiihen Studien folgte 
eine längere Paufe. William Camden, ber berühmte englifche 
Geſchichtsforſcher, ließ 1608 im feiner Sammlung der Geidichts- 
ſchreiber Englands die angelſächſiſche Vorrede König Aelfred's zu 
Gregor's Cura postoralis aus Parker's Aſſer wieder abbruden. 
In feinen Remaines concerning Britaine äußert er fih mit Be- 
geifterung über die angelſächſiſche Sprache“) und ſucht durch eine 
chronologiſche Reihenfolge von Weberfegungen des Vaterunſer einen 
Begriff von der Gejchichte der engliichen Sprache zu geben 5). Aber 
das Alles blieb zunächſt ohne nachhaltige Wirkung. Im J. 1623 gab 
William L' Isle (+ 1637) Aelfeics angelſächſiſchen Tractat über 
das Ute und Neue Teftament nebft einigen anderen veligiöfen 
Stüden heraus. In der Vorrede dazu beſchreibt uns LIsle ben 
mühfamen Weg, ben er damals noch entblößt von allen Hülfs⸗ 
mitteln zur Erlernung de3 Angelſächſiſchen nehmen mußte Er 
begann mit dem Leſen der älteren engliſchen Bücher und fuchte ſich 


1) Hickes, Institutiones grammaticae Anglo!- Saxonicae Ozon. 
1689, praef. 81.1. — 2) Petheram 1.1. p. 39. — 3) ©, bie der 
"Aozasovoula vorangeffidie Epistöle des Lambarde an Gulielmus Gor- 
bellus. — 4) Remaines concerning Britaine. Written by Will. Cam- 
den, Esquire (5) Lond. 1686, p. 19 sg. — 5) Ebend. ©. 28 fg. 


Die Anfänge der germ. Phil. in den Niederl, in Engl. u. in Sfandinavien. 99 


fo allmãhlich bis zum Angelſächſiſchen hinaufzuarbeiten 1). Don 
den anderen Unternehmungen LIsle's Fam nichts zu Stande, aber 
feine Bemühungen belebten die angeljächfiihen Studien auf's neue. 
Der berühmte englihe Wlterthumsforiger Henry Spelman 
(geb. 1562, geft. 1641) lernte noch in veiferen Jahren Angelfäh- 
filh, weil ex wohl einjah, daß ihm dies fr feine Arbeiten unent- 
behrlich ſei. Er wollte im Jahr 1689 eine Lehrftelle für das 
Angeljähfifge an der Univerſität Cambridge ftiften, indem er 
Abraham Whelock zehn Pfund Sterling des Jahrs ausfegte. Seine 
Abſicht, diefe Stelle für immer zu gründen, wurde jedod durch 
feinen Tod und bie ausbredenden Bürgerkriege vereitelt 2). In 
feinen eignen Werfen: dem Archasologus (1626) und der Samms- 
lung der engliſchen Concilien und kirchlichen Sayungen (1639), 
machte Spelman von feiner Kenntniß des Angelſächſiſchen einen 
fudtdaren Gebrauch. Sein Sohn John Spelman vermehrte 
durch Herausgabe der angelfähfiihen Pfalmenüberfegung (London 
1640) mit beigefügter lateiniſcher Interlinearverſion den Heinen 
Vorrath der damals vorhandenen angeljähftigen Drude 3). 
Abraham Whelod, dem Henry Spelman fein Cambridger 
Stipendium zugewandt hatte, gab im Jahr 1648 zu Cambridge 
Beda's Historia ecclesiastica gentis Anglorum mit König Xel- 
fred’s angelfähfiiher Paraphraſe heraus und fügte ihr die angel- 
fädfifcde Chronik mit einer von ihm angefertigten Yattinifhen Ueber- 
fegung bei. Im folgenden Jahr ließ er, gleichfalls zu Cam- 
bridge, eine verbefierte und vermehrte Ausgabe von Lambard's 
Sammlung der angelſächſiſchen Gefege erfeinen. Den Zufammen- 
Bang bes Angelſachſiſchen mit ben llaſſiſchen Spraden, insbefondere 
aber auch mit dem Hebräiſchen ſuchte Mericus Caſaubonus, 
der Sohn bes berühmten Iſaak Caſaubonus, in feiner unvollendet 
gebliebenen Schrift De quatuor linguis, Lond. 1850, nachzu- 
weilen. Aber bei dem damaligen Zuftand der etymologiſchen Kennt 

H A Baxon Treatise concerning the Old and New Testament. 
Written — by Aelfricus. — Now first published in print — by Wil- 
liam L'isle. Lond. 1628. To the Readers, BI. 18 sq. — 2) Biogra- 
Phia Britannica VI, 1 (1763) p. 3786." — 3) Petheram p. 57. 

7 


100 Seqhſtes Kapitel. 


niſſe konnten feine Vermuthungen der wiſſenſchaftlichen Forſchung 
nur geringen Gewinn abwerfen. 

Wir find hiemit bereits an die Gränze ber Zeit gelangt, in 
welder Franciscus Junius fowohl für England als für 
Deutfhland eine neue Epoche der germaniſchen Philologie begrün- 
bete. Im Jahr 1655 erſchienen jeine Obfervationen zum Willeram 
und in demfelben Jahr feine Ausgabe des Caedınon. Wir werben 
im folgenden Bud ausführlicher von dieſen Arbeiten handeln. 
Weil aber der eigentlih Epoche machende Abſchnitt in der Wirk- 
ſamkeit des Junius erft durch die Herausgabe des Coder argenteus 
im Jahr 1665 bezeichnet wird, fo beſprechen wir hier nod einen 
Gelehrten, deſſen Hauptwerk ſchon vor jenes eingreifende Ereigniß 
fat. William Sommer (geb. 1606 zu Canterbury, geft. 
ebendafelbft 1669, während feines ganzen Lebens ein treuer An- 
hänger der königlichen Sade), wurde durch fein Studium ber eng- 
liſchen Alterthümer auf das Angelſächſiſche geführt 1) und machte 
darin jo bebeutende Fortſchritte, daß er in feiner Zeit neben Fran⸗ 
ciscus Junius als ber bebeutendfte Kerner dieſer Sprache bezeichnet 
werben muß. Die reiffte Frucht feines Fleißes war fein angelr 
ſachſiſch/ lateiniſches Wörterbuch, das im Jahr 1659 zu Oxford 
erſchien und lange Zeit das wichtigſte Hülfsmittel für das Studium 
des Angeljächfiihen bildete. 

3. Die Anfänge der germanifhen Philologie bei deu fkandinavifchen 
Völkern bis zum Jahr 1665. 

Die Entwidlung der alten nordgermaniſchen Literatur war 
eine ganz andere als die der beutfchen, umd dem entſprechend zeigt 
au die germanifde Philologie in Standinavien Züge, bie fie 
wefentlih von dem unterſcheiden, was uns in Deutſchland ent- 
gegengetreten ift. In Deutſchland gehören die älteften Denkmäler 
der Sprade und Literatur fait ausnahmslos dem Chriftenthum 
an, bie Ueberrefte ber heidniſchen Zeit find nur gering. Dagegen 
fehlt den Nordgermanen, die erft um das Jahr 1000 zum Ehriften- 
thum übertraten, eine fo alte chriſtliche Literatur, wie wir fie im 


1) ©. über ihn bie Biographia Britannica VI, 1 (1763) p.8757 fg. 


Die Anfänge der germ. PHil. in ben Nieberl., in Engl. u. in Sfandinavien. 101 


Althochdeutſchen beſitzen; dafür aber Haben fi im Norden bie 
wertfvolfften Reſte des germaniſchen Heidenthums erhalten. In 
Deutſchland find die Quellen für die älteren Perioden ber politi— 
ſchen Geſchichte durchweg lateiniſch. Dagegen befigt der Norben 
über feine frühere Geſchichte ſehr reiche Denkmäler in feiner ein- 
heimiſchen Sprache, ſowohl Geſchichtswerke, als Inſchriften. Aber 
noch ein anderer ganz eigenthümlicher Umſtand zeichnet den Nor- 
den aus. Wir finden nämlich unter den Sprachen, bie ſich dort 
entwidelt Haben, eine — die isländiſche —, die in ihren Formen 
um viele Jahrhunderte Alter ift, als bie beiden anderen: das 
Schwediſche und Däniſche. Co haben die Dänen am Isländiſchen 
im Weſentlichen noch heute die Sprachformen vor ſich, die ihre eigene 
Sprache vor mehr als einem halben Yahrtaufend beſeſſen Hat. 
Die gefhilverten Umftände erflären uns, warum bei aller 
allgemeinen Verwandtſchaft die Anfänge der germaniſchen Philolo- 
gie doch einen fehr verſchiedenen Charakter in Skandinavien zeigen, 
als in Deutſchland. Das ummittelbar chriſtlich theologiſche In⸗ 
tereife an der alten einheimifchen Literatur, das wir in Deutſchland 
und England jo lebendig gefunden Haben, - tritt in Skandinavien 
mehr zurüd. Zwar fehlt e8 auch der altnordiſchen Literatur nicht 
an Werfen Kriftlichen Inhalts, aber die eigentlichen Anfänge der 
germaniſch⸗ſtandinaviſchen Philologie Tiegen auf einem anderen Bo⸗ 
den, nämlich auf dem der Erforſchung des flandinavifchen Alter- 
thums. Schon im Jahr 1594 hatte Jens Mortenfen, veran- 
laßt durch den däniſchen Reichskanzler Arild Hwitfeld, einen 
dönifen Auszug aus der Heimskringla veröffentlicht, im J. 1591 
ter lönigliche Hiftoriograpd Anders Sörenſen Vedel (geb. 
zu Beile 1542, geft. 1616) däniſche Volislieder Herausgegeben. 
Aber die eigentlihen Gründer der nordgermaniſchen Philologie 
waren bie bänifhen und isländiſchen Gelehrten, die fih in der 
erſten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur Erforſchung des ſtkandina⸗ 
viſchen Alterthums vereinigten. Die nordgermanifhe Philologie 
geht dabei Hand in Hand mit ber eigentlichen Geſchichtsforſchung, 
wie fie Stephanus Johannis Stephantus (geb. zu Kopen- 
hagen 1599, + 1650) in feiner Ausgabe bes Saro Grammaticus 


102 Seiten Kapitel, 


. (1644. 45) üßte. Den Mittelpunkt dieſer Beftrebungen bildete der 
trefflihe Ole Worm. Geboren zu Aarhus am 13. Mai 1588, 
erhielt er feine Vorbildung auf dem Gymnafium zu Lüneburg 
und wibmete fid dann im Jahr 1605 philologiſchen und theolo⸗ 
gifgen Studien auf den Univerfitäten Marburg und Gießen. Da 
& ihn aber mehr zur Mebdicin, als zur Theologie hinzog, warf 
er fi vom Jahr 1607 an erft zu Straßburg und dann zu Bafel 
mit größtem Eifer und Erfolg auf mebicinifhe und naturwiſſen⸗ 
ſchaftche Studien. Nachdem er auch noch alien und Frankreich 
zu ſeiner weiteren Ausbildung durchzogen und einige Zeit an der 
Univerfität zu Kopenhagen ſtudiert hatte, wurde er 1611 zu Baſel 
Doctor der Medicin und beſuchte dann noch bie Niederlande und 
England. Als er im Jahr 1613 nah Kopenhagen zurückkehrte, 
wurde. ihm fofort die Profeffur der literae humaniores übertragen. 
Im Jahr 1615 erhielt er die Profefiur ber griechiſchen Sprache 
und endlich im Jahr 1624 eine Profeſſur der Medicin. In dieſer 
Stellung lebte er zu Kopenhagen hochgeehrt als Lehrer, Arzt und 
Alterthumsforſcher bis zu feinem am 31. Auguft 1654 erfolgten 
Tod 1). Seine freien Stunden widmete Worm feit feiner Rück⸗ 
kehr nad Dänemark ber Erforſchung des ffandinavifhen Alter- 
thums. Unter feinen gelehrten Leiftungen auf biefem Gebiet nen- 
nen wir feine Runer seu Danica Literatura antiquissima (1636), 
feine Danicorum monumentorum libri VI (1643), feine Fasti 
Danici (1643) und feine Schrift über das 1639 entdeckte golbene 
Horn (1641) 9. Zum Behuf feiner Alterthumsforſchung fette ſich 
Worm in Verbindung mit gelehrten Jsländern, unter denen damals 
ein neuer Eifer für das Stubium ihrer alten Literatur erwachte. 
Sd bildete ſich die ſchöne Vereinigung bänifder und islandiſcher 
Gelehrten, welche der Wiſſenſchaft bis auf den heutigen Tag ſo 
reiche Früchte getragen hat. Wir nennen unter ben isländiſchen 


1) S. bie Vita Olai Wormii ex programmate academico et ora- 
tione funebri Thomas Bartholini vor Olai Wormii epistolae, Havniae 
1751. — 2) Bgl. Über Ole Worm bie Abhandlung E. C. Werlauff's in 
Nordiſt Tidoſtrift for Oldtyndighed I (1832) ©. 283 fg. 


Die Unfänge ber germ. Phil. in den Niederl. in Engl. u. in Stanbinavien. 103 


Mitgrändern der altſtandinaviſchen Forſchung den damals ſchon 
hodibetagten Arngrim Jonsſon (geb. 1568, geft. 1648) 1), 
deſſen Schriften ?) zuerſt eine richtigere Kenntniß dev Inſel Island 
in Europa verbreiteten; dann den gelehrten Magnus Dlafsfon 
(Olavius oder Olai geb. 1573, + 1636) 3), dem wir bie erften 
Anfänge ber altnordiſchen Leritographie 4), jo wie bie erfte gebrudte 
Derftellung der islänbifhen Poeſie 5) und die lateiniſche Weber- 
ftumg eines Theils ber jüngeren Edda verbanten 6); ben Biſchof 
von Holum auf Island Thorlatr Stulafon (geb. 1597, 
+ 1656) ); den Biſchof von Stalholt Brynjulfe Sveinsfon 
(Srenonius, geb. 1605, } 1875) 9), der die berühmte Sammlung 
altuorbifcher Götter- und Heldenlieder entbedte und 'ihr (1643) 
deu Namen Edda Saemundi multiscii beilegte 9); den Gudmund 
Audreae (} 1654) 10), von dem das erfte eigentlich isländiſche 
&eriton herrũhrt umd auf defien Arbeiten wir fpäter noch einmal 
zurũctonnnen werben. Wenn wir ben Isländer Runolf Yons- 
fon, der einen Theil feines Lebens in Kopenhagen zubrachte und 
im Jahr 1654 ftarb, erft jet nennen, fo geſchieht es, weil wir 
auf feine Arbeiten etwas näher eingehen wollen. Runolf Jons- - 
fon ober mit feinem latinifierten Namen Runolphus Jonas '!) 
mar der Erſte, der eine isländiie Grammatik herausgab. Sie 


1) Wminbeligt Litteraturlericon for Danmark, Norge, og Island, ved 
Ryerup og 3. ©. Kraft. Ueber Jonsfons Verkehr mit Worm ſ. Olai Wor- 
mü et ad eum — epistolae, Havniae 1751 I, p. 293 aq. — 2) Bre- 
vis commentarius de Islandia, Hafniae 1599. — Crymogser, Ham- 
burgi 1610. — Speeimen Islandiae historioum, Amstel. 1643. — 
I) Ryerup a. a. D. Sein Verkehr mit Worm in beffen angeführten Epist. 
Lp. 35109. — 4) Speeimen lexiei runiei — colleetum a Magno 
Olario, in ordinem redactum auctum et locupletatum ab Olao 
Wormio, Hafnise 1650. — 5) In Worm’s Danica literatura anti- 
quissima, Hafn. 1636, p. 190 sq. In ber ed. 2. Hafn. 1651, p. 177 sq. 
— 96 u. Bu II, Rap. 1,2. — 7) Nyerup a. a. O. Sein Verkehr 
wit Worm in befien Epist. I, p. 95 sg. — 8) Nyerup a. a. D. Sein 
Safer mit Worm in beifen Epist. II, p. 1036 sq. — 9) Vgl. Möbius, 
Catal. p. 67. — 10) Nyerup a. a. O. — 11) Er unterzeichnet bie 
Dedication (1651), bie Hickes weggelaffen at: Runolphus Jonas. 


104 Sechſtes Kapitel, 


erſchien unter dem Titel: Recentissima antiquissimae linguae 
septentrionalis incnnabula, id est Grammaticae Islandicae Ru- 
dimente Nuno primum adornari ooepta et edita Per Runol- 
phum Jonam Islandum, Hafnise 1651 1). Wie alle erften 
Anfänge einer Wiffenfhaft, fo ift ums aud dies Buch von befon- 
derem Intereſſe. Runolphus Jonas erzählt uns im ber Vorrede, 
wie er als Lehrer des Lateinifhen und Griechiſchen an feiner hei⸗ 
mathlichen Lehranſtalt bei der Weberfegung ber antifen Klaſſiler 
darauf aufmerfam geworben ſei, welch genaue und regelmäßige 
Flerionen feine isftindifhe Mutterſprache befige. Er habe ſich des⸗ 
halb entſchloſſen, das, mas nicht nur im Hebräiſchen, Griechiſchen 
und Lateiniſchen, ſondern neuerdings auch im Deutſchen, Italieni⸗ 
ſchen, Franzöſiſchen, Engliſchen u. ſ. f. geſchehen ſei, auch an ſeiner 
Mutterſprache zu verſuchen. So habe er dieſe ſchon auf Island 
begonnene Grammatik, ermuntert von Olaus Worm, während 
feines Aufenthalts" in Kopenhagen vollendet. — Wir ſehen alfo, 
das Wert des Mumolphus Jonas ift nit die grammatiihe Bear⸗ 
Beitung einer nicht mehr lebenden altgermaniſchen Sprache, fondern es 
" gehört vielmehr in bie Reihe der Grammatilen neuerer Tebenber 
Sprachen, wie fie die Deutfhen fon ein Jahrhundert vor Jonas 
durch Oelinger, Clajus u. |. f. befaßen. Aber durch den Umftand, 
daß das Isländiſche die alten Formen des Nordgermaniſchen fo 
treu bewahrt Bat, Fam ben ffandinavifhen Sprachforſchern das 
Bud) des Jonas faft ebenfo zu Statten, als wenn er abfihtlic eine 
altnordiſche Grammatik geſchrieben hätte. Diefe Bedeutung des IJs⸗ 
ländifhen hatte fon im J. 1636 Olaus Worm ausdrücklich hervor» 
gehoben 2). Das, was Runolf Jonsſon wirklich bietet, ift allerdings 
nod weit entfernt von dem, was wir jegt von einer isländiſchen 
Grammatit erwarten, aber es iſt do ein ganz achtungswerther 
Anfang, der auf mehr als hundert Jahre Hin den grammatiſchen 
Leitfaden zur Erlernung des Isländiſchen geboten Hat. Die Laut - 
lehre behandelt Jonsſon nur fehr kurz; ausführlicher ift feine Dar⸗ 
ftellung der Flerionen. Eine Syntax gibt er nicht, fondern ftatt- 
1) Die Göttinger Bibliothek befigt biefen erfien Drud von 1651 und bie 
Wiederholung durch Hides, Oxford 1689. — 2) Ol. Worm. Danica 
Literaturs antiquissima, Hafn. 1636, p. 149. 


Die Anfinge ber germ. Phil. in ben Nieberl,, in Engl. u. in Sfanbinavien. 105 


deffen auf nur drei Seiten eine Zufammenftellung der isländiſchen 
Conjunctionen und Präpofitionen. 

In Schweden Tnüpfte fi das Intereſſe an der alten 
Sprade und Literatur zunächſt an die Erforfhung der Amen. 
Schon in der 1554 zu Rom eridienenen Historia Gothorum 
Suionumque bes Erzbifhofs von Upfala Johannes Magnus 
findet fih ein Munenalphabet, und ebenſo in ber Schrift feines 
Btuders Dlaus Magnus De gentium septentrionalium variis 
eonditionibus (Romae 1555) 1). Aber der eigentliche Gründer des 
beimiſchen Alterthumsſtudiums in Schweden war Johannes 
Bureus. Geboren zu Alkerby im Jahr 1568 warf ſich Bureus 
ſchon früh auf das Studium der nordiſchen Alterthümer, wurde 
des jungen Guſtav Adolf Lehrer und ſpäter Reichsarchivar und 
Aufſeher der Antiquitäten und ber königlichen Bibliothek. Er ſtarb 
in hohem Alter im Jahr 1652 9. Bureus war ein ſehr eigent- 
thümlier Mann. Er erwarb fih Kenntniffe auf den verſchieden⸗ 
ften Gebieten und ſetzte feine Runenforſchung mit kabbaliſtiſchen 
Zröumereien in Beziehung. Aber er hat das unbeftreitbare Ver⸗ 
dienft, zuerft (1599) Aunenfteine gefammelt und mit lobenswerther 
Genauigkeit veröffentlicht zu Haben. Auch ift er vielleicht als der 
Erfte zu nennen, ber (1636) den Verſuch gemacht hat, eine alt- 
germaniſche Sprache grammatiſch zu behandeln 3). 


1) Uno von Troil, De runarum in Suecia antiquitate, 1769, 
Upeal., p. 6. — 2) Biographiskt Lexicon, III, Upsala 1837, p. 105 
ul — 3) €8 fieht mir leider nur ein fehr unvolllommenes Material 
für Bureus zu Gebote. Meine Kenntniß desfelben beruht auf bem eben 
angeführten ſchwediſchen biogr. Lexiton; E. C. Werlauff's Abhandlung über 
Borm in Rorbijt Tidoſtrift for Olbfgnbigheb, I (Rhon. 18321, ©.319 fg.; 
Joannis Schefferi Svecia literate, Hamburg. 1698, p. 49 sq.; I. ©. 
Ljegren’8 Run »Lära, Stodyolm 1832. Die von Scheffer a. a. O. p. 51 
aufgeführte Schrift des Bureus: Speeimen primariae lingrae Scantzia- 
nae, continens deelinationes nominum adjectivorum et substantivo- 
rum, ut et sintaxin eorum in tabula, Holmise 1636, ift auf in 

* Efpweben nicht mehr aufzufinden, wie ich durch Theodor Möbius' gütige Ver: 
mitlung vom k. Bibliothefariat in Stodholm erfahren habe. 


Zweites Bud), 


Die germanifche Philologie von der Herausgabe des 
Eoder argentens bis zum Auftreten der Romantiker. 
1665 bis 1797. 


Gries Zayitel. 


Die germaniſche Philolagie in ben Kiederlanden, in England und 
in Stanbinavien von 1665 bis 1748. 


1. Die germanifge Philologie in den Hicderianden nnd in England non 
1665 bis 1748. Frauciscus Innins. Gesrge Yihes. Lambert ten Kate. 


Ür haben im vorangehenden Abſchnitt gefehen, wie in ben 
Niederlanden ſchon feit den legten Jahrzehnten des 16. Jahrhun⸗ 
derts ein weit verbreiteter Eifer fih der Erforihung der germani- 
fen Sprachen zumandte. In andrer Weife wieder hatte in Eng 
land bis um die Mitte des 17. Jahrhunderts die Veröffentlichung 
angelſächſiſcher Quellen ſchon einen ziemlien Umfang gewonnen. 
Dort in den Nieberlanden und in England war deshalb vorzugsweile 
der Boden bereitet zu einer neuen Epoche der germaniftiihen Stu 
dien. Diefe Epoche wurde hauptſächlich begründet durch einen 
Mann franzöfiiher Abkunft, der in Heidelberg geboren die Jahre, 
in denen ſich die mutterſprachliche Bildung zu entſcheiden pflegt, 
in den Niederlanden zubrachte, während ein nicht geringer Theil 
feines Lebens England angehörte. Es war Franciscus Ju 
nius. Durch eine günftige Schickung wurde ihm, dem größten 
Kenner ber germaniſchen Sprachen während bes 17. Jahrhunderts, 


Die germ. Phil. in ben Niederl., in Engl. u. Stanbinavien v. 1665 5.1748. 107 


die Aufgabe zu Theil, das Gothiſche für immer in ben Kreis der 
Sptachforſchung einzuführen. Nächſt ihm find es vorzüglich zwei 
Gelehrte, die man als Mitbegründer der germaniihen Stubien 
nennen muß: Der Engländer George Hickes und der Niebers 
linder Lambert ten Kate. Die nähere Darftellung wird 
uns zeigen, wie bebeutend der Fortſchritt ift, den die Arbeiten 
dieſer Männer allen früheren Leiftungen gegenüber bezeichnen. 


1. $ranciscus Junius. Das Leben bes Franciscus Junius. 


Sranciscus Junius ber Jüngere, mit dem wir ung 
bier befhäftigen, war der Sohn des älteren Franciscus Junius, 
der in der Geſchichte der reformierten Theologie eine geadhtete 
Stelle einnimmt '). Geboren zu Bourges und gebildet zu Genf, 
hatte der ältere Frango is Du Yon, ober, wie er fi als Ge— 
lehrter nannte, Franciscus Yunius nad wechſelvollen Schick⸗ 
ſalen im J. 15883 bereits zum brittenmal eine Stelfung an ber 
Univerfität Heidelberg erhalten. Hier wurde ifm von feiner Gat⸗ 
tin Johanna LHermite, Toter des Simon LHermite, Schöppen 
der Stadt Antwerpen, im J. 15892) ein Sohn geboren, ber wie 
fein Bater den Namen Francis cus erhielt. Aber nur die aller- 
aften Lebensjahre brachte das Kind im oberen Deutihland zu. 
Denn fon im I. 1592 folgte der Vater einem Ruf als Profeſſor 
der Theologie an der Umiverfität Leiden, und fo wurden die Nies 
derlande bie eigentlihe Heimath des jüngeren Franciscus 
Junius. So viel er auch fpäter wandert und fo viele Jahre 
er in anderen Ländern zubringt, betrachtet er doch bie Niederlande 
als feine Heimath, umd was die Hauptſache ift, das Niederlän- 
diſche wird feine Mutterfprade 3). Schon vor dem Abzug der 


1) Ueber das Leben bes Älteren Franciscus Junius ſ. ben betr. Artikel 
in Bayle's Diotionnaire, und La France protestante par Eug. et Em. 
Haag, T. IV. (Paris 1853), p. 382 sq. — Ueber beide Junius: Jo, 
Guil. de Crane oratio de Vossiorum Juniorumque familie, habita 
Franequerae d. VI. Nov. 1820. — 2) &. bie Anmerkung am Schluß von 
Sawine' Vita Francisci F. F. Junüi, bie dem Werke des Junius De pic- 
tura veterum, Roterod. 1694 vorausgefßidt iſt. — 3) Bol. den Brief 


108 Zweites Bud. Erſtes Kapitel. 


Familie von Heidelberg war im J. 1591 die Mutter des Knaben 
geſtorben, und auch eine Stiefmutter gieng ihrem Mann im Tode 
voran. So hinterließ der ältere Franciscus Junius, als er am 
13. Oftober 1602 ſtarb, feinen Sohn als Doppelwaife Am 
2. Febr. desſelben Jahres hatte Gerhard Voſſius, der große 
Philolog, damals Rector des Gymnaſiums in Dordrecht, bie 
Nichte des älteren Franciscus Junius 1) geheirathet, und als biefe 
im %. 1607 ftarb, ehelichte er no im Lauf besfelben Jahres eine 
Tochter des älteren Franciscus Junius. Der junge Franciscus 
wurbe dem neuen Verwandten zur Erziehung anvertraut 2), und er 
tonnte in feine befferen Hände fommen, als in bie jenes ausge 
zeichneten Philologen und Pädagogen. Die erfte jugendliche Neig- 
ung des heranwachſenden Jünglings gieng auf Mathematik und 
Kriegswiſſenſchaften. Er wollte unter der ruhmvollen Führung des 
Prinzen Morig von Oranien für bie freiheit der Niederlande 
kämpfen. Als aber zuerſt die Friedensunterhandlungen, dann ber 
Abſchluß des zwölfjährigen Waffenftillitands die Ausfiht auf meir 
tere Krigsthaten abſchnitt, gab Junius feinen Plan auf umd wandte 
ſich mit ganzer Kraft dem Stubium der alten Sprachen und ber 
Theologie zu 9). Im Jahr 1608- finden wir ihn auf der Univer⸗ 


des Fr. Junius an Gerh. Voffius aus London vom 22. Mai (a. Gt.) 1635, 
wo er von der Meberfegung feines Werks de pietura veterum in’s Nieder 
länbifje fagt: Primo per otium in vernaculam nostram linguam es 
quae Latine dedi transfero. (Ger. Jo. Vossii — epistolae, Lond. 
1690, II, p. 143). In der Wibmung ber Observationes in Willerami 
Paraphrasin, Amstel. 1655, 1. 3, nennt Junius das Holändifge »Teu- 
tonicam nostrame« und »vernaculam nostram.e — 1) Eliſabeth Corput, 
bie Tochter bes Heinrich Corput, der ein Bruber ber zweiten rau bes älteren 
Tr. Junius war. Der jüngere Fr. Junius war ein Sohn der britten Frau 
bes älteren. — 2) Crane 1. 1. p. 57. — Junius nennt den Voſſius aus 
drüdlich feinen Lehrer. (Ger. Vossii epist. II, p. 2). In feinen Obser- 
vationes in Willerami Paraphrasin (1655) p. 176 fagt er: Gerardus 
Joh. Vossius affinis quondam mihi conjunctissimus et praeceptor 
optime semper de me meritus. — 3) S. Graevius in ber Vita de) 
Junjus, - 


Die germ, Phil. in ben Niederl, in Engl. u. Stanbinavien v. 1665 6. 1748. 109 


ftät zu Leiden, von wo er dem Gerhard Voffius über feine Maffi- 
ſhen und theologiſchen Stubien berichtet. Mit befonderem Eifer 
warf er fih unter tüdtiger Leitung auf das Studium der 
Griehen 1). Na Vollendung feiner Univerfitätsftubien, hielt er 
fih eine Zeit lang bei dem frommen und gelehrten Theologen 
Teelinghins zu Middelburg auf ?), um ſich auch praktiſch für das 
geiftliche Amt vorzubereiten. Im J. 1617 erreichte er dies Biel, 
indem er auf Empfehlung des Hugo Grotius zum Pfarrer in 
Hillegonsberg berufen wurde °). Die reformierte Kirche der Nie- 
derlande war damals durch bie erbitterten Streitigfeiten zwiſchen 
den Anhängern des Gomarus und bes Arminius zerriffen. Junius 
hielt fih von einer Einmiſchung in diefe nicht bloß mit geiftigen 
Waffen geführten Streitigfeiten fern. ber fein milder, einfach 
frommer Sinn zog ihn mehr zu Hugo Grotius und ben anderen 
Remonftranten, als zu den Vertheidigern der unbedingten Prä- 
deftination 4). In derfelben Zeit, in der fi die Synode zu Dord- 
recht für die Lehre des Gomarus entjhied, erfuhr auch Junius 
einen kränlenden Angriff auf feine amtliche Stellung. Die Synobe 
zu Delft erflärte im Februar 1619 feine Berufung zum Pfarramt 
für ungültig und wollte ihn nur als Vicar und auf Kündigung, 
bis ex ſich beſſer ausgewiefen, haben würde, in feiner Stellung bes 
laſſen. Junius, der fid feiner Schuld bewußt war, fühlte ſich 
durch dieſe unwürdigen Zumuthungen tief gefränft und zog e8 vor, 
dem geiſtlichen Amt gänzlich zu entfagen 5). Er ift auch nie wieder 
zu demfelben zurückgelehrt; und obwohl er auch fernerhin die Schie- 


1) Ger. Voss epist. U, p. 2. — 2b. I. p. 12. — 3) Gerh. 
Boffins empfiepft feinem Freund Hugo Grotius ben Junius für bie Stelle in 
Hilegonsberg in einem Brief vom legten Jan. 1617, der gebrudt iſt in Cen- 
tum Epist. Clarorum Virorum ex Museo Brantii p. 18. Die zuflim- 
menbe Antwort bes Grotius findet fih in Nr. 94 und ein weiterer hieher bes 
Higlicger Brief desſelben ebend. Nr. 95. — 4) Man fieft bie u. A. aus 
dem Gefprädp, das Junius im Sept. 1620 mit Tilenus in Paris Hatte, 
©. darüber den Brief bed Junius an Gerh. Voſſius in Ger. Vossii epist, 
1, p.%. — 5) Grane p. 59, o. 


110 Zweites Buch. Erſtes Kapitel. 


fale feiner Kirche mit warmer Theilnahme verfolgte, wandte er fi 
jetzt anderen als ben theologifchen Studien zu. 

Im Sommer des Jahres 1620 reifte er nach Paris, befuchte 
dort feine Verwandten und gieng dann im nächſten Jahr nad 
England hinüber. Hier machte er die Belanntichaft des relchen, 
Kunft und Wiſſenſchaft Tiebenden Tomas Howard Grafen von 
Arundel. Der Graf fand ſolches Wohlgefallen an Junius, daß er 
ihm bat, bei ihm zu bleiben !), und ihm die Erziehung feines Sohnes 
anvertraute. Hier lebt num Junius viele Jahre, umgeben von den 
Schägen der Kunft und ber Wiſſenſchaft, im Verkehr mit Gelehrten 
und Künftlern und mit den engliſchen Großen in Staat und Kirche. 
Seine Zeit ift getheilt zwiſchen dem Pflichten, die er als Erzieher 
bes jungen Grafen treulich erfüllt 2), wiſſenſchaftlichen Beihäftig- 
ungen unb ven Vergnügungen des vornehmen Weltlebens °). Bald 
finden wir ihn in dem Arundel'ſchen Palaft in London, den der 
Graf mit den berüßnten antiten Marmorwerken ausftattete, 
bald auf den Lanbfigen der Großen, wo er mit feinem Zögling an 
Jagden und anderem Zeitvertreib theilnimmt %). Immer iſt ex in 
Eile, fo zu fagen immer auf dem Sprung. „Raptim“ ift die ge- 
wöhnlihe Unterſchrift feiner Briefe an Gerhard Voſſius. Aber 
bald ſollte fi zeigen, daß dies ſcheinbar zerftreute Leben ihn nicht 
hinderte, die grünblichften und umfaffendften wiffenfhaftlihen Stu- 
dien zu maden. Auf den Wunſch des Grafen Arundel d) begann 
er nämlich ein Verzeichniß der antiken Künftler anzulegen, und aus 
den Brolegomenis zu diefer Arbeit e) wurde bie in dem antiquaris 
ſchen Theil der alten Kunftgefhichte Epoche madende Schrift De 


DE. den Brief bes Junius an Gerh. Boffius vom 1. Der. (a. St.) 
1621, in Ger. Vossii — epist. H, 29. — 2) S. Ger. Vossii epist. I, 
179. — 3) Die ganze Schilderung if entworfen nad) den Andeutungen, bie 
fih in den Briefen bes Junius an Gerhard Voſſius finden. Vgl. bef. den 
‚Brief des Junius vom 22, Mai (a. St.) 1635 in Vossii epist. II, 143. — 
4) Junius an Gerh. Voſſius 19. Apr. (a St.) 1628 in Ger. Vossii epist. 
II, 59. — 5) Junins an Gerh. Voff. d. 19. Apr. (a. St.) 1628, in Ger. 
Vossii epist. II, 59. — 6) Junins an Gerh. Voſſ. 1684 in Ger. Vossüi 
epist. II, 134. 


Die ger. Phil. in den Nieberl., in Engl. B 1665 6.1748. 111 


pietara veterum. Sie wurde im Jahre 1637 unter der Obhut 
des Gerhard Voſſius zu Amfterbam herausgegeben und erwarb 
dem Berfaffer die Lobſpruche ber berühmteften Gelehrten feiner 
dit‘). 

Bir wiffen nit, wie fich das Verhältniß des Junius zur 
Familie des Grafen von Arundel geendet hat; aber aus einem 
Brief des Gerhard Voſſius vom 1. December 1641 erfahren wir, 
dab Junius damals Erzieher eines Grafen von Oxford war 2). 
Im folgenden Jahr begleitete er feinen Bögling in bie Nieber- 
Inmde:), und and im Jahr 1644 finden wir ihn bort mit bem 
jungen Grafen von Oxford, ber im nieberlänbifien Heer Dienfte 
genommen Hatte. Bis zum Jahr 1646 4) weilte Junius in ben 
Niederlanden; dann Tehrte er nach England zurüd und blieb dort, 
Bis er im Jahr 1651 für eine Tängere Reihe von Jahren feinen 
Kufenhalt in der niederiandiſchen Heimath nahm. 

Während feines faft dreißigiährigen Aufenthalts in England 
wor Junius im regſten Verkehr mit feinen niederländiſchen Ber- 
wandten geblieben. Wenn er aud) Fein ſehr fleiiger Briefſchreiber 
>), fo nimmt er doch an Allem, was feinen Schwager Gerharb 
Boffins und deſſen Haus betrifft, den wärmſten Antheil ©). Dies 
nahe Berhältnig zu Gerhard Voſſius iſt vom nicht geringer 
Bedeutung für den Gang, den die Stubien des Junius nahmen. 
Riht als ſollte das jelbftändige Werbienft des Junius geſchmälert 
werden, das er ſich durch die epochemachenden Arbeiten auf dem 
Gebiet der germaniſchen Philologie erwarb. Aber daß Junius 
diefe Richtung einſchlug, daß er fie fo gut ausgerüftet und mit 


1) S. die Briefe des Hugo Grotius, bie ber Schrift des Junius De 
pietura veterum vorgebrudt find; ben Brief des Gerhard Voſſius an Junius 
in Ger. Vossii epist. I, 259. — Der Ontalogus Artifcum wurde erft 
10% Junius Tod im Anfhluß an bie zweite Ausgabe des Werks De pictara 
veterum, Roterodami 1694 veröffentliht. — 2) Ger. Vossii epist. I, 
38. — 3) Ib. II, 397. — 4) Ger. Vossii epist, I, 498. — 5) Ger. 
Vomii epist. I, 148. — 6) Bgl. bie Briefe des Junius an Gerh. Voſſius 
in Ger. Vossii epist. II, 31; 68 u. ff. 


112 Zweites Bud. Erſtes Kapitel. 


folder Gründlichkeit verfolgte, das erklärt fi nicht zum geringſten 
Theil aus feinem Verhältniß zu dem größten unter den bamals 
lebenden klaſſiſchen Philologen. Denn was wir in einem früheren 
Abſchnitt über die niederländiſchen Philologen gejagt haben, das 
zeigt fih am glänzendften in der Familie des Gerhard Voſſius. 
Sie ftellt uns den ausgebreiteten Umfang der damaligen Philologie 
dar. Er felbft greift, wie wir fehen werden, weit über die Gren⸗ 
zen bes antik Klaſſiſchen hinaus. Seine tafentvollen Söhne Diony- 
ſius und Iſaak befhränfen ihre Studien nicht auf das Griechiſche 
und Lateiniſche, fondern fie erwerben ſich zugleich unter der Leitung 
des Golius die Kenntniß der ſemitiſchen Sprachen !). Und derſelbe 
Dionyſius Voſſius, deſſen femitiftifhe Gelehrſamkeit fi im ber 
Herausgabe des Moses Maimonides de Idololatria ein Dentmal 
fegte, übertrug bie nieberländifchen Annalen des Everard van 
Reyd in klaſſiſches Latein 2. Ein dritter Sohn des Boffius, 
Matthäus, ſchrieb ein felbftändiges Werk über die Geſchichte Hol- 
lands und Seelands von den älteften Zeiten bis zur Mitte des 
14. Jahrhunderts). An dem allen nahm der Vater den leben 
digften Antheil. Er erzählt uns felöft, wie fein Haus viele Jahre 
hindurch erfüllt war von Gefprähen über die alten niederländiſchen 
Geſchichten %). In Bezug auf feine Spradftudien aber war Ger 
hard Voffius, obwohl einer der erften Kenner und Meifter des 
Haffifhen Lateins, doc; feineswegs jo beſchränkt, das, was über 
das Haffifhe Latein hinauslag, verächtlich bei Seite zu laſſen. Er 
richtete fein Augenmerk auf die Urfprünge ber lateiniſchen Wörter, 
und fon dies führte ihn weit über den Bereich der bloßen Latini⸗ 
ften, Hinaus. Iſt aud Vieles in feinem großen Werk über bie 
lateiniſche Etymologie jegt längſt veraltet, fo erwedt dod die Ger 
lehrſamkeit und der Scharffinn, die der große Sprachforſcher ent 
faltet, noch heute unfere Bewunderung. Gerhard Boffius erflärte 
fi aber auch ausdrücklich dagegen, feine Studien auf das klaſſiſche 


1) Crane L.1.p. 16 09,5 p.24.— 2 ib. p.17. — 3) ib. p. 28 
83. — 4) Gerh. Voſſ. Brief an Johann. Brumaens vom 3. 1646 in Ger. 
Vossii epist. I, 444. " 


Die germ. Phil. in ben Nieberl. in Engl. u. in Gfanbinavien v.1665 5.1748. 118 


Latein zu beſchränken. Er Hält es für unumgänglich, auch in bie 
fpäteren Beiten hinabzufteigen '). Er ſelbſt that dies in feinem ge- 
lehrten Werk De vitiis sermonis et glossematis Latino-barbaris. 
& handelt Hier ausführlich von den Wörtern, bie dem klaſſiſchen 
Latein fremd find. Natürlich thut er dies zunächft aus dem Ge⸗ 
fichtspunkt, daß der Gebrauch diefer Wörter. von dem, der gutes 
&atein ſchreiben will, als fehlerhaft zu meiden fei. In welchem 
Geift er aber nichts beftoweniger den ganzen Gegenſtand behandelt, 
dos zeigt fi in ben Worten, mit denen er ben genannten Ab⸗ 
jcuitt einfeitet. Ac ordiar ab iis, fagt er, quae ortu ipso bar- 
bariem prodant: ut quae genus suum ducunt ab illis, quos 
Romani Graecique pro fastu suo barbaros dixere: praecipue 
ab incolis magnae matris nostrae Germaniae ?). Und nım geht 
er neben anderen eine große Menge germanifcher Wörter durch, bie 
fih bei den mittelakterlichen Lateinern finden. Man wird billiger- 
weife nicht erwarten, daß der llaſſiſche Philolog Hier vor mehr als 
zweihundert Jahren und vor dem Beginn einer wirklich wiſſen⸗ 
ſchaftlichen germaniſchen Sprachforſchung überall das Rechte ge- 
ttoffen Habe. Man wird ſich vielmehr freuen, zu ſehen, wie der 
große Ratinift fi der altgermanifchen Quellen zu bemächtigen fucht, 
wie er nicht nur die mittelalterlichen Lateiner, fondern aud die 
altdeuti gen Sprahbenkmäler für feine Zwede benugt. Er citiert 
den Offrib 3), den althochdeutſchen Tatian 4), den Kero 6), ben 
Billeram. Den legten führt-er nad der Ausgabe des Merula an 
und fügt dann orthographiſche Varianten aus einer Handſchrift Bei, 
die er vetustus noster Manusoriptus nennt 9). Ex ſchöpft aus 
althochdeutſchen und aus angelſächſiſchen Gloffen 7. Er kennt die 
wenigen Heinen Bruchſtücke, bie damals von der gothifchen Bibel⸗ 
überfegung veröffentlicht waren ®). Er will überhaupt nicht nur 


1) Ger. Vossii de vitiis sermonis et glossematis Latino-barbaris 
Nibri quatuor. Francof. 1666. Praef. (p. 185g.) — 2) Ib. p. 175. — 
3 Ib. p. 886. — 4) Ib. p. 285. — 5) Ib. p. 208; 339. — 6) Ib. 
p. 227; 899; 240. — 7) Ib. p. 184; 206; 336; 339. — 8) Ib. p. 7 
führt er das gothiſche Waterunfer an; p. 285 bie gothiſche Ueberſebung bes 
Canticam Simeonis. Beide waren in ber Schrift des Bonaventura Vul- 

Reumer, Sch der germ. Phllologie, 8 


114 Zweites Buch. Erſies Kapitel. 


unter die Teutonas, fondern auch unter die Quloredrovag ge 
rechnet fein '). 

So fehen wir Gerhard Voſſius, den. großen klaſſiſchen 
Philologen, als unentbehrliches Nebenftudium die altgermaniſchen 
Sprachquellen für feine Zwecle ausbeuten. Wir erbliden ihn ge- 
wiffermaßen ſchon auf dem Wege, der dann feinen Schwager Fran⸗ 
ciscus Junius zur Pflege der germanifhen Philologie als einer 
befonderen Wiſſenſchaft führte. Franciscus Junius theilte bie 
Neigung feines Schwagers Gerhard Voſſius zu etymologiſcher 
Forſchung. Er ift hoch erfreut, als er im Jahr 1634 des Vulca⸗ 
nius Gloffarium von Gerhard Voſſius zugefenbet erhält, und iſt 
ganz zufrieden, daß aud das Lexikon des Heſychius ſich bei diefer 
Sendung befindet, obſchon er es bereits früher erworben hat. 
Denn gute Büder, meint ex, befige er gern zweimal, um fie fo- 
wohl in London als auf dem Land, wo er den Sommer zubringt, 
zur Hand zu Haben 2). Ganz beſonders aber war es bie nieder- 
ländiſche Mutterſprache, welche Franciscus Junius mit Liebe pflegte. 
Er ſchrieb fie auch nad) langer Abweſenheit mit Meifterichaft, wie 
dies feine Ueberfegung der Schrift De piotura veterum bewies 3), 
und ihre Erforfung war es vorzüglih, was ihn mehr und mehr 
ausſchließlich germaniſchen Sprachſtudien zuführte. Während feines 
Iangjährigen Aufenthalts in England wurde er befannt mit dem 
reichen Schag angelſächſiſcher Handſchriften, welche bie engliſchen 
Bibliotheken aufbewahren, und es entgieng ihm nicht, wie viele 
neue Aufſſchlüſſe die Durchforſchung dieſer alten Sprachdenlmäler 
auch für die Erläuterung der neueren germaniſchen Sprachen: des 
Niederländiſchen, des Engliſchen und des Deutſchen, gewähren t). 
Er warf fi mit ganzem Eifer auf das Studium des Angelfähli- 


canius De Literis et Lingua Getarum Sive Gothorum, Lugduni Ba- 
tavorum 1597, mitgetgeilt. — 1) Ib. p. 8. — 2) $ranc. Junius an 
Gerhard Voſſius in Ger. Vonsii epiet. IL, p. 183g. — 3) Der Anonym. 
Bat. (b. i. Adrian Verwer) Praef. Ideae Linguae Belgieae erklärt fie 
für ein Mufter ber nieberländifhen Sprache. S. Crane l. 1. p. 29. — 
4) S. d. Vita Fr. Junii vor der durch Graevius bejorgten Ausgabe des 
Werts De picture veterum. 


Die germ. Phil. in den Riederl,, in Engl. u. in Skandinavien v. 1665 6.1748. 115 


ſchen. Dies führte ihn immer tiefer in die Erforfung auch der 
anderen altgermaniſchen Sprachen, namentlich des Althochdeutſchen, 
hinein 

Als ſein Schwager Gerhard Voſſius im Jahr 1649 geſtorben 
war, kehrte Franciscus Junius nach den Niederlanden zurück und 
lebte längere Zeit mit feiner Schweſter, ber Wittwe des Voſſius, 
et in Amfterdam, dann im Hang). Aus dem Nachlaß feines 
Eqwagers gab er deſſen Harmonia Evangelica heraus 2). 
Seine hauptſächlichſte Beſchäftigung aber bildete das unermüdliche 
Stubium der germanifchen Sprachen. Als ihm mitgetheilt wurde, 
im weftlihen Friesland gebe es eine Gegend, in welder die Be- 
wohner die alte friefifhe Sprade in ihrer urfprünglichen Geftalt 
bewahrt hätten, entihloß er fi, diefe Sprache an Ort und Stelle 
zu lernen, und hielt ſich zu biefem Behuf zwei Jahre lang in den 
Heinen Orten Staveren, Moltweren, Hinbelopen, Workum und 
Volsward auf ?). Um unerkannt und durch feine Rüdficht gebunden 
mit den Leuten verlehren zu lönnen, vertauſchte ex feinen Namen 
mit deſſen hebräiſcher Ueberfegung Nadab Agmon *). Nach Ber- 
lauf von zwei Jahren kehrte er ausgerüftet mit einer gründlichen 
Lenntniß der friefiihen Sprage nad Amfterdam zurüd. Hier 
übergab er num die erite Frucht feiner germaniftiihen Studien der 
Oeffentlichteit. Es waren bie Observationes in Willerami Ab- 
batis Franeicam Paraphrasin Cantiei cantioorum, die mit den 
Leitern und auf Koften des Verfaſſers im Jahr 1655 zu Amfter- 
dam erſchienen. Daß er fih zuerft an diefem eigenthümlichen alt- 
hoqhdeutſchen Erzeugniß bes elften Jahrhunderts verfuchte, wird 
feinen Grund darin gehabt Haben, daß dies Wert durch Paulus 
Rerula im Jahr 1598 zu Leiden herausgegeben worden war. Die 
Observationes des Junius machen den Gindrud einer raſch nie- 
dergeſchriebenen Arbeit, aber einer Arbeit, die auf den umfafjendften 


1) Crane 1.1, p. 38. — 2) Im Jahr 1656. Bol. Crane 1. 1. 
p. B. — 3) S. b. Vita Fr. Jumii vor Graevius Ausg. ber Schrift De 
piet, vett. und Crane p. 33 u. 79. — 4) Crane p. 34. 

8. 


116 Zweites Bud. Erſtes Kapitel. 


Borftubien ruht. Sie theilen mit leichter, ſicherer Hand aus ben Schägen 
mit, an denen Junius damals ſchon jeit Jahren geſammelt hatte. Denn 
bereits im Jahr 1651 ſchreibt Johann Friedrich Gronov an Nicolaus 
Heinfins: „Neulich war ih zu Amfterdam mit Franciscus Junius 
zuſammen. Er hat ein 2erifon der Origines unfrer Mutterſprache 
fertig, worin viel Treffliches aus ben alten Spradenkmälern ver 
Angelſachſen“ ). Im Lauf des Jahres 1655 gab Junius and 
noch eins ber widtigften Denkmäler der angelfähfiigen Poefie zum 
erftenmal Heraus, nämlich die metriſche Paraphraſe der bibliſchen 
Geſchichte, die unter dem Namen des Caedmon belannt ift ?). Die 
Handſchrift, welche ber Erzbiſchof von Armagh, Jacob Uffer, dem 
Junius mittheilte °), nennt leinen Verfaſſer. Junius aber ſchrieb “) 
das Werk dem alten Dichter Caedmon zu, von welchem Beda in 
feiner Kirchengeſchichte erzählt. Die Ausgabe des Junius enthält 
außer dem ſauber mit angelſächſiſchen Xettern gebrudten Text 
nur ein kurzes Vorwort und eine Inhaltsangabe ber Kapitel. 
Ales Andere, was Junius bem Tert nadfolgen Iaffen wollte d) 
iſt ungebrudt umter feinem handſchriftlichen Nachlaß aufbewahrt. 

In biefelbe Zeit, in welcher Junius die erften Proben feiner 
germaniftifgen Stubien in Drud gab, fällt ein Ereigniß, das für 
Junius und durch im für die ganze Entwidlung der germaniſchen 
Sprachſtudien epochemachend wurde. Wir haben in einem früheren 
Abſchnitt gefehen, wie in der zweiten Hälfte des ſechzehnten Jahr⸗ 
hunderis die Kunde von der gothiſchen Evangelienhandſchrift auf 
taucht, wie aber nur wenige eine Bruchftüde derſelben veröffent- 

1) Sylloge Epistolerum, Herausgegeben von Peter Burmann, Tom. II], 
p. 286. — 2) Caedmonis monachi Paraphrasis poetioa Genesios ac 
praecipuarum Sacrae paginae Historierum, abhine annos MLAX. 
Anglo -Saxonioe conscripta, et nuno primim edita & Francisco Junio 
F. F. Amstelodami, Apud Christophorum Cunradi. Typis et sump- 
tibus Editorie. CIOIICLV. Prostant Hagae-Comitum apud Adris- 
num Viacg. (Rein Quarto). — 8) Fr. Junius Ad lectorem vor em 
Tert des Gaebmon. — 4) Observationes in Willerami Paraphrasiz, 
p. 248. — 5) Bl. Fr. Junius Ad lectorem vor dem Tert des Gachmon 
nf. 


Die gern. Phil. in ben Rieberl.,in Engl. u.in Stanbinavienv. 1665 6.1748. 117 


lſicht werben, und bie Hanbferift dann wieder aus dem Geſichts⸗ 
Iris der Gelehrten verſchwindet ). Sie war in den Schat bes 
efrigen Sommers, Kaifer Rudolf IL, auf bem Hradſchin gelom- 
men 2). Hier fanden fie nad Erftürmung der Kleinfeite von Prag 
im Jahr 1648 die Schweden und entführten fie mit anderen liter 
rariſchen Koftharkeiten nah Stodholm. Unter den Gelehrten, 
welche die Königin Chriftine von Schweden an ihrem Hofe ver- 
fammelte, befand ſich auch Jſaak Voſſius, der Sohn des Ger⸗ 
hard Boffins und Neffe des Franciscus Junius. Die Königin, 
et übertrieben freigebig für gelehrte Zwecke, konnte dann fpäter 
nad Erſchöpfung ihrer Mittel den früher übernommenen Verpflich⸗ 
tungen nicht überall nachkommen. Sie konnte dies um fo weniger, 
nachdem fie im Juni bes Jahres 1654 die ſchwediſche Königskrone 
niedergelegt Hatte. Sie geitattete daher einzelnen Gelehrten, ſich 
für das, was fie ihnen ſchulde, dur Bücher aus ihrer koſtbaren 
Bibliothek zu entfhäbigen. Cine folde Erlaubnig, erhielt Iſaak 
Voſſius, der nah mannigfachen Schiefalen und Zerwärfniffen im 
rüßling des Jahres 1654 aus Schiweben nach den Niederlanden 
wrüdtehrte. Man hat ihm vorgeworfen, er habe ſich unerlaubter 
Beije an dem Eigenthum der Königin vergriffen. Iſaak Voſſius 
war durchaus nicht der eble, reine Charakter, wie fein Vater; man 
beſchuldigt ihn nicht mit Unrecht der Habſucht und anderer ſchlim⸗ 
mer Dinge. Aber mit der obigen Erlaubniß der Königin, fi 
Bũcher aus ihrer Bibliothek auszuſuchen, ſcheint es feine Richtigkeit 
u haben 3). Unter den Büchern, bie Iſaak Voffius ſich aneignete, 
befand ſich auch ber gothiſche Evangeliencoder, und fo kam biefe 
toftbare Handſchrift in bie Hände feines Ofeims, des Franciscus 
Imius. Man ann fih denken, von welder Freude der greife 
docſcher ergriffen wurde, als ſich ihm biefe alteſte und urſprüng⸗ 


1) S. 0 6.92% — 9) Mapmanı in Hanpt’s Zeitschrift für 
deutsches Alterthum, Bd. I (Leipzig 1841) 8, 316 fg. — 3) Die hier 
wachen Darfiellung folgt haupiſachlich ber forgfältigen Unterſuchuug Chauffe ⸗ 
viES in befien Nouveau dietionnaire bistorique et critique, Tom. IV. 
(Amsterdam 1756) p. 621 sq. 





118 Zweites Bud. Erſies Kapitel. 


lichſte Quelle der germanifhen Sprachen erſchloß. Schon den 
Heinen von Bonaventura Bulcanius veröffentlichten Bruchſtücken 
hatte er richtig abgemerkt, daß uns Hier ein Zuftand der germani- 
ſchen Sprachen entgegentritt, der weit auch hinter den älteften Denk⸗ 
mälern des Angelſächſiſchen zurüdiiegt ). Und nun hielt er diefe 
ältefte Urfunde, diefe Grundlage ber ganzen germanifhen Sprad- 
forfhung in Händen! Er fieht darin eine Schidung des Himmels. 
Dur eine Fügung des ewigen Gottes fei diejer oder in feine 
Hände gefommen 2). Bon nun an geht fein eifrigftes Bemühen auf 
die Herausgabe ber gothiſchen Sprachreſte. Er arbeitet fih mit 
unermüblihem Fleiß in die Sprache hinein, läßt auf feine Koften 
gothiſche Lettern ſchneiden und gelangt fo endlich dahin, da er im 
Jahr 1665 die erfte Ausgabe des Codex argenteus zu Dord- 
recht erſcheinen laſſen kann 3). Er verband fih dazu mit dem 
Engländer Thomas Marefhall. Diefer fügte dem gothiihen 
Text die alte angelſächſiſche Weberfegung ber Evangelien bei, welche 
im Jahr 1571 zum erftenmal erſchienen war und zu deren vers 
befferter Herausgabe ihm Junius die Collation von vier Hand» 
ſchriften überließ +). Mareſchall ftenerte außerdem fehr achtungs⸗ 
werthe Observationes de Versione Gothica und in Versionem 
Anglosaxonicam bei. Junius ſelbſt aber Tieß der Ausgabe des 
Textes ein Gothicum Glossarium folgen, das erfte lexilaliſche 
Hülfgmittel für das Studium des Gothifchen. 


1) gl. die Widmung bes Franciscus Junius an ben Kanzler De fa 
Gardie vor feiner Ausgabe bes Codex argenteus. — 2) Ebend. — 
3) Quatuor D. N. Jesu Christi Euangeliorum Versiones perantiquae 
duse, Gothica scil. et Anglo-Saxonica: Quarum illam ex celeber- 
rimo Codice Argenteo nunc primum depromsit Franeiscus Junius F, 
F. Hano autem ex Codioibus mass. collatis emendatiüs recudi oura- 
vit Thomas Mareschallus, Anglus: Cujus etiam Observationes in 
utramque Versionem subnectuntur. Accessit et Glossarium Gothicum: 
cui praemittitur Alphabetum Gothicum, Runicum etc. oper& ejusdem 
Franeisci Junii. Dordrechti. Typis et sumptibus Junianis. Excude- 
bant Henrieus et Joannes Essaei, Urbis Typographi Ordinarii. 
CIYIICLXV. — 4) gl. Thomae Mareschalli (sic), Angli, observa- 
tiones in versionem Anglo-Saxon. p. 490. 


dit germ. Phil. in den Rieberl., in Engl. u. in Efandinavien v. 1665 5. 1748, 119 


So lebte Junius eine Tange Reihe von Jahren in den Nie- 
derlanden der Erforſchung der germanifhen Sprachen Hingegeben. 
Seine äußere Lage hatte fi günftiger geftaltet, nachdem er einen 
langwierigen und verbrießlihen Proceß gegen den Viscount Staf- 
ford, den Sohn des Grafen Thomas Arundel, gewonnen hatte '). 
Aber das Erworbene diente ihm nur, um ungeftört und ununter⸗ 
drohen an den großen Sammlungen fortarbeiten zu können, die er 
fir die Erforſchung der germaniſchen Sprachen angelegt Hatte. 
Obwohl jet in hohem Greifenalter, genoß er einer wunderbar 
feiten und ungetrübten Gefundheit. . Jeden Morgen, Winter und 
Sommer, erhob er fid um vier Uhr von feinem Lager und ftand 
dann bis zur Effenszeit, um Ein Uhr, vor feinen Arbeitspulten. 
Auf diefen Pulten lagen fünf Wörterbüder, die er ſich für die alt- 
germanifhen Spraden angelegt Hatte, und feine Commentare zu 
altgermaniſchen Schriftwerfen. In diefe trug er Alles ein, mas 
ihm beim Leſen der Aufzeichnung werth dünkte. Um Ein Uhr aß 
a zu Mittag. Dann machte er fi zwei Stunden lang Bewegung 
mit Spagierengehen, Springen und Laufen im Freien, wenn es die 
Jahreszeit duldete; war das Wetter gar zu ſchlecht, fo ftieg er 
feiner Geſundheit zu Liebe die Treppen im Haufe auf und ab. Um 
drei Uhr zog er fich wieder in fein Zimmer zurüd und arbeitete 
ununterbrochen fort bis Abends acht Uhr. In diefer Abgeſchieden⸗ 
heit und Arbeitfamfeit aber war der rüftige Greis nichts weniger 
ala mũrriſch oder menjchenfeindlih. Obwohl er fi ungern von 
feiner Arbeit abziehen ließ, war er doch äußerſt freundlih und 
liebenswürdig, wenn er Beſuch erhielt. Cr konnte dann Stunden 
lang durch fein lehrreiches und unterhaltendes Geſpräch feſſeln. 
Erin Charakter war von einer feltenen Reinheit und über fein 
ganzes Weſen war die Scheu vor jedem Uneblen und Unreinen 


1) In ber Vorrede zu feinen Observationes zum Willeram fpielt Zus 
nius auf biefen verbriehlichen Redhtshandel an. Aus einem Brief bes Janus 
Biriws am Nicolaus Heinſius vom Jahr 1662 (in Burmanı's Sylloge 
T. I, p. 769) erfahren wir, daß Junius den Proce gewonnen hat. ©. 
Grane 1. 1. p. 77. 


120 Zweites Buch. Erſtes Kapitel, 


ausgebreitet. Von Allen, die ihn Tannten, geliebt und verehrt, 
erſchien er wie ein Ueberreft aus einer beffern Zeit. Weder Hoff- 
nung auf Gewinn, noch Durft nah Ruhm trieb ihn zu feiner 
Arbeit, fondern allein die reine Liebe zur Wiſſenſchaft, zum Bater- 
land und zu den Mitmenfhen. So ſchildert ihn ein jüngerer 
Beitgenoffe‘), und ſowohl durch die Berichte Anderer, die ihn ges 
lannt 2), als durch die Schriften des Junius ſelbſt ) wird ung bie 
Treue diefer Schilderung beftätigt. Erſt nachdem er das achtzigfte 
Lebensjahr längſt überfäritten Hatte, begannen die Beſchwerden des 
Alters fi bei ihm einzuftellen. Im Anfang des Jahres 1674 
wurde er von einer ſchweren Krankheit befallen, aber troß feines 
hohen Alters überftand er fie glüdlih *). Dod begannen nun 
bald feine Körperkräfte abzunehmen, fein früher fehr fiheres Ge⸗ 
dächtniß ſchwächer zu werden 5). In feinem fiebenunbachzigften 
Lebensjahr faßte er den Entſchluß, noch einmal feinen Wohnfig zu 
verändern. Im Herbft des Jahres 1675 verließ er dem Haag, 
wo er bis dahin gelebt Hatte, und ſchiffte nah England hinüber. 
Schon im Jahr 1670 war ihm fein Neffe Iſaak Voffius voraus 
gegangen, ber von König Karl IL. im Jahr 1678 ein Canonicat 
zu Windfor erhielt. In der Nähe diefer Stadt lebte er auf einem 
Landgut im Befig eines bedeutenden Vermögens °).. Franciscus 
Junius brachte den größten Theil feiner Zeit in Oxford zu. Im 
Auguft 1677 beſuchte er feinen Neffen Iſaak Voſſius auf beffen 
Landgut bei Windfor. Hier, im Haufe feines Neffen, ift er am 
19. November des Jahres 1677 nach einer Krankheit von nur 
wenigen Tagen geftorben. Sein Leichnam wurde in der ©t 


1) Graevius in ber Vita Junii vor deſſen Schrift De piotura vete- 
rum. — 2) ®gl. Pauli Colomesii Opers, Hamburgi 1709, p. 323. — 
3) Bol. u. A. die liebenswürdig ſelbſtloſen Aeußerungen des Junius in ber 
Vorrede zu den Observationes zum Willeram. — 4) Graevius an Ric 
Heinſius d. 13, Febr. 1674, in Burmann's Sylloge Epistolarum T. IV, 
p- 226. — 5) Nic. Heinſius an Graevius d. 8. Juli 1675, in Burmann's 
Sylloge Epist. T. IV, p.355. — 6) Chauffepie, Nouveau Dictionnaire 
historique et critique Tom. IV (Amsterdam 1756) p. 627 sq. 


" Die germ. Phil. in ben Niederl, in Engl. u. in Skandinavien v. 1665 6.1748. 121 


Gengäfiche zu Windfor beigefegt ').. Seinen reichen literariſchen 
Nachlaß vermachte ex der Univerfität Oxford. 


Die Leitungen bes Franciscus Junius, 


Bei Beantwortung der Frage, melde Fortſchritte die Erfor- 
hung der germanischen Spraden dem Franciscus Junius ver- 
dankt, befinden wir uns in einer eigenthümlichen Rage. Bei den 
meiften Gelehrten richtet ſich unſer Urtheil nach den Schriften, die 
fie während ihrer Lebzeiten in Drud gegeben haben; ober fehen 
wir uns bei einigen gemöthigt, auch auf ihren handſchriftlichen 
Rachlaß Rüdſicht zu nehmen, fo ift doch diefer Nachlaß in der 
Hegel bald nad} ihrem Tode veröffentlicht worden, und fein aner-- 
lanntes Eingreifen in den Gang der Wiſſenſchaft liegt nahe bei- 
fammen mit den Werken, welche jene Gelehrten noch ſelbſt heraus⸗ 
gegeben haben. Anders bei Franciscus Junius. Wir haben feine 
äuferjt wichtigen, doch nicht fehr zahlveichen Veröffentlihungen im 
vorigen Abſchnitt Tennen lernen. Aber außer diefen gebrudten 
Werlen hinterließ Franciscus Junius einen fehr umfangreihen hand⸗ 
igriftlichen Nachlaß. Diefer Nachlaß, den er der Bodley'ſchen Biblio» 
thel in Orford vermachte, enthält unter Anderem in einer anfehn- 
lichen Reihe von Bänden die Wörterbücher, die ſich Franciscus 
Junius zu etymologiſchen Zweden aus verſchiedenen germaniſchen 
Sprachen anlegte. Andere Convolute dieſes Nachlaſſes geben um⸗ 
fangreiche Zufäge und Verbeſſerungen zu ben von Junius ver⸗ 
öffentlichten Schriften, fo zum Caedmon und zum Willeram. Wieder 
andere enthalten vollftändige Werke des Junius, an denen er viele 
Jahre feines Lebens gearbeitet hat, ohne fi doch völlig genug zu 
tum, und die er deshalb ungebrudt, aber brudveif Hinterlaffen hat. 
So verzeichnet der Katalog, den Graevius 2) als Anhang zum 
Leben des Junius über deffen handſchriftlichen, auf der Bodley'ſchen 
Bibliothek aufbewahrten Nachlaß gibt: „Tatiani Monotessaron cum 


1) Bayle, Dictionnaire, s. v. Junius, aus Athenae Oxonienses. — 
2) Bor der Ausg. ber Schrift bes Junius De pietura veterum, Roterod. 
169. 


122 Zweites Buch. Erfies Kapitel, 


praefatione Victoris Episcopi Capuse, cum annotationibus 
amplissimis Junii, in quibus comparantur cum Francisca 
Gothica et Anglosaxoniga ;“ und außerdem „Auctarium nota- 
rum in Tatianum, justum volumen in 4.“ Auf diefe Anmer- 
kungen zur althochdeutſchen, gothifhen und angelfähfiigen Evan- 
gelienüberfegung legte Junius ein befonderes Gewicht. Schon zwölf 
Jahr vor feinem Tod war er im Begriff, fie in Drud zu geben. 
Unter den Echriften, die er in der Vorrede zu feinem Gothicum 
Glossarium (Dordrechti 1665) als darin öfters citierte verzeich⸗ 
net, führt er fie mit den Worten auf: „Tatiani harmonis evan- 
gelica Latino - Francica cum nostris ad eam Annotatis, Deo 
vitam viresque largiente, propediem praelo subjicietur.* Er 
aitiert fie dann im Verlauf des Werkes fo, als lägen fie dem 
Publicum bereit vor. Außerdem finden fih im Nachlaß des Ju⸗ 
nius eine Menge von Abfchriften angelfächfiicher, althochdeutſcher, frie⸗ 
ſiſcher Sprachquellen, die er zum Theil mit der beftimmten Abſicht 
der Herausgabe genommen hatte. So heißt es 3. ®. in dem an- 
geführten Verzeichniß des Graevius: „Otfridi Euangeliorum 
liber, nitidissime scriptus cum indice Capitulorum a Junio 
parante novam editionem.“ Endlich umfaßt das Bermädtniß 
eine Anzahl gebrudter Werke mit zahlteihen handſchriftlichen Be⸗ 
merkungen des Junius, fo die Historia ecclesiastica des Beda, 
Chaucer's Dichtungen und Anderes. Diefer handſchriftliche Nachlaß 
des Junius ift num nicht bloß für feine nächſten Nachfolger und 
Schüler, fondern weit über beren Leben Binaus, ja bis in bie 
neufte Zeit Hinein eine Zundgrube der Belehrung gewefen. George 
Hides, der Verfafier des großen Thesaurus linguarum veterum 
septentrionalium, ſchöpfte vorzugsweife aus den Handſchriften des 
Junius. Chriftoph Ramlinfon gab die angelſächſiſche Ueberfegung 
von Boethius Consolationes philosophise im Jahr 1698 nad) 
der Abfchrift des Junius zu Orford Heraus. Die Sammlung 
althochdeutſcher und niederdeutſcher Gloffen, die Junius ſich ange 
legt hatte, fand im Jahr 1787 an Nyerup zu Kopenhagen einen 
Herausgeber. Ja noch nad) der Gründung ber neueren beutfchen 
Sprachforſchung duch Jacob Grimm blieben die Papiere bes 


Die germ. BHil. in ben Niederl., in Engl.u. in Sfandinavien v. 1665 5.1748. 128 


Junius nach manden Seiten hin von großem Werth für bie 
Wiſſenſchaft. Jacob Grimm ſelbſt gab im Jahr 1830 nad der 
Anftrift des Junius die althochdeutſche Ueberfetzung der 26 Iatei- 
niſhen Kirchenhymnen heraus und begleitete fie mit einem Vor⸗ 
wort, das der Leiftungen des Junius mit hohem Lobe gedentt 1). 
Bon dem größten Einfluß aber unter den Arbeiten, die aus dem 
Rachlaß des Junius veröffentlicht worden find, war das etymolo- 
giſhe Wörterbuch der englifchen Sprache, das Edward Lye im J. 1748 
zu Orford herausgab?). Eye hat die von ihm hinzugefügten Vermehr- 
ungen in Klammern eingefchloffen und ung fo ein Urtheil über die Ar» 
beit des Junius möglich gemacht. Junius geht in diefem Werk die 
BVörter der englifhen Sprache, ſowohl die von angelſächſiſchem, als 
die von franzöfifhem oder anbermeitigem Urfprung, der alphabe- 
tiſchen Meihenfolge nad} durch und bemerkt bei jedem, was er über 
defien Etymologie zu fagen weiß. Bis auf ben neuen großartigen 
Aufſchwung der germaniſchen Sprachforſchung blieb dies Wert bes 
Junius die hauptſächlichſte Fundgrube für die Etymologie der ger⸗ 
maniſchen Spraden. 

Sehen wir fo die Arbeiten des Franciscus Junius ben um- 
feffendften Einfluß auf die Entwidlung der Wiſſenſchaft üben, fo 
bleibt und noch die Frage nad dem wiſſenſchaftlichen Werth biefer 
Arbeiten zu beantworten. Wenn irgendwo, fo tritt uns bier bie 
Forderung nahe, die Leiftungen unferer Vorgänger nicht ungerechter 
Weiſe Herabzufegen, indem wir den Maßftab der fortgefährittenen 
Wiſſenſchaft an fie legen und fie mit dieſem gemefjen für fehr 
ungenügend erfläven. Vielmehr haben wir fie mit den Leiftungen 
ihrer eigenen Zeit zu vergleichen und zu prüfen, welden Fortſchritt 
und Zuwachs der Wiſſenſchaft fie ihren Vorgängern gegenüber 


1) Bgt. über die Einwitkung des Junius auf den Gang der Wiſſenſchaft 
I Grimm in der oben angeführten Einleitung zu den Hymnen und in der 
Erfen Ausgabe bes Erſten Bandes der Grammalit ©. LXXIII u. LXI. — 
% Francisei Juni Francisci filii Etymologicum Anglicanum. Ex 
autographo descripeit et acoessionibus permultis auctum edidit Ed- 
wardus Lye. Oxonii 1748, fol. 


124 Zweites Bud. Erfies Kapitel. 


bieten. Nach diefer allein zuläffigen Weiſe der geſchichtlichen Beur⸗ 
theilung werben wir nicht anftehen, die Bewunderung zu theilen, 
die der größte Meifter unferes Faces, Jacob Grimm, den Arbei- 
ten des Junius zollt 1). Was zuerft die Behandlung ber altger- 
maniſchen Texte betrifft, durch deren Herausgabe Junius die Wiffen- 
f&aft bereichert Kat, fo lam es vor allem darauf an, die Hand 
ſchriften möglichft treu durch den Drud zu vervielfältigen und fie 
fo den Forſchern aller Länder zugänglih zu machen. Konnten 
num auch in biefer Beziehung die Ausgaben des Junius noch nicht 
den Forderungen genügen, bie man jegt mit Recht ftellt, jo wird 
man doch den Fleiß und die Ausdauer des Junius weit mehr be 
wundern, als daß man ihn wegen ber allerdings großen und viel 
fültigen Mängel feiner Texte herabfegen wird. Denn zum richtigen 
Leſen der Handfäriften, zumal wo diejelben verblihen ober ver 
dorben find, gehört eine genaue grammatiſche und lexikaliſche Kennt- 
niß ihrer Sprade. Cine ſolche aber konnte Junius noch nicht 
befigen, vielmehr hat er fie durch feine Arbeiten erft anbahnen 
helfen. Bedenken wir, daß er im Angeljäcfiigen nur wenige, im 
Gothiſchen eigentlich gar feinen Vorgänger hatte. Seine Ausgabe 
des Eaebmon, obwohl nicht frei von mannigfachen Meißgriffen, 
gewährt doch einen ziemlich richtigen Tert 2). Weit mehr Schwie 
rigkeiten bot ihm der gothile Codex argenteus. Wo deſſen 
Blätter gut erhalten find, gibt er fie mit ziemlicher Treue wieder. 
Wo dagegen die Züge der alten Handſchrift gelitten Haben, da ift 
fein Text voll von Mißgriffen, und es zeigt ſich da recht, daß mar, 
um richtig zu leſen, fon wilfen muß, was den Gejegen ber 
Sprade nad daftehen Tann. Man vergleihe z. B. das ſechſte 


1) In ber angeführten Einleitung zu den XXVI Hymn. — 2) Das 
Arenge Urtheil Thorpe's in ber Vorrede zu feiner Ausgabe des Caedmon 
(London 1832, p. XIII) ift berechtigt vom Etanbpunft eines neuen Her 
ausgebers, ber fich gegen das Vorurtheil ſichern muß, als habe ber alte Her 
auögeber bereits Alles geleiftet. Es fieht beshalb mit der obigen Charalieris 
MIR, welche bie Arbeit des Junius im Zuſammenhang mit ben Borbebingum 
gen feines Jahrhunderts faßt, nicht im Widerſpruch. 


Die ger. Phil. in den Niedetl., in Engl. u. In Stanbinavien v. 1865 6.1748. 125 


Kapitel des Evangeliums Matthaei mit Lucas 8, 33 fg. Das 
erftere, defien Schriftzüge im Codex argenteus gut erhalten find, 
gibt Junius mit einer nur mäßigen Anzahl von Fehlern. Das 
gegen ift die angeführte Partie des Lucas, bei welcher die Hand- 
fhrift ſehr gelitten hat, bei Junius durch eine Unmaſſe von Un- 
richtigleiten entſtellt. Wir können hier recht deutlich ſehen, welchen 
Gang die Wiſſenſchaft nimmt. Erſt müſſen ihr die Quellen der 
Sprache überhaupt zugänglich gemacht werden. Dann entwickelt 
fe ans den Maren und ſicheren Theilen die Geſetze der Sprache, 
amd darauf dringt fie mit gefhärftem Blick aud in bie erloſchneren 
und verftümmelten Theile der Handiäriften ein. 

Wie es nun ein unvergänglices Verdienſt des Junius ift, 
der germanischen Sprachforſchung neue Quellen von unſchätzbarem 
Werth eröffnet zu Haben, fo ift es andrerſeits faft zu verwundern, 
wie wenig ex troß feiner ausgebreiteten Gelehrfamleit in den gram⸗ 
matifhen Bau der germanifchen Sprachen eingedrungen ift. Na- 
türlich richtet er, gründlich geſchult in den beiden Maffifhen Spra- 
den, fein Augenmerf auch auf die Grammaticalien des Gothiſchen, 
Angelfähfifcgen, Althochdeutſchen u. |. w., und «8 fehlt nicht an 
einer Reihe rihtiger Beobachtungen, die er in feinen Anmerkungen 
zum Wilferam, in feiner Ausgabe der gothiſchen Evangelien und 
dem dazu gehörigen gothiſchen Gloffarium niederlegt. Aber zu 
dem Gedanten, daß die grammatiihen Beugungen der altgerina- 
niſchen Sprachen einem feiten Gefe folgen, und daß man vor 
allen Dingen dieſem Gefeg auf die Spur kommen muß, wenn an 
eine fihere Auslegung der Sprachdenkmäler gedacht werden foll, 
iſt er nicht vorgedrungen. Ober wenn er ihm einmal aufgetaucht 
iſt, fo war er wenigftens weit davon entfernt, ihn zur Ausführung 
zu bringen. Dies beweifen unzählige Stellen nit nur feiner 
Zertausgaben, fondern auch feiner ſprachlichen Bemerkungen 1). 


1) Bsl. 3. 8. kun in Junius Alphabetum Gothicum p. 5, und im 
Gloss, Goth. p. 223. — hvait, Alph. Goth. p. 8 und Gloss. Goth. 
p 274. — vik (zu in vikon Luc. 1, 8) im Gloss. Goth. s. v. — Die 
Bermifäung von gateihen u, gatinhan im Gloss. Goth. p. 125, u. ſ. f- 


126 Zweites Bud. Erſtes Kapitel. 


Weit mehr als auf die Grammatik ift das Augenmer? des Junius 
auf die Sammlung und etymologiihe Erklärung des Wortſchatzes 
der alten germanifchen Sprachen geriätet. Hier müffen wir vor 
allem feinen unermüblihen, eifernen Fleiß und feine umfaflende 
Gelehrfamteit bewundern; an vielen Stellen aber erfreuen wir und 
auch an dem Scharffinn und ber Feinheit feiner Combinationen. 
Schon in den 1655 herausgegebenen Observationes zum Wille 
ram ift es vorzugsweife die lexilaliſche Seite der Sprache, die Ju- 
nius beſchäftigt. In größerem Umfang und mit erweitertem Ges 
fihtsfreis fegt er dann fpäter feine Bemühungen im Glossarium 
Gothicum und im Etymologicum Anglicanum fort. Und allen 
dieſen Arbeiten liegen die großen Iegifaliiden Sammlungen zu 
Grunde, die er für die verſchiedenen altgermanifchen Sprachen bis 
in's höchſte Greifenalter zu vervolfftändigen fortfuhr. Er hat die 
angelſächſiſchen Sprachdenkmäler in weiten Umfang durchgearbeitet, 
ebenſo einen Theil der althochdeutſchen. Das Friefiihe kennt er 
aus erfter Hand. Für das Altnorbifhe, das ihm noch wenig zu 
gänglich ift, benugt er die Schriften des Olaus Wormius 1), des 
Arngrimus Jonas, des Stephanius 2). Dazu fommt dann auf 
in weiterem Umfang das Gothifhe, feit ihm der Codex argen- 
teus dur ein günftiges Geſchick zugeführt worden ift. Diele 
älteften germanifgen Sprachen aber find ihm mit denen der Ge 
genwart vermittelt durch die Denkmäler des ſpäteren Mittelalters. 
Namentlich auf dem Gebiet des Engliſchen verfolgt er diefen Meg. 
In feinem Etymologicum Anglicanum benugt und erklärt er 
die älteren engliſchen und ſchottiſch⸗engliſchen Schriften: den Chau- 
cer, Gawin Douglas Ueberfegung von Virgils Aeneide und An- 
deres. Er begnügt ſich aber nicht damit, die germaniſchen Spra- 
Ken unter fi zu vergleichen, fondern fein Hauptaugenmerk hat er, 
wie fon Viele feiner Vorgänger, darauf gerichtet, die germani- 
schen Wörter etymologiſch mit den griechiſchen und lateiniſchen in 


1) ©. das Alphabetum Runicum vor dem Glossarium Gothicum 
des Junius p. 17. — 2) ©. die Widmung der Observationes zum Wil- 
leram Bl. 3. 


Diegerm. Phil. in ben Nieberl., in Engl.u. in Sfanbinavien v. 16656.1748. 127 


Verbindung zu bringen. Auch das Hebräiſche zieht er herbei, und 
die leltiſchen Sprachen find ihm nicht unbekannt. Natürlich ift das 
Eigmologifieren des Junius großentheils noch ein blindes Taften. 
Der müßte den damaligen Zuſtand ber vergleihenden Sprach⸗ 
wilfenfhaft wenig Tennen, der etwas Anderes bei Junius erwar⸗ 
tete. So mande feiner Etymologien nöthigt uns jegt ein Lächeln 
ab. Dennod aber fehen wir ihn an mehr als einer Stelle feiner 
Schriften nicht nur im Einzelnen, fondern aud in den Grund» 
fipen feines Verfahrens auf dem richtigen Wege. Eins ber merk⸗ 
mwärbigften Beiſpiele der Art findet fi im Etymologicum Angli- 
canum unter dem Wort „Lean (inniti, ineumbere, recumbere).“ 
Dies bringt nämlich Junius dur Vermittlung des angelſächſiſchen 
„hlinan, hleonon“ in Verbindung mit xAlvemw, Clinare, decli- 
nare, inclinare, reclinare, und dann fährt er fort: „Initiale vero 
x saepissime transire in aspiratam, evincunt baenep a xav- 
vaßı,, Cannabis. healm a x&Aa sog, Calamus, culmus. hydan a wev- 
9er, Äbscondere, oocultare. hlidan, gehlidan a x2esdodr, Clau- 
dere elavi. hlud a xAusos, Vocalis, argutus. hund a xuuidıon, 
Catellus. hora a xögvia, Giravedo, pituita. Goth. hliftus 1) a 
slönegg, Fur. hramjan a xgsuä», Crucifigere. ete.“ 2) Man 
fieht, hier iſt ein Stück von den Analogien des Lautwandels ge- 
funden, welde die Grundlage von Grimm’s Geſetz der Laut 
verihiebung bilden. So ehrenvoll aber auch ſolche Blide für 
den Scharffinn und richtigen Takt des Junius find, fo würde man 
fich dod irren, wenn man glaubte, die Etymologie desjelben werde 
bereits durch derartige gefunde Grundjäge beherrſcht. Im Ganzen 
fteßt fie vielmehr, wie die feiner Beitgenoffen, auf dem Standpunkt 
des willfürlichen Rathens. Aus unzähligen Beifpielen greife ich 
das Wort Hahn heraus, das Yunius von dem griechiſchen Ave 
ableitet, wobei er die Wahl Täßt, ob man dva als Vocativ von 
vos oder als Apofope von dvdora (surge) nehmen will 9). 





1) Durch einen Drudjehler fieht haiftus. — 2) Bgl. auch das Gothi- 
cum glossarium des Junius, Dordrecht 1665, p. 182. 190. 201. 236. — 
3) ©. den beiteffenden Artifel im Glossarium Gothieum und im Etymo- 


128 Zweites Bud. Erſtes Kapitel. 


Sole Proben, die keineswegs nur vereinzelte Mißgriffe find, be⸗ 
weifen uns, daß aud die Etymologie des Junius noch fehr in ben 
Anfängen ftand. Aber gerade darin zeigt ſich Junius als wahr⸗ 
haft großer Forſcher, daß er troß der eminenten Ueberlegenheit, 
die er in feinem Fache über alle feine Zeitgenofien bejaß, jehr wohl 
weiß, daß feine Arbeiten nur Anfänge und Verſuche find. An 
mehr als einer Stelle feiner Schriften ſpricht er Dies mit liebens- 
würdiger Beideidenheit aus. So ſchließt er in feinem Etymolo- 
gieum Anglicanum ben für feine Zeit treffli—hen Artifel Ambas- 
sadour mit den Worten: Caeterum in hac mea qualicunque 
conjectura quemadmodum et in reliquis id genus oonatibus, 
non est quod quemquam praejudicio meo velim adstringi, 
quum libera hominum judicia mihi magis exspectanda, immo 
expetenda esse videantur. 

Faſſen wir zum Schluß noch einmal zufammen, worin die 
epochemachende Bebeutung des Franciscus Junius für bie Ent- 
wicllung der germaniſchen Spradiftubien beftand. Es war nicht 
nur die überlegene Gelehrſamkeit in den einzelnen altgermanifchen 
Spraden, die dem Junius diefe Bedeutung gab, fondern es war 
noch mehr der Umftand, daß er zuerft die verſchiedenen Zweige der 
germaniſchen Studien, die bis dahin nad den einzelnen Ländern 
getrennt getrieben worden waren, in fi) vereinigte. Er felbft Hat 
von diefer feiner Stellung ein Hares Bemußtfein. In der Wid- 
mung feiner Obfervationen zum Willeram fpricht er fi darüber 
aus. Gelehrte Männer in Skandinavien Hätten fi um das Nor 
diſche, Engländer um das Angelſächſiſche, Deutſche um das Frän- 
kiſche große DVerdienfte erworben. Mehrere unter ihnen hätten 
ſehr wohl eingefehen, melde Vortheile eine Vergleihung dieſer 
Sprachen bieten werde. Aber fie hätten es mehr bei dem Wunſch 
bewenden laſſen, daß einmal einer kommen möchte, der jene drei 
Sprachen in Verbindung brädte, als daß fie felbft Hand an's 
Wert gelegt Hätten. Sein Wille und feine Meinung aber, fügt er 


logieum Anglicanum des Junius. Das richtige Eiymon von Hahn hat 
ſich im fat, canere erhalten. Der Hahn ift urfprüngli der Ginger. 


Die germ. Phil. in ben Niederl., in Engl. u. in Sfanbinavienv. 1665 5.1748. 129 


beſheiden Hinzu, feien immer die gewejen, daß lieber einer von 
denen, die gefchikt dazu feien, dies unternehmen möchte, als er, 
über Tieber er als gar Niemand '). Nichts Fam ihm in diefem 
Streben fo zu ftatten, wie die Entdecung der gothifchen Sprach- 
tfte. Schon die Meine Probe bei Bonaventura Dulcanius hatte 
ihn zu der Ueberzeugung geführt, daß das Gothiſche eben ſo weit 
hinter dem Angelſächſiſchen zurückliege, wie dies hinter dem älteſten 
Hoqhdeutſchen. Er glaubte im Gothiſchen die Quelle der altgerma- 
niſchen Sprachen zu erkennen; das Gothiſche aber ſchien ihm glei- 
den Urjprungs mit dem Griechiſchen, da es fi nur durch den 
Dialelt vom Altgriechiſchen unteriheide 2). Aber erſt die Wieder- 
affindung und Herausgabe des Codex argenteus durch Francis- 
as Junius führte das Gothiſche wirklich in den Kreis ber germa- 
niſchen Eprachforſchung ein, und erſt dadurch erhielt dieſelbe ihren 
Zuſammenhang und ihre tiefere Grundlage. 


2. George Hides. Das Leben bes George Hides. 


Die von Francidcus Yunius begonnene Arbeit führte in mehr 
als einer Beziehung der Engländer George Hides?) weiter. 
Geboren am 20. Juni 1642 in Porkhire, bezog George Hides im 
Jaht 1659 Die Univerfität Orford, wo er fih dem Studium der 
Theologie widmete. Im Jahr 1666 wurde er zum anglicaniſchen 
Briefter ordiniert. In den Jahren 1673 und 74 bereifte er als 
Begleiter Sir George Wheeler’s Frankreich. Nah England zurüd- 
gelehrt erhielt er im Jahr 1676 die Stelle eines Capellans bei 
dem Herzog von Lauderdale. Im Jahr 1679 machte ihn die Uni- 
verfität Opford zum Doctor der Theologie, und im Jahr 1683 
ernannte ihn König Karl II. zum Dedant von Worceſter. Bei 


1) Observationes in Willerami Paraphrasin, 8.3. — 2) S. 
bie Widmung von Junius Ausgabe der golhifgen Evangelien an den Canzler 
de la Gardie. — 3) Ueber Hides' Leben ſ. Chalmers, General biogra- 
Phical Dietionary, Vol. XVII, Lond, 1814, p. 450 fg. — Biogr. Brit. 
Vol. VII, Buppl. 

Raumer, Geht. der germ. Philologie. 9 


130 Zweites Bud. Erfied Kapitel. 


der Staatsummälzung des Jahres 1688, melde Jakob dem Zwei⸗ 
ten den Thron koſtete, hielt Hides mit einem Theil der anglicani- 
ſchen Geiftlileit an dem Recht des vertriebenen Monarchen feit 
und weigerte fi, König Wilhelm dem Dritten und der Königin 
Marie den EB der Treue zu leiſten. Er verlor darüber feine 
geiftligen Pfründen, im Jahr 1689 wurde er fuspenbiert und im 
darauf folgenden Jahr abgeſetzt. Er ließ ſich jedoch dabur in 
feiner Gefinnung nicht irre machen. Vielmehr unternahm er im 
Jahr 1693 eine Reife nach Frankreich, ſuchte den abgeſetzten Künig 
Jakob II. in St. Germain auf ımd brachte deffen Zuftimmung zu 
dem Plan mit, die Succeffion des anglicanifchen Epijfopats ba- 
dur zu erhalten, daß man eidweigernde Geiftliche zu Biſchöfen 
weihte. Hides felöft wurde zum Suffragan - Biihof von Thet- 
ford geweiht und übernahm fo eine Rolle bei dem unglüdlidhen 
Verſuch, der großen Maſſe der anglicanifgen Kirche, die fi den 
neuen Staatszuftänden fügte, eine vermeintlich allein berechtigte 
Kirche gegenüberzuftellen. Hickes betheiligte fih an dieſen kirch- 
lien Kämpfen mit dem Eifer des entſchiedenſten Parteimanns. 
Aber fo beſchränkt ung fein ſtarres Sefthalten an einer verfomme 
nen Dynaſtie erigeinen mag, er handelte nicht aus unlauteren Be 
weggründen, fondern aus Ueberzeugung 1). 

Wir mußten hier mit einigen Worten biefer kirchlich⸗religiöſen 
Seite von Hides’ Leben gebenten, theils weil fie mit feinen angel- 
ſächſiſchen Studien nicht außer Zufammenhang fteht, theils weil fie 
ung erflärt, durch welde ihm felbft Höher ftehende Beichäftigungen 
Hides verhindert wurde, feinen Leiftungen auf altgermaniſchem Ge 
biet eine größere Vollendung zu geben. Einerſeits nämlich ift es 
aud bei Hides noch das Beſtreben, in die Zuſtände der alten 
angelſächſiſchen Kirche einzubringen, was ihm das Studium ber 
angelſächſiſchen Sprache und Literatur beſonders werthvoll macht, 
und andrerſeits Tann er ſich feinem Lieblingsſtudium doch nur mit 


1) Bal. Macaulay, The History of England, Vol. V., Leipsig 
1855, p. 124. 


Die germ. Phil. in ben Niebert., in Engl. u. in Sfanbinavien v. 1665 5.1748. 181 


großen Unterbrechungen wibmen, ba die theologifhe Parteifhrift- 
ftelerei einen bedeutenden Theil feiner Zeit und feiner Kräfte in 
Anfpruh nimmt. Seiner Neigung zum Studium der altgermani- 
fen Sprachen boten die Verhältniffe von früh an reihe Ge- 
legenheit. Seine jüngeren Jahre fallen zuſammen mit den legten 
fünfmdbreißig Lebensjahren des Franciscus Junius, und wir haben 
geiehen, in wie naher Beziehung diefer ausgezeichnete Gelehrte zur 
Univerfität Oxford ftand, auf welcher Hides feine Studien machte. 
Seinem Beifpiel eifert Hickes vor allen nad. Die Art, wie Ju- 
mins das Studium fämmtlicher altgermanifchen Spraden mit ein- 
ander verband, dient ihm zum Vorbild. Thomas Marefhall, der 
gelehrte Freund und Mitarbeiter des Junius, ftand nicht nur durch 
feine altgermanifhen Studien, fondern auch durch feine kirchlich⸗ 
politiſche Geſinnung in naher Beziehung zu Hickes. Den legten 
Theil feines Lebens verbrachte Hides zu London. Hier ift er am 
15. December 1715 nad mehrjährigen ſchweren Leiden geftorben. 


Die Leiftungen bes George Hides. 


Die Leiftungen des George Hides find niedergelegt in zwei 
Berken. Das erfte derſelben find die Institutiones grammaticae 
Anglo-Saxonicae et Moeso-gothicae. Auctore Georgio Hickesio, 
Ecclesiae Anglicanae Presbytero. — Oxoniae, e Theatro 
Sheldonieno, 1689. Typis Junianis. Das zweite ift der 
große Linguarum Vett. Septentrionalium Thesaurus gramma- 
tieo-critieus et archaeologieus. Auctore Georgio Hickesio. 
Oxoniae. E Theatro Sheldoniano; An. Dom. 1705. Die 
Vändezahl des Werts laßt fid eigentlich nicht bezeichnen. Das 
Werk beftcht nämlich aus einer Anzahl von Abhandlungen mit 
immer von neuem beginmender Paginierung und findet ſich deshalb 
Kalb in zwei, bald in drei Bände gebunden. Den Anfang macht 
ine Dedication an den Prinzen Georg von Dänemark, den Ge 
mahl der Königin Anna von Großbritannien. Darauf folgt eine 
ausführliche Praefatio bes ganzen Werks, worin der Derfafler 
über fein Unternehmen Rechenſchaft gibt. Die dann folgende 

9. 


132 Zweited Buch. Erftes Kapitel. 


Pars prima de3 Thesaurus mit befonberem Titel und ber Jahr- 
zahl 1708 bilden die Institutiones Grammaticae Anglo -Saxo- 
nieae et Moeso -Gothicae von Hides.- Die Pars secunda , mit 
befonderem Titel und der Jahrzahl 1703, find die Institutiones 
Grammaticae Franco-Theotiscae von Hides. Die Pars tertia, 
ebenfalls 1708, Bilden die Grammaticae Islandicae Rudimenta 
per Runolphum Jonam Islandum, cum Georgi Hickesii ad- 
ditamentis aucta et illustrata. Dann folgt, mit der Jahrzahl 
1703, Georgii Hickesii de antiquae litteraturae septentrio- 
- nalis utilitate, sive de Linguarum Veterum Septentrionalium 
Usu Dissertatio epistolaris, ad Bartholomaeum Showere etc. 
Hierauf: Numismate Anglo-Saxonica et Anglo-Danica bre- 
viter illustratae ab Andrea Fountaine, Eq. Aur. et Aedis 
Christi Oxon. Alumno. 1705. Am Schluß diefer Schrift finden 
fi die Worte: Voluminis Primi Finis. Auf dies Volumen 
primum folgt dann: Antiquae Literaturae Septentrionalis 
Liber Alter. SßSeu Humphredi Wanleii Librorum Vett. 
Septentrionalium, qui in Angliae Bibliothecis extant, nec 
non multorum Vett. Codd. Septentrionalium alibi extantium 
Catalogus Historico-Criticus, cum totius Thesauri Linguarum 
Septentrionalium sex Indieibus. 1705. Das ganze Wert ift 
nit nur ſehr fplendid gebrudt, fondern aud mit einer großen 
Menge von Kupfertafeln ausgeftattet, auf denen Proben von Hand- 
ſchriften, Münzen u. f. w. abgebildet werden. Ich mußte den Sn: 
halt des Werkes etwas genauer angeben, weil dadurch zugleich 
feine Entſtehung und feine Beſchaffenheit darakterifiert wird. Es 
ift nicht das Erzeugniß ununterbrodener, ftreng zufammenhängen- 
der Arbeit eines Einzelnen; fondern e8 find allmählich entftandene und 
dann zu Einem Ganzen zuſammengeſchobene Arbeiten Verſchiedener. 
Und aud) die Theile, die von Hides feldft herrühren, tragen das 
Gepräge der Mühfeligfeiten und Hinderniffe, unter denen fie ent- 
ftanden find. Hickes nämlich war damals, als er fein großes Le 
benswert: ben Thesaurus linguarum veterum septentriona- 
lium, unternahm, nicht mehr der glülihe Inhaber reicher Pfrün« 
den, wie früher, fondern, um feiner Eidweigerung willen abgejegt, 


Die germ. Phil. in ben Nieberl., in@ngl. u. in Skandinavien v. 1665 b. 1748. 133 


Iehte er in ſehr beſcheidenen Verhältniſſen ). Er war deshalb bei 
der loſtſpieligen Herausgabe feines Werts auf bie Unterftügungen 
md Subferiptionen Anderer angewiefen. Diefe wurden ihm zwar 
in unerwartet reichlicher Weife zu Theil, aber dennoch hatte er viele 
fmanzielle und technifhe Schwierigkeiten zu überwinden. So ver- 
zogerte ſich die Vollendung des Werts eine längere Reihe von 
Jahren. Gin befonderes Glück für Hides war, daß er in Edward 
Ihwaites und Humphred Wanley tüdtige Mitarbeiter fand. 
Der Exftere übernahm eine forgfältige Durchſicht ſowohl der Hand⸗ 
förift, ald des Drudes und der dazu gehörigen Kupferplatten; und 
Humphred Wanley bereifte die engliſchen Bibliotheken, um deren 
angelſächſiſche Handſchriften in dem Catalogus zu verzeihnen, der 
als letzter Theil von Hickes Thefaurus ein Heute noch unentbehr⸗ 
lies literariſches Hülfsmittel bildet. Unter ben Beftanbtheilen 
die von Hickes ſelbſt herrühren, trug bie Dissertatio epistolaris 
de Inguarum veterum septentrionalium usu nicht wenig zur 
Ausbreitung der angelfächfiichen Stubien bei, indem fie in eindring- 
lichſter Weife und durch zahlreiche Veifpiele den Werth darthat, ven 
die Kenntniß der altgermanifchen Sprachen, und insbefonbere bes 
Angelſächſiſchen für den Alterthumsforſcher, ben Juriften und ben 
Theologen hat. Für die Entwidlung der Wiſſenſchaft aber waren 
die Grammatilen bes Gothiſchen, Angelſächſiſchen und Altdeutſchen, 
die Hides ſchrieb, von beſonderer Wichtigkeit. 

Hides iſt nämlich der erſte, der eine Grammatik altgermani⸗ 
ſcher Sprachen nicht nur geſchrieben, ſondern auch veröffentlicht hat. 
Denn die ſchon früher (1651) veröffentlichten Grammaticae Is- 
landicae Rudimenta des Isländers Runolphus Jonas jind eine 
Grammatik des damaligen Isländiſchen und gehören alfo nicht Hie- 
ber 9. Bon der handſchriftlichen angelſächſiſchen Gramatik des 
Johannes Jocelin hatte ſich nur ein doppelter alphabetiſcher Inder 


1) Bgl. über das Folgende J. Petheram, Anglo-Saxon Literature 
in England p. 78 fg. — 2) ©. o. ©. 104. Ob aud ber Schwede or 
hannes Bureus Bier zu nennen ifl, vermag ich nicht zu entſcheiden. (S. o. 
6.108), 


14 Zweites Bud, Grfies Kapitel. 


erhalten ); und Thomas Mareihall, der trefflihe Freund und 
Mitarbeiter des Franciscus Yunius, Hatte zwar die Asficht, das 
fünfſprachige Lexikon des Franciscus Junius herauszugeben und 
ihm eine angelſächſiſche und gothiſche Grammatik vorauszufgiden, 
er hat jedod feine Abficht nicht zur Ausführung gebracht ?). Hides 
ſah fi deshalb, als er im Jahr 1689 feine Institutiones Gram- 
maticae Anglo-Saxonicae herausgab, fait ganz auf feine eigenen 
Kräfte angewiefen. Nur vereinzelte grammatiſche Bemerkungen in 
Somner's Dictionarium und in Mareſchall's Observationes de 
versione Gothica und in versionem Anglo-Saxonicam fonnte 
er benugen 3). Ginen eigentlichen Vorgänger hatte er nicht 3). 
Unter ſolchen Umftänden ift es einerjeits vom nicht geringem In ⸗ 
tereffe, zu ſehen, wie Hickes feine Sache angreift, und andrerjeits 
wird man bie allerdings zahlreichen Mißgriffe Billiger beurtheilen. 
In feiner erften Arbeit vom Jahr 1689 behandelt Hides bloß bas 
Gothiſche und das Angelfähfiihe und verbindet damit für das 
Nordiie die Rudimenta Grammaticae Islandicae des Runol-⸗ 
phus Jonas. Im Thefaurus gibt er dann feine frühere Behand- 
Hung des Gothiſchen und Angelſächſiſchen mannigfach bereichert, den 
Rımolphus Jonas mit Zuſätzen verfehen; und dieſem allen fügt er 
Institutiones Grammaticae Franco-Theotiscae bei, das heißt 
eine Grammatik des Althochdeutſchen und Altſächſiſchen, da Hides 
dieſe beiden Sprachen noch nicht unterſcheidet *). Wir faſſen in um 
ferer Eharafteriftit dieſe ſämmtlichen grammatiichen Arbeiten des 
Hides zujammen. Im Anſchluß an Junius hält Hides das Gothie 
fe für die Mutter der übrigen germanifhen Sprachen. Das 
Gothiſche Hat nach ihm drei Töchter, nämlich das Angelſächſiſche, 
Frankiſche (d. i. nad Grimm’s Bezeichnung das Althochdeutſche 


1) &. Wanley's Catalogus (in Hide” Thesaurus) p. 101. — 
2) Hickes, Institutiones Grammaticae Anglo-Saxonioae etc. Oxon. | 
1689, Praef. 81. 1. — Nur einige Blätter grammatiſchen Inhalts von 
Maref gas Hand finden fi auf ber Bodley'ſchen Bibliothek in Orford. ©. 
Wanley’s Catal. p. 102. — 3) Hickes, Institutiones 1689, Praef- | 
Bl. 8. — 4) Ugl. Hickes, Dissertatio epistolaris p. 122. 


Die germ. Phil. in den Nieberl., in Engl. u. in Sfandinavien v. 1665 5. 1478. 135 


und Altjãchſiſche) und Cimbrifhe (d. i. Altnordiſche). Vom Angel- 
ſãchſiſchen ftammt dann weiter das Belgiſche (Niederländifde), 
Friefiſche, Engliſche und Schottifge; vom Fränkiſchen das Deutſche; 
vom Eimbrifgen das Islandiſche, Norwegifhe, Schwediſche und 


Dänifche '). Wir wiffen jegt freilich, daß das Gothiſche nicht die 


Mutter aller diefer Sprachen iſt, aud leiten wir nicht das Nie- 
derländifde und Frieſiſche vom Angelſächſiſchen ab; aber trogdem 
wird man nicht Täugnen, daß Hides auf den Schultern des Ju⸗ 
nius ſchon eine ziemlich richtige Eintheilung der germanifden Sprach⸗ 
zweige gibt. Seltfamer Weife aber wird er fpäter an der richtigen 
Anfiht, daß wir im Codex argenteus, das Werk des Gothen Ulfilas 
befigen, wieder irre und möchte lieber „Teutonem aliquem 
Ulphilae sive aequalem, sive illo forsan superiorem“ als deſſen 
Verfaſſer annehmen ?). In Bezug auf fein Quellenmaterial ift 
Hices natürlich am beften verfehen für das Angelſächſiſche. Für das 
Gothiſche fteht ihm die Ausgabe des oder argenteus von Fran⸗ 
ciscus Yunius mit deſſen und Mareſchall's Bemerkungen und des 
Erfteren Glossarium Gothicum zu Gebote. Unrichtige Lefungen 
des Junius führen ihn öfters irre. Er macht zwar ben Verſuch, 
mit Hülfe feiner grammatiſchen Einſicht den gothiſchen Text des 
Junius zu berichtigen, und bisweilen gelingt ihm dies auch, aber 
oft ift das, was er am die Stelle des Junius'ſchen Textes fegen 
will, grammatiſch fehlerhaft 3), Für das „Fränkiſch-Deutſche“ 
fießen ihm bie bis dahin gebrudten althochdeutſchen Texte und die 
in Orford aufbewahrten Papiere des Franciscus Junius zu Ger 
bot. Er hebt unter feinen Quellen +) den Willeram, den Otfrib 
und Tatian's Evangelienharmonie hervor und außerdem den Coder 
Cottonianus des Heliand. 


1) Hickes, Institutiones, 1689, Praef. 8. 8. — 2) Hickes, 
Thessur. pars I, Oxon. 1703, Widmung an Pafinton Bf. 5b. — 3) Hickes, 
Gramm. Anglo-Sax. et Moeso-Goth. im Thesaurus p. 81. Qpfters aber 
helſen dem Hides feine grammatiſchen Kenntniffe zu richtigen Verbeſſerungen. 
€ wenn er Luc. 10, 1 ftatt antharana des Junius lieſt antharans, ober 
Lne.9, 48 (flatt in allan) in allaim, u. ſ. f. — 4) Hickes, Dissert, epistol. 
(im Thesanr.) p. 122. 


136 Zweites Bud. Erfies Kapitel, 


Unter den verſchiedenen Theilen ber Grammatik behandelt 
Hides die Lehre von den Flexionen mit befonderer Ausführlichkeit, 
während er bie übrigen Gegenftände nur kurz abthut. Erinnern 
wir und, wie es noch wenige “Jahre vor Hides, z. B. bei Schot- 
telins, mit ber Grammatik der altgermaniihen Spraden ftand, 
fo werden wir ſchon darin einen bedeutenden Fortſchritt erblicken, 
daß Hides erfannte, daß die altgermanifhen Spraden beftimmte, 
in ihren Bebeutungen unterſchiedene Zlerionen haben. „Die Nomina“, 
fagt er, „haben bei ben Angelfachfen verſchiedene Cafus, wie im 
Griechiſchen und Lateiniſchen 1)“. Auch ift ein großer Theil deilen, 
was er nun über die Flexionen der Declination und der Conjuga- 
tion zufammenftellt, richtig; und man kann ſich denken, welche be- 
beutende Hülfe dadurch dem Studium der altgermaniſchen Sprachen 
geboten wurbe, wenn man fi erinnert, daß man bis dahin noch 
gar fein derartiges grammatifches Hülfsmittel befefien hatte. Fragt 
man aber einerjeits nad der Auffafjung des ganzen Sprachbaus 
und andrerfeits nad der Richtigkeit im Einzelnen, fo kann man 
nicht läugnen, daß bei aller achtungswerthen Gelehrjamfeit des 
Hides doch dieſer erfte Verfuh noch ziemlich unvollkommen 
ausgefallen iſt. Was uns aber am meiſten wundernimmt, iſt fol⸗ 
gender Umſtand. Hides zeigt ſich überall auf das lebhafteſte er⸗ 
griffen von ber ihm entgegentretenden Aehnlichleit der verſchiedenen 
altgermanifden Spraden. „Wenn jemand“, fagt er, „bie nahe Ber- 
wandtſchaft, die zwiſchen dem Angelſächſiſchen und Möfogothifgen 
ftattfindet, bebenkt, fo kann es ihm nicht zweifelhaft fein, daß wie 
in jener, fo aud in diefer Sprade die Subftantiva durch ſechs 
Caſus und in verſchiedenen Flexionen abgebeugt werden ?).“ Aber 
nichts deftoweniger Tommt es Hides nicht in den Sinn, die Dedi- 
nationen und Conjugationen des Gothiſchen, Angelſächſiſchen, Alt 
hochdeutſchen und Altnordiſchen als ein zufammengehöriges Ganzes 
zu faffen und fie demgemäß in den verfchiedenen Sprachen gleid- 
mäßig zu behandeln. Vielmehr geht er im jeder feiner Grammar 


1) Hickes, Gramm. Anglo-Saxon. etc. im Thesaurus p. 10. — 
2) Hickes, Gramm. Anglo-Sax. ete. im Thesaur. p. 14. 


Die germ. Phil. in ben Nieberl., in Engl. u. in Stanbinavien v. 1665 6. 1748, 187 


tifen feinen beſonderen Weg 1). Ya das Seltfamfte ift, daß Hickes 
in einem befonderen Kapitel feiner angelſächſiſchen und möfogothi- 
fen Grammatik einen Anlauf nimmt zu einer im Einzelnen durch⸗ 
geführten Bergleijung der von ihm behandelten altgermaniſchen Spra- 
den, und daß er fi dann doch begnügt, die Aehnlichkeit an einer 
mößigen Anzahl einzelner Fälle nachzuweiſen, im Uebrigen aber 
die ganz ausenandergehende Auffafjung in feinen verſchiedenen 
Grammatiten beim Alten läßt. Und zwar ift ihm diefe Aehnlichteit 
Ion damals aufgefallen, als er feine im Jahr 1689 herausgege- 
benen Institutiones grammaticae Anglo-Saxonicae et Moeso- 
gothicae verfaßte. Dort trägt das Schlußlapitel die Ueberſchrift: 
‚Caput XVIH. In quo, institutis quibusdam parallelismis, 
lingua Anglosaxonica et Moeso-Gothiea cum Islandica, sive 
Scandia-Gothica conferuntur“ 2), und der Verfaffer erzählt ung 
dumm, daß er hier am Schluß, eben im Begriff fein Wert zu 
euben, zu feiner Freude bie isländiſche Grammatit des Runol⸗ 
phus Jonas erhalten habe. Er habe fie mit Begierde durch⸗ 
gelefen und viele köſtliche Aehnlichlkeiten des Angelſächſiſchen und 
MNöfo + Gothiſchen mit dem Cimbro - Gothifen gefunden, und 
er lönne nit umhin, dieſelben feinen Leſern ſchließlich noch 
vor Augen zu legen. — Jedermann wird erwarten, daß dieſe 
Eutdedung den durchgreifendſten Einfluß auf die vierzehn Jahre 
ſpãter (1703) erſchienenen Grammatiten des Hides gehakg haben 
werde. Aber darin fehen wir uns getäuſcht. Wielmehr finden 
wir dies ganze Kapitel mit feinem vor vierzehn Jahren zu— 
treffenden Eingang in ber angeljächfiichen Grammatit des Thefau- 
1u3 3) wieder abgebrudt. Wenn mun aud im Ganzen und im 
Einzelnen 4) Vieles auszufegen ift an dem Werk des Hides, fo 


1) Bel. 3. 8. die Declinationen des Angelfähfiigen in Hides’ Gramm. 
Anglo-Sax. eto. (Thesaur. p. 10 fg.) mit denen bes Gothifgen (ebend. 
p- 14 fg.), denen des Althochdeuiſchen (Gramm. Franco-Theotisca, im 
Thessur., p. 14 fg.) und benen des Jolandiſchen (Runolph. Jonas, im 
Thesaur. p. 9 fg). — 2) Hickes, Institutiones ete., Oxon. 1689, 
p. lo4. — 3) p. 82. — 4) 6o gibt Hides z. B. in feiner Aufflellung 
der gothiſchen Declinationen (Gramm. Anglo-Saxon. ete, im Thesaur. 


138 Zweites Bud. Erſtes Kapitel. 


nimmt dasſelbe doch eine fehr bedeutende Stelle in der Geſchichte 
der germaniſchen Philologie ein. Es Hat nicht mur in England 
dem Studium des Angelfähfifhen einen neuen Antrieb gegeben, 
fonbern den, wenn auch noch mangelhaften Anfang zur grammati- 
fen Behandlung der altgermanifhen Sprachen gemadt; und was 
eine Hauptſache war, e8 theilte eine Menge von Sprahproben mit, 
die für Tangehin den Forſchern alfer germaniſchen Länder ein werth- 
volles Material boten. Um nur Einiges anzufühten, fo finden 
wir hier außer vielen angelſächſiſchen Stücen mehrere von den in's 
Althochdeutſche überfegten Hymnen aus der Abſchrift des Junius 
zuerſt veröffentlicht 1) und desgleichen die erften Mitteilungen aus 
dem altſächſiſchen Heliand 2). 

Wir haben etwas ausführlicher über Hides berichtet, weil 
feine Arbeiten für lange Zeit zu den hauptfäcliciten Grundlagen 
der germaniſchen Studien gehören. In Bezug auf feine Zeitger 
noffen und nächſten Nachfolger müfjen wir uns mit einigen ge 
drängten Angaben begnügen. Das Studium des Angelſächſiſchen 
nahm gegen Ende des 17. und in ben erften Jahrzehnten bes 
18. Jahrhunderts in England einen fehr erfreulihen Aufſchwung, 
und insbefondere wurde dasfelbe zu Orforb mit Eifer betrieben. 
So wurde in jener Zeit einerfeits der angelſächſiſche Quellenvorrath 
durch erfte oder verbefferte Ausgaben angelſächſiſcher Schriften we- 
ſentlich vermehrt, andrerfeits das Stubium buch neue Hilfsmittel 
geförbert. In erfterer Beziehung erwähnen wir nur bie Heraus 
p. 14 fg.) himinans als Nomin. Plur. von himins (flatt himinde); ma- 
nagai als Nomin. Plur. von managei (flat manageins), u. dgl. m. Daß 
ihm der Grundbau ber germanifgen Sprachen verborgen blieb, erfieht man 
ſchon daraus, daß er jede berfelben anders behandelt. Daß es ihm aber nicht 
an grammatifem Sinn gebrach, zeigt z. ®. feine Darftelung des hochdeutſcheu 
Berbums (Gramm. Francotheot. im Thesaur. p. 71) trog all ihrer Män- 
gel. Ja in ber Gramm. Anglo-Saxon. (im Thesaur. p. 40) erfennt er 
vitan (seire) als ein >praeteritum, quod praesentis significationem 
habete, aber freilich als das »unicume, und wenige Zeilen vorher wider: 
fpricht ex ſich ſelbſt. — 1) Hickes, Gramm. Franco-Theotisca im Thesaur. 
p- 64. 100, 110. — 2) Ebend. p. 101-105. 





Die germ. Phil. in ben Rieberl., in Engl. u. in Sfanbinavien v. 1665 6. 1748. 139 


gabe des angelfächfifchen Heptateuchus nebft Hiob und dem Frage 
ment der Yudith duch Edward Thwaites (Oxford 1698) und 
des angelfächflj hen Boethius durh Chriftopb Ramlinfon 
(Orford 1698), fo wie die neuen verbefferten Ausgaben der angel- 
fühfiihen Gejege durch David Wilkins (London 1721) und des 
ongelfächfifhen Beda duch Joh. Smith (Cambridge 1722). 
Inter den neuen Hilfsmitteln zum Studium der altgermaniſchen 
Spraßen aber nennen wir Thomas Benfon’s Vocabularium 
Anglo-Saxonicum (London 1701) und Stephan Skinner's 
Etymologicon Linguae Anglicanae (London 1671). 


3. Lambert ten Kate. 


Unter den Gründern der germanifhen Sprachforſchung ift neben 
Ftanciscus Junius und George Hides als dritter zu nennen der 
Ibarffinnige holländiſche Gelehrte Lambert ten Kate. Er wurde 
geboren zu Amfterdam den 23. Januar 1674. Schon in früher 
Jugend fühlte er fi zum Studium feiner Mutterfprahe Hinge- 
zogen. Er beſchränkte ſich aber nicht auf deren Kreis, fondern ers 
lernte außer dem Lateinifchen und Griechiſchen aud das Englische, 
Franzöſiſche und Italieniſche. Neben der Spradforihung hegte er 
eine warme Liebe zu den bildenden Künften. Er ftand mit den 
Malern feines Vaterlands, insbefondere mit Jan van Huifum, 
dem berühmten Blumen» und Früchtemaler, in nahem Verkehr und 
erwarb fich einer geachteten Namen als Kunftfenner. Sein Leben 
floß ohne beſondere Ereigniffe ruhig dahin. Er blieb unverheirathet 
und lebte nad) feines Vaters Tod mit feiner Mutter in Amfter- 
dam. Unterrihtsftunden, bie er in ben angejehenfteri Häufern im 
Schreiben, Rechnen, Buchhalten und befonders in Geometrie und 
Algebra gab, ſicherten ihm nicht nur ben nöthigen Lebensunter⸗ 
halt, fondern verſchafften ihm auch die Mittel, ſich eine anfehnliche 
Sammlung von Büdern und Kunftwerfen zu erwerben. Er ftarb 
3 Amfterdam ben 14. December 1731. 

Unter Ten Kate's Schriften finden ſich aufer den linguiſtiſchen 
and) 'einige religiöfe; und eine äſthetiſche über das ideale Schöne 
der Maler, Bildhauer und Dichter ift im franzöſicher Meberfegung 


140 Zweites Bud. Erſtes Kapitel, 


dem Trait& de la Peinture et de la Sculpture von Richardſon, 
Anmfterdam 1728, vorausgeſchickt. Als Sprachforſcher gab er zuerſt 
ohne Nennung feines Namens eine Schrift heraus: Gemeenschap 
tussen de Gottische Spraeke en de Nederduytsche, Amster- 
dam 1710 (Berwandtfdaft der gothiſchen und niederländiſchen 
Sprache) 1). Ihr ließ er dreizehn Jahre fpäter fein großes Haupt 
wert folgen: Aenleiding tot de Kennisse van het verhevene 
Deel der Nederduitsche Sprake. 2 Bände, Amfterdam 1723. 
(Anleitung zur Kenntniß des höheren ?) Theils ber niederländiſchen 
Sprade). Außer feinen gebrudten Werten hinterließ Ten Kate 
vier geſchriebene Foliobände unebierter Schriften, die ſich auf ber 
Schulbibliothel zu Amfterdam befinden. Darunter Verhandeling 
over de klankkunde in twee deelen ?) (Abhandlung über bie 
Lautlehre in zwei Theilen). 

Ten Kate's Leiſtungen ruhen auf der Herausgabe ber gothi- 
ſchen Sprachquellen duch Franciscus Junius. Man ift ihm ewir 
gen Dant ſchuldig, fagt Ten Kate, dafür, daß er diefen älteften 
Ueberreit des Theutoniſchen Sprachſtamms herausgegeben hat *). 
Darüber aber, jagt er an einer anderen Stelle, darf man ſich nicht 
wundern, daß dieſer hochgelchrte Mann, der das gothifche Evan- 
gelium erft in feinem Greifenalter fand und auf jein &loffarium 
feine geringe Arbeit verwendet hat, feine Zeit mehr Hatte, um auf 
die gothiſche Grammatik zu erforihen 5). Die Unterſuchung des 
gothiſchen Sprachbaues und feines Verhältniffes zu dem der übri- 
gen germaniſchen Sprachen war es num vor allem, was Ten Rate 


1) Ueber Lambert ten Kate's Leben und Schriften f. den betreffenden 
Artifel in A. J. van der Aa, K. J. R. van Harderwijk en Dr. G. D. 
9. Schotel Biographisch Woordenboek der Nederlanden, Tiende Del, 
Haarlom 1862, p. 74 fg. — 2) Was Zen Kate unter verhevene Del 
verſteht, darüber gibt er in ber Vorrede zum Erſten Theil feines Wertes 
Bl. 10 Ausfunft. Dgl. auch Thl. I, ©. 2 und 334. — 3) S. ben oben 
erwähnten Artifel in van der Aa, Woordenboek p. 76. — 4) Aenlei- 
ding 1, S. 56. gl. ©. 358. 546. — 5) Gemeenschap tunen de 
Gottische Spraeke etc. 8. 12, 


Viegerm. Phil. in den Niederl., in Engl. u. in Skandinavien v. 16656.1748. 141 


fih zur Aufgabe fegte. Als er eben feine gothiſche Grammatik in 
der Handſchrift vollendet hatte, am ihm der Thesaurus lingua- 
rım veterum septentrionalium von Hides zur Hand. Er freute 
fih des tüchtigen Mitarbeiters, fand aber doch, daß feine eigenen 
Etgebniſſe fo bedeutend von denen des Hickes abwichen, daß er fih 
über feine aufgewandte Mühe nicht zu beklagen habe !). Er gab 
deshalb zuerft die oben genannte Meine Schrift über die Berwandt- 
ſchaft der gothiſchen und niederländifchen Sprache Heraus, worin 
er zugleich jo mande grammatifche Mißgriffe des Junius berid- 
tigte 2) umd feine eigene gothifhe Grammatik aufftellte. Er ver- 
meibet darin mehrere Fehler des Hides 3); mas ihn aber am 
meiften vor Hickes auszeichnet, ift, daß er mit dem Nachweis ber 
Gemeinfamleit de3 grammatiſchen Baues bei allen germanijchen 
Sprachen wirklich Ernſt mat, und hier führt ihn feine Forihung 
auf eins der folgenreichſten Ergebniffe, nämlich darauf, daß die bis 
dahin für ımregelmäßig gehaltenen Verba gleichfalls regelmäßigen 
Wandlungen des Stammoocals folgen und zwar bei allen germa- 
niſchen Sprachen, nad beftimmten Geſetzen der etymologifchen 
autvertretung, denjelben Bocalmwandlungen. Diefe Entdeckung, die 
& ſchon in feinem erften Meineren Wert (1710) mittheilt, führt er 
dann in feinem Hauptwerk, der Aenleiding, (1723) mit großem 
Scharffinn und für feine Zeit fehr achtungswerther Belefenheit weiter 
aus. Die erften Anfänge, auch die ſtarlen Verba in gewiffe Grup- 
pen zu fondern, finden wir zwar ſchon im 16. Jahrhundert 4), 
und Hides faßt fie bereit als „Conjugatio secunda* zuſammen 


1) Ebend. ©. 12 fg. — 2) So führt z. B. Junius in feinem Go- 
thicum Glossarium (1665, p. 236) auf: ‘»litha, artus, membra,« Ten 
Rate (Gemeenschap S. 33) gibt richtig: >Lithus, masc. artus.« Auderes 
ka. — 3) Dem unrichtigen Rominat, Blur. himinans bei Hide (Thes., 
Gramm. anglo-sax. et moeso -goth. p. 14) gegenüber gibt Ten Kate 
(Gemeenschap 8. 50) bas richtige dagos. Statt bes unrichtigen Nominat. 
Sing. fan bei Hides (m. a. O. ©. 15) Hat Ten Kate (©. 50) richtig atta 
mb unter ben Beifpielen zu diefer Declination „frauja, Heere.” — 4) ©, 
6.66, 





142 Zweites Bud. Erſtes Kapitel, 


gegenüber den ſchwachen, die er als Conjugatio prima bezeichnet 1). 
Aber von diefem erften Auftauchen einer richtigeren Einfiht bis zu 
der Erfenntniß, daß die ſtarken Verba den identiſchen Grundbau 
alfer germanifhen Sprachen bilden, ift noch ein weiter Schritt, 
und diefen Schritt hat Ten Kate gethan. Die Durchführung diefer 
Entdeckung bildet den wichtigften Theil feiner Aenleiding, deren 
erſter Band in vierzehn Gefpräden die Hauptfragen der nieberlän- 
diſchen Grammatit behandelt und darauf in einem befonberen 
Abſchnitt die Negelmäßigfeit und Ordnung der germanifchen Verba 
darlegt, während der zweite auf Grundlage der ablautenden Verba 
zwei umfangreiche Proben eines wilfenfhaftlic geregelten Etymo- 
Togicums der germaniſchen Spraden gibt. Der Raum verbietet 
uns, hier in eine nähere Darftellung der Art einzugehen, wie Ten 
Rate die ftarken Verba in Klaſſen orbnet; die Hauptfache ift, daß 
es ihm trotz fo mander Mißgriffe gelingt, die Uebereinftimmung 
der Ablaute in allen germanifgen Spraden darzuthun. Er ift 
durhbrungen von ber Wichtigfeit diefer Entdeckung. Schon in 
feiner erſten Schrift Hat er fie angebahnt, in der Aenleiding führt 
er fie in gefonderten Abſchnitten duch 2) für das Niederländiſche, 
das Gothiſche, das „Frank⸗Deutſche“ (Althochdeutſche), Angelſäch- 
ſiſche, Hochdeutſche (Neuhochdeutſche), und, was ihm am meiſten 
Freude macht 3), auch für das Isländiſche. Von dieſer Erkenntniß 
aus, deren Aufſpürung er den beſten Theil ſeines Lebens widmet, 
gelangt Ten Kate zu geſunderen Anſichten über den Bau ber ger- 
maniſchen Sprachen und über die Exforberniffe einer wiſſenſchaft ⸗ 
lichen Etymologie, als fie irgendeiner ber germaniftiihen Sprad- 
forſcher bis dahin beſeſſen hatte. Die ablautenden Verba Bilden 
ihm die Grundlage einer geregelten Wortableitung, die bis jegt 
noch gefehlt Hatte‘). Er erkennt, daß wir, wenn wir nit in 


1) Hickes, Thes. I, Grammatica anglo-saxon. etc. p. 55. 56. — 
'Thes. II, Grammatica franco - theotisca p. 71. Vgl. darüber Ten Kate, 
Aenleiding Thl. I, ©. 544. — 2) Ten Kate, Aenleiding I, p. 541— 
596. — 3) Ebend. I, ©. 544. Bel. I, ©. 676. 1, S. 24. —. 4) Aen- 
leiding, I, Voorreden (unpaginiert) Bl. 8. 


Die germ. Phil. in den Nieberl., in Engl. u. in Sfandinavien v. 1665 6.1748. 143 


Bezug auf den Vocalwechſel und deſſen mundartliche Verſchiedenheit 
in willlürliche Berirrungen geraten wollen, den ablautenden Ver— 
bis von Glied zu Glied nachgehen müffen; dem wir dürfen durd- 
aus nicht von der einen Klaſſe derfelden auf die andere hinüber 
ſchließen ). Solde Mißgriffe, wie fie felöft einem Franciscus 
Jurins noch begegnet waren, wenn er das gothiſche gataihun 
(narraverunt), gateihith (renunciate) unter gatiuhan aufführt ?), 
waren fortan unmöglich 3). Die Etymologie muß überhaupt auf- 
Sören, ein bloßes willlürliches Rathen zu fein‘). Denn dies ift 
nichts als eine Zeitvergeudung, die fi für Menſchen von Urtheil 
nicht geziemt 5). „Ich Binde mic in meinen Ableitungen,“ fagt Ten 
Rate, „an ein fo ftrenges Geſetz, daß ich feinen einzigen Buchſtaben 
zu verändern, zu verjegen, noch Hinzu oder hinwegzuthun fuche, 
außer in Kraft einer durchgeführten Ordnung ober Hegel“ 6). 
Demgemäß gibt er bereits eine Ueberſicht, welche Vocale im 8 
lindifhen, Altdeutſchen, Angeljähfiihen und Niederländif—hen den 
einzelnen gothiſchen Vocalen etymologiſch entſprechen ”), und eine 
aͤhnliche Vergleichung ftellt er zwiſchen ben Gonfonanten an ®). 
Auch fonft ift er in der Methode feines Etymologifierens auf dem 
tichtigen Weg. „Ueberall,“ fagt er, „follen wir, um mehr Licht und 
Sicherheit zu erhalten, mit dem Alterthum und den verwandten 
Sprachen zu Mathe gehen, um die Wörter um fo näher an ihrem 
Urfprung und in ihrer einfacheren und durch die Zeit am wenig. 
ften in Verfall gerathenen Geftalt zu betrachten" ). Auch auf die 
Phpfiologifhe Natur der Laute richtet Ten Kate fein Augenmerk 10), 


1) Ebend. II, ©. 35. — 2) Goth. Glossarium 1665, p. 125. — 
3) &. Ten Kate, Gemeenschap 1710, 8. 13. — 4) Aenleiding I, 
Voorreden, Bl. 12. Bgl. II, 8,3. — 5) Ebend. II, 8. 4. — 6) 
»dan uit kragte van een’ streekhondende (eigentl.: ſtrichhaltende) Rooi 
of Regel.« Aenleiding I, 8. 175. Bgl. I, 8.6 fg. II. 8. 20. — 
?) Aenleiding I, 8. 165.’ II, 8.19. — 8) Ebend. II, 8.19. — 
9) Aenleiding II, 8.7. ®gl. 1, 8.2. — 10) Ebend. I, 8. 111 fg. Ten 
Rate fennt die »>Grammatica van den Wijdvermaerden Wiskonstenaer 
Wallis,« Aenleiding I, 8. 630. 


144 Zweites Bud. Erſtes Kapitel. 


und andererſeits fpürt er ben Wegen nad, welde bie Umwand⸗ 
lungen der Bedeutungen eingeſchlagen haben !). Insbeſondere aber 
feffelt ihn die Unterfugung, wie das Genus der Wörter entſtanden 
und bisweilen verändert worden fel?). Und das Alles mit eben 
fo feinem, als nüdternem Sinn. Denn überall „ſucht er feine 
Grundregel feft im Auge zu behalten, daß man die Giefege der 
Sprade finden und nit machen muß“ 3). In der Anwendung 
feiner Grunbfäge, bie er im zweiten Bande feines großen Werkes 
gibt, legt er die ablautenden Verba zu Grunde, und zwar ftelit er 
in der erften Probe der geregelten Ableitung bie „ungleihfliegen- 
den Thatwörter,“ die im Holländiſchen noch vorhanden find, und 
die von ihnen abgeleiteten Wörter zufammen, in "2 zweiten aber 
die im Holländifhen zwar verlorenen, jedoch aus den verwandten 
Sprachen hergeftellten %). Er findet bie Zahl der Iegteren nur 
wenig geringer, als die im Holländifhen erhaltenen 5). Er will 
zwar fein vollftändiges etymologiiches Wörterbuch geben, fondern 
nur eine Probe 6). Aber zu diefer Probe wählt er ben für die 
Etymologie wichtigſten Theil der Sprade. Denn die ungleich 
fließenden Verba find die allerälteften Erſtlinge des altdeutſchen 
Stammbaums und die höcfte Spige der Ableitung ). Eie haben 
dem Verfaſſer das vorzüglichfte Licht für die Etymologie gegeben ?). 
Sie find echte primitive Wurzelftämme. 9). 

Ich bedauere, daß ich Hier nicht ausführlier in das Einzelne 
eingehen darf; ich würde fonft eine große Anzahl feiner Beobach⸗ 
tungen Ten Kate's aus allen Theilen feines Werkes beibringen 
tönnen. Aber das Gefagte wird hinreichen, um zu zeigen, daß 
Ten Kate in mehr als einer Hinfiht Bahnen eingeſchlagen Bat, 
die denen unferes großen Meifters Jacob Grimm nahe verwandt 
waren. Daß er noch weit entfernt von ben Bielen blieb, die dann 


1) Gbenb. I, 8.25 fg. — 2) Ebend. I, 8, 396 fg. — 3) Aen- 
leiding T, 8. 365. Dt. I, Voorreden BI. 13, Dann auch I, 8.18. 14. 
898. — 4) Ebend. IT, 8. 81. — 5) Ebend. IT, 8.581 fg. — 6) Ebend. 
1,8.5.— 7) Ebend, I, 8.13. — 8) Gbend. I, 546. — 9) Cbend. 
II, 8. 16. 


Diegerm. Phil. in ben Nieberl., in Engl. u. in Stanbinavienv. 1665 6.1748. 145 


hundert Jahre nach ihm Jacob Grimm erreicht Hat, Liegt in ber 
Ratır der Sache. Abgeſehen von allem Uebrigen würde ſchon die 
Dürftigfeit feiner Hülfsmittel 1) ihm deren Erreihung unmöglich 
gemacht haben. Wie groß aber au fonft no der Abſtand Ten 
Lete's von der Sprachforſchung unferes Jahrhunderts war, davon 
wird uns bie Anführung eines einzigen Umftandes überzeugen. 


1) 3% will Hier die Hauptfäglicgften Hülfsmittel des Ten Kate, bie uns 
den Umfang feiner Stubien bezeichnen, namhaft machen. dür das Niederlän: 
diche rügmt er Kilieen’s Etymologicum von 1599, Aenleiding I, 161. 
17, Moonen’s Nederd. Spraekkonst eb. S. 400, Hoogstraten's Aen- 
merkingen over de Gealagten 1710 und manches Andere, Bon älteren 
Rieberläntern führt er beſonders an Melis Stoke I, 41. 58. 356. 572, und 
die alıpolänbifche Bibel, Delft 1477 (I, 58). Für das Neuhochdeuiſche kennt 
a Ehottelius als einen berühmten Grammatifer I, 359, er benuht aber an 
den wichiigſten Stellen feines Werkes nur deſſen Gründliche Anweifung zur 
Reifpreibung, Braunfweig 1676, »zijnde een kort Uittreksel van 
Schottelii Opus de lingua Germanica« I, 547. Bgl. I, 653. jener 
Biriter's Grundfäge der beutfchen Sprache, Berlin 1701, Aenl. I, 547. 658 
Or bemerkt beffen Unterſchiede von Schottelius I, 663. 672. Endlich das 
Dietionarium regiam Sranff. 1709. 1, 400. Für das Althochdeutſche ber 
up er den Tatian von Palthen 1706 (I, 33. Bl, 546) und ben daran 
$fügten Isidor (I, 57), ben Willeram (I, 83. 171. 500), ben Otfrid (I, 
57), Eceard. Cateches. Theot. 1713 (I, 330. 372. 395). Zür bie fpätere 
hochdeuiſche Sprache kennt er Opihens Ausgabe des Annoliebs 1639 (I, 57) 
und Gofdaft’s Parsenetiei veteres (I, 327. II, 29). Daß ihm für das 
Angelfächfifhe Hides’ Thesaurus zu Gebote ftand, ift oben bemerkt. Er bezieht 
fi außerdem auf da6 Evang. Anglos. in Junius Ev. Goth. (I, 57. 165. 
546. 632), auf Benfon’s Vocab. Ags. (I. 171. 546), auf Thwaites’ Aus: 
gabe des agf. Heptateuchus 1698 (I, 546. 632) und weiß, baf eine große 
Anapl agfer Handſchriften in ben engliſchen Bibliothefen liegt (I, 652). Zür 
das Jelandiſche benupt er vor allem die Grammatit bes Runolphus Jonas 
(1, 171. 362, 376. 400. 547), Olai Wormii Liter. Danica (I, 51), aus 
ker er bie Ragnars dräpa mittheilt (I, 79) und erwähnt die »Edda Telan- 
dorame (I, 398). Sein Berhältnig zu der Herausgabe des Ulfilas durch 
Janine ift oben erörtert. Für das Frieſiſche nennt er Japir und Andere (I, 
5. 358). 

Raumer, Gejß. der germ. Bfllolsgle. 10 


146 Zweites Bud. Erſtes Kapitel. 


Bei der Unterfuhung der gothifgen Verba entgeht ihm natürlich 
nicht, daß die Gothen Verba befigen, bie ihr Praeteritum durch 
Neduplication bilden. Diefe Beugung, meint er, fei ganz verſchie⸗ 
den von allen anderen deutſchen und kimbriſchen (d. i. nordiſchen) 
Zweigen. Und wie erflärt er ſich nun biefe Erfheinung? Al 
die Gothen in Moefien wohnten, hätten fie dieſe rebuplicierten 
Praeterita von den benachbarten Griechen, mit denen fie umgiengen, 
angenommen '). Und eben daher Tomme es, daß die Gothen vielen 
Subftantiven und dem Maſculinum des Adjectivs ein s anfügen 
nad) der Weife der griechiſchen Endung og 2). 


2. Die germanifhe Philologie bei den fkandinavifden Völkern nom 
Iahr 1665 bis zum Jahr 1748. 


Nicht Weniges von dem, was die ſtandinaviſchen Gelehrten 
bereit in ber vorigen Periode erarbeitet hatten, trat erft in der 
folgenden in die Oeffentlichleit. Wenn aber auch jenen tüchtigen 
Männern, die ihre Leiftungen zunächft nur handſchriftlich Hinter- 
laſſen hatten, ihr Verdienst nicht geſchmälert werben darf, fo ift 
doch andrerſeits nicht zu verkennen, daß auch jene Leiftungen erit 
durch ihre Veröffentlihung in den ganzen Gang der Wiffenfchaft be 
deutender eingreifen. Diefe Betrachtungen drängen fih uns auf bei 
einem in unfrer Wiſſenſchaft epochemachenden Ereigniß, nämlich bei 
der erften Herausgabe ber Snorrifhen Edda durch Petrus Re 
ſenius. Geboren zu Kopenhagen im Jahr 1625 machte Reſe⸗ 
nius feine Studien in feiner Vaterftabt, indem er im Jahr 1643 
unter dem Rectorat des Ole Worm die dortige Univerfität bezog. 
1647 gieng er nad) Leiden, ftudierte dort vier Jahre lang Philo- 
Togie, durchreiſte dann die Niederlande, Frankreich, Spanien und 
Italien, warf fi in Padua auf die Jurisprudenz, wurde daſelbſt 
1653 Doctor Juris, kehrte in demfelden Jahr nad) Kopenhagen 
zurück und wurde 1657 an der dortigen Univerfität Profeffor ber 
Ethik ?). 1662 wurde er Profeffor Juris, 1664 zugleich Bürger 

1) Aenleiding I, 8. 56. ®gl. 8. 591 fg. — 2) Ebend. ©. 56. — 
3) Er. Vindingins, Regia academia Hauniensis, Haunine 1665, 
p. 4 sq. 


Die germ. phhil inden Riederl., in Engl. u. in Skandinabien v. 1665 6.1748, 147 


meifter. 1680 in den Adelsſtand erhoben, ftarb er als Staate- 
rath im Jahr 1688 1). Wir fpredhen Hier natürlich nur von den 
Schriften des Nejenius, welde der germaniſchen Philologie an- 
gehören. Unter diefen hat feinem Namen den größten Ruf ver- 
ſchafft feine Ausgabe der jüngeren Edda. In den Schriften der 
vorangehenden Periode, bei Ole Worm und feinen Genofien, ift 
öfters ſchon die Rede von der Edda 2). Ein Meines Bruchftüc der 
jüngeren Edda theilt ſchon Ole Wurm 1651 in ber zweiten Aus- 
gabe feiner Danica Literatura antiquissima mit). Aber erft 
in demfelben Jahr 1665, in welchem aud das Gothifhe in ben 
Kris der europäiſchen Gelehrfamteit eintrat, wurden bebeutende 
Theile beider Edden zum erftenmal buch den Drud zugänglich 
gemacht. In jenem Jahr erſchien nämlich zu Kopenhagen: Edda 
Islandorum an. Chr. MCCXV Islandice conseripta per Snor- 
ronem Sturlae Islandiae nomophylacem nunc primum Islan- 
diee Danice et Latine ex antiquis codieibus mss. bibliothecae 
regis et aliorum in lucem prodit opera et studio Petri Jo- 
hannis Resenii. Aus einer jehr ausführligen Widmung an Kö— 
mg Friedrich II. von Dänemark, in welcher Reſenius von der 
Ethit der verſchiedenen Völler handelt, erfehen wir, daß es die 
Cthit war, die Reſenius zum Stubium der Edda geführt Hat. In 
der darauf folgenden Vorrede beſpricht er dann feine Ausgabe von 
Suorri's Edda. Der Tert felbft enthält 1) die Vorrede der jün- 


1) Nyerup og Kraft, Almindeligt Litteraturlericon. — 2) Bgl. Arn- 
grim. Jonne Crymogaea, Hambprgi 1610. Dazu deſſen Brief an Ol. 
Worm. vom 11. Aug. 1638 in Olai Wormii epist., Hafn. 1751, I, 
P-329; uub ebend. I, 353 Worm’s Brief an Magnus Dlafsjon vom Jahr 
1097, und Dlafofon's Briefe an Worm vom 27. Aug. 1627 (I, 354) und 
2. Aug, 1629 (I, 358). Darüber, daß die ſ. g. ältere Edda zuerſt von 
Brynjulfe Bveinsson um 1643 den Titel Edda erhalten hat und bem Ene: 
mund jugeſchrieben worden ifl, dgl. u. A. Munch's Vorrebe zu feiner Ausg. 
der älteren Edda (Christionia 1847) ©. V u. Möbius' Catalogus p. 67. 
— 3) p. 33. (Hövamal 143.) In der erften Ausg. vom Jahr 1636 fieht 
die Stelle (p. 33) noch nicht. 

10* 


148 Zweites Bud, Erſies Kapitel, 


geren Edda !). 2) Gylfi's Täuſchung. 3) Bragaraedır. Daran 
fließen fih unmittelbar eine Anzahl aus Skaldſtaparmal entnom- 
mener Erzählungen an. Aus den Kenningar wird dann nad 
einer Aufzählung der Götter mit ihren verjchiedenen Namen ein 
alphabetiſch geordnetes Verzeichniß der hauptſächlichſten Gegenftände 
mit ihren Benennungen gemacht. Dem Grundtert iſt die latei⸗ 
niſche Ueberſetzung hinzugefügt, die der Isländer Magnus Dlafs- 
fon?) im Jahr 1629 gemacht hatte, und außerdem, wo fie von 
diefer abweicht, die des Isländers Stephan Olafsſon 
(Cr 1688) 9). Und da diefe beiden nur bie erften 68 Erzählungen 
überjegt hatten, ließ ſich Reſenius die noch fehlende Zahl von 
dem Zsländer Thormodr Torfafon (geb. 1636, } 1719) 9 
übertragen. Außerdem fügte er noch eine bänifhe Ueberfegung 
hinzu, die Stephanus Stephanius handſchriftlich hinterlafien hatte, 
und eine Anzahl von Anmerkungen, die theils von Magnus Dlafs- 
fon, theils von ihm ſelbſt herrühren. Wir fehen aus bem allen, 
daß ber ſchwierigſte Theil des Werkes Anderen, als dem Reſenius 
angehört. Dennod war es für bie Wiſſenſchaft von unermeßlicher 
Bedeutung, daß Reſenius fih der Veröffentlihung des Ganzen 
unterzog. Aehnlich verhält es fi mit den Stüden ber älteren Edda, 
die Mefenius gleichfalls im Jahr 1665 zu Kopenhagen herausgab: 
der Völufpa, welcher er bie lateiniſche Ueberjegung des Stephan 
Dlafsfon und die Anmerkungen ebendesfelben und des Gudmund 
Andreae hinzufügte 5), und dem Havamal und Runa Capitule. 
Auch Hier war das Wichtigfte, daß durch die Ausgabe des Nejenius 
zum erftenmal ganze Stüde jener uralten Götterdichtung der euro- 
päifhen Gelehrfamteit zugänglich gemacht wurden. Ein verwandtes 
BVerdienft erwarb fih Mefenius dadurch, daß er im Jahr 1688 (zu 
Kopenhagen) das von Gudmund Andreae verfaßte Lexicon 
Islandioum Herausgab, das erfte wirkliche Wörterbuch dieſer 
Sprache. — Das Studium des Altnordifgen wurde gegen Ende des 


1) Mit einigen vorangeſchicien Zufügen. — 2) ©. 0. S. 108. — 
3) Nyerup og Kraft, Alm. Lit. — 4) Gbend. — 5) ©. Refenius Bor: 
rede zu feiner Ausgabe der Snorra-Edda. 


Die germ. Phil. in den Nicberf., in Engl. u. in Sfanbinadicn v. 16656.1748. 149 


17. und in ber erften Sälfte bes 18. Jahrhunderts durch eine 
Reife gelehrter Dänen und Isländer bebeutend gefördert. Unter 
den Dänen war es vorzüglih die Familie Bartholin, deren 
begabte Glieder fi der einheimifhen Sprache und Alterthümer 
annehmen. Schon der ältere Thomas Bartholin, der ber 
rüfmte Mebiciner, (geb. 1616, + 1680), wibmete feine Mußeftun- 
den der Erforſchung des ſtandinaviſchen Altertfums und pflanzte 
tie Liebe zu diefen Studien feinem Sohne ein. Diefer, ber jün- 
gere Thomas Bartholin (Juriſt und Hiftorifer, geb. 1659 
+ 1690), gab 1689 heraus Antiquitatum Danicarum, de causis 
contemtas a Danis adhuc gentilibus mortis, libri tree, worin 
er viele Auszüge aus den noch ungebrudten Gedichten der f. g. 
Saemundiſchen Edda mittheilte., Wie ber ältere Thomas Bartho- 
fin, fo machten fi zwei feiner Brüder um die vaterländifhe Sprache 
und fiteratur verdient: ber eine, Rasmus Bartholin (geb. 
1625, } 1694), durch feine 1657 gehaltene, 1674 gebrudte Rede 
De studio linguae Danicae; der andere, Albert Bartholin 
(f 1668) durch fein erft (1666) nad) feinem Tode erſchienenes Buch 
De scriptis Danorum. Unter den Isländern jenes Zeitraums 
thaten ſich theils durch Herausgabe altnordiſcher Schriften, theils 
durch Forfhungen auf dem Gebiet der altnordiſchen Sprache und 
cüiteratur befonders hervor Thordhr Thorlacius (f 1697), 
Thormodhr Torfafon (Torfaeus), Pal Vidalin (+ 1727) 
md Arni Magnusfon (Arnas Magnaens). Der zulekt 
Genannte, geb. 1663 in Quenebaefte auf Island, wurde 1684 
Amanuenfis des jüngeren Thomas Bartholin in Kopenhagen, 1721 
Univerfitätsbibliothefar daſelbft und ftarb 1730. Er war nit nur 
einer der gelehrteften Kenner der altnordiſchen Literatur, wie er 
namentlich durch fein Leben des Saemundr hinn Frobi ?) beivies, 
jondern er erwarb fich überdies ein umvergänglices Verdienft um 
die altnordiſchen Stubien dadurch, daß er feine Manufcripte ber 
Ropenhagener Univerfitätsbibliothet zugleih mit einem Capital ver- 





1) Ext 1787 im erſten Band der Kopenhagener Ebba gebrudt. 


150 Zweites Buch. Erſles Kapitel. 


machte, deffen Zinſen einer oder zwei isländiſche Studierende erhal⸗ 
ten follten, die fih dem Studium des nordiſchen Alterthums wid- 
meten 1). Schließlich Haben wir noch einen gelehrten däniſchen 
Sprachforſcher aus diefer Zeit zu nennen, ber feine Thätigleit ins- 
befondere auch dem älteften Hochdeutſchen zuwandte: Friedrich 
von Roſtgaard. Geboren zu Kraagerup bei Helſingör im 
Jahr 1071, machte Roſtgaard gelehrte Reiſen durch einen großen 
Theil von Europa zur Benutzung der Bibliothelen und Erweiter- 
ung feiner ausgebreiteten philologiſchen Kenntniffe. Er ftarb als 
dänifcher Conferenzrath im Jahr 1745. Unter feinen mannigfal- 
tigen Schriften gehören in unferen Bereich feine Emmendationen zum 
Otfrid. Während eines längeren Aufenthalts in Rom im J. 1699 
verglich er bie Heidelberg- Vaticanifhe Handſchrift mit der Basler 
Ausgabe, merkte die zahlreichen Fehler der letzteren an, verſuchte ſich 
aud in eigenen Conjecturen und gab richtige Auskunft über das Ver⸗ 
hältniß der Basler Ausgabe zur Vaticaniſchen Handihrift. Das Ganze 
ſchickte er an Schilter zu freier Benutzung 2). Im Jahr 1720 ließ 
Eahart Roſtgaard's Emendationen als Anhang zu feiner Ausgabe 
der Leges Salicae druden. 

Um dieſelbe Zeit, in welder die altnordiſchen Studien in Dä- 
nemark durch die Herausgabe der Snorri'ſchen Edda einen neuen 
Aufſchwung nahmen, begann auch in Schweden die Liebe zum ffandi- 
naviſchen Alterthum mehr und mehr zu erwaden. Cine Reihe be 
deutender Gelehrter: Etjernhjelm, Berelius, Rudbech, begegnete ſich 


1) Tie Angaben über das Leben der oben genannten Tönen und Jslän- 
der find dem Almindeligt Litteratnelericon for Danmark, Norge, og Jsland. 
Bed R. Nyerup og I. E. Kraft, 1820, entnommen. Ueber die Arna = Diay 
naeiſche Stiftung f. Hans de Hofman, Samlinger af Publique og Private 
Stiftelfer, T. I, Kiöbenh. 1755, &. 212 fg., 275 fg., u. T. X (1705), 
Appendix p. 1—11. Hier finder man das Nähere über eine Stiftung, bie 
beweiſt, wie Bedeutendes mit geringen Mitteln erreicht werden kaun, wenn 
man fie verfländig anwendet. — 2) Darüber, daß weder Schilter, noch 
Scherz Roſtgaard's Bemerkungen gehörig verwertheien, ſ. Kelle's Otfr. I, 
Ein. S. 121 fg. 


Tie germ. Phil. in den Nieberl., in Engl. u. in Standinavien v. 1665 6.1748. 151 


in biefem Streben, und durch ein günftiges Geſchick war auch der 
anzefehenfte Staatsmann Schwedens: der Reichskanzler de la 
Gardie, begeiftert für diefe Studien. Magnus Gabriel de la 
Gardie (geb. 1622, Reichslanzler 1660, + den 26. April 1686) 
gründete 1686 das Antiquität3- Collegium zu Upfala, deſſen Bor- 
fand Stjernhjelm und deſſen Beifiger neben Anderen Verelius 
wurde '). Durch den Isländer Rugman ließ er isländiſche Schrife 
ten anfaufen. Er ſelbſt ſchenkte der Univerfität Upfala den gothie 
fen Coder argenteus, den er in den Nieberlanden für 2000 Gul- 
den zurüdgefauft Hatte. Das Biel feiner Beſtrebungen faßt er in 
die treffenden Worte zufammen: „Ich will nicht eine verſchwun⸗ 
dene Zeit zurüdführen. Man lebe in feiner Zeit, man fprede 
deren Sprachel Aber man kenne die früheren Zeiten, die Weis» 
keit der Alten und die Sprache der Väter!” ?) Das Epoche⸗ 
machende für die ſchwediſchen Altertfumsftudien war das Bekannt» 
werben des Islundiſchen. Dadurch erhielt die ganze ſchwediſche 
Sprach⸗ und Alterthumsforſchung eine neue Grundlage. Hiemit 
verband ſich das neue Kit, das für die gefammten germaniſchen 
Studien durch die Entdedung des Gothiſchen aufgieng. Wir dür- 
fen uns nicht wundern, wenn dieſer Reichthum neuer und unge 
ahnter Aufichlüffe über das germanifche Alterthum die hegeifterten 
Berehrer desſelben anfänglich blendete und vermirrte und neben 
höchſt achtungswerthen Beftrebungen die fonderbariten Wahngebilde 
ereugte. Haben wir es doch ſchon ähnlich bei dem Gründer biefer 
Studien in Schweden: Yohannes Bureus, gefunden. Eine ver- 
wandte Richtung fett ſich auch bei den ſchwediſchen Gelehrten fort, 
die als feine Nachfolger mit reiheren Hülfgmitteln und größerem 
Erfolg die altgermaniſchen Sprachen erforihen. Georg Stiern- 
diem (geb. 1598 in der Nähe von Fahlun, } 1672) 3) warf 


1) Abr, Gronholm, Magnus Gabriel be la Garbie, in Supplement 
til biographiskt Lexicon, Lund. 1836, p. 93. — 2) Ju einer Rebe, die 
@ zu Upfala hielt, bei Cronholm a. a. DO. S. 9. — 3) Ueber Stjern⸗ 
dielm's Leben ſ. Biographiskt Lexicon öfrer namnkunnige Svenska 
män, 16. Bd. Upsala 1849, p. 1. fg. 


152 Zweites Buch. Erfles Kapitel, 


ſich mit fenvigem Eifer auf das Studium ber altgermanifden 
Sprachen. Er wollte fi) aber nicht begnügen mit den Ergebniſſen, 
die eine beſonnene Forſchung fon damals hätte gewinnen können, 
fondern verlor fi in Phantafieen über den Zufammenhang und 
den Urfprung aller Sprachen. Natürlih mußte er hier in viele 
und ſchwere Irrthümer gerathen. Doc finden wir bei. ihm trotz 
alter Mißgriffe manchen richtigen Blick. So erklärt er (1671) 
dag Hebräifge nur für einen Dialelt der von Sem abftammenden 
Sprache, glei dem Arabiſchen, Syriſchen u. ſ. w. '); und in feinem 
Glossarium Ulphila- Gothicum (1671) madt er an dem durch⸗ 
gebeugten gothiſchen haban auf die nahe Berwandtihaft der gothi- 
fen ‚und lateiniſchen Flexionen aufmerkam 2). So verehrt auch 
Stjernhjelm's etymologiſches Verfahren noch ift, jedenfalls müſſen 
wir das ernſte Studium anerfennen, das er dem Gothiſchen und 
dem Zsländifhen widmete. Seine 1671 zu Stodholm erſchienene 
. Ausgabe des Ulfilas bezeichnet zwar feinen weſentlichen Fortſchritt, 
aber fte bildet den Anfangspunft der Arbeiten, durch die fid in 
ben beiden folgenden Jahrhunderten gerade ſchwediſche Gelehrte um 
das Gothiihe jo hohe Verdienfte erworben haben. Einer der tüd- 
tigften unter den Gründern der altſtandinaviſchen Studien in 
Schweden war Olof Verelius. Geboren 1618 erhielt er 1662 
die neu gegründete Profefjur der ſchwediſchen Alterthümer in Up 
fala, wurde 1666 Aſſeſſor des Alterthums⸗Collegiums dafeldft und 
ſtarb am 3. San. 1682 3). Verelius beginnt zuerjt die Veröffent- 
lichung altnordiiher Sagaen, indem er 1664 zu Upfala die Gaut- 
rels Saga herausgibt; 1666 läßt cr die Herrauds, 1672 die Her- 
varar Saga folgen. Dem Tert fügte er eine ſchwediſche Ueber 
fegung und erläuternde Anmerkungen bei. Unterftügt wurde er in 
feinen Unternehmungen durch die Kenntniffe des in Schweden 
lebenden sländers Jonas Rugman (} 1679). Den glängend- 


1) ©. bie Praefatio zu Stjernhjelm's Ausgabe des Ulfilas, Stocholm 
1671, Bl. 11 fg. — 2) Ebend. im Glossarium Ulphila-Gothicum p. 79. 
— 3) Ueber fein Leben ſ. das o. angeführte Biographiskt Lexicon, Bd. 20 
(1852) p. 165 fg. 


Die germ. Phil. in ben Nieberl., in Engl.u. in Sfanbinevien v. 1665 5. 1748. 158 


fen Ramen bei feinen Zeitgenofien erwarb fi unter den dama⸗ 
figen ſchwediſchen Alterthumsforſchern ein Mann, der jegt nur noch 
genannt zu werben pflegt, wen man eine der unglaublichiten Ber- 
inumgen übel angewendeter Gelehrfamleit als warnendes Beifpiel 
enführen will: Olof Rudbed. Er wurde geboren in Vefteras 
1630, finbierte Medicin und Naturwiſſenſchaften, erwarb fid früh 
einen Namen als Anatom und fpäter auch als Botaniker, wurde 
1660 Brofeffor der Anatomie und Phyfiologie in Upfala und ftarh 
daſelbſt am 17. Sept. 1703 1). Uns geht Hier nicht der Nature 
forfger, fondern nur der Alterthumsforſcher Rudbeck an. Als 
nämlich Berelius bie Hervararfaga herausgab, forderte er Rudbeck 
auf, eine Eharte von Schweden zu entwerfen, die zum Verſtändniß 
der alten Saga dienen könne 2). Indem Rudbed diefen Gedanken 
mit Eifer verfolgte, gieng ihm plöglic ein ganz meues Licht über 
die Urzeit des ſtandinaviſchen Nordens auf. Es wurde ihm fo 
Mar wie der Tag, daß die alte, für fabelhaft gehaltene Atlantis 
nichts Anderes als daS wirkliche hiſtoriſche Schweden fei. Hier 
blüßte in uralter Zeit eine veihe Kultur; von Standinaviens 
Slalden haben die Griechen, Römer und Yegypter all das Ihrige 
genommen 3). Hier ift die Urheimath der Menſchheit. Zur Be 
gründung dieſes genialen Unfinns Tieß Rudbed fein Atland eller 
Manheim 1675 — 98 in brei ftarfen Foliobänden erſcheinen; von 
nem angefangenen vierten Band verſchonte der große Brand von 
Upfala im Jahr 1703 nur wenige Exemplare ). Das Merkwür⸗ 
Nafte an diefer Erſcheinung ift, daß dieſe phantaftiihe Ausgeburt 
eines geiftveichen, aber verſchrobenen Kopfes mit unerhörtem Bei- 
fall aufgenommen wurde. In wenigen Sahren erlebte ber erfte 
Band drei Auflagen, und alle kritiſchen Zweifel, wie ſie z. B. der 
gelehrte Hiftoriter Johannes Scheffer (geb. zu Straßburg 
1821, Prof. in Upfala 1648, } 1679) vorbradite 5), vermochten 


1) Ueber Rubbe?s Beben ſ. Biographiskt Lexicon, Bd. 12 (1846), 
PS fg, — 2) S. die Wibmung von Rudbed's Atlantica an Berclius 
(W75). — 3) Rudbeck, Atland I (1675), p. 688. — 4) Biogr. Lex. 
A, 928. — 5) gl. Biogr. Lex. XII, 371 fg. XII, 326, 





154 Zweites Bud. Zweites Kapitel, 


die patriotifhe Freude der Schweden nicht zu ftüren. Man muß 
fi aber erinnern, daß dur die Schriften jener Gründer der 
ſchwediſchen Alterthumsforſchung wirklich ein Zug nordiſchen Tief⸗ 
ſinns und echter Begeiſterung für das ſtlandinaviſche Alterthum geht. 
Daher auch trotz aller Schwächen und Verirrungen ihre wirklich 
für jene Zeit dankenswerthen Leiſtungen. Sie geben die alten 
ſchwediſchen Geſetze heraus, ſie beginnen die zahlreichen ſchwediſchen 
Runenſteine zu veröffentlichen, und, was das Wichtigſte iſt, ſie und 
ihre Schüler machen mehrere ber bedeutendſten altnordiſchen Werte 
zuerſt befannt. Unter diefen Nachfolgern ber erften Gründer find 
vor allen zu nennen Peringffiöld und Börner. Johann Bering- 
ſtiöld (geb. zu Strengnäs 1654, ſchwediſcher Reichsantiquar 1693, 
rd. 24. März 1720) 1), gab 1697 zum erftenmal den altnorbi- 
fen Grundtert von Snorri's Heimskringla?), 1715 die Bilfine 
und die Riflunga Saga ?) heraus; und Erik Julius Björner 
(geb. 1696, Afjeffor des ſchwediſchen Alterthums-Collegiums 1738, 
+ 1750) veröffentlichte 1737 2) in feinen Nordiſta Kämpa Dater 
neben einer Neihe anderer Sagaen zum erftenmal die Bölfunga- 
Saga. Alle diefe Ausgaben Tießen in Bezug auf Textbehandlung 
und Berftändniß noch viel zu wünfden übrig, aber es war von 
nicht geringer Wichtigfeit für die Weiterentwidlung der Wiſſenſchaft, 
daß eine folhe Reihe von Hauptwerken der altnordiſchen Proſa 
allen Forſchern durch den Drud zugänglich gemacht war. 


Zweites Kapitel. 
Die germaniſche Philslogie in Deutſchland 1665 Bis 1748. 


1. Anregungen durch Morhof und Leibny. . 


Die Geſchichte der germanifchen Philologie in den Niederlan- 
den, England und Skandinavien während der zweiten Hälfte des 

1) Ueber fein Leben |. Biographiskt Lex., Bd. XI, 139 fg. — 2) 3u 
Stocholm. J 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 155 


17. und im Beginn des 18. Jahrhanderts Kat uns eine Neihe 
epochemachender Leiftungen vorgeführt: Die Herausgabe der gothi- 
ſchen Evangelien durch Franciscus Junius, bie erfte grammatiſche 
Beatbeitung ber altgermaniſchen Sprachen durch Hickes, die ſcharf- 
finmigen Unterſuchungen Ten Kate's, die erſte Ausgabe von Snorri's 
Eda dur Reſenius. Alle diefe Erſcheinungen hatten natürlich 
eine bedeutende Einwirkung auch auf die Entwidlung der germani- 
fen Philologie in Deutſchland; aber es währte geraume Zeit, bis 
dieſe Einwirkung zu voller Reife gelangte. 

Gleich am Eingang unferer Periode begegnen wir zwei Ge 
lehrten, welche ſich, wenn auch der eine den anderen an Begabung 
meit überragte, doch infofern zufammen nennen lafjen, als beide 
die wiffenjchaftlichen Beſtrebungen der verfchiedenen Ränder mit ein- 
ander verfnüpften und die germaniihe Sprachforſchung mit dem 
ganzen Gebiet des Wiſſens in Verbindung zu fegen ſuchten. Der 
eine diefer beiden Männer war Daniel Morhof, der andere 
Gottfried Leibniz, Daniel Georg Morhof wurde ge 
boren im J. 1639 zu Wismar, erhielt feine Jugendbildung auf 
dem Pädagogium zu Stettin unter dem Rectorat des Johannes 
Micraelius und bezog dann 1657 die Univerfität Roſtock, wo er 
mannigfach gefördert durch Andreas Tſcherning im J. 1660 als 
Brofeffor Poetices deffen Nachfolger wurde. Doch gieng er vor 
dem Antritt diefes Amtes noch ein Jahr auf Reifen nah ben Nie- - 
derlanden und nad England. Im J. 1665 nahm er einen Auf 
al3 Professor eloquentiae et poöseos an der Univerfität Kiel 
an. Bon hier aus bejuchte er 1670 zum zweitenmal England und 
die Niederlande und lernte neben vielen anderen Gelehrten au 
Franciscus Junius, der damals im Haag lebte, Tennen '). Im 
% 1671 nad Kiel zurüdgefehrt, übernahm er 1673 die Profefiur 
der Geſchichte und ſtarb nach längerer Kränklichkeit 1691 auf der 
Reife zu Kübel 2). Morhof war ein Gelehrter von ausgebreitetem 

1) Die obigen Angaben find ber bis zum 3. 1670 reichenden Seibfls 
biograppie des Morhof entnommen, bie fi abgebrudt findet Hinter D. G. 
Morhofi Dissertationes academıcae et epistolicae. Hamburgi 1699.— 
9) ©. d. Prolegomena in Morhofii Polyhistorem von Johannes Moller 


156 Zweites Bud. Zweites Kapitel. 


Wiſſen auf den verſchiedenſten Gebieten und hat diefem Wiffen in 
feinem vor Zeiten berühmten Polyhistor einen Ausbrud gegeben. 
Aber diefe Vielfeitigfeit des Wifien? hat ihn nicht dem Baterländi- 
ſchen entfrembet, er war vielmehr urn ganzem Herzen dem Deut- 
ſchen zugethan. In diefem Sinn ſchrieb er feinen „Unterricht von 
der Teutſchen Sprache und Poeſie. - Kiel 1682,” ein in mehr 
als einer Hinfiht merkwürdiges Bud. Er zerlegt fein Werk in 
drei Theile und handelt im erften „Bon der Teutihen Sprade,“ 
im zweiten „Bon ber Teutjchen Poeterey Uhrſprung und Fortgang,“ 
endlich im britten „Bon der Teutſchen Poeterey an ihr ſelbſten.“ 
Wir fehen da, wie Morhof die Beſtrebungen zufammenfaßt, die 
fi bis dahin in den verſchiedenen Ländern für die Erforſchung ber 
germanifhen Sprachen umd Literaturen geltend gemacht hatten. Er 
tennt nicht bloß die deutſchen Gelehrten, fonbern er ſteht aud in 
perſönlichem oder Brieflihem Verkehr mit vielen namhaften For⸗ 
fern des Auslands: mit Franz Junius in den Nieverlanden, mit 
Peter Rudbed und Verelius in Schweden !). Er ſchätzt feine beut- 
ſchen Vorgänger, insbeſondere Schottel, deſſen Hauptwerk er rüh⸗ 
mend erwähnt ), ohne doch deſſen Schwächen zu überſehen ). 
Aber er lennt auch die epochemachenden Arbeiten des Auslands, die 
zwiſchen ihm und Schottelius liegen: Die gothiſchen Evangelien 
bes Junius ) und bie Snorri'ſche Edda des Reſenius d). Doch 


in ber Ausgabe des Polyhistor, Lubecae 1708. — 1) S. bie oben an 
geführten Prolegomena von Moller ©. 17. — 2) Morhof, Unterricht 
©. 457. — 3) Ebend, ©. 437. Polyhistor 1708, II, p. 87. — 4) Poly- 
histor 1708, IL, p. 38. II, p. 53. Im Unterricht u. ſ. f. führt Morhof 
dfters ſowohl bie gothiſchen Evangelien ſelbſt, ald das Gloffarium bes Junius 
an. Wie weit aber fein Stubium bes gothiſchen Teries ſelbſt gieng, ift auch 
aus ben Stellen, in benen er ihn anführt, nicht ſicher zu entnehmen, ba er 
feine Eitate nicht immer aus dem Terte ſelbſt, fonbern aus bem Gloſſar bes 
Junius nimmt. So iſt z. B. bei Morhof ©. 146 das falſche Citat Marc. 10, 4 
(ſtatt 9, 20) aus Junius' Gloſſar ©. 328 entlehnt. Ebenſo erwect bie Art, 
wie Morhof im Polyhist. 1708 T.II, p. 38 vom Ulfilas auf die »Historis 
Gothriei et Rrolf, Gothioa lingun soripta« übergeht, fein gutes Vor⸗ 
urtheil für feine Kenntniß bes Gothiſchen. — 5) Morhof, Unterriät S. 404 fg. 


Die germanifche Philologie in Deutſchland 1665 Bis 1748. 157 


Morhof ift Teineswegs ein bloßer Notizenfammler, fondern ein 
Mann von gefunden und felbftändigem Urtheil. Namentlich in 
wei Beziehungen ift fein Werk von Wichtigkeit, erftens durch bie 
treffenden Aeußerungen über die richtige Behandlung ber deutſchen 
Etymologie, und zweitens als erfter Verſuch einer Geſchichte der 
deutſchen, ja der geſammten neueren europäiſchen Poefie. In Be- 
zug auf die Wortableitung lehrt er: „daß man gar genau bie 
Veränderung der Vocalium und Consonantium in act nehme, 
woran ein groffes in den Derivationibus ber Wörter gelegen. 
Die allzu groffe Gleichheit ift viel verbäditiger, als wenn einiger 
Unterſcheid in den Wörtern ift“ 1). „Iſt alfo auff Gleichheit nicht 
fo jeher zu fehen, als auff die Veränderung die in den Wörtern 
verfällt. Hier fan nun gar wol eine gewiſſe Nichtigkeit getroffen 
md feite Regulen auß inftändiger Observation gezogen werben. 
Bie dern in ber Lateiniſchen Sprade die alten Grammatiei, und 
am volffommenften Vossius in feinem Tractat de permutatione 
lterarum getan“ 2). Man muß den Weg, ben die Sprache ge 
nommen, „wieder zu rüde gehen und bie Veränderung von Zeiten 
zu Zeiten merden. Welde nicht auff einmahl, fondern Stupffen- 
weile geichehen“ 3). „In den Wörtern ift nichts veränderlicher, als 
bie Vocales“ 4). „Die Consonantes werben auch in einander 
verwandelt, nachdem fie ihnen unter einander verwandt, oder von 
einem organo gebilbet werben“ b). Und babei heißt ber Werfaffer 
inshefondere auch auf die älteren germaniſchen Sprachen Rückſicht 
nehmen. „In Teutſcher Sprache,“ fagt er, „hat man eine groffe 
Menge folder Wörter, deren Uhrſprung niemand errathen Tan: 
wer aber die monumenta ber alten Teutſchen Sprachen nachſiehet, 
und auff die Veränderung ber Buchſtaben acht Hat, der wirb ſich 
bald darin finden. Dergleichen Arbeit ift von feinem Teutſchen 
noch zur Zeit vorgenommen.” Nur Vorftius habe etwas Derarti⸗ 
9 an einigen Proben verfucht ). Wo Morhof fih auf die Aus- 
&ıL. Polyhist. 1708 T. IL, & p. 8 sq. — 1) Morhof, Unterricht S. 929. 
— N Ebend. ©. 104 fg. — 3) Ebend. ©. 109. In der Ausg. von 1700 
Bett: Stuffenweiſe. — 4) Ebend. S. 109. — 5) Ebend. S. 111. — 
6) End. S. 492. 


158 Zweites Bud. Zweites Kapitel. 


führung feiner Anſichten einläßt, ift er nicht ohne glückliche Blide. 
Er bemerkt nicht nur nad dem Vorgang des Junius den Wechſel 
von griechiſch⸗ lateiniſchem k und deutſchem h in calamus, Halm 
u. f. f.), ſondern er fügt auch den von h und g Hinzu in „hor- 
tus, art, hesternus, geftern, hostis, @aft, hoedus, @eit“ ?), 
und fo noch mandes Andere). Man braucht die Etgmologieen 
Morhof's bloß mit den nur wenig älteren des Schottelius zu ver- 
gleichen, um ben bedeutenden Fortſchritt wahrzunehmen, der zwiſchen 
beiden Männern liegt). Aber fo achtungswerth diefe Anfänge 
einer rationellen Etymologie find, fo hüte man fid) body, zu weit 
gehende Schlüfje daraus zu ziehen. Denn das Richtige ift nicht 
nur mit einer Menge willfürliher und verfehrter Wortableitungen 
untermiſcht ®), fondern der Verfaſſer Hat auch das ganz verfehlte 
Beſtreben, darthum zu wollen, daß das Griechiſche und Lateinifhe 
zu einem guten Theil vom Deutſchen ftammen °), und er Iegt felbft 
Rudbeck's phantaftifher Atlantica einen hohen Werth bei”). Bon 
einer vergleichenden Grammatik nämlih, die fih auf die Verwandt 
(Haft und Umwandlung der Flexionen gründet, hat Morhof noch 
keine Ahnung. Man könnte denfen, die Entdeckung des Gothiſchen 
mit feinen reichen Flexionen Hätte auf diefen Gedanken führen 
müffen. Aber weit entfernt, erflärt Morhof vielmehr: „Die Ar- 
tieulos pronomina und vorba Auxiliaria findet man in ber älte 
ften Gothiſchen und Teutſchen Sprache offtmahls außgelaffen, und 
an ftaat derer gewiſſe endigungen der Wörter, dadurch der Unter: 
ſcheid der Casuum temporum und personarum außgebildet wird.— 
Ich folte aber den Gebrauch der articulorum und verborum auzi- 


1) Ebend. S. 38. 138, — 2) Ebend. ©. 118. — 3) Ebend. ©. 8. 
118, 122. 138. 146. — 4) Morhof ift deshalb wohlberechtigt, bie Eiyme: 
logieen des Schottelius zu tadeln. Polyhistor 1708 T. IL, p. 37. — 
5) Bol. 4 8. Kheupm ift das niederländiſche het hayr. Morhof, Unterridt 
©. 144, und vieles Andere. — 6) Morhof, Unterrigt ©. 4. 22. 23. M. 
59. 68. 74. 78, 85. 122. 148. 150. — 7) Ebend. ©. 18. By. Polybist. 
1708, T. IT, p. 21, amd befonders Morhof's Worie in feiner Epist. ad Ol. 
Rudbeck bei Moller, Proleg. zum Polyhist. 1708, p. 66. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 159 


liarium älter halten, und ſcheinet, daß man hierin den Lateinern 
nachgeahmet Habe“ 1). R 

Wir können hier fo mandes Gute, das Morhof's Buch z.B. 
über deutſche Orthographie?), über die Verfdiebenheit der Wort- 
ftelung in der Poefie und Profa3) und Anderes enthält, bloß cr- 
wäßnen, und begnügen uns, nur noch Einiges über den wichtigen 
fiteraturgefchichtlichen Theil des Werkes zu fagen. Der Berfaffer 
gibt da eine Geſchichte ber „reimenden Poeterey“ 4) bei den Fran- 
zeſen, Stalienern, Spaniern, Engländern, Nieberländern, Deut- 
ihen und Standinaviern, wie fie vor ihm nod niemand verſucht 
hatte. Er weiß Beſcheid zu geben von den provenzalifhen Dich- 
tem) und iſt ber erfte, der in Deutfjland den Namen Shatefpeare 
nennt 6). Was aber für unfern Zmwed von befonderem Werth ift: 
a lennt und ſchätzt die altdeutſche Poefie?). Er theilt nämlich 
„die Teutſche Poeterey“ in drei „Beiten“: „bie uhralte” vor Karl 
dem Großen, die „andre“ von Karl dem Großen an, endlich die 
dritte feit Opig®). Wo er von den älteften deutſchen Gedichten 
ſpricht, Hält er feinen Landsleuten als beſchämendes Beiſpiel den 
Eifer vor, mit welchem die Schweden ihre alte Literatur erforſchen, 
und jagt dem gegenüber von den Deutſchen: „Es ift traun uns 
verantwortlich, daß man bergleihen Alterthümer fo gar in finftern 
fteden Täft, und fie mit zur Ehre der Teutſchen Nation hervor 
gegeben werben“ 9). Was damals von ber altveutf—hen Poeſie ver- 
entfiht war, ift ihm großentheils befannt, aber er weiß, daß 
dies bei weiten nicht alles Vorhandene ift, und dringt deshalh 
darauf, daß man nah dem rühmlihen Vorgang Goldaſt's bie 
Schäke der altdeutſchen Literatur befannt made 10). - 

Was Morhof als begabter Polyhiftor anjtrebte, das erfaßte 
Gottfried Wilhelm Leibniz (geb. zu Leipzig 1646, geft. zu 
Hannover 1716) als tieffinniger Denker und genialer Forſcher. 


1) Worhof, Unterricht ©. 506. — 2) Ebend. ©. 468 fg. — 3) Ebend. 
3.5116. — 4) Ebend. S. 151-446. — 5) Eben. ©. 156 fg. — 
9) Eiend. S. 250. — 7) Ebend. S. 326. — 8) 6bend. ©. 422. — 
Ebend 6. 289 fg. — 10) Ebend. ©. 304. 


160 Zweites Buch. Zweites Kapitel. 


Bir dürfen hier natürlich feine Darftellung des Leibniziſchen Cy- 
ftems geben, fo groß wir aud im Lauf bes 18. Jahrhunderts 
deſſen Einfluß auf die ganze Denkweiſe der Gebildeten finden. Wir 
müffen uns vielmehr begnügen, zu zeigen, wie Leibniz von ver 
ſchiedenen Seiten feiner umiverfellen Beſtrebungen aus barauf ge 
führt wurde, auch ber Erforfung der deutſchen Sprache und des 
deutfhen Altertfums feine Thätigfeit zuzuwenben. Es war vor 
allen Leibniz der deutſche Patriot und Staatsmann, welcher die 
Wichtigleit der deutſchen Sprache und ihrer Pflege erfannte. Aus 
dieſem Geſichtspunkt ſchreibt er im J. 1679 feine „Ermahnmg an 
die Teutſche, ihren Verſtand und Sprache beßer zu üben ſamt bei⸗ 
gefügten Vorſchlag einer Teutſchgeſinten Geſellſchaft“ i), und im 
J 1697, bald nach Abſchluß des Rijswijler Friedens 2), feine 
köſtliche Schrift: „Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Aus 
übung und Berbefferung ber teutſchen Sprache“ e). Die teutſche 
Tapferkeit, jagt er bort, bat fid zu unferen Zeiten durch große 
von Gott verliehene Siege wiederum merklich gezeiget. „Nun iſt 
zu wünfchen, daß aud der Teutſchen Verſtand nicht weniger ob- 
fiegen und den Preis erhalten möge“ ). Dazu fei aber vor allem 
die Ausbildung der deutſchen Sprache nothwendig, und deren Ber- 
befferung und Unterjuhung fei einer befonderen Anftalt anzuver: 
trauen. „Wir können die einzelnen Gebanten, die Leibniz. in biefer 
überaus gehaltreichen Schrift entwidelt, nicht alle verfolgen, wir 
wollen nur den einen für die germanifche Philologie beſonders 
fruchtbaren hervorheben, daß Leibniz eine dreifache Bearbeitung des 
deutſchen Wortſchatzes wünfcht, nämlich ein Lexikon für die allge 


1) Herausgegeben 1846 von C. 2. Grotefend, unb wieder abgebrudt im 
Weimariſchen Jahrbuch für deutſche Sprache u. ſ. w., Her. von Hoffmann von 
dalleroleben und Schade, Bd. III, Hannover 1855, &.88—110. — 2) Leib⸗ 
niz's Deutſche Schriften. Her. von G. €. Guhrauer, Bd. I, Berlin 1838, 
©. 441. — 3) Zuerft veröffentlicht nad; Leibniz’ Tod in Leibnitii Collec- 
tanea etymologiea. Cum praefatione J.G. Eccardi. Hanoverse 1117. 
Dann Öfter; am beflen in Guhrauer's eben angeführter Ausgabe von Leibnize 
deutſchen Säriften, ®. I, ©. 449-486. — 4) $.4. &.450 bei Gufraur. 


Die germaniſche Philologie in Deutfehland 1665 Bis 1748. 161 


mein gebrãuchlichen Wörter, einen Sprachſatz für die Kunſtwörter, 
und endlich ein Glossarium etymologicum „vor alte und Land⸗ 
Borte, und folde Dinge, fo zu Unterfuhung des Urfprungs und 
Grundes dienen“ 1). Leibniz nahm dem Iebhafteften Antheil an 
iradlihen und befonders an etymologifhen Unterfuhungen, und 
war wurde er von zwei Seiten zu ihnen hingezogen. Erſtens 
gaben ihm feine tiefjinnigen Forſchungen über das Weſen der 
Sprage und ihr Verhältniß zum Gebanten Anlaß, fih um bie 
verißiedenartigften Sprachen und jo namentlih aud um die ger- 
moniigen zu befümmen; und zweitens erkannte er als Hiftoriker 
den hohen Werth der Sprachforſchung für die Geſchichte. Was bie 
eiftere Seite betrifft, jo wollen wir nur einen Punkt hervorheben, 
meil er auch in der Geſchichte der germaniſchen Sprachforſchung 
eine fortwirtende Rolle fpielt. Gegenüber der Meinung Lode's, 
daß die Wörter völfig willfürliche Zeichen der durch fie ausgedrück⸗ 
ten Begriffe feien, 2) vertrat Leibniz die Anfiht, daß im Grunde 
wiſchen dem Laut der Wörter und den Dingen ein gewiſſer Zu- 
jummenhang beftehe, und er begründet dies durch das Beiſpiel der 
Wörter, welde das verſchiedene Geſchrei der Thiere bezeichnen oder 
davon abgeleitet find 3). Dann aber dient ihm zweitens jeine 
Sprachkenntniß bei der Herausgabe der deutſchen Geſchichtsquellen. 
So theilt er 3. B. in feinen Annales imperii oceidentis ?) einen 
verbeſſerten Tert der Straßburger Eide vom J. 842 mit. Bor 
allem aber fieht er in ber Erforſchung ber Spraden die Grund⸗ 
lage für die Urgeſchichte der Völler. Cr ſchreibt eine Brevis 
designatio meditationum de originibus gentium ductis potissi- 


1) g 33, S. 461 bei Gußrauer. — 2) BgL Locke, An essay coneer- 
ning human understanding, Book III, chap. 2, 8. 8. — 3) Leibniz, 
Nouvesux essais sur l'entendement humain, Liv. III, Chap. II, $. 1 
(ed. Raspe p. 239). — 4) In ber Ausg. von Berk, Tom. I, Hannoverae 
1843. p. 498 eq. Bon ber Kenntniß bes Althochbeutſchen, bie Leibniz beſaß, 
gat u A. aud) Zeugniß feine Ueberſebung der Stelle des Otfrid über die 
Uammung ber Franken, bie er weit richtiger verſteht, als Schiltet. ©. 
Leibnitii de origine Francorum disquisitio, in den Opp. IV, 2, 148, 

Raumer, Geig. der germ. Phllelogie. ı 


162 Zweites Bud. Zweites Kapitel. 


mum ex indicio linguarum, die mit den Worten begiunt: Cum 
remotse gentium origines historiam transcendant, lin- 
guae nobis praestant veterum monumentorum vicem !). Daß 
die Deutſchen, Gothen, Schweben, Engländer, Dänen Völler des- 


felßen Stammes find, fagt er in feiner Asfanblung De origine 


Germanorum, ergibt fi aus dem Zeugniß der Sprache, weldes 
das ſicherſte Beweismittel für die Verwanbtihaft der Völker ift?). 
Er findet ), daß urſprünglich eine Sprache weithin über den alten 
Eontinent verbreitet war. Die Spraden, die von jener abftam- 
men, fagt er, theilen wir nicht übel in die Japetiſchen und Ara- 
wmötfhen 4). Das Japetiſche nennt er gewöhnlich Celto⸗Scythiſch ®). 
Zu dieſem gehören nun aud die Germanen‘). Das Studium 
ihrer alten Sprachen verfolgt Leibniz mit aufmerffamem Blid. 
Bor allen rühmt er bie Verdienſte des Frantiscus Junius, deſſen 
Beilpiel dann den Georg Hides zur Herausgabe feines Thesaurus 
angetrieben habe. Cr beriditet (1701) über die erften Proben von 
Schilter's Thesaurus 7) und fpridt dann fpäter (1705) nad Schil⸗ 
ter's Abſcheiden feine Freude aus, daß deſſen Arbeiten nicht zu 
Grunde gehen follten 9). Wie den Tod Schilter's, fo belagt er 
den des bremer Geiftlichen Gerhard Meier, den er ſelbſt zum 
Stubium der germaniſchen Spraden veranlaßt Hatte 9). Auch 

1) Leibnitii Opera, collecta stadio L. Dutens. Tom. IV, 2, p. 186. 
(Zuerft in den Miscellanea Berolinensia, Berolini 1710, p. 1— 16). — 
2) @bend. ©. 200. — 3) Zm ber Abhandlung de originibus gentinm 
a. a. O. 6. 187. — 4) Eben. 5. 188. — 5) Ebd. ©. 189. — 


6) Ebend. S. 193. — 7) Monatliher Auszug, Hanover 1701, October» 


S. 96 fg. — 8) Leibniz an Motten 1705 in Leibn. Opp. ed. Dutens 
VI, 2, p. 218. — 9) Ebend. ©. 195. In einem Brief an Sparvenfelt 
vom 7. Apr. 1699 bedauert Leibniz, daß die Handſchriften des Junius nicht 
herausgegeben fein. Ebendaſelbſt gibt er Nachricht von den Arbeiten Schi— 
ters unb ſpricht bie Befürchtung aus, daß bei deffen hohem Alter und Kränf: 
lichteit die Ausgabe des Nofer und Oifrid nicht zu Stande kommen mödte. 
Leibn. Opp. ed. Dutens Tom. VI, 2, p. 222. Ueber Leibniz’ Berhäknis 
au Gerhard Meier geben bie Wuszüge aus ihrem Vriefwechſel Auffchluß ie 
Leibniz Collect, etymol. II, 288 sq. und ben Opp. od. Dutens VI, 2 
p- 145 29. 


Vie germanifge Philologie in Deuiſchland 1665 bis 1748. 168 


Gobaf’s, Opiz', Schottel's und Morhof's Berdienfte weiß er zu 
fhägen !). Leibniz liebt das Etymologifieren 2), und wenn auch 
feine eigenen Etgmologien fi faum über ben Stand ber ganzen 
Inmeligen Wiffenfcaft erheben, fo zeichnet ſich doch auch Hier ber 
große Genius buch das Mare Bewußtfein über bie noch unüber⸗ 
wundene Unfiherheit bes damaligen Etymologifierens aus. Auch 
weiß er echt wohl, woher bie Hülfe Zommen müfle. Ex will 3.8. 
über die Ableitung bes Wortes Welt nicht ftreiten, „weil biefe 
Dinge ohne genugfame Unterfuhung zu feiner völligen Gewißheit 
zu bringen, und bie alten Teutſchen Bücher den Ausſchlag geben 
möfen“ 3). So läßt fich Leibniz auch durch die phantaftifhen Träu- 
mereien mancher Skandinavier, insbefondere Rudbed's nicht täu⸗ 
ſchen. Er verſpottet deſſen Sucht, Alles aus dem Slandinaviſchen 
abguleiten %). Dennoch aber möchte er bie Beſtrebungen dieſes ge⸗ 
lehtten und patriotiſchen Schweden nicht völlig zu Boden ſchlagen. 
Denn die Borliebe für fein Vaterland trage trotz all feiner Irr⸗ 
thũmer doch dazu bei, ben ruhmvollen Eifer feiner Landsleute für 
die Unterfuchung ihrer alten Denkmäler anzufeuern. Wir Deutſche 
foltten aber dieſen Ruhm mit den Skandinavien theilen und mit 
geichem Fleiß unfer Alterthum geltend machen. ‚Mihi autem, 
führt er in der Abhandlung de origine Germanorum, aus wel- 
der das Angeführte entlehnt ift, fort, Mihi autem ultra partium 
studie affectusque attollenti animum et patriam oommunem 
humani generis intuenti contendere argumenta argumentis 
placet, aequali lucro, utra pars vicerit, dum veritatis cogmitio 
augeatur 5). Gerade auf dieſe unbefaugene Weiſe aber gelangt 
Leibuiz zu dem Ergebniß, daß nicht die Deutſchen aus Standinavien, 


1) Bst. Opp. VI, 2, 182. — 2) Opp. VI, 2, 218. Unvorgreifliche 
Gedanlen $. 41. ©. 464 bei Guhrauer. — 3) Unvorgreiflie Gebanfen 
$.49, ©. 467 bei Guhrauer. Offenbar muß es dort 3. 6 heißen: Doch 
will mar nicht mit denen freiten. — Die Vorficht des Leibniz jpricht fih in 
kin Hanov. 1717 von Edhart ebierten Collect. etym. an vielen 
Stellen aus. Er ſelbſt ſcherzt über feine Etymologien in bem Brief an Ludolf 
Opp. VI, 2, 186 sq. — 4) Opp. VI, 2, 228. — Collect. etymol, 
Hanov. 1717, I. p. 57. 70 sg. — 5) Opp. IV, 2, 199. 

11* 


164 Zweites Bud. Zweites Kapitel. 


fondern die Skandinavier aus Deutſchland in ihre jetzige Heimath 
eingewandert feien 1). Man thue deshalb fehr unrecht, werm man 
das Deutjhe immer nur aus dem Skandinaviſchen ableiten wolle. 
Man folle vielmehr die alte Wurzel eine germaniſche ober deutſche 
(Teutonicam) nennen, deren Spuren fi bald im Gothiſchen des 
Uffilas, dem älteften Denkmal des Deutſchen, bald bei den Stan 
dinaviern und Isländern, bald bei ben Angelfachfen, bald bei den 
Franken des Otfrid oder anderswo finden. Was aber das Gothi- 
ſche betrifft, jo follte man, um Zweideutigfeit zu vermeiden, lieber 
nur das fo nennen, was aus dem Cober argentens genommen wird; 
das Andere aber follte man ſtandiſch nennen 2). Mit diefer legten 
Bemerkung macht Leibniz einer bis bahin hecrſchenden ſehr verderb- 
lichen Begriffsverwirrung ein Ende. 

Wie Leibniz überall nicht bloß der große Gelehrte, ſondern 
aud der Mann von ſtaatsmänniſch praktiſchem Blid war, fo jehen 
wir ihm auch beftreht, feine Gedanken über die deutſche Sprache 
durch eine bleibende Inſtitution zu ſichern. In dem Stiftungshrief 
der Berliner Societät der Wiſſenſchaften, „in welchem wir leiht 
Leibnizens eigene Feder erfennen“ 3), Heißt es: „Solden nad fol 
bey dieſer Societät unter andern nützlichen Stubien, was zu Er 
haltung ber teutſchen Sprache in ihrer anftändigen Reinigkeit, auch 
zur Ehre und Zierde der teutſchen Nation gereidet, abjonderlih 
mit beforget werden, aljo daß es eine teutjch-gejinnete Societät der 
Scienzien ſey“ *). Berlin wird durch bie königliche preußiſche 
Societät der Wiffenfhaften glei von deren Gründung am ein 
Hauptfig der tieferen Sprachforſchung und insbefondere der beut- 
fen. Die bahnbrechende Abhandlung des Leibniz de originibus 


1) Opp. IV, 2, 205. — 2) Ih Habe bie obigen Anſichten zufammen: 
gefelt aus Leibnit. Opp. VI, 2, 176 29. und VI, 2, 17609. — 3) Guh⸗ 
rauer, Leibnig. Eine Biographie. Thl. II. Breslau 1846. ©. 191. — 9) 
Kurge Erzehlung, BWelcergeflalt Bon Gr. Kön. Maj. in Preuken Friedrich 
dem I. in Dero Haupifig Berlin bie Societaet der Wiſſenſchafflen — geftiftet 
worben. Berlin 1711. BL 8. Vgl. auch bie »General Instruction, Der 
toniglichen Societaot ber Wiffenfchafften" BL. 5. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bie 1748, 165 


gentium ductis potissimum ex indicio linguarum eröfftet im 
he 1710 die Reihe ihrer Denlſchriften 1). 

Wir werden bie tiefgreifende Einwirkung des Leibniz durch 
das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch wahrnehmen. Bor 
allem aber werben wir fehen, wie zwei ber größten germaniftiichen 
Sptach⸗ und Altertfumsforicher biefes Jahrhunderts: Johann 
Georg Edhart umb Leonhard Friſch, durch Leibniz angeregt und 
gefördert worben find. 


2. Die Epätigkeit auf dem Gebiete der altgermanifhen Sprachen in 
Deutſchland vom Jahr 1665 bis zum Jahr 1748. 


Bir Haben im erften Buch unfrer Darftellung gezeigt, in mie 
weit ſchon vor der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts das Vor⸗ 
Sandenfein unferer alten Sprachdenkmäler den Gelehrten befannt 
murde, und wie man auch ſchon damals einen ſchwachen Anfang 
machte, wenigftens einige diefer Denkmäler durch den Drud zu 
veröffentlichen. Was damals von Männern wie Freher und 
Goldaft beabfihtigt, aber größtentheils nicht zur Ausführung ge- 
bracht wurde, das begann ſich in der erften Hälfte bes 18. Jahr⸗ 
bunderts in bebeutendem Umfang zu verwirklichen. Es ift nicht 
die poetifche Seite unfrer alten Literatur, welche damals zur Her⸗ 
ausgabe altdeutſcher Werke reizte, fondern die Erforihung der poli⸗ 
tifhen Geſchichte und der deutſchen Rechtsalterthümer, wozu ſich 
dann das Intereſſe an unfrer alten Sprache ſelbſt gefellt, doch 
damals noch fait ausſchließlich in lexikaliſcher Beziehung. Dem⸗ 
gemäß wendet fih die Thätigfeit der Herausgeber vorzugsweife der 
ülteften Periode der hochdeutſchen Sprache zu. Der größte Theil 
der althochdeutſchen Denkmäler wird in den Jahren 1696 bis 1748 
veröffentlicht. Auch die Zeit von 1665 an ift für diefe Studien 
nicht umfruchtbar, aber eine wirklich umfaſſende Thätigfeit ent- 
widelt fi) erft gegen Ende des Jahrhunderts. 

In jene frühere Periode fallen die Bemühungen des Lambe- 
aus. Beter Lambed (Rambecius) wide geboren zu Ham- 


1) In ben Misoellanes Berolinensia. ©. o. ©. 162, 


166 Zweites Buch. Zweies Kapitel. 


burg 1628. Seine Mutter war eine Schwefter des Lucas Hol 
ftenius 1). Im Jahr 1645 gieng Lambeck nad Amfterdam, dann 
nad} Leiden und Paris, um ſich juriſtiſchen, hiſtoriſchen und philo- 
logiſchen Studien zu widmen. In Paris trat er 1647 heimlich 
zur römiſchen Kirche über, fehrte 1650 nah Hamburg zurück und 
wurde 1651 Lehrer der Geſchichte am dortigen Gymnaſium und 
1660 Rector diefer Anftalt. 1662 verlieh er Hamburg, gieng über 
Wien nah Nom und befannte fi hier öffentlich zur römiſchen 
Kirche. Noch in demfelben Jahr wurde er Vice-Bibliothekar, und 
1663 Bibliothelar der kaiſerlichen Bibliothek in Wien. Hier ftarb 
er am 4. April 1680 2). Unter den Schriften des Lambecius 
kommt für ung feine Hauptarbeit in Betracht, feine Commentarüi 
de Bibliotheca Caesarea Vindobonensi, deren acht von 1665 
bis 1679 erſchienene Yoliobände noch nicht den britten Theil deſſen 
enthalten, was Lambecius beabfihtigte. Dies weitſchichtige, mit 
außgebreiteter, aber etwas wüſter @elehriamteit verfaßte Werl 
Hieferte fehr werthvolle Beiträge zur Kenntniß der altdeutſchen 
Sprache und Literatur. Mehrere der Heineren althochdeutſchen 
Denkmäler werden hier zum erftenmal veröffentlicht. So (1669) 
die Reichenauer Beichte 3), das Gedicht von der Samariterin ?), 
Theile der Ambraſer Predigtbruchftüde 9). Auch machte Lambecius 
(1669) zuerft auf das große Gloffar des Hrabanus Maurus ber 
Wiener Bibliothek aufmerkiam %). Am wichtigſten aber waren bie 
Aufihlüffe, die Lambecius (1669) über Otfeid gab. Die Wiener 
Handſchrift war bis dahin nur von Martin Zeiler (1628) und 
aus ihm von Matthäus Merian beiläufig erwähnt worden 7). Grit 
Rambecius machte die Gelehrten mit beren Inhalt näher bekannt. 
Er theilte bebeutende Ergänzungen zu ber Ausgabe des Flacius 


1) S. 0. 6. 60. — 2) Moller, Cimbria literate T. I, p.391 29. 
Friedr. Lor. Hoffmann, Peter Lambeck, Soest 1864. — 3) Nr. LXxull 
bei Müllenhoff u. Scherer, in Lambecii Comment. IT (1669) p. 318 sq- 
— 4) Comment. II. (1669) p.383 0q. — 5) Rr. LXXXVI bei Mällen- 
hoff u. Scherer, in Lambecii Comment. II. (1669) p. 757 0q. — 9) 
Comment. IT. (1669) p. 415 sg. — 7) Ebend. II. (1669) p. 453. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 167 


grins mit !) umb berichtigte neben mandem Anderen deſſen 
Wißverftändniß in Betreff der Benennung des Werts 2). Auch 
etenat er zuecft, daß wir drei verſchiedene Handſchriften von Ot- 
ftid's Wert befigen, nämlich erftens bie Wiener, zweitens die von 
Veatus Rhenanus erwähnte Freiſinger und drittens bie, aus wel- 
der die Ausgabe des Flacius gefloffen, die jetzige Heidelberger 9). 
Bie für Otfeid, fo war auch fir Notker das Wert des Lamdecius 
von Bedeutung. Ws er (1665) die werthvollſten Handſchriften 
ms Schloßz Ambras bei Innsbruck in die kaiſerliche ibliothel zu 
Bien verpflanzte, brachte er auch den jegt berühmten Coder (2681) 
von Rotler's Pſalmen mit ). Er Hält ihn zwar irrtümlich für 
ein Wert des Otfrid 5), aber die Hauptſache war, daß er (1609) 
ds Proben ben erften pſalm ©) und einige der Meineren in der 
Handſchrift enthaltenen Stüde 7) in feine Commentarien aufnahın. 
Fr diefelde Zeit wie die Mittheilungen bes Lambecius fällt (1667) 
die esite Veröffentlichung ber althochdeutſchen Exhortatio ad ple- 
bem christianam, unb zwar aus ber Gaffeler Handſchrift 9), 
dur, den gelehrten veformierten Theologen Heinrig.Hottinger 
(eb. zu Zürih 1620, am 5. Juni 1667 in der Limmat er⸗ 
tnınten) 9). 

Bir haben bisher nur von der Veröffentlichung neuen Stof- 
jes zu berichten gehabt, die ohne eigentliches Studium ber altdeut- 
fen Sprache unternommen wird. Um die Scheibe des 17. und 
18. Jahrhunderts aber tritt eine Bedeutende Wendung ein. Die 
imvirhung der ſtandinaviſchen, engliſchen und niederländiſchen 


1) Ebend. II. (1669) p. 481 sq. — 2). Cbenb. II. (1669) p. 419. — 
3) &bend. II, (1669) p. 457. — 4) Ebend. II (1669) p. 460. Bol. 
p: 608, 757. — 5) Ebend. II. (1669) p. 459. 461. — 6) Ebend. II. 
(1669) p. 461. — 7) So die oben (6. 166) erwäßnten Predigtbrucftüde, 
das Baterunfer (Comment. II, p. 462) und ben Eingaug "zum apoſtoliſchen 
Spmbolum (ebend.). — 8) Historise ecclesiae novi testamenti_Tom. 
VII, authore Joh. Henrico Hottingero, Tiguri 1667, p. 1219 sg, — 
9) Dr. Preffel in Herzog s Real-Encytt. für proteft. Theologie, Bd. 6. (1856). 
5 


168 Zweites Bud. Zweites Kapitel, 


Leiftungen und die durch Morhof uud Leibniz gegebenen Anveg- 
ungen rufen nun aud in Deutſchland ein felbftändiges Studium 
der älteren germanifchen Sprachen hervor. Eine Reihe achtbarer 
Gelehrter widmet ſich ihrer Erforſchung. Anfänglich ftchen fie noch 
vereinzelt. Aber obwohl fie von ganz verſchiedenen Punkten aus» 
gehen, ſehen wir fie dann mehr und mehr in wechſelſeitige Ber: 
Bindung treten. Einer der bebeutenbften umter ihnen war Johann 
Georg Ekhart!). Geboren im Jahr 1674 zu Duingen im 
Kalenbergiſchen widmete ſich Chart auf ber Univerfität Yeipzig 
hiſtoriſchen und philologifgen Studien. Im Jahr 1698 wurde er 
in Hannover mit Leibniz befannt, und biefer nahm ihm zu ſich, 
um fi bei feinen hiſtoriſchen Arbeiten feiner zu bedienen 2). 
1706 erhielt er durch Leibniz’ Vermittlung die Profeffur der Ge⸗ 
ſchichte an der Univerfität Helmftädt, jedoch ohne fein Verhältnig 
zu Leibniz aufzugeben. 1714 3) wurde er zum hannoveriſchen Rath 
und Hiftoriographen ernannt und als folder erft der Mitarbeiter 
und dann (1717) der Nachfolger des Leibniz. Schon als Gehülfe 
des Leibniz und dann als felbftändiger Hiftoriograph machte Ed» 
hart viele Reifen zur Durchforſchung der deutſchen Bibliothefen. 
Seine hiſtoriſchen und linguiſtiſchen Schriften erwarben ihm einen 
großen Ruf, und für feine im Jahr 1719 erſchienenen Origines 
Austriacae erhob ihn der Saifer in den Adelsftand. Aber für 
feine mannigfachen Arbeiten und Reifen vielleiht nicht genügend 
bezahlt und jebenfalls kein guter Wirth *) geriet) Eckhart in Han- 


1) So nannte er fi in fpäteren Jahren, feit er geabelt wurde. (rüber: 
bin ſchrieb er ſich Eccard. S. Guhrauer's Anm, zu Leibnitz's Deutfchen 
Schriften, Bd. I, Berlin 1838, ©. 97 u. Anhang S. 46. — 2) So nach 
Edhart's eigener Darftellung in feinem Lebenslauf des Hrn. von Leibniz 1717, 
in Murr's Journal zur Kunſigeſchichte u. f. f-, Thl. VII (1779) ©. 170, 
und ber Praefatio zu Leibnitii Collectanes etymologica, Hanoverae 
1717, p. 4. Die Nachrichten, die in (Wil’s) Hiſtoriſch-diplomatiſchem Ma- 
gazin, Bb. I (Nürnberg 1781) S. 186 — 140 mitgeteilt werben, find damit 
fo, wie fie dort gegeben werben, nicht zu vereinigen. — 3) Edharrs Lebens: 
Tauf des Hrn. von Leibniz bei Mur a. a. DO. ©. 187 fg. — 4) Echart 
hatte nach feiner eigenen Ausfage 1500 Thaler Gehalt, (j. Echart's Brief an 


Die germanifhe Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 169 


mover tief in Schulden, fo daß er zuletzt zu bem verzweifelten 
Mittel geiff, ſich (1723) feinen Gläubigern durch die Flucht zu 
entziehen. Er gieng zu ben Benedictinern in Corvey unb von ba 
nd Köln. Hier trat er am 2. Febr. 1724 im Collegium ber 
Rſuiten zur römiſchen Kirche über 1). Man legte anf die Gewin⸗ 
nung dieſes bedeutenden Gelehrten Teinen geringen Werth. Bon 
verigiedenen Seiten erhielt er Anerbietungen, unter welden er ben 
Auf als Math des Bifhofs von Würzburg mit dem Amt eines 
Hftoriographen, Bibliothefars und Arhivars annahm. In Würze 
burg führte er ein zurüdgezogenes arbeitfames Leben 2), ganz ver- 
tift in das Studium der Landesgeſchichte und zugleih ber er- 
wohenden Naturforigung mit Neigung und nühternem Blick zu- 
gehan?). Er ftarh dafeldft am 9. Februar 1780 4). Echart's 


den Garbinal Paffionei in ben Actis Eruditorum 1738, p. 201) unb dies 
mar nad) dem damaligen Geldwerth eine fehr anflänbige Beſoldung. Echarr's 
lagen Können aljo böcflens in Bezug auf befonbere Vergütungen einigen 
Grund haben. " 

1) J. C. Harenberg, Anecdota de J. G. Eccardo, in Nicol, Bar- 
key, Symbolae litterarine Haganae, Classis secundae Fascic. I. 
Hagae Comitum 1779, p. 158. — Ueber Edyart's Entweihung von Hans 
noder ſ. ben rührenden, aber unzweibeutigen Brief desfelben vom 18. Dec. 
1723 in (Wil’e) Hiforifch -diplomatifgem Magazin Bd. 1, Nürnberg 1781, 
6. 156 fg. In wiberlihem Gegenfaß zu biefem Brief ſteht Edhar’s Schreiz 
ben an ben Cardinal Pafjionei, das in den Acta apostolicae legationis 
Helveticae, Tugii 1729, mitgetheilt wird. Woher Übrigens Harenberg das 
Datum des 2. Febr. Hat, weiß ich nicht. Jener Brief an Paffionei, ber vom 
18. Januar 1724 datiert ift, müßte dann vor bem feierlichen Webertritt ges 
förieben fein. Nad dem Epitaphium, das der Bortede zum Erften Bd. von 
Gifar’e Comm. de reb. Franc. or. beigefügt if}, wäre Eqhart ſchon 1722 
in Köln übergetreten, was durch Edhart’s oben angeführten Brief vom 
18. Der. 1728 wiberlegt wird. — 2) Bol. Edhart’s Brief an Aug. Joh. 
Hugo vom 23. März 1727, bei Wil a. a. DO. ©. 167. — 3) ©. in bem 
eben angeführten Brief die brollige Gefichte, wie Echart den angeblichen 
Berfleinerungen bes Dr. Beringer auf bie Spur kommt, S. 162 fg. — 
4) 60 das Epitaphium Edhar’s am Schluß ber Praefatio des Erſten 
3%. der Comm. de reb, Franeiae orient. und Ign. Gropp, Wirdburgiſche 


170 Zweites Buch. Zweites Kapitel, 


gelehrte Thätigkeit ſchloß ſich aufs engfte an bie feines großen 
Gönners und Lehrers Leibmiz an. Als er 1698 defjen Secretär 
wurde, war er mehrere Sabre lang nur deſſen ſchreibende Hand, 
die das zu Papier brachte, was Leibniz angegeben oder geradezu 
dictiert hatte 1). So entftand der „Monatlihe Auszug aus aller- 
hand nen «herausgegebenen, nützlichen und artigen Büchern,“ der 
vom Jahr 1700 bis 1702 in Hannover ohne Nennung eines Her- 
ausgebers erſchien. Dan muß fi deshalb bei Eckhart's früheren 
Schriften in Acht nehmen, fein Verdienft nicht zu überſchätzen, da 
wir in ihnen nicht nur Echart's, fondern auch Leibniz’ Arbeit vor 
uns haben 2). Andererfeits aber zeugt e8 gerabe für Echhart's be⸗ 
deutendes Talent und veblichen Fleiß, daß ein Mann wie Leibniz 
ihm ſich zugejellte und ihn achtzehn Jahre lang eines fo weit 
gehenden Vertrauens würdigte. Schon von früher Jugend an’ Hatte 
fih Eckhart mit Leidenfhaft dem Studium der deutſchen Vorzeit 
zugewandt, und ganz bejonbers zog ihn die Unterſuchung ber Altes 
ven deuten Sprache an. Leibniz hatte Echart's Neigung und 


Ghronid Bb. II, (1750) Vorr. S. VI. Ebenſo Bönide, Grundriß einer Ge 
ſchichte von der Univerfität zu Wirzburg, Thl. II, Wirzburz 1788, ©. 26. 
(gegen Harenberg's Angabe a. a. D. ©. 169, Ecdhart fei 1729 geftorden). 
Für Edhart's Leben Habe id; außer ben bereits augeführten Schriften aud 
Hirſching's Hiſtoriſch-literar. Handbuch IL, 1 (1795), ©. 77 fg. benutt. 

1) So feint mir das Verhältni Xeibnigens zu dem gleich zu erwäh: 
nenden Monatlihen Auszug aufzufaffen zu fein. Leibniz war beffen eigentlicher Ur: 
heber, faft überall dem Inhalt und Häufig auch der Form nad. In dieſem 
Sinn flimme ich Guhrauer's ſcharfſiunigen Erörterungen (Leibnig’s Deutſche 
Schriften, Bd. II, Berlin 1840, Beilagen S. 3 fg.) Bei; und jedenfalls bat 
Edhart in feinem Lebenslauf von Leibniz (1717, in Murr's Journal 1779, 
©. 172 fg.) über den wirtlichen Antheil Leibnizens am Monatlichen Auszug 
viel zu wenig gefagt. Dagegen möchte ich bis zur Beibringung pofitiverer Be: 
weife Echart nicht bie Schlectigfeit zutrauen, baf er fid etwas beigelegt 
habe, woran er nach Guhrauer's Anfiht (S. 44) auch nit einmal den Anz 
theil eines Schreibers gehabt hätte. — 2) So werben wir, nach ber ganzen 
Sachlage und nah den Grfahrungen beim monatlihen Auszug, Egharre 
Aeußerung in der Historia studii etymologiei (1711) p. 325. 326 au& 
legen dürfen. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 171 


Begabung zur etymologifen Forſchung bald erkannt und ihr nad 
Kräften in feinen Beſtrebungen unterftügt und aufgemuntert '). 
Aus diefem Zuſammenwirken Leibnizens und Echart's giengen die 
früßeren Schriften Edhart’s hervor: Die Inauguraldiſſertation 
De usu et praestantia studii etymologiei in historia (1706, 
erweitert herausgegeben zu Helmftäbt 1707) und die Historia 
stadi etymologici linguse Germanicae hactenus impensi 
(Hannover 1711). In der erfteren ſucht Echart an ausgewählten 
Leipielen den Nuten bes etymologiſchen Studiums fir die ver⸗ 
qiedenen hiftorifchen Digciplinen nachzuweiſen. Beſonders hervor- 
nheben ift Hiebei der Verſuch Edhart's, mit Hilfe ber Etymologie 
in die deutſche Mythologie einzubringen. Die zweite Schrift ift 
ein trefflicher literarhiſtoriſcher Ueberblick über alles, mas bis dahin 
für die Erforſchung ber germaniſchen Sprachen fowohl in Deutſch- 
land, als in England, Skandinavien und den Nieverlanden geleiftet 
worden war. Nichts läßt uns ben gewaltigen Umſchwung diefer 
Studien feit ber zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts fo beuthid) 
eitennen, wie biefe Heine Schrift. Wir fehen, wie in der Hand 
des Leibniz und feines verbienten Mitarbeiters Echart die Fäden 
der altgermaniſchen Forſchung aus allen Ländern germanifchen 
Stammes zufanmenlaufen. Am Schluß des Buchs kündigt Edhart 
an, daß er ein etymologiſches Lexikon ber deutichen Sprache heraus⸗ 
geben wolle2). Aber obwohl er gegen dreißig Jahre für biefes 
Bert fammelte, brachte er es doch nicht zu Stande Echart's 
eigene Eiymologieen laſſen dies nicht allzuſehr bedauern. Sie 
unterſcheiden ſich von denen feiner Vorgänger durch eine umfafjen- 
dere Leuntniß der älteren germaniſchen Sprachen, aber fie find 
nicht weniger willturlich als die feiner meiften Beitgenoffen 3). Als 


1) Edharrs Praefatio zu Leibniz’ Collectanea etymol. 1717, p.4 sq. 
Leibniz, De originibus gentium (1710) in Leibnitii Opera ed. 
Dutens IV, 2, 192. — 2) Bol. auch Echart's Catechesis Theotisca 
am) p 59. — 3) Bol. 3. B. im zweiten Abſchnitt der Sqhrift 
de um et praestantia studii etymologiei (1707): »Et geat, 
gigas, et gut, bonus dieitur quasi geatet vel geotet, h. e. aliqua 


172 Zweites Bud. Zweites Kapitel, 


Herausgeber altdeutſcher Denkmäler erwarb fih Echart Bedeutende 
Berdienfte. Zuerſt durch feine 1718 zu Hannover erfdienenen 
Incerti monachi Weissenburgensis Catechesis Theotisca seculo 
IX conseripta. Hier veröffentlichte er zum erftenmal die althoch⸗ 
deutſchen latechetiſchen Stüce, welche die Wolfenbüttler aus Kloſter 
Weißenburg im Speyergau ftammende Handſchrift enthält. Er 
fügte in zweimäßiger Weife alle übrigen bis dahin veröffentlichten 
Denkmäler diefer Art bei und ſchicte dem Ganzen eine fehr gute 
Einleitung voraus. In feinem Veterum monumentorum qua- 
ternio (1720) machte Echart neben mehreren lateiniſchen Stüden 
aud das aus Latein und Altdeutſch gemifchte Gedicht auf Otto's I. 
Bruber Heinrich aus dem 10. Jahrhundert zum erftenmal belannt, 
freilih in kaum begreifliher Verlennung der Sprade als ein 
„Fragmentum poematis in laudem Henrici comitis palatini 
sd Rhenum anno MCCIX decantati.* Das wictigfte Wert 
Echart's für die Veröffentlichung altdeutſcher Denkmäler waren 
feine umfangreichen Commentarii de rebus Francise orientalis. 
Chart ftarb, ohne dies bedeutende Geihichtswert zu Ende zu 
führen. Aud der Drud der beiden eriten Bände, obſchon fie die 
Jahrzahl 1729 auf dem Titel tragen, wurde erſt nad Echart's 
Tod (9. Febr. 1780) vollendet 1. In biefem Wert wird zum 
erftenmal eins der wichtigſten altdeutſchen Denkmäler veröffentlicht: 
Das Hildebrandslied aus dem 8. Jahrhundert. In richtiger Er⸗ 
fenntniß von ber großen Bedeutung dieſes Bruchſtücs gibt Eckhart 
einen Theil der Handſchrift als Facſimile, darauf läßt er den Ab- 
drud des Ganzen folgen unter Beifügung einer lateiniſchen Weber- 
fegung und ausführlicher Erläuterungen 2). Daß es hier an einer 
Unzahl von Mißgriffen nicht fehlen konnte, verfteht fi von ſelbſt. 
Aber wir werben Echart zugeftehen, daß er ſich eine für feine Zeit 
achtnngswerthe Teritalifhe Kenntniß der alten Sprache zu verſchaffen 


re insignis vel praeditus in genere, a verbo frequentativo oten, ogten, 
ogeten, unde et ot, divitiae, bona.> 

1) ©. bie Fortfepung der Praofatio zum erfien Band. — 2) Tom. I, 
p· 864 — 902. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 Bis 1748. 178 


gemußt Hat. Vom grammatiichen Bau derſelben hat er freilich 
feine Ahnung ). Außer dem Hildebrandslied gehen Edhart’s 
Commentarii zuerft volfftändig Notler's Katechismus 2) nad der 
Bin» Ambrafer Handſchrift und fünf von den eben dort erhaltenen 
Predigtbruchftücken 3), und überhaupt zum erftermal die Würzbur- 
ger Beichte aus bem 9. Jahrhundert *) und, was für die Lerifafi- 
ſche Kenntniß des Althochdeutſchen von befonderem Werth war, 
eine Anzahl der wichtigften Gloffenfammlungen, darunter die Caſſe⸗ 
Ir), die bes Hrabanus zur Bihel®), die Florentiner 7) umd die 
lindenbrog ſche 3). Obwohl Chart die altdeutſchen Studien zu- 
nächft zu hiftorifch « antiquarifhen Zwecken trieb, blieb ihm deren 
dichteriſche Seite doch nicht fremd. Er gieng (1713) damit um, 
eine Geſchichte der deutihen Poeſie von ihrem Urfprung bis auf 
Dpig herauszugeben °), und feine gelegentlichen Bemerkungen zeigen 
kei allem Irrigen, daß er mehr Davon verftand, als feine meiften 
deitgenoſſen 10). 

Die Mitforſcher Echart's ſcheiden fid in zwei Gruppen, eine 
norddeutſche und eine fübdeutice. Den Mittelpunkt der norddeut ⸗ 
fen bildet Dieberih von Stade, ben der ſüddeutſchen Schilter's 
verſon und Schilter's Werl. Diederih von. Stade wurde 
geboren am 13. Oct. 1687 in Stade. Vom Jahr 1658 an wid⸗ 
mete er ſich zu Helmftäbt erft dem Stubium ber Theologie, dann 
dem der Jurisprudenz. Es war bie Zeit, in der Coming dort 
wirkte, den auch Stade unter feine Lehrer zählte. Nach Vollendung 


1) Bsl. 3. ©. die Bemerkung über heriuntuem — actus praedandi. 
«$ herion (populari) und thum p. 869. Ober bie Conjectur, zu fefen: 
iro rosaro rihtun (flatt iro saro rihtun), was bann heißen fol: equos 
sus praeparabant, p. 864. 869. — 2) Tom. II, p. 980 29. — 
3) end. p. 941 sq. — 4) Ebenb. p. 940. Nr. LXXV bei Müllenhoff 
und Scherer. — 5) Ebenb. Tom. I, p. 853 aq. — 6) Ebend. Tom. II, 
950 sg. Sie waren theilweiſe ſchon 1721 von Diecmann veräffentlicht. 
&u — 7) Ebenb. p. 981 ag. — 8) Ebend. p. 991 sq. — 9) Neuer 
veqeraal XXII. Oeffnung (Reipig 1718), ©. 753 fg. — 10) Bgl. z. v. 
den Gingang zu feinen Noten zum Hifbebranbslieb in ben Comment. de 
teb. Francise or. I. 866 sq. 


174 Zweites Bud. Zweites Kapitel. 


feiner Univerfitätsftudien unternahm Stabe eine Reiſe nach Schwe⸗ 
den. Wir müffen uns erinnern, baß feine Vaterftabt im Weft- 
fäliſchen Frieden (1648) mit den SHerzogthümern Bremen und 
Verden an die Krone Schweden gelommen war. Als Stabe in 
Schweden anlangte, begann dort gerade der großartige Aufſchwung 
der nordiſchen Altertfumsftudien, den wir in einem früheren Ab⸗ 
ſchnitt geſchildert haben 1). Loccenius, Rudbeck und Scheffer waren 
in Upfala feine Lehrer, und bald wurde er auch mit Verelius und 
Stiernhielm befreundet. Im Umgang mit diefen Männern ergiff 
ihn bie Heißefte Begierde, ber Crforſchung der altdeutſchen Sprache 
feine Kräfte zu widmen. Mit unermüblichem Eifer warf er ſich 
auf das Studium fowoßl ber alten, als ber neuen germanifchen 
Spraden. Ausgerüftet mit einer gründlichen Kenntnig des Schwe- 
diſchen kehrte er in feine Heimath zurüd und wurde bort 1668 
zum Secvetär bes Conſiſtoriums, 1711 zum Archivar der Herzog- 
thümer Bremen und Verden ernannt. Bald darauf aber vertrieben 
ihn die damaligen SKriegsläufte aus feiner Baterftabt. Er über- 
fiedelte nah Hamburg und von ba nah Bremen, wo er am 
19. Mat 1718 ftarh 2). Dieberi von Stade war ein Mann von 
milden Charakter und echter Frömmigkeit. Erſt als hochbetagter 
Greis gelangte er dazu, feine umfaſſende Gelehrjamteit ſchriftſtelle⸗ 
riſch zu verwerthen. Im Jahr 1706 geftattete er Palthen, ohne 
Nennung feines Namens feinen Herftellungsverfuh bes Gedichts 
von ber Samariterin zu veröffentlichen 2). Zwei Jahre darauf 
(Stadae 1708) ließ er fein Specimen Lectionum antiquarum 
Francicarım ex Otfridi monachi Wizenburgensis libris euan- 
geliorum folgen, worin er einige Abſchnitte bes Otfrid und eine 
Anzahl latechetiſcher althochbeutiher Denkmäler vereinigte, von einer 
lateiniſchen Ueberfegung und ſprachlichen Erklärungen begleitet. 
Daneben beichäftigte ihm Luther's Bibelſprache, deren ſchwierigere 


1) ©. 0. 6.150fg. — 2) Die thatſächlichen Angaben der obigen Lebens 
ffigge find entnommen aus Jo. Henr. a Seelen Memoria Stadeniana, Ham- 
burgi 1725. p. 33-52. — 3) Hinter Palthen's Ausgabe des Tatian, 
Gryphiswaldiae 1706, p. 419 sq. 





Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 175 


Ausbrüde er in einem 1711 (und fehr vermehrt 1724) erichienenen 
Bert erläuterte. Stade's Schriften zeugen von einer umfafjenden 
Lennmiß der germanijchen Sprachen und befien, was bis dahin zu 
üner Grforfung geliehen war. ¶ Jusbeſondere hat er ſich in fee 
eingehender Weiſe mit dem Althochdeutſchen beſchäftigt, wie bies 
feine Arbeiten über Otfrid beweifen und noch mehr beweifen wür⸗ 
den, wenn es ihm vergönnt geweſen wäre, feine in ber Handſchrift 
vollendete Ausgabe des ganzen Otfrid zu veröffentlichen. Er Hatte 
für dieſelbe nicht nur eine lateiniſche Ueberjegung und einen um⸗ 
fangreicden Inder angefertigt 1), ſondern angeregt durch den Vor⸗ 
gung des Hides 2) hatte er mod in feinem hohen Greifenalter 
(1710) eine Grammatik von Otfrid's Sprade ausgearbeitet. Die 
richtige Erkenntniß, daß zum Berftändniß altdeutſcher Schriften die 
ganmatiſche Unterſuchung ihrer Sprache unentsehrlih fei, hebt 
Stade über bie meiſten feiner deutſchen Zeitgenoſſen. Aber ba 
feine Grammatik, fo wie feine ganze Ausgabe des Dtfrid unge 
drudt blieb, hatten feine Bemühungen nicht bie weiter greifende 
Birhing, die fie vielleicht fonft gehabt haben würden. Natürlich 
dürfen wir uns nad unferen jegigen Begriffen überhaupt feine zu 
hehen Vorſtellungen von den Leiftungen Stade's machen, fo werth⸗ 
vol fie für ihre Zeit waren ). Sein handſchriftlicher Nachlaß 


1) Ueber Stade's Bearbeitung bes Dtfrib dgl. feinen Briefwechſel bei 
felen, Mem. Staden. p. 250. 295. 320. 336. 339. — 2) Im Jahr 
1694 hielt Gtabe noch bie Aufforderung des Hides, eine »Grammatica 
Iinguse Francicae« zu ſchreiben, für kaum ausführbar (Stade an Rift 
169, bei Seelen a. a. O. ©. 185). Erſt Hides eigener Vorgang im The- 
wuros (1705) ermufhigte Stade zu feinem Unternehmen. Bgl. Stade's 
Wuhfärift zu feinem Speeimen Lectionum Franeicarım (1708) p. 36; 
mb über Stade's Grammatik zum Otfrid Überhaupt feinen Briefwechſel bei 
Seelen a. a. ©. S. 295 fg. 340. 400. Unter Stabe's Papieren auf ber 
Bülistget zu Hannover befindet fih eine Grammatica Otfridiana und eine 
Grammatiea Franco -theotisca paradigmatico-Otfridiana. (©. Kelle's 
Ditid, I. Einl ©. 113). — 8) Im Ganzen wird man vor Stabe's Kennt: 
len, zumal des Althoqhdeutſchen, alle Achtung Gaben. Auf grammatiſchem 
Shlet Hat er durch einen glükfihen Einfall eine ſchöne Entdeckung ber Folge 


176 Zweites Bud Zweites Kapitel. 


wurde auf Efart’s Betrieb für die kurfürſtliche Bibliothel in 
Hannover erworben 1). Mit Dieberih von Stade in naher Ber- 
bindung fanden zwei andere fleißige Spradforiger, Johann 
Dieemann (geb. 1647 zu Stade, geft. ebenda als Generalfuper- 
intendent 1720), mit beflen Erläuterungen 1721 ein Theil der ſ. g. 
Rabaniſchen (Wiener) Gloſſen erfien, und Johann Philipp 
Balthen. Geboren 1672 zu Wolgaft, ftudierte Palthen in Greifs⸗ 
wald, machte dann Reiſen durch Holland, Schweden und Däne 
mark und fpäter (1697) duch Frankreich und England, und ſtarb 
als Brofeffor Hiftoriarım an der Univerfitit Greifswald 1710 2). 
Balthen verfaßte fehr viele hiſtoriſche und ſtaatsrechtliche Schriften, 
das wefentlichfte Verdienſt aber erwarb er ſich dadurch, daß er 
(Greifswald 1706) die althochdeutſche Ueberſetung von Tatian's 
Evangelienharmonie herausgab. Er entnahm fie der neueren Ab⸗ 
ſchrift, die aus dem Nachlaß des Franciscus Junius auf bie Bod- 
leyſche Bibliothel in Orford gekommen war. Mit dem Latin 
verband er ein anderes bebeutenbes althochdeutſches Denkmal, das 
bier zum erftenmal veröffentlicht wurde: Die Weberfegung von 
Isidorus de nativitate domini, aus ber Parifer Handſchrift 
Beide Werke verjah Palthen mit Anmerhmgen, die troß vieler 
Mißgriffe von einer für bie damalige Zeit fehr achtungswerthen 
Kenntnig der älteren germaniſchen Sprachen zeugen. 

Im fünlihen Deutſchland geht der Antrieb zu erneuter eifriger 
Tätigkeit auf dem Gebiet der altdeutſchen Literatur von Schilter 
aus. Johannes Schilter wurde geboren im Jahr 1632 zu 


zeit vorweggenommen. Gr erkennt nämlich in dem te ber ſchwachen Prat⸗ 
terita (lobe-te) Otfrid's »deda et teta.c (Seelen a. a. O. &. 352). Um 
aber unfre Vorſtellung von Stabe’s Kenntniffen richtig zu begrängen, führe 
ich beifpielsweife an, daß er brunsti von der flectierten Form brennest 
ableiten (eb. ©. 348) und brachte zu beran ziehen will (eb. ©. 351), dab 
er lekza (Otfr. an Salomo 5) für ein Verbum Hält und mit »edidici« 
überfegt (Specimen Lectionum Franc. p. 9), u. |. m. 

1) Seelen a. a. D. S. 146. Daf. ©. 138 fg. das Verzeichniß von 
Stabes Nachlaß. — 2) Jocher, nad; Greifswalder Univerfitätsprogt. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 Bis 1748. 177 


Pegan im Churfürftentgum Sachſen. Vom Jahr 1651 bis 55 
widmete er fi zu Sena und Leipzig dem Studium der Philofophie 
mb der antifen Literatur und erft nachdem er fih auch auf dem 
Gebiet der Theologie und Medicin umgefehen hatte, ergab er fid, 
nach Jena zurücgelehrt, fünf Jahre hindurch dem Studium ber 
risprudenz. Nach einer mannigfaltigen praftiichen umd gelehrten 
Zpötigfeit zu Naumburg, Suhl, Jena und Frankfurt nahm er im 
Jahr 1686 einen Ruf als Rathsconfulent und Profeffor Honora⸗ 
us an der Univerfität zu Straßburg an. Der Eifer und bie 
Gewiffenhaftigkeit, mit der er trog ſchwerer körperlicher Leiden 
diefen doppelten Beruf bis an fein Lebensende ausfüllte, erwarben 
ihm die größte Hochachtung. Er jtarb am 14. Mai 1705 1). Auf 
allen Gebieten der Rechtswiſſenſchaft zu Haufe 2), erwarb ſich 
Schilter doch fein größtes Verdienft um das deutſche Recht und 
die deutſchen Alterthümer. Die Verbindung juriftiiher und ge 
ſcichtlicher Forihungen führte Schilter au zu dem Studium 
after alten Sprachdenkmäler. Sein Codex juris Alemanniei 
feudalis (1697) und feine Ausgabe von Jakob's von Königshoven 
ſtraßburgiſcher Ehromit (1698) gehöven bereits unferem Gebiet an. 
Das bedeutendſte Wert aber, an welchem Schilter viele Jahre mit 
taſtloſem Fleiß arbeitete, defien Herausgabe er aber nicht mehr 
eilebte, war fein Thesaurus antiquitatum Teutonicarum. Einen 
Borläufer desfelben bildete (1696) Schilter's Ausgabe des althod- 
deutjchen Ludwigsliedes nach einer Abfchrift, die cinige Jahre zuvor 
Mabillon im Kloſter St. Amand genommen hatte. Schon im 
Jahre 1693 Hatte Schilter feine Ausgabe des Otfrid drudfertig, 
1698 gab er ein Meines Specimen derfelben heraus. Aber erft lange 
uch Schilter's Tod follte fein Thesaurus an's Licht treten. Doc 
diefer Verzug fam dem Werke fehr zu Statten. Denn einerfeits 


1) Die obigen Nachrichten find entnommen aus ben Straßburger afabes 
wlßen Scriften über Schilier's Leben, die ſich in deſſen Thesaurus Anti- 
quitatum Teutonicarum, Tom. II. abgebrudt finden. — 2) ©. das Ver⸗ 
widmiß von Eehilter’s zahlreichen Schriften bei J. F. Jugler, Beyträge zur 
ixtitiſchen Biographie, Bb. VI, Leipz. 1780, ©. 77 fg. 

Raumer, Gef. der germ. Philologie. 2 


178 Zweites Buch. Zweites Kapitel. 


wurden Schilter's Sammlung nod mehrere widtige Sprachdenl⸗ 
mäler Hinzugefügt, anbrerjeits verjah Schilter's bedeutenbfter Schüler 
Johann Georg Scherz bie Arbeiten feines Lehrers mit werth⸗ 
vollen Berihtigungen und Zufägen Geboren zu Straßburg im 
J. 1678 hatte Scherz auf der bortigen Univerfität erft antike Lite ⸗ 
ratur und Bhilofophie, dann Jurisprudenz ſtudiert und namentlich 
auch Schilter unter feine Lehrer gezählt. Nach einer längeren 
wifienfhaftligen Reiſe duch Deutſchland wurde er 1702 an ber 
Univerfität Straßburg Profeflor der Moralphilofophie, 1711 der 
Jurisprudenz. Er ftarb am 1. April 17541), Die allgemeine 
Leitung bei der Herausgabe von Schilter's Thesaurus übernahm 
Johann Frick (geb. zu Ulm 1670, + als Senior Miniſterü 
dafelbft 1789), den Verlag ber Buchhändler Bartholomaei?) 
in Ulm. So erſchien bies umfangreiche Wert endlich in den Jah⸗ 
en 1726 bis 1728 in brei ftarten Foliobänden, deren zwei erfte 
eine große Menge der wichtigſten altdeutſchen Spracbentmäler 
enthalten, während ber dritte ein Glossarium Teutonicum gibt. 
Die Sprachdenkmäler, die hier gefammelt erſcheinen, find theils 
zum erftenmal veröffentlicht, theils find es neue Ausgaben bereits 
belannt gemachter Texte. Unter ben letzteren nimmt die wichtigſte 
Stelle ein das Gvangelienbud des Otfrid. Wir haben bie bit 
herigen Bemühungen um bies größte Denkmal der althochdeutſchen 
Poeſie verzeichnet. So achtungswerth fie auch find, fo war doch 
ſeit Flacius Illyricus (1571) feine neue Ausgabe des Otfrid 
mehr erſchienen, und jener alte fehr mangelhafte Abdruck war noch 
dazu Außerft felten geworden 3). Es war deshalb fon an fih 
ein Verbienft, dem gelehrten Publicum ven Text des Otfrid wieder 
zugänglich zu machen. Die Art, wie dies Hier geſchah, Kat zwar 
nicht unverbienten Tabel gefunden. Vergleichen wir aber bie neue 

1) Obige Angaben find entnommen aus: Neuer Zeitungen von Gelee: 
ten Sachen auf das Jahr 1754 Erſter Theil, Leippig, ©. 459 fg. — 2) El. 
bie Praef. generalis zum Sdiilter ſchen Thes. p. XVII. — 3) Bl. 
ben Briefwechſel Stade's mit Eggeling bei Seelen Memoria Staden. 
p. 250 29. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 Bis 1748. 179 


Ausgabe mit der des Flacius, fo werben wir nicht läugnen, daß fie 
einen bedeutenden Fortſchritt bezeichnet. Schilter legte den Text 
bes Flacius zu Grunde, benutzte zu deſſen Verbefferung die Ar- 
beiten von Freher und Lambecius und begleitete das ganze Gedicht 
mit einer lateiniſchen Weberfegüung und erläuternden Anmerkungen. 
Da Schilter jeine Arbeit fon 1693 !) im Weſentlichen abſchloß, 
jo verwerthete erſt Scherz Roſtgaard's Vergleihung des damals, 
Baticanifchen (jest Heidelberger) Coder und die Abſchrift des Wie- 
ner Codex, die Schilter's Schüler 2), der Straßburger Joh. Phil. 
Schmid, für feinen Lehrer genommen hatte. Er that dies in Zu- 
fügen zu Schilter's Anmerkungen, indem er Schilter's Text unbe 
rührt ließ. Dies Verfahren war ohne Zweifel zwedwibrig, und 
&enjo ift es auffallend, daß fowohl Schilter, als Scherz über die 
Handſchriften von Otfrid's Wert im Unflaren blieben. Auch wim⸗ 
met Schilter's Ueberfegung von Fehlern, und Scherz verbeffert 
diefe zwar häufig und nicht felten mit großem Scharffinn, oft aber 
iſt aud er im Irrthum. Das Schlimmfte ift, daß Schilter vom 
grammatifchen Bau des Althochdeutſchen feine Ahnung Bat, und 
auch Scherz trog feiner weit größeren Kenntniſſe fi gerade in 
dieſer Hinficht feiner Aufgabe nicht gewachſen zeigt ?). Aber trog 
alledem ift in biefer Ausgabe bes Otfrib für Terxtkritik und Er⸗ 
Mlärung nicht wenig gefchehen. Sie bot dem damaligen Lefer ein 
iehr erwũnſchtes Hülfsmittel, und wer fid in jene Zeit verfegt, der 
wird zugeben, daß Schilter, und ohne allen Vergleih mehr noch 
Scherz fi durch bloße Uebung eine ſolche Kenntniß des Althoc- 
deutſchen erworben haben, wie fie damals nur jehr Wenige be- 
ſaßen 4). Auch die übrigen ſchon früher veröffentlichten Stüde gibt 


1) ©. Schiller's Praefatio zum Offrib c. II. — 2) Praefatio 
generalis zu Schilter's Thes., Tom. I, p. VI. — Schmid's Brief an Stade 
in Seelen's Memor. Staden. p. 330. — 3) ©. bie Belege in Kelle's Ot- 
fü, 8b. I, Einl. ©. 122 fg. — Bon Schilter bemerkt ſchon Diederich von 
Stade (1716), daß feine „Werde nicht fo gut und richtig ſeyn werben, wie 
man ſich einbilbet, weil er. Teine Grammatifche Art verftanden.‘ Seelen, 
Mem. Staden. p. 339. — 4) Ich begreife vollkommen Kelle's hartes 

. 12* 


180 Zweites Buch. Zweites. Kapitel. 


Schilter's Thefaurus zum Theil in verbefferter Geftalt. So wird 
bei Willeram's Paraphraſe des Hohenlieds die Breslauer Hand- 
ſchrift zu Grunde gelegt, für ben Wiederabdruck von Golbaft’s 
Paraenetifern die Parifer Handſchrift von neuem verglichen. Unter 
den übrigen heben wir nur noch ben wiederholten Abbrud des alt 
hochdeutſchen Tatian und Iſidorus hervor. Aber Schilter's The 
ſaurus machte nicht bloß bereits Gedrudtes in verbeſſerter Gejtalt 
zugänglich, ſondern er bereicherte die Wiſſenſchaft durch die werth- 
vollſten Inedita. An ihrer Spige fteht Notker's Pſalmenwert, 
das bier zum erftenmal erideint. Eine gründlide Dissertatio 
eritico-historica des St. Galler Capitularen und Bibliothelars 
Bernhard Frand, die dem Abdrud vorangefdidt ift, weift ben 
Irrthum bes Lambecius, als fei Otfrid von Weißenburg Berfafler 
dieſes Pfalmenmwerts, zurüd und ftellt für immer feit, daß dasſelbe 
von Notker Labeo herrührt. Ein anderes für die Sprachforſchung 
wichtiges Denkmal, das Schilter's Thefaurus zum erftenmal voll- 
ftändig bietet, ift Kero's althochdeutſche Interlinearverſion der Bes 
mebictinerregel. Aber au die Kenntniß des Mittelhochdeutichen 
erfuhr eine wefentlihe Bereicherung dadurch, daß hier zum erften- 
mal das Rolandslied des Pfaffen Conrad und befien Umarbeitung 
durch den Strider veröffentlicht wird. Das umfangreihe altdeutjch- 
lateiniſche Gloffarium, das den dritten Band von Schijter's The 
ſaurus füllt, muß natürlich bei dem damaligen Stand der Kennt 
niffe an fehr großen Gebrechen leiden, aber als ber erite derartige 
Verſuch nimmt es in ber Geſchichte unferer Wiſſenſchaft eine beach- 
tenswerthe Stelle ein. Werfen wir noch einmal einen Blick auf 
das ganze Unternehmen, fo erhellt feine Bedeutſamleit ſchon hin⸗ 
reichend daraus, daf die im demfelben abgebrudten Sprachdenkmäler 
ein Jahrhundert lang die hauptſächlichſte Grundlage für unfre 
Kenntniß des Althochdeutſchen gebildet haben. Obwohl Schilter's 


Urteil über Sqherz (Otfrid I, Einl. 8.120). Aber die Gefchichte ber Wiffen- 
ſchaft Hat fih in die Zeit zu verfegen, bie fie ſchildert. Vgl. das Lob, das 
Hoffmann von Fallersieben Scherz erteilt (im Weimar. Jahrb. für deut- 
sche Sprache I, 8. 59) und Grimm in der Gramm. I (1) S. LXXIII. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 181 


Kenntniffe mehr in die Breite als in die Tiefe giengen, iſt er fo- 
wohl durch feine Schriften, wie durch fein Lehramt von bedeuten- 
dem Einfluß auf die Entwicklung unferer Wiſſenſchaft geweien. Es 
mat einen wehmüthigen Einbrud, daß Straßburg um biefelbe 
Zeit, in der es dem deutſchen Reiche durch franzöſiſchen Raub ver 
Ioren geht, durch Schilter's Bemühungen ein Mittelpunkt der deut 
Ken Sprach⸗ und Alterthumsforſchung wird. Schilter's Schüler 
Scherz, feinem Meifter an gründliher Sprachkenntniß weit über 
legen, gibt deſſen Thefaurus durch feine Zufäge erft den vechten 
Werth und arbeitet ein langes Leben hindurch an einem Glossa- 
rum Germanicum medii aevi, das dann (1781) lange nah 
feinem Tod gleichfalls ein Straßburger Gelehrter, Oberlin, heraus» 
gt’). Und was Mmüpft ſich nicht Alles am diefe Thätigfeit der 
Straßburger Alterthumsforſcher und an Straßburg's deutſche Ver⸗ 
gangenheit überhaupt! Durch Scherz werben Bodmer und Brei- 
finger auf die Pariſer Minneſängerhandſchrift ayfmerffam, durch 
Shöpflin erhalten fie dieſelbe zugeſchickt, und in demfelden Straß ⸗ 
burg geht dem jugendlichen Goethe der Sinn für deutſche Kumt 
und deutſches Alterthum auf. 

Doch ehren wir zurück von dieſem Vorausbiie zu den erſten 
dehrzehnten des 18. Jahrhunderts. Wir haben da unter ben 
Förderern der altdeutſchen Literatur noch die gelehrten Brüder 
Bernhard und Hieronymus Pez zu nennen. Geboren zu 
Is in Niederöftreih traten beide in den Benebictinerorden und 
gehörten zu deſſen Bierden im Stifte Melt. Hieronymus 
{f am 14. Oct. 1762) ?) veröffentlichte (1745) in feinen Boripto- 
res rerum Austriacarum die Reimchronik bes Ottokar von 
Hornet, und Bernhard (+ 1785) gab in feinem Thesaurus 
aneedotorum (1721) zum erftenmal das Weſſobrunner Gebet ®) 
ber und eine große Anzahl althochdeutſcher Gloffen, barunter 
die umfangreichen Monſeeer 4). 





H S. — 9 S. über ihn (Schrödh in) Neue Zeitungen vom 
Gelchtien Sachen, Leipzig 1762, 22. Rod. — 3) Tom. I, col. 418. — 
4) Eid. col. 317 29. \ 


182 Zweites Bud. Zweites Kapitel, 


Wir fehen in unferer Periode die deutſchen Gelehrten vor- 
zugsweife mit den Denkmalen des Althochdeutſchen und Hin und 
wieder au mit denen bes Mittelhochdeutſchen beicäftigt. Die 
übrigen älteren germaniſchen Sprachen finden nur eine fpärlige 
Pflege. Wir erwähnen die Differtation, die 1698 ©. F. Heupel 
in Wittenberg über bie gothiſche Evangelienüberſetzung veröffente 
lite 2). — Zu ben flanbinavifen Sprachen führte einerjeits die 
Unterfugung des germaniſchen Heibentfums, anbrerfeits bie Ber 
ſchäftigung mit der ſchwediſchen und däniſchen Literatur. Welden 
Einfluß die früherhin geſchilderten epochemachenden Arbeiten ber 
ſtandinaviſchen Gelehrten hier übten, fieht man beutli, wenn mar 
die 1691 erfienene „Cimbrifhe Heyden-Neligion“ des Trogillus 
Arntiel (geb. zu Tollſted in Schleswig, + 1718 als Probſt zu 
Apenrade) mit ber 1648 herausgegebenen Schrift des Elias 
Schede (+ 1641) vergleicht. Während Schede trog alles gelehrten 
Zuſammentragens griechiſcher und lateiniſcher Citate über die wirt 
liche Mythologie der Germanen noch fo gut wie michts weiß, ber 
treten wir bei Arnkiel, jo wunderliche Dinge er auch noch vorbringt, 
doch wenigſtens theilweife feften Boden, weil ihm Reſenius' Edda 
belannt ift. Auch ſucht er, gebilbet an den Arheiten Worm’s, Ru⸗ 
neninfhriften zu entziffern 2). Ebenſo vertraut mit den ffanbina« 
viſchen Forſchungen finden wir dann Joh. Georg Keyßler 
(geb. zu Turnau 1698, + 1743 zu Stintenburg im Lauenburgiſchen) 
in feinen Antiquitates selectae septentrionales (1720). Eine 
gründliche Kenntniß der ſchwediſchen und däniſchen Literatur zeigte 
in feinen Schriften Joh. Moller (geb. zu Flensburg 1661, + 
als Nector daſelbſt 1725). Joh. David Köhler (geb. zu Coldiz 
1684, + 1755 als Prof. in Göttingen) ſchrieb 1724 als Brof. zu 
Altdorf ein Heines Programm de Bealdis. — Mit einzelnen Er- 
ſcheinungen der älteren neuhochdeutſchen Literatur befchäftigten fih 
die Gelehrten jener Zeit aus antiquariſchen, bibliographiſchen und 


1) Wieder abgebrudt in A. J. Bifhing’s Ausg. von pres Seripts 
versionem Ulphilanam illustrantia, Berlin 1773. — 2) Arnfiel, Cim 
briſche Heyben-Begräbniffe, Hamburg 1702, ©. 346 fg. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bie 1748. 183 


anderen Geſichtspunklten. Wir erwähnen Hier nur Joh. Chris 
ſtoph Wagenfeil’s (geb. zu Nürnberg 1683, + als Prof. zu 
Aldorf 1705) Schrift über die Meifterfänger (1696) und bie bes 
fhon genannten J. D. Köfler über den Teuerdank (1714). 

Unter den zahlreichen Schriften, die fi in diefem Zeitraum 
mit den Urfprängen ber beutfhen Sprade und der Etymologie 
ihrer Wörter Hefchäftigen '), wollen wir nur zwei hervorheben. 
Gleich am Beginn nämlich finden wir einen Mann, ber mit großer 
Einfiht die älteren germaniſchen Spraden für bie Erforſchung ber 
deutſchen Wörter benügt, den wvielfeitig gelehrten Johannes 
Borft (geb. zu Weffelburg in Ditmarſchen 1623; 1660 Rector 
des cölniſchen Gymnaſiums umd Bihliothefar zu Berlin, + 1696) 2). 
In feinem Observationum in linguam vernaculam specimen 
(1669) 3) erflärt er eine Anzahl zum Theil fehr verbunfelter beut- 
ſter Wörter meift richtig durch Zurüdführung auf ihre älteren 
Formen ). Den größten Namen aber machte fid bei feinen Beit- 
genoffen auf bem Gebiet der deutſchen Etymologie Johannn 
Georg Water. Geboren zu Memmingen im Jahr 1673 ftu- 
dierte er zu Tübingen Theologie, gieng dann auf Reifen, lebte 
einige Zeit in Amfterdam, bis er in Berlin von König Friedrich I. 
für Berfertigung der Auffhriften und Devifen eine Beſoldung er- 
hielt. Durch die Mebuctionen unter Friedrich Wilhelm I. verlor 
a (1722) diefe Stellung. Er wandte fi nad Dresden und von 
da nad) Leipzig, „allwo er,“ nad feinem eigenen Ausdruck, „bie 
Eipmologie der deutſchen Sprache als ein Bret im Schiffbruche 
ergriffen, und erftlih das eine, hernach das große Glossarium 
geſchrieben. Kaum war biefe Arbeit vollendet, jo hat der Rath in 
&iygig, deſſen Eyfer für die ſchönen Wiſſenſchaften auf eine rühm- 





1) Bel. bie betreffenden Abjchnitte in Edhart’s Historia studii etymol. 
mb Reichatd's Verſuch einer Hifiorie ber deutſchen Spradfunft. — 2) Mol- 
\er, Cimbria literata I, 700 sg. — 8) Eine deutſche Meberfegung dieſer 
Wertgoollen kleinen Schift findet fi in ben Beyträgen zur crit. Hiſtorie ber 
heutigen Sprache, Bd. 7, Leipz. 1741, ©. 179 fg. — ABl. 4. B. 
Ber Ableitung von Demuth, &wa, ruchlos u. Anderes. 


184 Zweites Bud. Zweites Kapitel. 


lie Art bekannt ift, ſich feiner angenommen, ihm das Verzeichniß 
der griechiſchen und römifhen Münzen bey feiner angejehenen 
Bibliothek zu verfertigen aufgetragen und ihm eine anſehnliche Ber 
foldung auf Lebenszeit ausgefeget“ 1). Wachter jtarb am 7. Nov. 
1757. Ein Mann von umfaffender Gelchrfamteit Hatte ſich Wachter 
mit ſehr verfehiedenartigen Dingen, mit dem Spinozismus im Juden⸗ 
thum, dem Naturrecht, antiter Münzkunde befhäftigt. Sein haupt- 
ſächlichſtes Studium aber wandte er der Erforſchung der germani- 
fen Spraden zu. Im Jahr 1723 veröffentlichte er in ben Ab» 
Handlungen der Berliner Akademie eine Commentatio de lingus 
codieis argentei, 1737 zu Leipzig fein großes Glossarium Ger- 
manicum, continens origines et antiquitates totius linguse 
Germanicae, et omnium pene vocabulorum, vigentium et 
desitorum, nachdem er ſchon 1727 ein Specimen besjelben voran 
geihidt Hatte. Der Titel diefes Werfs verſpricht beträchtlich zu 
viel, aber allerdings hat Wachter einen großen Theil der damals 
zugänglihen altgermanifhen Sprachdenkmäler für feinen Zwec 
durchgearbeitet. Dem alphabetiſch geordneten Gloffar ſendet er 
eine Einleitung voraus, worin er die Grunbfäße feines etymolo⸗ 
giſchen Verfahrens darlegt. Er beruft ſich babei auf feine beden⸗ 
tendften Vorgänger: Franz Junius 2), Leibniz 3) und Ten Kate‘). 
So weit e8 ihm möglich ift, ſucht er auf die älteften Formen der 
Wörter zurüczugehen 9). Die germanijgen Spraden Hält er für 
celtiſch ©) umd das Angelſächſiſche für die ältefte derfelden, melde die 
Mutter aud des Isländiſchen, Däniſchen und Schwediſchen ſei ). 
Sehr bedenklich iſt Wachter's Anſicht, daß der Etymolog mehr auf 
den intellectus, als auf den sonus der Wörter zu achten habe?). 
Doch will er aud Feine willfürlihe Behandlung der lautlichen 


1) 3. ©. Wagter's Selbſtbiographie, aus feiner Handſchrift abgedrudt 
in der Bibliothek der ſchönen Wiſſenſchaften, Bd. IX, Leipzig 1763, ©. 169 
2) S. bie Praefatio zu dem Specimen von 1727, XLVIL, — 3) Eben. 
XLIX. — 4) Ebend. XXXI. — 5) Ebend. L. — 6) Eben. XXVIII. 
XXXII. XXXVI. LI. — 7) Ebend. XLII. — 8) Prolegom. zum Glos- 
sarium vom 3. 1737, Sectio I, XXIV. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 185 


Form. Bielmehr find zuvörderft die Praefixa und Buffixa ber 
Börter abzufcheiden, und von beiden gibt Wachter ein ziemlih um⸗ 
fangreices Berzeichniß 1). Dann ift zu beachten, daß im der Regel 
aut die verwandten Raute ſich einander anziehen oder auch mitein- 
ander vertaufchen?). Doch wechſeln „ex genio linguae* aud 
mande nit verwandte Laute ?). Verwandte Raute aber nennt 
Wachter die, welche von benfelden Sautwerkzeugen gebildet werden 4). 
So ſcheidet er die Gonfonanten, im Anſchluß an den Mediciner 
Joh. Konrad Amman, in Gutturales, Linguales, Labiales und 
Dentales 6). Hier, wie in manchem Anderen, fehen wir bei Wad- 
ter gute Anfänge, und auch die Ausführung hat für ihre Zeit viel 
Berdienftliches. Im Anſchluß an feine Vorgänger verzeichnet er die 
öfter wiederkehrenden Lautwechfel und barumter aud einen Theil 
der germaniſchen Lautverfchiebung. Aber Alles bunt gemifcht, fo 
daß es ihm durchaus noch nicht gelingt, die Willfür des Etymolo- 
gifierens duch ftreng grammatiiche Zergliederung und Aufdeckung 
durchgreifender Lautwandelgeſetze zu befeitigen 8), wie bies dem fol» 
genden Jahrhundert vorbehalten war. 


3 Grammatifhe und lexikaliſche Bearbeitung der nenhohdenifhen Spracht 
vom Jahr 1665 bis zum Jahr 1748. 


Böbiker. Stieler. Steinbad. Friſch. 


Im Anflug an die Bemühungen der vorigen Periode fegt 
fih auch gegen Ende des 17. Jahrhunderts und in ber erften Hälfte 
des 18. dag Streben fort, die neuhochdeutihe Sprade grammatiih 


1) &bend. Beet. V und VI. — 2) Ebend. Sect. IM, I und IL — 
3) &bend. Soct. III, III. — 4) Ebend. Sect, III, I. — 5) Ebend. Seot. 
I, XIX eg. ®gl. Joh. Conr. Amman, Surdus loquens, Amstelaedami 
1892, p. 28. Deſſen Dissertatio de loquela, ebenb. 1700, p. 56. — 
9 Bl. 4 8. was Wachter (a. a. O. Seotio IV) über bie Anaftrophe fagt, 
dermöge deren Suuoc und mod, das gothiſche fan (! dominus) und cams 
briſch maf identiſch fein follen; und über die Epenthefis, ber gemäß nicht 
@4 niet durch ein eingefhobenes ch entflanben fein fol, und ebenfo wicht 
@ quid. 


186 Zweites Buch. Zweites Kapitel. 


und lerikaliſch feftzuftellen; und wie früherhin, fo verbindet ſich 
auch jegt mit biefem Streben, und zwar mit wachſendem Erfolg, 
der Verſuch, bie deutſche Sprache geſchichtlich zu erforſchen. Wir 
müſſen aber, wenn wir ein richtiges Urtheil über die Hier in Be 
trat kommenden Männer gewinnen wollen, dieſe beiden Seiten 
forgfältig auseinanderhalten. Gleich bei dem erften derſelben 
tritt uns dieſe Bemerkung entgegen. Johann Bödiker, ge 
boren 1641 ummweit Stettin, 1673 Conrector, von 1675 bis zu 
feinem Tod 1695 Mector des cölniſchen Gymnafiums zu 
Berlin 1), gab im Jahre 1690 eine Schulgrammatit der beut- 
hen Sprade Heraus, unter dem Titel: „Grund -Cäte ber 
Deutfjen Sprachen.“ Als Lehrbuch ber deutjſchen Schriftiprage 
übertrifft dieſe Grammatik entſchieden die vorausgegangenen. In 
kurzen und bündigen Sägen trägt der Verfaſſer feine Regeln vor 
und in mehr als einer Beziehung hat er die Feſtſetzung ber beut- 
ſchen Scriftfprache gefördert. So find 3. B. feine Beſtimmungen 
über den Unterſchied von vor und für 2) diejelben, die ſich bis auf 
den heutigen Tag in Geltung erhalten Haben. Dagegen ift an 
feinen Verſuchen, die deutſche Sprache gelehrt zu erforſchen, nur 
das zu loben, daß er überhaupt vom Altdeutſchen Kunde nimmt. 
In der Ausführung befindet er fi no ganz auf dem unkritiſchen 
Standpunkt feiner deutſchen Vorgänger. Die deutſche Sprade ift 
ihm die ältefte Tochter der hebräiſchen ) und die Mutter der grie 
chiſchen, lateiniſchen und aller anderen europäiſchen +). Dem ent 
fprechend leitet er die beutjchen Wörter unmittelbar aus dem Heb- 
raiſchen ab, und zwar in haarfträubenber Weile. So zählt er un 
ter den Veränderungen, „wenn eine Sprache von der anderen her- 
tkömmt,“ als ſechſte „die Nüdlefung, Anastrophe* auf und behan- 
delt fie als ein vegelvechtes Mittel der Etymologie. Durch folde 
Umdrehung foll das Hebrätfhe nahag das deutſche gehen, das 
hebräifche naschak das beutfhe küssen fein, u. ſ. w.d). „Wenn 


1) Ueber fein Leben vgl. G. ©. Küfter, Forigeſeztes Altes und Reue 
Berlin, Berlin 1752 ©. 975 fg. — 2) ©. 575 fg. ber Ausgabe von 1709. 
— 3) Ebend. ©. 173 fg. — 4) Eben. S. 420. — 5) Ebend. ©. 165. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 187 


ife diefe, und fonft wenige Stüd beobachtet”, fagt er, „Io habt ihr 
die gange Babyloniſche Verwirrung; Ober vielmehr aller Spraden 
Unfprung, Ableitung und Uebereinftimmmung* '). 

Saft gleichzeitig mit Bödiker trat Caspar Stieler auf. 
Geboren zu Erfurt im Jahr 1632 führte er ein fehr wechſelvolles 
Leben. Die fruchtbringende Geſellſchaft ernannte ihn 1668 zu ihrem 
Mitglied unter dem Namen des Spaten (d. h. bes Späten), 
und Kaiſer Joſeph I. erhob ihn 1705 in den Abelftand. Er ftarb 
a Erfurt im Jahr 1707 2). Sein Hauptwerk ift: Der Teutfhen 
Sprache Stammbaum und Fortwachs, ober Teutſcher Sprad- 
fhag — durch unermüdeten Fleiß in’ vielen Jahren gejamlet von 
dem Spaten. Nürnberg 1691. — Stieler's mühfames und fleißi- 
93 Wert war ber erfte Verfud eines deutſchen Wörterbuchs feit 
Heniſchs unvollendetem Unternehmen. Der Verfaſſer hat es nur 
af eine Sammlung der zu feiner Zeit gebräuchlichen Wörter ab- 
giehen3). Im feinen Etgmologieen fteht er auf dem Stanbpunft 
Schottels, überbietet ihn aber in dem Streben, ber beutichen 
Sprae möglichft viel zuzumenden, fo daß er 3. B. das Wort 
Biſchof von dyſchuwen, beyſchauen (observare) ableitet‘). Den 
von Stieler wieder aufgenommenen Verſuch, ein vollftändiges 
deutſches Wörterbuch herzuftellen, führte der Breslauer Arzt Chri- 
Hopp) Ernft Steinbach (geb. zu Semmelwitz bei Jauer 1699, 
get. 1741) weiter. Er trat zuerft mit einer „kurtzen und gründ⸗ 
lihen Anweifung zur Deutſchen Sprache — Rostochü et Parchimi 
— 1724 hervor. Dies Heine Buch ift beſonders dadurch merk⸗ 
würdig, daß der Verfaffer die Annahme, als ſeien unfre ſtarken 
deitwörter irregularia, verwirft. Er theilt vielmehr unfre Verba 
in zwei Eonjugationen, deren erfte das Supinum auf en bilde und 


1) Ebend. ©. 165. — 2) Ueber Stieler's Leben und Schriften vgl. 
35. von Faldenftein, Analecta Nordgaviensia, IV. Nadlefe, Schwa-⸗ 
a 1738, ©. 253 — 280. — 3) Borr. Bl. 9. — 4) Spalte 174. Bol. 
Br. 8.11. — 5) So nennt er fi) auf dem Titel und in ber Unterfehrift 
de Bibmung feines größeren Wörterbuchs. Auf dem Titel feines (frügeren) 
Heineren Worierbuchs Reht Gpriftian. 


188 Zweites Buch. Zweites Kapitel. 


lauter verba primitiva enthalte, weshalb er ihr aud die erfte 
Stelle einräume. Nach der verfchiedenen Abwandlung der Vocale 
ſcheidet er dann die Verba diefer Conjugation in fünf Ordmmgen '). 
Die zweite Conjugation bilden ihm die Verba mit dem Supimm 
auf et?). Auch die gedrungene Syntar ift mit viel Geſchick abge 
faßt. Seiner Grammatik ließ Steinbach erft ein Heineres Wörterbud) 
„Breflau — 1725" folgen, dann fein „Vollſtändiges Deutſches 
Wörter- Buh —, Breßlau — 1734”, in zwei Großoctanbänden. 
Auch dies Werk iſt mit viel Geſchick gearbeitet. Die Wörter find 
nah „Örundwörtern”?) georbnet, die Grundwörter nad dem Al- 
phabet. Der Verfaſſer Hat fih auch mit dem Altdeutſchen beſchäf- 
tige 4) zum Behuf der Etymologie, fein eigentliches Abſehen aber 
ift ein praftifhesd), das er auf die einfachfte Weife zu erreichen 
fucht. Im feinem Meineren Wörterbuh Hat er nur bie deuticen 
Wörter „aus dem indice von Lindneri Lexico in eine Ordnung” 
nad) feinen Grundregeln gebradit. In gleicher Weife geht er jetzt 
die deutſchen Wörter „aus Fabri Lexico,* aus Hederich's Promp- 
tuarium latinitatis und aus dem Zeitungslerifon duch und merft 
ſich dazu dies und jenes aus Opig, Lohenftein, Rachel, Günther 
und Hoffmannswaldau an ©). 

Ein Mann ganz anderen Schlages als feine bisher beſprochenen 
Vorgänger war Johann Leonhard Friſch. Geboren zu Sul 
bad) in der Oberpfalz am 19. März 1666 brachte Friſch feine Jur 
gend in Nürnberg zu, wo fein Vater als faiferliher Notar und 
geheimer Negiftrator lebte. Nach einer fehr forgfältigen Vorher 
zeitung bezog er im J. 1683 die Univerfität Altborf, von wo er 
1686 nad) Jena und von dort 1688 nad; Straßburg üherfiebelte 
Als er auf biefen drei Univerfitäten feine theologiſchen Studien 
vollendet hatte, begab er ſich auf Reifen, durchzog einen Theil 
Frankreichs, Süddeutſchlands und der Schweiz, Tieß fich, nad Nürn 
berg zurüdgefehrt, unter die Candidaten des Predigtamts aufnehmen 

DP. 60. 0q. Dgl. Bor. 8.5. — 2) P. 67 5q. — 3) Bomeht 
8. 10. — 4) Ebend. UI. 13. 14. — 5) ©. die Widmung bes Bugs. — | 
6) Vorrede Bl. 15. 16, 


Die germanifche Philologie in Deutſchland 1665 Bis 1748, 189 


und gieng dann nad Ungarn, wo er einige Zeit ein enangelifches 
Predigtamt in Neufol bekfeivete. Aber mannigfah verfolgt, gab er 
dieſe Stelle wieder auf und ſetzte jein Reiſeleben fort. Es trieb 
ifn ein unwiderftehlier Drang, die Welt zu fehen. Denn „er 
reiſete nicht wie mande, von welden er zu fagen pflegte, daß fie. 
nicht viel beſſer reiſeten als die Poft» Pferde” 2). Vielmehr Hatte 
@ überall ein offenes Auge für Natur und Mengen, und befon- 
ders benußte ex feine Wanderungen zum Erlernen der mannigfad- 
fin Sprachen. In Straßburg hatte ihm der Unterricht im Deut 
ien, den er einigen franzöſiſchen Abligen ertheilte, zugleich eine 
grimblihe Kenntniß des Franzöſiſchen verihafft, der Aufenthalt in 
Ungarn trug ihm die lebendige Kenntniß ber ſlaviſchen Sprachen 
ein. Nachdem er fid ein wenig jenfeits der türkiſchen Gränze um« 
gehen hatte, kehrte er durch Oberitalien nach Deutſchland zurüd. 
Hier wirft er fi eine Zeit lang auf die Defonomie, geht dann 
uch Amfterdam, verkehrt dort mit Gichtel und anderen Schwärs 
mern, durchſchaut fie aber bald. Denn Friſch war ein frommer, 
einfach gläubiger CHrift, deffen Chriſtenthum nicht in phantaftiihen 
Träumereien, fondern in einem fittlih tüchtigen, von kindlichem 
Gottvertrauen erfüllten Leben beftand. Als ihm das Geld ausgeht, 
verdient er ſich das Nöthigfte als Arbeiter an einer Mamme. Ein 
tier Gönner aber veißt ihn auf eine zarte Weife aus feiner Be- 
tränguiß. Friſch geht nun über Hamburg nad Berlin, und bier 
findet er endlich die Stellung, die für ihn paßte. Er wird 1698 
Subrector, 1708 Gonvector, endlich 1726 Rector des Berliner 
Gynnaſiums zum grauen Klofter, umb als folder iſt er am 
A. März 1743 geftorben. 

Friſch war ein Mann von den mannigfaltigften Gaben: ein 
Afriger und feinfinniger Naturforſcher, deſſen Werke über die In— 





1) Das Leben des Weiland berühmten Rectors an dem Gymnafio zum 
Hasen Kloſter in Berlin, Johann Leonhard Friſch, nebſt bepgefügten Stand» 
ad 2ob:Reben, auch einigen Trauer-Gedigten, mit einer Vorrede zum Drud 
berdert won Joh. Zac. Wippel. Berlin — 1744. ©. 6. Aus biefer 
Sqrift find auch unfere übrigen Angaben über Friſchs Leben genommen. 


190 Zweites Buch. Zweites Kapitel, 


fecten und über die Vögel in hohem Anfehen ftehen, ein treffliger 
Schulmann, und was ung hier am meiften angeht, ein ausgezeich⸗ 
neter Sprachforſcher. Nach diefer Seite hängt er auf das engite 
mit Leibniz und deſſen Berliner Beftrebungen zufammen. Leibniz 
«erlernte von ihm die ruſſiſche Sprache und ermunterte ihn in feinen 
germaniſchen Arbeiten. Auf Leibniz’ Vorſchlag wurde er 1706 zum 
Mitglied der königlich preußifchen Societät der Wiſſenſchaften er- 
nannt, und in den Denkihriften diefer Societät legte er bie erften 
Früchte feiner gründlichen deutſch⸗ ſprachlichen Studien nieder '). 
Im Jahr 1731 „warb er zum Direotore der Königlichen Bocie- 
taet der Wiſſenſchaften erwählet, in Classe Historico-Philologieo- 
Germanica“ ®), und biefer Societät und ihrem Stifter Leibniz 
ſpricht Friſch noch als hochbetagter Greis in der Vorrede zu feinem 
Hauptwerk jeinen innigften Dank aus. 

Als Friſch fein letztes und größtes Werk: das deutſche Wör- 
terbuch, herausgab, hatte er ſich bereits durch eine Reihe anderer 
Arbeiten als einen ber gründlichſten Sprachforſcher ausgewiefen. 
Wir können hier nur die wichtigſten berfelden kurz erwähnen. 
Außer den Abhandlungen über Gegenftände der deutfchen Sprach- 
forſchung, die er in den Miscellaneis Berolinensibus und in den " 
„die teutſche Sprach betreffenden Stüden“ veröffentlichte, gab 
ex 1712 ein vorzüglices franzöfifch-beutiches und deutſch⸗franzöfiſches 
Wörterbuch heraus, jchrieb Verſchiedenes, wodurch er feine Kennt 
niß der flavifchen Sprachen bethätigte, und beforgte 1723 eine neue 
durchgreifend umgearbeitete Ausgabe von Bödiler's „Grund-Säpen 
der Teutſchen Sprache.“ Wenn wir biefe Ausgabe mit der voran 
gehenben vergleichen, fo erlennen wir alsbald bie Ueberlegenheit 
Friſch's über feinen Vorgänger. Die bündigen, meift ganz guten 





1) &. Miscellanes Berolinensia — ex scriptis societati regise 
exhibitis edita, Berolini 1710, p. 60. Contin. II, 1727, p. 310. T.IV, 
1734, p. 175. 179. 182. 188, 185. 188. 190. 191. 195, T. V, 178% 
p. 198. 217. T. VI, 1740, p. 192. 193. 195. Und: Der erfle Auszug 
von einigen bie Teutſche Sprach betreffenden Stüden, Berlin 1734. — 
2) Bippel a. a. O. ©. 4. 


Die germanifche Philologie in Deutſchland 1665 Bis 1748. 191 


‚Brund-Säge“ ſelbſt hat ex gewöhnlich; beibehalten, aber Bödiker's 
ware und oft fehr verkehrte Erläuterungen dazu hat er großen- 
theils Befeitigt und durch andere richtigere erfegt. Als Anhang hat 
er diefer Bearbeitung von Bödiler's Grammatik beigegeben: „Spe- 
dmen Lexici Germanici Ober Ein Entwurff Samt Einem 
Gempel Wie er fein Teutſches Wörter-Buch einrichtet.“ Schon 
vorher (1716) 1) hatte er eine Heine Schrift veröffentlicht: „Unter 
fndımg des Grundes und Urfaden der Buchftab - Veränderung 
eier Teutſchen Wörter,“ und 1789 gab er in einem lateiniſchen 
Programm Nachricht von den Alteften in Deutſchland gebrudten 
Börterbücern. Enblih im Jahr 1741 bradte er fein großes 
Hauptwerk zum Abſchluß, fein „Teutſch- Lateiniſches Wörter-Buc, 
Darinnen Nicht nur die urjpränglicen, nebſt denen davon herge- 
leiteten und zufainmengejegten allgemein gebräudfihen Wörter; 
Sondern auch die bey den meiften Künften und Handwerken, bey 
Berg. und Saltzwerlen, Fiſchereyen, Jagd-, Forſt- und Hauß ⸗Weſen, 
na m. gewöhnliche Teutſche Benennungen befindlich, Vor allen, 
Bas noch in keinem Wörter- Buch geſchehen, Denen Einheimiſchen 
und Ausländern, jo die in ben mittlern Zeiten gefchriebenen Hiftos 
tien, Chroniken, Ueberjegumgen, Reimen u. d. g. mit ihren veral- 
teten Wörtern und Ausbrüdungen verftehen wollen, mögliäft zu 
dienen, Dit überall beygefegter nöthigen Anführung der Stellen, 
wo dergleichen in den Büchern zu finden, Samt angehängter Theils 
verfierten, theils muthmaßlichen Etymologie und critiigen An⸗ 
merbangen; Mit allem Fleiß viel Jahr über zufammengetragen, 
Und jet den Gelehrten zur beliebigen Vermehrung und Verbeſſer⸗ 
mg überlafjen. Nebſt einem Megifter der Iateinifchen Wörter. 
Berlin — 1741." Ich Habe ben Titel des ausgezeichneten Werts 
abfichtlich im feiner ganzen Ausführlicfeit mitgetheilt, weil er am 
beſten befagt, was ber trefflihe Greis zu geben beabfichtigte, und 
id lann nur Hinzufügen, daß er das Verfprodene in einer Weiſe 


1) Diefe Jahrzahl gibt EI. Caſp. Reichard in feinem Verſuch einer Hi⸗ 
Rorie der deuiſchen Sprachtunſt, 1747, ©. 428, das Eremplar ber Göttinger 
Bibliotgef hat feine Jahrzahl. 


192 Zweites Bud. Zweites Kapitel, 


geleiftet Hat, die feiner Arbeit eine ber erften Stellen in ber ganzen 
deutſchen Lexikographie ſichert. Das Werk ift äußerlich von kinem 
allzugroßen Umfang. Es füllt nur zwei mäßige Quartbände, aber 
diefe zwei Bände enthalten einen außerorbentlihen Reichthum an 
wohlgefihtetem und auf ber gründlichſten Gelehriamteit ruhendem 
Stoff. Gegen fünfzig Jahre hat Friſch an biefem feinem Lebens⸗ 
wert gearbeitet 1). Er hat fid bei deſſen Abfaſſung fein Ziel ſehr 
Mar geſtedt. Nach unferer jegigen Ausdrudsweie würden wir 
fagen: Er hat es auf ein neuhochdeutſches Wörterbuch abgejehen 
das Wort Neuhochdeutſch in feinem ganzen Umfang genommen. 
Die älteren germanifhen Sprachen überläßt er Wachter's und 
Schilter's Gloffarien. Aber wo Schilter aufhört, da ſetzt Friſch 
ein, und er darf mit Recht fagen, bag man „bie Zeiten kurz vor 
und kurz nach ber Erfindung des Buchdruckens noch recht dunkel 
nennen Tann, darinnen man Hiftorien und Chroniken findet, wo 
auf allen Seiten Wörter ftehen, die dem Lefer am Berftand fol 
Ger Schriften hinderlich fallen,“ und ex Hat in ber That, wie er 
fi ausdrüdt, „in diefem gegenwärtigen Wörter - Buch die Hand 
an eine ſchöne Aerndte gelegt.“ In der Angabe der Bedeutungen 
iſt Friſch jehr forgfältig. Was die Etymologie betrifft, fo ſchenlt 
ex ihr ein befonderes Intereſſe. Er gibt fie meiftens am Ende 
eines jeden Wortes an. „Wo die Etymologie gar ausgelafien it, 
fagt er im Vorbericht 2), hat fie der Verfaffer nicht gewußt. Man 
will hier lieber eine behutſame Unwiffenheit befennen, als ein ver- 
wegenes Wilfen vorgeben. Offt ift durch Muthmaſſungen von ber 
Herleitung einiger Wörter andern zu weitern Nachdenken Gelegen- 
heit gegeben worden.“ Zur Ableitung der beutichen Wörter ſei 


1) Mau findet öfter bie Angabe, Friſch's Wörterbud fei die Frucht 
dreißiglägriger Arbeit. Aber biefe Angabe beruht auf einem Mißverfändnig. 
Im dem oben erwähnten Anhang zu feiner Ausgabe von BVödiker's Grund 
fügen fagt Friſch (©. 8), ex fei ſchon über dreihig Jahr über biefer Leritons 
Arbeit. Allein jener Anhang erfhien im Jahr 1723. Mipin. hatte Fri, 
als er 1741 fein Wörterbuch herausgeb, bereits gegen fünfgig Jaht daran gear: 
beitet. — 2) Aus biefem find aud bie vorangehenden Angaben entnommen. 


Die gem. PHil. in ben Niederl. in Engl. u. in Sfanbin. v. 1748 bis 1797. 198 


die gründliche Kenntniß der verſchiedenſten Sprachen nothwendig, 
md „man hat denjenigen für einen Ertz-Praler zu halten, der da 
fagt, er wiffe, wo alle unfere Wörter herlommen.“ 

Am Schluſſe diefes Abſchnitts wollen wir noch anführen, daß 
‚gen Ende unferes Zeitraums auch bereits ein gelungener geſchicht⸗ 
liher Rückblick auf alles, was bisher auf dem Gebiet ber deutfchen 
Grammatit geleiftet worden war, erſchien, nämlih Elias Gajpar 
Reichard's (geb. zu Quedlinburg 1714, geft. 1791) Verſuch einer 
diſtorie der deutſchen Sprachkunſt, Hamburg 1747. 


Drittes Kapitel. 


Die germaniſche Philologie in den Niederlanden, in England 
und in Standinavien von 1748 bis 1797. 


Obwohl es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den 
Niederlanden nicht an fehr achtungswerthen Männern fehlt, die ſich 
die Erforiung der Mutteriprage zur Aufgabe maden, iſt man 
doch weit davon entfernt, die großen Erwartungen erfüllt zu fehen, 
de ſih an die bahnbrechenden Leiftungen des Franciscus Junius 
md Ten Rate knüpfen. Man verfolgt nur in eingeſchränkter Weife 
die von diejen betretenen Wege, indem man fein Hauptaugenmerk 
af die niederländiihe Sprade richtet, und zwar zunächſt auf 
die neuniederländiſche Schriftſprache. Hiemit aber verbindet man 
eine umfaffendere Pflege auch der älteren niederländiſchen Sprache 
und Siteratur, als dieſer bi8 dahin zu Theil geworben war. An 
der Spige all diefer Beitrebungen fteht der gelehrte Balthafar 
Huydecoper, geb. zu Amfterdam 1695, 1740 Schöffe feiner 
Baterftadt, zulegt dijkheemraad (Deichaufſeher), geft. 24. Sept. 
178 1). Sein Hauptwerl in Bezug auf die neuere niederlän⸗ 
diſhe Sprache, Anmerkungen zu Vondel's Ueberjegung von Ovid's 





1) Van der Aa, Biogr. Woordenboek VII, 2 (1867), 1495 fg. 
Raumer, Geh. der germ. Philologie 18 


194 Zweites Bud. Drittes Kapitel, 


Metamorphofen, erſchien bereits im Jahr 1780 '). Hatte der Ber- 
faifer ſchon hier Häufig Beranlafjung genommen, bie ältere nieder- 
landiſche Sprache in feinen Bereich zu ziehen, fo gab ihm feine 
Ausgabe ber mittelniederlänbijhen Reimchronik des Melis Stole 
(Leiden 1772) die unmittelbare Gelegenheit, von jeiner reichen Be 
leſenheit in der älteren niederländiſchen Literatur Gebrauch zu 
machen. In ähnlicher Weile bereicherte Jakob Arnold Elig 
nett (geb. 1756, geft. 30. Det. 1827 als Rath am Obergericht 
im Haag) 2) durch feine Ausgabe von Jakob van Maerlant's 
Spiegel historiael (Leiden 1784) und Anderes umfere Kenntniß 
der mittelniederlänbifen Literatur. Won befonderer Wichtigkeit 
für die nieberländifhe Sprad- und Literaturforfhung aber wurde 
mit der Zeit die im Jahr 1766 zu Leiden gegründete Maatschap- 
pij van Nederlandsche Letterkunde (Gefellihaft für nieder 
länbifde Sprache und Literatur). 

In England Hatte der Eifer für die angeljähftihen Studien, 
welder bie erften Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts auszeichnet, 
nicht in gleichem Grade fi erhalten. In diefer Zeit des Nach⸗ 
laſſens verdienen die unverbroffenen Bemühungen Edward Lye's 
alle Anerfennung. Geb. 1694 bei Totnes erhielt e (1713) feine 
gelehrte Bildung auf der Univerfität Orford und farb als angli⸗ 
caniſcher Geiftliher zu Yardley - Haftings ben 19. Aug. 1767 3). 
In der ländlichen Einſamkeit feiner Pfarreien Hatte er fih mit 
Eifer auf das Stubium der alten germanifchen Sprachen, befonders 
des Angeljächfiichen geworfen. Im Jahr 1743 gab er das Ety- 


1) Proeve van Taal-en Dichtkunde; in vrymoedige Aanmerkin- 
gen op Vondels Vertaalde Herscheppingen van Ovidius. Cine zweite 
Ausgabe beforgte F. van Lelgvelb, Leiden 1782. Ein Hauptverdienft Hude 
coper's Liegt auf bem Gebiet ber neunieberlänbifen (hollänbifgen) Schrift⸗ 
ſprache. Die Green unfer Mufgabe erlauben uns jedoch nicht, biefen Ger 
genftand weiter zu verfolgen. Literariſche Notizen dazu findet man in Jjreij's 
Beknopte Geschiedenis der Nederlandsche Tale (Utreät 1812) 8.529 fg. 
— 2) Van der As, Biogr. Woordenb. III, 473. — 3) S. vye's Lehen 
vor feinem Dictionarium Saxonico - et Gothico - Latinum in Manning’s 
Praefatio. 


Die germ. Phil. inden Niederl, in@ngL, u.in Sfanbin. v. 1748 bis 1797. 1985 


mologieum Anglicanum des Franciscus Yunius, 1750 die gor 
thiſchen Evangelien mit Hinzufügung einer gothiſchen Grammatik 
heraus. Aber fein eigentlies Lebenswert, das Dictionarium 
Saxonico- et Gothioo - Latinum, veröffentlihte erſt nad Lye's 
Tode im Jahr 1772 zu London Owen Manning. Man hat 
die ſchwachen Seiten biejes Wertes, namentlih Lye's Mangel an 
gränblicher grammatiſcher Kenntniß der altgermaniſchen Sprachen, 
wit Recht getabelt '). Trotzdem aber Hat es lange Zeit den 
Sprodforihern nicht bloß England’S, ſondern auf Deutſchland's 
und Slandinavien's ein dankenswerthes Hülfsmittel geboten. Unter 
den vorangebrudten Subſtribenten finden wir au bie Umiverfi- 
tätsbibliothel zu Böttingen. Außer Lye's Thätigfeit ift in dieſem 
Zaitramın noch zu erwähnen die Gründung einer Profeſſur für das 
Angelfähfifche an der Univerfität Orforb buch Richard Ramwlin- 
ion im Jahr 1750 2) und bie fon 1690 durch William 
&litob vorbereitete, aber erft 1773 durh Daines Barring- 
tom zu Stande gebrachte Herausgabe von Alfred's angelſächſiſcher 
Ueherjegung des Oroſius. Samuel Johnſon's engliihes Wör⸗ 
tern, deſſen erſte Ausgabe 1755 erſchien, beſchäftigte ſich zwar 
auf mit der Geſchichte der Wörter, hatte aber feinen Hauptwerth 
af dem Gebiete der meuengliihen Schriftſprache. In biefer Ber 
iichung ift es von nicht zu verfennendem Einfluß auf einen der 
ngejehenften neuhochdeutſchen Lexilographen, auf Abelung geweſen. 
Bon einer ganz anderen Seite werden wir Thomas Percy buch 
feine 1765 ericjienenen Reliques of ancient English Poetry 
nicht nur auf bie deutſche Literatur, fondern au auf die Entwid- 
lung der deutſchen Philologie einwirken fehen. 

Sehr bedeutend war bie Thätigkeit, die in dieſem Zeitraum 
der ſtandinaviſche Norden auf dem Gebiet ber alten einheimiſchen 
Sprae und Literatur entwidelte. In Dänemart war e8 vor 
allen der große Geihihtsforiher Peter Friederich Suhm 
(geb. in Kopenhagen 1728, } am 7. Sept. 1798) ®), der feine 

1) ®gl. ©. Bask, Angels. Sprogl. 8.18. — 2) Petheram, 
Anglo -Saxon Lit. in England, p. 105. — 3) 6, in der Kürze Almin- 
duigi Literaturleriton. Ved Nyerup og Kraft, 1820, S. 587 fg. 

13° 


196 Zweites Bud. „ Drittes Kapitel, 


unermüdliche und aufopfernde Thatigleit auch ber förderung der 
altnordiſchen Literatur zuwandte. Er verband mit ber richtigen 
Einfiht in die Wichtigkeit des vergleihenden Sprachſtudiums für 
die Urgeſchichte der Völter ?) das redlichſte kritiſche Streben, Wahr ⸗ 
heit und Irrthum in der Geſchichte zu unterſcheiden und fid nicht, 
wie jo Mande feiner. ſtandinaviſchen Vorgänger, durch einen miß ⸗ 
verftandenen Patriotismus zu verlehrten Annahmen hinreißen zu 
laffen. Aber er war weit entfernt, ben Werth der altnordiſchen 
Kiteratur zu unterihägen, vielmehr drang er auf beſchleunigte Ver⸗ 
öffentlichung ihrer wichtigften Werke, und eine ganze Reihe derfel- 
ben wurde auf feine Koften durch isländiſche Gelehrte. Heraus- 
gegeben 2. Wir wollen bier nur no erwähnen, daß Suhm's 
Theilnahme ſich nicht bloß auf die ſtandinaviſchen, fondern and auf 
die übrigen alten germaniſchen Sprachen erſtreckte. So gab auf 
Suhm's Kojten Rasmus Nyerup (geb. zu Nyerup auf der 
Inſel Fühnen 1759, Prof. der Literaturgejhichte und Univerfitätd- 
bibliothelar zu Kopenhagen 1796 3), + 28. Juni 1829) 4), im Jahr 
1787 zu Kopenhagen Symbolse ad litteraturam Teutonicam 
heraus, welde neben Anderem die von Franciscus Junius gefom- 
melten althochdeutſchen Glofjare und das althochdeutſche Gedicht 
vom 9. Georg enthalten, das letztere ein Wiederabdruck der erſten 
Ausgabe (1783) des früh verftorbenen Barthold Chriftian 
Sandvig (geb. zu Kopenhagen 1752, } 1786). Bon Sandwig 
rührt auch die Bearbeitung des größten Theils ber eben beſpro⸗ 
chenen Symbolae der, und Nyerup vollendete nur nad) Sandwig's 
Tode beifen Arbeit 5). Unter den zahlreichen Veröffentlichungen 


1) Bol. 3. B. Suhm's „Gebanfen über die Scwierigfeiten, welche man 
bei ber Bearbeitung ber alten Däuiſchen und Norwegiſchen Geſchichte antrifft,“ 
in’ Deuiſche Überfegt (mit Zufägen Suhm's) in den Hiſtor. Abhandlungen 
ber Geſellſchaft der Wiſſenſchaften zu Kopenhagen her. von Val, Aug. Heinz, 
Bd. I, Kiel 1782, S. 855 jg. — 2) ©. das Vetzeichnißz in dem angefügeten 
itteraturler. ©. 589. — 8) Ebend. S. 433. — 4) Alminbeligt dor⸗ 
fatter-erifon , veb Erslew, Bd. II, 1847, ©. 465. — 5) 6. Nyerup's 
Praef. zu ben Symbolge p. IX sq. 


Diegerm. Phil. in ben Rieberl., in Engl. u. in Stanbin. v.1748 bie 1797. 197 


altnorbiiher Werte, die in den Syahren 1748 bis 1797 in Däne- 
mark zu Stande famen, nehmen zwei eine hervorragende Stelle 
ein. Erftens nämlich die neue Ausgabe von Snorri's Heimskringla, 
bie auf Koften des däniſchen Erbprinzen im Jahr 1777 zu Ropen- 
hagen durch Gerhard Schöning (geb. 1722 zu Statnaes in 
Norwegen, 1775 Geheimardhivar zu Kopenhagen, F 1780) !) be- 
gonnen wurde. Aber ohne Vergleich bedeutender noch war die 
Herausgabe der rhythmiſchen Edda auf Koſten der Arni-Magraei- 
ſcen Stiftung. Seit Rejenius 1665 einige Lieder derſelben ver- 
öffentlicht Hatte 2), waren fo manche weitere Bruchftüde daraus 
zerftrent mitgetheilt worden. Aber das Alles konnte nur dazu 
dienen, bie Begierde nach einer vollftänbigen Herausgabe dieſes 
mertwärdigften aller altnordiſchen Ueberrefte immer mehr zu ftei- 
gem. Da nahmen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 
die Ephoren des Magnaeiſchen Legats die Sache in die Hand, und 
unter ihrer Leitung erſchien im Jahr'1787 zu Kopenhagen: Edda 
Rhythmica seu antiquior, vulgo Saemundina diete. Pars I. 
Odas mythologicas, a Resenio non editas, continens. Für 
den Tert wurde ber Codex Regius aus dem 14. Jahrhundert zu 
Grunde gelegt, was dieſem fehlt, aus den anderen Handſchriften 
egänzt und auch fonft deren Lesarten als Barianten hinzugefügt. 
Eine lateiniſche Ueberjegung und erläuternde Anmerkungen halfen 
die nicht geringen Schwierigleiten des Textes überwinden. (ine 
ausführliche Vorrede von Stuli Thorlacius 9 (geb. 1741 in 
land, + 1815 in Kopenhagen) 4) und das Lehen Saemund's des 
Beifen von Arni Magnusfon, mit Anmerkungen von John 
Erichſen (geb. in Island 1728, Bibliothefar zu Kopenhagen 
1781, + 1787) 5), Märten darüber auf, daß ſowohl die Bezeichnung 
Eda, als der Name Saemunb’s des Weifen erft durch Brynjulfe 
Sveinsſon (1643) mit unferer Sammlung altnordiſcher Götter» 





1) Rperup og Kraft, Sitteraturlericon, ©. 548. — D ©. o. ©. 148. 
— 3) 89. Möbins, Catalogus p. 68. — 4) Nyerup og Kraft, Bittere: 
inlericon S. 610. — 5) Ebend. ©. 159, 


198 Zweites Bud. Drittes Kapitel. 


und Heldenliever in Zufammenhang gebracht worden fei ) und 
gaben eingehende Auskunft über die beiden |. g. Eddaen und ihre 
verſchiedenen Handſchriften. Ein „Bpecimen glossarii* endlich gab 
Zuſammenftellungen und Aufſchlüſſe über viele in den abgebrudten 
Liedern vorkommende felimere Wörter. Natürlich findet die fort- 
geſchrittene Wiſſenſchaft an diefer erſten Ausgabe eines der dunlel⸗ 
fen Werte vieles zu verbeffern, aber es bleibt den Herausgebern ber 
Ruhm umverkürzt, für alle weiteren Eddaſtudien die Bahn gebrochen zu 
haben. Wir fünnen hier nicht genauer auf die mannigfachen Leiftungen 
jener Zeit eingehen, wollen aber doch außer ben bereits Erwähnten noch 
einige jener gelehrten Jsländer und Dänen nennen, bie fi in dieſer 
Zeit um die altnordiſche Literatur verdient gemacht haben. Halfdan 
Einarfon (geb. auf Island 1732, Rector in Holar 1755, geft. 
1785) ſchrieb 1777 die Geſchichte der isländiſchen Literatur. Björn 
Haldorsfon (geb. auf Island 1724, geit. als Pfarrer ebenb. 
1794) verfaßte das erſte ausführli—ere, 1814 von Raſt heraus 
gegebene islänbiihe Lexilon. Yon Olafsſon (geb. zu Soc 
ney auf JIsland, geft. 1811) ſchrieb (1786) das umjaſſendſte 
Wert über die altnordiſche Dichtkunſt. Sinne Jonsſon (ge. 
1704 zu Hytterdal auf Island, Biſchof in Stalholt 1754, } 1789) 
gab in feiner Kirhengeihichte Island's (1772 — 78) und anderen 
Arbeiten auch zur isländiſchen Literaturgeſchichte mannigfache Bei 
träge. Als Herausgeber altnordiſcher Quellen nennen wir noch 
ben daniſchen Geſchichtsforſcher Jakob Kangebet (+ 1775), die 
länder Yon Finsſon (} 17%), Gudhmundr Magnus 
fon (+ 1798), Olaf Olafsfon (} 1788), die ſich vorzugsweiſe 
an den Veröffentlijungen wichtiger Sagaen durch die Magnätfe 
Gommiffion betheiligten, und den Norweger Hans Baus (+ 1770)9), 
den Herausgeber der alten norwegiſchen Geſetze. 


1) Edda Rhythmica, ParsI. Hafniao 1787, Ad Lectorem p. XXXV 
sg. XLI. Vita Ssemundi Multiscii autore Arna Magnaeo p. VII <q. 
XL — 2) Die Angaben über das Leben biefer Männer find Nyerup und 
Kraft's Pitteraturlericon entnommen. Borzüglige Hülfe hat mir aud für 
biefen Abſchnitt Theodor Möobius trefflichet Ontalogus libroram Islandi- 
corum et Norvegicorum geleiflet. 


Die germ. Phil. in ben Niederl, in Engl. u. in Stanbin. v. 1748 581797. 199 


Im Schweden erhielt ſich noch Bis um die Mitte des 18. 
Jahrhunderts die Richtung, welche Rudbeck und feine Genofien ben 
ſſandinaviſchen Wltertfumsftubien gegeben hatten i). Einer ber 
legten und bebeutenbften Vertreter dieſer Richtung war Yohan- 
nes Göransjon. Geboren zu Gräbäck im Kirchenfprengel von 
Garkftabt 1712, wurde er 1755 Baftor in Gilberga und ftarh im 
Jahr 1769 9). Ebenſo an unverbroffenem Eifer, wie in der Aben- 
teuerlichteit der Anfichten war Göransſon Rudbed's würdiger 
Nachfolger. Im Jahr 1746 begann er eine Ausgabe bes Upſa⸗ 
laer Gober der Snorra⸗Edda, die aber nit über Gylfaginning 
hinauslam, und ber er 1750 eine Ausgabe ber Völuſpa folgen 
Üieß. Der gegemoärtige Text der proſaiſchen Edda, meint Görans⸗ 
ion, veihe wohl nicht weiter zurüd als in das 12. Jahrhundert 
nach Chriſto, da Snorri · ihn nad alten Munenbügern in Kürze ab- 
igrieb, aber nad Herodot's und Plato's Zeugniß jei fie bereits 
dreihundert Jahre vor Troja’s Erbauung in meflingene Zafeln 
ängerigt geweſen 2). Aber Göransſon's Tert war trot biefer 
abenteuerlichen Anfichten ein Zuwachs zur Kenntniß der Edda. 
Aehnlich verhält es fi mit Göransſon's Hauptwerk: Bautil, det 
är: alle Svea och Götha Rikens Runstenar 3), das 1750 zu 
Stocholm erſchien. Der Verfaſſer läßt die Reihe der Runenſteine 
mehr als 2000 Jahre vor Ehrifti Geburt, alſo gleich nad ber 
Sündfluth beginnen *), aber trotz dieſes kritilloſen Schwindels bot 
Göransfon’s Bautil durch fein reiches Material für Iange Zeit ein 
muenthehrliches Hülfsmittel zum Stubium der Runen. Doch alle 
Vermehrung des Stoffes würde natürlich nichts geholfen, ſondern 
nur immer tiefer in den Irrthum hineingeführt haben, wenn nicht 
endlich auch in Schweden eine wifjenihaftlige Behandlung des ger- 


16.0. 6.153. — 2) Biographiskt Lexicon V, 869 fg. — 
36. die Widmung an bie Kronpringeffin Louiſe Ulrike in De Yfverborna 
Allingars- Edda (Hyperboreorum Atlantiorum - Edda) - studio Johan- 
as Göransson, Upsala, s. a. (1746, nad Biogr. Lex. V, 374). — 
3) ‚Beutil, bas iR: alle Runenſteine bes ſchwediſchen und gothiſchen Reiche.” 
— 4) @örandfon’s Bautil, Unberrättelfe om befa Runfenar, BL. 2. 


200 Zweites Bud. Drittes Kapitel. 


maniſchen Altertfums durch fritiihe Köpfe fih Bahn gebroden 
hätte. Ein folder Kopf war Johannes Ihre. Geboren zu 
Lund im Jahr 1707, begab fih Ihre 1730, ausgerüftet mit einer 
gründlichen philologifchen Borbildung, auf Neifen. Er befudte 
Deutſchland, Frankreich, Holland, England und Dänemark md 
hielt fi namentlich längere Zeit in Oxford, London und Paris 
auf, immer beftrebt, von den dortigen Gelehrten und Bibliotheken. 
für feine Kenntniffe Gewinn zu ziehen. Nach breijähriger Abwe⸗ 
fenheit lehrte Ihre in fein Vaterland zuräd, wurde 1734 Secretär 
der Wiffenfhafts - Societät in Upfala und 1737 Profeſſor an der 
Univerfität. Er war ein jehr beliebter Lehrer, deſſen Vortrag ſich 
nicht weniger durch geiftreiche Lebendigkeit, als durch Gelehrſambeit 
außzeichnete. Ihre ftarb am 1. Dec. 1780 1), Die Sprachfor⸗ 
ſchung biefes bebeutenden Gelehrten Hatte ‚ihren Ausgangspımlt in 
ber damaligen ſchwediſchen Sprache. Der Auftrag, Steeles 
Srauenzimmer-Bibliothek in's Schwediſche zu überfegen, den er von 
der Königin Ulrika Eleonora erhielt und in den Jahren 173438 
ausführte, machte ihn auf die vielen Gebrechen und Unſicherheiten 
in der ſchwediſchen Sprade aufmerffam 2), er beſchloß deshalb, die 
ſchwediſche Sprade in ben Bereich feiner Vorträge zu ziehen, 
und fo entftand zunächſt fein Entſchluß zu Vorleſungen über die 
ſchwediſche Sprade (1751) 3). Je piehr aber Ihre ſich in dieſen 
Stoff verſenkte, um fo mehr erfannte er, daß zur richtigen Beur⸗ 
teilung ber ſchwediſchen Sprache die eindringenbfte Erforſchung 
aller germaniſchen Spraden und beſonders der älteften unter ihnen 
erforderlich ſei. So warf er fi einerjeits auf die Unterſuchung 
ber ſchwediſchen Sprade und ihrer Mumdarten, andrerfeits auf die 
des Gothiſchen und Altnordiſchen. Als Vorläufer feiner ſchwedi⸗ 





I) Biographiekt Lexicon VI, 353 fg. — 2) Bgl. ebend. ©. 357. 
— 3) Auf der Göttinger Bibliothek findet fih: Professor Johan Ihres Ut- 
kast till Föreläsningar öfwer Swenska Spraket, ooh thes narmare 
kännedom. Stookholm och Upsala 1751. Hier ſpricht Ihre (Företal 
p. 1m. 2) nur im Algemeinen von ber Unfiderheit und Bernadläffigung 
ber ſchwediſchen Sprache. 


Pie germ. Phil. in ben Rieberl., in Engl. u. in Stanbin. v. 1748 bis 1797. 201 


fen Sprachſtudien veröffentlichte er (1766) ein Schwediſches 
Dioleft-Leriton, eine Arbeit, die nad) dem Urtheil ber einheimiſchen 
Gelehrten an mannigfachen Gebreden leidet. Um fo größer aber 
war der Beifall, mit dem drei Jahre fpäter (1769) Ihre's großes 
Hauptwerk aufgenommen wurde, fein „Glossarium Buiogothicum, 
in quo tam hodierno usu frequentata vocabula, quam in 
legum patriarum tabulis aliisque sevi medii scriptis obvia 
explicantur, et ex dialeotis cognatis, Moesogothica, Anglo- 
Baxonica, Alemannica, Islandica ceterisque Gothicae et Cel- 
tieae originis illustrantur“, Upsaliae 1769. Der ausführliche 
Titel bezeichnet am beften ben Inhalt des Bus, und man wird 
nicht läugnen, daß ber Beifall, den Ihre's Arbeit fand, ein wohl- 
verdienter war. Im Gegenfag zu feinen meiften Vorgängern be 
fleifigt fih Ihre einer großen Beſonnenheit. Ich habe mir zum 
Geſetz gemacht, jagt er, bei der Unterfuhung bes Urfprungs der 
Börter zunächft die einheimiſche alte Sprache zu Hülfe zu rufen; 
wo biefe mich im Stiche ließ, habe ich die isländiſchen Schriftſteller 
ja Nathe gezogen, ba deren Sprache vor neum Jahrhunderten von 
der unſrigen nicht verfdieden war. Won da bin id zur aleman- 
niſchen und angeljäßfiihen Sprache fortgeiäritten und endlich bei 
der moejogothifchen ftehen geblieben, der Mutter der übrigen, von 
der wie nur leider fo wenig Reſte übrig haben ?). Ihre weift 
dann ferner den Zuſammenhang mit dem Celtiſchen, Griechiſchen, 
bateiniſchen und Perfiichen Teineswegs ab, wenn auch feine Bor- 
felfungen von dieſem Zuſammenhang noch unklar find. Vom 
Sanskrit weiß er natürlich (1769) noch nichts. Auch darüber, daß 
man den Wechſel der Buchſtaben nicht überjehen dürfe, ift Ihre 
mohlumterrichtet, und er ſchickt feinem Gloffarium eine Ueberſicht 
über die wichtigſten Buchſtabenvertauſchungen des Schwediſchen 
voraus 2). Wir finden Hier einen Theil der germanifhen Laut- 

veriiebungsgejege richtig beobachtet, aber verftedt unter die ver- 
Midmartigften anbermweitigen Bemerkungen. Dem Ganzen hat 


y de, Glossarium Suiogothicum I, Prooem. p. I. — 2) Ebend. 
6. XLI fg. 


202 Zweites Buch. Drittes Kapitel. 


- offenbar bie ähnliche Arbeit des Gerhard Voſſius über das Latet- 
niſche zum Vorbild gedient: Das Gloſſarium ſelbſt gibt über eine 
Menge von alten Wörtern Aufſchluß und ebenjo über bie Abkunft 
vieler noch gebräudlichen. Wenn wir auch jegt öfters gegen Ihre's 
Etymologieen Einſprache erheben müflen, fo fonnte einem jo ger 
lehrten und ſcharffinnigen Werk doc die größte Wirkung auf bie 
Wiſſenſchaft feiner Zeit nicht entgehen. Außer biefer abiäließenden 
Hauptarbeit find es namentlich zwei befondere Gebiete, denen Ihre 
feine Thätigfeit zuwandte: Das Gothiſche und das Altilanbina- 
viſche. Für das Gothifche hatte ihm fein Landsmann Erih Ben- 
zel (geb. zu Upfala 1675, geft. 1748) durch feine Ausgabe bes 
Coder argentens, die 1750 mit Lye's Zufägen zu Orford erſchien, 
gut vorgearbeitet. Aber trotzdem beginnt mit Ihre's 1752 Bis 
17731) herausgegebenen Abhandlungen zum Ulftlas eine neue Epoche 
für das Studium des Gothiſchen. Durch eine forgfältige Ver⸗ 
gleichung des Coder argenteus, die Ihre durch Erih Sotberg 
vornehmen ließ, wird die richtige Resart in einer großen Menge 
von Stellen and Licht gebracht. Die grammatiihen Arbeiten 
Ihre's über die gothiſche Conjügation und Declination bleiben 
zwar in vielen Punkten vom Richtigen noch weit entfernt 2), 
aber fie bezeichnen durch ihr forgfältiges Sammeln ber vorgefim- 
benenen Formen 9) einen weſentlichen Fortſchritt gegen alles Bis- 
berige. Wie überlegen Ihre feinen Zeitgenoffen in genauer Kennt 
niß des Gothiſchen war, das zeigt fi jo recht in feiner verbeiler- 


1) ©.'Biographiskt Lexicon VI, (Ups. 1840) p. 360. — 2) gl. 
. B. Ihre's Eintheilung der gothiſchen Verba in brei Gonjugatiouen [I- 
sokja. II. kann, kunnum. III. saigha (b. i »ai@a)) in Bifhing’s Aus: 
gabe von Ihre's Scripte versionem Ulphilanam et linguam Moeso- 
gothicam illustrantia, Berolini 1773, p. 158. 157. 162. Dabei aber bie 
richtigen Bemerkungen gegen Hides p. 149 und über den Vocalwechſel ber 
dritten Gonfugation p. 162. — 3) Bgl. 3. ©. das über bie Derlination det 
gotgif—en Adjectivs Geſagte, p. 247 (Büsching) und das Verzeicniß der 
Berba p. 172 fg. ebend. Jrrihümer aus mangelnder Vorficht fehlen natürlich 
auch nicht. ©. ;. 8. drauhen ©. 229. magathos S. 289. 


Die germ. Phil. in ben Rieberl., in Engl. u. in Stanbin, v. 1748 bis 1797. 208 


tem Ausgabe von Knittel's Wolfenbüttler Fragment des Römer⸗ 
brief ). Was die Sprade des Coder argenteus betrifft, jo macht 
Itre in feiner Abhandlung De lingua codieis argentei (1754) 2) 
allem Streit für immer ein Ende, indem er gegen den Berliner 
Bibliothelar Lacroze, ber fie für fränkiſch erflärte °), den unumftöß- 
lichen Beweis führt, daß wir im Coder argenteus die Ueberjegung 
des alten gothiſchen Biſchofs Ulfilas vor ums haben, und zwar in 
einer Abſchrift, die Hin und wieder ber alten lateiniſchen Verſion 
angepaßt worden ift ). Ihre erkennt mit Bewunderung die hohe 
grammatifche Vollendung der gothifchen Sprache und zeigt, wie die 
neueren germanifhen Sprachen: das Schwediſche, Deutſche, Eng- 
liſche u. ſ. f., von jener alten Höhe herabgeſunken find 9). Daß 
das Gothiſche ſehr viele Webereinftimmung mit dem Griechiſchen 
umd Lateiniſchen zeigt, ſucht er überall darzuthun; aber über die 
Art und ben Grund biefer Webereinftimmung kommt er zu feiner rech⸗ 
ten Klarheit. Er nennt das Griechiſche und Lateiniſche „Schweitern 
oder vielmehr Töchter des Gothiſchen“ ©), und während er alle 
Sprachen aus Einer Quelle fließen ımd fi in Dialefte und dann 
dh immer größere Ummanblungen in verfdiedene Spraden 
falten läßt ”), kommt er doch immer wieder darauf zurüd, bie 
dem Gothiſchen ähnlichen Wörter des Griechiſchen und Lateiniſchen 
daraus abzuleiten, daß Griechenland und Jtalien in ältefter Zeit 
qthiſche Bewohner gehabt haben 8). — Der fanbinaviihen Als 
terthumstunde gehören Ihre's Unterſuchungen über bie profaiiche 
Edda und über bie Runen an. In feinem Brief über die Upfa- 
laer Handſchrift der Proſa⸗Edda ſucht er (1772) einerjeits bie 
nebelhaften Borftelfungen, die man damals noch von dieſem Werk 
hatte, zu berichtigen, andererſeits aber, zu beweilen, daß wir in 
dem um 1800 geſchriebenen Upfalaer ober eine echte Abſchrift 


1) 6.97 fg. bei Bülhing, — 2 S. 257 fg. bei Büſching. — 
3) Ebenb. ©. 259. — 4) Ebend. ©. 268. — 5) Ebend. S. 222. 248. 
— 6) S. 6 Bei Büfging. Bgl. ©. 146.285. — 7) ©. 298 fg. Bei 


Sülging. — 8) Ebend. 6.7. Bel. ©. 138. 146. 18, 


204 ‚Zweites Bud. Viertes Kapitel. 


von Snorri's Wert befigen 1). Schlözer's hiegegen vorgebradhte 
Zweifel wies Ihre zurüd in einem Brief an Hrn. von Trail, 
ben biefer feiner „Reife nach Island“ einfügte (1777)2). Was 
die Runen betrifft, fo trat Ihre den überſchwenglichen Anfichten 
des Rudbeck, Verelius und Göransfon entgegen, als wenn das 
Alter der flandinavifhen Nımenfteine bis nahe an die Sündfluth 
hinanreichte, indem er fie vielmehr den Jahrhunderten des Mittels 
alters zuwies 3). 


Piertes Kapitel. 


Die germanifdge Philologie in Deutſchlaud von 1748 bis 1797. 





1. Grammalifhe nnd lexikaliſche Bearbeitung der aeuhochdeutſchen Aprade 
vom Jahr 1748 bis zum Jahr 1797. 


Gottſched. Abdelung. 


Wir ſchreiben hier nicht die Geſchichte der beutihen Sprade, 
fonbern die Geſchichte der deutfhen Sprachforſchung. Aber 
um die Stellung, die Gottſched unter ben deutſchen Gramma- 
tilern einnimmt, richtig zu würdigen, müſſen wir mit einigen 
Worten an bie Geſchichte der deutſchen Sprache im 17. und 18. 
Jahrhundert erinnern. Wir Haben in einem früheren Abſchnitt 
der Beftrebungen gedacht, die ſchon in der erften Hälfte bes 17. 
Jahrhunderts durch Ratichius, Helvicus, Harsbörffer und Andere 
gemacht wurden, um die deutfhe Sprache an Stelle ber lateiniſchen 
zur Sprade- der Schule umd der Wiſſenſchaft zu erheben. Diefe 


1) ©. die deuiſche Weberfegung von Ihre's Schrift in Schläger's Joländ. 
Litteratur und Geſchichte, Göttingen 1778, ©. 78 f. — 2) Zn ber beut: 
ſchen Weberfegung von Troil’s Reife, Upfala u. Leipzig 1779, ©. 269 fg. — 
8) Dissertatio gradualis De runarum in Suecia antiquitate. Quam — 
Praeside — Johanne Ihre — Publice ventilandam sistit Uno von 
Troil, 1789, Upsaliae, p. 57. 


Die germaniſche Philologie in Deuiſchland von 1748 bis 1797. 206 


Veitrebungen brechen fich in ber zweiten Hälfte des 17. und in 
der erften bes 18. Sahrbunderts immer mehr Bahn. Baltha- 
far Schuppius (} 1661) vertritt fie mit feinem gefunden Mut⸗ 
terwig. Was Leibniz im diefer Michtung geleiftet, haben wir 
hon erwähnt. Chriftian Thomafius Fündigt im Jahr 1687 
u Leipzig die erfte Univerjitätsvorlefung in deutſcher Sprache an, 
ud ſchon um das Jahr 1711 werden an ber Univerfität Halle bie 
meiften Vorleſungen deutſch gehalten '). Um 1742 endlich erklart 
der große Latiniſt Joh. Matthias Gesner in Göttingen mit 


Aftimmender Befriedigung, daß die deutſche Sprade in den Uni» 


verfitätsvorlefungen die herrſchende geworben fei ). Wie auf den 
Univerfitäten, fo breitete-fih in derjelben Zeit aud auf den Gym⸗ 
nofien die deutſche Sprache immer mehr aus. Eine große Menge 
von deutſchen Schulgrammatiten, Anleitungen zur deutſchen Ortho⸗ 
graphie u. f. w. liefert dafür den Beweis. Ein wichtiges Mittel 
zut Beförderung der deutſchen Sprade waren endlich die deutſchen 
Sprachgeſellſchaften. Die vielfah wunderlichen, aber Teineswegs 
verdienftlojen derartigen Beftrebungen, wie wir fie im 17. Jahr 
hundert haben kennen lernen, erfuhren nämlich in den erſten Jahre 
sehnten des 18. eine bebeutende Umbildung, und bier ift es, wo 
wir vor allen Gottſched eingreifen fehen. 

Johann Ehriftoph Gottſched, geboren im Jahr 1700 
a Juditenlich im Oftpreußen, ftubierte in Königsberg Theologie, 
vᷣbiloſophie und ſchöne Wiſſenſchaften und wurde 1723 daſelbſt 
Magifter. Da er jedoch feines großen Körperwuchſes halber fürd- 
ten mußte, zum Militärbienft gezwungen zu werben, floh er im 
Jahr 1724 nach Leipzig und habilitierte fih an ber dortigen Uni» 





1) J.G. Eecardi historia stadii etymologiei linguae Germanicae ete.; 
Hanoverae 1711, p. 258. — Der Gebanfe, bie lateiniſche Sprache ber. 
Wiffenfepaft mit der beufchen zu vertaufihen, vegt fih gegen Ende dee 17, 
%s. in den verſchiedenſten Köpfen. So in Chr. Gottl: Grau in Herborn 
1692) und in dem viel umhergeworfenen Michael Wagner (Bol. Guhrauer 
in der Kieler Monatsſchrift (Braunfweig 1854) ©. 48 fg) — 2) Jo. 
Matih. Gesneri primae lineae isagoges etc. Tom. I, Lips. 1774, 
p. 108, 


206 Zweites Bud. Bieries Kapitel. 


verfität '). Im Jahr 1730 wurde er zum außerorbentlichen Pro⸗ 
feffor der Philofophie und Poeſie, im Jahr 1784 zum ordentlichen 
Profeffor der Logik und Metaphyfil befördert. Er ftarb am 12. Dec. 
1766 1). In Leipzig fand Gottſched ſchon eine „Deutſchübende 
Poetiſche Geſellſchaft· vor, die unter der Leitung des Volyhiſtors 
Burkgard Mende ftand. Gottſched trat in biefelbe ein, und im 
Jahr 1727 war er bereits ihr Senior. Als folder unternahm er 
nod in demfelben Jahr eine Umbilbung der Geſeilſchaft. Er ver 
taufchte deren bisherigen pedantiſchen Namen mit dem einfacheren 
einer „deutfchen Geſellſchaft.“ Ihre Abſichten ſollten „auf die um 
gebundene diede ſowohl, ja faft mehr, als auf die gebunden, 
geben“ 2. Im Hintergeunde ftand der Gedanke, die Gejellfhaft 
altmäplich zu einem ähnlichen Inftitut für die deutſche Sprade aus- 
aubilben, wie es die franzöfiſche Akademie für die frangöfifde war >. 
Diefer Plan mißglüdte, aber er bezeichnet am beften das Ziel von 
Gottſched's -Veftrebungen. Wir werden zwar Gottſched and ald 
einen der Männer tennen lernen, die ihre Bemühungen der älteren 
deutſchen Literatur und Sprache zuwandten; aber feine eigentlihe 
Aufgabe fah er in etwas Anderem, nämlid in der grammatiſchen 
Negelung und Zeftftellung der deutſchen Schriftſprache zum pral- 
tiſchen und literariſchen Gebrauch. Man muß deshalb feine Gram- 
matif als ein Glied in der Kette feiner übrigen Beftrebungen, feiner 
Zeitſchriften, feiner Rebehunft (1728), feiner kritiſchen Diepttunft (1730) 
u. ſ. f. betrachten, wenn mau ihre Bedeutung richtig würdigen will Gr 
veröffentlichte fie im Jahr 1748 unter dem Titel: Grunblegung einer 
Deutjchen Sprachkunſt, Nach den Muftern ber beften Schriftfteller des 
vorigen und igigen Jahrhunderts abgefaffet von Johann Chriſtoph 
Gottſcheden. Gleich im darauf folgenden Jahr erlebte dies Buch 
die zweite, im Jahr 1776 die fechfte Auflage. Das Biel, das er 
ſich ſtect, ſpricht Gottſched im Beginn feines Buchs mit ben Wat 
ten aus: „Eine Spratunft überhaupt ift eine gegründete An 





1) Bel. K. 9. Zördens, Lexikon deutſcher Dichter u. Profaiften, Dt. II, 
©. 212 fg. — 2) Worte Gotiſched's bei TH. W. Danzel, Gottſched und 
feine Zeit. Seipgig 1848, ©. 88. — 3) Ebend. S. 83 fg. 


Die germaniſche Philolegie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 207 


weifung, wie man bie Sprache eines gewiſſen Volkes, nad) der 
beiten Mundart desjelben, und nach der Einſtimmung feiner beften 
Scriftfteller, richtig und zierlich, ſowohl reden, als ſchreiben ſolle“ 1). 
& ift num zwar eine durchaus irrige Anficht, wenn man gemeint 
dat, die deutſche Schriftiprache fei bis bahin bloß gewohnheitsmäßig 
geweſen, und Gottſched habe fie zuerft ausdrücklich feftgeftellt ?). 
Vielmehr haben wir, abgefehen von den noch älteren Bemühungen, 
datſelbe Streben bei Schottelius, Bödiker und Friſch geſehen. 
Aber innerhalb der Reihe der Männer, denen die neuere deutſche 
Serriftſprache ihre graumatiſche Feſtſetzung verbankt, nimmt Gotte 
eb eine feineswegs umbebeutende Stelle ein. In diefem Sinn 
legte er auch den Grund zu einer deutſchen Synonymik in feiner 
Shrift: Beobachtungen über den Gebrauch und Meißbrauch vieler 
denticher Wörter und Medensarten. Straßburg und Leipzig 1758. 
Den großen Einfluß, den ſich Gottſched erwarb, verbantte er theils 
feinem wirflih rũühmenswerthen Eifer für bie deutſche Sprade und 
der nächteen überlegten Auffaſſung feines @egenftands, theils dem 
Geiic, mit dem er die Richtung feines Zeitalters für fi auszu- 
beuten wußte, bie von allen Seiten dahin gieng, bie deutſche Schrift- 
ſprache zu einem den älteren Kulturſprachen ebenbürtigen Wert- 
veng der literariſchen Thätigkeit auszubilden. Mer wie ihm im 
der früheren Zeit die Verbindung, in welde er feine grammatifchen 
Atbeiten mit feinen poetiſchen und literariſch kritiſchen Beſtrebungen 
iepte, großen Vorſchub gethan Hatte, fo konnte ſich auch fein Au- 
ſehen als Grammatiler nicht mehr lange behaupten, nachdem ex 
anf dem Gebiet der Literatur durch Klopſtock und Lefling in den 
Staub geworfen war. In früheren Jahren weit überfcägt, büßte 


1) Bolfländigere und Neuerläuterte Deutſche Sprachkunſt [fo nannte 
Goitſched die fpäteren Auflagen feines oben angeführten Vuche], 4. Aufl, 
&iy, 1757, 6.1. — 2) Th. W. Danzel in feinem fonft Höchft verbienft- 
ligen Buch: Gotiſched und feine Zeit, Leipz. 1848, ©. 7. Cs gereicht Gott: 
Feb zur Ehre, daß er ſeibſt fehr wohl wußte und auch offen ausſprach, daß 
& mm der Zortfeßer HöchR achtungewerihet Borgänger fei. Bol. Goitſched, 
deutſche Sprachtunſt, 4. Auf. 1757, Bor. zur erfien Ausg. BI. 5. 


208 Zweites Buch. Biertes Kapitel, 


ex gegen fein Lebensende aud die Achtung ein, die er fi durch 
feine wirflien Berbienfte erworben hatte Doc Bat gerade feine 
Deutſche Sprachkunſt noch zehn Jahr nad feinem im Jahr 1766 
erfolgten Tode eine neue Auflage erlebt, hund ebenſo ift von dem 
„Kern der deutſchen Sprachkunſt,“ den Gottſched „aum Gebrauch 
der Jugend“ im Jahr 1758 herausgegeben hatte, noch 1777 eine 
achte Auflage eridienen. 

Haben wir Gottſched im Bisherigen von der Seite betrachtet, 
auf die auch er jelöft den größten Werth Iegte, nämlich von Seite 
feiner Bearbeitung der neuhochdeutſchen Schriftiprache, fo würden 
wir dod ein unvoliftändiges Bild biefes über Gebühr gelobten und 
über Gebühr herabgefegten Mannes erhalten, wenn wir niht 
gleich Hier aud der Verbienfte gedächten, die er ſich als Forſcher 
auf dem Gebiet der deutſchen Literaturgeſchichte erworben hat. Sein 
belannteftes dahin gehöriges Werk, der Nöthige Vorrath zur Ge 
ſchichte der deutſchen dramatiſchen Dichtlunſt, Leipzig 1757, Zweiter 
Theil 1765, ift eine für ihre Zeit ſehr achtungswerthe Sammlung. 
Noch ausſchließlicher mit dev älteren deutſchen Dichtung beſchäftigen 
fi) mande unter den Heineren Schriften Gottſched's. So mat 
er in einem Programm vom Jahr 1745 auf Heinrich's von Bel 
dele Aeneide aufmerlſam. In einem anderen vom Jahr 1752 De 
temporibus Teutonicorum vatum mythiois erfennt er ganz 
richtig, daß die Helden unfrer voltsthümlichen altdeutſchen Epil, 
Dietrich von Bern und feine Genofen, der Zeit der germaniſchen 
BVölferwanderung, die Gebichte aber, die wir über fie beſitzen, erſt dem 
fpäteren Mittelalter jeit dem 12. Jahrhundert angehören. Dürfen 
wir nun aud Gottſched's Einfiht in den Werth unfrer altdeut- 
ſchen Dichtungen nicht gar hoch anſchlagen, fo fehen wir ihm doch 
fort und fort bemüht, feine Kenntniffe auf dieſem Gebiet zu erwei⸗ 
tern 1) und das Gefundene in feinen Zeitſchriften 2), Programmen 


1) ®gl. De temporibus Teutonicorum vatum mythieis, Lips. 1752, 
p. ZU. — 2) So namentlich in ben Beyträgen zur Critiſchen Hiforie ber 
Deutfchen Sprache, Poeſie und Veredſamkeit, acht Bände, Leipz. 1732—174, 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 209 


uf. m. mitzutheilen. Und daß Gottſched doch nicht ohne Sinn 
fir das Kernhafte der volksthumlich deutſchen Spruchweisheit war, 
bemeift die „Sammlung einiger Kern und Gleichnißreden der 
detſhen Sprache im feiner deutſchen Sprachtunſt, und die Art, 
mie er dieſelben einführt 1). 

Schon zu Gottſcheds Lebzeiten war feine deutſche Sprachlehre 
von Johann Michael Heinze, Mector zu Lüneburg, (f 1790) 
wiſtict und Bitter angegriffen worden ?). Aber es mährte ger 
tume Zeit, bis fi eine andere deutſche Grammatik zu dem An⸗ 
iin aufihwang, das bie Gottſched'ſche genoſſen Hatte. Weber 
Job. Siegm. Popowitſch's (geb. 1705 unweit Stubenig in 
Unermart, + 1774) Aufongsgründe der Teutſchen Sprachtunft, 
Biem 1754, noch Frieder. Carl Fulda’s Grumbregeln ber 
Tenfen Sprache, Stuttgart 1778 3), waren dies im Stande. 
Einer ausgebreiteteren Wirfamleit erfreute fih Joh. Friedr. 
deynag (geb. zu Havelderg 1744, Rector an der Oberſchule und 
Prof. an der Univerfität zu Frankfurt an der Ober, + 1809) 
Seine Deutjge Sprachlehre zum Gebrauch der Schulen, Berlin 
1770, erlebte noch 1808 eine fünfte Auflage ), und feine Briefe 





ud im Neuen Bücherſaal der ſchönen Wiſſenſchaften und freien Künften, zehn 
ir ring, 17451754. 

1) Goniſched's Deutſche Sptachtunſt, 4. Aufl, Leipz. 1757, 6.594 fg. — 
Tagegen möchte ich auf das allerdings merfwilrdige Lob, das bie altbeutfchen 
Die: „Walter von der Vogelweyde“ (Sp. 1635 fg), „Wolferam von 
ailbah· (Sp. 1661 fg.) und andere in Gottſcheb's Handlexicon — ber 
iGinen Wiffenfepaften, Leipgig 1760, erhalten, bei Gottſched's belannten An 
flen über Poefie fein fehr großes Gewicht legen. Diefe Artikel rühren 
gofentheife nicht von Goitſched Her, und daß er fie Hat fiehen laſſen, will 
fa dem raſch fabricierten Buch micht viel beſagen. (Bgl. die Borr., Iehte 
Ei). — 2) Joh. Mich. Heinzens — Anmerkungen über des Herm Pro: 
Mer Botfheh’s Deutihe Sprachlehte, Göttingen und Leipzig 1759. — 
9) Belonberer Abbrud aus „Der teutfche Sprachforſchet, Zweiter Teil. Stute 
aut 1778°, (Gerausgegeben von Joh. Nafl) ©. 118 fg. Ueber Fulda ale 

ſprechen wir weiter unten. — 4) Hoffmann, Deutsche 
Pidlel. 8, 141. 


Renner, dqq. der germ. Büstogte. 14 


210 Zweites Buch. Vierles Kapitel. 


bie deutſche Sprache betreffend, ſechs Theile, Berlin 1771 — 75, 
wurden von den Beitgenofien geihägt ). [ 

Aber der eigentliche Erbe von Gottſched's tonangebender Stel 
lung, der den Ruhm feines Vorgängers auf dem Gebiet der 
Deutſchen Grammatik weit Hinter fi Tieß, war Jo hann 
Chriſtoph Adelung. Geboren am 8. Auguft 1732 in dem 
Dorfe Spantelow bei Anklam, wo fein Bater Pfarrer war, be 
ſuchte Adelung die Schulen zu Anklam und Klofterbergen und fir 
dierte dann auf der Univerfität Halle. 1759 ward er Profeſſor 
am evangeliihen Gymnafium zu Erfurt, ſah fi aber auf Veran 
laffung eines Streits zwiſchen der dortigen proteftantifen Ge— 
meinde und ber Regierung, in welchem er bie Gerechtſame feiner 
Confeſſionsverwandten zu vertheibigen übernommen Hatte, genöthigt, 
Amt und Ort fänell zu verlaffen. Er floh nad Leipzig, wo er 
mit Eorrecturen, Weberfegungen und eigenen jchriftftellerifgen Ar- 
beiten ſich feinen Unterhalt mühfam erwarb. Mit ftaunenswertiem 
Fleiß förderte er eine lange Reihe ber verfciebenartigften Werte 
zu Tage. Darunter neben vielen anderen eine Geſchichte der Phi⸗ 
Iofophie für Liebhaber, Leipzig 1786, drei Bände; einen Kurzen 
Begriff menſchlicher Fertigfeiten und Kenntniſſe, Leipzig 1778, 
2. Auflage, 1783—89, vier Bände; einen Verſuch einer Geſchichte 
ber Kultur des menſchlichen Geſchlechts, Leipzig 1782; eine Ge 
ſchichte der menſchlichen Narrheit, Leipzig 1785—89, fieben Bände; 
aber and) feine Fortfegung von Jöcher's Gelehrtenlegiton, Leipgig 
1784, zwei Bände; fein Neues Lehrgebäude der Diplomatil, Erfurt 
1760, drei Theile, und fein Glossarium manuale ad scriptores 
mediae et infimae Iatinitatis, Halae 1772 — 84, ſechs Bände; 
vor allen aber feine Wörterbücher und Grammatilen der deutjhen 
Sprache, über die wir nachher einen eingehenderen Bericht zu er⸗ 
ftatten Haben werden. Im Jahr 1787 nahm Abelung einen Ruf 
als Hofrath und Oberbibliothefar in Dresden an. Hier wid⸗ 
mete er bie Zeit, die ihm feine bibliothekariſche Thätigfeit übrig 


1) Aber wie wenig gränblid die Kenntniffe dieſes Sprachforſchers waren, 
barüber vgl. z. B. bie oben angef. Briefe, Thl. V, ©. 71 fg. 


Die germanifhe Philologie in Deutjland von 1748 bis 1797. 211 


Reg, mit vaftlofem Fleiß linguiſtiſchen und hiſtoriſchen Studien. 
Roh am jpäten Abend feines Lebens unternahm er feinen Mithri- 
dates ober allgemeine Sprachenkunde. Aber er vollendete bloß ben 
erften Theil, während der Bearbeitung des zweiten ward er am 
10. September 1806 vom Tod abgerufen 1). 

Sowohl zur lerilaliſchen, als zur grammatiſchen Bearbeitung 
der deutſchen Sprache wurde Abelung zunächſt durch äußere Um- 
fände veranlaßt. Wenige Jahre vor feinem Tode hatte Gottſched 
ein deutſches grammatifches Wörterbud) angekündigt. Aber das Wert 
war nicht über biefe Ankündigung und einen zugleich ausgegebenen 
Probebogen Binausgelommen. Da veranlafte nach Gottſched's Tode 
der Buchhändler Breitkopf in Leipzig Abelung, die von Gottſched 
begonnene Arbeit auszuführen. Abelung gieng barauf ein; ba ihm 
aber außer dem angeführten Probebogen nichts von Gottſched's 
Sammlungen zu Gebote ftand, auch die oberflächliche Art, in ber 
Gottſched verführen war, von ber Benutzung feiner Papiere nichts 
erwarten Tieß, jo mußte Abelung fein Wert vom Grund aus auf 
bauen 2). So entftand fein Verſuch eines vollftändigen gramma- 
tich-kritiſchen Wörterbudes der Hochdeutſchen Mundart, mit beftän- 
diger Bergleihung der übrigen Mundarten, befonders aber ber 
oberdeutſchen, 5 Theile, Leipzig 1774— 1786 3). Das Werk be- 
fHäftigte Adelung eine lange Reihe von Jahren und fand einen 


1) Die obigen Angaben über Adelung's Leben find dem Artikel Ader 
lung in Erfä's und Gruber’ Encyelopäbie, Thl. 1, Leipz. 1818, S. 404 fg., 
anommen. Da biefer Artikel von Ebert, Adelung's fpäterem Nachfolger an 
ber Dreöbner Bibliothek, herrühtt, fo wird man annehmen dürfen, daß feine 
Angaben zuverläffig find. Nichtsdeſtoweniger bleibt es auffallend, daß Meufel 
im Neuen Titerarifcen Anzeiger 1807, Sp. 799 „auf Ehre verfichert“, Ade ⸗ 
hung ſelbſt Habe igm mitgeteilt, daß er am 80. Auguft 1734 geboren fei, 
wihrend Ebert dem gegenüber auebrüdtich jagt: „Abelung war am 8. Aug. 
1732 (nit 30. Auguft 1734)" geboren. — 2) ©. bie Vort. zum Erſten 
Zeil von Aelunge's Wörterbud) (1774) ©. U fg. — 3) Auf dem 
Viel dieſer erfien Ausgabe ment fi Adelung mit, wohl aber unter ber 
Borrebe. 

14* 


212 Zweites Buch. Biertes Kapitel 


ungewöhnlichen Beifall. Bevor noch die erfte Auflage vollendet 
war 1), machte fih ſchon das Bedürfniß einer neuen geltend. Diefe 
erſchien unter dem Titel: Grammatiſch- kritiſches Wörterbud der 
Hochdeutſchen Mundart —. Zweyte vermehrte und verbeſſerte 
Ausgabe, vier Theile, Leipzig 1798 — 1801 2). Obſchon Abſicht 
und Anlage des Werts im Wejentlicen dieſelben blieben, war doch 
das Ganze von neuem durchgearbeitet und an unzähligen Stellen 
verbefjert und vermehrt 3). Wie feft Adelung's Auf ſchon durch 
die erfte Ausgabe feines Wörterbuchs gegründet war, zeigte fih 
bereits vor beren Abichluß. Im Jahr 1779 befahl Friedrich der 
Große, „eine gute teutſche Grammatik, bie bie befte ift, in den 
Säulen zu gebrauden, es fei nun die Gottſchediſche, oder eine an 
dere, bie zum beften ift“ 4). In Folge deſſen forderte fein Minis 
fter, der Freiherr von Zeblig, Adelung auf, eine deutſche Sprach⸗ 
lehre für Schulen zu ſchreiben. So entſtand Adelung's erſtes 
grammatiſches Wert, ſeine „Deutige Sprachlehre. Zum Gebrauche 
der Säulen in ben Königlich Preußiſchen Landen. Berlin 1781. 
In demſelben Jahr erſchienen, wie Kants Kritit der reinen Ver⸗ 
nunft, iſt Adelung's Sprachlehre auch demfelben preußiſchen Staats 
miniſter von Zedlitz gewidmet, wie das epochemachende Wert des 
großen Königsberger Philoſophen. Adelung's übrige grammatifge 
Arbeiten führen wir weiter unten an und erwähnen Hier nur noch 
fein Bud) „Ueber den deutſchen Styl“ (Leipzig 1785), feine Schrift: 
Jacob Püteri) von Reicherzhauſen. Ein Heiner Beytrag zur 
Geſchichte der Deutſchen Dihthmft im Schwäbiſchen Zeitalter" 
Leipzig 1788, und feine „Aeltefte Geſchichte der Deutſchen, ihrer 
Sprache und Literatur, bis zur Völkerwanderung,“ Leipzig 1806. 


1) Des „Fünften und legten Theils Erſte Hälfte“, Leipzig 1786, floh 
zwar das Wert mit dem 3 ab, aber bie Zweite Hälfte, welde „Werbefferum 
gen und Zufäge" zu bem ganzen Werk enthalten ſollie (Wortebe zu V, l, 
2. 2) iſt nicht erfienen, weil inzwiſchen die neue Auflage im Anzug mat 
— 2) Zwölf Jahre nach Abelung's Tob im Jahr 1818 erfhien nad) einet 
fünften ober Gupplementbandes Erſtes Heft. — 8) Bol. Adelung's Bir 
ierbuch Thl. I. 2, Ausg., Leipzig 1798, Vort. ©. VII. — Preub, 
Sriebrich der Große, Bb. II, Berlin 1833, ©. 116, 


Die germanifäje Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 218 


Wenn man bie Unmaſſe von Schriften überhlidt, bie Abelung 
anf ben verfchiebenartigften Gebieten veröffentlicht hat, und dabei 
in Betracht zieht, daß er zur Bearbeitung feines deutſchen Wörter⸗ 
bus und feiner deutſchen Sprachlehre erft von außen veranlaft 
mie, fo könnte man auf den Gedanken kommen, Abelung fei ein 
rielſchreibender Polyhiſtor geweſen, der ohne Zuſammenhang bald 
dies und bald jenes ergriff und ohne inneren Beruf durch den 
bloßen Zufall eben auch auf die deutſche Sprachforſchung gerieth. 
Über bei einer ſolchen Annahme würde man ſich über dieſen merk⸗ 
mirdigen Mann gänzlich täuſchen. Vielmehr hängen faft alle feine 
Unternehmungen, fo verſchiedenartig fie zu fein ſcheinen, auf das 
engfte zufammen. Wir müſſen deshalb, um feine Leiftungen auf 
dem Gebiet ber deutſchen Sprachforſchung richtig zu beurtheilen, 
mörderft etwas näher auf feine allgemeinen Anſichten über Wiffen- 
ſcaft und Leben eingehen. Adelung's Entwidlung fällt in die Zeit, 
als die durch Chriftion Wolff verflachte Leibniziſche Philoſophie ſich 
in den weiteſten Kreiſen verbreitete. Hatte ſchon Wolff den Leib⸗ 
nisiihen Ideen mancherlei Fremdartiges beigemiſcht, fo war dadurch 
der Weg gebahnt zu dem bunten Efleftiismus, ber vor dem Auf 
treten Kant's die Geifter in Deutſchland beherrſchte. Adelung 
ſelbſt fpriäht dies mit den Worten aus: „Daher hat in ben neues 
ften Zeiten faft jeder Philofoph von Kopf und Scharffinn fein 
eigenes eflektiiches Syftem, worin dod die Leibnitziſch⸗Wolfiſchen 
Snpothefen bald mehr bald weniger zum Grunde liegen“ 1). Aug 
Welung's philoſophiſche Anfihten find natürlih beeinflußt von 
img. Aber man würde fi täuſchen, wenn man bie Quellen 
feines Dentens vorzugsweife bei Leibniz fuchte Er kann natürlich 
nicht umhin, deſſen „Scharffinn und ſchnelle und durchdringende 
Veurtheilungskraft· anzuerkennen 2); aber feine Philoſophie iſt ihm 
eigentlich im Grund der Seele verhaßt. Leibniz, ſagt er, Hat ſich 
bemüht, das Gebiet der Philoſophie „in den gränzenloſen Regio⸗ 
nen der Möglichfeit von neuem zu befeftigen“ 3). In Bezug auf 





1) Geſchichte der Philoſophie für Liebhaber, vd. 3 (1787), ©, 425. — 
% Ehend, Vd. 8, ©. 404. — 8) Ebend. Bb. 3, ©. 408. 





214 Zweites Buch. Viertes Kapitel. 


Leibnizens Beftrebungen, bie Philofophie mit der Hriftlihen Reli⸗ 
gion auszuföhnen, ift er nicht abgeneigt, an deſſen Ehrlichkeit zu 
zweifeln *). „Die Lehre von den angebohrnen Begriffen”, fagt er 
dann ferner, lann ich Teinem Philofophen vergeben, und am wenig 
ften einem Leibnig; fie ift eine Frucht des hohen Werthes, welden 
er auf die Speculation fegte, und feines Hanges zur Platoniſchen 
Bhilofopfie" 2). Diefe „Vorliebe für bie Pantheiſtiſchen Syfteme 
und befonbers für den Plato“ 2) ift nad) Adelung ein Hauptfehler 
des Leibniz. Wenn dagegen Abelung von ber Leibniziſchen Ein- 
theilung der Begriffe in Mare und dunele u. ſ. f. einen oft wie 
derfehrenden Gebrauch macht, fo bemerkt er felbft, daß Leibniz hier 
größten Theils dem des Cartes folgt" 3). Nicht Leibniz, fondern 
Rode ift es, am deſſen Grundgedanken Adelung vorzugsweiſe an 
tnüpft. „Unter allen (Verbeſſerern der Logif), jagt er, fam einer 
der Wahrheit näher, als der berühmte Engländer, Johann Kode, 
welcher der erfte war, der von ber Erfahrung und Beobachtung 
ausgieng, an ihrer Hand das alte Stedenpferd der angebohrnen 
Begriffe verſcheuchte, und den Urfprung aller unferer Erkenntniß 
da fand, wo er wirklich zu ſuchen ift, in der Empfindung durch die 
Sinne” ). Wie mit dem Grundgedanlen Lode’s, fo fühlt ſich Ade⸗ 
lung vor allen mit der ganzen Art und Weife des Chriftian Tho- 
mafius verwandt. In ihm ſieht er „den Urheber der Aufklärung 
und des philoſophiſchen Geiftes, welche fi feit dem Anfang des 
gegenwärtigen Jahrhunderts über Deutſchland, und befonders 
deſſen nördliche Hälfte verbreitet Haben“ 5). „Seine fpeculativifhe 
Bhilofophie, die Geiſterlehre abgerechnet, ift noch die vernünftigfte, 
die bisher war gelehret worden” 6). „Ex Hatte die Sinne ſehr 
richtig als die einzige Quelle unferer vernünftigen Erkenntniß ans 


1) Ebend. 8b. 3, ©. 408 fg. — 2) Ebend. Bb. 3, S. 400. — 
3) Ebend. Bd. 8, S. 409. Vgl. 8b. 3, S. 370. Ueber fein Verhältniß zu des Gartes 
in biefer Beziehung fpricht ſich Leibniz in ben Nouveaux essais sur l’enten- 
dement humain Liv. I, ch. 29 (Rafpe's Ausg. ©. 213) aus. — 4) Ge 
ſchichte der Philoſophie für Liebhaber, Bb. 3, S. 442. Bol. 6.445. — 
5) Ebend. Bd. 3, ©. 389. — 6) Ebend. Bb. 3, ©. 392.. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 215 


genommen, unb gefunden, daß alle abftracte Begriffe Bloß von ber 
groben Körperwelt um uns Her abgeriffen find“ 1). „Ex haſſete 
und verfolgte den Hang (ber bisherigen ſectiriſchen Philofophie) 
m unnützen Speculation aus bem ſehr wahren umb richtigen 
Grundfage, daß die Philofophie kein müßiges Spiel des Verftandes 
md Scharffinnes feyn, fondern das Glüd des Menſchen im gefell- 
ſhaftlichen Leben befördern müſſe“ 9. Wenn aud Leibniz, Newton 
und Andere „mit mehr Tieffinn und Abſtraction philofophtret ha⸗ 
ben,“ als Thomafius, fo find doch „feine Bemühungen dem menſch⸗ 
fihen Geſchlechte unendlich wohlthätiger geworben, als die ſcharf⸗ 
finigften Hypotheſen diefer Männer.” Daß er „den Glauben an 
Seren und andere Teufeleyen“ verbannt und dadurch Myriaden 
unſchuldiger Perſonen das Leben gerettet hat,“ „ift mehr werth, 
als der ganze Speculations⸗Kram aller Philofophen zuſammen ge- 
nommen“ 3). Aus den angeführten Stellen ergibt fi Adelung’s 
philoſophiſcher Standpunkt, und wir wollen nur noch einiges We: 
mige Hinzufügen. Die Hauptaufgabe dev Phikofophie ift nach Ade- 
kung die Gemeinnügigfeit, und das vorzüglichite Mittel hiezu ſieht 
er in den Naturwiſſenſchaften. Sie bilden die Grundlage aller gefun- 
den Philoſophie. Ihre Vernachläſſigung bei den Griechen und ihr 
großartiger Betrieb in unferer Zeit hebt die neuere Philofophie 
weit über die antife. Der jetzige philoſophiſche Geift ift „beſon⸗ 
ders eine Folge der in den neuern Zeiten erwedten und verbreite- 
ten Naturkunde, worin fein großer Vorzug vor dem philoſophiſchen 
Geifte der Alten beftehet, der aus Mangel an einer nur erträg- 
lihen Kenntniß der Natur und ihrer Kräfte immer noch an tauſend 
Arten des gröbften Aberglaubens lebte" 4). Aber was Abelung 
mter der Philofophie der Neueren verfteht, ift nicht ein beſtimmtes 
Softem, eine „philofophifge Secte.” Vielmehr „war es Thorheit, 
die eibnitziſchen Hypotheſen in ber Folge für unumſtößlich auszu⸗ 





1) Ebend. Bd. 8, ©. 394. — 2) Ebend. 8b. 8, S. 880. — 
3 Ebend. Bd. 3, ©. 800. — 4) Ebend. Dh. 3, ©. 462. Bel. Bb. 2, 
8.100. ®b. 3, 427. 432-433. 449—450. 459. Bol. Abelung, Aelteſte 
Geſchichte der Deutſchen, Leipz. 1806, S. 307. 


216 Zweites Bud. Viertes Kapitel. 


geben." „Wenn die fyftematifche Philofophie auf ſolche Abwege 
geräth, fo ift ihr die eklektiſche unendlich vorzuziehen, melde bie 
Wahrheit von ber Hypotheſe forgfältig unterfeibet, jene nimmt, 
wo fte felbige findet, und kein Syſtem zu erfünfteln ſucht, wo bie 
Natur der Dinge es nicht verftattet 1), 

Wenn wir bie eben bargelegten philoſophiſchen Grundanfichten 
Adelung's im Auge behalten, fo wird uns au Mar werben, daß 
feine verſchiedenen Arbeiten 2) auf das engfte zufammenhängen und 
wechfelfeitig in einander greifen. Auf dem Grunde jener Anfichten 
erbaut fi Adelung eine Kulturgeſchichte des menſchlichen Ge⸗ 
ſchlechts, und in diefer Kulturgeſchichte bildet wieder bie Sprade 
eins der wichtigſten Glieder. Auf dieſem Gebiet fand Adelung 
zwei Vorgänger, mit denen er im Wefentlihen übereinzuftimmen 
glaubte und auf die er deshalb öfters verweilt. Der eine berfel- 
ben war Herder 3) in feiner Berliner Preisſchrift über den Ur- 
fprung ber Sprache (Berlin 1772); der andere Fulda in feiner 
Göttinger Preisfehrift über die beiden Hauptdialelte der deutſchen 
Sprade (Leipzig 1778). In Herder's „vortreffliher Abhandlung“ 
ſieht Adelung dieſelbe Grundanſicht von der Sprade, auf die er 
felöft fon vor dem Drude ber Herder'ſchen Schrift „durch die 
Sprache ſelbſt geleitet wurde,“ (baf fie nämlich „Nachahmung mit 
Beſonnenheit ſei,“) „auf eine überzeugende Art aus Vernunftſchlüſſen 
erwieſen“ +). Mit Fulda aber fühlt er fi in Anſehung der Eiy- 
mologie der Wörter fo einig, daß er deſſen Preisſchrift in den 
erften Theil feines deutſchen Wörterbuchs aufnehmen läßt. Daß 
Abelung ſich in feinen Anſichten vielfad; mit Herder und mit Zulda 
berüßet, unterliegt Teinem Zweifel, aber eben fo wenig läßt fih 
vertennen, daß er doch ſowohl dem Einen, als dem Anderen viel 


1) Ebend. 8b. 1, S. 17. — 2) Natürlich ſehen wir hier ab von 
manden bloß buchhändleriſchen Nebenarbeiten. — 3) Ueber Herber ſ. u. 
— 4) (Mbelung) Verſuch eines geammatifch + krit. Wörterbuds ber God: 
deutſchen Mundart. Thl. 3, Leipg..1777, Vorr. BL. 2 Bel. BL. 3, und be 
ſonders auch Magazin für die Deutſche Sprade, Erſten Jahrgangs viertes 
Stüd, Leipzig 1783, ©. 10. 


Die germanifhe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 217 


ferner ftanb, als er anfänglich glaubte. In Betreff Fulda's hat 
a dies ſelbſt fpäterhin eingefehen und darum deſſen Preisſchrift in 
die zweite Ausgabe feines Wörterbuchs nicht wieder aufgenommen 1). 

Melmg’3 Anfiäten über die Entwicklung der menſchlichen 
Yultır und der menſchlichen Sprache find nämlich im Weſenllichen 
dieſe: Wie alle unſere Erkenntniß von den Sinnen ausgeht, fo 
hat fi auch das menſchliche Geſchlecht aus einem ganz ſinnlichen 
Zuftand allmählich zur Kultur emporgearbeitet. „Cultur“, fagt 
Welung, „ist mir der Uebergang aus bem mehr finnlichen und 
thieriſchen Zuſtande in enger verſchlungene Verbindungen bes ge 
ilfeffigen Lebens. Der ganz finnlice, folglich gang thierifäe 
duftand, der wahre Stand der Natur ift Abweſenheit aller Cul⸗ 
tr" 2). Die allmählige Vermehrung der Menſchen führt fie zur 
Kultur. „Was den Menſchen zur Eultur beſtimmen ſoll, ift nichts 
anders, als Vollsmenge im eingeſchränkten Raume* 3). Unter die 
Stũde, die zur Cultur gehören, rechnet Adelung vorzüglich auch 
die allmählige Abnahme der ſinnlichen oder bunfeln Begriffe und 
ihret Herrſchaft·, und die „eben fo allmählige Zunahme der deut» 
fihen Begriffe, ober der vernünftigen Erfenntniß, und ihrer Herr⸗ 
ſcaft über die vorigen“ %. Hiemit hängt auf das engfte zuſam⸗ 
men die Entwidlung der Sprache. Der Menſch ift nämlich mit der 
bloßen Anlage alles deſſen, was er werben follte, aus ber Hand 
des Schöpfers hervorgegangen 5). „Aber worin beftand diefe Mög- 
fihleit, diefe Anlage? Wir können fie ohne Gefahr zu irren, in bie 
Sihigteit fegen, fid feiner Empfindungen bewußt zu feyn, aber 
fi ihrer nicht allein bewußt zu feyn, fondern aud durch wieder: 
hohlte Aufmerkfamfeit fi von dem empfundenen Dinge ein Mert- 
mahl abzureiſſen, vermittelft folder abgeriffenen Merkmahle nicht 

1) Kelung, Grammatiſch⸗krit. Wörterbuch u. ſ. w., 2. Ausg., Thi. I. 
&iy, 1798, Wort. S. VII. — 2) (Mbelung) Verſuch einer Geſchichte 
der Eultur des menfchlichen Geſchlechts. Leipzig 1782, Vort. 8.3. — 
3) Berfuch einer Geſch. ber Eultur, Vorr. BI. 4. Bel Bi. 7. — 4) Ber: 
nd einer Geſch. der Gultur, Vorr. BI. 8. — 5) Verjuch einer Geſch. ber 
Cult, 6.9. 


218 Zweites Buch. Viertes Kapitel. 


alfein Mare, fondern auch allgemeine Begriffe zu bekommen, und 
die auf folde Art erworbenen Begriffe wieder zur Verbeſſerung feines 
Auftandes anzuwenden, Turz in dem, was Herder mit einem 
glücklich wieder erneuerten alten Worte die Befonnenheit nennt; 
ein Vermögen, welches den Menſchen von den Thieren unterjchei- 
det, ihn zu dem macht, was er ift und werben Tann“ '). Dies 
Vermögen „ift zugleih der Grund der Sprade” 2). „Diele ift 
von Menſchen erfunden“ 3). „Sprache und Erkenntniß ftehen in 
dem genaueften Verhältnig mit einander” 4). „Die Sprade iſt 
der erfte und widtigfte Schritt zur Eultur, das, was den Men- 
fen aus ber Claſſe des Thierreiches heraus hebt, und ihn eigent- 
lich zum Menſchen macht“ 5). Er lernt, „fi ein hörbares Mert- 
mahl von dem Dinge, welches den Eindrud auf ihn machte, abzu- 
reiffen, und vermittelft diefes Merkmahles hat er num auch einen 
Haren Begriff, der ihm zugleich in den Stand feet, ſich des Din- 
ges und ber Empfindung von bemfelben wieder zu erinnern“ ©). 
Denn bie Sprade ift durchaus nit aus willkürlich gewählten oder 
verabrebeten Zeichen entftanden 7). In der Zeit, in welcher er die 
Sprache erfindet, ift der Menſch noch ganz finnlih. Er verfährt 
dabei nicht nach dem Bewußtſein Har erkannter Gründe, fondern 
hängt ganz von dunfelen Vorftellungen ähnlicher Fälle ab, „weil 
er feine Hare und deutliche Erkenntniß erſt mit und durch die 
Sprade erhält“ 8). „Ein rohes, wildes oder Halb wildes Bolt 
lebt ganz ſinnlich, Hat daher nur wenig Begriffe, feine Sprache er- 
ſtredt ſich felten weit über die Gränzen der finnlihen Gegenftände 
und Veränderungen, bie es um fih hat, und fein Ausbrud beriel- 
ben ift eben fo Hart und ungeſchlacht als feine Empfindungswerl- 


1) Berfuch einer Geſch. der Cultur, S. 10. — 2) Verf. einer Geld. 
ber Eultur, ©. 11. — 8) Ebend. ©. 12. — 4) Ebend. ©. 13. — 
5) Eben. ©. 19. — 6) Ebend. 6.20. — 7) Abelung gegen Mei⸗ 


ner, im Magazin für die Deutſche Sprache, Erften Jahrg. erſtes Stüd (1782) 
S. 134. In biefem Punkt fiimmt Adelung nit mit Loce, fondern mit 
Leibnib. ©. o. S. 161. — 8) Nelung, Umfländliches Lehrgebäude ber 
Deutſchen Sprache, Leipz. 1782, I. ©. 94. Vgl. ©. 9. 


Die germanifhe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 219 


zeuge und Sprach⸗Organen“ ?). „Die Urfprünge der Wörter fallen 
allemahl in die roheſten Zeiten jedes Volkes, wo es Feine andern 
als ganz ſinnliche Borftellungen hatte und haben konnte, wo folge ' 
lich die ſinnlichſte Erklärung allemahl die wahrſcheinlichſte ift* 2). 
In dieſe Periode der Sinnlicteit fällt der Urſprung des Ge— 
ſchlets der Hauptwörter. „Da man einmahl alle ſelbſtändigen 
und als ſelbſtändig gedachten Dinge durch äußere Merkmahle in ge⸗ 
wiſſe Claſſen tHeilen wollte, fo würde man dieſes Mittel auf eine 
überaus nügliche und fruchtbare Art haben anwenden Können, wenn 
man einen ſchicklichern Eintheilungsgrund gewählet Hätte, als das 
Geſchlecht. Allein alsdann Hätten die Urheber der Sprache wenig- 
ftens deutliche Begriffe von den Dingen haben müffen, die wir 
doch hei ihnen noch nicht annehmen können. Daher bleiben fie bet 
dem allerſinnlichſten und unſchicklichſten Mertmahle ftehen, welches 
man fi nur denken Tann, und ba fie an fih und an den Thieren 
zweyerlei Geſchlecht bemerkten, jo wendeten fie foldes auf alle 
übrige, wahre ober eingebildete Subftanzen an, und pflanzten da⸗ 
durch den überzeugendften Beweis von der Kindheit ihres Verſtan⸗ 
des auf ihre Nachkommen fort“ 3). Erſt ganz allmählich ſchreitet 
die Sprache zugleich mit der Vernunft zu immer größerer Boll» 
Iommenheit fort. „Denn Sprahe und Vernunft gehen Hand in 
Hand, und klären ſich wechſelsweiſe auf. Beyde knüpfen fih an 
dunlele Eindrüde an, und ſchreiten nur ſtufenweiſe zu Hören Be» 
griffen fort” 4%. „Die anfänglich noch ſehr buntele Erkenntniß Häret 
fh immer mehr und mehr auf, die faltblütige Vernunft gewinnet 
der Sinnlichleit immer mehr Feld ab, der Verſtand veiffet ſich im- 
mer mehr von den Feſſeln des Irrthums ber Sinne Los" 5), 
Denſelben Gang von der Dunkelheit zu immer größerer Klarheit 
niumt die Sprache. Anfänglich werden nur einſylbige Wörter neben 


1) Ebend. J. S. 7. — 2) Ebend. I, &. 7. — 3) Umfländlices 
Aehrgebäube I, ©. 346. Vgl. Magazin für bie Deutſche Sprade, Erſten 
Rihranges viertes Stüd, 1783, ©. 3 fg. — 4) Abelung, Mithribates, 
Erfter Theil, Berlin 1806, Einleitung ©. V. — 5) Magazin für bie 
Deutche Sprache, Erften Jahrganges zweytes Stüd, 1782, ©. 3. 


220 Zweites Buch. Vierles Kapitel. 


einander geftelit, ohne die Beziehungen, durch welche fie verfnüpft 
find, zu bezeichnen. Diefe Stufe der Sprachbildung haben uns die 
Sprachen von China, Tibet, Ava, Pegu, Siam, Tunkin und Eot- 
ſchinſchina erhalten. „Alle diefe großen Länder, und zwar nur 
diefe im der ganzen bekannten Welt allein, verraten in ihren 
Spraden noch ganz das Unvollkommne ber erften Spradbil- 
bung” 1). „Sie haben noch die erſte rohe Urſprache beibehalten“ 2). 
Ein großer Fortſchritt war der Uebergang zur Flexion. Aber doch 
würde man irren, wenn man bie Flexion für etwas Anderes, als 
ein ſehr umvolltommenes Mittel Halten wollte. „Es läßt fih nämlich 
bemeifen, daß die Flexion zwar anfänglich ein brauchbares Mittel 
war, Verhältniffe und Nebendegriffe dunkel zu bezeichnen, indem 
diefe dunkele Bezeichnung doch mehr Verſtändlichkeit gemährete, als 
gar Teine; daß aber ber menſchliche Geift, fo wie er einfehen lernte, 
daß diefe dunkele Vorftellung zur Flaren erhoben werben müffe, 
dieſen Weg wieder verließ, und da, mo er von dem Verhältniſſe 
und Nebenbegriffe are Begriffe haben Tonnte, ber Flexion bie 
Umſchreibung vorzog" 3). Daher bilden die neueren Spraden 
einen entſchiedenen Fortſchritt gegenüber dem Griechiſchen und La⸗ 
teiniſchen. Was diefe mur dunkel durch Biegungsſylben bezeichne ⸗ 
ten, das brüdt das Italieniſche, Franzöſiſche u. ſ. f., und ebenſo 
das Deutfhe durch befondere Wörter aus. „Gewiß aus Feiner 
andern Urſache, als aus der dunklen Ueberzeugung, daß es unſchicklich, 
und der Abficht der Sprade zuwider ift, das dunkel auszubrüden, 
wovon das menſchliche Geſchlecht ſich endlih klare Begriffe erwor- 
ben Bat“ 4. „Es hat freilich feine Richtigfeit, daß eine Sprade, 
deren Ausdrüde noch viel von dem urſprünglichen Bildlichen an 
fi Haben, und welde in ihrem Baue eine gewiffe dunkele Kürze 
bat, wobey fie nur bie hervorftehendften Begriffe ausbrüdt, die 


1) Abelung, Mirgridates, Erfler Theil, 1806, ©. 18. — 2) Ebend. 
S. 10. — 3) „Beweis ber fortigreitenden Cultur des menſchlichen @eiftee 
aus ber Vergleichung der älteren Sprachen mit ben neuern.” Im Maga 
für bie Deuiſche Sprache, Erſten Jahrganges zweytes Stüd, 1782, ©.13. — 
4) Ebend. S. 17, 


Die germanifcge Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 221 


Rebenbegriffe aber errathen läßt, für die Dichtung bequemer ift, 
d8 eine andere; daher find es bie Griechiſchen und Römiſchen 
mehr als die neuern Europäiſchen Sprachen, und die ältern morgen« 
lindifgen mehr als jene, und die urſprüngliche Sprache war ver- 
muthlih die volltommenfte Dichtung, die man fi nur gedenken 
lann, weil da jeder Ausbrud nicht allein ein ſinnliches Bild, fon- 
dern felöft ein tönendes Bild war. Allein, die Dichtung ift denn 
doch nicht die weſentlichſte Abſicht weder der Sprache, noch bes ger 
ilfaftlichen Lebens, fondern nur eine Nebenzierde, welde höhern 
Borzügen billig nachftehet. Freylich verlieren die neuern Spraden 
immer mehr in Anfehung der Dichtung, je mehr fie ausgebildet 
werden, ober vielmehr, je mehr der menſchliche Geiſt feinen Wachs⸗ 
thum am Klarheit und Deutlicteit auch auf fie anwendet; aber 
da biefer Wachstum ein wahrer Gewinn ift, fo Tann jenes auch 
gein wefentlicher Nachtheil ſeyn, da es eine nothwendige Folge bier 
es Gewinnes ift“ %). Daß hier ber Gewinn unbebingt auf Seite ber 
Reueren ift, ergibt ſich fhon aus der Stellung, welde die Poeſie 
in Lreiſe der menſchlichen Thätigkeiten einnimmt. Die Poeſie hat 
& nämlich mit dem zu thun, „was auf bie untern Kräfte, vor« 
vehmlih aber auf die Einbildungskraft, die Gemüthsbewegungen 
amd den Wig wirkt“ 3. Dagegen ift die Profa „zunächft auf den 
Berftand gerichtet, fo daß die Rückſichten auf die untern Kräfte nur 
fällige Verſchönerungen find" 9). Adelung ſchließt fih Hier ber 
Aetgetit des Alexander Baumgarten an *) und zieht aus berfelben 
öolgerungen, die ſehr zum Nachtheil der Poefie ausfallen. Unter 
der Ueberſchrift: „Wohbeit der Sprache bei rohen BVöllern,“ fagt 
@: „Je weniger aufgefläxt ein Volt ift, befto ftärker find Key 
demfelden die untern Kräfte, befonders bie Einbildungskraft und 
die beidenſchaften, und dieſe bruden denn auch ihr Gepräge der 
ganzen Sprache auf, die dadurch in diefem Zuſtande für die Dicht. 





1) Ebend. ©. 25 fg. — 2) Abelung, Ueber ben Deutſchen Styl, 
water u. britier Teil, Berlin 1785, ©. 252 fg. — 3) Ebend. ©. 258, 
— 4) Bel. ebend. ©. 254, und (Mdelung) Kurzer Begriff menſchlichet Fer⸗ 
igeiten amd Kenntniffe, Dritter Theil, zwehte Aufl,, Leipg. 1786, ©. 247. 





222 Zweites Bud. Biertes Kapitel. 


Tunft freylich bequemer ift, als in einem höhern Grabe der Eul- 
tue” 1), Adelung bemerkt ganz richtig, daß ein ſolches Boll an 
Ausbrüden unfinnliher und abftracter Gegenftände arm fein müfle. 
Auch find wir natürlich weit entfernt, den hohen Werth, den er 
auf den Verftand Iegt, beitreiten zu wollen. Aber bie Art, 
wie er num diejen „oberen Kräften“ gegenüber die angeblichen „une 
teren“, das heißt, bie ſchöpferiſchen Kräfte der Poefie umd ber Kunft 
überhaupt behandelt, gränzt an das Unglaubliche. Der Dichter 
muß „Genie“ Haben, das heißt, „die umtern Kräfte ber Seele 
möffen ſich bei ihm im einem vorzüglichen Grabe der Stärke ber 
finden“ 2). Das Genie ift nur eine Fähigfeit und bloße Möglich- 
keit. „Soll die Fähigkeit wirklich nüglih werden, fo muß fie 
nicht allein hervor gezogen, ſondern auch durch Nachdenken, Fleiß 
und Webung ausgebildet, und zur Fertigkeit erhöhet werben“ ’). 
Aber auch fo bleibt das Genie vergleichsweiſe nur von umtergeord- | 
netem Werth. Denn „man ſchätze das Genie micht über feinen 
wahren Werth. Das Genie, fo wie es in ben ſchönen und bil 
denden Künften genommen wirb, beſchäftiget fi mit dem Schönen, 
mit dem Schmude. Dieſer hat allerdings feinen Werth, er mag 
nun in eigenen Producten auftreten, oder bloß zur gefälligen Ber- 
ſchönerung des Nützlichen und Nothwendigen dienen. Allein es 
ftehet doch dem letztern allemahl nad, und muß nicht zu deſſen 
Nachtheil übertrieben werben. Ein rechtſchaffener Geſchäftsmann 
von den zu feinem Amte nöthigen Fähigleiten iſt der bürgerlichen 
Geſellſchaft unendlich brauchbarer als zehn Genies, deren Gegen 
ftand immer nur das Angenehme ift“ 4). Aber nicht nur der 
brauchbare Geſchäftsmann, auch der Mann von Geſchmack fteht 
höher als das Genie. Erſt „in den höhern Graden der Cultur“ 
nömlih tritt die „Bilbung des Geſchmackes“ ein d). Das Genie 
aber war zu allen Zeiten da. Es war eher, als bie Regeln 


1) Ueber den Deutſchen Styl, Crfler Teil, Berl. 1785, S. 13. — 
2) Ebend. (2. u.) 3, Theii, ©. 359. — 3) Ebend. ©. 369. — 4) Chen. 
S. 370. — 5) (Mbelung) Verſuch einer Gedichte, ber Cultur, 1788, 
Vorr. BL. 3. 


Die germaniſche Philologie in Deutfhland von 1748 bis 1797. 223 


‚Die Regel leitet nur das Genie, flößt e8 aber nicht ein. Das 
Genie ift ein Werk der Natur, deſſen Ausbruch oder Thätigfeit 
eine Folge des höhern Grades der untern Kräfte. Die Regel ift 
in Werk der Erfahrung, und der falthlütigen Vernunft“ 1). „Frey 
lich gab es ſchon vor Ariftoteles ſchöne Dichter und ſchöne Schrift- 
fieller aller Art. Allein, entweder find es Homere, wo große 
Schoͤnheiten mit großen Mängeln und Fehlern verbunden find, 
oder fie befolgten eben dieſelben Regeln mehaniih, fo wie man 
ſptachrichtig ſchrieb und ſprach, ehe es Sprachlehren gab. Es gibt 
m allen Zeiten Genies, und immer mehr Genies als Männer, 
die mit einem vorzüglichen Verftande begabt find‘ 2). „Homer’s 
Epopeen, Shaleſpeare's Schaufpiele find irregulär, weil in beyden 
gar oft umd ſehr wider die Regeln des allgemeinen Schünen ge 
findiget wird. Wenn ber gute Geſchmack herrſcht, fo jhäget man 
die einzelnen Schönheiten an folgen Werken und mißbilfiget die 
Fehler, weil folge Producte nie ein ſchönes Ganzes ausmachen 
fonnen“ 3). 

In den Schriften, die fi mit der deutſchen Sprache beichäf- 
tigen, macht nun Abelung Gebrauch von den bisher entwidelten 
Anfichten. Wir können uns deshalb wohl denken, wo es ihm am 
beften gelingen muß. Auf dem Gebiet der neuhochdeutſchen Schrift- 
frathe bringt fein Marer Verſtand, fein nüchternes Urtheil und 
fein eiferner Fleiß Werke hervor, die von einem jehr bedeutenden 
Erfolg begleitet waren und eine keineswegs zu unterſchätzende Stelle 
in der Geſchichte der deutſchen Sprachwiſſenſchaft einnehmen. Sein 
Grammatiſch⸗ kritiſches Wörterbuch der Hochdeutſchen Mundart be 
ſcrünlt ſich auf die hochdeutſche Schriftſprache feiner Zeit. Nur 
weil ,verſchiedene ältere Schriften noch täglich gelejen werben, find 
ad die im denſelben vorkommenden veralteten und provinziellen 
Börter, Bedeutungen und Wortfügungen mit aufgeführt, follte es 


1) Abelung, Ueber den Deutſchen Styl (2 u.) 3, ©. 400. — 2) Ebend. 
6.401. Ueber Homer urtpeilt Adelung verfländiger in feinem Kuren Ber 
gif menſchlicher Fertigkeiten und Kenniniſſe, Thl. 3 (2. Aufl.) Leipz. 1786, 
8.405. — 3) Ebend. ©. 401 fg. 


224 Zweites Buch. Biertes Kapitel. 


auch nur geſchehen ſeyn, um ben umkundigen ober ausländiſchen 
Leſer zu warnen“ 1). Innerhalb der Gränzen, die Abelung fih 
Hier ſelbſt zieht, ift fein Wörterbuch unftreitig eine höͤchſt anerien- 
nenswerthe Leiftung. Seine Sammlungen können natürlich nicht 
vollftändig fein, aber fie find für feinen Zweck ſehr reichhaltig 
Seine Vegriffsbeſtimmungen find Mar und fäarf, und fie treffen 
in den meiften Fällen das Richtige. Bon Adelung's Anficten 
über das Weſen des Hochdeutſchen, die aud auf fein Wörterbuch 
einen ftörenden Einfluß äußern, werben wir weiter unten ſprechen 
und ebenfo laſſen wir die Seite der etymologiſchen Forſchung hier 
noch unberüßrt. 

Seine grammatiſchen Arbeiten begann Adelung mit feiner 
„Deutjhen Sprachlehre. Zum Gebrauche der Schulen in den 
gbnigliſch Preußiſchen Landen“, 1781. „Die Deutſche Sprage", 
fogt .er in feiner Widmung an ben Minifter von Zeblit, 
„auf Deutigen Schulen granimatifh zu lehren und zu lernen, 
diefer eines großen Küniges und feines großen Minifters fo 
würdige Gedanke, verdienet von ber fpäteften Nachwelt, melde 
erſt den völligen Nuten davon einärnten wird, mit der Tehhafteften 
Empfindung bes Dankes verehret zu werben.” In ber Vorrede 
legt er dann die Anfichten dar, nad denen er die Grammatik ber 
deutſchen Sprade zu behandelt gedenkt. „Es gibt vornehmlich 
einen geboppelten Weg, die Regeln einer Spradje vorzutragen und 
zu lehren: entweder, daß man basjenige, was man in ber Sprache 
bemerkt oder bemerlet gefunden, unter gewiſſe allgemeine, größten 
theils von Altern Sprachlehren entlehnte Rubriken neben einander 
ftelle, ohne weiter zu umterfuchen, was es ift, wie es ift, oder 
warum es ift; ober daß man das Weſen der Sprache im ihr felbft 
auffuge, von allem was in berjelben vortommt, deutliche Begriffe 
au befommen und zu geben ſuche, und ben Urſachen nachforſche, 
warum das Veränberlie in der Sprade gerade fo und nicht an 
ders eingerichtet ift.” Bisher habe man faft immer nur ben erfte 
ven, freilich leichteren Weg eingeſchlagen. „Die Erlernung ber 


1) Berfud) eines Gramm.trit. Worterbuches Thl. I, Bor. ©. II. 


Cie germariſche Philologie’ in Deutfeland von 1748 Bis 1707. 225 


Sprache ift dadurch ein bloßes Werk des Gedächtniſſes geworben, 
deg welchem der Berftand auch nicht die minbefte Beihäftigung 
findet, und zwar das Iangweiligfte und abſchreckendſte Gedächtniß⸗ 
wert, welches man fi nur vorftellen Tann, weil man ſich überalf 
ganz mit dunkeln und verworrenen Begriffen behelfen mußte, und 
in feinem Falle nad) Grund und Urſache fragen konnte oder 
durfte.“ Er ſelbſt wolle nun dem zweiten, freilich mühfamen, aber 
auch allein vihtigen Weg betreten. Er Habe fi bemüht, „das 
Bein der Deutſchen Sprache in ihr ſelbſt aufzuſuchen,“ und aus 
dem Gebrauche der Redetheile in der deutichen Sprache „die Gründe 
hetzuleiten gefucht, warum die vornehmften Erſcheinungen in der- 
felben jo und nicht anders find und feyn können.“ „Der legte 
Bund war einer der ſchwerſten und mühfamften. Jede Sprache, 
folglich auch die Deutſche, ift von einem ganz rohen und ſinnlichen 
volle nad) dunkel empfundenen Aehnlichleiten erfunden und ausge 
bildet, und ſelbſt im Fortgange der Eultur nad eben fo dunkel 
enpfundenen Aehnlichkeiten erweitert, und verfeinert worden. Alles 
dieſes auf deutliche Begriffe zurück zu führen, ift wicht leicht.“ „Im 
der Sprache ift foldes ſchlechterdings unmöglich, wenn man nicht 
53 auf ihren erften Urfprung zurüd gehet, weil die wahren Gründe 
und Urfachen aller oder doch der vornehmften Erſcheinungen in der 
Sprache nur hier geſchöpft, und nur aus ihm allein begreiflich ge» 
nacht werben Töimen.” Man fieht, es ift ein Hohes Biel, das 
Adelung ſich ftelt. Daß er dies Ziel erreicht habe, wird man 
nicht erwarten. Aber jedenfalls gehört feine Deutſche Spradlehre 
fir Schulen zu den Schriften, die neben feinen Mängeln auch jeine 
Borzäge in befonderem Maße zeigen. , 
Seine Schulgrammatik ergänzte Adelung im folgenden Jahr 
durch fein „Umftändlices Lehrgebände der Deutfhen Sprade zur 
Grläuterung der Deutſchen Sprachlehre für Schulen, Leipzig 1782.” 
Dier gibt er die nähere Begründung beffen, was er in der Sprach⸗ 
Ihe fie Schulen als Ergebniß vorweggenommen Hatte, und im 
Anujchluß daran läßt er in feinem Magazin für die Deutſche Sprache 
(1182— 1784) noch eine Reihe von Abhandlungen über einzelne 
wichtige Punkte folgen. Hier erflärt fih nun Abelung auch ein⸗ 


Raumer, Gel. der germ. Philblogle. 


226 Zweites Buch. Viertes Kapitel. 


gehender über die Grundfragen feines Unternehmens: über das 
grammatiſche Erlernen der Mutterſprache umd über das Verhältniß 
der Grammatik zur philoſophiſchen Speculation. „Ob es beſſer 
iſt,“ fagt er, „eine Sprade, und befonders feine Mutterſprache, gram- 
matifch, d. i. mit Bewußtſeyn der Sprachregeln, oder aus bloßer 
Uebung zu erlernen, ift fehr leicht zu entſcheiden, jo bald man nur 
über den Vorzug ber Haren und deutlichen Erkenntniß vor der 
dunfelen und verworrenen einig ift. Die Iegtere ift von einer 
bloß aus der Webung erlangten Fertigleit unzertrennlich, die erſtere 
aber Tann allein aus der Sprachlehre erhalten werben. Dieſe ift 
in der Mutterſprache defto nothwendiger, je unverzeihlicher es ift, 
ſich von Gegenftänden außer uns klarer und deutlicher Begriffe zu 
befleiffigen, und fidh in Anfehung des Ganges und Ausdrudes feiner 
eigenen Gedanken mit dunkeln und verworrenen zu befriedigen“ '). 
Ueber das Verhältniß der Philofophie zur Sprachwiſſenſchaft fpriht 
ſich Adelung fo aus: „Sprachkunſt und Logik find indeffen näher 
verwandt, als man gemeiniglih glaubt. Jene beſchäftigt ſich mit 
dem richtigen Ausbrude ber Gedanken, und da dieſe uns richtig 
denen lehret, fo follte fie Billig vor Erlernung der Sprachkunſt 
voraus gehen. Beyde klaren ſich wechſelsweiſe auf, und ein ge 
ſchidter Lehrer wird einen großen Theil der Logik gelegentlich bey 
der Sprachkunſt vortragen können“ 2). So fehr aber auch Abe 
lung das Logiſche in der Sprache betont, fo fieht er doch recht 
wohl ein, daß die Sprache keineswegs mit der Logik zuſammen⸗ 
fält. „Da die Sprachregeln bloße Erfahrungsjäge find," jagt er, 
„so find fie auch nur wahrſcheinlich, und können nicht anders als 
durch Beyfpiele erwiefen werden. Philoſophiſche Beweiſe find Hier 
theils unmöglich, theils nicht hinlänglich, weil in einer Sprade 
nichts vorhanden ift, wovon nicht aud das Gegentheil Statt fin- 
den könnte, und in andern Spraden wirklich Statt findet” 3). 
Aber nichtsdeſtoweniger „ift die Spradlehre des vernünftigen und 
wiſſenſchaftlichen Vortrages eben fo ſehr fähig als eine jede andere 


1) Umföndf. Lehrgebäube, Mb. I. (1782) ©. 92. — 2) Chen. 
8b. I, ©. 92. — 3) Ebend. Bb. I, ©. 118. 


Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 227 


Lehre, und es ift die Pflicht eines jeben Sprachlehrers, allen Be 
griffen in der Sprache den höchſten nur möglichen Grad der Deut- 
lichleit und Beftimmtheit zu geben, und die Gründe aller Erſchein⸗ 
ungen fo tief aufzuſuchen, als bie Natur der Sache es verftattet. 
Will man das philoſophiſch nennen, immerhin; allein alsdann 
muß man auch geſtehen, daß gründlich, vernünftig und philofo- 
phiſch einerfey ift, dem nur das feihte, unvernünftige und verwor- 
tene entgegen ftehen Tann“ 1). 

In feinem Umſtändlichen Lehrgebäude hat Adelung niederge⸗ 
legt, was ihm fein philoſophiſches und hiſtoriſches Studium der 
deutſchen Sprache ergeben Hat. Cr beginnt mit einer Einleitung 
über Sprache, deutſche Sprache und deutſche Sprachlehre. Das 
ganze Werk gliedert er in zwei Theile, deren erſter umfangreichſter 
vom „ber Fertigkeit richtig zu reden” handelt, während ber zweite 
fig mit „der Orthographie ober Fertigkeit richtig zu ſchreiben“ be⸗ 
faßt. Die Lehre von der Bildung, der Biegung und der Zufam- 
menfegung der Wörter ift nicht ohne richtige Bemerkungen, aber 
im ganzen gehört fie zu ben Leiftungen Adelung's, die am weiter 
ften hinter dem zurüdhleiben, was wir jegt verlangen; und es 
tonnte dies auch bei Adelung's Verhalten zur Sprachgeſchichte, wie 
wir es nachher Tennen lernen werden, nicht anders fein. Dagegen 
bezeichnet fein Abfmitt „von bem Syntare oder Redeſatze“ einen 
entſchiedenen Fortſchritt und hat bis in die neufte Zeit hinein auf 
die Bearbeiter der beutfhen Syntag bewußt oder unbewußt einen 
unverfennbaren Einfluß geübt. Namentlich finden wir die Grund» 
düge von Adelung's Anfichten über die Arten der Säge bei deut- 
Ken Graumatilern der verſchiedenſten Art wieder. Er führt zwar 
hier, wie auch fonft öfters, Hrn. Rector Meiner als ven Gelehrten 
an, der ihm in feiner Philofophiihen Sprachlehre den Weg ger 
bahnt Habe 2). Aber wenn wir bie Erörterungen Meiner’s über 


1) Ebend. I, S. 116. Bol. aud Magazin für die Deutſche Sprache, 
rien Jahrg. erfies Stüd, 1782, ©. 13%. — 2) Umftändl, Lehrgeb. 
11, ©. 567. Bot. Deutfge Sprachlehre zum Gebrauche der Schulen u. |. w. 
181, Bor, 81.6. Magazin f. die Deutſche Sprache I, 1 (1782) ©. 182 fg. 

15° 


228 Zweites Bud. Viertes Kapitel. 


die Arten der Säge mit denen Adelung's vergleichen, fo werden 
wir unbedenklich Adelung das größere Verdienſt um die Aufklärung 
dieſer ſchwierigen Materie zufpregen '). „Ein jedes einem Sub⸗ 
jecte entweder zu= oder abgeſprochenes Prädicat,“ jagt er, „maht 
einen Sag aus, und da die Natur immer nur von dem Einfachern 
durch unmerflihe Webergänge zu dem zufammen gejegtern fort- 
ſchreitet, fo beftand in der erften Kindheit der Borfteffungen und 
der Sprache die ganze Rede aus lauter folgen einfachen neben 
einander geftellten Sägen, deren jeber fein eigenes Subject und 
Pradicat, und auch nicht mehr als eines, allenfalls mit einigen 
einfahen nähern Beftimmungen Hatte“ 2. Grit nah” umd nah 
lernte man, mehrere Säge mit einander zu verbinden und fo alle 
mählih die mannigfachiten Sagbildungen hernorzubringen, „welche 
ſich doch insgefammt auf zwey Gefihtspuncte zurüd führen Laffen, 
auf die Materie des Satzes, d. i. auf die Begriffe und Vorſtel⸗ 
Tungen, welche er enthält, und auf die Form befielben, welde von 
der Gemüthaftellung des Sprechenden abhängt. In Anfehung der 
Materie ift ein Sag entweber einfach, wenn er bloß aus dem 
Subjecte und deſſen Prädicate beftehet; oder zufammen geſetzt, 
wenn zwey ober mehrere Säge zu einem einigen Satze verbunden 
werden, der denn folglich mehrere Subjecte mit ihren Präbicar 
ten enthält. Beyde Arten find entweder nadte Säge, wenn jo 
wohl das Subject als das Prädicat, ohne alle nähere Bezeichnung 
ausgedrückt werben, ober ausgebildete, wenn beyde nach ihren 
Verhältniffen, Eigenfhaften oder Umftänden, doch nur vermittelit 
einzelner Redetheile oder Beftimmungsmwörter, 3.9. durch Adverbia, 
Abjectiva, Präpofitionen mit ihren Caſibus u. |. f. näher bezeichnet 
werben; ober endlih erweiterte, wenn Verhältnifie, Eigenſchaf- 
ten, Umftände, Bedingungen u. |. f. zwiſchen dem Subjecte und 


1) Bgl. Verſuch einer an ber menſchlichen Sprache abgebildeten Ber 
nunftlegre oder Philoſophiſche und allgemeine Sprachlehre von Johaun Ber: 
ner Meiner, ber Schule zu Langenfalza Rektor, Leipzig 1781, ©. 319 fg. 
mit Abelung’s Umfländl. Lehrgeb. II, ©. 566 fg. — 2) Umſtändl. Lehrgeb- 
1, (1782) 6. 571. 


Die germanifce Philologie in Deutfhlanb von 1748 bis 1797. 229 


dem Präbicate in eigenen SäYen eingefchoben, ober auch als eigene, 
aber nicht vor ſich Beftehende Säte dem Prädicate angehänget wer 
den. Dergleichen eingefhobene oder angehängte Sätze werben 
Rebenfäge genannt, und ftehen alsdann dem Hauptfage ent- 
gegen, welchem fie zur nähern Beftimmung dienen“ 1), Man fehe 
fih um, was frühere deutſche Grammatifen über den Satzbau 
geben, und man wird in dieſen ung jeßt fo geläufigen Beſtim⸗ 
mungen eine der tiefften Einwirkungen Adelung's auf die Weiter- 
entwicklung der deutſchen Grammatik erkennen. 

Ein Hauptanliegen Adelungs, das ſich durch alle feine fprad- 
wiſſenſchaftlichen Schriften Hindurchzieht, ift, feftzuftellen, was man 
unter Hochdeutſch zu verftehen Habe. Er bleibt fi in feiner 
Stimmung nicht ganz gleich. Einmal fagt er von der hochdeut⸗ 
ſchen Sprache, fie fei „im Grunde nichts anders, als die durch das 
Oberſãchſiſche gemilderte, und durch Geſchmack und Wiffenfhaften 
ausgebildete Oberdeutſche Mundart” 2). Ein anderesmal heißt es: 
„Billig follte man drey Hauptmundarten annehmen, die ſüdliche, 
hoöchſte oder Oberdeutſche, die hohe, Mitteldeutſche oder mittellän- 
diſche, und die nördliche oder Niederdeutſche; aladann Tönnte man 
die Hochdeutſche oder herrſchende Schriftſprache durch die verfeinerte 
mittellãndiſche erflären“ ). Worauf aber Abelung immer von 
neuem zurüdtommt und was er mit einer Art von Fanatismus 
vertheidigt, ift der Sag: Das Hochdeutſche ift die Sprade der 
oberen Klaſſen Oberjachfens +). In feiner Provinz Deuſchlands 
wird „umfere höhere Schrift- und Geſellſchaftsſprache“ „jo allge 
mein und in den Städten ſelbſt in dem unterften Klaſſen gefpro- 
den“). Was „gut Hochdeutſch iſt,“ Tann nicht „in den Provin⸗ 


1) Umfländl. Lehrgeb. II, (1782) ©. 572 fg. Diefelben Beftimmungen 
mb Bezeichnungen gibt im Weſentlichen ſchon bie Sprachlehte zum Gebrauch 
der Schulen u. ſ. f. (1781) ©. 538. — 2) Umfländl. Lehrgeb. I, (1782) 
©. 81. Bgl. Ebend. I, S. 64. — 3) Ebend. I, ©. 84. — 4) Ebend. 
1,6. 82. Magazin für bie Deutſche Sprache, Erler Zahıg., erfies Stüd 
(1782) ©. 19. 21. 27 fg. 91fg. — 5) Magazir für die Deutſche Sprache, 
Erf. Jahrg. erſtes Stüd (1782) ©. 25. 


290 Zweites Buch. Viertes Kapitel. 


zen, wo man das Hochdeutſche als eine frembe Sprache erlernt, 
beurtheilet und beftimmet werben, fondern nur da, wo der Sprach⸗ 
gebrauch, des Hochdeutſchen einheimiſch ift (d. 5. in ben „ſüdlichen 
Ehurfähfiscgen Landen”), weil aufjer feinem Vaterlande weder die 
Erfahrung fo alfgemein und Häufig, noch bie Empfindung fo fein 
und übereinftimmend feyn Tann, als dazu erfordert wird" 1). Daß 
es mit der reinen Sprade ber unteren Klaſſen im „Tüblichen 
Oberſachſen“ nicht weit Her fei, Tonnte Adelung nidt entgehen 2), 
und auch bei den Gebildeten Tonnte er das Vorhandenſein gewiſſer 
Provincialismen nicht läugnen 3); dennoch wollte er feine Anficht 
um jeden Preis feſthalten. Es läßt fi denken, daß er in den 
verfchiedenften Gegenden Deutſchlands auf Widerſpruch ftieß. Es 
mußte dies um fo mehr geſchehen, als Adelung aud für die deut- 
ſche Literatur des 18. Jahrhunderts den Primat Oberſachſens 
in Anfprud nahm. In ber erften Hälfte des 18. Jahrhunderts 
hätten verſchiedene Umftände zufammen gewirkt, um in Oberfachien 
dem Geſchmack die „einige wahre Richtung“ zu geben. „Der durch 
Handlung und Fabriken erhöhete Wohlftand und Vollsmenge, die 
in Oberfachfen wieber hergeftellte und dem gemeinen Menſchenver⸗ 
ftande begreifflich gemachte umd allgemein verbreitete Philofophie, 
die prächtigen Höfe der Augufte,” — „die von Gottſcheden gerei⸗ 
nigte Sprache“ — „Alle die Umftände wirkten ſchnell und unwi⸗ 
derftehlih, und Oberſachſen ward nunmehr Deutſchlands Attica 
und Toscana und diente dem bisher noch unvolllommenen und 
ſchwankenden Geſchmacke zur Stüge und Führerinn. In dem Zeit 
puncte von 1740 bis auf den verberblichen fiebenjährigen Krieg, waren 
dieſe Folgen am fihtbarften, und das ift auch unftreitig der fünfte 
Zeitpunct, nicht nur der ſchönen Literatur Deutſchlands, fondern 
des deutſchen Geſchmackes überhaupt. Deutſchland verkannte fein 
Athen damals nit; alle Provinzen ärnteten hier Geſchmack und 
Künfte, die wirklich claſſiſchen Scriffteller, welche wir haben, find 


1) Zufammengezogen aus Magazin für die Deutſche Sprache, Erfen 
Jahrg. erfies Stüd ©. 30. — 2) Umflänb. Lehtgeb. I, (1782) ©. 89. — 
3) Umfländl. Lehrgeb. I, (1782) ©. 85. 


Die germanifcge Philologie in Deuiſchland von 1748 bis 1797. 281 


insgeſaumt ſolche, welche fi in Oberſachſen ober doch nad; Ober⸗ 
ſãchſiſchen Muſtern gebildet Haben“ 1). Eine ſolche Sprache, im 
Jahr 1782 geführt, mußte ben Widerſpruch herausfordern. Er 
folgte denn auch von allen Seiten. In der Berliner Monats- 
frift durch Viefter, ber einerjeits die Ausſprache der Ober- 
judfen, ihre „höchftjeltfame Verwechslung des b und p, des d und 
#°, durchhechelt, andverfeits dagegen Verwahrung einlegt, daß bie 
oberfächfifchen Leiſtungen von 1740 — 1760 „uns nicht nur Megel 
md Richtſchnur, fondern auch Gränze und Ziel fein follen“ 9). 
Am feinften und einfihtigften trat Wieland gegen Adelung in 
die Schranken mit einigen Auflägen „Ueber die Frage: Was ift 
dohhdeutſch,“ die er in bie Jahrgänge 1782 und 88 feines Teut- 
ſcen Merkur einrüdte 3). „Schreiber dieſes,“ fagt er, „hat viele 
Gelegenheit gehabt Churfäcfihe Herren und Damen, die ganz 
werläßig in die oberften Klaſſen gehörten, zu ſprechen, — und 
umglüdliher Weiſe mußte er immer auf folde treffen, welche eine 
Ausnahme von Hrn. Adelung's Verfiherung machten, und (von 
ben Beenen und korſchamen Dienern nichts zu fagen) fo 
viel Provinzial-Ausdrüde in ihre Sprade miſchten, als die Per- 
ſonen ihres Standes größtentheils in allen übrigen teutfhen Pros 
vingen zu thun pflegen“ 4). Was aber die Verdienſte der Stadt 
vreipzig betrifft, fo erfennt er diefelden nad allen Seiten hin im 
volftem Maße an. „Aber feiner ihrer Patrioten,“ fagt er, „fo 
Aferfünhtig er auch über ihren Ruhm feyn mag, kann fid beleidigt 
finden, wenn id) ihr ein Vorrecht abſpreche, das ich Feiner andern 


1) Magazin für bie Deutſche Sprache, Erſt. Jahrg. erſtes Gtüd (1782) 
5.8 fg. — 2) Berlinifhe Monatsfheift. Herausgeg. von F. Gebife und 
38. Biefter. Erſter Band, Berlin 1783, ©. 194. — 3) Wieland gab die 
beiden Abhandlungen unter ber Maske eines Einfenders, der fih Philomuſos 
name, und zwiſchen welgem und Abelung dann Wieland am Schluß zu 
vermitteln fuchte. Aber das Ganze war von Wieland. Er hat es mit einigen 
Beränderungen im feine Werke aufgenommen und fi) berüber ausgeſprochen. 
6. Wieland's fümmtl Werke, Bb. 44, Leipz. 1826, ©. 235 fg. — 4) Der 
Teutfge Merkur, Dec. 1782, ©. 204, 


232 Zweites Bud. Viertes Kapitel. 


Stadt in Teutfhland zugeftehen würde” 1). Bon Bbefonderem In⸗ 
tereſſe ift, wie fi Wieland über pen Einfluß der Schriftfteller auf 
die Sprade äußert. Den Sag, daß die Schriftfteller nicht die 
Sprache machen, hatte Abelung fo aufgefaßt, daß den Schriftftel- 
lern überhaupt fein felbftändiger Einfluß auf die Sprache zukomme, 
daß fie ſich vielmehr ganz im Kreiſe der bereits vorhandenen ger 
ſellſchaftlichen Sprache der oberen Klaſſen Oberſachſens zu halten 
hätten 2. „Die Aufnahme provinzielfer Wörter" ift ein Verderb 
der Schriftſprache, „weil fie, fo fern fie wirklich provinziell find, 
dem Geſchmade nach allemahl um mehrere Grade tiefer ftehen 
möüffen“ 9). „Veraltete Wörter” find „als ein Auswurf anzu 
fehen, der in das Ganze nicht mehr paßt“ 9); umd „es ift umbillig 
und wider die Abfiht der Sprade, bergleihen Auswurf mander 
Nebenurfachen wegen wieder zurüd zu rufen, d. i. einmahl veral- 
tete Wörter, Formen und VBerbindungsarten wieder in den Gang 
bringen zu wollen“ 5). Wie in vielen Fällen, fo liegt aud hier 
den Anfihten Adelung's etwas Wahres zum Grunde, aber bie Art, 
wie er fie anwendet, ift verkehrt. Ich will Beifpielsweife nur 
anführen, daß Adelung umter die Wörter, deren Gebrauch er fir 
ganz verwerflih erflärt, folgende rechnet: entſprechen (für gemäß 
fein) 9), Strauß (für Kampf) 7), Seher (für Prophet) ©), beginnen 
(für anfangen) 9. Natürlich fpriht fih aud Wieland auf das 
allerentſchiedenſte gegen das Treiben jo mander damaligen Scrift- 
fteller aus, die fih um die Richtigkeit der Sprache nichts Fümmer- 
ten und ohne allen Gewinn für ihren Ausdrud veraltete ober 


1) Ebend. S. 208. — 2) Adelung bleibt ſich auch in dieſen Behau- 
tungen nicht ganz glei; aber das Obige ift der wefentliche Sinn von Ad 
Tung’8 Abhandlung: „Sind es Schriftfteller, welche bie Sprachen bilden und 
ausbilden?“ im Magazin für bie Deutſche Sprache, Erſten Jahrg. britted 
Stüd (1782) ©. 45-57. — 3) Magazin für die Deutſche Sprache, Erfien 
Jahrg. erfies Stüd (1782) ©. 28. — 4) Ebend. 6.29. — 5) Ehen. 
Erſten Jahrg. zweytes Stüd (17827 ©. 61. Vgl. ©. 75. — 6) Ebend 
©. 67. — 7) Ebend. 5.68. — 8) Ebend. S.69. — 9) Ehend. ©. ©. 
Vol. I, 3, 158. 


Die germanifche Philologie in Deutfchland von 1748 Bis 1797. 288 


povinzielle Wörter in ihre Schriftſprache einmengten 1). Aber 
dieſes Unfugs wegen dürfe man bie Rechte der wirklich guten 
Sceiftfteller nicht verfümmern. Denn fie fein es, „welche die 
wahre Schriftſprache eines Volles bilden“ 2). Natürlich habe auch 
die Freiheit der berufenen Schriftfteller ihre Gränzen; „aber dieſe 
Grängen werben vielmehr dur die Natur der Sprade und durch 
tie allgemeinen Grundſätze des richtigen Denkens und der guten 
Shreibart, als durch die Mundart der obern Klaſſen in ber 
blũhendſten Provinz feftgefett” 3). Die Zeit fei noch nicht gekom⸗ 
men, wo die Anzahl der Autoren, welche den ganzen Reichthum 
unſter Schrift» Sprade enthalten, für beſchloſſen angefehen werden 
Könnte. Bis dahin aber feien die älteren Dialelte noch immer als 
gemeines Gut und Eigenthum der echten deutſchen Sprache und 
ds eine Art von Fundgruben anzufehen, aus welden man den 
Verärfniffen der allgemeinen Schrift - Sprade in Fällen, wo es 
vonnöthen ift, zu Hülfe kommen könne 4). „Schriftfteller von 
Geſchmack wiſſen immer am beften. was fie zu thum haben, und 
wie weit fie gehen dürfen: fehlen fie aber, fo kömmt e8 einem 
wahren Ariftarch allerdings zu, zu zeigen, wie, worinn ımd warum 
fe das Schickliche verfehlt haben. Aber nie Tann ihm die An- 
naßung geftattet werben, willtürliche Gefege zu geben, und bem 
Genie, dem Wi, der Laune, Feſſeln anzulegen, fo lange fie bie 
Freyheit, das Element worinn fie allein leben Können, nicht auf 
offenbaren Mißbrauch ziehen“ 9). „Nach Herrn Adelung ift die 
Lerftändlichfeit die einige (einzige) Abſicht der Sprade °). Hätte 
et gejagt bie erite, fo wäre nicht? dagegen einzuwenden: baf fie 
einzige ſey, wird ihm fein Dichter zugeftehen. Der will und foll 
mit feiner Sprache noch viele andre Abfichten erreichen. Ein ver- 
altet Wort, ein Provinzial» Wort, wofür das fogenannte Hoch⸗ 
teutfhe lein völlig gleichbedeutendes hat, ift zumeilen an dem Orte, 


1) Teutſch. Merkur, 1782, Dec. S. 195. — 2) Ebend. 1782, Nov 
& 166. — 83) Ebend. 1782, Nov. ©. 165. — 4) hend. ©. 169 fg. — 
5) Eben, 1782), Der. ©. 215. — 6) „Magazin ber teutſchen Sprache 


1. Et. 6. 57.* 


234 Zweites Bud. Viertes Kapitel. 


wo ers braucht, gerade bie einzige Farbe, bie zu feiner beſtimmten 
Abſicht paßt, und wovon die Würkung abhängt“ 1). Erinnern wir 
uns, daß diefe Worte im Jahr 1782, aljo vor dem Erſcheinen 
ber größten Meifterwerle Göthe's und Schiller's, gefärieben find, 
fo werben wir Wieland um fo mehr beipflichten. Freilich aber 
werben wir aud) fagen müſſen, daß die Frage nad der Entftehung 
und dem Wefen ber Schriftſprache, die Adelung unrichtig beant- 
wortet, auch von Wieland ungelöft bleibt. 

Ein befonderes Augenmerk richtete Adelung auf die deutſche 
Orthographie. Eine Menge von Schriftftelleen, berufenen und un- 
berufenen, befchäftigte ſich damals mit der Werbefferung der deut, 
fen Orthographie. Klopftod Hatte im J. 1778 feine Schrift 
über die deutſche Rechtſchreibung herausgegeben, worin er ben kühnen 
Berfuh macht, die ganze bisherige deutſche Orthographie über den 
Haufen zu werfen und fie durch eine ſtreng durchgeführte phonetifhe 
zu erjegen. Klopſtock's Unternehmen fand zwar nur mäßigen An- 
Hang, aber ımzählige Andere bemühten fi, jeder in feiner Weile, 
die deutſche Orthographie zu verbeffern, jo daß Wieland im 
J. 1783 von einer „Art von Orthographifger Influenza“ fpriht, 
die „in diefen Iegten Jahren unter uns epidemiſch“ geworden fei?), 
und von einer „läherlihen und unfere ganze Nation befchimpfen- 
den Sprahverwirrung, die daraus entfteht, daß nicht nur die Ma- 
gnaten unſrer gelehrten Republik, (bie dem Bolt hierin mit feinem 
guten Beyfpiele vorgehen) ſondern beynahe jeder, ber etwas bruden 
läßt, ſich eine eigne Sprache und eine eigne Unrecht ⸗ Schreibung 
macht“ 3). Diefer hereinbrechenden Willkür ſetzte Adelung mit allen 
ihm zu Gebote ftehenben Mitteln die Bertheivigung des Herge⸗ 
braten entgegen. Dem ausführlihen Abſchnitt feines Umſtänd⸗ 
lichen Lehrgebäubes über die Orthographie ließ er in feinem Ma⸗ 
gazin (1782) eine Abhandlung über das „Grundgeſetz der Deuticen 
Orthographie” *), und fpäter eine „Volfftändige Anweiſung zur 


1) Teuiſchet Merkur 1782, Dec, S. 215. — 2) Teutſcher Mertur 
1783 ©. 320 (eigentlih S. 16). — 3) Ebend. S. 20. — 4) Magazin für 
bie Deuiſche Sprache, Erften Jahrg. erfles Stüch ©. 59. 


Die germaniſche Philologie in Deutfhland von 1748 bis 1797. 285 


Deutſchen Orthographie, nebft einem Meinen Wörterbuche für bie 
Ausſprache, Orthographie, Biegung und Ableitung, Leipzig 1787, 
folgen. „Unfere gewöhnliche Orthographie“, fagt er, „ift nicht das 
Berk eines ober des andern Individui, fondern, fo wie alles in 
der Sprache, ber gefammten Nation, welde dabey nad der dun⸗ 
In Erlenntniß der Abſicht und Mittel gehandelt Hat“ i)j. „Die 
deutſche Orthographie ift in der Anwendung der richtigen Grund- 
fäge mit mehr Webereinftimmung und Berftande zu Werke gegan- 
gen, als die Orthographie irgend einer andern Sprache“ 2. „Das 
eiſte und vornehmfte Geſetz der Schrift ift: Schreib wie du ſprichſt. 
Dieß ift gleihfam das Naturgefeg der Schrift" 9. Wo findet man 
aber bie Ausſprache, welche durch die Schrift wiedergegeben wer⸗ 
den fol? „Unter ber Hochdeutſchen Orthographie”, antwortet 
Adelung, „verftehet man bie Orthographie der Deutfhen Schrift 
Image, und da die Bezeichnung der Ausſprache das erfte ganz in 
der Woficht der Schrift gegründete Geſetz derſelben ift, fo kann nur 
die Hochdeutſche Ausſprache, d. i. bie Ausſprache ber obern Elaffen, 
in welchen das Hochdeutſche einheimifch ift, zum Grunde der Schrift 
geleget werden, weil man fonft nicht Hochdeutſch, fondern Provin« 
al» Deutfch ſchreiben würde +. Wir dürfen Hier nicht näher 
darauf eingehen, in welches Verhältniß dann Adelung biejen feinen 
oberften Grundſatz zu den anderen Schreibgefegen bringt, und wol- 
lm nur noch bemerken, daß er neben mandem Verkehrten vieles 
Berfländige und Durchdachte fagt, ohne doch, bei feiner unrichtigen 
Boransfegung über das Weſen der hochdeutſchen Schriftſprache, ber 
Soche anf den Grund kommen zu können. 

Wir Haben im Bisherigen Adelung's Leiftungen auf dem Ge⸗ 
biet der neueren deutſchen Sprache betrachtet. Adelung hat aber 
and einen nicht geringen Theil feines Fleißes dem Studium ber 
älteren deutſchen Sprache und Literatur gewidmet. Er ſelbſt nennt 
änmal die Geſchichte unferer ältern Dichter fein altes Liehlings- 


1) Magazin für die Deutſche Sprache I, 1 (1782) S. 68. — 2) Ebend. 
8.81. — 3) Ebend. ©. 60. — 4) Umfländl. behrgebäude, Bb. LI, (1782) 
€. 708, 


236 Zweites Bud. Viertes Kapitel, 


ſtudium i). In mehr als einem feiner Werke gibt er eine Ueber 
ficht über die Geſchichte unfrer Sprache und ihrer alten Denkmäler. 
So namentlih in der Einleitung zu feinem Umftändlichen Lehrge⸗ 
bäube der deutſchen Sprade. Er unterſucht die Geſchichte und die 
Sprade der Gothen umd findet freilich dieſe Vegtere über bie Mafen 
rauh und ungeſchlacht. Denn „man bemerkt, daß bie Völker diefes 
höhern Stammes an Roheit und Unkultur zunehmen, je weiter fie 
öftlih wohnen” 2). Eine Reihe zum Theil umfangreicher Arbeiten 
in feinem Magazin für die deutſche Sprache beſchäftigt ſich mit der 
älteren deutſchen Literatur, darunter fein „Chronologiſches Verzeich⸗ 
niß der Dieter und Gedichte aus dem Schwäbiſchen Zeitpunkie“ 
(1784)3). Hier macht er in Bezug auf das Beiwort Meifter, das 
manden Dichtern des Hohenſtaufiſchen Beitalters gegeben wird, die 
Bemerkung: „ES ift aus hundert Stellen der Schwäbiſchen Dich⸗ 
ter erweislich, daß die Dichtkunſt zu ihrer Zeit eben fo zünftig war, 
als alfe übrige Fertigfeiten, und als die Ritterſchaft ſelbſt. Ehen 
fo erweislich ift, daß die nachmahligen Meifterfänger in gerader 
Linie von ihnen abſtammen, ober eigentlich nichts anders find, als 
eben diefe ältern Dichter, und daß der ganze Unterfchieb bloß in 
dem größern und geringern Anſehen beftehet, denn in dem dichteri⸗ 
ſchen Geiſte find fie ſich fo ziemlich gleih“ ). In dieſer Abhand⸗ 
lung, ſo wie in ſeiner Schrift über Püterich von Reicherzhauſen 
Märt Adelung fo manchen Punkt in der Geſchichte ber altdeutſchen 
Dichtkunſt auf, wenn er aud natürlich viele thatſächliche Irrthümer 
mit feinen Zeitgenoffen tHeilt. Aber das Intereſſe, das Adelung 
an unfren alten Dichtungen nimmt, ift nur ein antiquariſches und 
lexikographiſches 9). Bon deren dichteriſchem Werth hat er fine 
Ahnung; wie er denn überhaupt unfre deutſche Vorzeit mit wahren 
Ingrimm Haft. Seine „Aeltefte Geſchichte der Deutſchen, ihrer 


1) Püterich von Reichershausen, Leipz. 1788, 8.5. — 2) Adelung 
in Zahn’s Ausgabe des Ulfilss, Weifsenfels 1805, Einleitung & 10. 
— 8) Magazin für bie, Deutſche Sprache II, 3, S. 3—92. — 4) Ebend. II, 
3, 6, 6. — 5) Vgl. Ebenb. I, 2, ©. 152. Weber den Deutſchen Styl II, 
(1785) ©. 310 fg. 


Die germanifhe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 287 


Eyrache und Litteratur bis zur BVölferwanderung“ (1806) ift eine 
niftige Schmähſchrift auf die alten Germanen, das gerade Wider- 
fiel von Tacitus Germania. Truntenbolde, Spieler, graufam ge- 
gen die Feinde waren bie Germanen. Aber das genügt Wdelung 
kei weitem nicht. Treuloſigleit, Nothzucht, Unterbrüdung des Wei- 
bes, „welches bis zur Sclavinn herabgewürdigt ift“ '), wirft er 
ihnen vor. Ihre fogenannte Liebe zur Freiheit ift nichts als der 
Hab gegen alle Einſchränkung. Ja felbft ihre viel gerühmte Keufch- 
beit hat Teinen Werth. Sie ift nur eine Folge ihrer ungebildeten 
Hoheit 2). Und daß ihre Tapferkeit nicht weit her war, fieht man 
a3 ihren Schladitgefängen, indem „der ungebildete Menſch nicht 
the etwas wagt, wenn nicht vorher die Vorftellung der Gefahr 
durh den Rauſch der Seele verdunkelt worden“ ®). Genug, der 
alte Germane ift „das Raubthier, welches ſchläft, fo bald es nicht 
fgt oder frißt“ 9; „der Barbar grenzt hier weit näher an das 
wende Thier, als an den durch Kenntniß, Sitten und Geſchmack 
deredelten Weltmann“ 5). 

Und wie Abelung bei den älteften Germanen nichts als thieri« 
ide Rohheit fieht, fo in den Dichtungen der Hohenftaufiichen Zeit 
uhts als elende Neimerei und Geiämadlofigteit. Es war aller 
dings mit den Dentfchen etwas beffer geworben. Das Epriften- 
tum hatte fie gezähmt, fie fingen an, zu einigem Wohlftand zu 
langen, „und wenn bas Bebürfniß befriebigt ift, und ber Menſch 
mehr erwirbt, als er zur Nothburft bedarf, fo wird ber Trieb 
zum Vergnügen herrſchend, und dann entftehen bie ſchönen Künfte 





1) Melung, Yeltefte Geſchichte der Deutſchen, 1806, ©. 297. — 2) Ich 
fan mr ſehr abgefürgt geben, was ſich bei Abelung, Aelteſte Geld. ber 
Tarten ©. 295 ig. findet. — 3) Neltefte Geſch. der Deutſchen ©. 385. — 
4) Oben. S. 297. — 5) Ebend. ©. 296. Bol. Umſtaͤndl. Lehrgeb. ber 
Untfgen Sptache I, (1782) S. 27. 33. Wir wollen indeffen night verſchwei ⸗ 
32, daß Abelung ausbrüdtich zugibt, daß ber Germane jener rohen Zeiten 
‚gen zum voraus alle Hülfsmittel in feine Sprache gelegt Habe, feine Bes 
er bis ins Unendliche zu vervielfältigen." Aelteſte Geſch. ber Deutſchen. 

318. 


238 Zweites Bud. Viertes Kapitel. 


von felöft“ '). In den Dichtern „aus dem Schwäbiſchen Zeit: 
punkte” ift nun ſchon Mandes ganz erträglich, „a. B. wenn fie 
den Mai, den Sommer, die Empfindungen ber Liebe fingen“ ; aber 
„ſo bald fie das Feld der angenehmen Empfindungen verlaffen, 
werden fie matt, proſaiſch und oft ekelhaft; am unausftehlihiten 
find fie, wenn fie Gegenftände der Neligion und Sittenlehre be 
fingen, wo fih die Dichtkunſt allemahl auf das graufamfte an 
ihnen rächet· 2). "So Adelung im Jahr 1782, und dabei hatte es 
fein Bewenden, auch nachdem Müller im 3. 1783 das Nibelungen 
lied volfftändig herausgegeben Hatte. Gerade in feiner Beurtheil- 
ung der Müller'ſchen Sammlung, deren erfte Lieferungen das Nibel- 
ungenlied enthalten, verfteigt ſich Adelung am Schluß einer Tangen 
Weihe von Schmähungen zu dem Ausſpruch: „Kurz, von Seiten 
der Dichtung verdienen alle dieſe Weberbleibfel nicht die mindeſte 
Aufmerkfamteit“ 3. Aber nicht Bloß die alt deutſche Poeſie it 
nad Adelung völlig werthlos, aud in der Sprache der Gegen 
wart ift ihm das volfsthümlih Naturwücfige ein Gegenftand der 
tiefften Verachtung. „Die Sprüchwörter“, fagt er in ber Vortede 
zu feinem Wörterbud, „gehören größtentheils in die niebrige und 
pöbelhafte Sprade. Ich babe es daher nicht der Mühe werth ger 
halten, fie zu ſammeln und noch weiter fortzupflangen. Wer in 
ihnen und andern ſchmutzigen Blümchen des großen Haufens den 
Kern der deutſchen Sprache fuchet, ber kann einen veichen Vortath 
davon in Gottſched's Spradlunft finden" 4). An dem altbeutfihen 
Poeſieen ift ihm aber noch ganz befonders die Sprache zuwider. 
„Wie kalt“, fagt er, „wie proſaiſch, wie unanſchaulich ift Hier alles. 
Und mweldes wirkliche Genie wirb fi) wohl fo weit vergeffen fün- 
nen, eine fo unausſtehliche Sprache zu reden” 5). So urtheilt ein 
Mann, der mit jedem Wort beweift, daß er auch nicht die erften 


1) Umfländl. Peprgebäube ber Deutſchen Sprache I, (1782) ©. 51. — 
2) Ebend. ©. 55. — 3) Magazin für die Deutſche Sprache II, 2 (178, 
©. 148. — 4) Verſuch eines — Wörterbuds der Hochdeutſchen Mundart, 
Leipz. 1774, Erler Teil, Vorr. S. XIV. — 5) Magazin für bie Deute 
Sprache II, 2 (1784) ©. 148. 


Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 289 


Elemente der Sprache Tennt, über die er jene Abfurbitäten vor⸗ 
dringt: „enchan für Tann“, „enhat für hat“, meint er, feien 
‚müßige, nichtsbedeutende Sylben“ !). Das o am Schluß des alt- 
hochdeutſchen Franko (Franke), guoto (gut) u. f. f. Hält er für 
eine bloße Verlängerung um des Wohlklangs willen. „Vor dem 
zwölften Jahrhundert”, fagt er, „da bie Körper, folglich auch die 
Spraßwerkzeuge noch ſehr grob und ungeſchlacht, und die Kennt⸗ 
miffe noch ſehr ungebildet waren, wandte man dieſes Mittel bey 
nahe ohne allen Unterjchied an, und verlängerte jedes Wort, es 
mochte ein Wurzelwort ober abgleitetes feyn, durch einen Vocal“ 2). 

Wie um das Altdeutſche, fo hat ſich Adelung auch um die all- 
gemeine Sprachforſchung bemüht. Aber auch hier fehen mir feine 
Einfiht in eine fehr beftimmte Gränze eingeſchloſſen. Er bemerkt 
ganz richtig, daß man die Sprachen erft zergliedern und ihre Wur- 
xelſylben herausſchälen müffe, ehe man ihrer Verwandtſchaft nach⸗ 
ſpüren könne. „Nur aus der Vergleihung der Wurzelſylben, „ſagt 
a, „läßt fi die Verwandtſchaft und Verſchiedenheit der Spraden 
beurteilen“ 3. „Selbft die ganze Etymologie ift verächtliches Ta- 
igenipiel, wenn fie nicht von diefer Auflöfung der Sprachen aus- 
gehet” 3). Ja bisweilen nimmt er einen Anfag ſelbſt zur Zerglie- 
derung der Flexionen. „Die Biegungsiylben der Perjonen [am 
Berbunm]“, fagt er, „ſcheinen urſprüngliche alte Pronomina zu feyn; 
daher find auch die meiften Spraden darin ähnlich“, und nun 
ftellt er zum Beweis defien die Beugungen von 440, amo und 
ich liebe zufammen, fogar mit Herbeiziehung des alten lichemes und 
liebent *). Aber man hüte ſich, aus dergleichen zu viel zu fließen. 
Bon einer wiſſenſchaftlichen vergleichenden Spradforihung hat Ade⸗ 
lung feine Ahnung. Er denkt nit einmal daran, Gefege für den 
Rautwandel aufzuſuchen und fie bei feinen Etymologieen zu Grunde 
zu legend). Ja er tft überhaupt weit entfernt, von der Berwandt- 


1) Ebend. — 9) Magazin für die Deuſche Sprache J. 3 (1782) S. 2219. 
— 3) Adelung, Mithridates I, (1806), Vorr. 8. XII. — 4) Umfländ. 
bechtgebãude I, (1782) ©. 764. — 5) Bgl. 3. ©. was Adelung auch in ber 
2 Musg. feines Worierbuchs Db. II, (1796) Sp. 1436 über die Etymologie 


240 Zweites Bud. Viertes Kapitel. 


ſchaft der indogermanijhen Spraden eine richtige Vorftellung zu 
haben. Noch in einer feiner legten Schriften erklaͤrt er das Vor⸗ 
Tonimen vieler Wörter im Perſiſchen, welche Aehnlichleit mit beut- 
fen Haben, daraus, daß germanifche Völker auf ihren Wanderun⸗ 
gen in Perfien eingedrungen feien, „fi mit ben Einwohnern ver- 
miſcht, und aus Dankbarkeit einen Theil ihrer Sprade zurüdge 
laſſen Haben“ 1). Dieſelbe Anſicht hat er bier aud noch von ber 
griechiſchen Sprade. Er Hält die „Germaniſchen Wurzelwörter“, 
die fih im Griechiſchen finden, für Andenken barbariſcher Völler, 
die Griechenland überfäwemmt und beherriht haben ?). Aber in den 
zehn Jahren, die zwiſchen der Ausarbeitung feiner Aelteſten Ge 
ſchichte der Deutſchen und deren Veröffentlihung liegen, dämmert 
Adelung allmählich eine richtigere Anfiht auf). Im erjten Band 
feines Mithridates, den er wenige Monate vor feinem Tode vol- 
lendete *), kommt er auch auf das vor kurzem von der europäifcen | 
Wiſſenſchaft entdedte Sanskrit zu ſprechen. Er Hat es nicht mehr 
erlernt, aber aus zweiter Hand ftellt er eine Menge ſanskritiſcher 
Wörter mit lateinischen, griechiſchen, deutſchen u. |. f. zufammen, 
und bei dieſer Gelegenheit bemerft er: „Das Hohe Alter bieier 
Sprache erhellet unter andern auch aus ber Uebereinkunft ſo vieler 
ihrer Wörter mit andern alten Spraden, welches wohl keinen 
andern Grund haben Tann, als daß alle diefe Völker bey ihrem 
Entftehen und vor ihrer Abfonderung zu einem gemeinſchaftlichen 
Stamme gehöret haben; denn an eine fpätere Entlehnung ober 
Vermiſchung ift bei fo ſehr entfernten Völkern wohl nicht zu ben 
ken“ 5). Aber auch jegt noch Hat Abelung keine Ahnung davon, 


des Wortes Zoch fagt: „Das Laleiniſche jungere kommt mit unferm eini: 
gen, fo wohl ber dorm, als der Bedeutung nad) überein; es würde ale 
einen unb ein bas Stammmwort von allen fein“, nämlich von Jog, jugum 
Gore u ſ. w. — 1) Aelieſte Geſchichte der Deutſchen (1806) ©. 350. — 
2) Ebend. ©. 352. — 3) Bol. Weltefle Geſchichte der Deuiſchen (1806), 
Vorr. S. IV und &. VI, uud Mithridates, Thl. I, (1806) 8. 277-279. 
— 4) Den 20. Julius 1806 if} die Vorrede unterzeichnet, am 10. Eepiem: 
ber besjelben Jahres fach Abelung. — 5) Adelung, Mithridates, Thl. I, 
(1806), 8. 149. 


Die germanifhe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 241 


welhe geofastigen Ergebniffe die Wiflenfhaft aus der Erforſchung 
dieſer Urverwandtſchaft der indogermaniſchen Sprachen ziehen wird. 
Dean noch in dem nachgelaſſenen zweiten Theil feines Mithridates 
ſagt er von dem germaniſchen Sprad- und Völterftamm: „Daß 
dieſes Boll im feinem Urſprunge mit andern alten nahen und fer- 
nen Böllern verwandt geweien, gibt die Natur der Sade, und jo 
viele gemeinfchaftlicge Ueberrefte in den Sprachen aller beftätigen 
& Allein die Zeit diefer erften Verwandtſchaft liegt fo weit außer 
den Grenzen aller Geſchichte, und fällt noch fo tief in die Duntel- 
heit ihres erſten Stammfiges in Afien, daß weder der Sprach-⸗ 
noch der Geſchichtforſcher einen andern Gebrauch davon machen 
lam, als dieſen gemeinfgaftlihen Urſprung überhaupt anzuerten- 
um). J 
Hiemit ſchließen wir unſere Darſtellung Adelung's. Trotz aller 
Irthumer und Verlehrtheiten war er dennoch einer der merkwür⸗ 
digften Gelehrten, die fih mit der Erforihung der deutihen Sprache 
beihäftigt haben. Bei feinen Zeitgenoffen erfreute er fich eines 
fait ımbegrängten Anfehens 2), und wie bedeutend feine Einwirkung 
sub auf bie Folgezeit war, das werben wir an dem bewußten 
Gegenſatz erlennen, in weldem fi der Gründer der gefhictlihen 
deutſchen Sprachforſchung zu Abelung befindet. Wir find deshalb 
abfihtlich etwas näher auf Adelung's Urbeiten eingegangen und 
timen am Schluß diefes Abſchnitts nur noch die Namen einiger 
Zeitgenoffen Adelung's nennen, bie ſich gleihfalls um die Behand- 
lung der neuhochdeutſchen Sprade verdient gemacht haben. Sa— 
muel Johann Ernjt Stoſch (geb. zu Liebenberg 1714, geft. 
u Berlin 1796) wurde durch feinen Verſuch in richtiger Beftimmung 
einiger gleihbebeutender Wörter der deutſchen Sprache (1770 — 80) 


H Adelung, Mithridates, Thl. II, 8.169. Daß das Stüd, dem bie 
sbigen Worte entnommen find, noch von Abelung felbft herrührt, darüber vgl. 
den Herausgeber unb Forifeger bes Mithridates, Severin Vater, in ber DVorr. 
Dun 2. Theil, S. X. — 2) Bol. 3. B., wie Wieland über Aelung ſpricht 
in Teufen Mertur 1782, Nov. ©. 145. Dec. ©. 194. 1788, April 
&. 307. 313. 30. 

Raumer, Bed. der gem. Philologie. 16 


240 Zweites Bud. Viertes Kapitel. 


ſchaft der indogermaniſchen Spraden eine richtige Vorftellung zu 
haben. Noch in einer feiner letzten Schriften erflärt er das Bor- 
Tommen vieler Wörter im Perfifchen, welche Aehnlichkeit mit deut⸗ 
ſchen Haben, daraus, daß germanifche Völler auf ihren Wanderun- 
gen in Perfien eingedrungen feien, „fi mit ben Einwohnern ver- 
miſcht, und aus Danfbarfeit einen Theil ihrer Sprade zurüdge- 
laſſen haben“ :). Diefelbe Anſicht Hat er Hier aud noch von der 
griechiſchen Sprade. Er hält die „Germaniſchen Wurzelwörter“, 
die fih im Griechiſchen finden, für Andenten barbariſcher Völler, 
die Griechenland überfäwermt und beherrſcht Haben ?). Aber in den 
zehn Jahren, die zwiſchen der Ausarbeitung feiner Aelteſten Ge⸗ 
ſchichte der Deutſchen und deren Veröffentlihung liegen, dämmert 
Melung allmählich eine richtigere Anficht auf). Im erften Band 
feines Mithrivates, den er wenige Monate vor feinem Tode vol⸗ 
lendete 4), fommt er aud auf das vor kurzem von ber europäifchen 
Wiſſenſchaft entdeckte Sanskrit zu ſprechen. Er hat e8 nicht mehr 
erlernt, aber aus zweiter Hand ftellt er eine Menge ſanskritiſcher 
Wörter mit lateiniſchen, griechiſchen, deutſchen u. f. f. zufammen, 
und bei dieſer Gelegenheit bemerkt er: „Das hohe Alter biejer 
Sprache erhellet unter andern auch aus der Uebereintunft jo vieler 
ihrer Wörter mit andern alten Sprachen, weldes wohl keinen 
andern Grund haben kann, als daß alle dieſe Völker bey ihrem 
Entftehen und vor ihrer Abfonderung zu einem gemeinſchaftlichen 
Stamme gehöret haben; denn an eine fpätere Entlehnung oder 
Vermiſchung ift bei fo fehr entfernten Völkern wohl nicht zu den- 
ten“ 5). Aber auch jet noch hat Abelung feine Ahnung davon, 


des Wortes Joch jagt: „Das Lateinifhe jungere fommt mit unferm eini: 
gen, fo wohl der Zorm, als ber Bebrutung nad; überein; es würde aljo 
einen unb ein das Stammwort von allen fein“, nämlich von Jog, jugum, 
Toyde u ſ. w. — 1) Aelleſte Geſchichte der Deutſchen (1806) ©. 350. — 
2) Ebend. ©. 352. — 3) Bol. Weltefle Geſchichte der Deuiſchen (1806), 
Bor. S. IV und ©. VI, und Mithridates, Thl. I, (1806) 8. 377-279. 
— 4) Den 20. Inlius 1806 if} bie Vorrede unterzeichnet, am 10. Geptem: 
ber besjelben Jahres ſiarb Abelung. — 5) Adelung, Mithridates, Th. I, 
(1806), 8. 149. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 241 


melde großartigen Ergebniſſe bie Wifjenfhaft aus der Erforſchung 
dieſet Umerwanbtichaft der indogermaniſchen Sprachen ziehen wird. 
Dean noch in dem nachgelafjenen zweiten Theil feines Mithridates 
jagt er von dem germaniſchen Sprad- und Völkerſtamm: „Daß 
dieſes Voll in feinem Urfprunge mit andern alten nahen und fer- 
um Böllern verwandt geweſen, gibt die Natur der Sade, und fo 
viele gemeinſchaftliche Ueberreſte in den Sprachen aller betätigen 
&. Allein die Zeit diefer erften Verwandtſchaft liegt jo weit außer 
den Grenzen aller Geſchichte, und fällt noch fo tief in die Dunkel 
heit ihres erften Stammfiges in Wien, daß weder ber Sprach⸗ 
noch der Geſchichtforſcher einen andern Gebrauch davon machen 
kam, als biefen gemeinfchaftlihen Urfprung überhaupt anzuerten- 
m) 

Hiemit ſchließen wir unſere Darftellung Adelung's. Trotz aller 
Vrthämer und Verlehrtheiten war er dennoch einer der merkwür⸗ 
Yigften Gelehrten, die fi mit der Erforſchung der deutihen Sprache 
beihäftigt haben. Bei feinen Beitgenofien erfreute er ſich eines 
fait unbegrängten Anfehens 2), und wie bebeutend feine Einwirkung 
ud auf die Folgezeit war, das werden wir an dem bemußten 
Geyenfag erkennen, in welchem fi der Gründer der geſchichtlichen 
deutſchen Sprachforihung zu Abelung befindet. Wir find deshalb 
cifichtlich etwas näher auf Adelung’s Arbeiten eingegangen und 
Kmen am Schluß dieſes Abſchnitts nur noch die Namen einiger 
deitzenoſſen Abelung’s nennen, die ſich gleichfalls um die Behand- 
lung der neuhochdeutſchen Sprache verdient gemadt haben. Sa- 
mel Johann Ernft Stofch (geb. zu Liebenberg 1714, geſt. 
Berlin 1796) wurde durch feinen Verſuch in richtiger Beftimmung 
einiger gleichbebeutender Wörter der deutſchen Sprache (1770 — 80) 





H Adelang, Mithridates, Thl. II, 8. 169. Daß das Stüd, dem bie 
cbigen Worte entnommen find, noch von Abelung felbft herrührt, darüber vgl. 
da Herausgeber und Fortſeher des Mitpribates, Severin Vater, in der Vorr. 
2. Teil, S. X. — 2) Bl. z. B., wie Wieland über Adelung ſpricht 
im Zeutihen Mertur 1782, Nov. ©. 145. Tec. ©. 194. 1783, April 
6. 307. 318, 30. 

Raumer, Gchd. der germ. Ppbilologie. 16 


242 Zweites Buch. Biertes Kapitel. 


einer der Gründer der deutſchen Synonymil; und Karl 
Philipp Moriz (geb. zu Hameln 1757, geft. zu Berlin 1793) 
verfaßte eine Reihe von populären Schriften, um Richtigkeit und 
Geſchmack im Gebrauch der deutſchen Sprache zu verbreiten, madte 
fi) aber, abgeſehen von feinen Leiftungen auf anderen Gebieten, 
befonders durch feine Anſichten über deutſche Metrit bekannt, bie 
ex in dem Verſuch einer deutſchen Projodie, Berlin 1786, nieder 
legte, und durch melde er einigen Einfluß auf Goethe's Versbau 
übte 1). Schließlich wollen wir noch eines fleißigen Sammlers und 
Kritikers auf unferem Gebiete gedenken, nämlih Johann Chriftian 
EHriftoph Rüdiger's (geb. zu Burg bei Magdeburg 1751, 
1791 Prof. zu Halle, geft. 1822), der in ben Jahren 1782 bis 
1796 zu Leipzig eine Art Zeitſchrift herausgab unter dem Titel: 
„Neuefter Zuwachs der teutjchen, fremden und allgemeinen Sprad- 
kunde in eigenen Aufjägen, Bücheranzeigen und Nachrichten.” 


2. Die Bearbeitung der deutſchen Yolksmundarten bis zum Jahr 1797. 


Bon Bollsmundarten kann nur da die Mede fein, mo 
fi eine Gemeinfprade gebildet hat, die fih von den Mundarten 
des Volles, wie fie in den einzelnen Landſchaften geſprochen wer- 
den, unterjeidet. Cine ſolche Gemeinfprache hat fi in Deutig- 
land, wie in vielen anderen Ländern, durch Vermittlung der Schrift 
gebildet: Die neuhochdeutſche Schriftſprache. Daß dieſe Sprache 
nicht bloß geſchrieben, ſondern im höheren Verkehr auch geſprochen 
wird, ändert nichts an der Thatſache, daß ſie nur mit Hülfe der 
Schrift zu Stande gekommen iſt. Vor der Entſtehung einer ſolchen 
Gemeinſprache gibt es keine „Bolfsmundarten“, ſondern die 
Redeweiſen der einzelnen Stämme ftehen ſich gleichberechtigt gegen⸗ 
über und jede von ihnen trägt in ſich die Möglichkeit, zur beſon⸗ 
deren Schriftſprache ausgebildet zu werden ?). Alle dieſe Vorgänge 


1) Bol. Goethe's Ital. Reife, Rom ben 10. Jan. 1787. (Gocihe's Bertt, 
1840, 8b. 23, ©. 192). — 2) Au in ber früheren Periode bes Hab 
deutſchen kann nur gerade in dem Maß unb in bem Umfang von Volts 
munbdarten gejprogen werden, als man dem Mittelhogbeutfgen der 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748. bis 1797. 248 


luſſen fi recht deutlich wahrnehmen an der Behandlung ber beut- 
(den Vollsmundarten. Schon beim Beginn unfrer neuhochdeutſchen 
Gemeinſprache wiflen unfre Orthographen das „rechte und reine 
Deut” von den Mundarten der einzelnen Landſchaften zu unters 
fheiben. So im 3. 1531 Fabian Frangk), und ähnlich Hierony⸗ 
ms Wolf im %. 1578 2). Und je mehr fi dann weiterhin bie 
deutſche Schriftſprache in ihren Formen grammatiſch feftftellt, um 
fo mehr wendet man fi andererjeit3 der Unterfuhung der Munds 
arten zu. So folgt auf die grammatifhen Bemühungen des 17. 
Jahrhunderts der eigentliche Beginn der mundartlichen Forſchung. 
Ramentlich fehen wir auch hier wieder aufmunternd und felöft ein⸗ 
greifend Leibniz thätig. In das von ihm vorgejchlagene Gloffarium 
ſollten neben den alten auch die „Landworte des gemeinen Man— 
23" Aufnahme finden 9). - Den Bremer Theologen Gerhard 
Meier muntert er auf, ein ſächſiſches Gloffarium zu ſchreiben, 
worin die Ausdrücke des gemeinen Volkes in Niederfachien neben 
den veralteten gefammelt und erflärt werben follten +). Meier ftarb 
jedoch vor Vollendung des Werts. Ein handſchriftliches Verzeich⸗ 
miß mieberfüchficher Wörter aus den Herzogthümern Bremen und 
Verden, das Juſtus Joh. Kelpius (Amtmann zu Ottersberg, 
+ 1720) 5) verfaßt hatte, verfah Leibniz mit feinen Anmerkungen 9). 
And in anderen Theilen Deutfhlands vegte fih damals das Yn- 
tereffe für die Mundarten. So gab Joh. Ludwig Prafc (geb. 
1637 zu Megensburg, gejtorben 1690 als Bürgermeifter dafelbit) 7) 
im J. 1689 zu Regensburg ein Meines Glossarium Bavaricum 
heraus ®), und Chriftian Meisner aus Herenftadt in Schlefien 


Charakter einer über ben Munbarten feines Bereichs fiehenden Gemein: 
Irrade quertennt. — 1) S. 0.6.63. — 2) In Institutionum gram- 
maticarum Joannis Rivii libri octo, Augustae Vindel. 1578, 
p. 595 sq. — 3) 2eibnig, Unvorgreiflihe Gebanten 9.33.34. — 4) Eccard,, 
Hist. stadii etymol. p. 107. — Leibnitii Collectanea etymol. 1717, 
1,238 sg. — 5) Ride, Idioticon Hamburgense (2) 1754, Borr. 
€. XXI. — 6) Ad glossarii Chaueici specimen notae, in Leibnitii 
Collect. etymol. 1717, I, 33 24, — 7) ©. über ihu Reichard, Verſuch einer 
Hihorie der deutſchen Sprachtunſi 1747, S. 269 fi. — 8) Im Anſchiuß an 
16* 


244 Zweites Bud. Biertes Kapitel. 

teilte in feiner Silesia loquens (Wittenberg 1705) ein Meines 
ſchleſiſches Idioticon mit‘). Uber das Alles find doch nur gering 
fügige Anfänge. Ihren eigentlichen Aufjhwung nahm die Darfiell- 
ung der Mundarten erft im weiteren Verlauf des 18. Jahrhun⸗ 
derts, d. i. im berfelben Zeit, welche fi um bie Seftftellung un. 
ſerer neueren Schriftſprache fo vedlih bemühte. Sm J. 1784 ver 
öffentliht Leonhard Friſch feinen kurzen, aber wohldurchdachten 
„Entwurf Was für Wörter in jeder Broving und Gegend von 
Teutfhland, fonderlih in ber Mark Brandenburg zufammlen 
find“ 9. 1743 umd in zweiter fehr vermehrter Auflage 1755 gab 
Michael Richey, Profeffor am Gymnaſium zu Hamburg (geb- 
bafelöft 1678, geft. 1761), fein „Idioticon Hamburgense ober 
Wörter⸗Buch, Zur Erflärung der eigenen, in und um Hamburg 
gebräuchlichen, Nieder-⸗Sächſiſchen Mund⸗Art“ Heraus. 1756 folgte 
Johann Chriſtoph Strodtmann (geb. zu Welau 1717, 
1749 Rector zu Osnabrüd, geit. 1756) mit einem Idioticon Or . 
nabrugense. Am umfafjendften aber behandelte dann bas Nier 
derdeutſche der „Verfuch eines brewmiſch-⸗niederſächſiſchen Wörterhußß", 
herausgegeben von der bremiſchen deutſchen Geſellſchaft, fünf 
Theile, Bremen 1767 — 71. Nehmen wir bazu noch Johann 
Karl Dähnert's (Prof. zu Greifswald, geb. zu Stralfund 1719, 
+ 1785) Platt» Deutfces Wörterbuch nad) der alten unb neue 
Pommerſchen und Rügiſchen Mundart (Stralfund 1781) und eine 
ganze Reihe Hleinerer Arbeiten über andere niederdeutſche Dialekte, 
fo fehen wir die niederdeutſchen Vollsmundarten im Lauf des 18. 
Jahrhunderts einen Gegenftand weit ausgebreiteter Unterſuchungen 
bilden. Unter allen deuten Mundarten hatten aber aud bie 
mieberbeutjchen, eben weil fie vom ber hochdeutſchen Schriftſprache 
am weiteften abftehen, für ben Forſcher den größten Reiz. Au 
den niederdeutſchen Mundarten zeigt fih am augenfälligften, was 


feine Dissertatio altera de origine Germanica Latinae linguae, Batis- 
bonae 1689, p. 15— 26. — 1) ©. Richey a. a. D. S. KVIL. XIL- 
2) Der erfie Auszug von einigen bie Teutſche Sprach betreffenden Stüden 
u. [. m. Balin 1734, S. 3 fg. 


Die germanifce Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 245 


mir oben über Vollsmundart und Schriftſprache gefagt haben. Im 
Mittelalter fteht das Niederdeutſche dem Hochdeutſchen gleich- 
berechtigt zur Seite. Auch im erften Jahrhundert ber neueren 
Zeit iſt dies noch fo. Luther's Bibelüberfegung ericheint 1534 zu 
Gübet in niederdeutſcher Uebertragung. Katehismus, Liturgie, 
Geſangbuch find niederdeutſch. So ſchreibt im J. 1582 der Roftoder 
Brofeffor Nathan Ehytraeus (geb. 1543 zu Menzingen in 
der Pfalz, geft. 1598) feinen Nomenclator Latino -saxonicus 
war wohl mit dem Bewußtſein, daß er fid eines anderen Dia- 
lettes bebient als bie Oberdeutſchen, aber im der Weberzeugung, 
daß man ſich diefes Dialektes in einem gelehrten Schulbuch ganz 
mit dem gleihen Recht bediene, wie bie Oberdeutſchen des ihri⸗ 
gm‘). Im J. 1625 erſchien diefer Nomenclator zum vierten mal ?), 
dann nicht wieder. Denn im Lauf des 17. Jahrhunderts wurde 
das Niederdeutſche als Schriftiprae vom Hochdeutſchen verdrängt. 
In 3.1621 wirb die letzte niederſächſiſche Bibel gebrudt o). Wenn 
dann auch noch fernerhin, und gerabe in ber neuften Zeit am häu- 
foften, Dichtungen in niederdeutſcher Sprache ericheinen, fo ift das 
berhaltniß ein ganz anderes, als früher. Der Dichter bedient 
fih jet abfihtlih einer Bollsmundart im Gegenfag zu ber 
anf in Nieberbeutfland geltenden hochdeutſchen Schriftiprade. 
Bem dies nicht Mar ift, der braucht ſich bloß die Frage vorzulegen, 
ob wohl gegenwärtig ein Lehrbuch ber Phyſik ober irgend eine 
andere wiſſenſchaftliche Arbeit in plattdeutſcher Sprache erjcheinen 
Eimmte, ohne den Eindruck eines Scherzes zu machen. 

Wie die niederdeutſchen, ſo erfreuten ſich auch die übrigen 
deutſchen Volksmundarten im 18. Jahrhundert einer immer ausge⸗ 
breiteteren Berüdfichtigung. Im J. 1789 veröffentlicht Andreas 
Zaupſer zu Münden ben ‚Verſuch eines baieriſchen und ober⸗ 
Hähifen Idiotilons“, 1795 Jahann Caſpar Schmid (geb. 
u Ehingen 1756, } 1827) den „Verſuch eines ſchwäbiſchen Idioti⸗ 


1) Bal. die Widmung und bie Vorrede des Bude. — 2) Zu Roſtoc. 
Diefe Ausgabe liegt mir vor in dem Cremplar der Münchnet Bibliothel. — 
3) Rinderling, Geſch. der nieverfäd. Sprache ©. 397. 


246 Zweite Bud. Vieries Kapitel, 


kon.” In Oeftreih tritt Valentin Popowitſch (1750) für die 
Wichtigleit der Mundarten ein‘). Auch die äußerften Borpoften 
der deutſchen Sprache finden bereits ihre Bearbeiter. Guſtav 
Bergmann (1785) und Aug. Wild. Hupel (1795) ſammeln 
Toländifhe, Joh. Georg Bod (1759) und Siegmund Hen- 
nig (1785) preußiihe, Joh. Seyvert (1781) und Jo h. Bin- 
der (1795) fiebenbirgifce Idiotismen. Selbft die deutſche Sprad- 
infel der Sette Communi wird von F. 8. Fulda (1778) in die 
deutſche Sprachforſchung eingeführt. Ja in ber zweiten Hälfte bes 
18. Jahrhunderts wird die Beſchäftigung mit den Vollsmundarten 
eine fürmliche Liebhaberei ber Gebildeten. Zeitſchriften, wie bas 
Deutſche Mufeum 2), Reifende, wie Friedrich Nicolai), wen- 
den ihnen ihre Aufmerkfamleit zu. Wenn dann dazwiſchen gerade 
von ben Freunden der mundartlichen Studien öfters die Klage er- 
ſchallt, daß nicht genug für die Erforſchung der Mundarten ge 
ſchehe, fo ift dies mm ein neuer Beweis, welden Werth man auf 
deren Unterfuhung legte. Denn daß bie Bearbeitung der Mund- 
arten im Lauf des 18. Jahrhunderts, verglichen mit der vorange 
gangenen Zeit, wirklich eine erftaunliche Ausbreitung gewann, das 
ertennt man fofort, wenn man in Hoffmann’s veihhaltiger Kitera- 
tur ber Mundarten die Mafje deffen, was das_18, Jahrhundert 
hervorgebracht, mit den wenigen Schriften vergleicht, bie der 
früheren Zeit angehören ). Natürlich bleibt Hier ber wiſſenſchaft⸗ 


1) Unterfugungen vom Meere. Frankf. und Leipz. 1750. gl. au: 
Verſuch einer Bereinigung der Munbarten von Teutſchland, aus ben Hinter: 
laſſenen Schriften bes berühmten Heren Prof. Joh. Siegm. Bal. Popowitſch 
Bien 1780. — 2) (Joh. Hein. Häslein) Probe einer Sammlung von Nürn⸗ 
berg. Provinzialwörtern, im Deutſchen Mufeum 1781, II, 457 fg. — 3) Ber: 
ſuch eines öfterr. Idiotikon in F. Nicolai’s Neife durch Deutſchland, Bd. V. 
(1785) Zeil, ©. 70—145. — 4) Heinr. Hoffmann, Die deutsche Philo- 
logie, Bresl. 1836, 8. 174 — 206. Id habe hier natürli nur den Ge 
fanmtverlauf ber mundartlichen Forſchung darſtellen Können. Wegen ber fon: 
Rigen hieher gehörigen Literatur verweife ich auf Hoffmann a. a. O. und 
Paul Tromel, die Literatur der Deutſchen Munbarten in Petaholdt's An- 
geiger, Jahrg. 1854. 


Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 247 


liche Werth der einzelnen Leiftungen zunächft außer Trage. Es 
handelt ſich nur um deren Anzahl. — Auch der Verfuh, alle deut⸗ 
ſchen Mundarten unter gewiſſe Gefihtspunfte zufammenzufafien, wird 
bereits gemacht von Friedrich Karl Fulda in der Göttinger 
vreisſchrift: „Weber die beiden Hauptdialecte der Teutſchen Sprache“ 
Reipzig 1773), und derſelbe Gelehrte gibt (1788) einen „Verſuch 
einer allgemeinen teutſchen Idiotilenſammlung“ Heraus. Doch wir 
brechen hier ab, da wir auf dieſen merkwürdigen Mann im folgen⸗ 
den Abſchnitt noch einmal zurückkommen. 


3% Die älteren germanifgen Sprachen und Literaturen in Dentfhland und 
” ie Einwirkung der deutſchen Klafiker auf die germanifhe Philologie in den 
Jahren 1748 bis 1797. 


Die Periode, von der wir hier Handeln, unterſcheidet ſich wer 
fentlih von den vorangehenden. In der früheren Zeit war das 
Intereſſe, das man an den älteren deutſchen Schriftwerfen nahm, 
in vorzugsweiſe antiquarifces, insbeſondere hiftorifch - juriſtiſches. 
In der vorliegenden Periode aber tritt der äfthetiich - poetiie An⸗ 
theil in den Vordergrund, den man an ben Dichtungen der deut» 
ſchen Vorzeit nimmt. So wie aber au in ben früheren Zeiten 
dieſer letztere Geſichtspunkt leineswegs ganz ohne Vertretung ift, 
fo findet natürlich auch in ber jegigen die rein antiquarifhe und 
linguiſtiſche Seite ihre Fortfegung. Selbſtverſtändlich ftehen alfe diefe 
Beftrebungen in einem gewiſſen Zufammenhang, indem fie ſich wech⸗ 
ſelſeitig unterftügen. Dennoch aber treten fie ſich theilweiſe fo 
fen, daß wir am beiten thun werben, fie getrennt zu behandeln. 
Bir ſprechen alſo zuerft von den rein linguiſtiſchen und antiquari- 
iden Leiftungen auf bem Gebiet der älteren germanifchen Sprachen 
und Literatirren. Dann faffen wir zufammen, mas in diefer Zeit 
für die Herausgabe und das Verftändniß der mittelhochdeutſchen 
Ditungen geſchehen ift, und zulegt ſchildern wir bie Anregungen, 
welche die germaniſche Philologie nach den verſchiedenſten Seiten 
Hin von ben großen neuhochdeutſchen Schriftftellern des 18. Jahr⸗ 
hunderts erhalten hat. 


248 Zweites Bud. Viertes Kapitel. 


1) Die linguiftif-antiquarifhe Behandlung ber älteren ger: 
manifhen Spraden von 1748 Bis 1797. 


Wir Haben hier zuvörderſt ein Hauptwerk der juriftifch-antie 
quariſchen Richtung zu beiprehen, das der Zeit feiner Herausgabe 
nad unferer Periode angehört, obwohl feine Entftehung noch in 
der vorangehenden wurzelt, nämlich das Gloſſarium von Haltaus. 
Ehriftian Gottlob Haltaus wurde geboren zu Leipzig im 
%. 1702. Er widmete fih an der dortigen Univerfität philologi- 
ſchen und Hiftorifen Studien, vorzugsweiſe unter der Leitung von 
Burkhard Mende, der ihn zum Mitarbeiter an feinen Seriptores 
rerum Germanicarum machte. Im J. 1734 wurde Haltaus - 
Lehrer an der Nicolaiſchule zu Leipzig, 1751 Rector diefer Anftalt. 
Er ſtarb am 11. Februar 17581). Durch ein ftreng geſchichtliches 
Studium des Mittelalters, insbeſondere feiner rechtlichen Einricht⸗ 
ungen, wurde Haltaus auf die Erforſchuug der älteren deutſchen 
Sprade geführt. Es war ihm vor allem um die Erflärung ber 
Urkunden und der übrigen Rechtsquellen des deutſchen Mittelalters 
zu thun. Aus diefem Streben gieng erft fein Specimen Glos 
sarüi Fori Germanici, ex diplomatibus, Lipsiae 1738, und dann 
fein großes Hauptwerk hervor: Glossarium Germanicum medü 
aevi maximam partem e diplomatibus multis praeterea alüs 
monimentis tam editis quam ineditis adornatum, Lipsise 
1758. Haltaus erlebte die Herausgabe diefes feines bedeutendften 
Werkes nicht mehr, aber no im Jahr feines Todes wurde die 
felde durch oh. Gottlob Böhme bewerfftelfigt. Dies Buch bietet 
einen wahren Schatz deutſchrechtlicher Gelehrfamfeit und bildet bis 
auf ben heutigen Tag ein nad diefer Seite Hin unentbehrliches 
Hülfsmittel. Unter den übrigen Bemühungen zur Erforſchung der 
germanifen Spraden von juriſtiſch-antiquariſcher Seite erwähnen 
wir nur noch bie Schriften Tilemann Dothias Wiardas 
(geb. zu Emden 1746, geft. als Landſyndilus zu Aurich den 7. März 
1826) 2) und bie Abhandlungen, welche ber verbiente Hiſtoriker 


1) Ueber Haltaus Leben dgl. Böhme's Vorrede zu Helles Glosserium 
Germanicum. — 2) In unferen Zeitraum fallen don Wiarda's Sqhrifien 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 249 


Johann Chriſtoph Gatterer in ben Gommentationen ber 
Göttinger Societät über den Gebrauch der deutſchen Sprade in 
Urhmben veräffentliäte '). j j 
Säließen ſich bie bisher beſprochenen Arbeiten ben verwandten 
der früheren Periode an, fo tritt ein neues Element in die Studien 
der deutſchen Sprachforſcher dadurch ein, daß es num endlich auch 
in Deutſchland zu Verſuchen kommt, die älteren germanifhen Spra- 
den wicht bloß lexilaliſch, fondern auch grammatiſch zu behandeln. 
Bir erinnern ums, daß bie Bahn Biezu ſchon längſt in England 
von Hides, in Holland von Ten Kate gebroden war. Ja and) in 
Deutſhland war fon im J. 1710 ein Anfang derartiger Stubien 
gemacht durch Diederich's vom Stade handſchriftliche Grammatik 
der Sprache Otfrid's. Aber dieſe Grammatik wurde nicht veröffent⸗ 
liht und fand keine Nachfolge. Der erſte Deutſche, der fih auf 
dieſem Gebiet öffentlich Kervorthat, war Fried rich Karl Fulda. 
Geboren zu Wimpfen im J. 1724, ftudierte Fulda zu Tübingen 
Deologie umd daneben Philofophie und Mathematik, gieng dann 
ala Feldprediger nach den Niederlanden und nahm nad Auflöfung 
des Regiments, bei dem er ftand, an ber Univerfität Göttingen 
feine Umiverfitätsftubien wieder auf, behnte fie aber jegt vorzugs⸗ 
weile über deutſche Alterthümer und Geſchichte aus. 1751 wurde 
er Garnifonsprediger auf der würtembergifhen Feſtung Hohenas- 
verg, 1758 Pfarcer in dem Dorf Mühlhauſen an der Enz, 1787 
erhielt ex die Pfarrei Enfingen. Hier ift er am 2. Dec. 1788 ge» 
forden. Obwohl in gelehrte Studien aller Art vergraben, war 
Fulda ein pflichttreuer Seelforger, ein liebenswürdiger Geſellſchafter 
und ein vortrefflicher Hausvater ). Um Fulda als Sprachforſcher 


die Geſchichte der alten friefiſchen ober ſächſiſchen Sprache. Auri 1784, und 
Altſriefiſhes Wörterbuch. Aurih 1786. — 1) Commentationes societatis 
Tegise scientiarum Gottingensis. Vol. II, (1780) Hist, et philol. 
p. 52 sq. unb Vol. IIT (1781) Hist. phil. p. 8 sg. — 2) Diefe Ange: 
ben über Zulda’s Leben find entnommen aus ber „Nachricht von dem Leben 
an den Sqhriften Friedrich Earl Fulda's (aus beffen Hinterlaffenen Papieren 
Wiegen)” , die fi vor Zahn's Ausgabe bes Ulfilas, Weißenfels 1805, findet. 


250 Zweites Buch, Viertes Kapitel, 


richtig zu würdigen, muß man ſich erinnern, daß er nicht won der 
Philologie, fondern von einer generalifierenden und abftrahierenben 
Speculation herkam. Unter feinen bandicriftlihen Werken fand 
fi ein „Stammbaum aller Wiſſenſchaften, Künfte, Profeffionen 
und Handwerker” vom Jahr 1753, und eine Ontologia sive 
dootrina, quae continet universalissimas notiones et praedi- 
cata, methodo genealogica ereota-1783 1). Obwohl nun 1762 
ber Unwille über Popowitſch's alphabetiiches Verzeihniß der ſ. g. 
ungleih fließenden Conjugationen der Anlaß wurde, daß Fulda 
fich auf bie Erforſchung ber deutſchen Sprache warf, fprang er doch 
fofort über auf „die weſentliche Radilaleinſtimmung aller Sprachen“ 
und machte ſich ein „Stammbäumden der Sprachorgane und be 
Urfprungs der menſchlichen Sprade und Begriffe” unter dem Titel 
„Origo linguae humanae“ 2). Den Antrieb, öffentlich als 
Sprachforſcher aufzutreten, erhielt Fulda durch eine von der Göt⸗ 
tinger Societät der Wiſſenſchaften geftellte Preisfrage. Fulda's 
Bearbeitung derſelben erhielt im Jahr 1771 den Preis 3) und 
wurde von ihm unter dem Titel: Ueber die beiden Hauptdialecte 
der Teutfhen Sprade. — Leipzig 1773, veröffentlicht. Als Er- 
gänzung folgte einige Jahre darauf Fulda's umfangreichites Wert: 
Sammlung und Abſtammung Germaniſcher Wurzel- Wörter, nah 
der Reihe menſchlicher Begriffe, — Halle 1776. In den beiden 
näcften Jahren betheiligte er fih an dem teutſchen Sprachforicer, 
den Johann Naft, Profeffor am Stuttgarter Gymnafium, 
„Stutgart“ 1777 und 78 herausgab, mit einer Reihe größerer Ar- 
beiten, unter welchen die zu „Stutgart“ 1778 auch einzeln erſchie⸗ 
nenen „Grundregeln der teutſchen Sprache” die bebeutendfte Stelle 
einnehmen %). Noch in feinem letzten Lebensjahr veröffentlihte 
Fulda den „Verfuh einer allgemeinen teutſchen Idiotikenſamm⸗ 
lung, — Berlin und Stettin 1788, und nad) feinem Tode gab 


DE. bie oben angeführte „Nadriht" S. II u. IV. — 2) Eben. 
S. V. — 3) Bl. Göttingifhe Anzeigen von Gelehrten Sachen 1771, 
138, Gtüd, ©. 1178. — 4) Der teutſche Sprachforfcher. Zweiter Zeil 
Stutgart 1778. ©. 118 — 220. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 251 


Gräter Heraus: C. F. Fulda's Geſchichte der Teutſchen und ber 
menſchlichen Natur. Ein Pendant zu ſeinem Wurzelwörterbuche 
und Commentar über Tacitus Germania, Nürnberg und Altdorf 
1795. 

Sehen wir uns biefe Arbeiten Fulda's darauf an, was ihr 
Berfaffer für die deutſche Sprachforſchung geleiftet Hat, fo wer⸗ 
den wir vor allen Dingen den Eifer anerkennen, mit dem er ſich 
auch auf das Stubium der älteren germanifhen Spraden gewor- 
fen hat. Er begnügt fid nicht mit dem bloßen Wortvorrath derfel- 
ben, fondern er fucht auch ihren grammatifhen Bau zu erforſchen. 
R feiner Preisſchrift über „die beiden Hauptdialecte der Teutſchen 
Sprache“ (1773) gibt er eine Ueberficht über bie gothiſchen und 
althochdeutſchen Flerionen *), und in den „Gruffbregeln der Teut- 
ſchen Sprade“ (1778) Hat er Einiges noch weiter ausgeführt. 
Fulda 2) kennt feine Vorgänger Hides 3), Ten Kate *) und Ihre 6), 
ſucht fih aber feinen eigenen Weg zu bahnen. Seine Angaben 
winmeln zwar von Fehlern ©), aber doch bleibt ihm das Verbienft, 
als der erfte in Deutihland aud über den grammatiſchen Bau 
der altgermanischen Sprachen etwas veröffentlicht und mit richtigem 
Blick erlannt zu haben, daß die Alteften germaniſchen Flexionen 
mit den griechiſchen und lateiniſchen „viele Gemeinſchaft hatten“ 7). 
dulda's eigenthümlichfte Seite ift feine Wurzelforſchung. Hier 
aber ſchweift er fo weit über das Gebiet des Germanifchen hinaus, 
daß wir ihm an dieſer Stelle nicht folgen dürfen. Wir begnügen 
uns, zu bemerken, daß e3 feiner Entwidlungsgefdichte der Sprache 
nit an geiftreichen Bemerkungen und richtigen Bliden fehlt, daß 


DS. fg. — Im (Nas) teutſchem Spragforfger II. (1778) 
6.119 fg. — 3) Fulda, Ueber die beiden Hauptdialete S. 55. — 
4) Sammlung — German. Wurzelwörter 1776, &©.29. — 5) Der teutfde 
Spraßforfer II, ©. 119. Fulda's gothiſche Sprachlehre müffen wir Hier 
außer Betracht laſſen, weil fie erſt 1805 in Zahn's Wiflas veröffentlicht wor: _ 
den if, und auch da nur von Zahn überarbeitet. — 6) Belege 3. ©. in 
daldas Schrift Über bie beiden Hauptdialecte S. 4. — 7) Yulda im 
Uuuthgen Sprachforſcher LI, (1778) ©. 134. 


252 Zweites Buch. Viertes Kapitel. 


aber in wiſſenſchaftlicher Hinſicht feine ganze Art zu etymologiſie⸗ 
ten auf Sand gebaut ift, indem ihr das erfte Erforderniß jever 
wiſſenſchaftlichen Etymologie: Die Beobachtung der hiſtoriſchen 
Lautwandelgefege, voliftändig abgeht. — Faſt gleichzeitig mit 
Fulda machte der Jeſuit Karl Joſeph Michageler (geb. zu 
Innsbrud 1785, 1783 Cuſtos an der Univerſitätsbibliothek in 
Wien, geft. 1804) einen Verſuch zur grammatifhen Behandlung 
der älteren germartifen Spraden in, feinen 1776 zu Innsbrud 
eriienenen, auf Hides fußenden Tabulae parallelae antiquissi- 
ınarum teutonicae linguse dialectorum, moesogothicae, franoo- 
theotiscae, anglo-saxonicae, runicae et islandicae. Wir er 
wähnen außerdem noch die Preisiäriften über bie Hauptepochen 
der deutſchen Sprache feit dem 8. Jahrhundert von Leonhard 
Meifter 1) in Züri und von Wilhelm PBeterfen?) in Stutt- 
gart (1787), und die „Praktife Anweiſung zur Kenntniß ber 
Hauptveränderungen und Mundarten ber teutſchen Sprache von 
ben älteften Zeiten bis ins vierzehnte Jahrhundert," die Joh 
Beter Willenbücher (Mector zu Brandenburg, geb. zu Beer 
felden 1748, } 1794) im J. 1789 anonym herausgab 3). 

Die Beläftigung mit den Alteften germanifhen Sprachen war 
damals in Deutſchland noch etwas fehr Seltenes. Dennoch erhielt 
dies Gebiet in unferer Periode einige werthvolle Bereicherungen 
Um das Yahr 1756 entdedte der Archidiaconus Yranz Anton 
Rnittel (geb. zu Salzdahlum 1721, geft. 1792) zu Wolfenbüttel 
in einem Codex reseriptus ber dortigen Bibliothet ein Bruchſtũc 
ber gothiſchen Ueberfegung bes Römerbriefs, das er einige Jahre 
darauf (1762) zu Braunſchweig herausgab. Aus einer anderen 
Wolfenbüttler Handſchrift fügte er einige Bruchſtücke bes Otfrid 
bei. Bon großem Werth für das Studium bes Gothiſchen war 
es ferner, daß ber bekannte Geograph Anton Friedrich Bi 


1) In den Sehriften ber Kurfürſtlichen deutſchen Gefellfhaft in Mann: 
Heim ®b. I, 6.255 fg. u. ®b. IL. — 2) Ebenb. Wb. IIL — 8) Bil 
büdper war Verf. biefer 1789 zu Leipzig erfgpienenen Schrift. S. KRinberling 
in Graͤter's Bragur, vd. VI, ©. 197. 





Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 258 


Sing in Berlin die gehaltvollen Schriften Ihre's über das Go- 
thiſche vom Verfaſſer ſelbſt vermehrt und verbeffert (Berlin 1773) 
gefnnmelt herausgab. Unfere althochdeutſchen Quellen vermehrte 
durch einige Heine Stüde (1765, 1779) 1) der gelehrte Abt von 
St Blafien im Schwarzwald Martin Gerbert (Freiherr von 
Herman, geb: zu Horb 1720, geft. 1793). Für das Altſächſiſche 
war von Wichtigkeit, daß der franzöfiige Emigrant Gerard Gley 
(ge. zu Gerarbmer in Lothringen 1761, geft. zu Paris 1830) im 
Jahr 1794 den verſchollenen, ehemals zu Würzburg befindlichen 
Coder des Heliand auf der Kathevralbibliothel zu Bamberg wieder 
entdedte. In Bezug auf das Niederdeutihe überhaupt ſchrieb J. 
5% Kinderling (geb. zu Magdeburg 1743, 1774 Prediger zu 
Calbe an der Saale, geft. 1807) einen Erſten Grundriß einer 
iteratur der plattdeutjchen ober niederſächſiſchen Sprache und ihrer 
Töchter (1794) 2), den er dann fpäter (1800) zu einer Geſchichte 
der niederſächſiſchen Sprache erweitert Hat. Auf das Altnordiſche 
tommen wir in einem fpäteren Abſchnitt zurüd. Hier bemerten 
wir mm, daß Joh. Erichſon (geb. 1700 zu Sternberg in Med⸗ 
lenbutg, 1745 Paſtor zu Starkow in Schwebiid - Pommern) im 
Jahr 1766 zu Greifswald eine Bibliotheca runica herausgab, 
worin er die Schriften über die Runen verzeichnet und Nachrichten 
über ihre Verfaſſer gibt. Schließlich wollen wir noch erwähnen, 
dab im dieſer Periode ein geachteter Literator, Joh. Andreas 
Fabricius (geb. 1696 zu Dobendorf, 1753 Rector des Gymna⸗ 
fünns zu Nordhauſen, geft. 1769) in feinem Abriß einer allgemei- 
nen Hiftorie der Gelehrſamleit (Leipzig 1752) 3) bereit? im über- 
taſchender Weife die Wichtigkeit und den Umfang der deutſchen 
Philologie bezeichnet. 


1) M. Gerbert, monumenta veteris liturgise Alemannicae II, 
(179), 31. (In Müllenhoff’s und Scherer's Denkm. Nr. LXXIV). 
— 2) In: Für deutſche Sprade, Litteratur unb Culturgeſchichte. Her. von 
Kinderling, Willenbücher und Koch, Berlin 1794. — 3) 8. I, ©. 158, 
14. S. Heinr. Hoffmann, Die deutsche Philologie, 1886, Vorr. 
av. 


254 Zweites Buch. Biertes Kapitel, 


2. Die Herausgabe mittelhochdeutſcher Dichtungen. Ober 
" lin’s Gloſſar. 


Während, wie ſchon bemerkt, die vorangehende Periode (1665 
— 1748) ſich vorzugsweiſe mit ber Herausgabe althochdeutſchet 
Quellen befaßte, wendet ſich in der jegigen (1748—1797) die Thä- 
tigfeit hauptſächlich den mittelhochdeutſchen Dichtungen zu. Schon 
Gottſched's Bemühungen um bie Erforſchung der älteren deutſchen 
Kiteratur hatten dieſe Richtung angebahnt 1). Viel wichtiger aber 
für die Bekanntmachung der altdeutichen Dichter wurden die Ber 
ftrebungen feiner feweizerifhen Gegner Joh. Jak. Bodmer 
(geb. 1698 zu Greifenfee bei Zürich, geft. den 2. Jan. 1783 zu 
Zürih) und Joh. Jak. Breitinger (geb. zu Züri 1701, geit. 
ebenda ben 15. Dec. 1776). Beide Männer, eng befreundet in 
ihren Kämpfen für die Ausbildung des deutſchen Geſchmacks, find 
auch in ihren Leiftungen für die ältere deutſche Literatur fo nah 
verbunden, daß fie ihre wichtigften Arbeiten gemeinfam unterneh⸗ 
men. Einerſeits als Geſchichtsforſcher, andrerjeits als Dichter und 
Kritiker wurde Bodmer ſchon früh dem Studium der älteren deut- 
ſchen Sprache und Dichtung zugeführt. Ein Richtebrief der Stadt 
Züri aus dem 13. Jahrhundert wedte feine Liebe zu umfrer alten 
Sprache und Literatur, und in Goldaſt's Paraenetifern fand dieſe 
ihre erfte Befriedigung. Auch find ohne Zweifel Gottſched's gleih- 
artige Beſtrebungen nit ohne Einfluß auf Bodmer geblieben 2). 


DE.0.6.208. — 2) Im Deutfen Mufeum 1783, I, ©. 269 
wirb erzäßlt, baf ein Richtebrief ber Stabt Zürich aus dem 18. Jahrhundert 
zuerſt Bodmer's Liebe zur Sprade ber Minnefinger gewedt habe. Bobmer 
ſelbſt erwaͤhnt bie Poeſie ber hohenſtaufiſchen Zeit in feinem Gedicht „Ehe 
valter ber Deutſchen Gedichte" vom Jahr 1734 (J. 3. Bodmer's Gedichte, 
2. Aufl. Züri 1754, ©. 19-21). Seine Renntniß ſcheint ſich aber der 
mals noch auf Goldaſt's Paraenetifer befchränkt zu haben. Daß bie Abhand: 
Tungen über @egenflänbe ber älteren beutfchen Literatur, die ſich in ben von 
Gottſched herausgegebenen Beyträgen zur Critiſchen Hiſtorie ber deutſchen 
Sprache (1732 fgbe) finden, nicht ohne Einwirkung auf Bodmer geblieben 
find, iſt bei der damals noch beftehenden (von Danzel, Gotiſched ©. 186 fg- 


Die germanifhe Philalogie in Deutfhland von 1748 bis 1797. 256 


In Jahr 1748 veröffentlichte Bobmer in der „Sammlung Critifcher, 
voetiſcher, und anderer geiftooller Schriften, zur Verbefferung des 
Urtheiles und des Witzes in den Werden der Wohlrebenheit und 
der Boefie* 1) feine Abhandlung: „Won den vortreffligen Um- 
fänden für bie Poefie unter ben Kaifern aus dem ſchwäbiſchen 
Haufe.” Hier macht er auf den nachher fo berühmt gewordenen 
Coder (7266) der Pariſer Bibliothek aufmerffam, unter deſſen 
Städen „etliche find, die mittelft eingelner Zeilen, die von Goldaſt 
aus ihnen angezogen worden, ein ftardes Verlangen nad dem 
gangen ermwelet haben“ 2). Nach dem Anfang einer fritiihen Aug- 
gabe von Opigens Gedichten durch Bobmer und Breitinger (1745), 
in welcher die Opitziſche Ausgabe des Annoliedes mit weiteren 
neuen Anmerkungen verjehen wurde, folgten dann die „Proben ber 
alten ſchwäbiſchen Poefie des dreyzehnten Jahrhunderts. Aus der 
Maneßiſchen Sammlung, Zürich 1748,“ durch welde die mittel- 
hochdeutſche Lyrik in den Kreis unſrer Litteratur eingeführt wurde. 
Nittheilumgen von Scherg aus dem Coder 7266 der Barifer Biblio- 
thel hatten Bobmer in der Muthmaßung beftärkt, „daß in bem- 
felben die Liebes-Boeten des Schwäbiſchen Jahrhunderts enthalten 
wären,“ welche Goldaſt in feinen Beraenetitern anführt. Dur 
Lermittlung Schöpflin’s in Straßburg erhielten Bodmer und 
Breitinger die Handſchrift zu freier Benutzung nad) Zürich gefendet. 
Sie gab ihnen die volle Ueberzeugung, daß es wirfli die von 
Goldaſt gebrauchte Handiehrift fei, die im Beginn des 17. Jahr⸗ 
hunderts aus dem Beſitz der Freiherren von Hohenſar in bie Biblio⸗ 


nachgewieſenen) Verbindung zwiſchen Gotiſched und den Schweizern vorauszu⸗ 
ſeben Aber der Brief Bodmer's an Gotiſched, den Danzel (Gottſched S. 192) 
um Beweis Hiefür mittheilt, iR Nom Jahr 1738, alfo vier Jahr jünger ale 
des oben erwähnte Gedicht Bobmer’s. Will man bie erſte Anregung Bob: 
wer's zum Stubium der altbeutjhen Poefie durchaus auf Gottiſched zurüd- 
führen, fo Fönnte man Bobmer’s Bekanntſchaft mit Goldaſt's Paraenetifern 
aus den Begträgen zur Grit. Hiſt. der Deutfhen Sprade, 2. Stüd (1732) 
©. 385 Yerleiten. 
1) Siebendes Stüd, Züri 1743, ©. 25 fg. — 2) Ebend. ©. 35. 


266 Zweites Bud. Biertes Kapitel. 


the der Kurfünften von der Pfalz zu Heidelberg und von da neh 
der Einnahme Heidelberg’ durch Tilly in bie königliche Bibliothet 
zu Baris gelommen fei ‘). Da fie meinten, die Handſchriſt jei 
einzig in ifrer Art, fo glaubten fie, mit Sicherheit die Worte des 
Dichters Hadlaub (um 1800) von dem Sieberfammeln ber Ma- 
neffe 2) in Züri auf unfere Handſchrift beziehen zu bürfen ). In 
ihrem Vorbericht ftellen fie dann weiter Alles zufammen, was fie 
über die Lehensumftände ber einzelnen Dichter ermitteln Tonnten, 
und ſchon hier macht Bobmer die fpäterhin weiter ausgeführte 
Entdeckung, daß in Rudolf's von Neuenburg Liedern fi einige 
Strophen finden, die aus dem Provenzaliſchen des Folquet von 
Marſeille überfegt find. Die „Grammatiigen Anmerkungen 
über die Sprache der ſchwäbiſchen Poeten“ beginnen die Heraus 
geber mit den treffenden Sägen: „Die alte ſchwäbiſche Sprache 
hat feine geringe Schwierigkeiten. Diefe entftehen von der Menge 
Wörter, die man hat untergehen lafien, ohne daß man fie mit an 
been erfeget hat; von einer gleid jo groffen Anzahl Wörter, bie 
zwar in unfrer Sprache nod) find, die aber in dem Munde der 
Leute, duch welden fie gelaufen, duch das Alter, den Zufall, den 
Eigenfinn, ganz andere Beitimmungen empfangen haben; von dem 
Abgange und den Abweichungen, melde die Sprache in bev Sr 
flerion, der Ableitung, der Stellung, und ber Verbindung der 
Wörter erlitten Hat“ 9). Die reichhaltige Auswahl, in welcher 
unter Anderen Walther von der Vogelweide der neueren Zeit zum 
erftenmal in größerem Umfang vor bie Augen tritt, wirb daum zum 
Schluß no dur ein gebrängtes Gloſſarium begleitet. 

Die Herausgeber hatten gehofft, duch ihre „Proben von 
Minnelievern ans der Maneſſiſchen Sammlung“ allgemeine Be 
gierde auf die Veröffentlichung des Ganzen zu erwecken. Aber eine 


1) ©. Bobmer’s Vorbericht zu den Proben S. V-XII. — 2%) In 
(Bodmer’s) Minnesingern II, (1759) 8. 1874. — 3) Proben, Borbe: 
richt ©. XIII fg. Minnesinger I, 8. XII fg. Bagegen Lachmann in ber 
Vorr. zum Walther (2) ©. VI fg. — 4) Proben, Vorbericht S. XXVIII. 
Die weitere Ausführung |. in (Bobmer’s) Neuen Gritifhen Briefen (2) Zi: 
rich 1768, ©. 95 fg. — 5) Proben, Borberift, ©. XXXIX. 


Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 257 


Aufforderungeſchrift vom Jahr 1753 überzeugte fie, daß fie ſich 
in ihren Erwartungen getäufcht hatten. Das Publicum zeigte 
wenig Theilnahme, und nur bie höchſt ehrenwerthe Unterftügung 
ihrer Züricher Mitbürger machte es Bodmer und Breitinger mög⸗ 
lich ) neun Jahre nad Herausgabe der Proben die ganze Parifer 
Handſchrift erfheinen zu laſſen unter dem Titel: „Sammlung 
von Minnefingern aus dem ſchwäbiſchen Zeitpunkte OXL Dichter 
enthaltend; durch Ruedger Manefien, weiland des Rathes der ur- 
alten Zyrich. — Erſter Theil Durch Vorſchub einer anſehnlichen 
Zahl von Freunden des Minnegeſanges. Zyrich — 1758. „Zwey⸗ 
ter Theil“ 1759. In der Vorrede ſprechen die Herausgeber mit 
warmer Liebe von ihren Minnefingern und wiederholen dann bie 
Auseinanderfegung, bie fie in den Proben über die Handſchrift und 
ihren vermeintlien Sammler gegeben hatten. Sie erwähnen auch. 
des Senaer Eoder und ber Nachricht, die über ihn inzwiſchen Pro⸗ 
feilor B. Chr. Bernhard Wiedeburg 2) (geb. zu Jena 1722, 
gef. ebend. 1758), durch Breitinger und Bodmer dazu aufgemun« 
tert), gegeben hatte +). Aber auf eine nähere Vergleihung laſſen 
fie fih nit ein. Auch geben fie diesmal weder eine grammatiſche 
Einleitung, noch ein Gloffar. Ya, was den Text ſelbſt betrifft, fo 
enthalten fie fi fogar der Interpunction und beſchränken fih auf 
den Abbrud der Handſchrift. Wir Iennen jegt die Mängel dieſer 
Ausgabe vet wohl. Aber trog alle dem iſt diefe Leiftung Bod⸗ 
mer's und Breitinger’3 eine höchft verbienftlihe, und wenn fie auch 
zunãchſt nicht den Erfolg hatte, den die Herausgeber wünſchten, fo 
werden wir um fo glängender ihre tief eingreifende Wirkung auf 
die Entwidlung unferer Wiſſenſchaft in der folgenden Periode Ten- 
nen lernen. Kurz vor der Veröffentlihung ber großen Minne⸗ 


1) Sammlung von Minnesingern, I, (1758) Vorrede 8. II. — 
2) Ausfügrliche Nachricht von einigen alten teutſchen poet. Danufcripten aus 
dem dreygehenden und vierzehenden Jahrhunderte, welde in ber Jenaifhen afa- 
demiſchen Bibliothek aufbepalten werben, ber. von Baf. Chr. Bernhard Wieder 
burg. Jena 1754. — 3) Bol. bie Borr, von Wiedeburg's eben ange 
fügrter Schtift 8.2, — 4) I, Vorrede 8. IX. 
Raumer, Gehd. der germ. Phtlologle. 17 


266 Zweites Bud. Bierte® Kapitel, 


thek der Kurfürſten von der Pfalz zu Heidelberg und von ba nach 
ber Einnahme Heidelberg's durch Tilly in bie koöͤnigliche Bibliothel 
zu Paris gefommen ſei i). Da fie meinten, die Haudſchrift fei 
einzig in ihrer Art, fo glaubten fie, mit Sicherheit die Worte des 
Dichters Hadlaub (um 1300) von dem Liederfammeln der Ma- 
neffe ?) in Zürich auf unfere Handſchrift begiehen zu dürfen ). In 
ihrem Vorbericht ftellen fie dann weiter Alles zufammen, was jie 
über bie Lebensumſtände der einzelnen Dichter ermitteln Tonnen, 
und ſchon hier macht Bodmer die fpäterhin weiter ausgeführte 
Entdekung, daß in Rudolf's von Neuenburg Liedern ſich einige 
Strophen finden, die aus dem Provenzalifhen des Folquet von 
Marfeille überfegt find). Die „Grammatiſchen Anmerkungen 
über die Sprache der ſchwäbiſchen Poeten“ Beginnen bie Heraus 
geber mit ben treffenden Sägen: „Die alte ſchwäbiſche Sprache 
hat feine geringe Schwierigkeiten. Diefe entftehen von der Menge 
Wörter, die man hat untergehen laſſen, ohne daß man fie mit an- 
dern erfeget hat; von einer gleich fo groſſen Anzahl Wörter, die 
zwar in unfrer Sprache noch find, die aber in dem Munde ber 
Leute, durch welchen fie gelaufen, durch das Alter, den Zufall, den 
Eigenfinn, ganz andere Beitimmungen empfangen haben; von dem 
Abgange und den Abweihungen, welche die Sprache in ber Ju⸗ 
flerion, der Ableitung, der Stellung, und ber Verbindung ber 
Wörter erlitten hat" 9. Die veihhaltige Auswahl, in welder 
unter Anderen Walther von der Vogelweide ber neueren Zeit zum 
erftenmal in größerem Umfang vor die Augen tritt, wird Damm zum 
Schluß nod durch ein gebrängtes Gloſſarium begleitet. 

Die Herausgeber hatten gehofft, durch ihre „Proben von 
Minnelievern ans der Maneffiihen Sammlung” allgemeine Be 
gierde auf die Veröffentlichung des Ganzen zu erweden. Aber eine 


1) ©. Bodmer's Vorbericht zu ben Proben S. V-XII. — 9% 
(Bodmer’s) Minnesingern II, (1759) 8. 187. — 3) Proben, Borber 
richt S. XIII fg. Minnesinger I, 8. XII fg. Dagegen Lachmann in be 
Borr. zum Walther (2) ©. VI fg. — 4) Proben, Vorbericht S. XVII. 
Die weitere Ausfüprung |. in (Bobmer’s) Neuen Critiſchen Briefen (2) 31: 
rich 1768, ©. 95 fg. — 5) Proben, Vorbericht, ©. XXIX. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 257 


Aufforderungsſchrift vom Jahr 1758 überzeugte fie, daß fie fih 
in ihren Erwartungen getäufht Hatten. Das Publicum zeigte 
wenig Theilnahme, und nur bie höchſt ehrenwerthe Unterftügung 
ihrer Züricher Mitbürger machte es Bobmer und Breitinger mög- 
lich '), neun Jahre na Herausgabe der Proben die ganze Parifer 
Handſchrift erjcheinen zu laſſen unter dem Titel: „Sammlung 
von Minnefingern aus dem ſchwäbiſchen Zeitpunkte OXL Dichter 
enthaltend; durch Ruedger Manefien, weiland des Rathes der ur⸗ 
alten Zyrich. — Erfter Theil. Durch Vorſchub einer anfehnlichen 
Zafl von Freunden des Minnegefanges. Zyrich — 1758." „Zwey⸗ 
ter Theil“ 1759. In der Vorrede ſprechen die Herausgeber mit 
warmer Liebe von ihren Minnefingern und wieberholen dann die 
Auseinanderfegung, die fte in den Proben über die Handſchrift und 
iften vermeintlichen Sammler gegeben Hatten. Sie erwähnen auch 
des Jenaer Eoder und der Nachricht, die über ihn inzwiſchen Pro- 
feſſer B. Chr. Bernhard Wiedeburg ?) (geb. zu Jena 1722, 
geſt. ebend. 1758), durch Vreitinger und Bobmer dazu aufgemun- 
tert 3), gegeben hatte ). Aber auf eine nähere Vergleihung laſſen 
fie ſich nicht ein. Auch geben fie diesmal weber eine grammatiſche 
Einleitung, noch ein Gloſſar. Ja, was den Text feldft Betrifit, fo 
enthalten fie ſich fogar der Interpunction und beſchränken fih auf 
den Abdruck der Handſchrift. Wir kennen jegt die Mängel biejer 
Ausgabe recht wohl. Aber trog alle dem iſt diefe Leiftung Bod⸗ 
mer’3 und Breitinger's eine höchſt verbienftliche, und wenn fie auch 
zunachſt nicht den Erfolg hatte, den die Herausgeber wünſchten, fo 
werden wir um fo glängenber ihre tief eingreifende Wirkung auf 
die Entwidlung unferer Wiſſenſchaft in der folgenden Periode ken⸗ 
nen lernen. Kurz vor der Veröffentlichung ber großen inne 


1) Sammlung von Minnesingern, I, (1758) Vorrede 8. III. — 
9) Ausführliche Nachricht von einigen alten teutſchen poet. Manufcripten aus 
dem drepgehenden unb vierzefenben Jahrhunderte, welche in ber Jenaiſchen afa- 
demiſchen Bibliothek aufbehalten werden, her. von Baf. Chr. Bernhard Wiebe 
burg. Jena 1754. — 3) Bol. die Vorr. von Wiedeburg's eben ange 
füßrter Schrift 8.2, — 4) I, Vorrede 8. IX. 
Raumer, Gef. der germ. Philologie. 17 


208 Zweites Buch. Biertes Kapitel, 


fängerhandfehrift Hatten Bodmer und Breitinger zwei andere mittel 
hochdeutſche Dichterwerke herausgegeben, deren eines dem Geſchmack 
jener Zeit befonders entiprad), während das andere erft in ber 
Folgezeit als eins ber größten Dichterwerke bes deutſchen Geiſtes 
erfannt werben follte. Das erftere waren die „Kabeln aus den 
Beiten ber Minnefinger, Züri 1757” ?), als deren Verfaſſer man 
fpäter den Bonerius ermittelt hat; das zweite: „Chriemhilden 
Rache, und die Klage; zwey Heldengedichte aus dem ſchwäbiſchen 
Beitpuncte. Samt Fragmenten aus dem Gedichte von ben Nibe⸗ 
Hungen und aus dem Joſaphat. — Zyrich 1757.” In dieſem klei⸗ 
nen Quartanten liegt nun der erfte, wenn auch noch unvollſtändige 
Drud unferes Nibelungenlieves vor. he wir aber weiter 
darüber ſprechen, wollen wir ber Thätigteit gebenfen, Die Bobmer 
noch in feinem höchſten Greifenalter für Herausgabe der altveut- 
ſchen Dichterwerke entwidelte. Auch nah der Bekanntmachung ber 
Barifer Handſchrift Hlieb ex unermũdlich thätig im Sammeln und 
Leſen altdeutſcher Dichtungen. Es war ihm jedoch nicht mehr ver- 
gönnt, feine angeſammelten Schäge felbft zu veröffentlichen. Aber 
an feiner Stelle fand ſich einer feiner jüngeren Freunde umd Ber 
ehrer, um das angefangene Unternehmen fortzufegen. Es mar 
dies Chriftoph Heinrid Müller, ober, wie er ſich nach Bod⸗ 
mer’3 Weife zu ſchreiben pflegte, Myller. Geboren zu Zürich im 
Jahr 1740 war diefer eigenthümlihe Mann ?) ſchon früh Lehrer 
am Joachimsthal ſchen Gymnafium in Berlin geworben, im Jahr 
1788 Tehrte er in feine Vaterſtadt zurüd und ftarb daſelbſt am 
22. Febr. 1807. Im Sommer bes Jahres 1780 wanbte fih 
Müller von Berlin aus brieflih an Bodmer mit dem Anerbieten, 
„die Ausgabe der ſchwäbiſchen Dichter in Berlin zu beſorgen“ 
Er wiederholte dies Anerbieten dann unter dem 16. Sept. 1780 





1) Den Hauptantheif an biefer Ausgabe bat Breitinger. Vgl. bie Bor: 
vebe, unb Franz Pfeiffer's Ausgabe des Boner (Leipz. 1844), Borw. ©. VII. 
— 2) Bgl. die Sgilderung, die er vom ſich felbft gibt, in der Anmerkung 
gu: Briefe ber Echweizer Bobmer, Sulzer, Gehner. Aus Gleim's — Radlafie 
Herausg. v. Kötte, Zürid 1804, ©. 406. 


Die germanifcge Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 259 


öffentlich im einem Schreiben an den Herausgeber des Deutſchen 
Mufeums, welches diefer im Novemberheft besfelben Jahres ab- 
druden ließ. Eine Geſellſchaft von dreißig Liehhabern follte zufam- 
mentreten, von benen jeber brei Jahre lang jährlich drei Louisdor 
fir den Abbrud der alten Handſchriften hergäbe. Dies reihe hin, 
alle altſchwäbiſchen Dichter dem Untergang zu entreißen. Er ſelbſt 
erbot ſich, mit feinem Beitrag voranzugehen 1). Das Unternehmen 
fund zwar nit ganz ben gewünſchten Anklang 2), aber doch reich⸗ 
ten die bargebotenen Mittel hin, um bie Dichtungen zu veröffent- 
lichen, welche den Kern unfrer erzählenben mittelhochdeutſchen Poefte 
Hilden. Der greife Bobmer bot feine reihen Sammlungen an 3) 
amd förderte das Unternehmen auf jede Weiſe. Das Werl, mit 
welchem Myller den Beginn machte, war das Nibelungenlied. 
Bohmer hatte, wie wir oben fahen, den zweiten Theil besfelben 
bereits im J. 1757 veröffentlicht, und zwar hatte er dies aus der 
jegt mit O bezeichneten Handſchrift gethan, bie er im Jahr zuvor 
durch Herrn von Wocher aus der Bibliothel von Hohen Ems er- 
halten Hatte. Als Bodmer fpäter im J. 1779 von dem Ganzen 
Afrift zu nehmen wünſchte, waren inzwiſchen große Veränderun⸗ 
gen in ber Grafigaft Hohen Ems vorgegangen. Die früher mit- 
getheilte Handſchrift der Nibelungen war nicht aufzufinden; aber 
nach langem Durhmwühlen der beinahe vermoberten Bücherhaufen 
gelang es Herrn von Woder, eine andere Handſchrift besfelben 
Gedichts zu entbedfen, und biefe fenbete er Bobmer zu. Es war 
die jetzt mit A bezeichnete Handſchrift. WBobmer. bemerkte recht 
wohl, daß die Handfärift, aus der er fi jetzt die erfte Hälfte 
der Nibelungen abſchreiben ließ, eine andere war, als bie, aus 
welchet er bie zweite Hälfte Hatte abbruden laſſen, und ex teilte 


1) Deutjges Mufeum 1780, &. II, S. 461. — 2) Bgl. die Angaben 
bie Zarnde in ber Einleitung zu feiner Ausgabe des Nibelungenlieds (6G 
1868 6. XXIV fg.) aus feinem Erxemplar ber Myller'ſchen Sammlung macht. 
Den beiden Eremplaren, bie mir zu Gebote ſtehen, find biefe Rechnungsab ⸗ 
lagen nicht beigebunben. — 3) Vergl. Deutſches Muſeum 1781, ®b. I, 


6.87. 
17* 


280 Zweites Bud. Viertes Kapitel. 


diefen Umftand Hrn. Müller mit, als er dieſem jene Abſchrift der 
erſten Hälfte fandte 1). Diefer aber überfah Bodmer's Bemerkung 
und erflärte am Schluß feines Abdrncks, das ganze Gedicht ſei 
einer und derſelben Hohenemfer Handihrift entnommen, die erfte 
Hälfte nad) der von Bodmer beforgten Abfchrift, die zweite nad 
deſſen Ausgabe ?). Dur dies Verſehen bat der gute Müller 
allerdings unfägliche Verwirrung angerichtet. Aber es bleibt ihm 
das Verdienft, dur feinen ſchönen Eifer bie erfte volfftändige 
Ausgabe unferes gewaltigften Heldengedichts zu Stande gebracht zu 
Haben, deren Drud im September 1782 bei Chriftian Sigismund 
Spener vollendet wurde unter dem Titel: „Der Nibelungen it 
ein Rittergedicht aus dem XII. oder XIV. Jahrhundert. Zum 
erſten male aus der Handſchrift ganz abgebrudt.” Wie früherfin 
Bodmer, fo fügte auch Müller die Klage dem Nibelungenlieb bei; 
aber fie unterſcheidet ſich bei ihm ſchon äußerlich ſtärker davon, weil 
er das Nibelungenlied nicht, wie Bodmer, in kurzen, fonbern in 
langen Zeilen abbruden läßt. Strophen unterſcheidet er jedoch 
nicht, obſchon Bodmer in dem oben angeführten Brief am ihn bei⸗ 
läufig von „Strophen“ des Nibelungenliedes ſpricht ®). Wenige 
Monate nah der Verſendung des Nibelungenlieds ftarb Bobmer. 
Aber fo ſchmerzlich fein Tod ben Herausgeber und alle Freunde 
der altdeutſchen Literatur berührte, fo erlitt doch das Unternehmen 
feine Unterbrechung. Im Lauf eines Jahres wurden noch geliefert 
außer einigen kleineren Saden: „Die Eneidt — von Heinrich 
von Veldecken zum erften male aus ber Handſchrift abgebrudt‘, 
(geendigt Anfang April 1783), „Barcival ein Nitter- Gedicht aus 
dem dreizehnten Jahrhundert von Wolfram von Eſchilbach zum 
zweiten male aus ber Handſchrift abgedrudt, weil der erfte Anno 
1477 gemadte Abbrud fo felten wie Manufeript ift“, endlich der 
Arme Heinvih des Hartmann von Aue Alles bisher Genannte 


1) S. Bodmer's Brief an Müller vom 1. Mai 1781, in F. H. v. be 
Hagen’s Sammlung für Altdeutſche Literatur und Kunſt, I. Bd., 1. Etid, 
Breslau 1812, ©. 5 fg. — 2) Bgl. die Schlußbemerkung Müller's in fr 
mer Ausgabe des Nibelungenlieds ©. 152. — 3) 9. a. ©. S. 11. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 261 


wurde dann zuſammengefaßt unter dem Titel: „Samlung deut⸗ 
fher Gedichte aus dem XIL. XII. und XIV. Jahrhundert. 
Eiſter Band, — Geendiget im Anfang des Februars 1784.“ Der 
Herausgeber hatte das erfte Stüd der Sammlung: das Nibelun- 
genlied, Friedrich dem Großen gewidmet. Es gehörte freilich eine 
merkwũrdige Naivetät dazu, bei einem folden Unternehmen auf den 
Leifall dieſes Monarchen zu Hoffen. Die Aufnahme war denn 
au danach. Der König beantwortete die Ueberfendung des Dedi- 
ationseremplars mit folgendem Schreiben: „Hochgelahrter, Lieber 
getreuer. Ihr urtheilt, viel zu vortheilfafft, von denen Gedichten, 
aus dem 12., 13. und 14. Seculo, deren Drud ihr befördert ha- 
bet, und zur Bereicherung der Teutſchen Sprade, fo brauchbahr 
haltet. Meiner Einficht nad, find folde, nicht einen Schuß Pul- 
ver, werth; und verdienten nicht, aus dem Staube der Vergefjen- 
heit, gezogen zu werben. In meiner Bücder-Sammlung wenig- 
ftens, würde Ich, dergleichen elendes Zeug, nicht dulten; fondern 
herausſchmeiſſen. Das Mir bavon eingefandte Eremplar mag da- 
hero fein Schidjaal, in der dortigen großen Bibliothec, abwarten. 
— Biele Nachfrage verſpricht aber folhem nit; Euer fonft gnä- 
diger König Frch. Potsdam, d. 22. Februar 1784" 1). Erinnern 
wir uns, daß Ludwig Tied ein geborener Berliner, daß Hagen, 
Amann, Jacob und Wilhelm Grimm Lehrer an der Berliner 
Univerfität waren, fo werden wir zugeben, daß die Voransjagung 
des großen Königs nicht eingetroffen ift, und daß es dem Nibelun- 
genied auf der Berliner Bibliothek an Nachfrage nicht gefehlt Hat. 
Brofeffor Müller lieg ſich auch durch dies wegwerfende Urtheil 
Friedrichs IT. nicht irre maden, fondern fuhr fort in der Veröf- 
fentlichung der altdeutſchen Dichterwerke, jo daß aus dem nun fer- 
ner Gedrudten im J. 1785 ein zweiter Band. feiner Sammlung 
gebildet werben konnte. Diefer Band enthält wieberum neben 
manchem Anderen eine Anzahl von Werken, die zum Grundſtock 
unfrer altdeutſchen Dichtung gehören. Gleih zum Eingang: 
Triſtran ein Rittergedicht aus dem XII. Jahrhundert von Got- 


1) A. Höfer, die deutſche Philologie, S. 7, Anm. 


262 Zweites Bud). Biertes Kapitel. 


feit von Strazburc zum erftenmal aus ber Handſchrift abgebruft.” 
nDiefes Gedicht, Heißt es am Schluß, ift abgebrudt worden aus 
einer Abſchrift, melde ber löbliche Canton Zürich Hat nehmen 
laſſen von einer Membran aus der grosherzoglichen Bibliothek zu 
Florenz.” Ferner bringt diefer Band den erften Drud von Hein 
rich's von Freiberg Fortfegung des Triftan, von Konrad Files 
Flore und Blanfheflur, von Hartmann's mein (aus der Floren⸗ 
tiner Handfärift), ober wie er durch einen feltfamen Lefefehler Hier 
durchweg heißt, „Twein“ 1), enbli ben erften mittelhochdeutſchen 
Text des Freidank nach Breitinger's Abſchrift des Straßburger 
Eoder, und Ergänzungen zur Parifer Minneſingerhandſchrift aus 
dem Jenaer „Alten Meifter-Gefangbuh." Ein dritter Band von 
Müller’8 Sammlung, der nit vollendet wide, fügte dem Bis 
herigen noch die erfte Hälfte von Konrad's von Würzburg Troja 
niſchem Krieg Hinzu Dann aber gerieth das Unternehmen in's 
Stoden. Prüfen wir nun die Verbienfte, die fi der Herausgeber 
um die BVeröffentligung unfrer alten Dichtungen erworben hat, 
näher, fo follen alle die großen Mängel, die feiner Arbeit anfler 
ben, durchaus nicht geläugnet werben. Wir kennen biefelben, ebenſo 
wie bie von Bobmer’s und Breitinger's Ausgabe der Weinnefinger, 
zur Genüge. Aber troß all biefer Mängel ift das Verdienſt, das 
diefe Männer fi um die alltdeutſche Literatur erworben haben, ein 
höchſt ſchätzbares. Durch ihre Bemühungen ift der wichtigſte 
Theil ſowohl der lyriſchen, als der erzählenden Poeſie unfrer mit- 
telhochdeutſchen Blüthezeit zum Drud befördert worden. Auf dieſen 
Abdrüden, fo fehlerhaft fie find, ruht zunächſt die Kenntniß, welche 
in ber folgenden Periode die Nomantifer von der altdeutſchen Poeſie 
haben. Ja noch bei ber eigentlichen Begründung unfrer germani- 


1) Diefer Mißgriff iR um fo auffallender, als Micaeler, der im Ar 
Hang zu feinen Tabulis parallelis (1776) ſchon ein Brudflüd bes wein 
veröffentlicht, ihm bereits Ywein (S. 298) oder Ywan (G. 317) ſqhreibi. 
Auch Bobmer, der in feinen Altengliſchen Balladen u. ſ. f. Zürich 1780, 
©. 181 fg. no Twein ſchreibt, hat fi in fein Hanberemplar, weldes die 
Zuricher Stadtbibliochek auſbewahrt, bie Notiz gemagt: . „S. 181 leſet all: 
mahl Iwein, fonft ſchreibt man es au Ywein, Ywain, Yban.c 





Die germaniſche Philologie in Deutjchland von 1748 bis 1797. 268 


fhen Philologie, bei dem Erſcheinen von Grimm’s Grammatit 
(1819) bildet das, was dieſe drei Züricher geleiftet haben, die 
Hauptgrundlage für die Kenntniß der mittelhochdeutſchen Dichtung. 
Denn verglichen mit dem, was Bodmer, Breitinger und Müller 
zum Drud befördert haben, erſcheint alles, was außerdem in ben 
ahren 1748 bis 1797 für Veröffentligung altdeutſcher Werke ges 
ſchehen ift, nur als eine, wenn auch fehr dantenswerthe Ergänzung. 
& G. Casparſon's (geb. zu Gießen 1729, geft. zu Kaſſel 1802) 
ſehr mangelhafte Ausgabe von Wolfram's Willehalm mit Ulrich's 
von dem Zürlin Hinzudichtung (Kaffel 1782 — 84), Gottfried 
Schũtz e's Ausgabe der Welthronit bes Mubolf von Ems 1) (Ham- 
bg 1779— 81), Michaeler's nochmaliger Abdrud des wein 
aus der Ambrafer Handſchrift (Wien 1787), Johann Joachim 
Eſchenburg's (geb. zu Hamburg 1743, geft. zu Braunſchweig 
1820) Mittheilungen aus altdeutſchen Handſchriften?), und endlich 
Friedrich Adelung's (eines Neffen des deutfchen Grammatikers, 
geb. 1768 zu Stettin, geſt. als Präfident der Alademie der Wiſ⸗ 
ſenſchaften in Petersburg 1843) Nachrichten von altdeutſchen Ger 
dichten, welche aus ber Heidelbergiſchen Bibliothek in die Vati- 
tanifche gefommen find (Königsberg 1796. 1799). Aber ein Mann 
muß hier noch genannt werden, dev unter ben Vertretern ber alt⸗ 
deutſchen Stubien im 18. Jahrhundert eine der adtungsmwertheften 
Stellen einnimmt, nämlich Jeremias Jakob Oberlin. Er 
war geboren zu Straßburg am 7. Aug. 1735 und machte feine 
Studien auf der dortigen Univerfität. Einer der wenigen, die da- 
mals ſchon die Philologie zu ihrem Lebensberuf erwählten, fteht er 
in feiner Zeit ‘faft einzig da durch den ſchon früh gefaßten Ent 
ſchluß, das Studium der antiten Spraden mit dem der neueren 





1) Wir bezeichnen Hier das Werk der Kürze wegen fo. Ueber den eigent- 
lichen Gadjverhalt vgl. Vilmar, Die zwei Recensionen und die Hand- 
schriftenfamilien der Weltchronik Rudolfs von Ems 8.53 fg. — 
9 In Leſſing's Beiträgen (1781), im Deuiſchen Muſeum (1776 fg). Ge 
fmmelt und vermehrt herausgegeben als: Denkmäler altdeutscher Dicht- 
kunst, Bremen 1799. 


204 Zweites Bud. Biertes Kapitel. 


zu verbinden und ben Zuſammenhängen beider nadzufpüren '). 
Oberlin ſchloß fi in feinen Stubien befonders dem namhaften 
Geſchichts⸗ und Altertfumsforicer Joh. Daniel Schöpflin (+ 1771) 
an, ber ihm bie Fortſetzung feiner Alsatia illustrata übertrug. 
Viele Jahre mußte fi Oberlin mit einem untergeorbneten Lehr⸗ 
amt am Straßburger Gymnaſium begnügen, bis er endlich 1778 
außerorbentlicher, 1782 ordentlicher Profeffor an der dortigen Uni⸗ 
verfität wurde. Hochgeehrt und geliebt von feinen Mitbürgern und 
feinen zahlreihen Schülern ftarb er am 10. Oktober 1806 2). Dos 
Eharakteriftiihe an berlin war feine Verbindung ber antifen 
Studien mit den mittelalterlihen. Seine Verdienfte um bie Haj- 
fiſche Philologie können wir Bier nicht weiter verfolgen. Sein 
Studium der neueren Sprachen erftredte ſich ſowohl auf das Fran⸗ 
zöſiſche, als das Deutſche. Ein Ferienaufenthalt bei feinem Bruder, 
dem trefflihen Pfarrer im Steinthal, veranlafte ihn zu einer 
Schrift über das Lothringiſche Patois (1775), wobei er aud das 
AUtfranzöfifhe und das Provenzalifhe in den Kreis feiner Untere 
ſuchungen zog. Auf dem Gebiet der altdeutſchen Sprache und 
Kiteratur befigen wir von ihm ſchätzbare Abhandlungen über Bo 
ner's Edelſtein (1782) und über Konrad von Würzburg (1782)°) 
und bie Ausgabe eines deutſchen Beihtbudes aus dem 14. Jahr⸗ 
Hundert (1784). Sein Hauptwerk aber ift bie Herausgabe von 
Scherz altdeutſchem Wörterbuch, deffen erfter Band im J. 1781 
zu Straßburg unter dem Titel erihien: Joh. Georgii Scherzü 
Glossarium Germanicum medii aevi potissimum dialecti 
Buevicae edidit illustravit supplevit Jeremias Jac. Oberlinus. 
Der zweite Band folgte im J. 1784. Den Grundftod biejes Wertes 


1) Bot. Oberlin's eigene Worte in Schweighäufer's Memorie Oberlini, 
Argentorati 1806, p. 9. — 2) Ueber Oberlin’8 Leben und Charakter vgl. 
bie eben angeführte Memoria von Schweighäufer. — 3) Auch zu den Ab: 
handlungen feiner Schüler über bie Alsatia litterata sub Celtis, Romanis, 
Francis nnb sub Germanis saeculo IX et X, de Johannis Tauleri 
dictione vernaculs, de Johannis Geileri scriptis Germanicis, de poe- 
tie Alsatiae eroticis medii aevi, und über Jakob Twinger fieferte Dber: 
lin ben Stoff. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 265 


bildet die Lebensarbeit des gelehrten J. G. Scherz. Aber durch 
Oberlin's Zuthaten hat das Werk erft die eigenthümliche Stellung 
belommen, die es in ber Geſchichte der altdeutſchen Stubien ein- 
nimmt. Bergleihen wir nämlich das Scherz-Oberlin'ſche Gloſſar 
mit dem nur fünfundzwanzig Jahre früher erſchienenen Haltaus'- 
ſchen, fo erkennen wir fofort den augenfälligen Unterſchied. Bei 
Haltaus ift es abgefehen auf die Erflärung von Urkunden und an- 
teren Rechtsdenkmälern. Was außerdem herangezogen wird, bas 
fell nur dazu dienen, den Sprachgebrauch des Rechts zu erläutern. 
Bo der Herausgeber, J. &. Böhme, bie neueren Werke auf 
lt), die noch in den letzten Jahren vor Vollendung des Druds 
(1758) benußt werben konnten, ba thut er der Proben ber alten 
ſchwãbiſchen Poefie und der anderen vor 1758 erſchienenen Ver- 
Öffentlihungen der Zürder nit einmal Erwähnung, und wenn 
man den übrigens fehr hübſchen Artifel Minne im Wörterbud 
ſelbſt vergleicht, fo fieht man, daß jene Dichterwerke auch wirklich 
nicht berüdfichtigt worden find. Ganz anders Oberlin. Er benutzt 
nicht nur die herausgegebenen mittelhochdeutfchen Dichter, und zwar 
Schritt Haltend mit den Veröffentlihungen im zweiten Band auch 
Müllers Nibelungen und Heinrich von Velvet und Casparſon's 
Wilhelm von Oranſe, fondern es ift ihm auch ausdrüdlih darum 
zu tun, ein Hülfgmittel zum Verſtändniß biefer Dichtungen zu 
bieten. Hat nun gleich auch Hiefür Scherz bereits vorgearbeitet, fo 
fonnte doch ſchon der wichtigen erft nad Scherzens Tod (1754) 
herausgegebenen Quellen halber nur Oberlin dem Werke biefen 
Charakter aufprägen. Und fo viel aud feine Bemühungen zu 
wũnſchen übrig laſſen, jo war doch ein Anfang gemacht, ben Freun⸗ 
den ber mittelhochdeutſchen Dichtung menigftens ein Ierifaliiches 
Hilfsmittel zu bieten. Dies wurde aud) von den Zeitgenoffen und 
der nächftfolgenden Generation dankbar anerkannt, umd unter den 
Subſtribenten auf Oberlin’s Werk finden wir Herder und Mies 
land, die wir unter ben Unterzeichnern eines Buches wie Haltaus' 
Sloffarium vergeblich ſuchen würden. 


1) Am Schluß ber Borrede. 


266 Zweites Bud. Viertes Kapitel. 


3. Die Einwirkung der deutſchen Klaffiker auf bie germanifge 
Bbilologie in ben Jahren 1748 bie 1797. 


Blicken wir zurüd auf alles, was in ben Jahren 1748 His 1797 
für Herausgabe unfrer alten Dichtungen gefhehen ift, fo ſehen wir, 
daß ein ſehr reichhaltiges Material dem Zeitalter durch den Ab⸗ 
drud zugänglich; gemacht war. Die Aufnahme und Wirkung biefer 
Schäte aber war bebingt durd den Zuſtand unferer Literatur und 
Bildung überhaupt. Wir müfjen deshalb einen Blick auf die Ent 
wicklung ber deutſchen Literatur in ber zweiten Hälfte des 18. 
Jahrhunderts werfen, doch ohne daß wir uns zu einer Darftellung 
diefer Entwicklung ſelbſt verloden laſſen. Denn unfere Aufgabe 
ift Bier allein, zu unterſuchen, welden Einfluß die verfdiebenen 
Richtungen der Literatur und ihre Häupter auf die Entwicklung 
der germanifchen Philologie geübt haben 1). Gleich die erften, die 
wir in der Geſchichte unſrer Wiffenfhaft zu nennen hatten, Gott 
ſched und feine ſchweizeriſchen Gegner, nehmen befanntlih aud in 
ber Geſchichte der deutſchen Literatur eine widtige Stelle ein. 
Was Gottſched betrifft, fo war fein Verhältniß zur älteren beut- 
ſchen Literatur ein mehr Außerlihes. Es war mehr der löbliche 
Eifer für die Zufammenftellung und Hervorhebung aller beutjäen 
literarifchen Leiſtungen, ber ihn trieb, als eine innere Hinneigung 
zu unfver alten Dichtung. Ganz anders ftanden Bodmer und 
Breitinger, bie in ben altdeutſchen Dichtungen eine Beftätigung 
ihrer Theorien fanden und ihrem ganzen Weſen nach weit mehr 
Verwandtſchaft mit ihnen Hatten. So finden wir denn aud bei 
Bobmer, dem überbies feine vertraute Bekanntſchaft mit ber italieni- 
ſchen Literatur fehr zu Statten kam, mande treffende Bemerkung 
über unfere mittelhochdeutſchen Dichtungen. Er ſpricht von ihnen 
mit warmer Liebe und Begeifterung. „Unfer Vergnügen barüber, 
fagt er im Vorbericht zur Sammlung von Minnefingern ?), ent 
ftand von ihrem innerlichen und poetiſchen Werthe, von den Em- 


1) 2gl. hierüber A. Koberflein, Grundriß ber Gefdjichte ber deutſchen Ra 
tional:itteratur, Xb. II, vierte Ausgabe, Leipgig 1856. — 2) 6. XX. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 267 


pfindungen, Bildern und Gedanken; und biefe Art von Freude ift 
&, die wir durch unfere Bemühungen gerne unter unfern witigen 
bandsleuten weiter ausbreiten möchten.“ Dies, nicht das rechtsge⸗ 
ſcichtliche Intereſſe, wie fo manden früheren Herausgeber altveut- 
fer Dichtungen, habe fie geleitet. In ber Vorrede zu feiner Aus- 
gabe der zweiten Hälfte des Nibelungenlieds (1757) 1) ſpricht Bod⸗ 
mer mit Bewunderung von ber „anziehenden Einfalt" und „großen 
Aarheit“· in ben Ausführungen dieſes Gebihts und von der Mans 
migfaltigleit in ber Schilderung der verfdiebenen Helden und 
Kämpfe. Er ahnt die Vortrefflicfeit der Dichtungen aus dem 
Hoßenftaufifchen Zeitalter, bevor er fie noch kennt?), und er ber 
ſtüümmt bie Dauer ihrer Blüthe ziemlich richtig, nachdem er ihnen 
näher getreten iſt ). Auch für bie Tüchtigfeit des ſechzehnten Jahr⸗ 
hunderts fehlt es Bodmer nicht an Verſtändniß. Er weiß bie 
Vorzüge Sebaftian Brant's und Fiſchart's wohl anzuerkennen 4) 
Aber wie ſchwankend und unſicher ift trotz alle dem noch das Ur- 
theill Aus der erften Hälfte des Nibelungenlieds theilt Bodmer 
in feiner Ausgabe der zweiten (1757) nur einzelne Stellen mit 
„einigen Neugierigen zu gefallen.“ „Man jiehet, jagt er, feinen 
Anſchein, daß er [biefer „fübere Theil des Gedichtes“] jemals 
werde ganz gebruft werben. Es ift in der That für den Ruhm 
des ſchwäbiſchen Zeitpunftes am beiten geforget, wenn man nicht 
alles, was noch in dem Staube verborgen liget, an ven Tag ber- 
vorziehet, fondern in dem, was man uns giebt, eine veife und 
tinſichtsvolle Wahl beobachtet“ 5). Dafür leitet er dann die zweite 
Hälfte mit einigen altdeutſchen Zeilen von feinem eigenen Gemächte 
ein. Ebenſo verſuchte er fi in neuhochdeutſchen Umbichtungen der 


16. VI. — 2) „Bon ben vortrefflien Umſtänden für bie Poeſie 
unter den Kaifern aus dem ſchwäbiſchen Haufe“, in der Sammlung Eritiicher, 
Boetifher, und anderer geiftvollen Schriften“ u. f. w. 7tes Stüd, Zürich 
1748, &. 25 fg. — 3) Nämli auf bie Jahre 1180—1830, in ben Neuen 
Gritiigen Briefen, R. A, Züri 1763, ©, 59. — 4) Sammlung Grit. — 
Sriften 7. St. (1749) ©. 54 fg. — 5) Chriemhilden Rache, Zyrich, 
1357, 8. X. 


268 Zweites Buch. Viertes Kapitel. 


alten Meifterwerke, in denen er fie nad) feinem Geſchmac zu ver- 
beffern ſuchte. Auf Grundlage ber Nibelungen dichtete er in mat- 
ten Herametern „Die Rache der Schweſter“ 1), und aus Wolfram's 
Gedicht zieht er feinen „Parcival“ zufammen 2). Und wie über 
die Dichtung des 13., fo zeigt ſich Bodmer's Urtheil über die des 
16. noch äußerft unfider. Während er Brant und Fiſchart lobt, 
fpricht er mit der größten Geringihägung von Hans Sachs >), ja 
ex erfühnt fi fogar einmal, Luther den Bibelüberfeger für einen 
„Gottſchedianer vor Gottſcheden“ zu erklären, weil er in feinem 
Sendbriefe vom Dolmetſchen gewifje Redeweiſen als undeutſch ver: 
wirft %). Aber alle dieſe Mißgriffe würden dem Einfluß Bodmer's 
nicht fo viel Abbruch gethan haben, als feine eigenen Dichtungen, 
deren Zahl von Jahr zu Jahr ins Unglaublihe anwuchs; und 
auch die kritiſchen Schriften des in feiner früheren Periode hochver⸗ 
dienten Mannes konnten fi feiner ſehr bedeutenden Einwirkung 
mehr erfreuen, feit Leſſing dem beutjchen Volke in Styl und Ge 
halt einen ganz anderen Mafftab bot. Die altdeutſche Literatur 
bedurfte alfo im beutfchen Geiftesleben noch anderer Vertreter, als 
der mehr und mehr in den Hintergrund geſchobenen Zürder. Sie 
fand dieſe auch unter ben zu ihrer Zeit angejehenften Dictern und 
Kritifern. Schon gegen Ende der vorigen Periode (1744) hatte 
Gellert den Fabeln des Bonerius ein warmes Lob geipenbet®). 
Als dann im 3. 1748 die Proben aus ber Parifer Handſchrift der 
mittelhochdeutſchen Lyriker erfienen, „war Hagedorn ganz von 
ihnen eingenommen“ 6). Er erlebte bie Herausgabe der ganzen 
Handſchrift (1758) nicht mehr. Aber an feine Stelle trat gewifler- 


1) In: Ealliope von Bobmern. Zweyter Band. Züri 1767. 6.307. 
— 2) Der Pareival ein Gedicht in Wolframs von Eschilbach Denck- 
art. Zyrich 1753. Wieder abgebrudt in ber Galliope, Mb. IL, (1767) 
©. 33 fg. — 8) Sammlung Gritifer u. ſ. w. Schriften, Gtüd 7 (1743) 
©. 53. 79. — 4) (Bobmer) die Grundfäge der deutſchen Sprache, Zürih 
1768, &. 20. — 5) ©. Geller's Differtation De poesi apologorum eorum- 
que scriptoribus, Lips. (1744), p.45. — 6) &. Sammlung von Minne- 
singern, Thl I, (1758) Vorr. 8. IV, I 





Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 269 


maßen Gleim, ber foldes Wohlgefallen an unfern alten Minne⸗ 
fingern fand, daß er ſich wiederholt (1773. 1779) an deren Nach- 
bildung verſuchte ). Man kann fih den Geſchmack diefer „horazi- 
ſchen Anafreontiter" an ben Lyritern bes 13. Jahrhunderts recht 
wohl erflären, obſchon man fih zu hüten bat, die Aehnlichkeit 
wiſchen beiden größer zu finden, als bie Verfchiebenheit. Aber fo 
beliebt auch Hagedorn und Gleim ®) eine Zeit Yang waren, fo 
wurden fie doch bald überflügelt durch bie begabteren Geifter un- 
ferer Literatur, und es fragt fi num, wie biefe fih zu unferem 
Alterthum ftellten. Wieland und Klopftod find beide durch die 
Ueberlieferungen unſeres Alterthums angezogen worben, aber im 
ſehr verjchiedener Weiſe. Bon Bobmer angeregt, beſchäftigt ſich 
Bieland ſchon fehr früh mit der Lyrik der Minnefinger®). Aber 
weit mehr noch ziehen ihn fpäter die erzählenden Dichtungen bes 
Mittelalters an. Als Micaeler Ihm Hartmann’s wein mittheilt, 
antwortet Wieland (16. Aug. 1777): „Ich bin ſehr der Meinung, 
daß diefer Bisher noch ganz unbelannte Schatz — ans Licht gezo⸗ 
gen und als eines ber Loftbarften Weberbleibfel der golbnen Zeit 
mfrer Sprache und Litteratur unter den ſchwäbiſchen Kaiſern öffent 
lich aufgeftellt. und gemeinnägig gemacht werben follte” 4). Die 
Ansgabe folle aber auch Gloffar, Erflärungen u. |. w. bringen. 
‚Mit einem Worte, ih wünſchte, daß unjerm Hartmann (dem 


1) Gedichte nach den Minnefingern. Berlin 1773. Gebichte nad Wal- 
ter von ber Vogelweide. 1779. (Goedeke, Grundriss 8. 581). — 2) Wir 
färeiben Hier nicht bie Geſchichte ber Einwirkung ber mittelhochdeutſchen Poefie 
auf die neuhochdeutſche, fonbern unterſuchen vielmehr, welche Förderung bie 
germanifhe Philologie durch die neuhochdeuiſchen Dichter erfahren Hat. Sonſt 
hätten wir nod eine Reihe von Erſcheinungen zu beſprechen, fo bie Einwirk- 
ung der mittelhochdeutſchen Lyriker auf Hölty. Bol. z. B. Hölty’s Gebichte 
der. von K. Halm Nr. 76, 3. 10 mit Walther v. der Vogelweide 46, 
19 (Lachm. 2 = 111, 17 Wack.) — 8) Schon vor 1758. Bel. Wie 
land's Leben von J. G. Gruber, in Wieland's Werken, Leipzig 1827, Wh. 50, 
6.131. — 4) Iwain — von Michaeler, Bd. I, Wien 1787, Vorbe 
richt 8. 26 fg. 


270 Zweites Bud. Wiertes Kapitel. 


meines Erachtens unter unfern altſchwäbiſchen Dictern eine ber 
erſten, wo nicht überall bie oberſte Stelle gebührt) eben bie Ehre 
angethan würde, bie mar den llaſſiſchen Autoren Griechenlands 
und Latiums zu erweiſen gewohnt ift“ 1). Zugleich fpridt Wie 
Iand feine Ueberzeugung aus, daß fowohl der “wein, als „alle 
wahren deutſchen Rittergedichte aus dem 13. und 14. Jahrhundert 
weber mehr, noch weniger als freie Ueberfegungen aus provenzali- 
fen und franzöſiſchen Dichtern find“ 2). Diefe franzöftfhen Diät: 
ungen waren es ja, denen auch Wieland Anregung und Stoff zu 
feinem berühmteften Werte, dem Oberon, verbankte, welcher um 
drei Jahre jünger (1780) als ver eben erwähnte Brief an Mi- 
chaeler bie mittelalterliche Romantik mit Meiſterſchaft in ein mo 
dernes Gewand Heidete. Durch Wieland angeregt, verſuchten auch 
Andere, die wunderbaren Erzählungen ber Vorzeit, wie fie fih 
theils in Büchern, theils in der mündlichen Ueberlieferung des 
Volles erhalten hatten, in bie Literatur einzuführen. Ich nenne 
nur ben bebeutendften biefer Verſuche, die in den Jahren 1782— 
86 erſchienenen „Boltsmährden der Deutſchen“ von Joh. Karl 
Auguft Mufäus (geb. zu Jena 1735, geft. als Profeſſor am 
Gymnaſium zu Weimar den 28. Oft. 1787). 

In einer ganz anderen Weife und von einer ganz amberen 
Seite als Wieland wurde Klopftod ber germaniſchen Philo⸗ 
logie förberlih. Begeiſtert für deutſches Vaterland und deutſche 
Sprache ſuchte er deren Ruhm in jeder Weiſe zu heben. Dahin 
zielen nicht nur feine Dichtungen, ſondern eben fo ſehr feine Profa- 
ſchriften. Im feinen Fragmenten über Sprade und Dichtkunſt 
(Hamburg 1779), in feinen Grammatiſchen Gefprächen (Altona 174), 
fo wie in mehreren feiner Vorreden und Abhandlungen beſtrebt er 
fi, die Vorzüge ber deutſchen Sprache in's Licht zu ſetzen, und es 
finden fih darin neben manden Wunderlichkeiten nicht wenige feine 
Bemerkungen über Sprahe und Diätkunft. Bon befonberer Be 
deutung aber wurde es, daß Klopftod ſich gerabe der frühften Per 
riode des deutſchen Altertfums mit Vorliebe zuwandte. Er tut 


1) &bend. S. 80. — 2) Ebend. ©. 28. 


Die getmaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 271 


dies freilich im einer Weife, in ber Irrthum und Wahrheit 
mnderih gemiſcht find. Die Berichte des Tacitus bilden den 
}ettel, Druiden, Barden und Offian den Einſchlag diefes ſeltſamen 
Gewebes. Denn „Offian war deutſcher Abkunft, weil er ein Kale- 
denier war” 1). Aber zugleich fühlte fi Klopftod angezogen duch 
die älteten Hefte der wirklich germaniſchen Poeſie. Ex beſchaftigt 
fh mit Eädmon, dem „größten Dichter nah Offian unter unjern 
Ülen“ 2). Er Lieft den Otfrid und freut fih feiner wohlflingenden 
ẽprache 3), ja in einem Briefe an Denis verfucht er fogar, ein 
par althochdeutſche Hexameter zu machen *). Bor allen aber zieht 
ifm fein großer Vorgänger auf dem Gebiet des chriſtlichen Epos, 
der altfäcgfifhe Heliand an. Er lernt ihn aus dem Bruchſtück in 
dides Theſaurus kennen, verſchafft ſich weitere Mittheilungen aus 
dem Coder Cottonianus zu London und hat die Abſicht, ihn „mit 
einer faft ganz wörtlichen Ueberfegung und mit kurzen, aber bebeu- 
tenden Anmerkungen” vollftändig herauszugeben 5). Daß Klopftod’s 
senntniß der alten Sprache zu einem ſolchen Unternehmen bei wei- 
tem nicht ausgereicht Haben würde, braucht nicht erft bemerkt zu wer- 
den. Es blieb Hei der bloßen Abſicht und deshalb ohne unmittelbare 
Birtung. Aber von tiefer greifendem Einfluß war Klopftod’s 
Himwendung zur altnordifhen Mythologie. Die deutſche Gelehr⸗ 
immfeit Hatte zwar bie nordiſche Götterlehre auch in ımferer 
Periode nicht aus dem Auge verloren. Gottfried Schüge 
(966. zu Wernigerode 1719, 1750 Rector des Paedagogiums zu 
Mona, 1762 Profeffor der griechiſchen Sprache und ber Geſchichte 


1) Rlopfod's Brief an Gleim d. 31. Juni 1769, in Rlopfiod®s ſprach⸗ 
Bf. u. äflhet. Schriften, ber. von Bad u. Spinbler, Bd. 6, ©. 240. — 
9) Ebend. — Bol. Ueber Sprache und Dichttunſt. Fragmente von Klopflod. 
Zweite Zortfegung, Hamburg 1780, ©. 48 fg. Bei Bad u. Spindler Bb.2, 
©. 215. — 3) Vom Syibenmaße, bei Bad und Spindler Bd. 8, S. 229. 
— 4) Briefe von und an Klopſtock, Her. von 3. M. Lappenberg, Braun: 
qweig 1867, ©. 164. — 5) ©. ben obigen Brief an Gleim ©. 241. — 
Kopfol’s Anführungen aus bem Heliand in den Fragmenten über Sprache 
mb Dichttunſt, Hamburg 1779, ©. 28 fg. Bei Bad unb Spinbler Bd. 3, 
6.105 fg. 


272 Zweites Buch. Viertes Kapitel, 


am Gymnaſium zu Hamburg, geft. den 2. Juli 1784) 1) hatte in 
feiner Abhandlung von den Freidentern unter den alten deutſchen 
und nordiihen Völkern (Leipzig 1748), in feinem Lehrbegrif ber 
alten deutſchen und nordiſchen Völker von dem Zuſtande der Selen 
nad; dem Tode überhaupt und von dem Himmel und der Hölle 
inshefonbre (Leipzig 1750) und anderen Schriften die Wichtigkeit 
der altnorbifhen Literatur gezeigt, auch zahlreihe Mittheilungen 
aus ben Edden in der Grundſprache und in lateiniſcher Ueber: 
fegung als Belege beigebradt. „Aber,“ fo Magt er, „die Deutſchen 
Alterthümer haben das unverſchuldete Unglüd gehabt, unter die ge: 
lehrten Calmeufereien gerechnet zu werben“ 2). Mehr Aufmerl⸗ 
famfeit erregte Mallet's 1755 zu Kopenhagen herausgegebene 
Introduction & P’histoire de Danemare nebſt dem dazır gehüris 
gen Supplöment: Monumens de la Mythologie et de la Po& 
sie des Celtes Et partieulitrement des Anciens Scandinaves 
(& Copenhague 1756). Beide erichienen im Jahr 1765 (m 
Roftod und. Greifswald) in deutſcher Ueberfegung 3). Hier wurde 
ein bedeutender Theil der jüngeren Edda mitgetheilt, der in Ber- 
Bindung mit Mallet's geiftvoller Cinleitung wohl geeignet wet, 
die Augen der Gebildeten auf fih zu ziehen. Aber Beachtung in 
weiteren Kreifen fand die altnordiſche Götterlehre in Deutihland 
erſt, nachdem die Dichter fih ihrer bemächtigten. Den Anfang 
machte 9. W. von Gerftenberg mit feinem im Jahr 1766 *) 
(anonym) erſchienenen „Gedicht eines Stalden,” und gleich nach 
ihm begann NKlopfto die altnordiſche Mythologie ftatt der grie⸗ 
chiſch⸗römiſchen in feine Oben einzuführen 6). Ueber die aeſthetiſche 


1) Meusel, Lexicon XII, 510. — 2) ehrbegrif ber alten Da 
hen von bem Zuftande der Selen u. f. f., 1750, ©. 52. — 3) Ju: hm 
Prof. Mallers Geſchichte von Dänemart, Aus bem Franzbfiſchen überkett 
Mit einer Vorrede Hrn. Gottfried Schützens. Erſter Teil. — N 
Kopenhagen, Obenfee und Leipzig. Cin Gremplar ber Erften Ausg. finkt 
fich auf der Bibl. zu Göttingen. Wieder abgebrudt in Gerflenberg’s Be 
miſchten Schriften, ®b. II, Altona 1815, ©. 87 fg. unter dem Litel: „Der 
Stalde.” — 5) Vgl. Klopſtod's Brief an Gleim vom 1. März 1766 über 
feinen Verkehr mit Gerſteuberg, bei Bad und Spindler Bd. 6, S. 327, m 


Die germemiſche Philologie in Deutfeland von 1748 Bis 1797. 278 


Geite der Sache haben wir Hier fein Urtheil abzugeben; aber für 
die Verbreitung nordiſch⸗ mythologiſcher Kenntniſſe blieb felbft das 
felfame Bardenweſen, das Klopſtocks Beiſpiel hervorrief, nicht. 
ganz erfolglos. Michael Denis gibt in dem Liedern Sined's des 
Barden (Wien 1772) eine Ueberjegung der Völuſpa und ber 
degtamsquidha aus dem Lateiniſchen 1). Aber viel wichtiger als 
das mißverftandene Barbenthum war bie Wedung bes deutſchen 
Sinns durch Klopftod. Aus dem Kreife feiner Verehrer gieng die 
deitſchrift hervor, die in den Jahren 1776 bis 1788 der Sammels 
punkt für die Freunde der älteren deutſchen Poeſie wurde: das von 
Boie geleitete Deutſche Mufeum. 

Wenn Leffing fih au niemals mit Fragen unfrer Wiffen- 
ſchaft beſchäftigt Hätte, fo würde fein Name dennod in einer Ger 
ſchichte der germaniſchen Philologie eine achtunggebietende Stelle 
änmehmen. Seine großartig befreiende Thätigkeit, feine ſiegreiche 
Velmpfung des frangöfiihen Geſchmacs, feine bahnbrechende Ver⸗ 
hertlichung Shafefpeare'3 Bereiteten den Boden für unfere Wiffen- 
ſchaft. Wir dürfen Hier micht näher eingehen auf biefe großen 
Seiten von Leſſing's Thätigfeit, fondern müſſen uns begnügen, 
mit wenigen Worten feine Beichäftigung mit Gegenftänden der 
deutigen Philologie zu ſchildern. Aber auch Hier wird uns eine 
der fhönften Seiten des feltenen Mannes entgegentreten, nämlich 
das gewiſſenhafte Streben, alles, was er ergreift, treu und gründ⸗ 
lich zu treiben. Er wenbet feine Aufmerkamteit ſowohl ber alt- 
deutſchen Literatur, als ber älteren deutſchen Sprache zu. Gleim's 
Ariegslieder veranlafjen ihn (1758), fih nad; den alten Kriegs⸗ 
liedern „der Barden und Stalden“ umzufehen. „Der alten Sieges- 
lieber wegen“, ſchreibt er an Gleim?), „habe ich fogar das alte Helben- 
buch durchgeleſen, und diefe Lectüre Hat mich hernach weiter auf bie 


über die Einführung der altnorbifgen Mythologie in feine Gebichte |. Klop⸗ 

Rs Brief an Gleim vom 19. Dec. 1767, ebend. ©. 234, und gegen bie 

gichiicgen Götter in Gleim’s Gebichten, ben 15. April 1771, eb. S. 258. 
1) Bol. dort ©. 5. — 2) Den 6. Fehr. 1758, Leſſing's Schriften 


Radnann) 8b. 12, ©. 107. 
Raumer, Geſq. der germ. Philologie. 18 


274 | Zweites Bud. Viertes Kapitel. 


zwey fo genannten Heldengedichte aus dem Schwäbiſchen Jahrhun⸗ 
derte 1) gebracht, welde bie Schweizer jet herausgegeben haben.“ 
So wurde fon gleich nach deſſen erſtem noch unvollftändigem Ab⸗ 
drud unfer größtes deutſches Heldengebit von umjerem größten 
deutſchen Kritiker gelefen. Ex lieft es mit gemohnter Aufmerhſam⸗ 
keit, jo daß ihm die „unverantwortligen Fehler“ 2) der Schweiger 
nicht entgehen. Auch das Heldenbuch Kat er wirklich ganz durd- 
gearbeitet, wie ſich aus einer Abhandlung ergibt, die ſich unter ſei⸗ 
nem handſchriftlichen Nachlaß vorfand ). Leffing ift nicht ohne 
Empfindung für „die natve Sprache, die urfprünglich deutſche Den- 
fungsart” der „Barden aus dem ſchwäbiſchen Beitalter“ 4), abet 
eigentlih angezogen haben ihn diefe Dichtungen nicht. „Der ein 
ige Vortheil, den ich davon wegbringen werde“, ſchreibt er an Men⸗ 
delsſohn d), „ift diefer, daß ich das alte ſchwäbiſche Deutſch gelemt 
habe, und die Gedichte darinn, welche die Schweiger ans Litht 
bringen, mit vieler Leichtigkeit nunmehr leſe.“ Leſſing's Neigung 
richtet ſich vielmehr auf die lehrhafte Dichtung bes deutſchen Alterthums 
„Ueber die ſogenannten Fabeln aus den Zeiten der Minneſinger, 
welde die Schweizer im Jahr 1757 Herausgegeben hatten 9), 
theilt er 1773 die Entbedung mit, daß biefelben fon 1461 zu 
Bamberg gedrudt worden waren ?), und in einer zweiten Abhand⸗ 
lung erweift er (1780) Bonerius als den deutſchen Verfaſſer dieſer 
Fabeln ®), indem er zugleih gründliche Unterfugungen über die 
lateiniſchen Quellen desſelben anftellt*). Auch das entgeht ihm nidt, 
daß Bonerius jünger ſei als der Renner des Hugo von Trimberg"), 


1) ©. i. »Chriemhilden Rache und die Klage; zwey Heldenge 
dichte aus dem schwaebischen Zeitpunote — Zyrich 1757. S. 0 
©. 258. — 2) Leſſing's Werke 12, 108. 116, Uebrigens erkennt Leſſing 
bie Verdienfte der Schweiger um die Herausgabe ber alideutſchen Dich 
tungen ſpäterhin volltommen an. ©. Leſſiug's Werke 9, 5. — 3) Leffing’® 
Werke 11, 30-43. Bgl, bei. ©. 31, $.3. — 4) Leſſing's Worberiät 
zu Gleim's Grenadierliedern 1758. In Leſſing's Werten 5, 103. — 
5) 2. April 1758. Wie. 12, 116. — 6) 6.0.6.28. — 7) Bi 
9,7.— 8) Wie 10, 335. — 9) Ebend. 10, 352 fg. — 10) Ebend. 
10, 356 fg. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 275 


wern er ihn gleich mit Unrecht erft an bas Ende bes 14. Jahr⸗ 
hunderts jet 1). Vom Menner, den er jehr ſchätzte, hatte er 
eine Ausgabe vorbereitet 2). Wie zu dieſen Arbeiten, fo lie 
ferte ihm feine Stellung an der Wolfenbüttler Bibliothek auch 
zu einem anderen Unternehmen ben Stoff. Er gedachte nämlich, 
unter dem Titel: „Altdeutſcher Wig und Verſtand“ eine Samm- 
lung von Sprigwörtern, Apophthegmen und Denkverfen altdeut⸗ 
iger Schriftfteller zu veranftalten, und in feinem Nachlaß fand fi 
in vortreffliher Anfang diefes Unternehmens ?). Es waren vor⸗ 
züglich die letzten Jahrhunderte bes Mittelalters und die erften 
der neueren Beit, die Leffing durch ihre überwiegende Verftandes- 
ſchärfe umd ihren gefunden Mutterwig anzogen. So finbet ſich 
unter feinem Nachlaß eine reichhaltige literariide Sammlung „Zur 
Geſchichte der deutſchen Sprache und Literatur von den Minnefän- 
gern bis auf Luthern. Größtentheils aus Handſchriften der Her- 
zoglichen Bibliothek. Angefangen den 1. Aug. 1777“ 4). Und 
ſchon 1759, bald nad Beginn feiner Laufbahn, Hatte er einen 
Dichter des 17. Jahrhunderts: Friedrich von Logan, in Gemein- 
ſchaft mit Ramler herausgegeben und ihn mit einem Wörterbuch 
nebſt einem „Vorberiht von ber Sprache bes Logau“ ©) verfehen. 
Es ift ihm dabei nicht bloß um die Erklärung des Dichters, fon- 
dern vorzügli auch darum zu thun, die „guten, braudbaren 
Wörter,“ welche die Schriftiteller des 18. Jahrhunderts haben ver- 
alten lafjen, den Rednern und Dichtern feiner Zeit zu einer ver⸗ 
fändigen Wiedereinführung zu empfehlen ©). Denn wie fi Leffing 
gleich im Beginn auf bie Seite Heinze's gegen Gottſched ftellt 7), 
fo zeigen die „Anmerkungen über Abelungs Wörterbuch der Hoch⸗ 


1) Ebend. 10, 360. — 2) An Herber 10. Jan. 1779, Wie. 12, 
521. — 3) Zuerft veröffentlicht durch Fulleborn in Leffing’s‘ Leben von R. 
©. Leſſing, Thl. 3, Berlin 1795, ©. 220 fg. Bol. Fülleborn’s Anın. chend. 
Bor. S. XVI und Eſchenburg im Fünften Beytrag, Zur Gef. und Litter. 
ww. Braunſchweig 1781, ©. 185. — 4) Leſſing's Wie. 11, 468. — 
5) &effing’s Wie 5, 297. Bol. den 43. unb 44, Litferaturbrief, in Leffing’s 
Bien. 6, 112 fg. — 6) Ebend 5, 298 fg. — 7) Briefe, die neuefte 
Liuttatut betrefiend, Göfter, in Leſſing's Wien. 6, 177. ©. o. ©. 209. 

18* 


276 Zweites Buch. Viertes Kapitel. 


deutſchen Mundart,” die fi in feinem Nachlaß fanden, daß er, bei 
aller kritiſchen Strenge am reiten Ort, eine freiere Anficht von 
der deuten Sprache Hatte, als jene Grammatiler. Ueberhaupt 
ſehen wir in faft überall für das Echte und Tüchtige Partei nef- 
men. Selbſt für das Volkslied, das ſcheinbar feiner eigenen Art 
und Weife fo fern liegt, gewinnt er früh den richtigen Geſichts⸗ 
punkt. Bei Erwähnung eines Iappländifcen Liedes in ben Litere- 
turbriefen (1759) fagt er: „Sie würden au daraus lernen, daß 
- unter jedem Himmelsſtriche Dichter geboren werben, und daß leb⸗ 
bafte Empfindungen fein Vorrecht gefitteter Völfer find.” Und 
zum Beweis deſſen theilt er dann einige litauiſche „Daimos oder 
Liederchen“ mit, die ihm zu dem Ausruf veranlaffen: „Welch ein 
naiver Wig! Welche reizende Einfalt!“ 1). 

So fehr nun aber Leffing dur feinen unübertroffenen Ber: 
ftand und feine gefunde Natur auf bie richtigen Wege geleitet 
wurde, fo ſollte doc der tieferen Auffaffung der Poeſie umd der 
Sprache noch von einer ganz anberen Seite her bie Bahn ge 
brochen werben. Es waren bie epochemachenden Anfichten Ha 
manns und Herder's, die aud auf die Entwidlung der germanis 
ſchen Philologie den größten Einfluß geübt haben. Wir können hier 
weber den Nachweis liefern, inwiefern ſich bie Samenlörner zu 
manden epochemachenden Herder'ſchen Werten fon bei Hamann 
finden, noch bürfen wir erörtern, wieſo Herder trotz dieſer Ein 
flüffe ein felöftändiger, in Natur und Anfihten von Hamann wer 
ſentlich verſchiedener Geift war. In einer Geſchichte der germanis 
fen Philologie müſſen wir uns begnügen, auf bie tiefen An 
regungen hinzubeuten, bie von Hamann ausgiengen; wie er die 
Unmittelbarteit an bie Stelle der Reflexion fegt und ber Phantafie 
und ber Leidenſchaft in Sprade und Poefte ihr Recht verſchafft 
Wo e8 fi aber um eine unmittelbare und umfafjende Einwirkung 
auf die Wiſſenſchaft der germaniſchen Philologie Handelt, ba haben 
wir uns vorzugäweife an Herder zu Halten. Gleich in feiner 
erften epochemachenden Schrift, in den Fragmenten über bie neuere 


1) £effing’s Wee. 6, 75. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 277 


beutfhe Literatur (1767) bricht der Geift mächtig hervor, durch 
melgen Herber auf die deutſche Literatur und Wifjenfchaft eine 
umergänglie Einwirkung gewinnen follte. Aus der Stubenluft 
eines verfünftelten Zeitalters führt er den Leſer in bie freie Natur 
und lehrt ihn ftakt einer bloß papierenen, mit Schere und Kleiſter 
gemachten Poeſie die wahrhaft naturwüchſige und urſprüngliche ken⸗ 
nen. Nicht mit allgemeinen, aus einigen wenigen Proben abstra- 
hierten Negeln Haben wir an die Poefie zu gehen, fondern wir 
müſſen ums in bie verſchiedenen Völker und die Perioden ihrer 
geiftigen Entwicklung verſenken, um ihre Dichtung zu verftehen. 
‚Der Genius der Sprache ift aud ber Genius von der Litteratur 
einer Nation” 1). Die Sprache aber Kat ihre verſchiedenen Alter, 
fo wie ber einzelne Menſch. „Eine Sprache in ihrer Kindheit 
bricht, wie ein Kind, einſylbichte, rauhe und hohe Töne hervor” 2). 
„Das Kind erhob fih zum Jünglinge.“ — „Und diefes jugendliche 
Sprachalter war Bloß das poetiſche; man fang im gemeinen Leben, 
md der Dichter erhöhete nur feine Accente in einem für das Ohr 
gewählten Rhythmus; die Sprade war finnlih, und reich an füh- 
nen Bildern, fie war noch ein Ausdruck der Leidenſchaft.“ „Die 
befte Blüthe der Jugend in der Sprache war bie Zeit der Dichter; 
jegt fangen die wosdos und garpedos” ®). Der Jüngling wird 
sum Manne. „Eine Sprache in ihrem männlichen Alter ift nit 
tigentlich mehr Poeſie, fondern die ſchöne Proſe“ 4). „Das hohe 
Alter (endlich) weiß ftatt Schönheit bloß von Nichtigkeit“ 5). „Die 
Grammatik und das Vernünfteln über die Sprache Hat den Meid« 
thum gefwädt”). „Ein Frauenzimmer, das gut, nicht aber ger 
lehrt, erzogen ift, wird über Dinge, die in ihrer Sphäre find, mit 
einer Gelãufigkeit, ungefünftelten Beftimmtheit und naiven Schön« 
keit ſprechen, daß fie gefällt“ ). „Ein Originalfgriftfteller im 
hohen Sinne ber Alten, ift, wenige Beifpiele ausgenommen, bes 


1) (Herber) Ueber die neuere Deutſche Litteratur. Erſte Sammlung von 
Fragmenten. 1767. ©. 20. — 2) Ebenb. ©. 28. — 3) Ebend. 6.30 fg. 
— 4) Ebend. S. 81. — 5) Ebenb. 6. 33. — 6) Eben. ©. 59. — 
N) &end. Dritte Sammlung, 1767, ©. 58, 





278 Zweites Bud. Vierte Kapitel. 


ftändig ein Nationalautor. Ein Mann, deſſen Seele, von Ge 
danken ſchwanger, zu gebären vinget, benfet nie darauf, wie ein 
aefthetiicher Regelnſchmid einft an ihm figen wird, um Beifpiele 
des Ausbruds zu feinen Schulgefegen auszuflauben, und es wird 
ihm alfo unmöglich, den Ausdrud abgefondert vom Gedanken zu 
behandeln, zu orbnen, zu wählen. Cr bildet fi) das Ganze des 
Gedankens in feinem Geiſte; — das Bild ſchaffet fi in feinem 
Kopf und tritt, vollſiändig an Gliedmaßen und gefund an Farbe, 
mit glänzenden Waffen gerüftet hervor und wird Ausdruck.“ „Die 
Groß⸗ und Kleinmeifter der Schreibart" mögen ihn dann „nah 
allen Regeln der Grammatik hochmüthig verdammen“ oder ‚nad 
alfen Privilegien der Poetik und Rhetorik großmüthig losſprechen;“ 
er fragt nichts danach. „Er dachte, und ber Gedanke formte den 
Ausdrud; mit diefem hadert! Jura negat sibi data“ 1). 

Was Herder in feiner eriten größeren Schrift fragmentariih 
ausſpricht, bildet er dann in ben folgenden Jahren immer tiefer 
und umfafjender aus. In der „Abhandlung über den Urfprung 
der Sprache, welde den von ber Königl. Academie der Willen 
ſchaften für das Jahr 1770 geſezten Preis erhalten hat“, Berlin 

«1772, ift es nicht fowohl die Zurüdweifung des göttlichen Urfprungs 
der Sprade, als vielmehr die Art, wie Herder ben menſchlichen 
erweift, was für bie germanifche Philologie von unberechenbarem 
Einfluß geworden ift. „Poefte ift älter gewefen, als Profa. Denn 
was war die erfte Sprade, al eine Sammlung von Glementen 
der Poefie?“ 3). „Ein Wörterbuch der Seele, was zugleih My 
thologie und eine wunderbare Epopee von den Handlungen und 
Neben aller Wefen iſt! Alfo eine beftändige Fabeldichtung mit 
Leidenſchaft und Intereſſel Was ift Poeſie anders?“ ). „Indem 
die ganze Natur tönt, ſo iſt einem ſinnlichen Menſchen nichts na⸗ 
türlicher, als daß ſie lebt, ſie ſpricht, ſie Hanbelt.“ n Bei den 





1) Ebend. Dritte Samml. 1767, ©. 81. (Lies nata). Ich mahe 
vorläufig“auf bie nahe Verwandiſchaft diejer Anfichten mit denen J. Grimm’s 
aufmerffam. — 2) Herder, Ueber ben Urfprung ber Sprade, Berlin 1772, 
©. 87. — 3) Ebend. ©. 87 fg. 


Die germanifihe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 279 


Wilden von Nordamerika, 3. B. ift noch Alles belebt, jede Sache 
hat ihren Genius, ihren Geift; und daß es bei Griechen und Mor⸗ 
genländern eben fo geweſen, zeugt ihr Alteftes Wörterbud und 
Grammatit — fie find, wie die ganze Natur dem Erfinder war, 
ein Pantheon! ein Reich belebter, Handelnder Weſen“ !)I „Nicht 
mit der einzigen kalten Wftraftionsgabe der Philofophen läßt 
fi je Sprade erfinden." Sondern „je minder bie Seelen» 
föfte mod) entwidelt und jede zu einer eignen Sphäre abge» 
rüßtet ift, deſto ftärfer wirken alle zufammen, deſto inniger _ 
it der Mittelpunkt ihrer Intenſität.“ So „gebar fih Sprade 
mit der ganzen Entwidlung der menfchlichen Kräfte 2), „Es 
iſt für mich unbegreiflih, wie unfer Jahrhundert fo tief in bie 
Schatten, in die dunkeln Werkftätten des Kunftmäßigen fi ver- 
lieren Tann, ohne auch nicht einmal das weite, helle Licht der un. 
eingelerlerten Natur erkennen zu wollen. Aus den größeften Hel⸗ 
denthaten des menſchlichen Geiftes, die er nur im Zufammenftoß 
der lebendigen Welt thun und äußern Tonnte, find Schulübungen 
im Staube unfrer Lehrkerfer; aus ben Meifterftüden menſchlicher 
Dihtkunft und Beredſamkeit Kindereien geworden, an welchen greife 
Rinder und junge Kinder Phrafes lernen und Regeln Hauben“ 8). 
Bie hier nach der Seite der Sprade, fo entwidelte Herder im 
darauf folgenden Jahr feine Gebanten in Bezug auf die Boefte 
weiter in feinem „Auszug aus einem Briefwechſel über Offian und 
die Lieder alter Völker“, den er in ber Schrift: „Von Deuticher 
Art und Kunſt. Einige fliegende Blätter, Hamburg 1773,“ ver- 
ffentlichte. „Sie wiffen aus Reiſebeſchreibungen“, fagt er hier, „wie 
ftart und feft fih immer die Wilden ausbräden. Immer bie 
Sage, die fie fagen wollen, ſinnlich, Mar, lebendig anſchauend; 
den Zwedt, zu bem fie reden, unmittelbar und genau fühlend; nicht 
durch Schattenbegriffe, Halbideen und ſymboliſchen Letternverftand 
von dem fie in keinem Worte ihrer Sprade, da fie faft feine 
abstraota haben, wiflen) durch alfe dies nicht zeritreuet, noch min- 
der durch Kunſteleien, ſtlaviſche Erwartungen, furchtſamſchleichende 


ij @bend. S. 82 ig. — 2) Gbend. S. 167 5. — 3) 168 fg 


278 Zweites Bud. BViertes Kapitel. ” 


ftändig ein Nationalautor. Ein Mann, beffen Seele, von Ge 
danken ſchwanger, zu gebären vinget, denket mie darauf, wie ein 
aefthetifcher Regelnſchmid einft an ihm figen wird, um Beifpiele 
des Ausdruds zu feinen Scähulgefegen auszuflauben, und es wird 
ihm alfo unmöglih, ben Ausbrud abgefondert vom Gedanken zu 
behandeln, zu orbnen, zu wählen. Er bildet fi das Ganze bes 
Gebantens in feinem Geiſte; — das Bild ſchaffet ſich in feinem 
Kopf und tritt, vollſiändig an Gliedmaßen und gefund an Farbe, 
mit glänzenden Waffen gerüftet hervor und wird Ausdruck.“ „Die 
Groß⸗ und Kleinmeiſter der Schreibart” mögen ihn dann „nad 
alfen Regeln ber Grammatik hochmüthig verdammen” ober „nad 
alfen Privilegien der Poetik und Rhetorik großmüthig Losfpreden;" 
er fragt nichts danach. „Er dachte, und der Gedanke formte ben 
Ausbrud; mit diefem hadert! Jura negat sibi data“ 1). 

Was Herder in feiner eriten größeren Schrift fragmentarifh 
ausfprict, bildet er dann im ben folgenden Jahren immer tiefer 
und umfaffender aus. In der „Abhandlung über den Urfprung 
der Sprade, welde den von der Königl. Academie der Wiſſen⸗ 
ſchaften für das Jahr 1770 gefezten Preis erhalten hat“, Berlin 
«1772, ift es nicht fomohl die Zurüdweifung des göttlihen Urſprungs 
der Sprade, als vielmehr die Art, wie Herder den menfhligen 
erweift, was für bie germanifche Philologie von unberedienbarem 
Einfluß geworden ift. „Poefte ift älter gemefen, als Proſa. Denn 
was war die erfte Sprade, als eine Sammlung von Glementen 
der Poeſie?“ 2). „Ein Wörterbud) ber Seele, was zugleig My 
thologie umd eine wunderbare Epopee von den Handlungen und 
Reden aller Wefen ift! Alſo eine beftändige Fabeldichtung mit 
Leidenſchaft und Interefjel Was ift Poeſie anders?“ ). „Indem 
die ganze Natur tönt, fo ift einem finmlichen Menden nichts na 
türliher, als daß fie Iebt, fie fpridt, fie Hanbelt.* „Bei den 


1) Ebend. Dritte Samml. 1767, S. 81. (ie mata). JG mat 
vorläufig auf die nahe Verwandiſchaſt biefer Anfihten mit denen J. Grimm’ 
aufmerffam. — 2) Herber, Ueber ben Urfprung ber Sprache, Berlin 1778, 
©. 87. — 3) Ebenb. ©. 87 fg. 





Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 279 


Wilden von Nordamerika, 3. B. ift nod Alles belebt, jede Sache 
hat ifren Genius, ihren Geift; und baß es bei riechen und Mor⸗ 
genlänbern eben fo geweien, zeugt ihr älteftes Wörterbuch und 
Grammatit — fie find, wie die ganze Natur dem Erfinder war, 
ein Pantheon! ein Weich belebter, Handelnder Weſen“ )1 „Nicht 
mit der einzigen falten Mbftraftionsgabe der Philofophen läßt 
ſich je Sprade erfinden.” Sondern „je minder die Seelen- 
föfte noch entwielt und jede zu einer eignen Sphäre abge 
richtet iſt, deſto ftärter wirten alle zufammen, deſto inniger _ 
iſt der Mittelpunkt ihrer Intenſität.“ So „gebar fih Sprache 
mit der ganzen Entwidlung der menſchlichen Kräfte" 2), „ES 
iſt für mich umbegreiflih, wie unfer Jahrhundert fo tief in die 
Schatten, in die dunkeln Werkftätten des Kunftmäßigen fi ver- 
lieren kann, ohne auch nicht einmal das weite, helle Licht der un« 
eingelerlerten Natur erkennen zu, wollen. Aus ben größeften Hel⸗ 
denthaten des menſchlichen Geiftes, die er nur im Zuſammenſtoß 
der lebendigen Welt thun und äußern konnte, find Schulübungen 
im Staube unfrer Lehrkerfer; aus den Meifterftüden menſchlicher 
Dihtkunft und Beredſamkeit Kindereien geworden, an welden greife 
Kinder und junge Kinder Phrafes lernen und Regeln Hauben“ 3). 
Wie hier nad der Seite der Sprade, fo entwidelte Herder im 
darauf folgenden Jahr feine Gedanken in Bezug auf die Boefie 
weiter in feinem „Auszug aus einem Briefwechſel über Offian und 
die Lieder alter Völker“, den er in der Schrift: „Bon Deutſcher 
Art und Kunft. Einige fliegende Blätter, Hamburg 1773,“ ver- 
öffentlichte. „Sie wiflen aus Reiſebeſchreibungen“, fagt er hier, „wie 
flart und feft fih immer die Wilden ausbrüden. Immer die 
Sage, die fie fagen wollen, ſinnlich, Mar, lebendig anſchauend; 
den Zweck, zu bem fie reden, unmittelbar und genau fühlend; nicht 
durch Schattenbegrifie, Halbideen und ſymboliſchen Letternverftand 
(von dem fie in feinem Worte ihrer Sprade, da fie faft feine 
abetracta haben, wiffen) durch alfe dies nicht zerftreuet, nod min» 
der durch Künfteleien, ſtlaviſche Erwartungen, furchtſamſchleichende 





1) Ebend. ©. 82 fg. — 2) Ebend. ©. 167 fg. — 3) 168 fg. 


280 Zweites Bud. Vieries Kapitel, 


Bolitit und verwirrende Praemeditation verborben, über alle biefe 
Schwãchungen des Geiftes feligunwiffend, erfaflen fie dem ganzen 
Gedanken mit dem ganzen Worte, und dies mit jenem. Sie ſchwei⸗ 
gen entweber, oder veden im Moment des Intereſſe mit einer un 
vorbedachten Feſtigkeit, Sicherheit und Schönheit, die alle wohl- 
ſtudierte Europäer allezgeit haben bewundern müffen, und müſſen 
bleiben laſſen. Unfere Pebanten, die Alles vorher zuſammenſtop⸗ 
peln und auswendig lernen müffen, um alsdenn recht methodiſch 
zu ſtammeln, — biefe gelehrte Leute, was wären bie gegen bie 
Wilden? Wer no bei und Spuren von diefer Feftigfeit finden 
will, der ſuche fie ja nicht bei ſolchen; unverdorbne Kinder, Frauen 
zimmer, Leute von gutem Natırverftande, mehr durch Thätigkeit, 
als Speculation gebildet, die find, wenn das, was id anführete, 
Berebfamteit ift, alsdenn die einzigen und beften Redner unver 
Beit. In der alten Zeit aber waren es Dichter, Stalden, Gelehrte, 
bie eben dieſe Sicherheit und Feſtigkeit des Ausbruds am meiften 
mit Würde, mit Wohlflang, mit Schönheit zu paaren wußten; 
und da fie alfo Seele und Mund in den feften Bund gebracht hat- 
ten, ſich einander nicht zu verwirren, fondern zu umterftügen, bei⸗ 
zubelfen, jo entftanben daher jene für uns halbe Wunderwerle von 
aoıdoss, Sängern, Barden, Mirftrels, wie die größten Dichter 
der älteften Zeit waren. Homer’ Rhapfodien und Oſſian's Lieber 
waren gleihfam impromptus, weil man damals nod von nichts 
als impromptus der Rede wußte; dem Iektern find die Minftrels, 
wiewohl fo ſchwach umd entfernt, gefolgt; indeſſen doch gefolgt, bis 
endlich die Kunft kam und die Natur auslöſchte“ i). Dieſe Anfid- 
ten begründet Herder durch Beifpiele, darunter aus ber älteren 
Edda die Vegtamsquidha?) und „Der Webegefang der Balkyrür") 
aus der Njalsſaga. Nah Mittheilung einer ſchottiſchen Ro 
manze fährt er fort: „Sie glauben, daß auch wir Deutfchen wohl 
mehr ſolche Gedichte Hätten, als id mit ber ſchottiſchen Romanze 
angeführet; ich glaube nit allein, fonbern id weiß es. In mehr 
als einer Provinz find mir Vollslieder, Provinziallieder, Bauer⸗ 

1) Bon Deutfer Art und Kunft, Hamburg 1773, ©. 39 1 — 
2) Ebend. ©. 32. — 3) Ebend. ©. 36. 


Die germanifce Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 281 


fiber belannt, bie am Lebhaftigfeit und Rhythmus, und Naivetät 
und Stärle der Sprache vielen berfelben gewiß nichts nachgeben 
würden; nur wer ift, ber fie fammle? der fi um fie befümntre? 
ſih um Lieber des Volls bekümmre?“ 1). Wenige Jahre nachher 
iehen wir Herder felöft der Erfüllung feines Wunſches nahe. Die 
gehaltteiche Abhandlung „Bon Aehnlichleit der mittlern engliſchen 
und deutſchen Dichtkunſt,“ die er im Jahrgang 1777 des Deutſchen 
Muſeums veröffentlicht, ift zugleich eine Ankündigung feiner dem⸗ 
nädft erſcheinenden Vollslieder. Ausgehend von ber Berwandtichaft 
der Angelfachfen und ber Deutſchen weiſt er die große Aehnlichfeit 
der alten engliſchen und deutſchen Dichtung nad) und dringt darauf, 
deß wir ung mit Ernſt und Eifer auf die Erforſchung ber altdeut⸗ 
fen Dichtkunſt werfen follen. „Goldaſt, Schilter, Schatz ?), Opitz, 
Gtord Haben treffliche Fußſtapfen gelafien; Freher's Manufcripte 
find zerftreuet; einige reiche Bibliothefen zerftrenet und geplündert; 
wenn ſanunlen ſich einft die Schäge diefer Art zufammen, und wo 
arbeitet dev Mann, der Jüngling vielleicht im Stillen, die Göttin 
unfres Vaterlands damit zu ſchmücken und alfo barzuftellen dem 
Sol" ?3). Ein folder müßte die reiche geſchriebene Dichtung bes 
dentſchen Altertfums auf ben europäif—hen Bibliothelen durchforſchen. 
‚Nittergeift ber mittlern Zeiten, in welchem Palafte würdeſt bu 
meben!" Aber „auch die gemeinen Vollsſagen, Märden und My— 
thologie gehören hieher. Sie find gewiffermaßen Nefultate des 
Bollsglaubens, feiner finnlichen Anfhauung, Kräfte und Triebe, 
wo man träumt, weil man nicht weiß, glaubt, weil man nicht 
fießet, umd mit der ganzen, umzertheilten und ungebilveten Seele 
mwirtet: alfo ein großer Gegenftand für den Geſchichtſchreiber der 
Menſchheit, den Poeten und Poctiler und Philofopfen. Sagen 
Einer Art Haben ſich mit den nordiſchen Völkern über viel Länder 
und Zeiten ergofien, jeden Orts aber und in jeber Zeit ſich anders 
geftaltet; wie trifft das nun auf Deutſchland? Wo find bie allge 
meinften und ſonderbarſten Vollsſagen entfprungen? wie gewanbert? 


1) Ebenb. ©. 51. — 2) Scherz? — 3) Deutſches Mufeum, Bd. 2, 
Fi bis Der. 1777, Leipgig, ©. 428. 


282 Zweites Buch. Vierles Kapitel. 


wie verbreitet und getheilet? Deutſchland überhaupt und einzelne 
Provinzen Deutfhlands haben hierin die fonderbarften Aehnlichkei⸗ 
ten und Abweichungen: Provinzen, wo nod ber ganze Geiſt der 
Edda von Unholden, Zauberern, Rieſenweibern, Vallyriur ſelbſt 
dem Ton der Erzählung nach voll iſt; andre Provinzen, wo ſchon 
mildere Märchen, faſt Ovidiſche Verwandlungen, ſanfte Abenteuer 
und Feinheit der Einkleivung herrſchet. Die alte wendiſche, ſchwä⸗ 
biſche, ſächſiſche, Holfteinife Mythologie, ſofern fie noch in Vollz⸗ 
ſagen und Vollsliedern lebt, mit Treue aufgenommen, mit Helle 
angeſchaut, mit Fruchtbarkeit bearbeitet, wäre wahrlich eine Fund⸗ 
grube für den Dichter und Redner feines Volls, für den Sitten⸗ 
bilder und Philofophen“ 1). Aber vor allem iſt's nöthig, bie ein- 
fachen Lieder des deuten Volles zu fammeln, wie Ramfay und 
Percy dies in Schottland und England gethan Haben 2). Aber 
nicht bloß unfre eignen Lieber follten wir Deutſche jammeln, fon 
dern au die ber anderen Völker. Denn nichts läßt uns fo tief 
in den Geift der Völker bliden®). Was Herder hier fordert, das 
fucht er unmittelbar darauf zu verwirklichen burd feine „Boltslie 
der. Erſter Theil. Leipzig 1778." Zweiter Theil 1779. Seit 
Herder's erſtem Auftreten hatten feine Anfihten über Poefte, Bolls- 
lied u. f. f. gewaltigen Lärm veranlaßt und neben manchem Beſſeren 
aud vieles Verfehrte zu Tage gefördert. Zum Bedeutendſten ge 
börte, was Bürger unter ber Meberfrift „Aus Daniel Wunder 
lichs Buch“ als einen „Herzensausguß über Volks Poeſie“ im 
Jahrgang 1776 des Deutſchen Muſeums veröffentlichte 4). Diefer 
begeifterte Aufſatz Burger's veranlafte Friedrich Nicolai zur 
Herausgabe feines: „Eyn feyner Heyner Almanach vol ſchönert 
echterr liblicherr Volkslieder, Tuftigerr Reyen vnndt kleglicherr Mord- 
geſchichte, geſungen von Gabriel Wunderlich weyl. Benkelſengernn 
tzu Deſſaw, Herausgegeben von Daniel Seuberlich, Schuſternn 
tzu Ritzmück ann der Elbe. Berlynn und Stettynn 1777.“ „Zweyter 


1) Ebenb. ©. 424 fg. — 2) Ebend. ©. 426 fg. — 8) Eben 
©. 432 ig. — 4) Deutſches Mufeum, Erſter Band, Jänner bie Zunius 
1776 ©. 443 fg. 


Die germanifche Philologie in Deutfhland von 1748 bis 1797. 288 


Jargang“ 1778. Der ſchale Spott hatte die Wirkung, die 
Borzüge des einfachen volfsthümlichen Liedes nur noch glänzender 
as Licht zu ftellen und zugleich durch die Veröffentlihung ber 
ehten Vollslieder, welche der Almanach enthielt, Herder's und 
Bürger’ Beſtrebungen Vorſchub zu leiften. Die epodemadende 
Stellung, die Herder's Volkslieder in der Geſchichte der deutſchen 
Üteratur einnehmen, ift befannt. Die feine, finnige Art, mit der 
feine Ueberfegungen den Ton und die Seele des fremden Liedes 
wiebergeben, ift muftergültig für alle Beiten, und die meifterhafte 
vorrede zum zweiten Band gehört zum Schönſten, was je über 
Igrifche Poefie gefagt worden ift. Auch die tiefere Auffafjung und 
Eforſchung der deutſchen Poefie fand Hier die lebendigſte An- 
vegmg. 

Um dieſelbe Zeit aber, in ber Herder den Quellen der echten 
Borfie nachgrub, follte die Poeſie ſelbſt in Deutſchland wieder er- 
fteßen durch unferen größten Dichter, und es war von ben glüd- 
lichſten Folgen für beide Theile, daß Goethe in ein fo nahes 
Berhältniß zu Herder geführt wurde. Was Goethes Dichtung, 
wie allen geiftigen Beftrebungen, fo insbejondere auch der tieferen 
Erlenntniß unfrer Poeſie geworben ift, bies zu ſchildern, gehört 
der Geſchichte der deutſchen Literatur an. Hier birfen wir nur 
darauf hindeuten, wie Goethe in der erſten Periobe feines Dichtens 
vorzugSweife deutſch war. Die tüchtigen Charaktere ver alten deut⸗ 
ſchen Zeit erfüllen feine Phantafie und ergreifen fein Herz. Götz 
von Berlichingen wird der Held feines erften Dramas. Der for- 
ſchende Tieffinn des deutſchen Volles findet in ben älteften Frag⸗ 
menten des Fauſt feinen genialften Ausbrud, und bie barbarifh 
geſcholtene Baukunſt des Mittelalters reißt unfern Dichter beim 
Anblid des Straßburger Münfters zu begeiftertem Lobe hin. Aber 
auch die ältere deutſche Literatur findet an ihm einen warmen Ver⸗ 
rer, doch nicht fowohl die damals nod wenig gekannte mittel» 
alterliche, als die bes fechzehnten Jahrhunderts. Ueber „Hans 
Sachſens poetifhe Sendung“ fagt er (1776) das Schönfte, was je 
über diefen Dichter gefagt worden ift; und ſchon im Jahr 1771 
funmelt er auf Herder's Anregung im Elſaß deutſche Lieder aus 


284 Zweites Buch. Viertes Kapitel. 


dem Munde des Volkes, die er „als einen Schatz an feinem Her 
zen trägt“ 1). 

Das Streben nad bem Unmittelbaren und Uxfprünglicen, 
wie es von Hamann und Herder angeregt wurde und in Goethe 
begeifterten Anklang fand, begegnete ben Anfihten, bie Juſtus 
Möfer auf dem Gebiet der Politik und Geſchichte vertrat. Ueberall 
ift es ber Zug aus dem Verkünſtelten und Gemachten zum Ur 
fprüngligen und Naturwüchfigen. Nicht daß Möſer die fpäter 
aufgegebene Abſicht hatte, „alle deutſche Poeten, melde bis zu 
Ende des 15. Jahrhunderts gefhrieben haben“, herauszugeben ?), 
oder daß er in feinen Patriotiihen Phantafieen ein par nieder 
deutſche Minnelieder mittheilte °), gibt ihm feine bedeutende Stelle 
in der Geſchichte der germanifhen Philologie, fondern daß er in 
allen feinen Schriften, in ber Osnabrückiſchen Geſchichte ſowohl, 
als in den Patriotifden Phantafieen in die Sitte und Denkweiſe 
des Deutſchen Volles alter und neuer Zeit tiefe und weithin ans 
vegende Blide that. Dies macht ihn zum würdigen Genofien 
Herder's und Goethe's in der epochemachenden Meinen Schrift: 
Bon Deutfher Art und Kunft. Einige fliegende Blätter. Ham 
burg 1778. 

, So ſchien in den ſiebziger Jahren des 18. Jahrhunderts Alles 
im beſten Zuge, um die germanifce Philologie zu einer baldigen 
Blüthe zu fördern. Und wirklich fehen wir auch in bem beiden 
nachſten Jahrzehnten verfdiedene Gelehrte auftreten, melde bie 
mädtigen Anregungen, die von unfern großen Schriftftellern aus 
giengen, und ben fid immer mehr anhäufenden gelehrten Stoff in 
Verbindung zu fegen ſuchen. In biefer Weife war gegen bas Ente 
unferer Periode beſonders Frie drich David Gräter täätig 
Geboren im J. 1768 in ber freien Reichsſtadt Schwäbiſch Hall 
ftudierte Gräter auf der Univerfität Erlangen Theologie, wurde 


1) Goethe's Brief am Herder in: Mus Herders Nachlaß. Her. von $- 
Dünger und F. ©. von Herder 8b. I, S. 29. — 2) Möfer's Brief an 
Gleim vom 24. Juli 1756, in Möfer’s Vermiſchten Schriften, Thl. II, 1798, 
6. 201 — 3) Möfer, Patriot. Phantafiren, Thl. III, (4), ©. 228 ig. 


Die germaniſche Philologie in Deutfihland von 1748 Bis 1797. 285 


1189 Lehrer am Gymnaſitum feiner Vaterftabt, 1804 Rector biefer 
Anftalt, 1818 wurde er Rector und Paedagogarch des Gymnaſiums 
zu Um, 1826 als Sector in Ruheſtand verfegt, lebte er feit biefer 
it in Schorndorf und ſtarb bafeldft am 2. Auguft 1830 1). 
Gräter wurde zu feinen altdeutſchen Stubien von den verſchieden⸗ 
fen Richtungen der damaligen deutſchen Literatur aus angeregt. 
alopſtock, Kretfgmann 2) und Denis 3) begeifterten ihn für bie alt- 
nordiſche Boefie, und fo trat er zuerft (1789) in feinen „Norbi- 
fien Blumen“ mit Ueberjegungen aus dem Altnordiſchen, ins⸗ 
beſondere aus der älteren Edda auf. Diefe Ueberfegungen 
waren untermiſcht mit Abhandlungen, die mit vieler Wärme 
mb nicht ohne Geſchick Gegenftände der nordiſchen Mythologie 
behandeln 4). Bugleih aber war Gräter ein enthufiaſtiſcher 
verehrer Herders 8) und ſuchte am beffen Hand bie Kenntniß ber 
voeſie, insbeſondere auch bie ber deutſchen Vollspoeſie zu förbern. 
Für alle dieſe Beſtrebungen erſchien als das erwünſchteſte Organ 
eine Zeitſchrift, die den altdeutſchen Studien gewidmet wäre, und 
eine ſolche zu gründen, gelang Gräter im J. 1791 in Verbindung 
mit dem Archidialonus Chriftian Gottfried Böckh (geb. 1732 
zu Räder »- Memmingen bei Nördlingen, geft. in Nörblingen ben 
3. Jan. 1792) 6). Die Zeitſchrift erihien vom J. 1791 is 1802 
in fieben Bänden unter dem Titel: Bragur ein litterariſches Ma- 
gan der beutjchen und nordiſchen Vorzeit, vom vierten Bande 
(1796) mit dem Nebentitel: Braga und Hermobe oder neues Ma- 
gain fü bie vaterländiſchen Alterthümer der Sprache Kunſt und 


1) Neuer Nekrolog der Deutſchen VIII, 2, ©. 969. — Meusel, Gel. 
Teutschland II, (5) 8. 633. — 6. Döring in Erf. und Gruber, Allg. 
Gufl. J. Section, 78. Thl., ©. 91 fg. — 2) Gräter, Idunna und Her» 
me I, 6. 21. — 3) Mich. Denis Literar. Nachlass, her. von Retzer, 
U. Wien 1802, 8. 188:— 4) Bgl. das Lob, das Finn Magmusjon biefen 
Wfendlungen Gräter’s ertheilt (Jdunna und Hermode 1816, S. 116. 188). 
— 5) Bol. Gräter's „Auf Herders Grab“ in Wieland's Teutſchem Merkur 
1804. Wieder abgebrudt in Gräter’s Zerfiteuten Blättern, Erfie Sammlung, 
Um 1822, ©. 287 fg. — 6) Meusel, Lexikon I, 456. — Bragur II, 
Bor. 81. 2; 6. 461g. 


286 Zweites Buch. Viertes Kapitel. 


Sitten 1). In dieſer Zeitfhrift fanden bie bisher vereingelten Be- 
ftrebungen für deutſches Altertfum einen Sammelpuntt. Vor allem 
war es Gräter um die Pflege der nordiſchen Literatur zu thım. 
Den bobenlofen Phantaftereien gegenüber, die damals noch Glau— 
ben fanden, Hatte in hiſtoriſcher Hinfiht Schlöze r's Islandiſche 
Kiteratur und Geſchichte (1773) kritiſch aufgeräumt; aber die wid. 
tigfte Seite biefer Literatur, die poetifch-mythologifche, Hatte da⸗ 
durch zumächft mehr verloren, als gewonnen, und Jakob Schims 
melmann’s (geb. zu Demmin 1712, preuß. Confiſtorialrath in 
Stettin, geft. 1778) hirmverbrannte Isländiſche Edda (1777) war 
nicht geeignet, die Sache auf den richtigen Weg zu Bringen. Hier 
hat ſich nun Gräter das unbeftreitbare Verdienſt erworben, ein 
befieres Verſtändniß der altnordiſchen Poeſie in Deutſchland anzu⸗ 
bahnen. Nachdem Klopſtock's Hermann's Schlacht in dem Jüng⸗ 
ling die Begierde nah „ben Eichenkranz des teutſchen Barden” 
gewedt hatte, fuchte er fi mit „ben Liedern der alten Barden‘ 
befannt zu machen. Lange war fein Suchen vergeblich, bis er anf 
ber Univerfitätsbibliothef zu Halle, die der Schwede Thunmann 
als deren Bibliothekar mit altſtandinaviſchen Büchern ausgeräftet 
hatte, fand, wonach ex fi ſehnte. Er warf fi num mit großem 
Eifer auf das Studium der altgermaniſchen Sprachen, um bie fir 
ber ber alten Stalden in ber Urſprache leſen zu können 2). Seine 
Kenntniß ber altnordiſchen Sprache war zwar feine philologild 
gründliche ), aber fein poetiſcher Sinn, fein raſtloſes Stubium und 
vor allem feine genauere Belanntſchaft mit den Arbeiten der flan- 


1) Ueber einen 8. Band des Bragur, der ben Mebentitel: Odina und 
Teutona, führte, f. Buch II, Kap. 2. — 2) Gräter, Idunna und fer 
mode I, &. 22. — 3) Dies beweifen fhon bie Titel feiner Gärten: 
„Braga und Hermode“, „Jdunna und Hermode.“ Dazu das wieberfefrendt 
„bie Bragur“ (Bragur II, Borr. Nachſchrift, und S. 459). Bol. aud Kb 
ter's eigene Erklärung über feine Spraßflubien, Idunna und Hermode Iı 
©. 22. Bragur I, ©. 288. Daf er übrigens in ziemlichem Umfang Ant 
diſch verſtand, beweifen troß aller ihrer Mängel feine Neberfegungen und ar | 
berweitigen Arbeiten. 


Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 287 


dinaviſchen Gelehrten verhalfen ihm zu beſſeren Einfihten. Trotz 
feines Zufammenhangs mit den meubeutjhen Barden ſpricht er es 
umumtwunben aus: „Barden hatten die Deutſchen nie” !). „Den 
Stalden des Nordens horche alfo, wenn du ben Geift der alten 
Deutſchen noch erhorchen wilfft“ 2). Wie für das Altnordifhe, fo 
war die Zeitjchrift auch für die anderen Zweige ber altveutichen 
&iteratur durch Mittheilung von Originalen, Ueberjegungen und 
Abhaudlungen förderlich. Beſonders wurde nad) Herder's Borgang 
das deutſche Vollslied gepflegt, wie dies von einem ber Mitarbeiter, 
Anfelm Elwert (geb. zu Dornberg bei Darmftabt 1761) ſchon 
vorher in feinen Ungebrudten Reſten alten Gejangs (1784) ge- 
ſchehen war. Gräter’s eigene Abhandlung „über die teutjchen 
Voltslieder” (1794) ) Hat fpäter noch die rühmende Anerkennung 
Atnim's gefunden 4). Vom vierten Bande (1796) an zog die Zeit- 
ſchrift außer den „Alterthümern der Sprache" auch die „ber Kunft 
und der Sitten“ in ihren Vereih, und wenn man Gräter's Bor- 
tede zu dieſem Bande 5) lieſt, wird man nicht Yäugnen, daß es 
hier ſchon fo ziemlich auf dasſelbe abgejehen war, mas man jest 
unter dem Namen Culturgeſchichte zufammenzufaffen pflegt. Andrer⸗ 
feits aber bürfen wir nicht verſchweigen, daß das Fundament alfer 
philologiſchen Studien, eine gründliche Kenntniß ber Sprade, bei 
den Beftrebungen Gräter's umd feiner Freunde noch fehr zu 
fur kam. 

Auch für die Bearbeitung der deutſchen Literaturgeſchichte has 
ben die letzten Jahrzehnte unſrer Periode manche tüchtige Arbeit 
aufzuweiſen. So die bibliographiigen Werke des unermüdlichen 
Georg Wolfgang Panzer (geb. zu Sulzbach in der Oberpfalz 


1) Bragur I, (1791) ©. 52. — 2) Ebend. ©. 53. Vgl. Bragur I, 
6. 95. 96. II, ©. 57. Aber feltfam nimmt es fi baneben aus, wenn 
Gräter ſelbſt ſpaterhin eine „Borlefung Über die Rönigeweife ber Barden und 
Stalben" mit ben Worten beginnt: „Die Barden unferer eignen Boreltern, 
der Teutſchen, find nicht mehr“ Idunna und Hermobe I, (1812) ©. 1. — 
3) Braga, Bb. III, ©. 207-284. — 4) Wunderhorn I, (1806) 6. 455.— 
5) Sgl. befonders ©. XIX und S. XXII-XXVII. 


286 Zweites Bud. Vierte Kapitel. 

Sitten *). In diefer Zeitſchrift fanden bie bisher vereingelten Be- 
ftrebungen für deutſches Alterthum einen Sammelpuntt. Bor allem 
war es Gräter um bie Pflege der nordiſchen Literatur zu thum. 
Den bodenlofen Phantaftereien gegenüber, die damals noch Glau- 
ben fanden, Hatte in hiſtoriſcher Hinſicht Shlözers Islandiſche 
Kiteratur und Geſchichte (1773) kritiſch aufgeräumt; aber die wid. 
tigfte Seite diefer Literatur, die poetiſch- mythologiſche, Hatte da 
durch zumächft mehr verloren, al8 gewonnen, und Yatob Schim- 
melmann’s (geb. zu Demmin 1712, preuß. Confiftorialtath in 
Stettin, geft. 1778) hirnverbrannte Isländiſche Edda (1777) war 
nicht geeignet, die Sache auf den richtigen Weg zu bringen. Hier 
hat fih nun Gräter das unbeftreitbare Werbienft erworben, ein 
befferes Verſtändniß der altnorbifhen Poeſie in Deutſchland anzu⸗ 
bahnen. Nachdem Klopſtock's Hermann's Schlacht in dem Jüng- 
ling die Begierde nad „dem Eichenkranz des teutſchen Barden’ 
gewedt Hatte, fuchte er fi mit „ben Liedern ber alten Barden“ 
belannt zu machen. Lange war fein Suchen vergeblich, bis er auf 
der Univerfitätsbibliothel zu Halle, die der Schwede Thunmann 
als deren Bibliothekar mit altſtandinaviſchen Büchern ausgeräftet 
hatte, fand, wonad er ſich fehnte. Ex warf ſich nun mit großem 
Eifer auf das Studium der altgermanifhen Sprachen, um bie &e 
ber der alten Salben in der Urſprache Iefen zu können 2). Seine 
Kenntniß der altmordifihen Sprache war zwar feine philologiſch 
grünbfihe), aber fein poetifger Sinn, fein raftlofes Stubium und 
vor allem feine genauere Bekanntſchaft mit den Arbeiten der ffan- 


1) Ueber einen 8. Banb des Bragur, ber den Nebentitel: Odina und 
Teutona, führte, f. Bud III, Kap. 2. — 2) Gräter, Idunna und Her 
mode I, ©. 22. — 3) Dies beweiſen fon bie Titel feiner Gärifen: 
„Braga und Hermobe*, „Jdunna und Hermode.“ Dazu bas wieberfefrene 
„bie Bragur“ (Bragur II, Bor. Nachſchrift, und S. 459). Bol. aud rk 
ter's eigene Erflärung über feine Sprachſtudien, Idunna und ‚Hermode I, 
©. 22. Bragur I, ©. 288. Daß er übrigens in ziemlichem Umfang Altner- 
diſch verſtand, beweiſen troß aller ihrer Mängel feine Meberfegungen und ar 
berweitigen Arbeiten. 





Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bie 1797. 287 


dinaviſchen Gelehrten verhalfen ihm zu beſſeren Einſichten. Trotz 
ſeines Zuſammenhangs mit den neudeutſchen Barden ſpricht er es 
ummwunden aus: „Barden hatten die Deutſchen nie“ i). „Den 
Slalden des Nordens horche alfo, wenn du den Geift ber alten 
Deutſchen noch erhorchen willft“ 2). Wie für das Altnordiſche, fo 
war die Zeitfchrift au für die anderen Zweige ber altveutichen 
&iteratue duch MittHeilung von Originalen, Ueberjegungen und 
Abhandlungen förderlich. Beſonders wurde nad) Herder’s Vorgang 
das deutiche Volkslied gepflegt, wie dies von einem ber Mitarbeiter, 
Anfelm Elwert (geb. zu Dornberg bei Darmftadt 1761) fon 
vorher in feinen Ungebrudten Reſten alten Gejangs (1784) ge 
cehen war. Gräter’3 eigene Abhandlung „über die teutſchen 
Bollslieder” (1794) °) Hat fpäter noch die rühmende Anerkennung 
Atuim's gefunden *). Vom vierten Bande (1796) an zog die Zeit- 
ſcrift außer den „Alterthümern der Sprache“ auch die „ver Kunft 
und der Sitten“ in ihren Bereich, und wenn man Gräter's Bor- 
de zu dieſem Bande >) lieft, wird man nicht läugnen, baß es 
hier fhon fo ziemlich; auf dasſelbe adgejehen war, was man jet 
unter dem Namen Culturgeſchichte zuſammenzufaſſen pflegt. Anbrer- 
feits aber dürfen wir nicht verſchweigen, daß das Fundament aller 
Philologifgen Studien, eine gründliche Kenntniß der Sprache, bei 
den Beitrebungen Gräter's und feiner Freunde noch fehr au 
kurz fam. 

Auch für die Bearbeitung der deutſchen Literaturgefhichte ha⸗ 
ben bie legten Jahrzehnte unfrer Periode mande tüdtige Arbeit 
aufzumeifen. So die bibliographiigen Werke des unermüdlichen 
Georg Wolfgang Panzer (geb. zu Sulzbach in der Oberpfalz “ 


1) Bragur I, (1791) ©. 52. — 2) Ebend. ©. 53. Bol. Bragur I, 
6. 95. 96. II, ©. 57. Aber ſeltſam nimmt es fi daneben aus, wenn 
Sräter ſelbſt fpätergin eine „Worlefung über die Königeweiſe ber Barben und 
Stalden“ mit den Worten beginnt: „Die Barden unferer eignen Boreltern, 
der Teufen, find nicht mehr· Idunna und Hermobe I, (1812) ©. 1. — 
3) ragur, Sb. III, S. 207—284. — 4) Wunderhorn I, (1806) S. 455.— 
5) Bgl. beſonders ©. XIX und S. XXII-XXVII. 


288 Zweites Buch. Viertes Kapitel. 


1729, geft. als Baftor an der St. Sebalduskirche zu Nürnberg 
ben 9. ul. 1805) 1), vor allem feine „Annalen der ältern deut 
ſchen Litteratur ober Anzeige und Beſchreibung derjenigen Bücher, 
melde von Erfindung der Buchdruderkunſt bis MDXX. in deut 
ſcher Sprache gedruckt worben find, Nürnberg — 1788” 2), €. 5. 
Flögel (geb. 1729 zu Sauer, 1774 Profeffor an ber Ritterala⸗ 
demie zu Liegnig, geft. 7. März 1788) 3) wandte in feiner Ge 
ſchichte ber fomifchen Piteratur ben alideutſchen Schriften (1786) 
feine beſondere Aufmerffamteit zu 4). Bon Bervorragender Wich⸗ 
tigfeit aber waren die Leiftungen Erduin Julius Koch's (geb. 
zu Loburg im Magdeburgiſchen 1764, 1786 Lehrer des Griechiſchen 
und Lateinifhen am Paedagogium der Realſchule in Berlin, feit 
1790 zugleich Prediger zu Stralau, 1795 an der Marienlirde zu 
Berlin 5); feit 1815 im Arbeitshauſe zu Creuzburg in Schlefien, 
geft. 21. Dec. 1834) 9. Nach dem Mufter, das fein von ifm 
vereßrter Lehrer F. A. Wolf für bie Geſchichte der römiſchen Liter 
ratur aufgeftelft Hatte 7), gab er in feinem Compendium der deut 
ſchen Literaturgeſchichte von ben Alteften Zeiten bis auf Leſſing's 
Tod (Erfter Band 1790, 2. umgearb. Ausg. 1795, zweiter Band 
1798) ®) eine gebrängte, aber forgfältige und reichhaltige Ueberſicht 
über die damals belannten Erzeugniffe fowohl der älteren, als der 
neueren deutſchen Literatur. 

Aber wenn wir aud den Samen, ben unſre großen Alaſſiler 
in ben ſechziger und fiehziger “Jahren geftreut Hatten, allmählich 
aufgehen fehen, fo ift doch bie nächſte Folgezeit noch weit entfernt, 
den erregten Erwartungen zu entfprechen. Als in ben Jahren 1782 
— 85 bie Meifterwerfe ber altdeutſchen Dichtung: Die Nibelun⸗ 


1) Bil, Nürnb. Gel.-Ser., fortgef. von Nopitſch, VII, 95. — 2) dort. u 
Bufäge 1802—5.— 8) Jörbens, Lerifon deutſch. Dicht. u. Profeiften I, 551557. 
— 4) Bgl. die Borrede zum britten Band. — 5) Meusel, Gel. Tentschl. 
IV (5) 8.175. — 6) Bgl. über Koch's Leben und Bedeutung Hoffman 
von Fallersleben im Weimarischen Jahrbuch für deutsche Sprache 
us. w. I, Hannover 1854, 8. 58 fg. — 7) Koch, Compendium, 
Bd. I (2) Berlin 1795, 8.1. — 8) Rebentitel: Grundrifs einer 
Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen. 


Die germanifhe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 289 


gen, ber Barzival, der Zriftan, im Drud erſchienen, giengen fie 
am dem größten Theil auch umfrer geiftoolfften und gebilbetften 
bandsleute faft ſpurlos vorüber. Zwar machte ber berühmtefte 
deuſſche Hiftorifer des 18. Jahrhunderts, Johannes Müller, 
eine Ausnahme von biefer Gleihgültigkeit. Er berichtet über bie 
timelnen Theile der Myller'ſchen Sammlung glei nad deren Er- 
feinen in den Göttingifhen Anzeigen und erkennt (1783) 1) bie 
hohe Bedeutung des Nibelungenliedes, das er mit Homer ver- 
gleiht, ohne doch die Vorzüge des Griechen zu überfehen. In fei- 
nem Hauptwerk, den Geſchichten ſchweizeriſcher Eidgenoſſenſchaft, 
fit er (1786) mit warmer Liebe und für feine Zeit großer Ein- 
fit von dem deutſchen Dichtern des 12. und 18. Jahrhunderts 2). 
Aber erft in der folgenden Periode follten Johannes Müller’s An- 
regungen Frucht tragen, Unter feinen großen Zeitgenofjen ver- 
hallt feine Stimme. Nur Scriftfteller untergeordneten Nanges 
äußern fich eingehender über die geöffneten Schätze altdeutſcher 
Boefie. So der Botaniker und hamburgiſche Bibliothekar Paul 
Dieterih Giſeke (geb. zu Hamburg 1741, + daſelbſt 1796) 3) in 
einer anerfennenswerthen Schrift über das Nibelungenlied (1795) 4). 
Die großen Genien unfres Volles aber haben ſich theils anderen 





1) Sött. Anzeigen 1783, ©. 357. Anzeige ber Gneibt eb. 1784, bes 
Parcival 1785. Alle biefe Anzeigen wieder abgebrudt in J. von Müller's 
fimmit. Werken, Bd. X, Tübingen 1811, S. 45 — 69. — 2) Der Ge: 
ſcichten ſchweizeriſchet Eibgenoffenfaft Anderes Bud. Zwehyter Theil, Reipg- 
1786, &. 118122. ,S. was in ben göttingifen Anz. 1784, heißt es 
Hin S. 121 in Bezug auf das Nibelungenfieb, „über biefes vortreffliche alte 
Stũd (und bey weiten nicht mit allem Gefühl, womit es ber Verfaffer ber 
Anzeige gelefen) Kurz angemerkt worden if.“ (Zn Müllers Werken eitoas 
emeitert Bo. XX (1815) ©. 212—215; Bb. XXV (1817) ©. 307-311). 
— 3) 9. Schröder, Lerifon ber hamburgiſchen Schriffieller II, 4 (1854) 
6.496 fg. — 4) Ueber der Nibelungen Liet. An den Herrn Joh. 
Josch. Eschenburg, von G. Hambnrg 1795. 4. Vielleicht ift er auch ber 
G.“, von bem bie Probe einer Bearbeitung ber Nibelungen im Deutſchen 
Rufeum 1783, II, ©. 49—73 if. &. Fr. H. von ber Hagen in ber Niber 
Imgen Lied, Berlin 1807, ©. 483. 

Ranmer, Grid. ter germ. Philofogte, 19 


290 Zweites Bud. Biertes Kapitel. 


Beftrebungen zugewenbet, theils find fie damals zum deutſchen Al⸗ 
terthum in ein gerabezu feinbfeliges Verhältniß gerathen. Herder 
geht nad) Herausgabe der Volkslieder zu feinen umfafjenderen ger 
ſchichtsphiloſophiſchen und theologiichen Arbeiten über 1). Er be 
wahrt zwar der altdeutſchen Poefie ein warmes Intereſſe und 
fpricht dies von Zeit zu Zeit aus; fo in feinen nad) beiden Seiten 
hin fehr treffenden Bemerkungen über die nordiſche Meythologie 
und ihren Werth für die neuere deutſche Dichtung (1796. 1803) 2), 
in feinem „Andenken an einige ältere deutſche Dichter“ (1793) 3), 
mo er unter Andrem eine Grammatil über Otfrids beneidenswerth 
zeihe Flexionen wünfcht *) und die „fließende Anmuth und Süßig⸗ 
keit der alten deutſchen Sprache“ in den Minneſingern beivunbertd). 
Aber do hat es ihm „an Luft und Muße gefehlt," „bie langen 
epiſchen Gedichte“ des Hohenſtaufiſchen Zeitalter8 zu Iefen 9). Das 
Entſcheidende aber war die Abwendung Goethes von ben Beſtreb⸗ 
ungen feiner Jugend und feine immer ausſchließlichere Hingabe 
an das griehifhe und römiſche Altertfum. Diefe Umwandlung 
des großen Dichters traf zufammen mit dem Aufblühen der Aaffi- 
ſchen Philologie in Deutſchland. Der größte Philologe Europas: 
Friedrich Auguft Wolf, follte erſt das klaſſiſche Altertfum 
von neuem erſchließen und ben engen Verband unfrer Geiſtesbil 
dung mit den Griehen und Römern für immer befeftigen, bevor 
wir zu einem einfihtigen Verftänbniß unfrer eigenen beutjchen Ber: 
gangenheit gelangen Tonnten. Wir find weit entfernt, unzufrieden 
zu fein mit diefem Gang unſrer geiftigen Entwicklung. Wie duch 
Windelmann und Goethe in künſtleriſcher, fo find in philologiider 
Beziehung durch F. AU Wolf und feine Nachfolger die Deuticen 
die hauptſächlichſten Verwalter jenes nie genug zu preifenben Shape | 
alter Kunft und Weisheit geworden, am weldem die Menfhheit 


1) Bgl. die Nachſchtift zu den Woftsliebern II (1779), &. 314 1. — 
2) In den Horen Bd. V (1796) S. 1—28, und in ber braten Bb. ſ. 
Stüd 2 (1803) S. 357—866. Beides in Herder's Wfen, Zur ſchönen Liter. 
u. Kunſt, Thl. 18 (1830) ©. 109140. — 3) Zerſtreute Blätter. ginfte 
Sammlung, Gotha 1793, ©. 165 — 286, — 4) Ebend. S. 11. — 
5) Ebend. ©. 209. — 6) Ebend. ©. 217. 





Die germanifhe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 291 


fih bilden und erfreuen wird, fo lange fie nit in Barbarei vers 
fintt. Aber fo viel wir auch von den Griehen zu Iernen Haben, 
fo folfte doch nicht das eitele und vergeblihe Beſtreben, mit Ber- 
fäugnung der eigenen Volksthümlichleit Griehen zu werden, das 
Ziel unfrer Bemühungen fein. Vielmehr foliten wir gerade dur 
das hingebende Stubium der Griechen zugleih auf unfre eigene 
Voltsthümlichkeit tiefer erfaſſen lernen. So mußte jene Hinmwen- 
dung zum klaſſiſchen Alterthum nit nur unſrer Bildung überhaupt, 
fondern gerade aud unſrer germaniſchen Philologie die reichſten 
Früchte tragen. Aber Beides konnte fie nur dadurch, daß fich gegen 
Nie einfeitige und zur Selbſtvernichtung führende Vergütterung des 
laſſiſchen Alterthums ein heilfames Gegengewicht bildete. 


19* 


Drittes Bud). 


Von Auftreten der Romantiker bis zum Erſcheinen 
von Grimm’s Grammatik. 


1797 bis 1819. 


Erſtes Aapiiel. 
Die Romantiler. 


Die Romantiker von 1797 bis 1806. 


Wir ſchreiben Hier nicht die Geſchichte der deutſchen Literatur, 
fondern bie der deutſchen Philologie. Es iſt deshalb nicht unjere 
Aufgabe, uns über bie dichterifhen Erzeugniſſe der Momantifer 
auszufprechen und zu zeigen, wie fie zwar weit zurückſtehen hinter 
den großartigen Schöpfungen Goethes und Schiller’s, wie fie aber 
doch ihres eigenthimlichen Werthes nicht entbehren. Uns Tiegt hier 
vielmehr ob, darzuftelfen, in wie hohem Maß die Richtung umd die 
Reiftungen der Romantiker der Erforfhung unfrer eigenen Älteren 
Voeſie und unfres beutihen Altertfums überhaupt zu gute gelom- 
men find. 

Wir haben gefehen, wie unfer größter Dichter, Goethe, im 
Beginn feiner Laufbahn ſich mit Vegeifterung der deutſchen Borzeit 
zuwandte und wie die Dichtungen feiner jüngeren Jahre aus bier 
ſem Geift erwachſen find. Es ift befannt, welde Umwandlung in | 
den Anſchauungen des Dichters inshefondere dur feinen Aufente 
halt in Italien vorgegangen ift, wie er fi mehr und mehr von 


Die Romantifer. 293 


der deutſchen Vorzeit ab und dem griechiſchen und römiſchen Alters 
tum zumandte. Daß die hohe Vollendung der antiken Kunft ben 
großen Dichter mit Bewunderung erfüllte, Tag in der Natur ber 
Sade, und wir verdanken biefem Verwachſen besfelben mit dem 
alten Griechenthum einige feiner herrlichſten Werke. Eine Verken⸗ 
nmg feiner ſelbſt aber, feines Volles und feiner Beit war es, 
wenn ee nun die Bewunderung der Griechen zu folder Ausſchließ⸗ 
figfeit trieb, daß neben ihnen Nichts mehr beftehen follte. Die 
Hefte antiter Baukunſt mußten durch ihre innere Harmonie das 
Entzäden des gleichgeftimmten Geiftes erregen. Aber durfte er ſich 
dadurch zu höhniſchen Schmähungen ber vaterländiſchen Meifter 
hinreißen laſſen 1), für beven Herrliche Werte er felbft wenige Jahre 
zuvor dem beutfchen Volt die Augen geöffnet hatte? Es war ein 
ganz richtiges Gefühl, daß die Dichtung der Griechen in ihrer Art 
einen Grab innerer Vollendung erreicht Hat, deſſen ſich Fein anderes 
Bolt rühmen kann. Aber wohin es führen mußte, wenn man ſich 
dadur verleiten Tieß, deshalb nun einzig und allein die griechiihe 
Dihtung gelten zu laſſen und alles davon Abweichende zit verwer- 
fen, das zeigt gegen Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts Goes 
thes Theorie und Praris gleichermaßen. Das gewaltigfte und ur- 
ſprũnglichſte Wert, das er geſchaffen, das ältefte Fragment feines 
Fauft, behandelt er jetzt (1797) mit geringfhägigem Hohn. Er 
Nbämt fi) faft, daß er ſich mit biefen „Euftphantomen“ wieder ein» 
Üht. Er thut es aber auch nur in Ermangelung eines Beſſern. 
Sein eigentlicher Lebensplan geht auf eine wiederholte Meife nad 
Ralien. „Sollte aus meiner Reife nichts werden,“ ſchreibt er am 
1.Juli 1797 an Schiller, „fo habe ich auf biefe Poſſen mein ein- 
iges Vertrauen gejegt.” Und bamit meint er den Fauſt. Ja 
auch bie köſtlichen Dichtungen, die aus ber lebensvollen Verbindung 
des Antiten und Deutſchen hervorgegangen find, finden jetzt feine 
Gnade mehr in feinen Augen. Mit feiner Iphigenie ift er durch⸗ 
@3 mit zufrieden. Er findet fie „ganz verteufelt Human“ 2). 





1) Bgt. ben Brief aus Venedig vom 8. Oct. 1786 in der Staliänifen 
Ref, Bodies Wie. 1840, Bd. 23, ©. 100. — 2) Goethe an Sihiller 


294 Drittes Buch. Erſtes Kapitel. 


Nach der Vollendung von Hermann und Dorothea wählt er fih 
einen antifen Stoff: den Tod bes Achilleus, zu epiſcher Bearbeit⸗ 
ung. Er möchte num Alles abftreifen, was nicht ganz in der Weile 
bes Homer ift. „Soll mir ein Gedicht gelingen, das fi an die 
Ilias einigermaßen anſchließt,“ ſchreibt er an Schiller (12. Mai 
1798), „fo muß id den Alten auch darin folgen, worin fie getadelt 
werben, ja ih muß mir zu eigen machen, was mir felbjt nicht be- 
hagt.“ Und mas fommt auf dieſe Weiſe zu Stande? — Die 
Achilleis, ein Gedicht; von dem Gervinus mit Recht urtheilt, daß 
es feine Zeile enthalten follte, die Homer nicht geſchrieben haben 
könnte, und in der That leine enthält, die er hätte ſchreiben können '). 

Diefer ausſchließlichen Vergötterung ber Griechen gegenüber 
regt ſich gegen Ende bes achtzehnten Jahrhunderts das Gefühl, 
daß die Poefie nit einem einzigen Volt und einem einzigen Zeit: 
alter allein angehöre, daß fie vielmehr cin Gemeingut der Menid- 
heit fei, am welchem bie verſchiedenen Völler jedes in feiner Weile 
Theil Haben. Insbeſondere richtet diefe Anficht ihren Blick auf die 
Poeſie und Kumft der Völker, die nad dem Untergang bes alten 
Römerreiches die Gejhide Europas beftimmt Haben. Es find bie 
germanifcen und romanischen Völker; und hier wieder ift es vor 
zugsweife die Poeſie und Kunft des Mittelalters und die des 16. 
und 17. Jahrhunderts, welder die Vertreter der neuen Richtung 
ihre Liebe zuwenden. Man hat diefer Richtung, im Gegenfag zur 
Haffiigen, den Namen ber romantiſchen gegeben. Ueber feine Er 
ſcheinung unfrer Literatur aber Hat ſich das Urtheil fo jehr in E⸗ 
tremen bewegt, wie über die fo genannten Romantiker. Während 
man fie von der einen Seite in den Himmel erhob, fpridt man 
ihnen von der anderen nicht weniger als Alles ab. Weder Talent, 





d. 19. Jan. 1802, vergligen mit Schiller's Antwort vom 20. Jan. ©. auf 
Schiller an Körner ben 21. Jan. 1802. 

1) Gervinus, Geſchichte ber deutſchen Dichtung, Bd. V, vierte Nutz. 
1853, ©. 434. — Vol über die damalige Stellung Goethe's zum klaſſiſchen 
Alterthum: Hermann Hettner, bie romantifhe Schule in ihrem inneren Zu: 
ſammenhange mit Götge und Schiller, Braunſchweig 1850, ©. 95 fg. 


Die Romantifer. 295 


noch Gharakter, weder Renniniffe, noch Urteil follen fie Befeflen 
haben. Was aus alle dem zuwörberft hervorgeht, ift, daß wir es 
hier mit einer fehr verwidelten Erſcheinung zu thun haben. Und 
wie könnte dies auch anders fein bei einer fo gründlichen Verſchie⸗ 
tenbeit, wie wir fie gleich vom Beginn an bei den einzelnen Häup- 
tern der romantiſchen Schule wahrnehmen, und bei ben tief grei- 
fenden Ummandlungen, welche mehrere von ihnen im Lauf ber Zeit 
durchgemacht Haben? Wie ganz anders geartet ift im Grunde 
feines Wefens Tieck als Novalis, und wie weit ftehen beide von 
den Brüdern Schlegel ab? Und auch diefe wieder unter fi) Bil- 
ten, wie ſich fpäter gezeigt hat, einen Gegenfag ber Naturen. Und 
welche Wandlungen ber Ueberzeugung hat Friedrich Schlegel, und 
in anderer Weiſe wieder Tie durchgemacht! Man wird fi des⸗ 
halb zu hüten Haben, nicht das Kind mit dem Bade auszuſchütten 
md das Gute mit dem Schlimmen zu verwerfen, oder umgefehrt 
das Schlimme mit dem Guten anzunehmen. 

Bas gleih von vorn herein die Stellung der Romantiler fehr 
verwidelt macht, ift ihr Verhältniß zu dem beiden größten deutſchen 
Dichtetn. Wir haben gefehen, daß die Romantik ſich am Ende des 
actzehnten Jahrhunderts im Gegenfag zu Goethes ausſchließlicher 
dinwendung zu ben Griechen entwidelt. Wan würde aber fehr 
itten, wenn man baraus fließen wollte, die Romantifer hätten 
die Griechen gering geſchätzt oder Goethe nicht geachtet. Goethe 
bildet vielmehr den Mittelpunkt ihrer höchſten Verehrung, und 
was die Griechen betrifft, jo gehen gerade die Häupter der roman- 
tiſhen Kritik, die Brüder Schlegel, von dem einbringendften Stu- 
dium und ber, liebevollſten Bewunderung ber Griechen aus. Wie 
m Goethe, fo nehmen die Romantifer auch zu unferem zweiten 
großen Dichter, zu Schiller, eine doppelfeitige Stellung ein. Einer» 
feits hat man nicht mit Unrecht in Schiller's aeſthetiſchen Schriften 
ben Ausgangspunkt für die Theorie ber Romantiler gefunden, und 
udrerſeits fteht ihnen wieder unfer größter Dramatiler weit ferner 
als Goethe. 

Vie zu umfern beiden größten Distern, fo ftehen bie Roman⸗ 
fifer zu der Enwicllung/ welche die deutſche Philoſophie gegen den 


296 Drittes Bud. Erſtes Kapitel. 


Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts nahın, in nächſter Bezieh⸗ 
ung. ber auch Hier find die Verhältnife nit fo einfach, daß 
man die Nomantifer ohne weiteres als Mitglieder einer bejtimm- 
ten philofophifgen Schule bezeichnen dürfte. Fichte übt auf zwei 
ihrer Häupter: Friedrich Schlegel und Hardenberg (Novalis), den 
tiefften Einfluß, während die beiden anderen: Tieck und A. ®. 
Schlegel troß bes literariſchen und gefelligen Zufammenhangs ihm 
innerlich ferner bleiben. Schelling's erfte PHilofophfe fteht in naher 
Verwandtſchaft mit den Anfichten ber Romantiker; aber obwohl 
Scelling mit den Romantilern nah verbündet ift, fühlen doch 
beide Theile den tief gehenden Unterſchied, der fie von einander 
trennt. "Wie nah in feiner ganzen Art und Weiſe fteht Schleier⸗ 
mader ben Romantikern; und doch, wie weit find in der Folgezeit 
Schleiermacher's Bahnen von denen Friedrich Schlegel’3 abgegan- 
gen, mit dem er anfänglich ein Herz und eine Seele ſchien! 

Wir durften diefe Andeutungen über die allgemeine Stellung 
der Romantiler nicht übergehen, können fie aber natürlich Bier 
nicht weiter verfolgen. Wir wenden uns vielmehr zu einer Dar⸗ 
ftellung deſſen, was die einzelnen Nomantifer geleiftet Haben, um 
die Gründung ber neueren deutſchen Alterthumswiſſenſchaft vorzube 
zeiten. Denn als eine vorbereitende müſſen wir ihre Thätigleit 
im weſentlichen bezeichnen, als folde aber nimmt dieſelbe in der 
Entwidlung unferer Wiffenfhaft, wie des beutfchen Geiſteslebens 
überhaupt, eine jehr bebeutende Stelle ein. Was aber die Verir⸗ 
rungen der Nomantifer betrifft, die wir fo entſchieden verwerfen 
wie nur irgend einer ihrer Gegner, fo werden wir im weiteren 
Verlauf unfrer Darftellung fehen, wie gerade auf dem Boden unfrer 
Wiſſenſchaft diefe Verirrungen ihre pofitive Berichtigung und Wider ⸗ 
legung gefunden haben. 


Ludwig Tied. — W. H. Wadenrober. 


Der dichteriſch begabteſte unter den Romantikern, Ludwig 
Tied, nimmt auch durch feine die Gründung der deutſchen Phile 
Togie vorbereitende Thätigfeit eine der erften Stellen ein. Geboren 
zu Berlin im Jahr 1773 wuchs Tied dort in einer Zeit und Um 


Die Romantifer. 297 


gebung auf, deren profaifche Nüdternheit dem neuen Aufſchwung 
der deutſchen Poefie feindjelig gegenüberftand. Es waren die Epi- 
genen Leſſing's, die damals in Berlin das große Wort führten, 
zum Theil ganz ehrenwerthe Männer, die mande tüchtige Seite 
ifteg großen Meifters geerbt Hatten, nur die nicht, durch melde 
unfer größter Krititer fi mit unſten größten Dichtern berührt. 
In folder Umgebung fühlte ſich Tieck tief vereinfamt, und eine am 
Verzweiflung gränzende Schwermuth ergriff fein Gemüth. Was 
ihn in dieſer Stimmung aufrichtete, war bie Poefie, vor allem um» 
fer größter deutſcher Dichter Goethe. „Die früheren Werke Goe⸗ 
the3,* fo erzählt er ums felöft, „waren bie erfte Nahrung meines 
Geiftes geweien. Ich Hatte das Lefen gewiſſermaßen im Berlichin⸗ 
gen gelernt. Durch dieſes Gedicht hatte meine Phantafie für immer 
eine Richtung nach jenen Zeiten, Gegenden, Geftalten und Begeben- 
heiten befommen“ 1). Goethe's Werke wurden, nach mander Stör⸗ 
ung und Unterbredung, immer wieder ber Troft und bie Freude 
des Jünglings und des Mannes, Er verjenkte fih immer mehr 
in deren geiftige Schönheit. Vor allem waren es bie Jugendwerke 
des großen Dichters, bie den unauslöfchlicften Eindrud auf Tieck 
machten 2). Neben Goethe erfüllte bald Shakeſpeare bie Seele bes 
jugenblichen Dichters. Sein Stubium vor allen unb daneben bas 
der Spanier, insbeſondere des Cervantes, betrieb er auf das eif- 
tigſte, nachdem er das Gymnaſium abfolviert und um Oftern 1792 
die Univerfität zu Halle, im Herbſt desfelden Jahres die zu Göt⸗ 
fingen bezogen Batte. 

Wenn nun auch Tieck mit allen diefen Studien gewifjermaßen 
af dem Wege war zur altbeutihen Poefie, fo blieb ihm dieſelbe 
doch noch fremd, bis ein anderer Umftand ihm den Zugang zu ihr 
efhloß. Tied's gleichgeftimmter Jugendfreund W. H. Waden- 
roder war noch ein Jahr lang in Berlin geblieben, als Tieck um 
Oftern 1792 die Univerſttät Halle bezog. In Berlin lebte damals 





1) 2. Tied's Säriften. Bb. VL Berlin 1828. Vorbericht 6. VL — 
D Bgl. Tiecks Einleitung zu den Gefammelten Schriften von Lenz ®b. I. 
Belin 1828. 6. XLIX. 





298 Drittes Buch. Erſtes Kapitel. 


der Prediger Erbuin Julius Koh, von beffen „Compendium ber 
deuten Literaturgeſchichte“ wir früher gefproden haben. Bon 
diefem gelehrten Kenner ließ fih Wadenroder Borlefungen über 
deutſche Literatur halten, die für feine ganze Richtung von großer 
Bedeutung wurden 1). Wadenroder fand nämlich inniges Gefallen 
an der altdeutſchen Poeſie und erwähnte dies aud in ben Briefen 
an feinen damals in Göttingen’ ftudierenden Freund Tieck. Bon 
dem Collegium, das er beim Prediger Koch hört, ſchreibt er ifm 
am 4. December 1792: „Da hab’ ich denn mande fehr intereſ⸗ 
fante Bekanntſchaft mit altdeutf—hen Dichtern gemacht und gejehn, 
daß dies Studium, mit einigem Geiſt betrieben, ſehr viel Anziehen 
des hat." — „Schon Sprade, Etymologie und Wortverwandt 
ſchaften (befonders auch das Wohlflingende der alten Oftfräntifden 
Sprade) machen das Leſen jener alten Weberbleibfel interefjant. 
Aber auch davon abftrahiert, findet man viel Genie und poetiſchen 
Geift darin“ 2). Tied, damals noch ausſchließlich in den Shale 
fpeare und die Spanier vertieft, muß in feiner Antwort feinen 
Freund vor den altveutjchen Studien gewarnt haben. Denn in 
einem folgenden Brief (im Januar 1793) ſchreibt ihm dieſer: „Sei 
doch nicht bange, daß ich mit der altdeutſchen Poefie meinen Ges 
ſchmack verderbe. Was foll ih anders thun, als mic auf Dinge 
legen, die meinen Geift mit weniger erhabenen Ideen nähren!“ — 
„Du kennſt übrigens ſehr wenig von ber altdeutſchen Literatur ), wenn 
bu bloß die Minnefinger kennſt. Weberhaupt ift fie zu wenig be 
kannt. Sie enthält fehr viel Gutes, Intereffantes und Charalte 
riſtiſches und ift für die Geſchichte der Nation und bes @eiftes 
ſehr wichtig" 4). Oſtern 1798 bezogen die beiden Freunde die 
Univerfität Erlangen. Der Sommer, den Tief Bier zubradte, 
ward für ihn epochemachend. Die ſchönen fränkiſchen Gegenden ber 
Nachbarſchaft boten reihen Naturgenuß, und vor allem erfüllte das 
oft beſuchte Nürnberg Tieck und feinen Freund Wackenroder mit 


1). Rubolf Köpfe, Ludwig Tied, Thl. I, Leipzig 1855, ©. 125.— Brieſe 
am 2. Tied, Bd. IV, Breslau 1864, ©. 228. — 2) Briefe an 2. Zied IV, 
©. 228 fg. — 3) So wird zu leſen fein. — 4) Ebend. IV, 6. 29. 


Die Romantifer. 289 


Segeifterung für alte deutſche Art und Kunft. Hier wurden die 
Keime gelegt, die dann in den gemeinfamen Schriften der beiden 
freunde, in ben „Herzensergießungen eines Tunftliebenden Klofter- 
brudets“ (Berlin 1797), in ben „Phantafien über die Kunft“ - 
(Hamburg 1799) und in „Sternbalds Wanderungen“ (Berlin 
1198) aufgiengen; die erften Beiden überwiegend von Wadenzober, 
ter Sternbald von Tieck allein, aber no in Wackenroder's letztem 
bebensjahr von beiden Freunden gemeinfam entworfen '). Hier 
wurde nun in zwiefacher Weife Herz und Auge für die altdeutſche 
Kunft geöffnet: durch die Aufhebung der Schranfen, welde bie 
Kunſt in den Bereich eines einzigen Volles ober einer einzigen 
Geſchmacsrichtung einſchließen follten, und durd die warme Liebe 
zur deutſchen Kunft. Die „Herzensergießungen eines kunſtlieben⸗ 
den Kloſterbruders“ erhoben ihre Stimme für „Allgemeinheit, Tor 
leranz und Menſchenliebe in der Kunft” 2). „Kunſt,“ Heißt es dort, 
„ft die Blume menſchlicher Empfindung zu nennen. In ewig wech⸗ 
jelnder Geftalt erhebt fie fih unter den mannigfaltigen Zonen ber 
Ede zum Himmel empor, und dem allgemeinen Water, ber ben 
Edball mit allem, was daran ift, in feiner Hand Hält, duftet auch 
von diefer Saat nur ein vereinigter Wohlgeruch. Er erblidt in 
jeglichen Werte der Kunft, unter allen Zonen ber Exde, die Spur 
von dem himmlischen Funken, der, von Ihm ausgegangen, buch 
die Bruft des Menſchen hindurch in deſſen Meine Schöpfungen 
übergieng, aus denen er dem großen Schöpfer wieder entgegen» 
dimmt. Ihm ift der gothiſche Tempel fo wohlgefällig als der 
Tempel des Griechen“ 9). Und fo wird dann mit warmer Liebe 
das Gefühl für die vaterländiſche Kunft gewedt. Ein „Ehrenge- 
dachtniß unfers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers“ beginnt 
mit den Worten: „Nürnberg! Du vormals weltberühmte Stadt! 
Die gerne durchwanderte ih beine krummen Gaffen; mit welder 
lindlichen Siebe betrachtete ich beine altväterifgen Käufer und 


1) Bgl. Rudolf Köpfe, Ludwig Ziel, I, ©. 225. — 2) Herzender: 
gefungen eines kunſtliebenden Kiofterbrubers, Berlin 1797, 6. 97. — 
9) Een. ©. 100. 


800 Drittes Bud. Erſtes Kapitel. 


Kirchen, denen die fefte Spur von ımfrer alten vaterländifcen 
Kunft eingedrückt ift! Wie innig Tieb’ ich die Bildungen jener Zeit, 
bie eine fo derbe, Träftige und wahre Sprade führen! Wie ziehen 
ſie mich zurüd im jenes graue Jahrhundert, da di, Nürnberg, bie 
lebendigwimmelnde Schule der vaterländifhen Kunft warft, und 
ein recht fruchtbarer, überfliegender Kunftgeift in deinen Mauern 
Iebte und webte: — da Meifter Hans Sachs und Adam Kraft, 
der Bildhauer, und vor allen Albrecht Dürer mit feinem Freunde 
Wilidaldus Pirfheimer, und fo viel andere hochgelobte Ehrenmän 
ner noch lebten!" 1). So wie in den genannten Schriften beide 
Freunde fi der Bildenden Kunft der deutſchen Vorzeit zunvandten, 
fo richtete fich gleichzeitig Tieck's Aufmerkſamkeit auf die fo genann- 
ten deutſchen Vollsbücher. Auch andere neuere Schriftfteller vor 
ihm Hatten deren Stoffe für ihren eigenen Gebrauch verwendet. 
Aber aus dem Geſichtspunlt der neueren Kultur und Weltanfiht 
hatten fie diefelben in's Komiſche gezogen. Tied dagegen erzählte 
in feinen „Vollsmärden herausgegeben von Peter Leberecht (Berlin 
1797”) „die Geſchichte von den Heymons Kindern, in zwanzig alte 
fränfifgen Bildern“ mit dem ſchlichten Ernſt der alten Zeit, und 
er konnte fpäterhin mit Recht fagen: „Mein Verfuh, die gute | 
alte Geſchichte in einer ruhigen, treuherzigen Profa, die ſich aber 
nicht über den Gegenftand erheben ober ihn gar parobieren will, 
wieder zu erzählen, war damals der erfte in Deutſchland“ 2). 
Wadenrober nahm auch das gelehrte Studium der altdeutſchen 
Kiteratur fehr ernft. Er durchſuchte an feinen verſchiedenen Aufent- 
haltsorten die Bibliotheken nach altdeutſchen Schägen und lieferte 
feinem Lehrer Erbuin Koch zahlreiche Nachträge und Berichtigungen 
zu deſſen Compendium der deutſchen Literaturgeſchichte ). Als er 
am 18. Februar 1798 ſtarb, hinterließ er feinem Freund Tiec die 
Pflege der altdeutſchen Kımft und Literatur als ein Heifiges Ber 
mãchtniß. Tiecs eigene Poefie hatte fi dem Mittelalter zuge 


1) Ebend. ©. 109 fg. — 98. Tiefs Sqriſten. Cilfter Band- 
Berlin 1828. Borberift, ©. XLII. — 8) Koch, Compendiam der 
Deutschen Literatur-Geschichte, Bd.’IL, Berlin 1798, Vorr. 8. II. 





Die Romantifer. . 801 


mabet und auf dieſem Boden duftenbe Wlüthen getrieben‘). Aber 
der aeſthetiſche Katholicismus, der ſich den großen und Haren Ent- 
widelungen ber neueren Jahrhunderte feindfelig gegemüberftellte, 
war weber echte Meligion, noch wahres Mittelalter. Er mußte 
deshalb zu mannigfachen gefährlichen Verirrungen führen, ſowohl 
im deben, als in der Wiſſenſchaft. Aber fo wenig er zu billigen 
war, fo trug er doch in jener Zeit dazu bei, die Augen wieder 
af die Denkmäler unſrer Vergangenheit zu lenken. Seit dem 
Jehre 1801 Hatte ſich Tieck befonders viel mit der alldeutſchen 
Boefie beſchäftigt 2). Eine Frucht diefer Studien waren die „Minne- 
liedet aus dem Schwäbiſchen Zeitalter neu bearbeitet und heraus⸗ 
gegeben von Ludewig Tieck. Berlin 1808.“ Daß die Ueberfegung 
Tiefs mit dem Mafitab unfrer jegigen Kenntniffe gemefien ſehr 
mangelhaft ift, verfteht fih vom ſelbſt. Aber diefen Maßſtab an⸗ 
legen, würden wir nur dann berechtigt fein, wenn jemand jetzt 
noch die Tieck ſchen Ueberſetzungen empfehlen ober bie außerordentlichen 
Fertihritte Läugnen wollte, welche unſre Kenntniß des Altdeutſchen 
ſeit ſechzig Jahren gemacht hat. Daß aber in ber damaligen Zeit 
die Teckſchen Ueberfegungen eine fehr geachtete Stellung einnah⸗ 
men, erfehen wir daraus, daß einer ber grünblichiten damals le⸗ 
denden Kenner, Bernhard Docen, das Urtheil fällt: „Diefe Nad- 
Gibungen (Teck's), Meine Untrenen abgerechnet, Tommen den Ori« 
ginafen unter allen ähnlichen Verſuchen am nädften“ ®). Der 
Uberfegung der Minneliever ſchickte Tieck eine Einleitung voraus, 
in welder er feine Anſichten über bie altdeutſche Poeſie und ihr 
berhaltniß zur Poeſie anderer Wölfer und Zeiten niederlegte. 
„Sen wir auf eine unlängft verfloffene Zeit zurück,“ heißt es da, 
«bie ſich durch @leichgültigfeit, . Mißverftändniffe oder das Nicht ⸗ 
beachten der Werke der ſchönen Künfte auszeichnet, fo müſſen wir 





1) Wie fich das ſpecifiſch katholiſierende Element erft allmäplic in Tied’s 
Borfie einniſtete, Hat H. Heltner, bie romantiſche Schule u. |. w., Braun ⸗ 
queig 1850, S. 36 fg. auseinandergefeßt. — 2) 2. Ziels Schriften. 
Cfter Band. Berlin 1828, Vorberit S. LXXVIII. — 3) Docen im 
Rein (terarifhen Anzeiger 1807, 12. Mai, Sp. 295. 


302 Zweites Bud. Erſies Kapitel. 


über die ſchnelle Veränderung erftaunen, die in einem fo Turzen 
Beitraum bewirkt hat, daß man fi nicht nur für die Denkmäler 
verfloffener Zeitalter intereffiert, fondern fie würdigt, und nicht 
nur mit einfeitigem und verblendetem Eifer bewundert, fonbern 
durch ein höheres Streben fi) bemüht, jeden Geiſt auf feine ihm 
eigene Art zu verftehn und zu faſſen und alfe Werke der verſchie⸗ 
denften Künftler, fo fehr fie alle für fich ſelbſt das Höchſte fein 
mögen, als Theile Einer Poeſie, Einer Kunft anzufgauen und auf 
biefem Wege ein heifiges unbefanntes Land zu ahnden und endlich 
zu entbeden, von bem alle gerüßrten und begeifterten Gemüther 
geweisfagt haben, und dem alle Gedichte als Bürger und Ein 
wohner zugehören. Denn es gibt do nur Eine Poefte, bie in 
ſich felhft von den früheften Beiten bis in die fernfte Zufunft mit 
den Werken, bie wir befigen, und mit den verloren, bie unjere 
Phantaſie ergänzen möchte, fo wie mit ben Tünftigen, welde fie 
ahnden will, nur ein unzertrennliches Ganze ausmacht” '). Die 
alte Zeit erfläre die neue und umgefehrt. Unſere Kenntniß der 
italieniſchen, fpanifcen, deutſchen, engliſchen und nordiſchen Poeſie 
lehre uns auch das Alterthum richtiger faſſen; „eben wie es unſern 
Nachkommen vergönnt ſein wird, noch tiefer in das Geheimniß zu 
dringen, wenn die Lieder des Orients ihnen näher gekommen 
find“ 2). — „Erfreulich iſt es zu bemerken, wie dies Gefühl des 
Ganzen fon jetzt im ber Liebe zur Poeſie wirft. Wenigſtens iſ 
wohl noch fein Zeitalter gewefen, weldes fo viele Anlage gezeigt 
hätte, alle Gattungen ber Poeſie zu lieben und zu erkennen (Indie 
vibuen, bie ſich oft beim erften Anbli zu wiberfprechen ſcheinen) 
und von feiner Vorliebe fih bis zur Parteilichteit und Nichterlenn⸗ 
ung verblenden zu laſſen“ 2). — „Unter diefen günftigen Umftin- 
den ift e8 vielleicht an der Zeit, von neuem an bie ältere beutide 
Poeſie zu erinnern.“ Man Habe zwar feit Opit und noch häufiger 
feit Gottſched mannigfache Verſuche gemacht, die Aufmerkſamkeit auf 
bie altdeutſche Poeſie zu lenken. Die Bemühungen VBobmer’d, 


1) Minneliedet — her. von 2. Ziel, Berlin 1803, Vort. S. I, — 
2) Ebend. S. III. 


Die Romantifer. 803 


Ldling’s, Eſchenburg's, Myller's, Gräter's, Koch's feien nicht zu 
vertennen. Über trogbem fei das größere Publicum immer noch 
mit der Altern. deutſchen Zeit unbelannt geblieben. Die Darftellung 
der alldeutſchen Poefte, welche Tieck Hierauf folgen läßt, zeigt trotz 
aller Unrichtigkeiten, die wir jegt mit leichter Mühe nachweiſen 
tümen, wie tief ein verwandter Geift auch bei geringen Hülfsmit- 
ten durch liebevolles Studium in das Weſen der alten Dichtung 
einzudringen vermochte. Mit rihtigem Blick erkennt Tied die beir 
den verſchiedenen Seiten der altdeutihen Poefie. „Wenn wir das 
jogenannte Lied der Nibelungen,“ fagt er, „und bie Gedichte aus⸗ 
nehmen, welche zum Heldenbuche gerechnet werben müffen, jo waren 
ohne Zweifel Die Dichter ber Provence die Vorbilder der Deutjchen, 
rangojen und Italiener.“ — „Bei den Provenzalen und Franzo⸗ 
jen finden wir zuerft die Gedichte vom Artus, welde die deutſchen 
Nimefänger bald darauf übertrugen und nahahmten.” „Früher ‘), 
and zwar um mehrere Jahrhunderte, muß man das Erſte Gedicht 
von den Nibelungen fegen, bei welchem es eben fo vergeblich fein 
möfte, nach einem einzigen Verfaſſer zu fragen, als bei ber Jlias 
Der Odyſſee. Die Nibelungen find ein wahres Epos, eine große 
Grideinung, die noch wenig gefannt und noch weniger gewürdigt 
it, ein vollendete Gedicht vom größten Umfange. Das Helden 
nd und diejenigen Erzählungen, melde bazu gerechnet werden 
nüſſen, Haben nod Vieles vom Ton eines epiſchen Zeitalters; es 
Kigt ſich in ihnen eine Größe und Exhabenheit, die zumeilen ſich 
herabſtimmt und im ihren Schilderungen rauh und barbariſch er- 
ifeint; viele Erzählungen erinnern an die Nibelungen, auch find 
mande wohl aus dieſen entftanden, und wenn fie fi nicht zu der 
tinen Erhabenheit diejes Gedichtes erheben, fo tragen fie doch noch 
tele Spuren einer alten Zeit und ergögen durd eine ftarfe und 
nämlige Fröhlichkeit, die durchaus dem Gegenftande ihrer Dat 
fellung angemeffen iſt· 2). — Tied's Minnelieder und befonders 
Vie eben geſchilderte Vorrede dazu machten einen außerordentlichen 


— 


1) als das 19. und 13. Jahrhundert. — 2) Ebend. ©. VI fg. 


804 Drities Bud. Erfies Zapitel 


Eindruck. Wir werden ſehen, wie ſie auch für den größten Ge⸗ 
lehrten unſeres Faches, für Jacob Grimm epochemachend wurden. 


Auguf Wilhelm Schlegel. — Friedrich Schlegel. 


Wenn Tied durch die verwandte Art feiner eigenen Poeſie ſich 
zur altdeutſchen Dichtung hingezogen fühlte, ſo wurden die Brüder 
Schlegel durch ihr umfaſſendes Studium der geſammten Literatur 
auch dem deutſchen Alterthum zugeführt. Wir ſehen fie in neuer 
Weiſe und mit ſehr vervolllommneten Mitteln die Richtung wieder 
aufnehmen, welcher Herder die Bahn gebrochen Hatte. Der ältere 
der beiden Brüder, Auguft Wilhelm (geboren zu Hannover 
1767), war fich diefer Geiſtesverwandtſchaft wohl bewußt, wie wir 
aus feiner treffenden Schilderung Herder's ſehen 1). Was er 
Herder nachrühmt, daß „feine Muſe gern eine gefelfige Dolmet- 
ſcherin der Zeiten und Völfer ift, bie allen Zungen nachzuſingen 
und jeden Ton zu treffen weiß“ 2), das gilt in eminenter Weile 
von A. W. Schlegel ſelbſt. Schon in einer feiner erften größeren 
Abhandlungen, in den „Briefen über Poefie, Silbenmaß und 
Sprade," die er im Jahr 1795 in Schillers Horen veröffentlicht, 
fpricht er aus, worauf es abgefehen war. Der Kunftrichter fol 
„ſich bis zur Weltgeſchichte der Phantafie und des @efühls er- 
heben.“ „Welch ein weiter Horizont ift es,“ ruft er aus, „ber alles 
uns bekannte Schöne ber Poeſie, was jemals irgendwo unter ben 
Menſchen erſchien, in fi faht!" I). — Beide Brüder giengen aus 
von einem gründlichen Studium ber griechiſchen und römiſchen Cr 
teratur. Auguft Wilhelm hatte feine klaſſiſchen Studien unter 
Heyne in Göttingen gemacht; Friedrich war befonders angeregt 
durch Friedrich Auguft Wolfs Schriften, vor allem durch die im 
Jahr 1795 erſchienenen Prolegomena ad Homerum. An br 
griechiſchen Literatur und der geiftvollen Behandlung, die fie durch 
Wolf erfuhr, Ternten fie, die Literatur eines Volles nicht als eine 


1) 1797. A. ®. von Sählegel’6 Werke, Leipzig 1846, Vd. X, 6.376. 
— 2) Ebend. ©. 410. — 3) A. W. von Schlegel's Werke, 8. VI 
©. 107. 


Die Romantiter. 805 


afälfige Maſſe beliebiger Schriftwerke, ſondern als das organiſche 
Ergengniß des Volles auffaffen, das fie hervorgebracht hat. In 
diem Sinn ift F. Schlegel's geiftvolle „Geſchichte der Poeſie der 
Griehen und Römer“ 1) geſchrieben. Neben dem Studium der 
Griechen und Römer war es den beiden Brüdern von Anfang an 
am eine richtige Würdigung der damals in ihrem höchſten Glanze 
fefenden neueren deutſchen Literatur zu thun. In Goethe verehren 
fe den gebornen Herrſcher auf bem Gebiet der deutſchen Poefie 
und ſuchen fi in deſſen Werke immer tiefer einzuleben. Bon 
Säilter’3 aefthetiihen Abhandlungen erfahren fie in ihren theoretie 
fhen Anfichten bedeutende Einwirkungen. Auf dem Gebiet der philo- 
ſophiſchen Speculation treten fie mit Fichte, dann mit Schelling 
md Schleiermacher in nahe Beziehung, auf dem der Poeſie mit 
den ihnen verwandten Beftrebungen Tied's und Hardenberg's. Bon 
den antiten Klaſſikern ausgegangen, breiten fie ihr Stubium ber 
Boefie zunächft auf die Literatur der romanifhen Völfer aus. Für 
Dante und Gervantes eröffnen fie ein Verſtändniß, wie e8 bis da- 
fin in Deutfchland nicht entfernt vorhanden geweſen war. Bor 
allen aber iſt es ein germanifcher Dichter: Shafefpeare, dem Auguſt 
Wilhelm Schlegel’ eifrigftes Studium ſich zuwendet. Seine 
meifterhafte Ueberſetzung Hat den größten engliſchen Dichter aud zu 
nem deutſchen Klaſſiker gemacht. 

Alle dieſe Studien wieſen die Schlegel von verſchiedenen Seiten 
auch auf die altdeutſche Literatur hin. Aber fo felbtverftändlid, 
wie heutzutage, muß man ſich die Sache nicht denken; und fo blieb 
ihnen denn auch eine eingehenbere Beihäftigung mit unfrer eigenen 
älteren Literatur noch geraume Zeit fern, nachdem fie ſchon bie 
umfaffendften Studien fremder Geifteswerfe, alter wie neuer, ges 
macht hatten. Zwar einige Kenntniß der mittelhochdeutſchen Dichter 


1) Erſien Bandes erfie Abtheilung. Berlin 1798. Ich Tann natürlich, 
hier auf diefen Gegenſtand nicht näher eingehen und muß deshalb aud das 
Berhältnig von F. Schlegel’ früherer Schrift: „Die Griechen und Römer. 
cher Band. Neufrelig 1797” zu ber „Geſchichte der Poeſie der Griechen 
und Römer“ unerdrtert laſſen. 

Raumer, Geld. der germ. Pfllologie. 20 


806 Drittes Bud. Erſtes Kapitel, 


läßt fih bei A. W. Schlegel ſchon ziemlich früh nachweiſen. In 
den „Betrachtungen über Metrik“, bie vor 1798 geſchrieben find, 
macht er die Bemerkung, daß „bei unfern Minnefängern, wenn 
wir fie nad) ber heutigen Ausfprade leſen, häufig der Reim, der 
doch urſprünglich gewiß richtig war, verloren geht“ 1). Ebenſo ber 
ruft er fi in feiner Beurtheilung ber „Beyträge zur weitern Aus · 
bildung der deutſchen Sprache“, die 1797 in der Jenaiſchen allge 
meinen Literaturzeitung erſchien, darauf, daß flerionslofe For⸗ 
men, wie „ein blutend Herz, ein ehern Band“, „durch den gur 
ten, alten Befig der Dichter von ben Zeiten der Minnefinger 
bis auf die umfrigen“ ſich vertheibigen laſſen. Aber eine tiefere 
und eingehenbere Beſchäftigung mit unfrer alfen Literatur ſchreibt 
fi Hei den Brüdern Schlegel erft aus ber Zeit Ber, als fie 
mit Tied und Novalis in nähere Beziehung traten. Wie fih 
bei ihnen voraus fegen läßt, greifen fie nun die Sache meer 
als bloße Antiquare, nod als bloße Liebhaber am, ſondem 
mit der Wärme und dem Blick genialer Literaturforſcher. Wir 
fehen dies gleich aus ihren erften eindringenderen Weußerune 
gen, die dies Gebiet betreffen. Ein deutſcher Edelmann hatte 
gegen Ende des 18. Jahrhunderts einen Preis von hundert 
Ducaten auf die Entdeckung der alten Barbengefänge geſetzt, welde 
Karl der Große Hat aufzeichnen laſſen. U. W. Schlegel äußert 
ſich darüber im Athenäum 17992) in einer Weiſe, die von einer 
für die damalige Zeit nicht geringen Einſicht in ben Gegenftand 
zeugt. Es folle fi niemand auf die vergehlie Mühe einlaflen, 
jagt er. „Fürs erfte Haben die alten Germanier feine Barden | 


1). W. von Sälegefs Werte Dt. VII, ©. 181. Daß biee ‚Br 
trachtungen über Metrit. An Friedrich Schlegel“ vor 1798 geſchrieben find, 
ergibt fich daraus, daß der Verf. fie für das Gefpräh: „Die Epraden” br 
reits Benugt hat, womit das erfie Heft des Athenäums (erſchienen zur Ofter 
meſſe 1798) eröffnet wurde. Bol. 3. B. A. W. von Schlegel's Werte Vll. 
©. 159 mit ©. 211; oder S. 170 mit ©. 217. — 2) Aıpenäum. Eine 
Zeitfgrift von A. W. Schlegel und F. Schlegel, Zweiter Band, Zweit 
Stüd, Berlin 1799, ©. 306 fg. Wieder abgebrudt in A. B. von Sqhlegele 
Werten, Vd. XII, Leipjig 1847, ©. 39 fg. 


Die Romantiter. 307 


gehabt, folglich auch Feine Bardengeſänge. Das Wort Barde ift 
galliſch, und die heilloſe Verwirrung der galliſchen Völkerſchaften 
mit den germaniſchen unter der griedhiihen Benennung der Gelten 
it fhon längft für ungültig erfanmt.“ — „Aber wie, wenn ber 
Iahalt der auf Karls Befehl aufgeſchriebnen Lieder, in einer 
ſpaͤteren Bearbeitung wirflih auf uns gekommen, ſchon längft bes 
launt, und das Nachſuchen alfo doppelt vergehlih wäre? Das 
Lied der Nibelungen bezieht fi auf burgundiſche Geſchichten 
3 dem fünften Jahrhundert; Johannes Müller Cin der Beur⸗ 
teilung der Müller'ſchen Ausgabe in den Götting. Anz. vom 
3.1783) glaubt, die Grundlage ber Fabel ſei ſchon zu Karl's des 
Großen Zeiten vorhanden geweſen. Wirklich deutet die herbe Wild- 
keit dieſer koloſſaliſchen Dichtungen auf Hohes Alterthum; das ei» 
gentlich Nitterlie kann ihnen in der Behandlung aus dem Zeit- 
der der Minnefinger, bie wir befigen, erſt angebildet fein“ In 
der letten Zeit feines Jenaer Aufenthalts und zu Berlin, wohin 
a m Jahr 1802 auf längere Zeit überfiebelte, beſchäftigte ſich U. 
W. Schlegel eifrig mit dem Studium ber altdeutichen Literatur. 
Bir jehen dies aus ben eingehenden und oft fehr treffenden Be⸗ 
mertungen, die er in feinen Briefen an Tied macht über deſſen 
Mimelieder !), über das Metrum der Nibelungen, in weldem er 
„den längeren Vers am Schluß der vierten Zeile als durchaus wer 
ſentlich· erlennt 2), über den lateiniſchen Walther von Aquitanien, 
teilen nahen Zufammenhang mit dem Nibelungenlieb er fieht und 
von dem er jagt, daß er zwar nicht fo alt fei, als der Herausge⸗ 
ber will, „aber immer noch viel älter als unfer heutiger Text der 
Nibelungen.“ „Was aber mir das Wichtige dabet ſcheint“, fügt er 
tinzu, „ift die über allen Zweifel einleuchtende Gewißheit, daß ter 
lateiniſche Verfaſſer nad) einem deutſchen Gedicht im Styl und aus 
dem Zeitalter der Nibelungen gearbeitet und ſolches bloß mit Vir⸗ 
Siigen Phraſen zugeftugt“ 9). Auf Grundlage dieſer Studien hielt 





1) Briefe an 2, Ziet, her. von R. v. Holtei, Mb. IT, Breslau 1864, 
&.285 fg. — 2) Berlin 13. März 1804. Ebend. ©. 292. — 3) Berlin 


%.8. Sehr. 1804. Ebend. ©. 289. A 


308 Drittes Buch. Erſies Kapiiel. 


A. W. Schlegel in den Jahren 1802 und 3 zu Berlin feine Bor- 
Iefungen über das Mittelalter 1) und über Geſchichte der deutſchen 
Poeſie. Er erftattete darin namentlich auch Bericht über das Lie 
der Nibelungen und machte damit einen bedeutenden Eindrud auf 
die fehr zahlreihe Berfammlung. Unter den Zuhörern befand fih 
auch Friedrich Heinrich von der Hagen, der nachherige Herausgeber 
der Nibelungen, der eben durch dieſen Vortrag Schlegel’3 zu feinem 
Unternehmen angeregt wurde ?). 

Friedrich Schlegel, ber jüngere der beiven Brüder, (ge 
boren zu Hannover 1772), machte ſich erft etwas fpäter mit ber 
altdeutſchen Literatur bekannt, als fein älterer Bruder. Seine 
früheften Schriften zeigen noch eine voliftändige Unkenntniß derſel⸗ 
ben. Dann aber, im Bunde mit feinem Bruder, mit Tief und 
Novalis wird er mächtig von der alten deutjchen Kunſt und Dicht 
ung ergriffen. Unter feinen im Athenäum 1800 veröffentliäten 
„Ideen“, die ſich durch Geiſt und Tieffinn nit weniger auszeich 
nen, als durch wiberwärtige Paradogien, findet fi die Weußerung: 

- „Der Geift unfrer alten Helden deutſcher Kunft und Wiſſenſchaft 
muß der unfrige bleiben, fo lange wir Deutſche bleiben. Der 
deutſche Künftler hat keinen Charakter ober den eines Albrecht 
Dürer, Keppler, Hans Sachs, eines Luther und Jacob Böhme 
Rechtlich, treuherzig, gründlich, genau und tieffinnig iſt diefer 

‚ Charakter, dabei unſchuldig und etwas ungeſchickt. Nur bei den 
Deutſchen ift es eine Nationaleigenheit, die Kunſt und die Wiſſen⸗ 
ſchaft bloß um der Kunft und der Wiſſenſchaft willen göttlich zu 
verehrten“ >). Und in dem „Geipräd, über bie Poeſie“, das ſich in 
bemfelden Jahrgang des Athendums findet, Inüpft Friedrich Säle 
gel die größten Hoffnungen für die deutſche Poeſie daran, daß bie 
Deutſchen „auf die Quellen ihrer eignen Sprade und Dichtung 
zurüdgehn und die alte Kraft, den hohen Geift wieder frei machen 

1) ©. Deuiſches Mufeum, der. von F. Schlegel, Bb. II, Wien 181%, 
©. 432 {9 — 2) 9. W. Schlegel in F. Schlegel's Deutſchem ufım 
8b. I, Wien 1812, ©. 16. Bgl. Briefe an 2. Tied, Ob. II, S. 290. — 
3) Athenaum, Band III, Stüd 1, Berlin 1800, ©. 25. 


Die Romantifer. 309 


dee noch in den Urkunden ber vaterländifhen Vorzeit vom Liebe 
der Nibelungen bi8 zum Flemming und Wedherlin bis jegt ver- 
kunt ſchlummert“ 9). 

Im Jahr 1802 unternahm Friedrich Schlegel eine Neife nad 
Paris. Seit diefer Zeit vorzüglih wandte er der Literatur und 
Kunft bes Mittelalters, beſonders der altdeutſchen Poeſie und 
Sprade feine Aufmerkfamfeit umd Liebe zu2). Im eriten Heft ber 
von ihm herausgegebenen Zeitſchrift „Europa“ ſchildert er uns die 
Eindrüde feiner Reife. Wir erkennen daraus, wie tief Schlegel 
von dem damaligen Elend bes deutſchen Volkes ergriffen war und 
wie er den Blick auf deſſen ruhmvolle Vergangenheit richtete und 
aus ihr neue Hoffnung für die Zukunft ſchöpfte. Der wunderbar 
ſcöne Anbli der Wartburg ruft in ihm die Erinnerung an die 
Seiten wach, „da die Poefte Hier in voller Blüte ftand und durch 
ganz Deutfhland das allgemeine Element des Lebens, ber Liebe 
und der Freude war. Nur der Rhein hat noch einen gleichen Ein- 
druf auf mich marhen können.“ — „Wenn man folde Gegenftände 
feht, jo fan man nicht umhin, fich zu erinnern, was die Deut- 
iden ehedem waren, da ber Mann noch ein Vaterland hatte“ 3). 
Nach einem begeifterten Preis des friſchen und poeſiereichen Lebens, 
das „die Mitter, die Alten, die Männer des herrlichen Landes“ 
af Berges Höhen und in Waldesgrüne führten, fährt er fort: 
„Diefe Boefie ift nun verſchwunden und auch die Tugend, die mit 
derſelben verſchwiſtert war. Statt bes Furor Tedesco, deſſen in 
den italieniſchen Dichtern jo oft erwähnt wird, ift nun die Gebuld 
wijere erfte Rationaltugend geworden und nebft diefer bie Demuth 
zum Gegenſatz jener ehedem herrichenden Gefinnung, wegen welder 
noch zur Zeit Kaifer Karl des Fünften ein Spanier, der mit ihm 
biefes Sand durchreiſte, die Deutſchen los fieros Alemanes nennt. 
Aber was ums betrifft, fo wollen wir feft halten an dem Bilde 


1) Athenãum, Band III, Stüd 1, Berlin 1800, S. 86. — 2) $r. 
Sqlegel, Geſchichte der alten und neuen Litteratur, Erſter Thl. Wien 1815, 
dor. &. XI. — 3) Guropa. Cine Zeitſchrift. Herausgeg. von Ftiedrich 
Sqhlegel. Erſten Bandes Erftes Stüd. Frankfurt a. M. 1803. ©. 7. 


310 Drittes Bud. Erſtes Kapitel. 


oder vielmehr an ber Wahrheit jener großen Zeiten und uns nicht 
verwirren laſſen duch die gegenwärtige Armeligfeit, unter welder 
diefes große Volt nit weniger erliegt, wie andere minder bebeu- 
tende. Vielleicht wird der [hlummernde Löwe noch einmal erwachen 
und vielleiht wird, wenn wir es auch nicht mehr erleben follten, 
die Tünftige Weltgeſchichte nod voll fein von den Thaten der Deut 
föen‘ ). — Am Paris find es Hauptfählih zwei Gegenftände, 
bie Friedrich Schlegel’s Thätigfeit in Anſpruch nehmen. Erſtens 
und vor allem das Studium der orientalifchen Sprachen und zwei: 
tens bie Betrachtung und Erforſchung der mittelalterligen Kunſt 
Die epochemachenden Ergebniffe von Schlegel's orientaliſchen Stu 
dien, die durch die Einführung des Sanskrit in den Kreis der 
deuten Wiſſenſchaft auh für die germanifche Philologie von jo 
tiefgreifender Bedeutung wurben, beſprechen wir fpäter in einem 
befonderen Abſchnitt. Aber au die andere Seite von Schlegels 
Beſtrebungen, die Erforſchung ber mittelalterlichen Kunft, die 
ihn nicht bloß während des Parifer Aufenthaltes, fondern and in 
den folgenden Jahren in Anſpruch nahm, Hat für die beutide 
Geiſtesgeſchichte einen fehr wichtigen Anftoß gegeben. Die großat⸗ 
tige Vereinigung von Kunſtſchätzen, bie in jenen Jahren zu Paris 
ftattfand, veranlaßte Schlegel, feine früheren Dresdner Kımftftubien 
wieder aufzunehmen. Er wandte ſich vorzüglich den älteren Sta 
Hienern und dann mit wachlender Vorliebe ben altveutjchen Malern 
zu. Die Nachrichten von Gemälden in Paris, die er im feiner 
Europa gab, und die er dann in berfelden Zeitſchrift auch über bie 
Niederlande und Köln aushreitete, haben einen weſentlichen Antheil 
an der Gründung der ſeitdem ſo reich erblühenden deutſchen Kunft- 
geſchichte. Schon lange zwar hatten die Antiquare ſich mit den 
deuten Kunftaltertgümern fammelnd und beſchreibend abgegeben 
Aber wenn es ſich um eine finnvolle Auffaffung, um bie Künftieri- 
fe Würdigung und um die geſchichtliche Erforſchung der alt 
deutſchen Kunft handelte, fo konnte Schlegel damals (1803) mit 
Recht jagen: Die altbeutfhe Malerſchule ift noch fo gut als völlig 


1) Ebend. ©. 11. 


Die Romantiker. 311 


unbelannt 1). Schlegel verfenkte ſich mit gleicher Liebe in ben 
‚mergrünblichen und verwidelten Tiefſinn“ des Albrecht Dürer, 
wie in die entwidelte Formvollendung des Holbein. Was aber 
vor allem epochemachend wurde in feinen kunſtgeſchichtlichen Bes 
trahtungen, war, daß er die Größe Johann's van Eyd erfannte 
und ihn an die Spige ber deutſchen Malerei ftellte, deren Ger 
ſchichte durch die „beftimmte und äußerſt einfade Stufenfolge des 
&pd, Dürer und Holbein" bezeichnet werde. Neben End wird hier 
zum erſtenmal dem deutſchen Bublicum der Preis bes Hemmelink“ 
verlünbet 2). Eine neue wichtige Erweiterung befommen dann Schle⸗ 
gels Kunſtanſchauungen, als er in Köln die reihen Schäke ber 
dortigen Malerſchule kennen lernt, und vor allem erhält das eben 
damals wieder auftaudhende, jet fo berühmte Dombild die höchſten 
Wbfprüche 3). — Wie für die Malerei, fo find für die altdeutſche 
Baukunſt Friedrich Schlegel's Anregungen von nachhaltiger Wirk- 
ung gewefen. Wir haben früher erzählt, wie unfer größter Dich⸗ 
ter in feinen jüngeren Jahren ber begeifterte Verlünder unfrer 
alten Bauhmft und ihrer Herrlichkeit wurde. Wir haben aber 
auch gefehen, wie fo ganz er in fpäterer Zeit von dieſen Anſchau⸗ 
ungen feiner Jugend zurückam; und in diefe Periode ber ausſchließ ⸗ 
figen Bergötterung des Griehifen von Seite ber Weimariſchen 
Kunftfreumbe fällt bie neue Wiederbelebung des Sinns für altdent- 
(he Baukunſt durch Friedrich Schlegel. Seine Anfichten darüber 
hat er ausgeſprochen in feinent Poetifhen Taſchenbuch für das Jahr 
1806. Die Stadt Köln mit ihren Kunſtdenkmälern aus einer lan⸗ 
gen Meihe von Jahrhunderten liefert ihm vor allen den Stoff zu 
feinen Betrachtungen. Wir können Bier nicht näher eingehen auf 
Sthlegel's Verſuche, die Formen der altdeutf hen Baukunft zu beu- 


1) Guropa Band II. Stüd 2, S. 2. — 2) Europa, Band II, Gtüd 2, 
S. 36 fg. Mol. die ſchon frühere rühmende Erwähnung bes „alten Maler 
Hemmerlint“ ebend. Band I, Gtüd 1, ©. 154. — 2) Ebenb. Bd. II, 
Sid, 2, ©. 134. fg. — Einige ſtarke Nebertreibungen würde man bem er» 
Ren Enthuſiasmus noch lieber zu gute Halten, wenn fie nicht bereits mit 
inigen Anfichten in naher Beziehung fründen. 


312 Drittes Buch. Erſtes Kapitel. 


ten und ihren Urfprung zu erfläven. Die Hauptfahe war, daß er 
von ber großartigen Schönheit des Kölner Doms wirflih tief er⸗ 
griffen war und feine Gefühle in begeifterten Worten ausiprad. 

In mehr als Einer Beziehung fehen wir die Einficht in unfre 
deutſche Vorzeit auch durch befondre Forſchungen A. W. und F. 
Schlegel's gefürbert. Aber das Wichtigfte an ihrer Thätigkeit war, 
daß fie den Sinn für unfre Kunft weden halfen; daß fie, die 
gründlichen Kenner alter und neuer Kiteratur, die von ben Meiften 
veradteten Reſte unfrer Vorzeit in ihrer hohen Bedeutung aner⸗ 
kannten. — Wenn wir num mit unbefangenem Blick die großen 
Verbienfte ber Brüder Schlegel hervorheben, fo find wir doch weit 
entfernt, ihre Mißgriffe und Verirrungen in Schutz nehmen zu 
wollen. Die Brüber Schlegel erfannten den Hohen Werth der 
mittelalterlichen Literatur und Kunft und befämpften mit über 
Tegenem Geift die Vorurtgeile, welche Unwiffenheit und Seichtig ⸗ 
keit gegen die großen Erſcheinungen des Mittelalters hegten. Aber 
fie überfahen oder verfchwiegen die abfhredenden Schattenfeiten des 
Mittelalters 1) und verfannten die unfhägbaren Vorzüge, durch 
welche fi trog aller ihrer Gebrechen die neuere Zeit vor dem 
Mittelalter auszeichnet. So verjenkte fih endlich Friedrich Schle⸗ 
gel mit folder Ausſchließlichleit in die Anſchauungen des Mittel 
alters, daß er (1808) auch defien religiöfen Glauben annahm und 
auf kirchlichem, wie auf politiidem Gebiet die Schöpfungen und 
Veftrebungen der neueren Jahrhunderte befämpfte. 

Ganz anders als fein Bruder Friedrich verhielt ſich A ®. 
Schlegel zu den Erſcheinungen des Mittelalters. In einer fpite 
ven Schrift: „Berichtigung einiger Mißdeutungen, Berlin 1828 2), 
bat er ſich über fein Verhältniß zum Katholicismus ausgefproden. 


1) Wo fi} eine Hinbeutung auf die Schattenfeiten des Mittelalters niht 
vermeiden Täft, ba wird fie doch möglichft gedämpft und durd) das umgebende 
Licht überſtrahit. So z. B. in A. W. Shlegel’s Vorlefung über das Minel 
alter, gehalten in J. 1803 und abgebrudt in Fr. Schlegel’s Deuiſchem Pr 
feum Bd. II, Wien 1812, ©. 432 fg. Vgl. baj. ©. 458. — 2) Wieder 
abgebrudt in A. W. Schlegel's Werken, Ob. VIII, Berlin 1846, &. 20. 


Die Romantiker, 313 


So manden harten und ungereditfertigten Ausſpruch über die 
neuere Zeit, den ex früherhin getan, hat er Hier zurüdzunehmen. 
Was aber die Stellung zur mittelalterlichen Literatur und Kunſt 
betrifft, die er in diefen fpäter abgelegten Bekenntniſſen einnimmt, 
fo Iäßt ſich nachweifen, daß fie ſchon im den Erzeugniifen feiner 
jüngeren Jahre weſentlich diefelbe war. Ex Iehnt nämlich die Zus 
muthung ab, daß man entweder ben religiöfen Glauben des Mit- 
telalters annehmen ober bie Runfterzeugniffe, die aus diefem Glau- 
ben heroorgegangen find, verwerfen müfle. Der Proteftant befinde 
fih vielmehr den mittekalterlihen Kunſtwerlen gegenüber in einer 
ganz ähnlichen Stellung, wie der Chriſt überhaupt den Erzeugniffen 
des aſſiſchen Alterthums. Hier falle e8 Teinem ein, den Bewun⸗ 
deren der griechiſchen Plaſtik zuzumuthen, entweder die Werke der 
antilen Künftler zu verwerfen, oder zu dem olympiſchen Göttern 
zu beten 1). Ganz denfelden Gebanten, den er bier im Jahr 
1828 äußert, fpriht U. W. Schlegel bereits einunddreißig Jahre 
früher in der Beurtheilung von Wackenroder's Herzengergiefungen 
eines kunſtliebenden Nlofterbrubers aus, die er im Jahrgang 1797 
der Jenaiſchen allgemeinen Siteraturzeitung veröffentlichte. „Wenn 
mir," Heißt es bier, „der Forderung gemäß, daß der Betrachter 
Rh in die Welt des Dichters ober Künſtlers verfegen foll, fogar 
den mythologiſchen Träumen bes Alterthums gern ihr Iuftiges Da- 
fein gönnen, warum follten wir nit, einem Kunſtwerke gegenüber, 
an riftlihen Sagen und Gebräuden einen näheren Antheil neh- 
men, die fonft unfrer Denlart fremd find?” 2). 


Die Hiederwerfung Deutſchlaunds durd die Sramofen in dem Jahren 1805 
and 1806 und das Erwachen der deutfhen Gefinnung. Fichte. Arndt. 
Iahn. 


Nachdem dur die Schlacht bei Aufterlig Oeſtreich, durch bie 
bei Jena Preußen in den Staub geworfen und buch den Frie—⸗ 
densſchluß zu Presburg (1805) die Macht Oeſtreich's, durch den zu 


1) Beritigung einiger Mifdeutungen 1828. 4. W. Schlegel's Werfe 
VL, 6. 223-226, — NA B. Sqlegels Werke X, ©. 365 fg- 


314 Drittes Bud. Erſies Kapitel, 


Tilſit (1807) die Macht Preußen's gebrochen war, ſchien jeder Wi- 
derftand gegen dem franzöfifcgen Unterdrüder für immer unmöglid 
gemacht. Aber gerade in biefer Zeit des ſchwerſten Ungläfs zeigte 
ſich die unerſchöpfte Lebenskraft des deutſchen Volles. Die Helden 
der Befreiungstriege ſchufen die Heere, mit denen fie dann ben 
franzöſiſchen Zwingheren aus dem Felde ſchlugen, und ber größte 
deutſche Staatsmann gab Preußen eine neue politiſche Grundlage. 
In diefer Zeit der größten Zerriffenheit und ſcheinbaren Vernich- 
tung unſres Waterlandes erwachte in den Mräftigften und ebelften 
Geiftern unferes Volles nur um fo lebhafter das Gefühl ber deut 
ſchen Gemeinfamfeit. Se troftlofer aber bie politiſche Gegenwart 
mar, um fo mehr mußte fi der Bl auf die gemeinfamen geifti» 
gen Güter richten, welche dem deutſchen Volle noch geblieben 
waren und an welde fi die Hoffnung der Tünftigen Aufer- 
ftefung Mnüpfen ließ. Bor allem ift e8 bie deutſche Sprade, bie 
man als das gemeinfame Band erfennt und preift, das alle deut- 
fen Stämme umfhlingt. Denn wäre fie nicht geweſen, woran 
Hätten ſich die Deutſchen, die fi damals in erbittertem Kampfe 
gegenüberftanden, jemals wieder als Genoffen Eines Volles erten- 
nen follen? Zugleich aber richtete fi ber Blick aus der trüben 
Gegenwart auf bie großen Zeiten der deutſchen Vergangenheit. 
Dean erinnerte fih, was das deutſche Volk in früheren Tagen ge 
weſen, welde Stellung e8 eingenommen, was es ſeit ältejter Zeit 
für die Menfchheit geleiftet habe. 

Unter den Männern, die in jener trüben Zeit das beutihe 
Bolt durch ihr Wort aufgerichtet und ihm feine große Beſtimmung 
in leuchtenden Zügen vorgehalten Haben, find in erfter Linie zu 
nennen: Johann Gottlieb Fichte, Ernft Morig Arndt 
und Friedrich Ludwig Jahn. Wir Haben hier nicht die Auf- 
gabe, das Lehen und die Thätigfeit diefer Männer zu ſchildern. 
Wir müffen uns vielmehr begrügen, darauf hinzuweiſen, baß einer- 
feits die Belebung bes deutſchen Sinnes aud unfrer Wiſſenſchaft 
zu gute kam, und daß andrerſeits gerade biefe Herolbe ber beut- 
fen Freiheit den unſchätzbaren Werth ber deutſchen Sprache her 
vorhoben. In Fichte's Heben an die deutſche Nation Handelt bie vierte 


Die Romantiter. 315 


vorzugäweife von ber deutſchen Sprade; unb fo wenig wir auch 
jo mande von Fichte's Hier geäußerten Anſichten unterſchreiben 
Können, fo folgen wir doch mit Freude den lebendigen und tieffin- 
nigen Betrachtungen de3 genialen Mannes. Der Deutſche, meint 
a, rede eine bis zu ihrem erften Ausitrömen aus ber Naturkraft 
lehendige Sprache, dagegen jeien die neulateiniſchen Sprachen von 
den Böllern, die fie ſprechen, nur angelernt und deshalb bloß auf 
der Oberfläche fich vegend, im der Wurzel aber tobt. „Welden 
mermehlichen Einfluß auf die ganze menſchliche Entwicklung eines 
volls“ fagt er, „die Beſchaffenheit feiner Sprache haben möge, der 
Sprache, welche den Einzelnen bis in die geheimfte Tiefe feines 
Gemũths bei Denken und Wollen begleitet, und beſchränkt oder 
beflügelt, welche die gefammte Menſchenmenge, die diefelbe redet, 
af ihrem Gebiete zu einem einzigen gemeinfamen Verftande ver- 
fäpft, melde ber wahre gegemfeitige Durchſtrömungspunkt der 
Sinnenwelt und der ber Geiſter ift und bie Enden biefer beiden 
dfo in einander verſchmilzt, daß gar nicht zu fagen ift, zu welcher 
von beiben fie felber gehöre; wie verſchieden die Folge diefes Ein- 
fluſſes ausfallen möge, da wo das Verhältniß ift wie Lehen und 
Tor, läßt fich im Allgemeinen errathen 1). 

Einen wie Hohen Werth Arndt auf bie Sprade eines Bol- 
les legt, iſt zu befannt, um einer näheren Erörterung zu bebürfen. 
Ya feinem berühmteſten Liebe Hat er feiner Anfiht den kürzeſten 
Ausdrud gegeben. „So weit die deutſche Zunge klingt,“ das ift 
des Deutſchen Vaterland. So fang Arndt in den erften Monaten 
des Jahres 1813, zu einer Zeit, als Deutihland von der Karte 
Europe’8 verfäwunden war. Die Sprache und ihre innige Ver- 
flehtung mit dem Dafein ver Völler hat Arndt während des ganzen 
Verlaufs feiner langen Schriftftellerlauffahn immer von neuem bes 
fhäftigt. Schon eine feiner früßeften Schriften waren bie „Seen 
über die höchſte hiſtoriſche Anficht der Sprache (Roſtock 1805).“ 
Aus der Zeit von Arndt’ erfolgreichiter Thätigkeit wollen wir nur 


1) Reben am die deutſche Nation durch Johann Gottlieb Fichte, Neue 
Aufl Leipzig 1824, ©. 108. 


316 Drittes Bud. Erfles Kapitel. 


hinweiſen auf bie treffenden Bemerhimgen, die in feiner Schrift: 
„Ueber Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprade. 
1813* 1), enthalten find. „So ift jede Sprade der Ausdrud jedes 
Volles,“ fagt er hier 2), „eine gleichfam in beweglichen Typen aus- 
gebrüdte Ieferlihe Geſchichte feines Lebens und Weſens. Auf diefe 
Weife fieht fie ber Erforfcher und Erkunder eines Volkes an. Das 
Bolt ſelbſt aber muß feine Sprache als feine ältefte Ueberlieferung 
und als fein Heiligftes Heiligthum ehren und bewahren: feine 
Sprade ift aud feine frühefte Geſchichte und fein früheftes Leben, 
und fein jüngftes Leben kann nur ein würbiges und glüdlices 
Leben werben, in wie fern es mit dem früheften Geift diefer feiner 
Sprache in Uebereinftimmung ift, fo wie man nur denjenigen einen 
glückſeligen Mann nennen Tann, beffen Jugend umd Mannesalter 
mit feiner Kindheit in Gleichmaß und Webereinftimmung fortgebil- 
det ward." Nur Einen Zug in Arndt's Weſen möchte id noch 
hervorheben, weil er gerade auch für die Art, wie Arndt auf bie 
germaniſche Philologie eingewirkt Hat, von Bebeutung war. Es ift 
bies feine liebevolle Beſchäftigung mit den flandinavifchen Völtern. 
AS ein genauer Kenner ihrer gegenwärtigen Zuftände überfieht er 
die Verſchiedenheit zwiſchen ihnen und den Deutſchen nicht. Aber 
„verwandt,“ fagt er, „find wir allerdings dem Norden ſehr durch 
die Sprade, worin fi, wie in einer geiftigen Kapſel, aud ber 
gemeinfame Kern von Sinn, Art und Streben ber Völler am 
fierften zu bewahren pflegt“ 3). Außer mit feinen lieben Deut 
ſchen Hat er fi mit feinem Volke fo zufammengelebt wie mit den 
Nordgermanen der ſtandinaviſchen Halbinſel. Es ift das Ne 
germanifhe, was ihn anzieht, und überdies der gemeinſame Pro- 
teftantismus. „Es lag aud wohl von jeher ein gewiſſer Prote 


1) Ohne Ort. Wieder abgebrudt in E. M. Arndt’ Schriften für und 
an feine lieben Deutſchen. Erſtet Theil, Reipjig 1845, ©. 358 — 488, def 
ohne bie Beilagen der früheren Ausgabe. — 2) ©. 33. Schriften I, S. 884. 
— I) EM. Arndt, Verfud in vergleichender Völkergeſchichte, Leipziig 184, 
©. 329. 


Die Romantiter, 317 


ſtantismus,“ meint er, „lange vor Doctor Martin in dem Kühle 
ten, ernjteren und freieren Sinn der nordiſchen Menſchen“ 1). 
Friedrich Ludwig Jahn (geboren im Jahr 1778 zu Larız 
in ber Priegniz, geftorben 1852 zu Freiburg an der Unftrut) hat 
nicht nur durch fein Wort, fondern mehr noch durch die That zur 
Kräftigung des deutſchen Volles mitgewirkt, indem er der eigent« 
fihe Gründer des deutjchen Turnweſens wurde. Wir haben ihn 
und feine &ründung Hier nur von Seiten ihrer Verbindung 
mit den deutſchen Sprach⸗ und Altertfumsftudien zu betrachten; 
aber gerade dieſe Seite ift von nicht geringer Bebeutung. Jahn 
felöft war von Haufe aus Sprachforſcher. Als er während feiner 
Univerfitätsftudien zu Halle (1796-1800) Mitglied von Friedrich 
Auguſt Wolf's philologiſchem Seminar war, pflegte dieſer Jahn's 
Sptachinſtinkt· zu rühmen 2). Schon bevor er Gründer bes 
Turmweiens wurde, trat Jahn mit einer philologifgen Schrift auf: 
Vereicherung bes Hochdeutſchen Sprachſchatzes verſucht im Gebiethe 
der Sinnverwandtſchaft, ein Nachtrag zu Adelung's und eine Nach⸗ 
leſe zu Eberharb’s Wörterbuh von J. F. 8. Ch. Jahn. Leipzig 
1806,” unb durch feine ganze Schriftftellerei, fowohl durch das 
Deutfe Volksthum (Lübeck 1810) als die Deutſche Turnkunſt 
Gerlin 1816) und feine fpäteren Schriften (Neue Runenblätter. 
Roumburg 1828. — Merke zum Deutfhen Bolksthum. Hildburg⸗ 
haufen 1833) zieht ſich diefe philologiſch- linguiſtiſche Ader. Wir 
Innen die fo oft verfpotteten Seltjamteiten und Schroffgeiten 
Jahn's fo gut, wie ein Anderer, und find weit entfernt, fie in 


1) &bend. ©. 844. ende Bedeutung für die germaniſche Philologie 
beflept nicht in feinen Leitungen auf dem Gebiet ber Sprachforſchung, fondern 
in feiner begeiflerten Erwedung des deutſchen Sinnes. Daß er als Sprach⸗ 
jorſcher, troß fo manches tieffinnigen und geiftvollen Gebantens, dod im 
Ganzen bie Art und Weiſe feiner Zeitgenoffen teilte, das erfieht man aus 
feiner Abhandlung: „Fragen und Antworten aus teutſchen Alterthümern und 
teutfer Sprache · im Jahrbuch der Preußiſchen Rhein-Univerfität. I. Bandes 
I. u. HI. Heft. Bonn 1819. S. 99—158. — 2) Zriedrich Ludwig Jahn's 
eben. Bon Dr. Heine. Pröhle. Berlin 1855.69. . 


318 Drittes Buch. Erſtes Kapitel. 


Schutz nehmen zu wollen; aber wir laſſen ung dadurch nicht blind 
maden für feine Tüchtigkeit. Jahn hat einen lebendigen Stun für 
das Volt, feine Denkweife und feine Sprache. Schon im Deut 
fen Vollsthum (1810) dachte er an eine Sammlung ber beut- 
fen Vollsmärden und Sagen. „Wer fie erzählen will,“ fagt er, 
„darf nicht mit Fremdheiten überladen, wie Muſäus; muß einfältig 
vortragen wie Stilling und hochgebildet fein wie Goethe '). Vor⸗ 
teefflich ſpricht Jahn in der Vorrede zur Deutfhen Turnkunſi 
(1816) über ben Werth der Mundarten. Sie find „Teineswegs 
für bloße Sprachbehelfe zu Halten, für Ausbrudsweifen von niederm 
Range, die nur amoch in einem Verſteck und Schlupfwintel des 
Sprachreichs aus Gnade und Barmherzigkeit Dulbung genießen. 
Im Gegentheil find fie nad altem wohlhergebrachten Recht in ir- 
gend einem Gau auf Grund und Boden erb» und eingefeflen." 
„Ihre Wohlhabenheit ift ber wahre Sprachreichthum. Ihr be 
ſchrankter Bereich ift Samenbet, Gehäge und Schonung von kräf⸗ 
tigem Nachwuchs.“ „Die Geſammtſprache hat hier Fundgruben 
und Hülfsquellen, die wahren Sparbücfen und Nothpfennige de 
Spradjfages" ?). — Jahn Hat ſich in den beutfchen Schriftwerken 
der verſchiedenſten Jahrhunderte umgefehen und vieles Treffende 
daraus feinem treuen Gedächtniß eingeprägt. Legt man aber an 
feine eigentlich linguiſtiſchen Anläufe den Maßſtab der ftengen 
Wiſſenſchaft, fo wird man fi vor allem zu erinnern Haben, daß 
feine Bildung vor die Zeit des großen Umſchwungs fällt, den die 
germanifde Sprahforigung duch Grimm's Grammatik erfahren 
bat. In feinen fpäteren Schriften hat Jahn bie Trefflichfeit von 
Grimm’ Leiftungen nicht verfannt ®), aber fi in eine ganz neue 
Bahn zu finden, war ihm fo wenig gegeben, wie feinem älteren 
Mitkimpfer Ernft Morig Arndt. Wir werben deshalb in Jahn's 


1) Deutſches Volkethum, Lübel 1810, ©. 391. — 2) Die beutfe 
Turnkuuſt, Berlin 1816, Vorbericht ©. XLI fg. — 3) Neue Runen-Blät: 
ter, Naumburg 1828 Vorr. ©. VII; obwohl ihm „der trefflihe Grimm“ in 
feinen grammatiſchen Kunftwörtern „unnöthig und über Gebühr Iateinenzet.” 
Bgl. auch ebend. ©. VI. 


Die Romantiker. 319 


Etmologien nichts Anderes erwarten, als in benen feiner meiften 
Altersgenoſſen: neben manchem geiftreihen Blick ein vegellofes und 
willlürliches Taſten und Rathen. Aber durch alle Willkür jeiner 
Sprahforfgung und durch alle Seltfamfeiten feiner eigenen Wort- 
tildungen bricht öfters ein bewundernswerther Sprachſinn, ber den 
Rogel auf ben Kopf trifft. Chen deswegen haben ſich mande 
Anstrüde Jahn's trog aller dagegen erhobenen Einwendungen un, 
aufhaltſam Bahn gebrochen. Weber politihe, noch linguiſtiſche 
Bedenlen haben vermocht, der von Jahn eingeführten Benennung 
„tunen“ das Bürgerrecht zu entziehen. Und die Wörter: Volls⸗ 
Ham, voltsthümlich, Volksthümlichkeit, find bereits fo feft mit un« 
ferem übrigen Sprachſchatz verwachſen, daß die Meiften fi wun- 
dem werden, wenn fie hören, daß biefe Wörter erft in unfrem 
Yahrfundert von Jahn geicaffen worden find. Und doch fagt 
Rihn ſelbſt noch in feinem 1810 erſchienenen Deutfhen Volls- 
um‘); „Uehrigens traue ich ben deutſchen Zeitgenofien fo viel 
Avon dem, was in ben Neubildungen Volksthum, vollsthümlich 
md Boltsrhümlichteit liegt, daß fie biefe drei Verfuge nicht an- 
füßig finden“ 9. — Was Jahn's Thätigfeit eine fo hohe Bedeutung 
gibt, war die innige Verbindung bes Turnens mit der vaterländi- 





1) 6. 376. — 2) Grimm, Gramm. II, ©. 491 erlärt die Bildung 
Boltethum für unorganifh, und Manche haben ſich dadurch beſtimmen 
uſai, Vollthum, vollthümlich zu jagen. Aber Grimm felbft kann nicht 
umbin, an der angeführten Stelle fortzufahten: »fürstenthum gilt aber 
allgemein für fürstthum,« Das heißt: Die Zuſammenſebungen mit thum 
Fab zwar fonft eigentliche Eompofitionen, bie ben Stamm des erfien 
Boris mit dem zweiten verbinden (wie Herzogthum, Königthum u. ſ. w.); 
det Neuhochdeutſche bebient ſich aber des Wortes thum bo aud zu un 
ägentlichen Compoſitionen, d. h. folder, in welchen dies Wort einem Caſus 
det vorangehenben Wortes angefügt ift, fo dem ſchwach declinierten der fürst, 
des fürsten. Fürsten-thum if gebilbet, wie Fürsten-stuhl, Fürsten- 
kind u. ff. So wie num Hier ein ſchwachet Genetiv in einem Gompofitum 
ait thum ftedt, jo in Volks-thum ein flarfer. Das Eine iſt nicht unor- 
gailger, als das Andere; und wir haben mithin nicht nöthig, von ber Form 
Ajugehen, die der Schöpfer des Wortes ihm gegeben hat. 


820 Drittes Buch. Erſtes Kapitel. 


ſchen Geſinnung. Die Jugend rüftig und wehrhaft zu machen zum 
Kampf für das Vaterland, das war fein Biel. Und fo gut umd 
echt preußiſch Jahn gefinnt war, fo faßte er bod nicht ein ber 
ſchränkt preußiſches, fondern das ganze deutſche Vaterland in’s 
Auge. Bei aller Bewunderung ber preußiſchen Heldenthaten, wie 
fie die Geſchichte des 17. und 18. Jahrhunderts jo glänzend ver- 
zeichnet, drang fein Blick doc weiter zurüd in die großartige Ber- 
gangenheit des deutſchen Volles. Deutſche Yünglinge und Männer 
wolite er bilden rüftig an Seele und Leib und erfüllt von Begei⸗ 
fterung für das deutſche Vaterland. Wie er felöft, jo follten feine 
Turner ihr Vaterland kennen lernen in feiner thatenreichen Ge 
fhichte, in feinen Sitten und Einrichtungen, in der uralten Herr⸗ 
lichteit feiner Sprache und feiner Geiftegerzeugniffe. Die Eröff- 
nung bes Berliner Turnplages im Frühling 1811 fteht deshalb 
in engfter Beziehung zu der warmen Aufnahme, welde damals bie 
altdeutſchen Studien in Berlin fanden. Schon die frühere Thi- 
tigfeit der Romantiker Hatte den Boden bereitet. In Berlin hatte 
A W. Schlegel in den Jahren 1802 und 8 feine Borlefungen 
über Literatur, Kunft und Geift des Zeitalters und über das Mit: 
telalter gehalten; und hier trat an ber eben gegründeten Umiverfität 
im Jahr 1810 F. 9. von der Hagen als Lehrer ber altdeutſchen 
Sprade und Literatur auf. Friedrich Frieſen aus Magdeburg 
Jahn's reichbegabter Genoſſe bei ber Ausbildung bes Turnweſens, 
war „bei Fichte ein fleifiger Zuhörer gewefen, und bei Hagen in 
der Altdeutſchen Sprache“ 1). As dann Hagen, im Jahr 1811 
nach Breslau verjegt wurde, trat ftatt feiner Auguft Zeume (geb, 
zu Wittenberg 1778, } 1858) mit feinen Borlefungen über das 
Nidelungenlied auf. Sein Hörfaal war gefüllt von Jahn's Tur⸗ 
nern, und die Heine Handausgabe des Nibelungenliedes, die deune 
einige Jahre fpäter (Berlin 1815) herausgab, ift neben anderen 
„Nichterſtimmen“ durch Jahn's Worte eingeführt: „Der Nibelum 
genhort ift das Nibelungenlied“ 2). Den wiſſenſchaftlichen Werth 

1) Jahn, in ber meiftergaften Schilderung Frieſen's im Vorbericht zur 
Deutſchen Turnfunft (Berlin 1816) ©. VIL — 2) Auf der Rüdjeite dt 
Titelblattes. 


Die Romantiter. 821 


von Zeune'3 Ausgabe wird niemand Hoch anſchlagen, fo wenig als 
die erften Anfänge der von Jahn, Zeune und Anderen 1815 ger 
fteten Berliniſchen Geſellſchaft für deutſche Sprache 1); aber das 
mar es auch micht, worauf es bamals ankam. Die lebendige Be- 
gifterung für Deutſchlands alte Herrlichkeit follte den Muth ftäh- 
len für die Erkämpfung einer beſſern Zukunft. Mar von Schen- 
Imborf hat diefer Stimmung Worte gegeben in feinem ergreifen 
den eb vom Rhein. 
Die Hänpter der zomantifhen Schule und deren Chätigkeit anf dem Gebiet 
der germanifchen Philsisgie in den Jahren 1806 bis 1819, 
Erinnern wir uns befien, was wir über bie Thätigkeit gejagt 
haben, welche die Romantiter in ben Jahren 1797 bis 1806 für 
die Auferweckung unfrer alten Literatur und Kunſt entwidelten, fo 
vergegenwärtigen wir uns Ieicht, wie ſehr dieſe Beftrebungen in 
ber Zeit der Unterbrüdung zur Wieberbelebung bes deutſchen Sinnes 
nitwirlen mußten. Man hat den Romantikern bisweilen vorge- 
worfen, daß fie die Kunſt ganz vom Leben getrennt hätten und 
daß fie dadurch in bloß aeſthetiſchem Genießen aufgegangen feien. 
Giebei iſt jedoch zu bemerken, daß die Romantifer jene Abwendung 
vom Lehen der Nation, jenes Aufgehen in künftlerifche Beftrebungen 
mit den Heroen der Weimar'ſchen Epoche: mit Goethe und Schil⸗ 
ie, gemein haben. Aber während Goethe fi durchaus nidt in 
feiner ofympifchen Ruhe will ftören laſſen und eben deswegen in 
ken Jahren 1806 bis 1818 die Mägliche Role fpielt, die aud) feine 
aufrihtigften Bewunderer mit Widerwillen und Verdruß erfüllt 2), 
fen wir die Romantiker von inniger Theilnahme an den Scid- 
ſalen des Vaterlands und von tiefem Schmerz über die Unter 


«” 1) Die fpäteren Leiſtungen biefer Geſellſchaft bürfen übrigens Feineswegs un: 
terfhäpt werden. — 2) Daß id; weit entfernt bin, Goethe's Dichtergröße verkleinern 
er etwa die bicpterifchen Erzeugniſſe der Romantifer neben die feinigen ftellen 
m wollen, brauche ich nicht erſt zu verfichern. Aber Goethe's Benehmen in ben 
Rhren 1806 — 18 zu rechiferiigen, wird auch den befigemeinten Verſuchen 
nicht gelingen. Hätte das deutſche Bolt in jenen Jahren bie Stimmung 
Gorhes geteilt, fo wäre das Jod des franzöfifen Gewallhabers auf une 
leſen geblieben. 

Raumer, Ge. der germ. Philologie. 21 










— 


8 REN A 
Ol INnsTiTuiion u} 
* an 






32 Drittes Bud. Erſtes Kapitel, 


drüdung des deutſchen Weſens ergriffen. Wir haben die Klagen 
gehört, in die fih ſchon im Jahr 1802 Friedrich Schlegel über den 
Verfall Deutſchland's ergoß. Auch A. W. Schlegel fpricht ſich ber 
reits vor dem Zuſammenbruch Preußen's mit großer Klarheit und 
Entſchiedenheit über die Aufgabe der Poefie in ber jammervollen 
Lage des Vaterlands aus. In einem Brief an Fouqusé vom 
12. März 1806 ſchreibt er: „Die Poeſie, fagt man, foll ein 
ſchönes und freies Spiel fein. Ganz reiht, in fo fern fie feinen 
untergeorbneten, beihräntten Zmweden dienen fol. Allein wollen 
wir fie bloß zum Feſttagsſchmud des Geiftes? Zur Geipielin 
feiner Zerſtreuung?“ — „Wir bebürften einer durchaus nicht träu 
merifchen, fondern wachen, unmittelbaren, energiſchen und beſonders 
einer patriotiſchen Poeſie.“ — „Vielleiht ſollte, fo lange unſere 
nationale Selbſtäudigkeit, ja die Fortdauer des deutjhen Namens 
fo dringend bedroht wird, die Poefie bei uns ganz der Beredſam⸗ 
keit weichen '). 

Wie ſchwer das Unglüd des Vaterlands auf Tieck's Gemüth 
laſtete, das ſpricht der Schluß der ſchönen Reiſegedichte im Som⸗ 
mer 1806 aus. Krank an ber Gicht war Tieck im Jahr 1805 
nad) Ktalien gegangen und hatte dort Genefung und reichen geilti 
gen Genuß gefunden. In einer Reihe lebensvoll anſchaulicher &r- 
dichte ſpricht er ung die Eindrüde der in jeder Beziehung jo be 
glüdenden Reiſe aus. Aber das letzte diefer Gedichte: „Dresden“ 
ift erfüllt von Sorge und Kummer um das bedrohte Vaterland. 
„Und nun der Heimat nahe,“ fagt er, „Befund und kräftig, Was 
könne ich Hagen, Da Alles mir Freude Bietet?" — „O wäre 
Wahnfinn meine Furcht, Und Kleinmuth meine Angſt: — Bas 
fol mir Kraft und Gejundheit, Wenn mein theures, immigft ger 
liebtes, Wenn mein Vaterland zum Tode erkrankt?“ 2). 

Friedrich Schlegel war bald nad) feinem Webertritt zur rümi. 
ſchen Kirche nah Wien gegangen und hatte dort eine Stellung im 
öftreihiihen Staatsdienft erhalten. Es war in dem für Oeſtreich 


H) A. W. von Shlegel's jümmtl. Werke, Bb. VIII, Leipzig 1846, 
©. 144 fg. — 2) Ludwig Tied, Gedichte, Berlin 1841, 6. MT. 


Die Romantiter. 323 


fo ruhmvollen Jahr 1809, und Schlegel wirkte nach Kräften mit 
an der begeifterten Erhebung des Kaiſerſtaats. Man vergefie dabei 
nicht, wie damals noch die veridiebenften Elemente zur Abſchütt⸗ 
hung des frangöfifhen Joches fih die Hand reiten. ber ſchon 
in den Jahren 1810 bis 15 ſehen wir Schlegel in Verhältniffen, 
die zu feinen Hochfliegenden Idealen von deutſcher Kraft und Herr- 
listet wenig paſſen wollen. Die geiftvollen, wenn aud üfters 
tinſeitigen Borlefungen über Geſchichte der alten umd neuen Liter 
tatur, die er im Jahr 1812 zu Wien gehalten hatte, wibmet er 
bei ifrer Herausgabe im Jahr 1816 dem Fürften von Metternich. 
vollends nach Herftellung des Friedens wird er immer mehr in 
die Nege des öftreichifchen Rüchſchritts verftridt; umd fo mußte es 
den Anfhein gewinnen, als wenn die Begeiſterung für die mittel- 
alterliche Größe des deutſchen Volkes, mit welcher Schlegel begon- 
uen hatte, nur dahin führen könne, in veligiöfer Hinfiht die Re— 
formation der Kirche, in politiſcher die großen bürgerlihen Errun- 
genfhaften der meueren Jahrhunderte zu bekämpfen. Es war des⸗ 
halb von unſchätzbarem Werth für die Entwidlung unſrer Wiffen- 
ifeft, daß gerade im jenen Jahren (1807 bis 1819) eine neue 
Richtung in der Auffaffung und Behandlung des deutſchen Alter- 
ums fih Bahn Brad. Schon Görres, ımd in andrer Weife 
wieer Arnim und Brentano Tamen, bei aller Verwandtſchaft mit 
der früßeren Romantik, doch eigentlih aus einer anderen Gegend 
an das Studium des deutſchen Altertfums. Eine ganz neue Grund- 
lage aber ſchaffen die Brüder Grimm. 

Bir mußten diefes Emporwachſen einer neuen Richtung um 
jo mehr ſchon Hier vorläufig berühren, als der Zeit nad die fpär 
teren Leiſtungen der Romantiter (1806 bis 1819) mit ben früheren 
der Brüder Grimm zufammenfallen. Man muß fi deshalb erin- 
nern, daß die Arbeiten ber Romantiler, von denen wir jegt etwas 
näßere Rechenſchaft geben wollen, ſich durchkreuzen mit den Schrif- 
ten von Hagen, Gürres, Arnim, Brentano und den Brüdern Grimm, 
don denen wir erſt in den folgenden Abſchnitten handeln werden. 

Ludwig Tied verfolgte auch jegt den Weg weiter, den wir 
ihn früßerhin Haben einſchlagen fehen. Er richtete fein Augenmerk 

21° 


324 Drütes Bud. Erſtes Kapitel. 


vorzüglich darauf, die deutſchen Dichtungen des Mittelalters durch 
Ernenerungen feinen Zeitgenoffen zugänglich zu maden. Wie in 
der früheren Periode die Lyrifer, fo wollte er jetzt das großartigfte 
&p08 der deutſchen Vorzeit: das Lied der Nibelungen, in's New 
hochdeutſche übertragen. Es handelte fi aber dabei nicht um 
eine bloße Ueberjegung, fonbern um eine förmliche Umbictung, 
in welder das alte Lied in neuhochdeutſcher Bearbeitung ent- 
halten, zugleih aber an pafjenden Stellen von anderen Sagen 
durchflochten und ergänzt fein ſollte. Tieck beſchäftigte ſich ſchon 
im Jahr 1805 mit der Herausgabe eines folgen Werks; aber 
es kam nur ein Heiner Theil davon zu Stande; und erit nah 
Tie’8 Tob, im Jahr -1853, wurde ein Brucdftüd davon durch 
von ber Hagen veröffentlicht 1). Aehnlich wie mit dem Nibelungen 
lieb ergieng es Tief mit feiner Uebertragung des König Rother. 
Während feines Aufenthalts in Nom im Jahr 1805 und 6 be 
ſchäftigte er ſich eifrig mit den altdeutſchen Handſchriften der Bati- 
caniſchen Bihliothel. Vom König Rother nahm er eine Abſchrift 
und aus diefer Abſchrift ift der erſte Druck des Gedichts, dem von 
der Hagen beſorgte, geflofien 2). Tiecks eigene Abſicht aber gienz 
auf eine Erneuerung, und von diefer hat er nur einige Brucftüde 
in Arnim’s Zeitung für Einftebler (1808) 3) erſcheinen Laffen. Eine 
vollftändige Bearbeitung aber gab Tiek im Jahr 1812 vom 
Frauendienft des Ulrich von Lichtenſtein heraus. Wie ber Podie 
des Mittelalters, jo wandte Tiet feine Bemüßungen auch der Did 
tung der darauf folgenden Jahrhunderte zu. Cine gyruct biefer 
Studien war fein 1817 erſchienenes „Deutſches Theater“, eine 
Sammlung deutſcher Dramen aus dem 15. bis 17. Jahrhundert, 
begleitet von geiftoollen und kenntnißreichen Bemerkungen über die 
Entwicklung der deutſchen Schaubühne. 

1) Im Neuen Jahibuch der Berlinifchen Geſellſchaſt für Deutſche Epraht 
und Allerthumskunde. Her. durch F. H. von ber Hagen, Bd. X, Leip). 1853, 
©. 1-14, u. dort S. 14—16 auch Hagen’s Bericht über Tied’s Unterneh: 
men. — 2) Deutſche Gedichte bes Mittelalters. Her. v. F. H. von ber de 
gen u. Büfging. Vd. I, Berlin 1808, Einleitung zum Rother ©. XII. — 
YR.I-5 7 


Die Romantiker. 825 


Bon einigen der widtigften Arbeiten ber Brüber Schlegel 
werben wir in fpäteren Abſchnitten zu ſprechen haben. Sie erſchie⸗ 
um theils "als befondere Werke, fo die epochemachende Schrift 
driebrih Schlegel's über die Sprade und Weisheit der Indier, 
deidelberg 1808; theils wurden fie in Zeitſchriften veröffentlicht. 
Außer den Heidelberger Jahrbüchern war es vorzüglih das von 
sriedrid Schlegel 1812 und 1813 zu Wien herausgegebene 
deutſche Muſeum, worin die Brüder jetzt ihre Anſichten nieder⸗ 
legen. Das Deutſche Muſeum ftelfte fich recht eigentlich die Auf⸗ 
gabe, „beutfche Sprache und Geſchichte, deutſche Kunſt und Erkennt⸗ 
miß nach beſten Kräften zu befördern“ 1). Und zwar war es ganz 
beſenders darauf abgeſehen, „daß man die vielfachen Schätze unſrer 
alten Sprache, Geſchichte und Kunſt immer mehr zu Tage fördern 
helfe; nicht bloß für die Gelehrten und einige Liebhaber, ſondern 
allgemein zugänglich und verſtändlich für alle, damit eine neue Bes 
lung der geſammten deutſchen Sprache, Kunft und Erkenntniß 
a3 der urfprüngligen Quelle erfolge‘ 2). Im erften Band bes 
Deutfhen Muſeums veröffentlichte Friedrich Schlegel feine Abhand⸗ 
lung „Ueber nordiſche Dichtkunſt.“ Durch feinen ganzen Bildungs- 
gm war er zu ber Ueberzeugung Bingeführt, daß Poeſie und Kunft 
ds Aeußerungen bes nationalen Lebens der Völker zu betrachten 
fein. In dieſem Sinn gibt er einen Ueberblid über die Geſchichte 
der deutſchen Poeſie während bes Mittelalters in den Vorlefungen, 
Ne er im Jahr 1812 zu Wien über die Geſchichte der alten und 
amen Literatur hielt. Und von diefem innigen Zuſammenhang der 
Poefie mit dem Geift und ber Entwidlung der Völfer geht auch 
die Abhandlung über nordiſche Dichtkunſt aus. Die Sage und 
deldendichtung ift ihm „bie Poefie in ihrer urſprünglichen Geftalt 
ff“ In der nordiſchen Edda findet er die urſprünglichſte Quelle 
ber germaniſchen Poefie: „Jenes alldurchdringende tiefe Natur- 
STÜhL, welches aus den germanischen Sitten und Einrichtungen des 
Übens hervorleuchtet · „So viel aud der Einfluß bes Chriften- 





1) Deutſches Muſeum, Her. v. F. Schlegel, Zweiter Band, Wien 1812, 
S48. —  Deutfhes Mufeum, ®b. II, 1812, ©. 272. 


326 Drittes Bud. Erſtes Kapitel. 


thums und mildere Sitten nachher daran geändert Haben, es ift 
viel von jener alten Denkart und Gefühlsweife, wenn gleid in 
neuer verwandelter Geftalt geblieben. Durch die ganze Mitterzeit, 
dur alle Thaten und Sitten, alle Dichtungen und Gebilde des 
Mittelalters geht diefer Grundton gleihfam wie die nordiſche Ader 
hindurch, und noch ſchlagen diefe Gefühle in den Herzen aller Bl 
ter deutſcher Ahkunft“ ). Mit der Edda bringt Schlegel zunädit 
das Nibelungenlied in Beziehung, wobei wir ung zu erinnern ha 
ben, daß diefe Abhandlung Schlegel's jünger ift als die früheren 
Arbeiten von Wilhelm Grimm, Hagen und Görres. Aber nicht mır 
das Nibelungenlied, fondern auch den Shakeſpeare verknüpft er mit 
der alten nordiſchen Dichtung. „Was das Wefentlihe darin ift“, 
fagt er, „der darin athmende freie Naturgeift, die in umfer aller 
Herzen tief eingewurzelte und eigenthümliche nordiſche Gefühlsweile, 
das tritt uns viel näher noch im Shaleſpeare entgegen, greift un 
mittelbar ein in unfere Welt und wird wieder Leben und Gegen | 
wart. Mit Recht ift er deshalb der Lieblingsdichter nicht bloß der 
Engländer, fondern überhaupt aller Völker von germaniſcher Ab⸗ 
Tunft“ 9). 

Unter den Arbeiten U. W. Schlegel's aus dieſer Periode 
werben wir die Unterfuhungen über den Titurel (1811) und die 
Beurtheilung der Grimm'ſchen Altdeutſchen Wälder fpäter noch be 
rühren. Hier beſchränken wir uns auf einige Bemerkungen über 
die Bruchſtücke, die A. W. Schlegel im Deutſchen Mufeum 1812 
„Aus einer noch ungedrudten hiſtoriſchen Unterfuhung über dus 
Lied der Nibelungen“ mittheilt. Schlegel ift begeiftert von der 
Schönheit und Großartigfeit des Nibelungenlieds. Er ſetzt es weit 
über alle anderen deutſchen Dichtungen des Mittelalters und ftellt 
& unmittelbar neben den Homer. „Des bunten Schmudes ber 
homerifhen Göttergeftalten“, fagt er, „mußte dag Lied der Nibelun⸗ 
gen freilich enthehren, weil es weſentlich ein chriſtliches Gedicht ift; 
dagegen ſchildert es das Walten einer geheimnißvolfen Borjchung“. 
— „Was aber die Hoheit der dargeftellten menſchlichen Gemüter 


1) Deuiſches Mufeum , Band I, (1812) ©. 167. — 2) Ebend. 6.19. 


Die Romantiker. 327 


überhaupt betrifft, da bürfte fih die Waage enticjieben auf die 
Seite des altdeutſchen Dichters neigen“ 1). Schlegel fordert des⸗ 
halb, daß das Nibelungenlied „in allen Schulen, die fih nicht 
fümmerli) auf den nothbürftigften Unterricht einſchränken, gelefen 
und erflärt werde” 2). „Lange“, jagt er, „habt ihr das heranwach⸗ 
fende Geſchlecht mit füßlicher, aber markloſer Nahrung kläglich ver- 
sättelt: der Erfolg ift auch darnach ausgefallen. Verſucht es ein- 
mal anders. Führt die Jugend in's Freie hinaus, an den halb 
verwitterten Urfels der Sage, wo der mit Eiſen geſchwängerte 
Quell der Heldendichtung nod lebendig hervorſprudelt. Da laft 
fe einen friſchen Trunk thun“ ®). Seine Erörterungen über die 
Entftefung des Nibelungenlicdes Mnüpft Schlegel an die Ausſprüche 
Johann von Müller’s an, indem ex ihnen berictigend entgentritt. 
&r geht davon aus, „daß wir in unferm Text der Nibelungen 
nur die jüngfte Umgeftaltung vor uns haben, daß aber dieſelbe 
Dichtung, der Grundlage nach, längſt in andern Geftalten vorhan- 
den war“ 4. Solcher Geftaltungen nimmt Schlegel vier an, deren 
ütefte ſchon bald nah den Zeiten Attila's und Theodorich's des 
Großen entftanden ſei d). Bon der jüngften aber, dem Nibelun- 
geulied, wie es auf uns gefommen, fagt Schlegel: „Es kann 
nicht früher als in den letzten Jahren des zwölften, nicht fpäter 
als etwa in ben erften zehn “fahren des breizehnten Jahrhunderts 
abgefaßt fein“ ©). Daß es nicht älter fein lönne, beweiſt Schlegel 
daraus, daß die Gedichte aus den früßeren Theilen des 12. Yahr- 
hunderts, wie der König Mother und andere, noch fehr ungenau 
in den Meimen feien, während des Nibelungenlied fon unter dem 
Einfluß der großen Umgeftaltung ftehe, welde die Verskunſt etwa 
keit Velded's Eneidt erfahren Habe. Daß aber unjer Nibelungen- 
lied „wenigftens im zweiten Jahrzehend bes breizehnten Jahrhun⸗ 
derts ſchon vorhanden und befannt war”, bemeift Schlegel aus der 
Anfpielung, die fih in Wolfram’3 Parzival auf unfere Nibelungen 


1) Deutſches Mufeum, Band I, Bien 1812, ©. 14. — 2) Ebeud. 
6.2. — 3) Ebend. 6.2. — 4) Ebend. ©. 521. — 5) Ebend. 
6.535. — 6) Ebend. ©. 505. 


328 Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


findet 2). Wolfram's Barzival aber fei noch bei Lebzeiten bes Lamb» 
grafen Hermann von Thüringen geſchrieben, ber im fahre 1215 
farb 2). Wie der Zeit, fo weiß Schlegel auch ber Gegend auf 
echt wiffenihaftlihem Wege nahe zu rüden, in welder unfere Ri- 
belungen abgefaßt fein müffen. Ex prüft nämlich zu dieſem Behuf 
die geographiſchen Kenntniffe des Dichters, und dieſe Prüfung 
führt zu dem Ergebriß, „daß der Dichter genauere örtliche Kennt 
niffe vom fühlichen als vom nördlichen, und in jenem wieder von 
der öftfichen als von der weitligen Seite beſaß“ ®). Bei der 
Schilderung der Jagd in den Gegenden des Mfeins geräth er in 
offenbare Verwirrung; dagegen weiß er an ber Donau jehr gut Ber 
ſcheid. „Die genaue Kenntnig Oeſterreich's beweift, daß der Did. 
ter lange hier einheimiſch war“ ). Mit biefem wiſſenſchaftlich 
nachgewieſenen Ergebniß aber wollte fi Schlegel nicht begnügen, 
fonbern er gieng von ba zu ber Bermuthung über, der Dichter ber 
Nibelungen möge wohl Heinrich von Ofterdingen geweſen fein). 
AB. SHlegel hattte im Sinn, eine vollftändige kritiſche Ausgabe 
des Nibelungenliedes mit wort» und faherfärenden Anmerhimgen 
erſcheinen zu laſſen. Diefer Plan aber, den er im Juni 1812, im 
Deutſchen Muſeum 9), anfündigt, iſt nicht zur Ausführung ge 
tommen. 


Zweites Kapitel. 


Die altdeutſchen Studien zur Zeit des Auftretens Der Brüder 
Grimm. 

Wir haben im vorigen Kapitel die Ummandlung geſchildert 
welche die Auffaffung unſrer deutſchen Worzeit dur die Romanti- 
ter erfahren Bat, und wir haben gefehen, wie die Häupter unfter 
romantiſchen Dichtung ſich auch ſelbſt an ber altdeutſchen Forſchung 


1) Ebend. S. 514 fg. — 2) Ebend. ©. 520. — 3) Deutſches Pr 
ſeum, Zweiter Band, Wien 1812, ©. 14. — 4) Ebend. S. 17. — 
5) &beud. II, ©. 19 fg. — 6) Ebend. IL, ©. 366. 


Die alideutſchen Stubien zur Zeit bes Auftrelens ber Brüber Grimm. 829 


beiheiligten. Gleichzeitig aber nimmt die altgermanifde Specialge- 
lehrſamleit ihren weiteren Verlauf, erft unabhängig von «ben Ro⸗ 
mantifern, bald aber von ihrem Einfluß durchdrungen. Die Ge 
kehrten, die wir am Ende ber vorigen Periode auf dem Gebiet 
der altdeutſchen Sprache und Literatur befhäftigt fahen, fegen ihre 
Thätigfeit au in ber gegenwärtigen fort. Bor alfen ber uner- 
müde Gräter. Die legten Bände feines Bragur 1) fallen 
ſchon in unſeren Zeitabſchnitt. Dem achten Bande desſelben (1812) 
gibt er ben Nebentitel: „Obina und Teutona” 2). In biefem 
Bande veröffentlicht Gräter (1812) zum erftenmal das mittelnieder- 
landiſche Gedicht Van den vos Reinaerde, das er in der Combur- 
ger dandſchrift entbect und (vor 1806) als das Orginal des nie⸗ 
derdeutſchen Reinele Bos erlannt hatte). Zugleich mit ber Heraus» 
gabe des 8. Bandes des Bragur beginnt Gräter noch eine neue 
Zeitſchrift . Idunna und Hermobe*, bie es in ben Jahren 1812 
5816 auf fünf Jahrgänge bringt. Auch Hier wieder hat er es 
in Verbindung mit feinen Mitarbeitern fowohl auf die literariſche, 
ala auf die anderen Seiten bes germaniſchen Alterthums abgejehen. 
Bor allem aber ift e8 ihm um den Zufammenhang mit dem ſtan⸗ 
dinaviſchen Norden zu tun. Gr überfegt und erläutert nicht nur 
mehrere Lieder der älteren Edda, fondern er ift auch durch feine 
Ausgabe der „Helga-Quida Haddingia-Scata“, die 1811 zu 
Sqhwãbiſch Hall erſchien, der erfte Deutſche, der ein altnordiſches 
Denkmal „zuerft und ohne Vorgänger zu entziffern gewagt hat“ 4). 
Im Gefühl feiner Verdienfte weiß er ſich dann freilich nicht darein 
3m finden, daß Männer von überlegener Begabung auf den Plan 
treten, und verſcherzt namentlich duch feine vornehme Behandlung 
der Brüder Grimm 5) für eine Zeit lang bie Anerkennung bes Ver⸗ 


1) S. o. ©. 285. — 2) Diefe „Obina und Teutona® hat einen breis 
foßen Titel, nämli: 1) Bragur. Achter Band. 2) Braga und Hermode. 
Fünfter Band. 3) Odina und Teutona. Erſtet Band. — 3) Bragur, 
&. VII, ©. 274. — 4) Jounna und Hermobe 1812 ©. 16. In Odine 
ub Tentona, Breslau 1812. S. 211 ließ Gräter feine Ausgabe ber Helga- 
Quida noch einmal abdruden. — 5) Idunna und Hermobe 1812, Rr. 17. 


330 Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


bienftes '), das er ih um bie Förderung ber beutfchen Wktertjums- 
ftubien wirllich erworben hat. 

Wie Gräter vorzugsweife für das Altnorbifche thätig war, fo 
für das Gothiſche Wilh. Friedr. Herm. Reinwald (geb. zu 
Waſungen 1737, geft. ven 6. Aug. 1815 als Bibliothekar zu Mer 
ningen) 2) und Joh. Chriftian Zahn (geb. zu Halberftabt 1767, 
feit 1798 Pfarrer zu Delig bei Lügen, geit. 25. Mai 1818) ). 
Der legtere gab im I. 1805 zu Weißenfels die damals befannten 
Ueberrefte des Ulfilas heraus auf der Grundlage von Fulda's Ar 
beiten, doch fo, baß er ſelbſt Fulda's gothiſche Sprachlehre vielfach 
berichtigte, wãͤhrend Reinwald deſſen gothiſches Gloſſar umarbeitete 
Wie für die älteren, ſo geſchah auch für die jüngeren germaniſchen 
Sprachen des Mittelalters in jener Zeit ſo Manches: für das 
Niederdeutſche durch P. J. Bruns) (f 1814; Gedichte in altplatt⸗ 
deutſcher Sprache 1798); für das Mittelhochdeutſche durch F. W. 
Oetter (f 1824; Wernher's Maria 1802); für das ältere New 
hochdeutſche durch G. W. Panzer, ©. Veejenmeyer und Andere. 
Aber alle diefe Bemühungen hatten zunächſt nur die Bedeutung 


18. Ebeund. 1816, Literar. Beyl. S. 39. In der Ueberſicht deſſen, was bie 
1812 auf dem Gebiet ber altdeutſchen Literatur geſchehen iſt (Bragur VIII, 
xiv fg.) nennt Gräter bie Brüder Grimm nicht einmal. Doc ſagt er in 
bemfelben Bande (©. 275): „die Herrn Grimm, bie ſich durch feltenen Eifer 
für das Studium der norbifhen fowohl als aliteutſchen Literatur auszeicpnen.” 
— 1) Um J Grimm’s firenges Urteil (Deutsche Mythol. (1) Zuschrift 
an Dahlınann 8. XXIX) zu verfiehen, muß man vergleigen, in welgen 
Mag Gräter in feinen Zeitſchriften fein eigenes Lob ausbreite. Bgl. Bragur 
I, 21. 24. III, 552. Idunna und Hermode I, ©. 22. Ebent. Aupeiger 
19. Dec. 1812. Ebend. III und IV, Sir. Bey. ©. 11. — 2) (Hal) 
AUg. Literatur- Zeitung 1815, Nr. 232. — 3) Hoffmann, Die deutsche 
Philol. 8. 17.— 4) Id führe Hier auch glei an bie gegen Ende unfres 
Zeitabſchnitis erfhienenen Ausgaben des Annoliedes von G. W. F. Goldman 
(1816) und bes Koloczaer Coder von Joh. Nep. Grafen Mailsth md J 
Paul Köffinger (Peſth 1817), fo wie bie gelegentlichen Beiträge zur Kennt: 
niß der althochdentſchen Quellen in Jldefons von Arx Geſchichten des Gantens 
St. Gallen, Vd. I, (1810). 


Die alideutſchen Stubien zur Zeit des Auftretens der Brüder Grimm. 881 


daß durch fie das Material für die Wiſſenſchaft der germanifchen 
Philologie fi etwas vermehrte. Die Entwidlung diefer Wiffen- 
ihaft felbft wurde dur eine Reihe eigenthümlicher Erſcheinungen 
bis zu dem Punkte fortgeführt, wo fie durch die Brüder Grimm 
eine neue Geftalt befam, und dieſe Erfheinungen wollen wir nun 
zunächft in ihren Trägern und deren Leiftungen ſchildern. 


Friedrich Heinrih von der Hagen. 
Hagen’s und Büſching's Leben. 


Friedrich Heinrih von der Hagen wurde geboren am 
19. Februat 1780 zu Schmiebeberg in der Ufermart. Nah Ab- 
jelvierung des Lyceums zu Prenzlau widmete er fih auf der Uni- 
verfität Halle der Rechtswiſſenſchaft. Zugleich aber zogen ihn dort 
die Borlefungen des großen Meiſters der klaſſiſchen Philologie 
Friedrich Auguft Wolf) an und nährten feine Liebe zu philologi- 
(gen Studien. Im Jahr 1808 trat er zu Berlin als Meferendar 
in den Staatsbienft. Es waren die Jahre, in denen durd die 
Häupter der romantifen Schule fih in Berlin die Liche zu un« 
ierer altdeutſchen Dichtung verbreitete. Als A. W. Schlegel im 
Jahr 1803 dort feine Vorlefungen über Geſchichte der deutſchen 
Boefie Hielt, befand fi Hagen unter feinen Zuhörern und wurde 
bier zuerft zur Herausgabe des Nibelungenlieds angeregt ?). Schon 
früber war er durch Johannes Müller auf dasſelbe aufmerkſam 
gemacht worben ®), und diefer, der in den Jahren 1804 bis 1807 
eine anſehnliche Stellung in Berlin einnahm, förderte nun auch 
vor allen Hagen’s Beſtrebungen 4). Nah einigen Jahren verließ 
Hagen den praftifhen Staatsbienft und widmete fih von da an 
ganz dem Studium der älteren deutjchen Literatur. AS im Jahr 
1810 die neugegrünbete Univerfität Berlin eröffnet wurde, erhielt 





1) Bol. bie Widmung der Hagen'ſchen Ausgabe des Nibelungenlieds vom 
I 1810 an F. A Boll. — 2) A. W. Shlegel in Fr. Schlegel’s Deut: 
Me ufeum Bo. I, Wien 1812, S. 16. — 3) 8. 9. vom ber Hagen, 
riefe in die Heimat, Bd. IT, ©. 338, — 4) Bgl. die Widmung der da ⸗ 
genen Ausg. bes Nibelungenlieds vom I. 1807 an Johann von Müller. 


332 Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


ex an berfelben eine außerorbentliche Profeffur der deutfchen Sprache 
und Literatur und führte fo das Altdeutſche in die Reihe ber Uni 
verfitätsftubien ein. 1811 wurde er an bie Umiverfität Breslau 
verfegt. Bon hier unternahm er in ben Jahren 1816 und 17 
eine Reife durch Süddeutſchland, die Schweiz und Italien, um bie 
Bibliothelen diefer Länder für die altdeutſchen Studien auszubeuten. 
In feinen „Briefen in bie Heimat aus Deutſchland, der Schweiz 
und Italien“, (4 Bände, Berlin 1818— 1821) gibt er ums ein 
reichhaltiges Bild von den Eindrüden diefer Reife, fo wie von 
ihren gelehrten Ergebniffen. Im Jahr 1821 wurde er ordentlicher 
Profeſſor an der Univerfität Berlin, wo er nad) einer Tangjährigen 
Wirkſamkeit am 11. Juni 1856 geftorben ift '). 

In naher Verbindung mit F. H. von ber Hagen ftand 
Johann Guſtav Büſching. Er mar ein Sohn des Geogra- 
phen Anton Friedrich Büfhing und wurde am 19. September 
1783 zu Berlin geboren. Nachdem er fi auf den Univerfitäten 
Erlangen und Halle dem Studium der Rechtswiſſenſchaft gewidmet 
hatte, wurde er im J. 1806 als Megierungsreferendar in Berlin 
angeftellt. Aber feine Neigung zog ihn zum Stubium ber deut ⸗ 
fen Alterthümer Hin. Er übernahm daher im J. 1810 das Com⸗ 
mifforium, die faecularifierten Klöſter Schlefien’s zu bereifen und 
deren Handſchriften und Kunftgegenftände zu verzeichnen und zu 
übernehmen. Im J. 1811 wurde er Archivar zu Breslau. Seit 
1816 war er zugleich Privatdocent, feit 1817 außerordentlicher und 
feit 1828 ordentlicher Profeffor der Alterthumswiſſenſchaften an 
der dortigen Univerfität und ift am 4. Mai 1829 daſelbſt geſtor⸗ 
ben ). Büſching erwarb fid) ſowohl in feiner amtlichen Stellung, 
als durch einen großen Theil feiner Schriften befondere Berbienfte 


1) Die vorfiehenden Angaben über Hagen’s Leben find, wo feine andere 
Duelle angeführt ift, aus der Brochaus ſchen Real -Eneylopäbie, 11. Hull, 
®b. VII, Leipzig 1866. ©. 562, entnommen. — 2) Die obigen Angaben 
find einem Nekrolog Büſching's entnommen, den ber Neue Nekrolog ber Deut 
fen, Siebenter Jahrgang 1829, Thl. I, ©. 409 fg. aus ber Bst. 34 
1829, Nr. 108 abbrudt. 


Die alideutſchen Studien zur Zeit bes Auftretens der Brüber Grimm. 338 


um bie Alterthümer Schlefien’s. Seine widtigften Leiftungen auf 
dem Gebiet der germaniſchen Philologie unternahm er in Gemein- 
(haft mit F. H. von der Hagen. Unter den Schriften, die er 
allein herausgab, erwähnen wir die „Wüchentlichen Nachrichten für 
Freunde der Geſchichte, Kunft und Gelahrtheit des Mittelalters” 
(1817— 1819), das Leben des ſchleſiſchen Ritters Hans von 
Schweinichen von ihm feloft aufgefegt (1820 fg.) und „Ritterzeit 
und Ritterwefen“ (1823). 


driedrich Heinrich von ber Hagen's Arbeiten vom Jahr 1805 
Bis zum Jahr 1819. | 


Nicht nur duch äußere Anregungen, durch feine Beziehungen 
MUB. Schlegel und Lubwig Tieck, fondern auch feiner natür- 
ligen Anlage nah, war F. H. von ber Hagen ein Sprößling un 
ferer Romantil. Der Geift des deutſchen Mittelalters, wie er fi 
in Lunſt und Dichtung, in Denkweife und Sitte ausſpricht, zog 
ihn mächtig an. Im Anſchluß mehr an Tier, als an die Schlegel, 
wollte er die altdeutſche Poefie unmittelbar genießen. Die Sprade 
war ihm hiezu nur Mittel zum Zwed; die Sprachforſchung an ſich 
303 ihn weniger an. Wie die Häupter der Romantik richtete Ha- 
gen fein Augenmerk keineswegs bloß auf Riteratur und Sprache, 
fondern ebenfo auch auf die Bildenden Künfte des Mittelalters, ins⸗ 
befondere auf bie Baukunſt. Seine „Briefe in die Heimat aus 
Deutſchland, der Schweiz und Stalien“ verfolgen mit gleicher Liebe 
alle Spuren alter umd neuer deutſcher Kımft, wie fie uns den 
Berfaffer als eifrigen Leſer der altdeutſchen Handſchriften auf den 
Bibliotheken zeigen. In diefem umfaflenden Sinn gründete Hagen 
in Verbindung mit Docen und Büſching das „Muſeum für Alt⸗ 
deutſche Literatur und Kunſt“, deſſen erfter Band 1809 zu Berlin 
efßien und bei deffen zweiten Bande (erftes Heft, Berlin 1811) 
ſih die Herausgeber no durch den Zutritt Bernhard Hundesha⸗ 
gas ergänzten. „Mufil, Bildnerei, Baukunſt, öffentliches und 
hlusliches Leben”, ſagen die Herausgeber in ber Vorrede zum erſten 
Band, „und was man gewöhnlich unter dem Namen der Alterthümer 
begreift, find daher nicht von unferer Betrachtung ausgeſchloſſen, 


334 Drittes Buch. Zweites Kapitel. 


fondern werden, zum Theil erneut und verjüngt, amd hier noch 
eine Zierbe oder anſchauliche Vorftellung gewähren. Unfer Haupt- 
gegenftand wird jedoch immer die Sprache, Poefie, kurz, die ge 
fammte Literatur und ihre Geſchichte bleiben; ſowohl wegen unferes 
vorzügli aut darauf gerichteten Studiums, als auch wegen ihres 
reihen, die obigen Gegenftände auf gewiſſe Weije ſchon in ſich 
ſchließenden Umfanges.“ Diefer Ankündigung entſpricht dann auch 
der Inhalt der Zeitſchrift, jedoch mit einer einzigen charalteriſtiſchen 
Ausnahme. Obwohl nämlih unter den Hauptgegenftänden der 
Zeitfhrift die Sprache an erfter Stelle genannt wird, enthält bie 
felbe dod feine der Sprachforſchung angehörige Arbeit. Die übri⸗ 
gen Fächer aber find durch werthvolle Beiträge der Herausgeber 
vertreten. Unter den wenigen ſonſtigen Mitarbeitern findet fih 
auch Jacob Grimm Als eine Fortfegung des Mufeums Tann 
man bie von denſelben Herausgebern unternommene „Sammlung 
für Altdeutſche Literatur und Kunft” betrachten, die aber troß 
manches werthuollen Beitrags nicht über das Erfte Stüd des Er- 
ften Bandes, Breslau 1812, hinausgediehen ift. 

Das Herausgeben altdeutſcher und altnordiſcher Texte und das 
Sammeln literarifher Nachweiſungen bildet das gelehrte Hauptver- 
dienft von ber Hagen’s. Einer Meinen „Sammlung Deutider 
Volkslieder, — Berlin 1807*, folgten 1808 die wichtigen „Deut- 
ſchen Gedichte des Mittelalters, — Erfter Band !), Berlin 1808." 
Sie enthalten unter Anderen den erften Drud des Königs Rother. 
Beide Sammlungen unternahm Hagen in Gemeinſchaft mit feinem 
Freunde Büſching. — Unter allen altdeutſchen Dichtungen aber zog 
keine von ber Hagen in fo hohem Maß an, wie die Nibelungen. 
Bon feinem erften Eintritt in bie Literatur bi zum Ausgang feine 
Lebens widmet er den Nibelungen und ber mit ihnen verwandten 
altdeutſchen und altnordiihen Heldendihtung den beften Theil feiner 
Tätigkeit. „Und wahrlich nicht, um mic hiermit zu rühmen“, ſagt 
ex 1819, „— denn id weiß, wie wenig ich noch geleiftet, wie 
manchmal geirrt habe — aber ich darf es wohl befennen: ih 


1) Mehr it nicht erſchienen. 


Die altdeutigen Stubien zur Zeit bes Auftretens ber Brüber Grimm. 335 


habe den beften Theil meines Lebens an dies Werk geſetzt und habe 
es gern und freudig gethan und thue es noch, weil ih muß, und 
darin einen früß gefuchten Mittelpunkt alles meines Thuns und 
Tagewertes, eine unendliche Aufgabe und meinen liebſten Beruf 
gefunden zu haben glaube. In ber ſchmachvollſten Zeit des Vater⸗ 
landes war es mir, mit vielen freunden, ein großer Troft, eine 
wahre Herzftärtung und eine hohe Verheißung der Wiederlehr 
beutfher Weltherrlichteit, die ums nicht getäuſcht hat“ 1). Mit der 
Probe einer Bearbeitung des Nibelungenlieds in ber Zeitſchrift 
Cunomia (März 1805) trat Hagen zuerft vor die Deffentlichteit. 
Darauf folgte: Der Nibelungen Lied herausgegeben durch F. H. 
von der Hagen, Berlin 1807. Es war dies feine Ausgabe bes 
nittelhochdeutſchen Grundtertes, aber auch keine Ueberjegung in die 
Sprade der Gegenwart, fondern ein Mittelding zwiſchen beiden. 
Die mittelhochdeutſchen Wörter werben meiftens ftehen gelaffen, 
aber ihre Laute in's Neuhochdeutſche umgeſchrieben. Defters aber 
werden auch bie Wörter ſelbſt mit anderen vertauſcht, bald mit 
noch gebräuchlichen, bald mit anderen veralteten, bie der Verfafler 
für verſtändlicher Hält, als die im Grundtert vorgefundenen. Ge 
wiß war dies ganze Verfahren ein verkehrtes, nnd Wilhelm 
Grimm 2) Hatte volllommen Recht, wenn er es ſtreng verurtheilte. 
Her wir müflen uns erinnern, daß Hagen's Vorbilder, Ludwig 
Ted in den Minneliedern und A. W. Schlegel in den Proben 
nittelhochdeutſcher Dichtungen, die er dann und wann feinen Ab⸗ 
handluugen ‚einfliht, ein verwandtes Berfahren eingeſchlagen hat⸗ 
tm. Und fo gut es war, daß dieſer Zwittergattung ein raſches 
Ende bereitet wurde, fo dürfen wir doch nicht verfennen, daß ber- 
arige Werke auf bie Zeitgenoffen einen nicht geringen Eindruck 
gxmacht haben. 

Schon für die eben beſprochene Bearbeitung der Nibelungen 
vom Jahr 1807 Hatte ſich Hagen einen beſſeren Grundtert herge⸗ 
ſtellt als den der Müller ſchen Sammlung, theils durch Conjectur, 





1) &. 9. von ber Hagen, Die Nibelungen: ihre Bedeutung für die Ges 
gemwart und für immer, Breslau 1819, S. 196, — 2) S. unten. 


336 Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


theils durch Benugung der Prunn» Mündener Handſchriſt '). Dre 
Jahr fpäter erſchien dann: Der Nibelungen Lieb im ber Urfprade 
mit ben Lesarten ber verſchiedenen Handſchriften herausgegeben 
durch F. H. von der Hagen Zu Vorlefungen Berlin 1810. Dieſe 
Ausgabe ift F. A. Wolf gewidmet und follte „nad, beftem Wiſſen 
und Vermögen eine wirklich und durchaus kritiſche fein, in der rt, 
wie wir fie von den Werken des griechiſchen und römiſchen Alter- 
tSums Haben“ 2). Aber ber Herausgeber war nicht glikflid, in der 
Heritellung feines Textes. Tieck hatte ihm mündlich bie ganz ride 
tige Mittheilung gemacht, daß der vordere Theil des Müllerigen 
Abdrucks nicht aus dem St. Galler ober genommen fein Linne, 
weil er ſich weſentlich von dieſem unterſcheide. Der Anfang einer 
Abſchrift des St. Galler Coder, die Hagen von Prof. Scheitli er⸗ 
hielt, beftätigte Tied’s Mittheilung. Da nun jene vordere Hälfte 
des Muller ſchen Abdrucs, nad; Hagen's eigener Angabe, aud) mit 
den Bruchftüden, bie Bodmer aus ber Hohenemfer Handſchrift mit 
teilt, durchaus nicht ſtimmt, fo folgte mit Nothwendigleit, daß 
jene vordere Hälfte des Müller'ſchen Druds aus einer dritten 
Handſchrift herrühren müfle Dennoch meint Hagen, es je am 
Ende doch das Wahrfcheinlichfte, daß es mit ber Angabe, der Mil: 
leriſche Druck rühre aus ber Hohenemjer Handſchrift Hex, im Ganzen 
feine Richtigkeit Habe, und demgemäß legt er den Müller'ſchen Tert 
zu Grunde, in der Meinung, daß er in dieſem bie „Altefte und 
echteſte Handſchrift“, nämlich die von ihm voransgefegte einzige 
Hohenenfer vor fih-habe®). Die Frage war freilich vermittelt 
genug und wie gemadt, auch bie befferen Köpfe zu verwirten 
Kurze Zeit nad) Veröffentlichung feiner kritiſchen Ausgabe erhielt 
Hagen Aufklärung über das wahre Sachverhältnißß. Anfangs Ro 
vember 1810 theilte ihm Profeffor J. Horner in Zürich den Brief 
Bodmer's an Prof. Müller vom 1. Mat 1781 mit, aus melden 
ſich ergab, daß Bodmer zwei verſchiedene Hohenemſer Handſchri- 
ten benutzt hatte, und daß er Chriemhilden Rache 1757 aus bet 


1) Lachmann's D. Bgl. ben Anhang zu Hagen’s- Nib. von 1807, 
©. 489 fg. — ©. 596. — 2) Bor. & VI. — 36. X. X. 


Die altdeutſchen Stubien zur Zeit bes Auftretens der Brüder Grimm. 887 


einen (Lachmann's C), dagegen die an Müller geſchickte Abſchrift 
des vorderen Theils ans ber anderen Hohenemjer Handſchrift 
(Kahmann’3 A) genommen hattet). In denſelben Jahren kamen 
aud die beiden koftbaren Handſchriften, die ans Hohenems ver- 
ſchwunden und den Augen ber Forſcher entrüdt worden waren, 
wieder zum Vorſchein. "Die letzte Befigerin, eine Gräfin Harrach, 
hatte fie (1807) ihrem Abvocaten, dem Dr. Schufter in Prag ge- 
ſchenlt. Diefer überließ die eine (Lachmann's A) durch Tauſch ber 
Bibliothek in Münden, die andere (Lahmann’s C) verkaufte ex 
an einen Hrn. Frifart in Wien, und von biefem erwarb fie, mit 
Dülfe der Fürſtin Elife von Fürftenberg, (1816) der Frhr. Joſeph 
von Laßberg 2), mit deifen Bücherſchätzen fie (1855) in die Färften- 
bergiſche Bibliothet in Donauejdingen kam. 

Im Jahr 1816 erſchien die-zweite Auflage der eben beſprochenen 
Hagen’fhen Ausgabe des Nibelungenlieds umter dem Titel: Der 
Ritelumgen Lied zum erfienmal in ber älteften Gejtalt aus der 
St. Galler Handihrift mit Vergleihung der übrigen Handſchriften 
herausgegeben duch F. H. von ber Hagen. Zweite mit einem 
vollftändigen Wörterbuche vermehrte Auflage. Breslau 1816. — 
Hagen jeldft bezeichnet in der Vorrede diefe Ausgabe als „ein gang 
neues Buch“ gegenüber der Ausgabe von 1810, und er darf dies 
auch mit voller Wahrheit tun. Hier hat er nämlich Gebrauch 
gemacht von den oben erzählten Aufſchlüſſen, die fih inzwiſchen 
über die Haupthandſchriften der Nibelungen ergeben Hatten. Er 
lemmt zu dem Ergebniß, daß bie eine Hohemſer ?), die St. Galler 
und die Münchner Handſchrift) „die Nibelungen in einer ge- 
meinjamen Darftellung enthalten” und mit „„der Nibelungen Noth"" 
igfießen 5). Ihnen gegenüber ftehe „eine bebeutend abweichende 
Darftelfung“ in der anderen Hohenemjer Handſchrift 9). Ste ent- 


1) Sammlung für Altdeutſche Literatur und Kunft. Her. von F. H. v. 
der Hagen u. |. w. I. and, 1. Stüd, Breslau 1812, S. 1—14. — 
2 Eo wird wohl ber von Dr. Barad (Pfeiffer's Germ. X, 505) mitge 
teilte Bericht des Frhrn. v. Laßberg zu verfiehen fein. — 3) Lachmanns A. 
— 4) Sahmann’s D. — 5) Vorrede &. VII. — 6) Lachmann's C. 

Raumer, Gef. der germ. Philologle. 22 


838 Drittes Bu. Zweites Kapitel. 


halte nicht nur eine Menge von Stanzen, die ben anderen fehlen, 
fondern ändere aud; grundſätzlich, um ben Charakter Chriemhilds 
in einem milberen Lichte erſcheinen zu laſſen i). Die Nibelungen 
zeigten ſich hier zwar in einer mehr anſprechenden, motivierten, ge 
bildeten Geftalt. „Aber“, fährt er fort, „es ift dadurch offenbar auch 
die ältere ftrenge Einfachheit, das Kühne, "oft mehr nur Andeutende 
und Rhapſodiſche oder vielmehr Nomanzenartige des deutfchen Volls 
und Heldenliedes verwifcht” 2). Unfer Nibelungenlied „verläugne‘ 
nämlih nad Hagen’s Anſicht „feinen Urſprung aus älteren und 
anbermeitigen Vollsliedern nicht“ ®). Aber „es rührt im biefer 
Geftalt nur von Einem ber, und zwar von einem ber größten 
und herrlichſten feiner Zeit, in mweldem fi der neue Mitter- 
und Minnefang aufs innigfte mit dem alten Volksliede verquidte 
und es mit allem neuen Glanze erhob und verflärte, wie nirgend 
anderswo“ *). Hagen ift geneigt, mit A. W. Schlegel auf Hein 
rich von Ofterdingen als Verfaſſer unfres Nibelumgenliebs zu 
rathen, wenn ſich dies aud nicht zur Gewißheit erheben laſſe ) 
Lange bevor umfer Nibelungenlieb von diefem Einen gedichtet wur, 
habe es übrigens feinen Durchgang dur die lateiniſche Aufzeid 
nung gemacht, die ber Paſſauer Biſchof Pelegrin (f 991) aus 
mündlicher Ueberlieferung durch feinen Schreiber, Meifter Comad, 
von biefer großen Geſchichte hatte abfaſſen laſſen 6). Die ‚echteſe 
und ältefte Urkunde” jener herrlichen einheitlichen deutſchen Dichtung 
bietet uns nad Hagen's Anfiht die St. Galler Handſchrift und 
nädft ihr die kürzere Hohenemſer und die Münchner. „Die St 
Galler Handſchrift ift alfo faft wörtlich und buchſtäblich abyr 
drudt" ). Aus ben übrigen Handſchriften follen die Strophen, 
die wirkliche Zufäge enthalten, mit einem Sternchen bezeidnet ein 
gefaltet werben. Was num die Ausführung feines Unternehmens 
betrifft, fo ift Hagen auch hier noch fehr weit entfernt von dem, 
was wir jegt von einer Ausgabe bes Nibelungenlieds fordert: 


1) Vorrede ©. IX. — 2) Borrebe S. X. — 3) vorrede S. A.- 
4) Borede S. XVI. — 5) Vorrede 6. XX. — 6) vVorrede 6.1 — 
7) Borrebe ©. XXV. 


Die altdeutſchen Stubien zur Zeit bes Auftretens ber Brüber Grimm. 339 


Aber der Ausgabe von 1810 gegenüber bezeichnet dieſe neue einen 
bedeutenden Fortſchritt. Der Abbrud einer ber beften Handſchriften 
war ohne Frage fehr danfenswerth. Und aud was Hagen für die 
Berichtigung feines Tertes umd für deſſen Ausftattung mit einem 
BVörterbuch gethan, gab diefer Ausgabe der Nibelungen trotz vieler 
Mängel entſchiedene Vorzüge wor allen bisherigen. Insbeſondere 
ift hervorzuheben, daß Hagen Hier bereits „das Grundgefeg” der 
altdeutſchen Metrit „andeutet“ 1), umb dadurch ſelbſt einem Forſcher 
wie Benecke voraus iſt. Hagen ſpricht zwar aud noch von jambi- 
idem, daktylifhem, anapäſtiſchem Sylbenfall und fo fort, erkennt 
aber, daß „die Miſchung aller diefer durcheinander zugegeben werden 
muß.“ „Die Grumbregel*, fagt er, „ift (für ben Nibelungenvers), 
daß ein ſechsfacher Hauptaccent mit ungefähr eben fo viel minder 
betonten Sylben abwechſelt“ 2). Und auch das entgeht ihm nicht, 
daß „in der Nibelungen «Stange die legte Halbzeile meift um einen 
Fuß länger. ift” 3). Ueberhaupt wandte Hagen dem altgermani« 
ſchen Versbau nicht ohne Erfolg feine Aufmerkſamkeit zu, wie er 
denn bereits im J. 1809 die Alliteration im altſächſiſchen Heliand 
tichtig erkannte t). 

Seiner Uebertragung des Nibelungenliebes wollte Hagen eine 
ähnliche Bearbeitung der anderen Gedichte aus dem Kreis ber 
deutichen Heldenfage folgen laſſen. „Der Helden Buch herausgegeben 
durch F. H. von der Hagen. Erfter Band. Berlin 1811” blieb 
aber ohne Fortſetzung. Es war feine Wiederholung des alten 
Heldenbuchs, jonbern eine Sammlung der deutſchen Heldengedichte 
aus den älteften dem Herausgeber zugänglichen Handſchriften und 
Druden 5), und zwar nad) denſelben Grundfägen Bearbeitet, wie 
das Niebelungenlicd von 1807 9). 

Hagen’s Thätigfeit für die deutſche dedenpoefe beſchränkte 


1) Worte Lachmann's in ber Jen. Literatur-Zeitung 1817, Juli 
"Sp. 127. — 2) Der Nibelungen Lieb, Her. durch F. H. von ber Hagen, 
1816, Borr. ©. XXVIII. — 3) Ebend. S. XXIX. — 4) Hagen’s ne 
dige von Docen's Miſcellaneen in der Jen. LiteraturZeitung 1809, 27. Juli. 


— 5) Bor. ©. VII. — 6) Eben. ©. X, 
29° 


8338 Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


halte nicht nur eine Menge von Stangen, die ben anderen fehlen, 
fondern ändere auf grundſätzlich, um ben Charakter Chriemhild's 
in einem milderen Lichte erſcheinen zu laſſen). Die Nibelungen 
zeigten fi hier zwar in einer mehr anſprechenden, motivierten, ge- 
bildeten Geftalt. „Aber“, fährt er fort, „es ift Dadurch offenbar auch 
die ältere ftrenge Einfachheit, das Kühne, oft mehr nur Andentende 
und Rhapſodiſche oder vielmehr Romanzenartige des beutfchen Volls 
und Helbenliedes verwifcht” 2). Unfer Nibelungenlied „verläugne‘ 
nämlich nad Hagen’3 Anſicht „jeinen Urfprung aus älteren und 
andermeitigen Vollsliedern nicht“ ). Aber „es rührt in biefer 
Geftalt nur von Einem ber, und zwar von einem ber größten 
und herrlichſten feiner Zeit, in welchem fi der neue Riteer⸗ 
und Minnefang aufs innigfte mit dem alten Volksliede verquidte 
und es mit allem neuen Glanze erhob und verflärte, wie nirgend 
anderswo" 4). Hagen ift geneigt, mit A. W. Schlegel auf Hein 
rich von Ofterdingen als Verfaſſer unfres Nibelungenlieds zu 
tathen, wenn fi dies auch nicht zur Gewißheit erheben laſſe ). 
Lange bevor unfer Nibelungenlied von diefem Einen gedichtet wurde, 
habe es übrigens feinen Durchgang durch die lateiniſche Aufzeich 
nung gemacht, die der Paſſauer Biſchof Pelegrin (f 991) aus 
mündlicher Ueberlieferung durch feinen Schreiber, Meiſter Comad 
von dieſer großen Geſchichte Hatte abfaſſen laſſen c). Die „ehteite 
und älteſte Urkunde“ jener herrlichen einheitlichen deutſchen Dichtung 
bietet uns nach Hagen's Anſicht die St. Galler Handſchrift und 
nächſt ihr die kürzere Hohenemſer und die Münchner. „Die St 
Galler Handſchrift iſt alſo faft wörtlich und buchſtäblich abge 
drudt· ). Aus den übrigen Handſchriften ſollen bie Strophen, 
die wirkliche Zuſätze enthalten, mit einem Sternchen bezeidnet ein 
gefaltet werden. Was nun die Ausführung feines Unternehmens 
betrifft, fo ift Hagen auch hier noch fehr weit entfernt von dem 
was wir jegt von einer Ausgabe des Nibelungenliebs fordern 


1) Vorrebe S. IX. — 2) Vorrede ©. X. — 3) Vorrede ©. IL.- 
4) Vorrebe ©. XVI. — 5) Vorrede S. XX. — 6) Bone X — 
7) Vorrebe ©. XXV. 


Die altdeutfgen Studien zur Zeit des Auftretens der Brüder Grimm. 839 


Her der Ausgabe von 1810 gegenüber bezeichnet diefe neue einen 
bedeutenden Fortſchritt. Der Abdruck einer der beiten Handſchriften 
mar ohne Frage ſehr dankenswerth. Und aud mas Hagen für die 
Lerihtigung feines Textes und für deſſen Ausftattung mit einem 
Birterfud) gethan, gab diefer Ausgabe der Nibelungen troß vieler 
Mingel entſchiedene Vorzüge wur allen bisherigen. Insbeſondere 
itt hervorzuheben, daß Hagen Bier bereit „das Grundgeſetz“ der 
alideutſchen Metrik „anbeutet“ 1), und dadurch ſelbſt einem Forſcher 
wie Benecle voraus iſt. Hagen ſpricht zwar auch noch von jambi⸗ 
idem, daltyliſchem, anapäſtiſchem Sylbenfall und fo fort, erkennt 
über, daß „die Miſchung aller dieſer durcheinander zugegeben werden 
m" „Die Grundregel“, fagt er, „ift (für den Nibelungenvers), 
dh ein ſechsfacher Hauptaccent mit ungefähr eben fo viel minder 
beinten Sylben abwechſelt· 2). Und aud das entgeht ihm nicht, 
dB „in ber Nibelungen Stange die legte Halbzeile meift um einen 
Fuß länger ift“ >). Ueberhaupt wandte Hagen bem altgermani- 
iden Versbau nicht ohne Erfolg feine Aufmerkſamkeit zu, wie er 
denn bereit? im J. 1809 die Alliteration im altſächſiſchen Heliand 
richtig erkannte *). 

Seiner Uebertragung des Nibelungenliedes wollte Hagen eine 
aͤhnliche Bearbeitung der anderen Gedichte aus dem Kreis ber 
deutſchen Heldenfage folgen laſſen. „Der Helben Buch herausgegeben 
durh F. H. von ber Hagen. Erfter Band. Berlin 1811" blieb 
über ohne Fortfegung. Es war keine Wieberholung des alten 
deldenbuchs, fondern eine Sammlung ber deutſchen Heldengedichte 
aus den älteften dem Herausgeber zugänglichen Handſchriften und 
Drudend), umd zwar nad denſelben Grunbfägen beatheitet wie 
das Niebelungenlied von 1807 6). 

Hagen's Thätigkeit für bie deutſche Hefbenposi beichräntte 





. 1) Worte Lachmann's in der Jon. Literatur-Zeitung 1817, Juli 
Sp. 197. — 2) Der Nibelungen Lieb, Her. durch F. H. von ber Hagen, 
1816, Borr. ©. XXVIII. — 3) Ebend. S. XXIX. — 4) Hagen’s An- 
dige don Docen’s Mifcelaneen in der Jen. Literatur-Zcitung 1809, 27. Juli. 


— 5) Borr. &. VIII. — 6) Ebend. ©. X. 
29° 


340 Drittes Buch. Zweites Kapitel. 


ſich nit auf die deutſchen Werke, ſondern fie erftredte ſich mit 
gleidem Eifer auf die jfandinavifhen Dichtungen diefes Sagen: 
kreiſes. Dahin gehören: Lieder der älteren ober Sämundiſchen 
Edda. Zum erftenmal herausgegeben durch F. H. von der Hagen. 
Berlin 1812 ')., Dann: Die Edva-Lieder von den Nibelungen 
zum erftenmal verdeutſcht und erflärt durch F. H. von der Hagen. 
Breslau 1814. Ferner: Altnordiſche Sagen und Lieder, welde 
zum Fabelkreis des Heldenbuchs und der Nibelungen gehören. 
Herausgegeben durch F. H. von der Hagen. Breslau (ohne Jahr); 


und endlich: Nordifhe Heldenromane, Breslau 1814— 16, ent 


baltend die Ueberfegung ber Wilfina-, Niflunga-, Böljunga-, Rag⸗ 
nar Lodbroks⸗ und Nornagefts-Saga. - 

In dem erften der Hier genannten Bücher hat Hagen bie Lieder 
der alten Edda, beren Inhalt der deutſchen Heldenjage angehört, 
zum erftenmal durch den Drud veröffentliht. „Die Art der 
Herausgabe diefer Lieder anlangend“, fagt er, „fo find fie genau 


nad der Abſchrift der alten von Müller (über die Aſalehre, ©. 73) | 


in's dreizehnte Jahrhundert gefegten Handſchrift der königlichen 
Bibliothek zu Kopenhagen abgedruckt, welche ich der Güte Nyerup's 
verbante“ 2). Hagen erwarb ſich durch dies Buch das Verdienſt 
und bie Ehre, den Tert dieſer eddiſchen Heldenlieder zuerſt durh 
den Drud zugänglich gemacht zu haben. Für das Verſtändniß 
berfelben that er Hier mod nichts. Die Lieder find faſt ohne 
Interpunktion abgebrudt, Nur am Schluß der Strophen fteht ein 
Punkt, und dazwiſchen findet fi) ganz vereinzelt Hin und wieder 
ein Fragezeichen. Dem Ganzen aber ift eine ausführliche Cinleit- 
ung vorausgeihidt über die Geſchichte und "das Verhältniß dieier 
nordiſchen und deutſchen Dichtungen und über die Xiteratur der 


1) So fautet ber zweite Titel. Voran geht ein Haupttitel: Altmotdijcht 
Lieder und Sagen, welche zum Fabeltreis des Heldenbuchs und der Ribelun 
gen gehören. Mit einer Einfeltung über die Geſchichte und das Berpälmif 
biefer Norbifgen und Deutfen Dichtungen buch; F. H. von ber Hagen. 
Berlin 1812. — 2) Lieder der älteren — Edda. Her. durch F. H. von der 
Hagen, Berlin 1812. Vorr. S. VIII. fg. 


Die alidenlſchen Studien zur Zeit des Auftveiens ber Brüder Grimm. 341 


beiden Eden. Das hier Verabſäumte ſollte die zwei Jahre fpäter 
erihienene Verdeutſchung und Erflärung eines Theiles biefer Edda⸗ 
Seder nachholen. Die Ueberfegung ift ftabreimend. Sie ift nicht 
ohne Geſchick gemacht, und wenn man den Stand der damaligen 
Hülfsmittel 1) bedenkt, wird man die Sprachkenntniß des Ueber⸗ 
iegers nicht unterfhägen. An Mißgriffen konnte es natürlich bei 
änem fo ſchwierigen Unternefmen nicht fehlen, und man würde 
met thun, fie dem Verfaſſer zu hoch anzurechnen. Aber charak⸗ 
teriftifch und keineswegs zu billigen ift e8, daß aud hier wieder 
die Anmerkungen faft ausſchließlich fahliher Natur find, und daß 
ter Berfaffer oft auch bei den größten Schwierigkeiten nicht das 
vedũrfniß empfindet, fih und den Lefern Rechenſchaft zu geben 
über feine Auffaffung des Textes. Er verdedt vielmehr öfters bie 
Schwierigkeit durch irgend einen allgemeinen Ausdruck oder läßt 
auch wohl das dunkele Wort ftilljäweigend ganz aus ?). — In 
Bug auf den von Hagen herausgegebenen Grundtert altnorbifcher 
Sagen bemerken wir nur, baß er die Völsunga-, bie Ragnar 
Lodbroks- und die Nornagests-Saga aus Biörner abbrudt, bie 
Blomsturvalla-Saga aber, nad) einer Abſchrift, die ihm Nyerup 
keiorgte, zum erftenmal veröffentlicht 3). 

Mehr als irgendetwas Anderes erfüllten die Nibelungen Ha- 
gen’3 Gemüth. Seine Gedanken darüber faßte er zufammen in der 
Schrift: Die Nibelungen: ihre Bedeutung für die Gegenwart und 
fir immer. Breslau 1819. Hagen ergießt fi hier in ein begei- 
ftertes Lob der Nibelungen, indem er neben manchem Ueberſchwäng⸗ 
lihen vieles Wahre und richtig Empfundene fagt. Zugleich 
aber fucht er auch feinen Gegenftand nad) allen Seiten hin tiefer 
zu ergründen. Wir dürfen dabei nicht überfehen, daß Hagen bei 


1) Bgl. die Borrede ©. XXI. — 2) Bol. z. B. bie ſchwierigen Siro— 
ten Sigurdarkvida II, 3 u. 4, bei benen Hagen nur eine einzige und 
wear ſachliche Bemertung macht. Ober Sigurdarkv. I, (Gripisspd) 19, wo 
Hagen das skala mit „nicht follt bu“ überfegt, ohne aud nur eine Bes 
werbung dazu zu madien. Dder ebend. Str. 8, wo Hagen das Wort gegn 
Ohne weiteres ausläßt. — 3) Vorr. ©. V. 


342 Drittes Bud Zweites Kapitel. 


diefer im Jahr 1819 erſchienenen Schrift die früher veröffentlichten 
Arbeiten von %. und W. Grimm, von Görres, Friedrich Schlegel 
und Lahmann fon vor fi hat. Auf das Verhältniß zu Lad: 
mann kommen wir in einem fpäteren Abſchnitt zurüd. Hier wollen 
wir nur noch bes Zuſammenhangs gedenken, in welchen Hagen das 
Nidelungenlied mit der ſtandinaviſchen Mythologie ſetzt. Siegfried's 
Leben und Tod ift, nach feiner Anſicht, nichts Anderes als das 
Leben und der Tod Baldur's des Guten 1), und der Nibelunge 
Noth ift der Untergang aller Götter in ber Götterbämmerung ?): 
„alſo, jener unter manderlei Namen und Geftalten überall vor- 
kommende Ur⸗Mythus von Leben, Tod und Wiedergebint, von 
Schöpfung, Untergang und Wiederkehr der Zeiten und Dinge über 
Haupt“ 3. Hagen begnügt fi in feinen mythologiſchen Deutungen 
nit mit dem Grweisbaren, ſondern er ſchweift auf der Spur 
Kanne's in’s unbegrenzt Phantaftiihe. Da ift Siegfried nicht bloß 
Baldur, fondern zugleich auch „Nimrod, Nibelot“ und Orion ) 
gel iſt Atli, aber „zugleich der uralte Atlas“ 5). Und „im Nor 
diſchen Heißt au ein Ring ſelber Orm, unfer Wurm, von 
welchem, der Sage nad, Worms ben Namen hat, —, von dem 
Ur-Worte Ur, weldes Anfang und Ende, Tob und Leben um 
fließt” 9. Wir maden natürlich Hagen keinen befonderen Bor- 
wurf daraus, daß er auf einer Bahn wandelt, auf der wir jelbit 
Jacob Grimm in jüngeren Jahren treffen werben. Aber es war 
ein eigener Unftern für Hagen, daß er diefe Dinge gerade noch 
in demfelben Jahr zum beften geben mußte, in weldem das Er 
feinen von Grimm’s Grammatik diefem Unweſen ein Ende machte. 

Noch Haben wir eins ber bebeutenbften Werke Hagen’s zu be 
ſprechen, nämlich den von ihm in Gemeinſchaft mit Büſching her 
ausgegebenen Literariihen Grundriß der Geſchichte der Deutihen 


Poeſie von ber älteften Zeit bis in das fechzehnte Jahrhunder \ 


(Berlin 1812). Hier führt Hagen, dem die Ausarbeitung des 


1) 8. 9. von ber Hagen, bie Nibelungen: ihre Bedeutung u... S.3. 
&. — 2) Ebend. ©. 37. 85. — 3) Ebend. S. 37. — 4) Cha 
S. 72. — 5) Ebend. S. 89. — 6) Ebend. ©. 66. 


Lie alideutſchen Studien zur Zeit bes Auftretens ber Brüder Grimm. 843 


Buchs allein angehört !), weiter aus, was er in der Einleitung 
zu den Deutſchen Gedichten des Mittelalter 1808 begonnen hatte: 
Ein möglichft vollftändiges Verzeichniß aller bis dahin bekannten 
baudſchriften und Drude altveutiher Dichtungen. Natürlich hat 
ſih feit jener Zeit unfre Kenntniß ſehr vermehrt, unfer Urtheil viel- 
fo berichtigt. Wir mögen es deshalb immerhin als einen Beleg 
anfüßren, wie niebrig Hagen's kritiſches Urtheil noch ftand, wenn 
er den Dimit, Hug - und Wolf- Dietrich dem Wolfram von Eſchen⸗ 
dad zuſchreibt 2). Aber das vermindert nicht das Lob, das Ha⸗ 
gen's veihhaltige und grumdlegende Arbeit verdient, und das ihr ſelbſt 
von Jacob Grimm, fonft einem ftrengen Beurtheiler von Hagen’s 
täftungen, trog mander Ausftellungen zu Theil geworben ift 9). 


Docen. 


Veit mehr als von der Hagen war ein anderer gelehrter Bor- 
läufer Grimm's und Lachmann's auf eigentlich grammatiſch⸗philo⸗ 
logiſche Thätigkeit angelegt, wenn ſich aud der Umfang feiner 
Birfamleit mit der Hagen's nicht vergleichen läßt, nämlich Bern- 
hard Joſeph Docen. Geboren zu Dsnabrüd am 1. Det. 1782 
als der dritte von fünf Söhnen des dortigen erften anzlei-Secretärs 
Philipp Docen, beſuchte er in feiner Vaterſtadt mit Auszeichnung 
das fatholifhe Gymnafium (Carolinum), dem damals, feit die Je— 
fuiten aufgehoben worden waren, Srancislaner «- Mönde aus Biele- 
feld vorſtanden. Er war fleißig und entzog fi, um zu ftubieren, 
den Spielen feiner Gejhwifter und Kameraden. Seiner Neigung 
für Literatur, die ſchon fehr lebendig war, genügte aber dieſe Schule 
fo wenig, daß er beim Mector des proteftantiigen Gymnafiums 
Fertlage Unterricht im Griechifhen nahm. Im Jahr 1799 bezog 
er, um Medicin zu ftubieren, die Univerfität Göttingen. Bald 
aber brachte ihm das anatomiſche Theater von diefer Lebensrichtung 
ab, und nun gab er ſich ganz feinem Hange zur Literatur und 


1) Hagen, Literar, Grunbriß Vor. &. XVII. — 2) Hagen, Liter. 
Gtundriß ©. 6. — 3) Heibelb. Jahrbüder ber Litteratur 1812, Bb. II, 
5.80 


344 Trittes Buch Zweites Kapitel, 


Archäologie Hin. Auf der göttingen'ſchen Bibliothek war er bald fo 
einheimifh wie Einer und er beſchwerte ſich ſcherzweiſe über die 
Maffe von Büchertiteln, die er im Kopf Berumtrage. Bon. Heyne 
wurde er fehr geihägt, und er rechnete nicht ohne Grund darauf, 
durch diefen Gelehrten zu einer paſſenden Anftellung empfohlen zu 
werben. Im Jahr 1802 ging er nad) Jena. Nach Vollendung 
des alademijhen Curſus wandte er fih nah dem Süben, und es 
ſcheint, daß er felöft eine Reiſe nach Italien beabſichtet habe, bie 
noch fpäterhin einer feiner oft wiederkehrenden und nie erfüllten 
Wünſche geblieben war. Indeſſen muß gerade um diefe Zeit ſchon 
feine Vorliebe für vaterländifhe ältere Literatur entſchieden geweſen 
fein; denn bereit? im Sommer 1803, wo er in Nürnberg und 
Altdorf erſchien, ftand er im Verkehr mit E. J. Koh in Berlin, 
dem Herausgeber des Compendiums ber altdeutihen Literatur, be 
ſchäftigte ſich von Panzer, Siebenkees, Kiefhaber, Nopitſch und An- 
deren begünftigt, mit altdeutſchen Handſchriften der Ebner'ſchen 
Bibliothek, und war, wahrfceinlih duch Heyne empfohlen, in 
brieflicher Verbindung mit Baron Chriftoph von Aretin, damaligen 
Vorfteher der Hofbibliothet in Münden. Diefem war, als Docen 
im Spätherbft 1803 nad Münden kam, deſſen Mitwirkung kei 
feinen vielen fiterarifhen Unternehmungen und bibliothelarifgen 
Arbeiten fehr willkommen. Andrerfeits mußte e8 Docen anziehend 
finden, fo viele durch die Säcularifation in Münden zufammen- 
ſtrömende literariſche Schäge, bejonders des deutſchen Altertfums, 
zuerſt unterſuchen und bekannt machen zu können ). Wir werden 
ſpäter ſehen, welche Verdienſte Docen ſich in dieſer Beziehung er⸗ 
worben hat. Vom Juni 1804 an arbeitete er regelmäßig auf der 
kurfürſtlichen Hofbibliothek an einer Recenſion ihrer deutſchen, fran⸗ 
zöſiſchen und anderen Handſchriften. Im Jahr 1806 wurde er 
als Scriptor an dieſer Bibliothek angeſtellt und rückte 1811 zum 


1) Die biogtaphiſchen Angaben über Docen find (zum Theil woöͤrilich 
der Biographie Docen's von Schmeller entnommen [im Neuen Nekrolog der 
Deurfgen (Sechſter Jahrgang, 1828. Zweiter Tpeil. Ilmenau 1830).] 


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Die altdeutſchen Gtudien zur Zeit des Auftretens ber Brüder Grimm. 345 


Euftos derfelben vor. Docen war ein mufterhafter Bibliothekar; 
überall zu Haufe wußte er auf die fpecielfften Fragen fiheren Be- 
ſcheid zu geben. Dabei war er ehr gefällig und fogar wenn 
Objecte berührt wurden, die er gewiſſermaßen ſich felbft vorbehal- 
ten hatte, verjtand er einer gewiffen unwillkürlichen Aengſtlichkeit 
Meifter zu werden. Cine Liehhaberei Docen’3 war die bildende 
Kunſt. Auch als Dichter hat er fi verfuht, und zwar nicht bloß 
in hochdeutſcher, fondern auch in niederdeutſcher Sprade 1). Im 
Jahr 1811 wurde Docen Adjunct, 1821 auferordentlihes und 
1827 ordentliches Mitglied der Münchner Akademie der Wiſſen⸗ 
IHaften. Er ftarb am 21. November 1828 au der Abzehrung. 
Docen’3 wiſſenſchaftliche Thätigfeit war eine ſehr ausgebreitete. 
&r hat jevod fein größeres vollendetes und in ſich zufammenhän- 
gendes Werk hinterlaffen, jondern feine Entdeckungen, Forſchungen 
md Anfihten in einer Unzahl Hleinerer und größerer Ahhandlun- 
gen niebergelegt, die nur zum geringften Theil einzeln gedrudt, der 
Mehrzahl nad) in den verſchiedenſten Zeitſchriften zerſtreut find. 
So in Kiefhaber's Quartalſchrift (18083 fg.), in der Aurora (Mün- 
den 1804 — 7), in Aretin's Beiträgen, im Neuen Literariichen 
Anzeiger (Münden 1806 — 8), im Mujeum für Altdeutſche Lite- 
tatut und Kunſt, das er in Verbindung mit 3. H. von ber Ha- 
gen und Büſching 1809— 1811 herausgab, und in der ſich (1812) 
daran anſchließenden „Sammlung für Altdeutihe Literatur und 
Kunſt,“ in Schelling's Allgemeiner Zeitihrift für Deutjhe 1818 
md vielen anderen 2). Einmal Hat er jelbft den Verſuch gemacht, 
feine Heinen Arbeiten zu einem größeren Ganzen zujammenzufafien, 
in jeinen Miscelfaneen zur Geſchichte der teutſchen Literatur, neu— 
aufgefandene Denkmäler der Spradie, Poeſie und Philoſophie unfrer 





1) Ueber feine hochdeutſchen Gelegeneitsgebichte ſ. den Nekrolog ber 
Teutfgen a. a. O. ©. 808. In plattdeutſcher Sprade iſt z. B. ein Epilog 
m Schiller's Mufen- Almanachen in ſechs Stanzen (abgebrudt in der Aurora, 
Win, 1804) u. eine „Rene Vorfielkung des Abſoluten, in plattbeutfchen Reimen“ 
(In den Miscellaneen II, 258), — 2) ©. bas Verzeichniß in Docen's 
!eben im Neuen Nelrolog der Deusfchen, Sechftet Jahrgang, II, ©. 806. 


346 Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


Vorfahren enthaltend (Bb. I und II, Münden 1807). Im dJahr 
1809 erſchien eine erneuerte Ausgabe, deren erftem Bande ber Ber- 
faffer einen Anhang, Zufäge zu beiden Theilen enthaltend, eis 
fügte. — Ueberblidt man biefe weithin zerftreute literariſche Thö- 
tigfeit Docen's, fo Könnte man verfucht fein, ihm Zerfplitterung 
feiner Kräfte vorzumerfen. Man würde aber unrecht daran thun. 
Denn Docen’s Thätigkeit entſprach nicht nur feiner befonderen No- 
turanlage, fonbern fie diente auch in höchſt dankenswerther Weile 
gerade dem damaligen Stadium unfrer Wiſſenſchaft. Die reichen 
verborgenen Schäge aufzufäließen und fie den Forſchern in Nord 
und Süd zugänglich zu machen, Vorurtheile zu zeritreuen, irrige 
Meinungen zu berichtigen, neue Unterſuchungen anzuregen, darauf 
kam e3 in jener Zeit beſonders an. Nach allen diefen Richtungen, 
namentlich nad} ber zuerft genannten, hat Docen in höchſt werbienft- 
licher Weife gewirkt. Und Hat er aud, wie wir fpäter ſehen wer 
den, gerade in manden feiner Hauptarbeiten geirrt, fo ift micht- 
beftomeniger aud- da fein redlich und fleißig verfolgter Irrthum 
der Anlaß geworden, daß größere Meifter das Wichtige entdect 
haben. 

Docen gehörte teineswegs zu ben Gelehrten, bie in ben lei⸗ 
nen Einzelheiten ihrer Wiffenfchaft aufgehen, ohne den Blid zu dem 
großen Ganzen zu erheben, das dem Vereinzelten erft feinen Werth 
verleiht. Er beflagte, „daß man bisher faft durchgängig fragmen- 
tariſch und viel zu unbeftimmt unter den Denfmälern ber früßeren 
Zeiten umhergeſchwärmt und jede Kleinigkeit, die eben hervorgezogen 
wurde, fon als bebeutenden Gewinn angejehen habe; biefes aber 
einzig aus dem Grunde, weil man bei jener unfruchtbaren Geſchäf⸗ 
tigfeit die unendlich wichtigeren ſchon vorhandenen oder leicht zu 
exhaltenden Werke vernachläffigte, und weil ſich nirgends ein deut 
liches Hinftreben zu Einem Ganzen, zu einer wahrhaft hiſtoriſchen 
Einficht bemerten ließ“ 1). Man dürfe weder, wie das bisher oft 
geſchehen, fi ohne Kenntniß des Einzelnen in allgemeinem Theo 
vetifieren ergehen, noch dem unerfättlihen literäriſchen Mikrologis⸗ 


1) Docen, Miscellaneen, Bd. I, München 1807, Vorr. 8. IX. 


Die alideutſchen Stubien zur Zeit des Auftreiens ber Brüder Grimm. 347 


mus frößnen und den jet ſchon fo überladenen Wuft untauglicher 
Kotigen noch mehr anhäufen. „Um beide Abwege zu vermeiden, 
gibt es Tein ſicheres Mittel, als fi von den übergebliebenen Wer- 
fen der früheren Zeiten, die wie die Ruinen eines großen Tempels 
ohne Ordnung und oft verftect genug noch daliegen, eine fo viel 
möglih vollftändige Kenntniß zu erwerben, um die zerftreuten 
Bruchftüde in den ununterbrodenen Umkreis des Ganges ber teut- 
fen Bildung, jedes an den ihm zufommenden Ort zurüdzu- 
führen“ 1), " 

Beraten wir Docen’3 XThätigfeit nach ihren verſchiedenen 
Seiten, fo tritt ung zuerft der Herausgeber bis dahin theils noch 
gar nicht, teils mur mangelhaft bekannt gemachter altdeutſcher 
Denkmäler entgegen. Dazu bot ihm feine Stellung an der Mün- 
dener Bibliothek, in welche damals die uierſchöpflichen handſchrift⸗ 
lichen Schäge der fäcularifierten öfter und mander anderen 
bayeriſchen Bibliothelen zuſammenfloſſen, die erwünſchteſte Gelegen- 
keit. Wir können bier natürlich kein Verzeichniß aller von Docen . 
belannt gemachten Stüde geben, fondern müſſen uns begnügen, 
einige der Hauptfächlichften hervorzuheben. Dahin gehört 3. B. bie 
Mittheilung eines Abſchnitts aus dem Bamberger Coder bes Heltand 
(1806). Dann die Heinen althochdeutſchen Stüde, die Docen im 
eften Band der Mifcellaneen Handſchriften der Mündner Bi 
bliothel entnimmt, darunter das Lied auf den heiligen Petrus 
und ber freifinger Tert der Exhortatio ad plebem christianam >). 
Die Mifcellaneen bringen ferner die erfte Kunde vom Winbberger 
Bialter und die erfte Mittheilung daraus. Sein befonberes Augen- 
mert wandte Docen ber Menge von althochdeutſchen Gloſſen zu, 
welche die Münchner Handſchriften enthalten. Ex fah in ihnen mit 
Rect einen der vorzüglichſten Beiträge zu einem gründlichen deut» 
ſchen Wörterbud +). Er verkannte nicht, daß die Methode, Gloſſen 


1) Eend. S. X. — 2) Miscellaneen II, (1807), 8. 8 fg. — 3) Der 
daldatr Test war ſchon von Hottinger in der Hist, Ecclesiast. N. T. ber 
iaunt gemacht und von J. @. Eccerd in der Catechesis theotisc. ©. 74 
wicherholt worden. — 4) Docen, Miſcell. I, 184. 


348 Drittes Buch. Zweites Kapitel, 


in ihrer urfprünglichen Folge bekannt zu machen, viel für ſich habe, 
aber für die damalige Zeit ſchien es ihm nützlicher, die von ihm 
durchgearbeiteten Gloſſen aus Münchner Handſchriften als ein al- 
phabetifch geordnetes Glossarium theotisco-latinum feinen Mifcel: 
laneen einzuverleiben 1). Hier finden ſich die erften Mittheilungen 
aus den reichhaltigen Tegernfeeer Gloffen, die ben Abdruck der 
Monfeeer Gloſſen in Bez Thesaurus Aneodotorum in unzäpligen 
Fällen ergänzen und berichtigen. Docen entdedte den Mufpilli?), 
wenn er au nicht dazu gekommen ift, ihn herauszugeben. Wie 
für die althochdeutſche Zeit, fo boten Docen’s Veröffentlichungen 
auch für die mittelhochdeutſche den erwünfchteften Zuwachs. Bis 
dahin noch nicht gebrudte Tieder aus der Blüthezeit der mittelhod- 
deutſchen Lyrik, barunter zwei von Wolfram's Tageliedern 3) —, 
den erften Drud ber zahlreichen Strophen bes Wartburgftreits, 
welde die Jenaer Handſchrift mehr enthält als die ſ. g. Maneffi- 
fe *), und vieles Andere verdanken wir Docen. Sein wictigfter 
Yund aber auf mittelhochdeutſchem Gebiet waren die Bruchftüde des 
Wolfram'ſchen Titurel, die er in einem Münchner Coder fand ımd 
in feinem Erften Sendſchreiben über den Titurel, auf das wir fpäter 
noch einmal zurüdtommen werden, im Jahr 1810 veröffentlichte. 
Aber auch auf die fpätere Zeit erftredte ſich fein Intereſſe, und 
beſonders war es das deutſche Volkslied bes 16. Jahrhunderts, 
das er in treuen Abdruden zugänglich madte,d). Docen beſchränkte 
fi aber nicht auf die bloße Veröffentlihung alter Schriften, jon- 
dern er lieferte auch forgfältige eigene Beiträge zur Geſchichte ber 
deutſchen Literatur. Seine „Marginalien zu Hrn. Fr. Adelung's 
Nachrichten von altteutjchen Gedichten, welde aus der Heidelbergi- 
ſchen Bibliothek in die Vatikaniſche gefommen find“ ©), feine „Zur 


11, 158 — 246. — 2) Cont. Hofmann in ben Gigungeberidten 
ber Mündener Afab. 1866, 3. Nov. — 3) Mifcellan. I, 100, »Den 
morgenblic bi wahters sange erkös« (Wolfram, her. v. Lachmann 
1883, 8. 3) und 102: Sine kläwen durh die wolken sint gesiagen 
(eb. ©. 4). — 4) Miscellan, I, 118. — 5) Miscellan. I, 247. II, 239.— 
6) Zuerft im Neuen Literar. Anzeiger 26. Aug. und 16. Sept. 1806. 
Dann erweitert in den Miscellaneen II, 124. 


Die altdeutſchen Stubien zur Zeit des Auftretens der Brüder Grimm. 849 


füge und Berihtigungen zu E. %. Koch's Compenbium der deutſchen 
literatur Geſchichte“ 1), fein „Alphabetiſches Verzeihniß der altteut- 
igen Lieder Dichter aus dem ſchwäbiſchen Zeit Puncte“ 2), feine 
„Gallerie altveutfcher Dichter“ 3), fein „Verfud einer vollftändigen 
Üiteratur der älteren Deutſchen Poefie“ 4), feine Aufjäge „Zur Li- 
teratur und Kritik altdeutſcher Gedichte” 5), feine ausführliche Beur- 
teilung der Hagen⸗Büſching ſchen Sammlung deutiher Gedichte 
des Mittelalters 6) Haben die Kenntniß unver alten Literatur wer 
fentlih gefördert. Auf feine Erörterungen über den Unterjdieb 
der Minne» und Meifter -Sänger, bei denen er zwar Jacob Grimm 
gegenüber den Kürzeren zog, aber doch eben zu deſſen durchſchla⸗ 
genden Unterjuhungen den Anftoß gab, fommen wir jpäter zurüd. 

Docen hatte jehr richtige Anfichten über das, was der alte 
deutſchen Philologie noth thue. Vor allem müfje man dafür for- 
gen, daß die altdeutſchen Werke in kritiſcher Weife herausgegeben 
würden. „Die Herausgabe eines altdeutſchen Gedichts“, fagt er 
(1813), „wird durch faft alle jene Erforderniſſe bedingt, welche bei 
der Darftellung des Textes eines griechiichen ober römiſchen Auc- 
tor8 von Seiten ber exegetiſchen und kritiſchen Einfiht num unter 
uns, ſeitdem man in Italien die Werke der Alten buch den Drud 
belannt machte, anerkannt und befolgt werben. Bon einem Dent- 
male des deutſchen Alterthums, was Jemand nicht in allen feinen 
Theilen verfteht, wird er nie eine genügende Ausgabe zu liefern 
vetmögend fein — denn bier jo wenig wie bei den Alten, gibt es 
auch nur Eine Handſchrift, die wir als den zuwerläffigen Driginal- 
tet anertennen könnten“ ?). Die Ausübung diefer Fritiichen Thätig- 


1) Angefangen in den Literarifhen Blättern 27. Det. 1804, weiter ge: 
führt in den Miscellan. I, 64, im Neuen Literar. Anzeiger 13, Jan. 1807 
un in Aretin’s Beiträgen Bd. VI, (1806) 8. 176: Bd. VII, (1806) 
8.310, — 2) Neuer Literar. Anzeiger 12. Mai 1807. — 3) Mufeum 
für Alideutſche Literatur und Kunft Bb. I, (Berlin 1809) ©. 37 fg. — 
4) &bend. ©. 126 fg. — 5) Ebend. Bo. II, (1811) ©. 245 fg. — 6) Als 
gemeine Zeitſchrift von Deutfhen für Deutſche, Her. von Schelling, Bd. I, 
Nürnberg 1813, ©. 196—264 und ©. 334—422. — 7) Docen's Beur⸗ 


850 Dritte® Bud. Zweites Kapitel. 


keit forbere nicht nur einen großen Fonds an Sprad- und Alter- 
thumstenntniffen, fondern „das Wiffen wäre hier unwirkſam, ohne 
durd einen Hohen Grad von Scharffinn, Divinationsgabe und das 
feinfte Gefühl des Paſſenden belebt zu fein.“ „Nach den Hier auf 
geftellten Grundfägen“, fügt er dann Hinzu, „ift freilich noch fein 
Denkmal des deutſchen Alterthums herausgegeben worden“ '). In 
der Beurtheilung von Hagen's und Büſching's Sammlung deutjcer 
Gedichte des Mittelalters, welcher die obenftehenden Ausiprüce 
Docen’8 entnommen find, gibt er eine große Menge Berichtigungen 
der mitgeteilten Texte, und fo fehr er das Verdienft der Heraus- 
geber anerfennt, kommt er doc zu dem Ergebniß, daß „die Her⸗ 
ausgeber für die vervielfältigte, treue Mittheilung durch den Drud 
fehr viel, für bie Lieferung eines richtigen lesbaren Tertes aber 
überaus wenig gethan haben“ 2). 

Wie wir hier in Docen einen Vorläufer Lachmann's kennen 
gelernt haben, fo hat er bereit3 im Jahr 1807 eine Ahnung von 
dem, was dann zwölf Jahre fpäter Jacob Grimm in fo großar- 
tiger Weife verwirflicht hat. „Die Geſchichte der teutſchen Sprache“, 
fagt er in der Vorrede zum zweiten Band der Mifcellaneen, „ver- 
langt eine durchaus neue Bearbeitung. So gewiß e8 ift, daß feine 
wahre, gründliche Kenntniß unfrer heutigen teutſchen Sprache mög. 
lich fei, ohne die ältere, die die Wurzeln und den Stamm derſel- 
ben umfchließt, erforſcht zu haben: fo gewiß ift aud, daß, went 
überhaupt das Syſtem ber Sprache auf eine geiftvollere und wir- 
digere Urt dargelegt werden Tann, wie in den gewöhnlichen Gram- 
matifen, in denen die lebendige Erkenntniß ganz untergegangen, 
geſchieht, daß, ſage ih, für eine folde finnvollere Behandlung ein 
noch faft ganz unbebautes Feld vor ums daliege“ >). Er felöft 
hatte im Sinn, „grammatiihe Vergleihungstafeln“ +) und eine 
„Theorie ber älteren deuten Sprache" 5) herauszugeben. Aber 


theilung der Hagen-Büfging’hen Sammlung in Schelling's Allgemeiner Zeit: 
ſchrift I, (1813) &. 201. — 1) Ebend. ©. 203. — 2) Ebend. ©. 356. — 
8) Docen, Miscellaneen (1807) Vorrede 8, VII. — 4) Ebend. I, Vor. 
8. XII. — 5) Erſtes Senbfereiben über ben Titurel (1810) ©. 68. 


Die alideutſchen Stubien zur Zeit des Aufiretens ber Brüber Grimm. 851 


wie auf dem Gebiet der Terttritif von Lahmann, fo wurde auf 
dem ber geſchichtlichen deutſchen Grammatik von Jacob Grimm das 
weit überboten, was Docen hätte leiften können. Es gereicht ihm 
mät zum Tadel, daß noch begabtere Männer das erreichten, was 
er enftrebte, Sondern wir müſſen rühmend anerkennen, daß er einer 
der erften war, welde die Forderungen der deutſchen Philologie 
tichtig beurtheilten. 

Die Aufindung des älteren Titurel durch Dosen. Docen's und A. W. Sqle · 

gel’s Auſichten über denfelben. 


Zu den jhönften Entdedungen jener Jahre gehört die Auffin- 
dung des Älteren Titurel durch Docen. Bis zum Jahr 1810 
lannte man nur dem jüngeren Titurel, wie er in dem Drude von 
1477 vorliegt. Da fand im erften Jahrzehend unſeres Jahrhun⸗ 
derts Docen auf der Münchner Bibliothek in einer Handſchrift 
des Parzival auf vier angebumdenen Blättern eine Reihe Strophen, 
deren Inhalt mit Capitelt) 5, 6, 7 und 10 des jüngeren Titurel 
übereinftimmt, deren Darftelluug aber in Ausführung, Sprade 
md Versbau ſich weſentlich von dieſem unterſcheidet. Docen gab 
dieſe Bruchſtüde mit Erläuterungen und einer vorausgeſchickten Un- 
terſuchung über ihren Urfprung heraus unter dem Titel: „Erſtes 
Sendſchreiben über den Titurel, enthaltend: Die Fragmente einer 
Vor⸗ Eſchenbachiſchen Bearbeitung des Titurel. "Berlin und Leipzig 
1810.” Mit vichtigem Gefühl erfannte Docen die Vortrefflichteit 
diefer Strophen. „Jeder Kunftfreund", fagt er, „der, was der 
deutſche Genius in alter und neuer Zeit gebildet, feiner Theilnahme 
werth achtet, wird biefe Bruchſtücke mit befonderm Wohlgefalfen 
betrachten. Wem auch Lönnte diefer füblihe Glanz und Wärme, 
diefe Pindariſch fortftrömende, lyriſche Sprache, und dieſe Großheit 
der Behandlung unbemerkt bleiben? Wer wird nit in diefen 
Fragmenten ein vorzüglies Zeugnig von dem hohen Genius und 
der wahrhaft poetifhen Bildung der alten Sprade wahrnehmen 


1) So bezeichnet der Drud von 1477 im Regifter die einzelnen Ab: 
ſqhniule. 


352 . Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


und anerkennen?“ 1). „Sn unferm Fragment”, fagt Docen an 
einer anderen Stelle, „herrſcht mehr Jugendlichkeit und Friſche, wie 
in den ftreng geihloffenen, regelmäßigen Strophen bes größeren 
Gedichts“ ). Wie nahe ſcheint ung Docen hier der Entdeckung des 
wahren Sadverhalts zu jein, uns, die wir jene Bruchftüde als 
das echte Werk Wolfram’, den jüngeren Titurel dagegen als ein 
fpäteres mittelmäßiges Produft fennen. Und wirlih war Docen 
aud beim eriten Anblick der-Meinung, dieſes Fragment fei „ein 
früherer Verfuh von Eſchenbach jelöft“ 3). Bald aber am er von 
diefer Anfiht zurüd, und im der That war fie auch im der eben 
angeführten Faſſung in ſich ſelbſt widerſprechend. Docen hielt 
nämlih, wie damals no alle feine Mitforiher, den jüngeren 
Titurel für ein Wert des Wolfram von Eſchenbach. Und von die 
fer unrichtigen Grundlage aus führte er den Beweis, daß jene 
älteren Fragmente nicht vom DVerfaffer des jüngeren Titurel und 
mithin niht von Wolfram von Eſchenbach jein könnten 4). Daß er 
diefelben in das Jahr 1189 verlegte 5), beruhte überdies auf einer 
irrigen Berechnung 9). 

Docen widmete das angeführte Sendſchreiben, in weldem er 
die Bruchſtücke des älteren Titurel veröffentlichte, Auguft Wilgelm 
Schlegel, „mit dem Wunjd, eine lange Hochachtung gegen den ge 
bildeteften Kritifer der Modernen zu beurkunden.“ Schlegel jhried 
eine ausführliche Beurteilung von Docen’3 Sendſchreiben in ben 
Heidelbergiſchen Jahrbüchern der Literatur vom Jahr 18117). & 
ift hoch erfreut über Docen's Entdedung und läßt deſſen Scharf 
finn und Gelehrjamfeit alle Gerechtigkeit wiberfahren; aber mit 
Docen's Grundanfiht über das Verhältniß der aufgefundenen 
Bruchſtücke zum bisher befannten Titurel kann er fich nicht einver⸗ 
ftanden erklären. Zwar, daß diefe Bruchſtücke älter find als der 


1) Docen, Erftes Sendſchreiben über den Ziturel (1810) 6. 11fg — 
2) Evend. ©. 5.— 3) Een. S. 4. — 4) Eben. &7—1. — 
5) Ebend. S. 12. — 6) Lachmann's Ausgabe des Wolfram, Borreit 
©. XXVII, Anm. — 7) Wieder abgebrudt in A. W. von Schlegels fümmt: 
lien Werten. Her. von Böding. Vd. XII, Leipjig 1847, ©. 288—321.— 


Die alideutſchen Stubien zur Zeit bes Auftretens ber Brüder Grimm. 858 


andere Titurel, fteht auch ihm feit. Aber, daß fie „Wor- Eſchen⸗ 
bachiſch feien, beftreitet er. „Wir müffen hier mit der Vermuth⸗ 
ung hervortreten”, jagt er, „die vielleicht Manchem gewagt erſcheinen 
wird, der ältere Titurel fei unmittelbar von Eſchenbach's Hand, 
md der zweite, der bisher alfgemein für ben feinigen gegolten, fei 
mm eine Umarbeitung von zwei fpäteren Meiftern. Wir glauben 
in dem Bruchftüde die ganze Eigenthümlichkeit des Dichters, ja for 
gar feine Seltfamfeit zu erfennen, allein wir wollen uns auf greife 
lihere hiſtoriſche Gründe ftügen“ i). Und nun verfucht Schlegel 
den Beweis, daß Wolfram feinen Titurel fpäteftens zwiſchen ben 
uhren 1210 ımd 1220 gedichtet Habe, und daß wir im ben neu 
aurfgefundenen Bruchſtücken Theile diefes Wolfram'ſchen Titurel 
kefigen. „Schwerlih wurde vor feinem Tode an eine Umarbeitung 
gast, die mad den erften neun Gefängen wieber funfzig Jahre 
lang liegen blieb. Dies würde aljo die Vollendung unferes Titurel 
guy nahe gegen das Ende bes dreizehnten Jahrhunderts Hinrüden, 
und Bloß nach innern Gründen zu urtheilen, ſcheint uns deſſen Tert 
mißt älter zu fein“ 2). Diefe Umarbeiter des Wolfram’ihen Werts 
haben, nach Schlegel, nicht bloß deſſen vierzeilige Strophe in eine 
febengeifige umgewandelt und „dabei bald die hinzugefügten Reime 
mit ſichtbarem Zwange herbeigeführt, bald ſchöne Züge weggelaſſen 
, mb dagegen müßige und nur nit gar Flidwörter gejegt”, fon- 

dern „viele paraphraſtiſche Erweiterungen, viele abſchweifende Ber 
traßtungen, worüber dem Lejer ber Faden der Erzählung ent 
iölüpft, ſcheinen erft bei der Umarbeitung in das Gedicht gelom- 
men zu fein“ 3). Hat fih Schlegel auch darin geirrt, daß er dem 
Fingeren Titurel ein vollftändiges Wolfram'ſches Original zu Grunde 
liegen Täßt; ausgemacht bleibt, daß er der Erſte geweſen ift, der 
etlannt hat, daß ber uns in der Ausgabe von 1477 und allen bis 
iett belannt geworbenen Handſchriften vorliegende in fiebenzeiligen 
Strophen verfaßte Titurel fein Wert Wolfram’s if. Wie bedeu- 


1) Heidelb. Jahrbb. 1811, ©. 1094 fg. (M. W. Schlegels Wie. XI, 
EM. — 2) Heibel. I66. ©. 1098, (Sqhlegels Wie. XII, 310). — 
3) Heibelb. Job. S. 1087 (Schlegels Wie. XII, 800). 

Raumer, Gefh. der germ. Philologie. 


364 Drittes Bud. Zweites Kapitel, 


tenb aber dieſer Fortſchritt in unferer Kenntniß eines ber größten 
altdeutſchen Dichter war, das tritt ung vet Mar entgegen, wenn 
wir fehen, wie mit allen Webrigen nicht bloß Docen, fonbern auch 
Jacob Grimm vor Schlegel's Erörterungen nicht dem minbeften 
Zweifel hegt, daß der jüngere Titurel von Wolfram von Eſchenbach 
herrühre ). Was die äſthetiſche Würdigung betrifft, fo ſchlägt zwar 
Schlegel, trot feiner Entdedung, den Werth des jüngeren Titurel 
immer noch ſehr hoch am?), aber er ift mit blind gegen deſſen 
Schwachen, er bezeichnet ausdrücklich die Weitſchweifigkeit als defien 
Hauptfehler; er erkennt Mar die gewaltige Ueberlegenheit der ehten 
Bruchſtücke 3) ımd ift von ihrer Schönheit entzüdt. Nachdem er 
eine Anzahl Proben, darunter die ergreifende Stelle, in welder 
Sigune Herzelöuben ihre Sehnſucht nad dem abweſenden Geliebten 
llagt, mitgetheilt hat, fährt er fort: „So Hofe und zarte Shän 
heiten bebürfen feiner weitläuftigen Zerglieverung und ertragen fe 
nit. In jedem Laute athmet ſtolze Kraft und innige Lebensfülle, 
und bie begleitenden Rhythmen find wie jauchzende Pulſe, die das 
friſche Heldenblut durch jede Ader des Geſanges hinftrömen“ *). 


Die einfũhtar⸗ des Sauskrit in dem Artis der dewifhen Sotſchuag dech 
Friedrich Schlegel. 


Es lann natürlich Hier nit unfre Abſicht fein, eine Geſchichte 
des Sansteitftubiums zu ſchreiben. Vielmehr wird es In den ab⸗ 
ſchnitten, in denen wir uns mit dem Sansteit befchäftigen, bloh 
darauf anfommen, die Einwirkung zu ſchildern, welche das Str 
dium des Sanskrit auf die germaniſche Sprachforſchung in Deutſch- 
land geübt hat. Wir bemerken daher nur beiläufig, daß der erfte 
Europäer, der eine Sanskritgrammatik herausgegeben Hat, ein: 
Deutſcher war, der Garmeliter Johann Philipp Wesdin, der umter 
feinem Ordensnamen Paulinus a Sancto Bartholomaeo im Jahr 


1) 3. Grimm, Ueber den alideutſchen Meiftergefang, Göttingen 1811, 
©. 59 fg. Bl. auch ©. 88. 179. — 2) Heibels. Jh. ©. 1109 (Edle 
ges We. XII, 319). — 3) Heidelb. 366. ©. 1087 (Sqhlegel's Wie ZU, 
800). — 4) Heibelb. Job. ©. 1108 Schlegels Wie. XII, 319). 


I 
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Die altbeutfcgen Stubien zur Zeit bes Auftretens ber Brüder Grimm. 855 


1790 eine Grammatica Samserdamica veröffentlihte, daß aber 
der großartige Aufſchwung der indifhen Studien, der eine ber 
merhoürbigften Seiten der neueren europäif—hen Wiſſenſchaft bildet, 
hauptſächlich von dem Engländer William Jones (} 1794) und der 
Gründung ber Aſiatiſchen Geſellſchaft zu Calcutta im Jahr 1784 
ausgegangen ift ?). In Deutihland knüpft ſich der Anftoß zu ben 
indiſchen Stubien an einen ber Namen, bie uns ſchon in einem 
früheren Abſchnitt als bedeutfam für die Entwiklung der germani- 
fhen Philologie begegnet find. Friedrich Schlegel gieng im 
Jahr 1802 nad Paris und warf fi dort auf das Studium der 
orientaliſchen Sprachen, erft bes Perſiſchen, dann im Jahr 1803 
unter der Leitung des Engländers Alerander Hamilton?) auf das 
des Sanskrit. Hatte ihn ſchon am Perſiſchen die große Aehnlich-⸗ 
keit mit dem Deutſchen überraſcht, fo wurde er von ber Fornwol ⸗ 
lendung, dem Reichthum und der Wichtigkeit des Sanskrit für das 
ganze Sprach» und Altertfumsftubium wahrhaft bezaubert. „An⸗ 
füngs“, ſchreibt er am 15. Sept. 1808 aus Paris an Tied, „bat 
mich die Kunſt und die perfiihe Sprade am meiften beſchäftigt. 
Mein jegt ift alles bieg vom Sanskrit verdrängt. Hier ift eigent- 
ih die Quelle aller Sprachen, aller Gedanken und Gedichte des 
menſchlichen Geiftes; alles, alles ftammt aus Indien ohne Aus- 
nahme. Ich Habe über Vieles eine ganz andre Anfiht und Ein- 
ficht bekonnnen, feit ih aus dieſer Quelle fhöpfen Tann“ 3). Im 

1) Vgl. Max Müller, Lectures on the Science of Language, fourth 
ed. London 1864, p. 161 fg. — 2) ©. F. Scllegers Schrift: Ueber 
bie Sprache und Weisheit der Indier, Bor. ©. IV. Daß F. Schlegel wäh: 
end des Friebens von Amiens in England geweſen fei, wie man hin und 
wieder angegeben findet, flieht im Wiberſpruch mit ben fortlaufenden Berichten, 
die er im feinen Briefen an Schleiermader (Aus Schleiermacher's Leben. In 
Briefen. Dritter Band) und Tied (Briefe an 2. Tied, Bd. 3, Breslau 1864) 
über fein Leben und feine Studien gibt. Bielmehr hielt fih Hamilton im 


. Jahr 1803, als Schlegel deſſen Unterricht genoß, in Paris auf. gl. U. ®. 


Eqlegel, Indiſche Vibliochet, Exfer Band, Bonn 1820, ©. 6; Zweiter 
Band, Bonn 1827, ©. 383 fg. — Nouvelle Biogr. gönerale, Tome 28, 
Paris 1858 =. n. Hamilton (Alexandre). — 8) Briefe an 2. Tied, 


®. 3, Breslau 1868, ©. 329. 
99° 


866 Drittes Buch. Zweites Kapitel. 


Jahr 1808 veröffentlicht er als Frucht feiner Studien die Schrift: 
„Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur 
Begründung der Alterthumskunde. Nebſt metriſchen Ueberfegungen 
indiſcher Gedichte“ 1). Im erften Bud; biefer Schrift Handelt er 
von der Sprache, im zweiten von ber Philofophie, im dritten end- 
Kid} fügt er allgemeine hiſtoriſche Ideen Hinzu. In Bezug auf bie 
Sprade zeigt er zuerft an einer Meihe von Beifpielen die nahe 
Verwandtſchaft, in welher das Sanskrit mit dem Lateinifhen, 
Griechiſchen, Germaniſchen und Perſiſchen fteht, und fucht zugleih 
den Beweis zu führen, daß die indiſche Form die ältere fei 2). In 
feinen etymologiſchen Vergleihungen beftrebt er fih, dem Vorwurf 
phantaftiicher Willtür zu entgehen. „Wir erlauben ung dabei Feine 
Art von Veränberungs- ober Verfegungsregel der Buchſtaben, ſon⸗ 
dern fordern völlige Gleichheit des Worts zum Beweife der Ab 
ftammung. Freilich, wenn fih die Mittelglieder hiſtoriſch nad 
weijen laſſen, ſo mag giorno von dies abgeleitet werden, und 
wenn ftatt des Iateinifchen f im Spaniſchen jo oft h eintritt, das 
lateiniſche p im der deutſchen Form desſelben Wortes fehr häufig 
f wird, und c nit felten h, fo gründet dies allerdings eine Anı- 
Iogie auch für andre nicht ganz fo evidente Fälle. Nur muß man, 
wie gefagt, die Mittelglieder oder die allgemeine Analogie hiſtoriſch 
nachweiſen fünnen; nach Grundſätzen erbichtet darf nichts werden, 
und die Uebereinftimmung muß ſchon jehr groß und eimleuchtend 
fein, um aud nur geringe Formverſchiedenheiten geftatten zu bür- 
fen“ 3). Wir fehen hier. einen großen Fortſchritt gegenüber dem 
phantaftiihen, hin» und Herrathenden Gtymologifieren. Zugleich 
aber bezeichnet ung dieſe Stelle, wie weit im Jahr 1808 ſelbſt ein 
Mann wie Friedrih Schlegel noch entfernt war von der Einfiht, 
die wir Raſt umd Grimm verbanten, baß eben jene Megeln der 
Umwandlung bie Grundlage der Etymologie Bilden, fo daß oft 
gerade die Ungleichheit, nicht die Gleichheit des Lautbeſtandes für 
die Identität der Wörter ſpricht. 


1) Heidelberg, bei Mohr und Zimmer. — 2) 8. Shlegel, Uche 
Sprache und Weisheit ber Inbier. ©. 15. — 3) Ebend. ©. öfg- 


Die alideutſchen Stubien zur Zeit des Auftretens der Brüber Grimm. 857 


Ein noch größeres Gewicht als auf die Aehnlicfeit der Wur- 
zen legt Schlegel auf die Uebereinftimmung des grammatiſchen 
Baues. Nachdem er im zweiten Kapitel eine Anzahl von Wörtern 
zuſammengeſtellt hat, melde ſich einerfeits im Sanskrit, andrer- 
fäts im Lateiniſchen, Griehifgen, Germaniſchen oder Perſiſchen 
finden, beginnt er das britte, „Bon der grammatiſchen Structur“ 
überfjriebene Kapitel mit dem Einwurf: „Könnte man aber nicht 
vielleiht diefen ganzen Beweis umkehren und jagen: Die Ber- 
wandiſchaft ift auffallend genug und mag zum Theil gegründet 
fein, woraus folgt aber, daß die indiſche unter ben verwandten 
Eprachen grade bie ältere umd ihr gemeinfchaftliher Urfprung ſei? 
Lann fie nicht eben fo gut erft duch Miſchung der andern entftan- 
den fein, oder doch dadurch diefe Aehnlichkeit erhalten haben?“ 
‚Richt zu erwähnen, antwortet Schlegel, daß Vieles von dem ſchon 
Angeführten und auch mande andre Wahrſcheinlichkeit dagegen 
ſpricht, fo werben wir jegt auf etwas fommen, was die Sade 
völlig emtjdjeibet und zur Gewißheit erhebt. Ueberhaupt dürfte die 
Sopothefe, welche, was fi in Indien Griechiſches findet, von ben 
Seleuciden in Baltrien herleiten zu können meint, nicht viel glück⸗ 
licher fein als die, welde bie ägyptiichen Pyramiden für natürliche 
Iryftallifationen ausgeben wollte. Jener entſcheidende Punkt aber, 
der Hier Alfes aufhellen wird, ift bie innere Structur der Spra- 
sen oder bie vergleichende Grammatik, welde uns ganz neue Auf- 
ſchlüſſe über die Genealogie der Sprachen auf. ähnliche Weife geben 
wird, wie die vergleihende Anatomie über die Höhere Naturge- 
ſqichte Licht verbreitet hat“ 1). 

Wenn nun aud bei der Durhführung im Einzelnen Schlegel 
Richtiges und Falſches miſcht, fo Hat er doch in den angeführten 
Worten einen ber fruchtbarſten Grundgedanken der ganzen neueren 
Sprachforſchung ausgeſprochen, umd auch in der weiteren Ausfühe 
tmg finden wir vieles Treffende. „Mit der griechiſchen und römi⸗ 
iden Grammatik,“ fagt er 2), „ftimmt bie indiſche fo ſehr überein, 


1) Eben. ©. 27 fg. — 2) Ebend. S. 35. 


858 Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


baß fie weder von der einen noch von der andern mehr verſchieden 
ift, als dieſe beiden es unter fid find.” In Bezug auf die germani- 
fen Spragen ertennt Schlegel ganz richtig, daß fie ben Formen 
des Indiſchen, Griechiſchen und Lateinifhen immer näher rüden, 
je weiter wir in ihr Alterthum Hinauffteigen. Nachdem er einige 
grammatiſche Wehnlicteiten des Deutſchen und des Indiſchen be 
ſprochen hat, fährt er fort: „Nehmen wir vollends die Grammatit 
der ältern Mundarten hinzu, bes Gothiſchen und Angelſächſiſchen 
für den beutfen, bes Isländiſchen für den ſtandinaviſchen Zweig 
unfrer Sprade, fo finden wir nicht nur ein Perfectum mit einem 
Augment, wie im Griechiſchen und Indiſchen, einen Dualis, ge 
nauere Geſchlechts⸗ und Verhältnigbeftimmungen ber Participien 
und ber Declination, die jegt verloren, fondern auch viele andre 
Flexionen, die jegt ſchon etwas abgeftumpft und weniger kennilich 
find; die dritte Perfon im Singularis und Pluralis der Zeit 
worte zum Beifpiel zeigen fi wieder vollftändig und in voll 
tonunner Uebereinftimmung. Es kann mit einem Worte bei ber 
Betrachtung diefer alten Dentmahle der germanifgen Sprache nit 
der mindefte Zweifel übrig bleiben, daß fie ehedem eine ganz ähn⸗ 
liche grammatiſche Structur hatte, wie das Griechiſche und Römi- 
fe" iy. Ich führe aus dem Beſonderen, was Schlegel über die 
deutſche Sprache fagt, nur eine Stelle an, weil fie uns zugleich 
hinüberleitet zu einer allgemeineren Betrachtung. „Wird in einer 
andern (Gattung) das Imperfectum durch ein angefügtes t gebildet, 
fo ift dies freilich eine beſondre Eigenthümlichkeit, eben fo wie das 
b im römiſchen Jmperfectum; das Princip aber ift immer noch 
dasſelbe, daß nämlich die Nebenbeftimmung ber Bedeutung nad ber 
Zeit und andern Berhältniffen nicht durch befondre Worte ober von 
außen angehängte Partikeln geſchieht, jondern durch innre Modifir 
cation der Wurzel” 2). Dieje Stelle bietet uns den Uebergang zu 
dem Verſuch, den Schlegel in ben folgenden Kapiteln macht, ſämmt⸗ 
lie Sprachen unter gewiffe Hauptgefitspunfte zufammenzufaffen. 


1) Ebend. ©. 33 fg. MWgl. die Bemerkung über das Zugrunbelegen der 
Älteren Mundart ©. 81. — 2) Ehend. ©. 3. 


Die altbeutfcjen Studien zur Zeit des Auſtretens ber Brüber Grimm. 859 


Die Gefammtheit der Sprachen zerfällt ihm in zwei große Klaſſen. 
„Entweder“, jagt er, „werben bie Nebenbeftimmungen der Bebent- 
mg durch innre Veränderung des Wurzellauts angezeigt, buch 
Flerion, oder aber jevesmal durch ein eigens Bingefügtes Wort, 
was fon an und für ſich Mehrheit, Vergangenheit, ein zufünftiges 
Sollen oder andre Verhältnißbegriffe der Art bebeutet; und biefe 
beiden einfachſten Fulle bezeichnen auch bie beiden Hauptgattungen 
aller Sprache. Alle übrigen Fälle find bei näherer Anſicht nur 
Modificationen und Nebenarten jener beiden Gattungen; daher 
fer Gegenfag auch das ganze in Rlichicht auf bie Mannigfaltig- 
kit der Wurzeln unermeßliche und unbeftimmbare Gebiet der 
Sprade umfaht und völlig erfhöpft“ 1). Wie Schlegel ſich das 
Bein der Flexion benkt, ergibt ſich ſchon aus ber oben über das 
Veutiche Imperfectum angeführten Stelle. Jede Wurzel ift in den 
flectiereuden Sprachen „wahrhaft das, was ber Name fagt, und 
wie ein lebendiger Keim.’ 9). Diefer Keim entfaltet fih „dur 
imere Veränderung“ 2) zur Bezeichnung der verſchiedenen Ber- 
halmißbegriffe der Zeit, des Raums, der Beziehungen aller 
Art. Schlegel findet das, was er Flexion nennt, nur in den 
indogermanifchen Sprachen. Diefe bilden daher bie eine Haupt 
gattung der ganzen Sprachwelt, während fänmtliche andere Spra- 
en der zweiten Gattung angehören. Schlegel rechnet dahin nicht 
mir die einſylbigen Sprachen, wie das Chineſiſche, und die „eben 
fo ſchweren als fonderbaren amerilaniſchen Sprachen,“ zu deren 
Studium ihm Werander von Humboldt Hülfsmittel verſchafft 3) 
fordern auch die ſemitiſchen Spraden. Was er von dieſen, im 
Gegenfage zu ben flectierenden inbogermanifden Sprachen, fogt, 
läßt uns einen befonders Maren Blick in Schlegel's Anfiht von 
der Flexion thun. „Bwar, meint er, Tann ein Schein von Flexion 
entftehen, wenn die angefügten Partileln enblih bis zum Unkennt- 
lichen mit dem Hauptwort zufammenfchmelzen; wo aber in einer 
Sprage, wie in der arabiſchen und in allen, die ihr verwandt 
find, die erften und weſentlichſten Verhältniſſe, wie die der Perſon 





1) &bend. S. 45. — 2) Ebend. S. 50. — 3) Ebend. ©. 46, 


880 Drittes Buch. Zweites Kapitel, 


an Zeitwörtern, durch Anfügung von für fih ſchon einzeln bebeus- 
tenden Partikeln bezeichnet werden, und der Hang zu dergleichen 
Suffiris fih tief in der Sprade gegründet zeigt, da kaun man 
fiher annehmen, daß das Gleiche auch in andern Stellen Statt ge 
funden Habe, wo ſich jegt die Anfügung ber frembartigen Partikel 
nicht mehr fo deutlich unterſcheiden läßt; kann wenigftens ſicher 

annehmen, daß bie Sprade im Ganzen zu dieſer Hauptgattung 
"gehöre, wenn fie gleich im Einzelnen durch Miſchung oder hunft- 
reihe Ausbildung zum Theil ſchon einen andern und höhern Eha- 
rafter angenommen hätte“ !), Der Stufengang der nicht flectier 
renden Sprachen ift nad Schlegel diefer: Auf der unterften Stufe 
fteht das Chinefſche. Im Basfijgen und Koptiſchen „fangen die 
angefügten Partileln ſchon an, mit dem Worte ſelbſt zu verſchmel⸗ 
zen und zu coalefcieren. Noch mehr ift dies der Fall im Arabiſchen 
und allen verwandten Mundarten, die zwar dem größern Theile 
ihrer Grammatik nad) unläugbar zu diefer Gattung gehören, wäh 
rend doch mandes Andre nicht mit Sicherheit darauf zurüdgeführt 
werben kann, bie und da fih fogar ſchon eine einzelne Weberein- 
ftimmung mit der Grammatik duch Flerion zeigt” 2). Die ara 
bifhe und hebräiſche Sprache „ftehen wohl umftreitig auf dem 
höchſten Gipfel der Bildung und Vollkommenheit in ihrer Gattung, 
ber fie übrigens nicht fo ausſchließend angehören, daß fie fih nicht 
in einigen Stüden ber andern etwas nähern follten. Daß aber 
diefe Kunft ihnen fpäter, ja zum Theil gemaltiam, auf den alten 
toben Stamm angebilvet fein möge, Haben bie vertrauteften Ken- 
ner biefer Spraden oft geäußert“ ). Inſofern fie ihre dor 
men duch Affiga bilden, ftehen die femitiihen Sprachen fammt 
alfen übrigen im unbebingten @egenfag zu ben (indogermaniſchen) 
flectierenden Spraden, die ihre Formen nicht duch Affira, ſondern 
durch innere Umwandlung ber Wurzel ſelbſt Bilden +). Die ältefte 
unter ben Sprachen biefer Klaſſe ift die indiſche. „Daß bie in« 
diſche Sprache älter fei als die griechifhe und römiſche, geſchweige 


1) Eben. 6.48, — 2) Eben. 6.49 fg. — 3) Ebend. 6.55. — 
4) Bgl. auch ebend. ©. 56. 


Die altdeutſchen Studien zur Zeit des Auftretens ber Brüber Grimm. 361 


denn bie deutſche und perſiſche, fheint aus allem Angeführten 1) 
wohl mit Gewißheit hervorzugehen. In welchem Berhältniß, als 
die ältefte der abgeleiteten, fie aber eigentlich zu der gemeinfchaft- 
lißen Urſprache ftehe, darüber wird fi vielleiht dann etwas Nä- 
heres beſtimmen laffen, wenn wir die Vedas in echter Geftalt 
funmt den alten Wörterbüdern darüber vor uns haben, welde 
bie beträchtliche Verſchiedenheit der Sprade in den Vedas felöft 
vom Samſtrit ſchon in frühen Zeiten nothwendig machte“ 2). 

An das Aufblühen der indiſchen Studien in Europa knüpft 
Friedrich Schlegel die größten Erwartungen. „Möchte das indiſche 
Studium, fagt er in der Vorrede 3) zu feinem Wert, nur einige 
folge Anbauer und Begünftiger finden, wie deren Italien und 
Deutſchland im funfzehnten und ſechzehnten Jahrhundert für das 
giiechiſche Studium fo mande fi plöglich erheben und in kurzer 
Zeit fo Großes leiften ſah; indem durch die wiedererwedte Kennt 
niß des Alterthums ſchnell die Geſtalt aller Wifjenfhaften, ja man 
lann wohl fagen der Welt, verändert und verjüngt ward. Nicht 
weriger groß und allgemein, wir wagen es zu behaupten, würbe 
auch jegt die Wirkung des indiſchen Studiums fein, wenn es mit 
chen der Kraft ergriffen und im ben Kreis ber europäifchen Kennt» 
nie eingefügt würde.“ 

IH glaube, daß das Angefüßrte die außerordentliche Bebeut- 
ung von Friedrich Schlegel's Buch hinreichend darthut. Wir 
haben unfve Meittheilungen fo gewählt, daß fie zugleich aud von 
den ſchwachen Seiten Schlegel’s eine deutliche Anſchauung gemwäh- 
ten. Im Gegenfag zu dieſen ſchwachen Seiten werden wir die 
Sprachforſchung insbejondere durh Franz Bopp eine neue Geftalt 
gewinnen fehen. Ueberhaupt gibt Schlegel nur allgemein ausge 
ſprochene Gedanken. Die beweifende Durchführung fehlt entweder, 
oder fie ift, mo Schlegel fie verſucht, voll von Mißgriffen. Wir 
würden daher die Mängel von Schlegel's Bud noch ftärker hervor- 
treten fehen, wenn es uns hier geftattet wäre, mehr in die Einzel» 


1) Eiche oben. — 2) S. 66 — EX. 


362 Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


heiten der Ausführung einzugehen. Aber troß alle dent wird man 
die epochemachende Bedeutung diefer Heinen, aber inhaltsfhmeren 
Schrift nicht in Abrede ftellen 1). 

Arusid Kanne. 

Es währte noch eine Reife von Jahren, bis das von Friedrich 
Schlegel in Deutſchland angeregte Studium bes Sanskrit gefunde 
wiſſenſchaftliche Früchte trug. Eine geraume Zeit noch wirkte das 
Licht aus dem Orient mehr blendend und verwirrend, als erleud- 
tend und aufflävend. Einen Beleg für diefe Thatſache liefern die 
Schriften Arnold Kanne's. Es ift Hier nicht der Ort, das aben 
teuerliche Leben dieſes merhvürdigen Mannes ausführlich zu er- 
zählen. Geboren im Jahr 1773 zu Detmold ftubierte er unter 
Heyne in Göttingen Maffiihe Philologie, zugleich mit dem orienta- 
tigen Sprachen beſchäftigt, lebte dann kümmerlich von feiner Fe⸗ 
der, bald als gelehrter, bald als humoriſtiſcher Schriftſteller, diente 
dazwiſchen als öſtreichiſcher Soldat, wurde befreundet mit Jean 
Paul, nahm im Jahr 1806 preußiſche Kriegsdienſte, ward franzö- 
ſiſcher Kriegsgefangener, entfprang und trat dann abermals in öft- 
reichiſchen Kriegsdienft. Auf Jean Paul's Verwendung ward er 
endlich dur Friebrih Heinrich Jacobi Tosgefauft und erhielt im 
Jahr 1809 eine Stelle als Profeſſor der Geſchichte am Realinſtitut 
in Nürnberg. Im Jahr 1817 wurde er Profeſſor der orieniali⸗ 
fen Sprachen an ber Univerfität Erlangen und ſtarb bafeldft am 
17. December 1824. Diefer fo bewegte äußere Lebenslauf Kannes 
ift durchtobt von nod weit größeren inneren Stürmen und Kämpfen, 
die ihn zwiſchen hochgehenden wiſſenſchaftlichen Planen und ſtillet 
chriſtlicher Entfagung hin und herwerfen, bis er endlich in einem 
ernften myſtiſch beſchaulichen Chriftenthum Ruhe findet 2). 





1) 2gl. Max Müller, Lectures on the Science of Language, 
IV. ed., p. 168 sq. — Theod. Benfey, Geſchichte der Sprachwiſſenſchaft, 
1869, ©. 357 fg. — 2) Bgl. bie Selbfibiographie Kanne's in: Leben 
und aus bem Leben merfwürbiger und erwedter Ehriften von J. W. Kanne, 
Erſter Thl. Bamberg u. Leipz. 1816, ©. 263 fg., und ben Neuen Reftelog 
ker Deutfchen, Jahrg. IL, ©. 1240 fg. - 


Die altdeutſchen Gtubien zur Zeit des Auftretens ber Brüder Grimm. 868 


Kanne's Schriften liegen großentheils nicht auf unferem Bo- 
den, aber einige berfelben jind auch für die Geſchichte der germa- 
niſchen Philologie von nicht geringer Bedeutung. Im Jahr 1804 
gab er eine Schrift heraus „Ueber die Verwandtſchaft der griechi⸗ 
igen und teutſchen Sprache.“ In dieſer Schrift Hält ſich der Ber- 
faffer, abgeſehen von einigen allgemeineren Anſichten über die ger 
ſchichtliche Entftehung der Laute, ftreng an die Sache, indem er vor 
allem die wichtigſten Santübergänge zwiſchen dem Griedifhen und 
Deutigen nachzuweiſen ſucht, und hier gelingt es feinem Scharffinn, 
einen großen Theil der Lautwechſel darzutfun, auf denen das 
Grimm’sche Lautverfhiebungsgefeg beruft. Kein Sprachforſcher vor 
Raſt ift diefer großen Entdeckung Grimm’s fo nahe geweien, als 
bereits im Jahr 1804 Arnold Kanne), Wäre Kanne auf diefem 
Wege weiter gegangen, hätte er auf ſolche Weife die orientalifchen 
Sprachen in ben Bereich feiner Forſchung gezogen, fo würde er 
ohne Zweifel eine ber vorzüglichſten Stellen unter unfren wifjen- 
ſcaftlichen Sprachforſchern einnehmen. Statt deffen ließ er fih von 
der damals herrfchenden titanenhaften Ueberſchätzung ber vorhande- 
nen Kräfte nicht nur Hinveißen, den Zuſammenhang aller Sprachen 
und Mythen in Einem Anlauf erobern zu wollen, fondern er 
glaubte auch, auf diefe Weile die Einſicht in den tiefften Zufammen- 
hang der Sprade mit den Dingen, ja in den idealen Zufammen« 
hang der Dinge ſelbſt erlangen zu können. In diefem Sinn ſchrieb 
a: Erſte Urkunden der Gefhichte oder allgemeine Mythologie. 
Zwei Bände. Mit einer Vorrede von Jean Paul. Baireuth 1808. 
Dann: Pantheum der älteften Naturphilojophie, die Religion aller 
voͤller. Tübingen 1811. Endlich: Syſtem der indiſchen Mythe, 
oder Chronus und die Geſchichte des Gottmenſchen in der Periode 
des Borrudens der Nachtgleichen. Leipzig ‚1813. Das Ganze 
hatte feine Krönung finden follen in einem Bangkofjum, in wel 
dem Kanne die oben bezeichneten Erwartungen vollends zu befrie- 
digen hoffte. Er vernichtete aber die Handſchrift diefes Wertes, als 


1) Man dgl. in ber oben angeführten Schrift S. 111. 122 fg. 205 fg. 
209 {g. 230 fg. 237 fg. 21 fg. 


864 Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


fi) feiner die Ueberzeugung bemächtigte, daß dieſe Art, die Wiffen- 
ſchaft zu betreiben, dem Chriſtenthum widerſtreite. — Im An— 
ſchluß an Schelling's Naturphiloſophie hat Kanne in den angeführ⸗ 
ten Schriften manden geiftoollen Gedanken ausgefproden. Es 
fehlte ihm nicht an einer ausgebreiteten linguiſtiſchen und mytho- 
logiſchen Gelehrfamfeit und einer unerfhöpfligen Combinations ⸗ 
gabe 1). Aber von beſonnener Forſchung, wie fie allein zu halt 
baren Ergebniffen führen fann, ift feine Rede. Mythen und 
Spraden aller Völker, wie fie dem Verfaſſer mittelbar oder uns 
mittelbar gerade zu @ebote ftehen, werden in wild phantaſtiſchet 
Weiſe durcheinandergeworfen. Wir bürfen in Kanne's Bücher nur 
beliebig Hineingreifen, um uns zu überzeugen, wohin diefe Art von 
etymologiſcher Willkür führte, und weil es für die richtige Schätzung 
des hohen Werthes, den ſich die wiſſenſchaftliche Etymologie durch 
Grimm und Bopp erworben hat, fehr wichtig ift, fih ein anſchau⸗ 
liches Bild von dem Zuftand zu maden, in weldem fi die Ety⸗ 
mologie vor dem Erſcheinen von Grimm’s Grammatif und Bopp's 
Schriften befand, will ich wenigftens ein Beifpiel von Kanne's 
Verfahren mittheilen. In „Erfte Urkunden ber Geſchichte oder 
allgemeine Mythologie 1808 &. 573" Heißt es wörtlich: „Dem 
mit Daume, plattt. Dume, ift verwandt DT dam das Blut, 
DR adam rothe Erde, erfter Menſch, Zuger, - dĩuoc Fett, ur 
ſprüngl. Fleiſch, Innos Bol, dep bauen, dewas Leid, dnpsoue- 
ros Weltihöpfer, dune gebären, zeugen, wovon noch dedupog ein 
Zweigeborner, Zwilling, Ei⸗dam Schmwiegerfohn (wie gener von 
revo), Dame die Frau, dama ber zeugende Hirih, desmer 
Gott, urſprüngl. Schöpfer, 70T domen stercus, hier, wie immer, 
von Worten ber Zeugung und Befruchtung, davon abdomen.“ 
So war die Sprachforſchung beſchaffen, welche damals die Geiſter 
beherrſchte, und nicht bloß Männer wie Görres, wie Friede. Heim. 
von der Hagen, fondern auch Jacob Grimm in der erften Periode 


1) Mit befonberer Beziefung auf das Germaniſche hat Kanne von biefen 
Gaben Gebrauch gemacht in feiner Abhandlung: Germaniſche Trümmer, in 
Touqus's Mufen, Jahrgang 1814, ©. 1— 68, 


Die altdeutſchen Stubien zur Zeit bes Auftretens ber Brüder Grimm. 865 


feiner Tätigkeit Haben von Kanne's Schriften einen unverlenn- 
taren Einfluß erfahren 1). 


Iofeph Görres. 


Der Mann, deſſen Verhältniß zur germaniſchen Philologie 
wir jegt ſchildern wollen, gehört nur mit einem Theil jeiner Ler 
bensthätigkeit in unferen Bereich, ber größere Theil feiner Wirk- 
famfeit Liegt auf anderen Gebieten. Natürlih müflen wir ans 
bier auf das beſchränken, was fih auf die von uns behandelte 
Wiſſenſchaft bezieht. Geboren zu Koblenz im Jahr 1776 hatte 
fih Görres mit Begeifterung den Ideen der franzöfijhen Revo⸗ 
lution angeſchloſſen. Reifere Einſicht aber und die Entwidlung der 
franzöfifgen Republik zum Napoleon'ſchen Kaiſerthum braten ihn 
von den franzöfiigen Sympathien ab. Er warf fi num eine Reihe 
von Jahren hindurch mit ganzer Kraft auf wiſſenſchaftliche Stu- 
dien. Schelling's Philofophie, der er fih zwar nicht unbedingt 
auſchloß, von welcher er aber bie tiefiten Anregungen erhielt 2), 
bildete ihm das verfnüpfende Band zwiſchen feinen naturwiſſen⸗ 
ſchaftlichen und geſchichtlichen Studien. Von diefem Ausgangs- 
punkt aus vertiefte er fih in die Urgeſchichte und Mythologie der 
Bölter. Bor allem aber zog ihn das deutſche Alterthum an. Im 
Leben des deutſchen Volles, in feiner Dichtung, feiner Geſchichte, 
feinen alten Sitten und Einrichtungen bot fih ihm die Verbindung 
dar zwiſchen feinen wiſſenſchaftlichen Forſchungen und feinen neuen 
yolitifch- vaterländiſchen Beſtrebungen. Im Jahr 1806 gieng er 
nach Heidelberg und hielt dort Vorträge über afiatifhe Mythen⸗ 


1) Aus bem lehten Lebensjahr Kanne's (1823 — 24), das ſchon jenfeits 
der oben gefchilderten Periode (bis 1819) liegt, befigt die Univerfitätabiblio- 
et zu Erlangen handſchrifilich den Anfang einer Reubearbeitung des vierzehn 
Jahre vorher unternommenen Panglofjums, bie in folder Weiſe ausgeführt 
iR, wie fie der Verfaffer vor feiner fireng chriſtlichen Weberzeugung verantwor- 
tm zu können glaubte. — 2) Bl. bie im Jahr 1802 geſchriebenen (mit 
neuem Titel: Koblenz 1804, zum zweitenmal ausgegebenen) Aphorismen über 
ie Kunft von I. Görres ©. 1 u. Bor. ©. IX. 


366 Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


geſchichte. Hier trat er aud in nahen freundſchaftlichen Verkehr 
mit Arnim und Brentano und durch diefe mit den Brüdern Grimm 
in Kaſſel. Es war die Zeit feines lebendigſten Antheil® an den 
altdeutſchen Studien. Sie waren ihm nicht bloß ein Gegenſtand 
der Gelehrjamfeit, fondern ein Troft in trüber Zeit. Ohne fih 
deshalb von ihnen abzuwenden, warf fi dann Görres in ben 
Jahren ber Befreiung ganz auf eine vaterländiſch publiciſtiſche Thä- 
tigfeit. Sein Rheiniſcher Merkur“ (1814 — 1816) ift ein ım- 
vergängliches Denkmal feiner politifhen Beredſamleit. Bald nad 
diefer Zeit findet der thätige Antheil, den Görres an ben altbeut- 
fen Studien nahm, feinen Abſchluß, und es fteht ung deshalb 
hier nicht zu, die Schidfale diefes merkwürdigen Mannes weiter 
zu verfolgen. Wir bemerken nur noch, daß er nad fehr mannig- 
fagen inneren und äußeren Erfahrungen im Jahr 1827 als Pro- 
feffor an die neu gegründete Univerfität Münden Berufen wurde 
und dafelöft am 27. Januar 1848 ſtarb 1). 

Die Zeit, aus welcher die Schriften zur altdeutſchen Literatur 
herrühren — die Jahre 1806 bis 1817 —, war die fhönfte in 
dem Leben des reich begabten Mannes. Den unklaren Tosmopoli- 
tiſchen Schwindel feiner Jugendjahre hat er hinter fich gelafien, 
und obwohl wir die Keime ber fpäteren römiſch katholiſchen Rich- 
tung ſich bereits bilden fehen, treten fie doch noch zurück gegen bie 
warme deutſche Gefinnung, bie ihn befeelt. Die erfte Frucht feiner 
Beihäftigung mit der älteren deutſchen Literatur war die Schrift: 
Die teutfhen Voltsbücher. Nähere Würdigung der ſchönen Hifte 
rien⸗, Wetter- und Arzneybüchlein, welde tHeils innerer Werth, 
theils Zufall, Jahrhunderte hindurch His auf unfere Beit erhalten 
hat. Bon J. Görres. Heidelberg 1807. — In einer allgemeinen 
Einleitung befpriht Görres das Wefen der Bücher, von denen et 
hier Handeln will. Es find die Schriften, an denen fi) die ganze 
Maſſe des Volkes feit Jahrhunderten erfreut. Die wichtigſten und 
älteften unter dieſen Volksbüchern find bie erzähfenden. Die „ir 

1) Ueber Görreo' Leben finden fich die thatſächlichen Angaben in dem 
Artikel „Sörre6” in dem von Weper und Welte herausgegebenen Kirchen: Leri: 
ton, &b. IV, Sreiburg 1850, ©. 575 fg. 


Die altdeutfchen Studien zur Zeit des Auftretens ber Brüber Grimm. 367 


nere im Volle wach gewordene Poeſie“ „hat ſich auf zwiefach ver- 
ſchiedene Weife im Volle ſelbſt geäußert” '). Einmal im Volks⸗ 
Kid. „Eintretend in die Welt, wie der Menſch ſelbſt in fie tritt, 
ohne Vorſatz, ohne Ueberlegung und willkürlihe Wahl, das Dafein 
ein Geſchenk höherer Mächte, find fie keineswegs Kunſtwerke, fon- 
dern Naturwerke wie die Pflanzen; oft aus dem Volle hinaus, 
oft auch in dasſelbe hineingefungen, befunden fie in jedem alle 
eine ihm einwohnende Gentalität, bort productiv ſich äußernd 
und durch die Naivität, die fie in dev Megel darakterifiert, bie 
Unſchuld und die durchgängige Verſchlungenheit aller Kräfte in 
der Maſſe, aus der fie aufgeblüht, verkündigend; hier aber 
durch ihre innere Trefflichkeit den feinen Takt und ben gera- 
den Sinn bewährend, der fon jo tief unten wohnt und nur 
von dem Befjeren gerührt nur allein das Beſſere ſich aneignet und 
bewahrt· 2). Zweitens aber äußerte fih ber Bollsgeift in ben 
Boltsfagen. „In den früßeften Zeiten entftanden bie meiften 
diefee Sagen, ba wo die Nationen, Hare, frifhe Brunnen der 
quellenveihen, jungen Erbe eben erft entjprubelt waren; da wo ber 
Menſch gleich jugendlic wie die Natur mit Enthufiasmus und lie 
bender Begeifterung fie anſchaute und von ir wieber die gleiche 
&ehe und die gleiche Begeifterung erfuhr; wo beide nod nicht all⸗ 
täglich fich geworden, Großes übten und Großes anerkannten: in 
dieſer Periode, wo der Geiſt noch feine Anſprüche auf die Ums- 
gebung machte, fondern allein die Empfindung, wo e8 daher nur 
eine Naturpoeſie umd Feine Naturgeſchichte gab, mußten nothwendig 
in diefem lebendigen Naturgefühle die vielfältig verſchiedenen Tra- 
ditionen der mandherlei Nationen hervorgehen, die Fein Leblofes an⸗ 
etlannten und überall ein Helbenleben, große, gigantiſche Kraft in 
allen Weſen jahen, überall nur großes, heroiſches Thun in allen 
Erigeinungen erblidten und die ganze Geſchichte zur großen Legende 
machten· 3). In alter Zeit wandelten diefe Sagen lebendig als 
Gefänge im Leben um. Mit der Erfindung der Schreibkunſt und 
ipäter der Buchdruderei aber „büßten fte die äußere poetifche Form 

1) Die teutſchen Voltsbüger von I. Görres S. 14. — 2) Ebend. 
8.15. — 3) Ebend. ©. 16 fg. 


368 Drittes Buch. Zweites Kapitel. 


ein, die man als bloßes Hülfsmittel des Gedächtniſſes jegt unnütz 
geworben wähnte und daher mit der gemeinen proſaiſchen verwech ⸗ 
felte* 2). So find aus jenen Sagen die meiften Vollsbücher her- 
vorgegangen. Bon viel geringerem Werth find die Iehrenden un- 
ter den Vollsbüchern, die „eben ihres innern veflectierenden Cha- 
alters wegen durchaus modern find“ 2). Der Verfaſſer daralter 
fiert darauf die einzelnen Vollksbücher, fo weit fie ihm Clemens 
Brentano's reihe Privatbibliothek darbot 3). Wie in ber allgemeir 
nen Schilderung, fo wird man au im Einzelnen das Lob, das 
Görres ſpendet, übertrieben, feine Urtheile bisweilen verfehlt finden. 
Aber man wird nicht läugnen können, daß er meift einen ſehr 
richtigen Taft zeigt. Seine vorzüglihe Aufmerkſamkeit ſchenlt er 
der Hiftorie vom gehörnten Siegfried und ber von ben vier Her 
monstindern 4), und mit befonderer Ausführlicleit und Chrfurcht 
geht er dem Alter und der Verbreitung der Sieben weiſen Meifter 
nach d). Das Ganze: Ginleitung, Weberfiht und rücdhlidender 
Schluß, ift mit wunderbarer Friſche geſchrieben. „An fih, fagt 
Jacob Grimm gegen F. H. von der Hagen, mag man über dieſes 
ausgezeichnete Werk immer urtheilen, daß es zu früh comftruieren 
"und aus ungleicher Grundlage mit gleicher Sicherheit folgern wolle, 
welches Vielen eine ängftlie und manchmal unangenehme Empfin- 
dung verurſachen Tann.“ Nur habe Hagen feinen Tadel von der 
ganz verkehrten Seite angebracht. „Das ift vielmehr, fährt J 
Grimm fort, das Verlehrteſte mit in der Zeit, daß fie das Trefl- 
he nicht vein ehren Tann, fondern ihren Tadel daran für weit 
höher Hält. Ohne volfftändige hiſtoriſche Ergründung, die ihm in 
der kurzen Zeit ohne alle Vorarbeiten nicht möglich war, ift Gör⸗ 
res in die Wahrheit alter Poefie hineingedrungen. Andere hätten 
vermuthlich durd eine Menge von Eitaten und Noten noch nicht 
fo hell auf den Grund gejehen“ °). 


1) Ebend. ©. 18. — 2) Ebend. ©. 19. — 3) Eben. ©. 3. 
— 4) Bgl. ebend. ©. 93 uud 99 mit ©. 310, wo ber Verf. gerade von 
biefen fagt, daß fie ‚noch fehr weiterer Beleuchtung bebürfen." — 5) Gbend- 
©. 154—173. — 6) Jacob Grimm in der Anzeige von Hagen’s u. [I 


Die allbeutfpen Studien zur Zeit bes Auftrelens ber Brüber Grimm. 869 


An die „Teutſchen Vollsbücher“ ſchloß fih eine Anzahl von 
Abhandlungen an, die Görres unter ber Ueberſchrift: „Der ge 
hoͤrnte Siegfried und die Nibelungen“, in ber von Arnim heraus» 
gegebenen Zeitung für Einfiedler (April und Mai 1808) veröffent- 
lichte. Hier unterfuht er den Zufammenhang unfrer Nibelungen 
mit dem ſtandinaviſchen Norden und gelangt zu dem Ergebniß, 
daß unfre Heldendichtung auf gothiſchem 1) und fränfifd - burgun⸗ 
diſchem 2) Boden erwachſen ift, und ba fie den Stürmen ber 
deutſchen Völkerwanderung ihre Entftehung verdankt 3). Die nor- 
diſche Wilfinafaga, deren Hauptheld Dietrich von Bern ift, ruht 
auf deutſchen Gedichten 4) und ebenfo die Heldenlieber der Edda °). 
Diefe ganze Sage, zu welcher aud) das lateiniſche Carmen de rebus 
gestis Waltharii gehört ©), gründet ſich nit „auf eine Meihe nur 
loſe umtereinanber verbundener Romanzen,“ fondern „es fteigt bie 
Wahrſcheinlichleit in uns auf, daß ein großes colofjales Gedicht 
ie umterliege, in dem die Nibelungen nur ein. Geſang geweſen 
find, während Trümmer der andern im Heldenbuche und ſonſtwo 
fi erhalten Haben“ 7). „Behalte unbeftritten der Norden feine 
Mythe, Teutſchland fein Epos; jene ruht ebenfo unbezweifelbar auf 
nordiiher Natur, wie die auf gothiſchteutſcher Hijtorie“ ®). 
HM auch jene Annahme eines „coloffalen Gedichts“ verfehlt, fo 
ſehen wir doch im übrigen hier Görres mit genialem Scharfblick 
die erſten Schritte zur richtigen Auffaffung unfrer deutſchen Hel- 
denfage thun. Gr Bleibt aber dabei nicht ftehen, fondern fucht 
fefort in den Urfprung aller Poeſie einzubringen. „Im Uxbeginn, 
fagt er, ‘war eine Poeſie und eine Zabel, die bildete im Fort⸗ 
jcritte jedes Volt auf eigene Weife fi und feinen Thaten an“ 9). 
„Der Urfprung ber nationellen Poefie fällt zufammen mit dem 


Nufeum für Altdeutſche Literatur und Kunft. Heibelb. Jahrbb. 1811, I. 
6. 157. 
1) Zeitung für Einfiebfer 1808 Sp. 88. 59. — 2) Ebend. Sp. 166.— 
I Ebend. Sp. 38. ©. aber aud weiter unten. — 4) Ebend. Sp. 89. — 
3) Ebend. Sp. 90. — 6) Ebend. Sp. 160 fg. — 7) Ebend. Sp. 90. — 
8) Ehend. Sp. 95. — 9) Ebend. Ep. 95. 
Reumer, Geh. der germ. Phllelagie, 24 


370 Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


Urfprung der Nation; wo ihre Geſchichte aus der Naturgeſchichte 
hervorgebrochen, da ift der Faden angenüpft, und fie nehmen ihn 
durd alle Gänge ihrer Entwidlung mit“ 1). So führt ung bie 
germanifge Poeſie nad Aſien, in den Urfig ber Völker hinüber. 
In der That geht ein Geſchlecht von Sagen im Orient um, das, 
in gerader Linie von benfelben Borvätern abgeftammt, ben gleichen 
Familiencharalter mit den nordiſchen Traditionen trägt“ !). Bor 
allen find es die Perſer, deren Heldendichtung in Ferdouſſi's Schach 
Nameh und fonft „am meiften nordiſche Phyfionomie angenommen 
hat“ 9. „Dort fehen wir alle die Hauptmomente der occibentalis 
fen Boefie gleihfam vorbildlich angelegt“ 2). 

Die Ausgabe des Lohengrin, die Görres, nach Ferd. Gloelles) 
Abſchrift, Heidelberg 1813, veranftaltete und den Brüdern Grimm 
zueignete, war als erfter Drud des Gedichts ein erwünſchter Bei⸗ 
trag zur altdeutſchen Literatur. Ueber den Text bemerkt der neuefte 
Herausgeber des Lohengrin, Heinrich Nüdert, mit Recht, daß der- 
felde völlig unbrauchbar feit). Man wird ſich aber bei befien 
Beurteilung zugleich des Zuſtauds zu erinnern haben, in welchem 
ſich die altdeutſche Philologie damals überhaupt noch befand. Die 
ausführlige Einleitung, welde Görres dem Gedicht vorausjhidte, 
enthält neben vielem Willtürlihen und Ueberſchwenglichen mande 
treffende Bemerkung. Gleichzeitig mit der Veröffentlichung bes 
Lohengrin entwarf Görres ben Plan zu einer „Bibliotheca Va- 
ticana Altteutſcher Dictungen“, in welcher er in Gemeinſchaft mit 
Ferdinand Glödle die Schätze der vaticaniſchen Bibliothek zu⸗ 
gänglih machen mollte®). Aber das Unternefmen kam nit zu 
Stande. 

Den Abſchluß von Görres' thätiger Theilnahme an ben alt- 
deutſchen Studien bildeten die Altteutjihen Volls⸗ und Meifterliever 


1) Ebend. Ep. 9. — 2) Ebend. Sp. 92. — 3) Sa ſchreibt Gorres 
hier den Namen, ober auch (Einl. S. KCHU. XCIV) Gidtle. — 4) Loben- 
grin, her. von Heinr. Rückert, Quedlinburg u. Leipsig 1858. Vorr. 
8. V. gl. ebend. ©. 207. — 5) S. Göres’ geiftvolle Anfünbigung in 
Sräter’s Idunna und Hermode 1812, Anzeiger vom 8. Oftober. 


Die alideutſchen Stubien zur Zeit des Auftretens der Brüder Grimm. 871 


aus den Handſchriften der Heidelberger Bibliothel. Herausgegeben 
von J. Görres (1817). Der Sammler hat es nicht auf eine kri⸗ 
tiihe Ausgabe abgefehen. Er hat vielmehr, wie er ſich ſelbſt aus- 
brüdt, „die alte Rechtſchreibung“, in ber That aber and) die alte 
Syrache ber neueren möglichſt glei gemacht. In der ſchönen und 
weichhaltigen Ginleitung nimmt er bie Unterfuhungen über ben 
Gang der mittelalterlichen Poeſie wieder auf, die er im feinen Teut⸗ 
{gen Volksbüchern begonnen Hatte. Wir wollen unter vielem An⸗ 
deren nur auf bie großentheils treffenden Bemerkungen hinweiſen, 
die Görres hier über das Verhältnig dev provenzalifcen Lyrik zus 
altdeutſchen macht '). 

Wir haben bisher den unmittelbaren Antheil geſchildert, den 
Görres durch feine Arbeiten an der altdeutſchen Philologie genom⸗ 
men hat. Wir würden aber ein unvollſtändiges und unrichtiges 
Bild von diefem Gelehrten geben, wenn wir nicht wenigftens mit 
einigen Worten auch die allgemeinen Anficten besfelben berührten. 
Natürlich müflen wir uns auf das Nothwendigfte beſchränken, ba 
die Schriften, die wir hier in den Kreis unfrer Betrachtung ziehen, 
größtentheils ganz anderen Gebieten angehören als dem unfrigen. 
& find vor allem die Mythengeſchichte der afiatifchen Welt (1810) 
und Vie Schrift über Glauben und Wiffen (1805). Görres Kat durch 
dieſe Schriften, gleichzeitig mit Kanne und Creuzer, für eine tiefere 
Auffaſſung der heidniſchen Religionen gewirkt. Zugleich aber zeigt 
fi bei ihm, wie Bei feinen Genoſſen, das vergeblie Bemühen, 
durch willkũrliches Confteuieren über Dinge zum Abſchluß zu ge- 
langen, die man bei weitem noch nicht genügend erforicht hat. Der 
Grundgedanfe, von dem Görres ausgeht, ift: „Ein Dienft und 
eine Mythe war in uralter Zeit, es war eine Kirche und auch 
ein Staat unb eine Sprache“?). Und am Schluß feiner Unter- 
ſuchungen fagt er: „So hat es fi denn von allen Seiten ber 
währt befunden, was wir im Anfange vorahnend verkündigten, 
eine Gottheit nur wirkt im ganzen Weltall, eine Meligion auf 


1) Einleitung S. LI fg. — 2) Mythengeſchichte ber afiat. Welt von 


3 Gries, Bo. I, ©. 11. = 


m Drittes Bud. Zweites Kapitel. 


nur herrſcht in ihm, ein Dienft und eine Weltanfgauung in der 
Wurzel, ein Gefeß und eine Bibel nur durch alle, aber ein le 
bendiges Buch wachſend wie die Gefchlehter, und wie die Gattung 
ewig jung“ 1). Um feinen Sag zu erweifen, hat Görres in feiner 
Art umfafjende Studien gemadt, und mander geiſtvolle Blid tut 
fi ihm auf. Aber wir können uns jegt faum mehr in bie Stim- 
mung verfegen, in. ber man folde Probleme mit fo dürftigen Mit- 
teln Löfen zu können glaubte, wie fie Görres zu Gebote ftanden. 
Wir wiſſen jegt, daß alle mythologifgen Unterſuchungen ‚ohne 
firenge und gründliche Sprachforſchung auf Sand Bauen; und 
Görres, der ein Hauptgewicht auf die indiſche Mythe Iegt, glaubt, 
in dieſe Mythe eindringen zu können, ohne ein Wort Sanskrit 
gelernt zu Haben! Die nordifhe Mythologie ift ihm ein Haupt: 
gegenftand des Studiums, um fo mehr, da fie feine allgemeinen 
Mythenforſchungen mit feinen Anfihten über die altdeutſche Poeſie 
verbindet; aber von ber altnordiſchen Sprache verfteht er fo gut 
wie niht31 2) Tritt num zu diefem Mangel an gründlichen Sprad- 
kenntniſſen nicht bloß eine Vernachläſſigung, fondern eine abſichtlicht 
Beratung aller nüchternen und Haren Hiftorifchen Kritik, fo Tann 
man fih denken, auf welde Abwege phantaftiiher Willkür dieſe 
Art von’Forfhung gerathen muß. Was aber Görses fon tu 
mals in paradoger Verhöhnung aller gefunden hiſtoriſchen Kritit 
zu leiften vermochte, dafür Tiefert feine Abhandlung über Hunibalds 
Chronik 3) den ſchlagenden Beweis. 


Adim von Arnim und Clemens Srentans. 


Haben wir im vorigen Abſchnitt einen Naturphilojophen und 

1) Ebend. Bb. II, ©. 649. — 2) Man muß es Iobenb anerkennen, 
daß er die Lieber ber Edda meift nur in der lateiniſchen Ueberfegung der Ko: 
penhagener Ausgabe anführt. Die Stelle über Rubbed’s Arlantis (Mythen: 
geld. der afiat. Welt I, 209) oder das Citat aus der „Hialmarfage” eben. Il, 
573 fg., noch dazu fo, wie es ba gebrudt fieht, beweiſen zur Genüge, daß 
bie altnorbifhe Sprache Görted unbefannt war. — 3) In Fr. Schlegels 
Deutſchem Mufeum Bd. III, (1813) S. 319 — 345. 508 — 516. 8b. IV, 
(1813) 6. 321—349. 357875, 


Die alidentſchen Studien zur Zeit bes Auftretens dee Brüber Grimm. 878 


Bolitifer als einen feurigen Vertreter ber altdeutſchen Stubien ken⸗ 
nen Iernen, fo foll uns der gegenwärtige zwei nah befreundete 
Dichter vorführen, die fih mit warmer Liebe der Wiederbelebung 
der Älteren deutſchen Poefie annahmen. Ludwig Achim von 
Arnim (geboren zu Berlin d. 26. Januar 1781, geftorben zu 
Biepersdorf in der Mark d. 21. Yan. 1831) :) und Clemens 
Brentano (geboren im Thal Ehrenbreitftein den 8. Sept. 1778, 
get. zu Aſchaffenburg den 28. Juli 1842) 2), waren in manden 
Beziehungen verwandte Naturen, fo verſchieden fie bei näherer Be— 
trachtung in anderen erſcheinen. Mit einem überftrömenden Neich- 
tum von dichteriſcher Phantafie umd Empfindung ausgeftattet, 
ſchloſſen fie fi gegen Ende des 18. Jahrhunderts der damals 
herrichenden romantiſchen Schule an. Sie theilten mit deren Häup- 
tem die ſchwärmeriſche Verehrung Goethe's 3) und die Liebe zur 
älteren deutfchen Poefie. Aber von dem bloß literarifhen Treiben 
und der äſthetiſchen Kritik fühlten fie fich mehr abgeftoßen als an» 
ggogen. Sie wandten fi vielmehr bald dem wirfligen Volfsle- 
ben zu und der Poefie, die diefes durchdringt. Am nächſten noch 
ftand ihnen in diefer Beziehung unter ben Häuptern der Romantik 
budwig Tieck, defien Vollsmärchen Arnim’s wärmfte Anerkennung 
fünden 4). In der Freude am Vollsthümlichen begegneten ſich 
Amim und Brentano, und beide fammelten auf ihren Sin» und 
Herzügen in Deutihland eifrig alte und neue Volfgliever. In den 
uhren 1805 bis 85) lebten bie beiben Dichter zeitweilig zuſam⸗ 


1) Neuer Nekrolog der Deutſchen, Neunter Jahrgang 1831, Thl. I, 
6.88 fg. — Gelehrtes Berlin im J. 1825. Berlin 1826. — 2) Bios 
graphifches über Clemens Brentano in GL, Brentano's Gefammelten Schrife 
tm, ©. VIII, Sscanffurt a. M. 1855, S. 1-98. — 3) ©. u. U. Arnim's 
Lehrgedicht, in der Zeitung für Ginfiebler 1808, 31. Mai, Sp. 144; und bie 
Auszüge aus Brentano's Godwi im oben angeführten Biogr. über CI. Bren- 
tano ©. 19. — 4) Des Knaben Wunderhorn, Heidelberg 1806, ©. 450. — 
5) Arnim's Nachſchrift zum erſten Theil bes Wunderhorns ift unterzeichnet: 
Heidelberg im Juli 1805. Der Brief Arnim's an Tied in: Briefe an 2. 
Ted, Vd. I, Breslau 1864, ©. 14: Heidelberg, Ende November 1808. In 


874 Drittes Bud. Zweites Kapitel, 


men in Heidelberg in nahem freundfdaftlihen Besteht mit Görres. 
Dort in Heidelberg Yam das einflußreichite Werk der beiden Dich- 
ter: Des Knaben Wunberhorn, zum Abflug, und von ebenda 
gieng das Unternehmen aus, durch weldes fie die Freunde ber 
alten deutſchen Art unter Eine Fahne fammelten: Die Zeitung 
für Einſiedler. Heidelberg war wohl dazu gemacht, ein dichteriſches 
Gemüth mit alter deutſcher Freude zu erfüllen und zugleich wit dem 
Schmerz über den Verluft einer großen deutſchen Vergangenheit, 
Es ift uns bei den Schriften von Görres, von Arnim und Bren- 
tano bisweilen, als hörten wir den Nedar rauſchen und ſähen die 
Trümmer des alten Schlofjes über die prachtvollen Bäume her⸗ 
abbliden. 

Durch Brentano's verwandtſchaftliche Beziehungen erweiterte 
fich der Lreis ber Heidelberger Freunde weit über Heidelberg hin⸗ 
aus in epochemachender Weiſe. Im Jahr 1804 nämlich hatte Sa⸗ 
vigny, der große Rechtslehrer zu Marburg, Brentano's Schweſter 
Kunigunde geheirathet, und fo knüpfte fi die Freundſchaft an, bie 
bald Brentano und deſſen geiſtvolle Schweſter Bettina mit Sa 
vigny's veichhegabten Schülern Jacob und Wilhelm Grimm ver 
band. Beſonders fühlten fih die Grimm von Brentano's Freund 
Arnim angezogen. Ihn und Bettina Breutano, die im Jahr 1811 
feine Gattin wurde, verband die innigſte Freundſchaft mit ben Bri- 
dern Grimm. 

Im J 1806 erfien zu Heidelberg: Des Kuaben Wunder⸗ 
horn. Alte deutſche Lieber gefammelt von 2. U. v. Arnim und 
Clemens Brentano !). Es war bie Frucht von Arnim's und Bren⸗ 
tano’8 regem Sammeleifer. Das Werk ift Goethe gewidmet und 
fliegt mit einer Abhandlung Arnim’s: „Bon Bollsliedern. An 
Herrn Rapelimeifter Reichardt·. Im J. 1808 folgte eim zweiter 
und dritter Band und ein Heft „Kinderlieder“ als „Anhang zum 
Wunderhorn“ 2). Die Ahandlung Arnim’s, unterzeichnet „Berlin 
Brentano's Gefammelten Schriften, Bd. VIII, ©. 129 m. 131 finden fih 
Beiefe Brentano's aus Heidelberg b. 14. Jan. 1805 und 20. Mai 1806. — 
1) So ber Bortitel, Auf dem Yaupttitel if} das „gefammelt von“ wegneaffen 
und „Achim ausgefgrieben. — 2) Die weiteren Schichale dee Bugs be 


Die alideutſchen Gtubien zur Zeit des Auftretens der Brüder Grimm. 375 


im Januar 1805”, mit einer „Nadjerift an den Leſer“ aus „Hei⸗ 
delberg im Juli 1805", ift beftimmt, die Grundanſichten der Her- 
ausgeber mitzutheilen. Arnim thut dies in feiner geiftvollen Weiſe, 
die bald das Tieffinnigfte mit wunderbarer Klarheit ausſpricht, 
bald wieder in bie jeltfamften Grillen verfällt und im geftaltlofen 
Nebel fich auflöft. Das Fortleben des Bollkslieds vergleicht Arnim 
mit den Wäldern unfrer Berge. „Iſt der Scheitel hoher Berge 
mr einmal ganz abgeholt, jagt er, fo treibt der Regen die Erde 
finunter, es wächſt da fein Holz wieder. Daß Deutſchland nicht 
fo weit verwirthſchaftet werbe, fei unfer Bemühen“ '). Trefflich 
ſpricht er über den einfachen, feelenwollen Gejang: „Mit großer 
Bravur, jagt er, können wohl bieje vortrefflihen Kunſtſänger 
ihren Sram ausſchreien und ausftöhnen, man verjuche fie nur nicht 
mit einem Vollsliede, da verfliegt das Unechte; laßt fie auch nicht 
mit einander veden, fie fingen wohl noch mit einander, aber mit 
dem Sprechen geht ber Teufel 108." — „Wollt ihr Sänger uns 
mit der Inſtrumentalität eurer Kehle duch Himmel und Hölle 
ängftigen, denkt body daran, daß dit vor euch ein großes phyſila⸗ 
liſches Kabinet von geraden und krummen hölzernen ımb blechernen 
Röhren und Inftrumenten fteht, die alle einen höheren, helleren, 
dauerndern, wechjelndern Ton geben als ihr, daß aber das Ab⸗ 
bild des höchſten Lebens ober das höchſte Leben ſelbſt, Sinn und 
Bort vom Ton menjhlid getragen, auch einzig nur aus dem 
Munde des Menfchen fi offenbaren könne“ 2). Dem Volle felbft 
fat Arnim abzulauſchen, was deſſen Gemüth erfüllt, deſſen Seele 
bewegt. Hier begegnet er fi mit Clemens Brentano. Denn ob» 
wohl diefer Katholit war, Arnim Proteftant, wollten doch beibe 


führen uns Bier nit. Wir wollen nur Kurz Semerken, daß im 3.1819 eine 
write Ausgabe des erfien, im J. 1845 eine dritte des erfien und 1846 eine 
weite Ausgabe des 2. und 3. Bandes erſchien. Endlich im J. 1854 wurde 
derch Ludwig Erf ein vierter Band Hinzugefügt. gl. Hoffmann von Faller: 
lesen „Zur Geſchichte des Wunderhotns⸗ in: Weimariſches Jahrbuch für 
beutfche Sprache u. f. f. Her. von Hoffmann won Falleroleben und Oskar 
Sqade. IL BB. Hannover 1855, ©. 280 fg. — 1) Wunderhorn I ass 
6.428. — 2) Ebend. ©. 492 fg. 


876 Drittes Buß. Zweites Kapitel. 


nichts wiffen von dem bloß äſthetiſchen Chriſtenthum, das bamals 
Mode wurde, ſondern giengen ven Spuren ſchlichter Frömmigkeit 
nad. Und „ein Streit des Glaubens, ſagt Arnim, wird der Ber 
geifterung Wahnfinn, weil da der Streit aufhört, wo ber Glaube 
anfängt“ 9). Später hat ſich dann freilich die tiefgehende Verſchie- 
denheit beider Männer immer mehr herausgeftellt. Denn Bren- 
tano war, trog aller zeitweifen Abirrungen, dennoch eim guter 
Katholit, Arnim aber, fo wenig er von feinem veligiöfen Glauben 
Weſens machte, durch und duch ein ſchlichter Proteftant 2). Ihr 
damaliges gemeinfames Streben faßte Arnim in die Worte zuſam ⸗ 
men: „Wir wollen wenigftens die Grundftüde legen, was über 
unfre Kräfte andeuten, im feften Vertrauen, daß bie nicht fehlen 
werden, welde den Bau zum Höchſten fortführen, und Der, wel⸗ 
cher bie Spige auffegt allem Unternehmen“ ®). Und als er min 
das Buch vor fi Tiegen fieht, fagt er in der Nachſchrift an den 
Leſer: „Bon biefer unfrer Sammlung kann ih nur mit ungemei⸗ 
ner Neigung reden; fie ift mir jegt das liebſte Buch, was ich fenne, 
nit was mein Freund Brentano und id dafür gethan, ungeadtet 
es gern geſchehen, fondern was innerlich darin ift und weht, bie 
feifche Morgenluft altdeutſchen Wandels“ 4). 

Das Wunderhorn wurde von dem beften Theil bes beutfchen 
Bublicums mit ungemeinem Beifall begrüßt. Ganz dem Geift je 
ner Zeit entſprechend, waren hier die Beſtrebungen Herder's, bie 
biefer dem Volkslied der ganzen Menſchheit zugewandt hatte, im 
vaterländifgen Sinn wieder aufgenommen. Auch der Altmeiſter 
Goethe fpenbete dem Unternehmen in der Jenaer Literaturzeitung 
fein Lob. „Von Rechtswegen, fagt er, follte biejes Büchlein in 
jedem Haufe, wo friihe Menſchen wohnen, am Fenſter, unterm 
Spiegel, oder wo fonft Gefang- und Kochbücher zu Liegen pflegen, 
zu finden fein“ 6). Anbrerfeits aber wurde das Wunderhorn auch 


1) Wunderhorn I, (1806) ©. 459. — 2) Bgl. Atnim's Vorrede pi 
ben Predigten des Matgefius, Berlin 1818. — 3) Wunderhorn I, (1806) 
S. 4603. — 4) Ebend. I, (1806) ©. 464. — 5) Jenaiſche Allgem. Siterstw 
Zeitung d. 31. Jan. 1808, ©p. 137. 


Die altbeutfcpen Stubien zur Zeit bes Auftretens der Brüder Grimm. 377 


anf daS heftigfte angegriffen, am grimmigften von Joh. Heinr. 
voß im Cotta'ſchen WMorgenblatt '). Er nennt dasfelbe einen „zus 
ſanmengeſchaufelten Wuft, voll muthwilliger Verfälihungen, fogar 
mit untergejchobenem Machwerk.“ Diefer Angriff gab Beran- 
laſſung zu einem fehr unerquidlichen literariſchen Streit, der fih 
in Erflärungen und Gegenerflärungen bis in das Jahr 1810 Hin- 
ein fortfegte. Blicken wir jetzt unbefangen auf das Werk zurüd, 
fo Könmen wir freilih vom wiſſenſchaftlichen Standpunkt aus Ar- 
aim’! und Brentano’s Verfahren nicht billigen. Ste gehen mit 
den Texten der von ihnen mitgetheilten Lieder auf das willfürlicfte 
um, laffen aus und dichten hinzu, begehen in ihren Quelfenanga- 
ben die wunderlicften Mißgriffe und find in ihrer Auswahl nichts 
weniger als muftergültig. Dennoch ift das Wunderhorn ein epoche⸗ 
machendes Bud. Es ift der erfte Vorläufer der bahnbrechenden 
Unternehmungen zur Erforſchung der deutſchen Volfsdihtung, wie 
fie dann in den Werken der Brüder Grimm und Ludwig Uhland’s 
ihren wiſſenſchaftlichen Ausdruck erhalten 2). 

Im Beginn des Jahres 1808 unternahm Arnim in Berbind- 
ung mit feinen Freunden die Herausgabe eines periobifhen Blattes, 
das unter dem Titel: „Zeitung für Einfiebler“, vom 1. April bis 
zum 30. Auguft 1808 Hei Mohr und Zimmer in Heidelberg er- 
iHien. Das Ganze erhielt dann den Gefammttitel: Tröft Einfam- 
kit, alte und neue Sagen und Wahrfagungen, Geſchichten und 
Gedichte. Herausgegeben von Ludwig Achim von Arnim. — Hei- 
belßerg — 1808. Das Blatt blieb auf einen nur Heinen Leſerkreis 
beſchränkt, aber es ift eine ber reichſten Fundgruben für die Ans 
fänge der neuen deutſchen Alterthumsſtudien. Hier gab J. Görres 
ieine oben beſprochenen Unterfuhungen über den gehörnten Steg- 
fried und die Nibelungen, hier werden wir bie Brüder Grimm 


1) 1808, Nr. 283. 284. — 2) Schon Toren urtheilte nach beiden 
Seiten Hin fehr verfländig über das Wunderhorn (S. deffen Zufäge zu ben 
Rifeellaneen 1809). or allem aber vgl. man das Uriheil eines ber erſten 
Kenner bes BVolfsliebs, Hoffmann's don Fallersleben, in dem oben angeführ⸗ 
ten Auffag über das Wunderhorn. 


378 “ Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


einen Theil ihrer Erftlingsarbeiten nieberlegen ſehen; hier begegnet 
und zuerft ein Mann mit dicteriien Beiträgen, der fpäter als 
Dichter und als Forſcher eine der erften Stellen einnehmen follte: 
Ludwig Uhland. Und das Alles reiht fi bier unmittelbar an die 
altdeutihen Beitrebungen der älteren Romantiker an. Denn hier 
theilt auch wieder Tieck, ben Arnim hoch verehrt 1), die Bruchſtüce 
feiner Bearbeitung des Königs Mother mit. Den Uebergang der 
alten in die neue Zeit bezeichnet ein Wort Arnim's: „Der blinde 
Streit zwiſchen fogenannten Romantikern und fogenannten Claffis 
tern endet ſich; was übrig bleibt, das lebt. Unſre Blätter werden 
fi mit beiden und für beide beichäftigen. Man lernt das Eigen 
thümliche beider Stämme wie in einzelnen Individuen erfennen, 
achten, und ſich gegenfeitig erläutern und in feiner Entwickel ung er⸗ 
Tennen“ 2). 


Driffes Kapitel. 


Das Sehen und bie Arbeiten der Brüder Grimm Bis zum 
Jahr 1819. 


L Das eben der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 


Kein Name fteht fo epochemachend im ber Gedichte der dent ⸗ 
ſchen Altertfumsmiffenfhaft, wie der Name der Brüder Grimm. 
Die Werte Jacob Grimm’s bilden die Grundlage diefer Stubien, 
und Wilhelm, fein Bruder, Hat nicht nur ſelbſt durch eine Reihe 
muftergültiger Arbeiten unfere Wiſſenſchaft bereichert, fondern fein 
ganzes Dafein iſt mit dem bes älteren Brubers fo innig verwachſen 
daß fih auch deſſen Erfheinung ohne die Gemeinſchaft mit ihm gar 
nit denken läßt. — Ueber das Leben ber beiden Brüber find wir 
buch fie ſelbſt unterrichtet. Jeder von ihnen bat nämlich feine 
eigene Lebensbeſchreibung in bie „Örundlage zu einer Heſſiſchen 


1) Zeitung für Einfiebfer 1808, 14. Mai, Sp. 100. — 32) Zeitm 
für Einfiedler 1808, 26. April, Sp. 58. 


Des Leben und bie Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 879 


Gelehrten, Schriftſteller / und Künftler ⸗Geſchichte vom Jahre 1806 
bis zum Jahre 1830 von 8. W. Juſti, Marburg 1831” geliefert; 
amd außerdem befigen wir von dem überlebenden älteren Bruder 
eine leider unvollendet gebliebene „Rede auf Wilhelm Grimm“ ') 
mb von beiden Brüdern noch mande andere gelegentliche Mit- 
teilung über ihre Erlebniffe. 

Wenn bei allen Menſchen mehr, als die Meiften willen, auf 
die Eindrüde der Kindheit ankommt, fo war dies in ganz befon- 
derem Maß bei den Grimm der Fall. Ihr ganzes Wefen, ihre 
ganze Lebensaufgabe wurzelte in den Eindrüden und Erinnerungen 
isrer Jugend. Ich bin der zweite Sohn meiner Eltern, fo er- 
Alt uns Jacob (Ludwig Karl) Grimm ?), und zu Hanau 
4. an. 1785 geboren. Mein Bater wurde, als ich ohngefähr jechs 
Jahre alt war, zum Amtmann nad Steinau an ber Strafe, feinem 
Geburtsort, ernannt, und in biefer wiejenreihen, mit ſchönen 
Bergen umkränzten Gegend ftehen die Iebhafteften Erinnerungen 
meiner Kindheit. Aber allzufrüße fon, den 10. Jan. 1796, ftarh 
der Vater.“ „Er war ein höchſt arbeitjamer, ordentlicher, Tiebe- 
voller Mann; feine Stube, fein Schreibtiſch und vor allem feine 
Schränke mit ihren fauber gehaltnen Büchern, bis auf die roth 
md grünen Titel vieler einzelnen darunter find mir leibhaft vor 
Augen. Wir Gejhwifter wurden alle, ohne daß viel davon die 
Rede war, aber durch That und Beifpiel ftreng reformiert erzogen; 
ntheraner, die in dem Mleinen Landſtädtchen mitten unter uns, ob⸗ 
gleich in geringerer Zahl, wohnten, pflegte ih wie fremde Men- 
Ken, mit denen ich nicht recht vertraut umgehen dürfte, anzujehen, 
und von Katholiken, die aus bem eine Stunde weit entlegenen 


1) Herausgegeben von Herman Grimm mit ber Mebe über das Alter. 
Berlin 1863. Wieder abgebrudt in: Kleinere Schriften von Jac. Grimm, 
1, Berlin 1864, 8. 163 fg. Ebend. I, 1 fg. Jac. Grimm’s Gelbfio: 
grapfie. Ich citiere nach ben erſten Ausgaben. — 2) Juſti ©. 148. Wo 
id im weiteren Berfolg dieſes Abſchninss Jacob oder Wilhelm Grimm’s 
Worte anführe ohne Himufägung eines Gitats, find dieſelben aus Juſti 
©. H3—188 genommen. 


380° Drittes Buch. Drittes Kapitel, 


Salmünfter oft durchreiſten, gemeinlich aber fon am ihrer bun⸗ 
teren Tracht zu erfennen waren, machte ih wohl mir ſcheue, ſelt⸗ 
fame Begriffe. Und noch jegt ift es mir, als wenn ich mur in 
einer ganz einfachen, nad) veformierter Weife eingerichteten Kirche 
recht won Grund andächtig fein könnte; fo feſt hängt ſich aller 
Glaube an die erften Eindrüde ber Kindheit, die Phantafie weiß 
aber auch leere und ſchmuckloſe Räume auszuftatten und zu bele 
ben, und größere Andacht ift nie in mir entzündet geweſen, als 
wie ih an meinem Confirmationstage nach zuerft empfangenem 

heiligem Abendmahl auch meine Mutter um den Altar der Kirde 
gehen fah, im welcher einft mein Großvater auf der Kanzel geftan- 
den hatte. Liebe zum Vaterland mar uns, ich weiß nicht wie, tief 
eingeprägt; denn geſprochen wurde eben aud nicht davon, aber es 
war bei den Eltern nie etwas vor, aus dem eine andere Geſinn⸗ 
ung beroorgeleuchtet hätte. Wir hielten unfern Fürften für den 
beten, ben es geben könnte, unfer Land für das gefegnetfte unter 
allen. — Mit einer Art von Geringſchätzung fahen wir z. B. auf 
Darmftädter herab." 

Ein Jahr fpäter als Jacob, am 24. Februar 1786 wurde 
gleichfalls noch in Hanau fein jüngerer Bruder Wilhelm (Karl) 
geboren. Die beiden Knaben, an Alter fo wenig unterſchieden, 
wuchſen in innigfter Gemeinfhaft auf. Ihren erften Unterricht er- 
hielten fie von einer älteren Schweſter ihres Vaters, einer finder 
loſen Wittwe, bie in ihrer Nähe wohnte. Die Tante, eine ver 
ftändige, wohlmeinende, aber ernfte und fehr entſchiedene Frau, 
Hatte eine Vorliebe für Jacob, ohne jedoch minder theilnehmend 
für die übrigen Gejchwifter zu fein. Jacob äußerte feine natür- 
lichen Anlagen auffallend früh. Er konnte fon Iefen, bevor ar 
dere Kinder anfangen zu lernen. Uber in dem Heinen Steinau 
war für den Unterricht der Knaben nur wenig zu holen. Das 
Vermögen der Mutter war ſchmal und fie hätte die ſechs Kinder, 
die ihr Mann ihr Hinterlich, als er am 10. “an. 1796 ftarh, nur 
ſchwer aufziehen fünnen, wenn nicht eine ihrer Schweftern, die bei 
der damaligen Landgräfin von Heffen erſte Kammerfrau war, fie 
treulich unterftügt hätte. Diefe ließ Jacob und Wilhelm im Jahr 


Das eben unb bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 381 


1798 1) nad) Kaffel kommen und in Koft geben, damit fie fih auf 
dem dortigen Lyceum ausbilbeten. Die Schule hatte damals einige 
nicht untüdhtige Lehrer, erhob fi aber doch nicht über eine gewiffe 
Mittelmößigfeit. „Der Unterriät, wie er damals auf diefer gut- 
fimbierten Schule im Ganzen ertheilt wurde, fagt Jacob Grimm, 
iſt mic hernach in mancher Beziehung mangelhaft vorgefommen. 
E wurde viel Zeit mit Stunden über Geographie, Naturgeſchichte, 
Anthropologie, Moral, Phyſik, Logik und Philofophie (was man 
Ontologie nannte) meift nad Ernefti initia doctrinae solidioris 
vertfan und dem philologiihen und hiſtoriſchen Unterricht, welche 
die Seele aller Jugenderziehung auf den Gymnaſien fein müffen, 
abgebrochen.“ Bu ben täglichen ſechs Unterrictsftunden auf der 
öffentlichen Schule traten dann noch täglich vier bis fünf Privat- 
funden: eine kaum zu ertragende Arbeitälaft. Beide Brüder zeig- 
ten ſchon auf der Schule einen eifernen und höchſt erfolgreichen 
Fleiß. Aber die übermäßige Arbeit wirkte nachtheilig auf Wil- 
helm's Gefundheit. In dem blühenden, raſch aufgewachſenen Jüng⸗ 
ling entwickelte ſich ein beängſtigendes Bruſtleiden, das ihn zeitle- 
bens nicht wieder verließ. Aber „unmittelbar in der Schwächung 
des Leibs fühlte ſich fein Geift gefräftigt und früher als gewöhnlich 
veifend, Gebuld und Gleihmuth fachten jeine Lebenshoffnung un 
ausgefegt an, gaben feinen Gedanken Schwung und flößten ihm 
Feinheit des Nachſinnens, Takt der Beobachtungen ein. Was er 
damals dachte oder niederſchrieb, würde er auch fpäter noch ebenſo 
gedacht und geſchrieben Haben, feiner Ausbildung war aller Sprung 
benommen und ein förderndes Ebenmaß verliehen. Um dieſe Zeit 
las er nicht allein zur Schonung und Erleihterung, fondern aus 


1) 1799 nad Wilhelm's Angabe (Juſti ©. 169), nah Jacob (Juſti 
6. 149) 1798. Aber trogdem, daß Wilhelm feine Biographie fpäter ges 
hörieben und dabei bie Jacob's vor Augen gehabt hat (Zufti S. 169), ver: 
dient Jacob's Bericht den Vorzug, ba fonft alle folgenden von Jacob bis in’s 
Eingelmfte verzeicäneten Angaben verrüdt und das Ganze mit dem feſtſtehenden 
Endpunkt: Savigny's Reife nach Paris im Sommer 1804, nicht flimmen 
Würde, 


382 Drittes Bud. Drittes Kapitel, 


innerem Trieb umfere großen Dichter und war gleich entſchieden 
Goethen zugewandt, während id, der weniger anhaltend im Zur 
fammenhang leſen konnte, erft mehr von Schiller eingenommen, 
nad und nad au von jenem ergriffen wurbe* 1). 

Im Frühjahr 1802 bezog Jacob Grimm die Univerfitit Mar 
burg, ein Jahr früher als Wilhelm, der um dieſe Zeit lange und 
gefährlich kränkelte. „Die Trennung von ihm, fagt Jacob, mit 
dem ich ſtets in einer Stube gewohnt und in einem Bett geichlafen 
hatte, gieng mir fehr nahe; allein es galt, ber geliebten Mutter, 
deren Vermögen faft zuſammengeſchmolzen war, durch eine zeitige 
Beendigung meiner Studien und den Erfolg einer gewünſchten An 
ftellung einen Theil ihrer Sorge abnehmen und einen Heinen Theil 
der großen Liebe, bie fie uns mit der ftandhafteften Selbftwerläug- 
nung bewies, erjegen zu können. Jura ftubierte ih hauptſächlich, 
weil mein feliger Vater ein Jurift gewefen war und es bie Mutter 
fo am liebſten Hatte.“ „Zu Marburg mußte ich eingeſchränkt leben; 
es war uns, aller Verheißungen ungeachtet, nie gelungen, die ger 
ringſte Unterftügung zu erlangen, obgleih die Mutter Wittwe eines 
Amtmanns war, und fünf Söhne für den Staat groß 309." 
„Doch hat es mid; nie geſchmerzt, vielmehr habe ich oft hernach 
das Glüd und aud die Freiheit mäßiger Vermögensumftände em- 
pfunden. Durftigkeit fpornt zu Fleiß und Arbeit an, bewahrt vor 
mander Zerftreuung und flößt einen nicht uneblen Stolz ein, den 
das Bewußtſein des Selbftverbienftes, gegenüber dem, was Andern 
Stand und Reichthum gewähren, aufrecht erhält. Ich möchte for 
gar die Behauptung allgemeiner faſſen und Vieles von dem, was 
Deutſche überhaupt geleiftet haben, gerade dem beilegen, daß fie 
fein reiches Volt find. Sie arbeiten von unten herauf und 
brechen ſich viele eigenthümliche Wege, während andere Völter mehr 
auf einer breiten, gebahnten Heerſtraße wandeln.“ 

In Marburg hörte Jacob Grimm die gewöhnlichen juriſtiſchen 
und einige philofophiie Collegia. Die freiere Art des Stubierens, 
die damals noch auf den deutſchen Univerfitäten herrſchte, fagte ihm 


1) Jacob Grimm, Rebe auf Wilhelm Grimm, Berlin 1868, S. 3 fg 





Des Leben und bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 888 


fer zu. Auch in fpäteren Jahren hat er fih gegen das viele Ein- 
greifen des Staats in die Auffiht der Schulen und Uninerfitäten 
erflärt. „Es entfpringt aus den vielen Studienvorſchriften, jagt 
a, wenn fie durchzuſetzen find, einförmige Negelmäßigfeit, mit 
welder der Staat in ſchwierigen Hauptfällen doch nicht berathen 
it“ Im Durchſchnitt betreten jegt die Schüler die Afademie mit 
grünbliheren Kenntnifjen, als vormals; aber im Durchſchnitt geht 
dennoch daraus eine gewiſſe Mittelmäßigfeit der Studien hervor. 
& ift Alles zu viel vorausgefehn und vorausgeordnet, aud im 
Kopf der Studierenden. Die Arbeit des Semefter3 nimmt unbe 
wußt ihre Richtung nad) dem Examen.“ 

Unter ben Profefforen, bei denen Jacob Grimm in Marburg 
hörte, zog ihn der muntere und gelehrte Vortrag des Nomaniften 
Weis an. Aber nit mit den Anderen zu vergleichen und geradezu 
epochemachend in Grimm's Leben war feine Begegnung mit Sa 
vigny. Wir werben den erft allmählich veifenden Einfluß, den der 
große Gründer ber hiſtoriſchen Juriſtenſchule auf Grimm’s gelehrte 
Arbeiten gehabt hat, fpäter no im Beſonderen darlegen. Hier 
ſprechen wir nur von ben perſönlichen Beziehungen zwiſchen ben 
beiden ausgezeichneten Männern. Savigny, geboren im Jahr 1779, 
alſo kaum ſechs Jahr älter als Jacob Grimm, ftand damals 
in den friſchen Anfängen feiner großartigen Lehrthätigkeit. „Was 
lann ich aber, heißt es in Jacob Grimm's Seldftbiographie, von 
Savigny's Borlefungen anders fagen, als daß fie mid auf's ge» 
waltigfte ergriffen und auf mein ganzes Leben und Studieren ent- 
iGiedenften Einfluß erlangten? Ich hörte bei ihm Winter 1802 
bis 1808 juriſtiſche Methodologie, fowie Inteſtaterbfolge (das im 
Sommer 1802 von ihm gelejene teftamentarifhe Erbreht wurde 
aus Heften anderer Studenten abgeſchrieben und nachgeholt); Som- 
mer 1803 römische Rechtsgeſchichte, Winter 1808 —4 Inſtitutionen 
und Obligationenrecht. Im Jahr 1803 war das Bud) über den Ber 
fig erſchienen, welches begierig gelefen und ftubiert wurde.“ Nach— 
dem faft ein halbes Jahrhundert feit jener erften Begegnung ver- 
floffen war, im Detober 1850, ſchildert ung Grimm in der Feſt⸗ 


384 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


fhrift, die er zu Savigny's fünfzigjährigem Doctorjubiläum fchrieb, 
fein Marburger Verhältniß zu feinem großen und geliebten Lehrer. 
Er hebt da zwei Bilder aus ihrem Bufammenleben heraus, das 
eine aus ber frühften Marburger, daS andere, das uns hier noch 
nicht berührt, aus der fpäteften Berliner Zeit. „Das erſte Bild, 
fagt er, fällt in irgend einen Sommertag des Jahrs 1803. Zu 
Marburg muß man feine Beine rühren und Treppe auf, Treppe 
ab fteigen. Aus einem Heinen Haufe ber Barfüßer Straße führte 
mich durch ein ſchmales Gäüßchen und den Wendelftieg eines alten 
Thurms der tägliche Weg auf den Kirchhof, von dem ſich's über 
bie Dächer und Blütenbäume fehnfühtig in die Weite ſchaut, da 
war gut auf und ab wandeln, dann ftieg man an ber Mauerwand 
wieder in eine höherliegende Gaſſe vorwärts zum Forſthof, wo 
Profeſſor Weis noch weiter hinauf wohnte. Zwiſchen deſſen Be 
eich und dem Hofthor unten, mitten an der Treppe, klebte wie ein 
Net ein Nebenhaus, in dem Sie Ihr Heiteres, forgenfreies und 
der Wiſſenſchaft gewidmetes Leben lebten. Ein Diener, Namens 
Bake, öffnete und man trat in ein nicht großes Bimmer, von dem 
eine Thür in ein noch Heineres Gemach mit Sopha führte. Hell 
und fonnig waren die Räume, weiß getüncht die Wände, tännen 
die Dielen, die Fenſter gaben in’s Gießer Thal, auf Wiejen, Lahn 
und Gebirg buftige Ausſicht, die ſich zauberhafter Wirkung näherte, 
in den Senftereden hiengen eingerahmt Kupferftie von J. ©. 
Wille und Baufe, an denen ich mich nicht fatt fehen Tonnte, ſo 
freute mid; deren ſcharfe und zarte Sauberkeit. Doch nod viel 
größeren Reiz für mid hatten die im Zimmer aufitrebenden Schränte 
und im ihnen aufgefteliten Bücher, deren ich Bisher außer Schul 
bücdern und des Vaters Hinterlaffenfhaft nur wenige kannte. Ein 
zelne Reihen folgten unſrer gewöhnlichen Ordnung, bei andern 
war fie umgelehrt, wie man hebräiſch ſchreibt von dev Rechten zur 
Linken, und id hörte Sie bie Verdrehung, deren Nothwendigleit 
mir nicht einleuchten wollte, erklären und vertheidigen. Man burfte 
auf die Leiter fteigen und näher treten. Da belamen meine Augen 
zu ſchauen, was fie noch nie erblidt Hatten, Sch entfinne mid, 


Das Leben und die Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 385 


von ber Thür eintretend an der Wand zur reiten Hand ganz 
hinten fand fid auch ein Quartant, Bodmer’3 Sammlung der Minne⸗ 
fieder, den ich ergriff und zum erftenmal aufihlug, da ftand zu 
lien her Jacob von Warte’ und ‘her Kristan von Hamle’, 
mit Gediten in ſeltſamem, Halb unverftänblihem Deutſch, das 
erfüllte mich mit eigner Ahnung, wer hätte mir damals gejagt, 
id würde dies Buch vielleiht zwanzigmal von vornen bis hinten 
durchleſen und nimmer entbehren. Bei Ihnen prangte es unnüß 
auf dem Brett, Sie haben es ficher mie gelefen, damals aber getraute 
meine feimenbe Neigung no nicht, es von Ihnen zu entleihen; 
doch blieb es fo feft in meinen Gedanken, daß ich ein paar Jahr 
hernach auf ber Pariſer Bibliothek nicht unterließ, die Handſchrift 
zu fordern, aus welcher es gefloffen ift, ihre anmuthigen Bilder 
zu betrachten und mir fhon Stellen auszuſchreiben. Solde An- 
blice Hielten die größte Luft in mir wach, unfere alten Dichter ge 
nau zu leſen und verftehn zu lernen. Was rede ih aber von den 
Büchern, nicht von dem Mann, dem fie gehörten, deſſen Worte 
mid noch mehr ermahnten und heimlich ermunterten als was id) 
leſen fonnte? Groß war er gewachſen, damals noch ſchlank, trug 
grauen Oberrod, braune blauftreifige Seidenweſte, fein dumfles Haar 
hieng ihm ſchlicht herunter, das heute noch die Farbe hält, während 
meine brammen Traufen Loden fih ſchon gebleiht Haben. Diejes 
lehreuden Mannes freundlihe Zurede, handbietende Hilfe, feinen 
Auftand, Heiteren Scherz, freie ungehinberte Berfönlichkeit Tann ich nie 
vergefien, wie ftand er vor uns auf dem Katheder, wie biengen wir 
an feinen Worten. Meine erfte eingelieferte ſchriftliche Arbei 
hatte einen Fall der Collation bei ber Inteſtaterbfolge zu behan« 
deln, wollen Sie wiffen, wie die Worte Yauteten, mit welden Sie 
mich bewetheilten? Ich Tann fie immer noch auswendig: “nicht 
nur volffommen richtig entichieben, fondern auch fehr gut darge 
fell” So günftig hat mid nachher fein andrer Mecenfent loben 
mögen.” Wenn ich friſchen Athem bei Ihnen gefhöpft Hatte, und 
ich mid, ih wußte kaum wie, aus den Schranken gehoben fühlte, 
in denen meine ganze Art vorhin Befangen war, ſchritt ich frohge⸗ 
mut, über Stod und Stein fpringend die Stufen Sinab nad Haus 


Reumer, Gef. der gem. Phuclogie. 


386 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


in mein Meines Stübchen. Damals Tag meine Seele offen wor 
Zonen, ih hätte Ihnen Alles vertrauen können“ ?). 

Ein Jahr, nachdem er felbft die Umiverfität bezogen hatte, 
holte Jacob Grimm feinen Bruder Wilgelm nah Marburg ab. 
Beide Brüder beſuchten fo ziemlich die gleichen Collegia, und auf 
Wilhelm erfuhr einen tief greifenden Einfluß von Savigny’3 Lehre 
und Umgang. — m Yanuar 1805 machte Savigny, der auf der 
Barijer Bibliothek mit ben Vorſtudien für fein berühmte Wert 
über die Geſchichte des römiſchen Rechts im Mittelalter beſchäftigt 
war, Jacob Grimm den Vorſchlag, ungejäumt nad) Paris zu Tom 
men, um ihm dort bei jeinen literariihen Arbeiten zu helfen. 
Grimm befann fi nit lange. Nachdem er die Erlaubniß zur 
MReije bei jeiner Mutter brieflid) eingeholt, traf er Anfangs Februar 
glüdlih in Paris ein. Die Mutter machte ſich mande Sorge 
„Ich befand mich aber, jagt Jacob Grimm, vortrefflih aufgehoben, 
uud verlebte das Frühjahr und den Sommer auf die angenehmite 
und Ichrreicjte Weile. Was ich von Savigny empfieng, übermog 
bei weiten die Dienjte, die ich ihm Leiften konute, durch eine öffent 
liche Anerkennung derjelben in der Vorrede zum erjten Bande der 
Geſchichte des römijchen Rechts hat er mir viele Jahre nacher die 
größte Freude zubereitet. Auch ift ein ununterbrochen fortzejegter 
Briefwechſel die Folge uuferer näheren Belanntigaft geweſen 
Sepiemper 1805 wurde bie Heimreije amgetreten umd (Ende de 
Monats traf ih mit Wilhelun, den ich zu Marburg mitgenommen 
hatte, gefund und vergmügt bei der Mutter in Kaffel ein, bie um 
terdefien, damit fie ihr Alter in ihrer Kinder Mitte ruhig verleben 
Bunte, aus Steinau mad Kaſſel geogen war. Um meine Au 
ſtelung wurde fi mm noch denſelben Winter beworben. Jqh 
mwänjcte Aſſeſſor oder Gecretär bei der Megierung zw werben, aber 
Alles war veriperrt, und mit genauer Roth erlangte id) endlich den 
Acceß beim Secretariat des Kriegscollegiums und 100 Aıhlr. Ge 
halt (ohngefäge Januar 1806). Die viele und geiftlofe Arbeit 





1) Das Wert deo Veſibes, eine Mnguiflifhe Abhandlung von D. I- 
Cimm, ( In: Kleinere Schriften von J. Grimm, Erster Bd. 8. 115 fg) 





Des Leben und bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. WER 


mollte mix wenig ſchmecken, wenn ich fle mit der verglich, die ich 
ein Vierteljahr vorher zu Paris verrihtete, und gegen bie hemmo- 
diſhe Pariſer Kleivung mußte ich in fteifer Uniform mit Puder 
und Zopf fteden. Dennod war ich zufrieden und ſuchte alle weine 
Rufe dem Studium der Literatur und Dichtkunſt des Mittelalters 
auumenben, wozu die Reigung aud in Paris durch Benutzung 
und Anficht einiger Handſchriften, fo wie durch den Ankauf feltmer 
Büger angefacht worden war. Auf diefe Weiſe verftrich nicht valig 
ein Jahr, als ungeahnte Stärme über unſer Vaterland berein- 
brachen, vie auch mich beiveffen und aus dem kaum betretenen 
Wirtungskreiſe ſtoßen follten.” Das Jahr 1806 Tieferte das heſ⸗ 
füge Land in bie Hände der Franzoſen. Im Frühjahr 1806 1) 
dette and Wilhehn fein Examen beftanden und wahrſcheinlich Hätte 
w im Laufe des Jahrs eine Anftellung erhalten, wenn nit das 
. ab vom den Franzoſen wäre überzogen worben. 

Auch in Jacob's Schiefal griffen die Stürme, die im est 
1806 über Norddeutſchland hereinbrachen, entfheidend ein. „Gleich 
ua der feindlichen Occupation, fo erzählt ir ung, verwandelte 
fih das Departement bes Kriegscollegiums, wobei ih den Dimft 
uverfehen Hatte, in eine für’ ganze Rand errichtete Truppenverpflege 
ungecommiſſton. Mit der franzöſiſchen Sprache Tonnte ich mir 
beſſer als bie Uebrigen Hekfen, und ein großer Theis ber Läftigen 
Geſchaſte fiel auf meine Schultern, fo daß id ein halbes Jahr lang 
meer Tag noch Abend Ruhe Hatte. Müde, mid mit den franzd» 
ſiſhen Commiſſärs und Berwaltungsbeamten, die uns damals Aber 
qweunnten, Länger zu befafien, und feit entſchloffen, bei der aen ⸗ 
besorfiehenden Organiſation um keinen Preis im dieſem Fach an⸗ 
wetelit zu bleiben, xahm ich, fo bald es angieng, meine Entlaſſung, 
fand mich num aber eine Zeitlang wieder außer Dienſten und um ⸗ 
fühiget als vorher, zur Erleichterung der Muttet and der Geſchwiſter 
beizutragen. Ich glaubte um einen Poſten bei ber oͤffentlichen 





i W. Grimm in feiner Selbſibiogtaphie (bei Juſti S. 171) ſagt: 1807 


Aber der ganze Zuſammenhaug ergibt, daß es 1806 heißen muß. 
2* 


888 Drittes Buch. Drittes Kapitel. 


Bibliothek in Kaſſel werben zu können, da ich mich theils in dad 
Leſen von Handſchriften eingeübt, theils buch Privatftubien mit der 
Geſchichte der Literatur vertrauter gemacht Hatte, auch wohl fühlte, daß 
ich in biefem Fade größere Fortſchritte thun würbe, während mir 
bie Erlernung des franzöſiſchen Rechts, in das ſich unfere Juris 
prubenz zu verwandeln drohte, ganz verhaft war. Allein die ge 
wůnſchte Stelle wurbe einem Anbern zu Theil, und nachdem das 
kammervolle Jahr 1807 vergangen und das neue mit ftets ger 
tauſchten Ausfihten begonnen war, hatte ich bald den tiefften 
Schmerz zu empfinden, ber mic in meinem ganzen Leben betroffen 
hat. Den 27. Mai 1808 ftarh, erft 52 Jahr alt, die befte Mut 
ter, an ber wir alle mit warmer Liebe biengen, und nicht einmal 
mit dem Troſt, eins ihrer ſechs Kinder, die traurig ihr Sterbeben 
umſtanden, verjorgt zu wiſſen. Hätte fie nur noch wenige Monate 
gelebt, wie innig würbe fie ſich meiner verbefferten Rage erfreut 
haben! Ich war durch Joh. von Müller's Empfehlung dem dama- 
ligen Cabinetsjecretär des Königs Coufin de Marinville belannt 
und als tauglich zur Verwaltung der Privatbibliothel, die in Wil- 
helmshöhe aufgeftellt war, vorgefclagen worden. Es muß an an 
dern begünftigten Mitbewerbern gefehlt haben, fonft wäre mir 
ſchwerlich eine ſolche Stelle, wie es den 5. Juli 1808 wirklich ge 
ſchah, zu Theil geworden. Meine Fähigfeit dazu war von Rie 
mand geprüft. Die ganze Inſtruction des königlichen Cabinets⸗ 
ſecretärs beftand in den Worten: Vous ferez mettre en grands 
caractöres sur la porte: Bibliothöque pärtieulidre du Roi. Iq 
hatte mın alsbald 2000 Franken Gehalt, der ſich mad; einigen 
Monaten, vermuthlih weil man mit mir zufrieden war, auf 3000 
erhöhte. Nachdem wieder einige Zeit verfloffen war, Tünbigte mir 
eines Morgens der König feloft an, daß er mich zum Aubiten 
au Conseil d’ Fitat ernannt Habe, doch folle ich bie Bibliothel⸗ 
ftelle daneben und hauptſächlich befleiden (17. Febr. 1809). Das Amt 
eines Aubitors beim Staatsrathe galt "damals für ein befonderes 
Süd und führte leicht zu höheren Stufen. Da es überbem meine 
Befoldung um 1000 %r. mehrte, fo genoß ich nun einen Gehalt von 
über 1000 Reichsthaler, der ich ein Jahr zuvor feinen Pfennig bezogen 


Das Leben unb bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 380 


hatte, und alle Nahrungsforgen verſchwanden. Dabei war mein 
Amt ala Bibliothelar Teineswegs Yäftig, ich Hatte mich Bloß einige 
Stunden im ber Bibliothel oder im Cabinet aufzuhalten, konnte 
auch während dieſen nach Beforgung des neu Einzutragenden ruhig 
für mich leſen ober excerpieren. Bücher oder Nachſuchungen von 
Büchern wurden vom König nur felten verlangt, an Andere wurbe 
aber gar Nichts ausgeliehen. Die ganze übrige Zeit war mein, 
ih verwandte fie faſt unverkümmert auf das Stubium der altdeut⸗ 
ſchen Poeſie und Sprache.“ Der Staatsrath machte fo gut wie 
gar feine Mühe. Der König benahm ſich jeberzeit anftändig und 
freundlich gegen Grimm. Mande widrige Zufälle, welche die Heine 
Grimm unterftellte Bibliothek betrafen, wurden leicht von ihm ver- 
wunden. Auch Wilhelm lebte in jenen Jahren mit dem Bruder 
vereint in Kaſſel. 

Während fo die Brüber in der Stile fortnßeiteten und nur 
von Zeit zu Zeit durch Heinere ober größere Beröffentlihungen 
Kunde von ihren gründlichen Forfhungen gaben, knüpfte fih mande 
für ihr geiftiges Leben jehr wichtige Verbindung. Wir haben ſchon 
früger erzäßlt, wie die Brüder Grimm mit Arnim und Brentano, 
den Herausgebern des Wirnderhorns und der Einfieblerzeitung, und 
mit deren Freunden in einen regen geiftigen Verkehr traten 1). 
Bald follten fie durch die Gediegenheit ihrer Studien ber wiſſen⸗ 
ſchaftliche Kern diefes ganzen Kreiſes werben. . 

Nach der Rückehr des alten Kurfürſten gegen Enbe des Jah⸗ 
res 1813, bie einen unbeſchreiblichen Jubel erregte, wurde Jacob 
Grimm am 23. December 1813 zum Legationsfecretär ernannt, um 
den heſſiſchen Gefanbten, einen Grafen Keller, in’s große Haupt» 
quartier der verbündeten Heere zu begleiten. So kam Grimm, 
nachdem er vom Januar an die Hin⸗ und Herzüge des biploma- 
tiihen Hauptlagers mitgemacht Hatte, im April 1814 zum zweiten. 
mal nach Paris. „Unterwegs, erzählt er, hatte id; nicht verfäumt, 
alle Bibliothelen zu beſuchen, und jeber freie Augenblid in Paris 
wurde genußt, um in den Handſchriften zu arbeiten." „Im Som⸗ 


16. 0. ©. 974, 


290 Drittes Bud. Drittes Kapiul. 


mer trat ich bie Rückreiſe nach Kaſſel an und räftete mich balb von 
neuem zu ber Fahrt nach dem Wiener Congreß. In Wien brachte 
ich zu von Octaber 1814 bis Juni 1815, eine Zeit, die auch für 
weine Privatarkeiten nit nutzlos verftrih und mir Belanntjſchaft 
mehrerer gelehrten Männer verfdaffte Won befonderem Vorteil 
für meine Studien war, daß ich mi damals auch mit der ſladi⸗ 
fen Sprade anfieng befannt zu machen.“ „Kaum war ich zu ben 
Geſchwiſtern wach Kafjel Heimgelehrt, als mid, und diesmal eine 
Requiſition der preußifchen Behörde, in das zum zweitenmal eroberte 
Paris rief, ich follte die aus einigen Gegenden Preußen’s ge 
sgubten Handſchriften ermitteln und zurüdverlangen, nebenbei aud 
einige Geſchäfte des Kurfürſten beforgen, ber in dem Augenblid 
Teinen Bevollmächtigten dort hatte. Zwar jener Auftrag bradte 
mid in ein unangenehmes Verhältniß zu den Parifer Bibliothelaren, 
bie mich früher fehr gefällig behandelt Hatten. Jetzt aber wurde 
einmal Langlds, den id) befonders drängte, fo Bitter, daß er mir 
nicht mehr geftatten wollte, auf der Bibliothek zu arbeiten, was ih 
ia Nebenftunden immer zu thun fortfuhr; nous ne devons plus 
souffrir ce Mr. Grimm, qui vient tous les jours travailler ici 
et qui nons enlöve pourtant nos manuserits, fagte er öffentlid. 
Ich machte die Handſchrift, die ih eben auszog, zu, gab fie zurüd, 
und gieng nicht mehr hin, um zu arbeiten, fondern nur um zu 
beenbdigen, was mir aufgetragen worben war.“ „Erft im Decem- 
ber giengen meine Geſchäfte glüclich zu Ende, und ich empfieng 
fäter zu Kaſſel ein Schreiben bes Fürſten von Hardenberg 
(81. Auguſt 1816), das mir die Zufriedenheit mit meiner Verrich⸗ 
tung bezeugte.“ Nach jeiner Rückehr erreichte Jacob Grimm einen 
ſchon Lange gehegten Wunſch, er wurde (den 16. April 1816) zum 
zweiten Bibliothefar an der Kaffeler Bibliothek ernomnt, an der 
fein Bruder Wilhelm bereits ſeit dem 15. Febr. 1814 als Biblio 
thelsfecretär angeftellt war. 


DI. Die Arbeiten der Srüder Grimm in der erſten Periode, ihrer 
Cpätigkeit 1807 bis 1819. 


Wir Haben gefehen, wie die Brüder Grimm, Jacob ber ältere 


Des eben und bie Mebeiten ber rüber Grimm bis zum Jahr 1819. 801 


und Wilhelm ber jüngere, in inniger Herzenagemeinſchaft mit ein 
ander aufwuchfen, wie fie dann beide auf der Univerfitit Marburg 
dem Stubium der Rechtswiſſenſchaft oblagen und von dem größten 
Rechtslehrer feiner Zeit, Savigny, tiefgehende Anregungen empfien- 
gen, und wie fie endlich auch nad Vollendung ihrer Univerjitäts- 
jahre mit geringen Unterbrechungen in Kaſſel zufammen lebten und 
zuſammen arbeiteten. Und e8 war num nicht mehr bloß das Zuſam⸗ 
menleben. ſich herzlich Tiebender Brüder, fondern fie waren zugleich 
verbunden durch die gemeinfame Lebensaufgabe, die ihr ganzes 
Daſein erfüllte: Die Erforſchung des deutſchen Altertfums. Bon 
gleicher Liebe zu dieſen Studien waren Beide ergriffen und Einer 
arbeitete dem Anderen in bie Hände; ja es herrſchte eine folde 
Gemeinſchaft des Geiftes und Herzens zwiſchen ihnen, daß fie einen 
großen Theil ihrer Arbeiten gemeinfam als „die Brüder Grimm" 
vollendeten und der Dejfentlichteit übergaben. Bei mehr unter 
geordneten, auf bereits geebneter Straße einherſchreitenden Leiſtungen 
hat man ein ſolches Zufammenarbeiten wohl öfter geſehen; aber 
bei wahrhaft bahnbrechenden und [höpferiihen Werken zeugt es nicht 
nur von einer Gemeinfamkeit der Gefinnung, fondern auch von 
einer Reinheit des Herzens, wie man fie felten findet. 

So nahe fi nun aber dur Verwandtſchaft der Begabung 
und des Strebens die beiden Brüder ftanden, und fo ſehr fie diefe 
Gemeinfamkeit durch das herzlichſte wechjelfeitige Wohlwollen pfleg⸗ 
ten, fo zeigt ſich doch andrerſeits gleih von ihrem erften Auftreten 
an auch die große Verjchiedenheit ihrer Naturen. Wir werden 
lpäter, wenn wir die beiden Männer in ihrer vollen Reife vor 
ung jehen, diefen Gegenfag zu ſchildern fuchen und weiſen hier nur 
vorläufig auf denjelben Fin, um daran die Bemerkung zu nüpfen, 
daß die Brüder auch in biefer erften Periode ihres Auftretens 
einem richtigen und gefunden Gefühl folgten, wenn fie die Gcmein- 
famfeit nit für alle ihre Arbeiten zu erzwingen ſuchten, fondern 
mr einen Theil derſelben gemeinfam, andere dagegen getrennt und 
jder für ſich ausführten. 


392 Drittes Buch. Drittes Kapitel, 


Jacob Grimm's Arbeiten von 1807 bis 1811. Das erſte 
dffentlige Auftreten Jacob Grimm’s. 


Mehrere Jahre fon bevor Jacob Grimm fein erftes Buch 
veröffentlichte, betheiligte er ſich als Beurtheiler fremder Leiftungen 
und mit hırzen felbftändigen Abhandlungen an gelehrten Zeitichriften. 
Es waren zwei ſüddeutſche Blätter, in denen er feine gründlichen 
Benterfungen niederlegte: Der zu Münden erſcheinende Neue 
literariſche Anzeiger und die Heidelbergiſchen Jahrbücher ber Litera- 
tur. Und zwar hat das genannte Münchner Blatt die Ehre, die 
erſte Arbeit Jacob Grimm's in feinen Spalten veröffentlicht zu 
haben. Im Jahrgang 1806 des Neuen literarifgen Anzeigers 
hatte Docen aus der Fülle feiner Gelehrfamfeit „Marginalien* 
geliefert zu dem früher erwähnten 1) Buch des jüngeren Adelung 
über die altdeutſchen Gedichte, welche aus der Heibelbergifcen 
Bibliothek in die Vaticanifhe gelommen find %. Antnüpfend an 
diefe Marginalien Docen's gibt der zwei und zwanzigjährige Jacob 
Grimm in dem Blatt vom 17. März 1807 des Neuen literariſchen 
Anzeigers „Bemerhmgen* über Fr. Adelung's angeführtes Buch. Mit 
dem beredtigten Selbftbewußtjein und der vollen Ueberlegenheit, 
welde den fünftigen Meifter afnen läßt, tritt er im die Bahr. 
-  Docen, meint er, hätte ein beftimmteres Urtheil ausiprechen follen 

- über dies umkritifche Buch, das zu einem lebhaften Mufter dienen 
könne, wie mar Manuffripte nicht zu benugen bat. Und an biefen 
geharniſchten Eingang knüpft ſich dann eine Reihe von Berichtigungen 
und Zufägen zu dem Adelung'ſchen Bud, die fofort den gründlichen 
Gelehrten und ſcharfſinnigen Forſcher verrathen. 

Eine zweite größere Arbeit: „Ueber das Nibelungen Liet', 
die J. Grimm im Neuen literariſchen Anzeiger vom 14. und 
21. April 1807 veröffentlichte, führt ihn mitten in eine der wid 
tigften Fragen unferer, ganzen Literaturgeſchichte, indem fie zuerft 


1) 8.0. 8.263, — 2) Neuer literar. Anzeiger 26. Aug. und 
16. Sept. 1806. Wieder abgebrudt und vervollftänbigt in Docen’s Miscel- 
laneen, Bd. II, München 1807, 8. 124—170. 


Das Lehen unb die Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 398 


eine kritiſche Unterſuchung über den Text unſeres größten Epos 
abahnt. Die einzige damals vorhandene "vollftändige Ausgabe 
des Niselungenliedes war die Myller'ſche. Grimm's Urtheil über 
biefe Ausgabe lautet dahin: „Der Myller'ſche Text ift zufammen- 
gelegt ans zwei Manufcripten, ohne kritiſchen Werth, mit vielen 
Defecten und Nadläffigfeiten abgebrudt; was aber alles Myller 
nicht gewußt at.” Den erften Theil hat Myller, nad} feiner eige- 
nen Notiz, aus der Hohenemfer Handſchrift erhalten, das Uehrige 
aber abbruden laſſen aus Bodmer's Ausgabe von Chriemhilden 
Rode, „doch fpricht er fo, als ob das eine Handiärift wäre.” 
Aber Bobmer habe diefe Hälfte des Nibelungenlieds aus dem St. 
Galliſchen Eoder genommen '). „Wird gefragt, welche Handſchrift 
die ältere, fo dürfte für die Hohenemfifche 2) zu entſcheiden fein, 
da, fo weit eine Bergleihung angeht, die Erzählung der andern 
weitfäuftiger und mehr in's Anmuthige gehalten ift. Freilich ift 
diefe vollſtändiger“ 3). Nachdem dann Grimm eine Anzahl einzel- 
ner Defecte und Mißgriffe der Myller'ſchen Ausgabe namhaft ge- 
macht hat, berichtigt er die grundfalſchen Vorftellungen über das 
Nibelungenlied, die damals noch gang und gäbe waren, weil fie 
ſich ſelbſt in ſonſt fo achtungswerthen Büchern fanden, mie Koch's 
Compendium. So insbeſondere die Annahme, Konrad von Würz⸗ 
burg ſei der Verfaſſer des Nibelungenliebs. „Demnach“, ſchließt 
Grimm feine bündige Widerlegung, „wäre ber Verfaſſer des Nibel⸗ 
ungen Liets unbelannt, wie es gewöhnlich bei allen Nationalge- 
dichten ift und fein muß, weil fie dem ganzen Wolfe zugehören, 
und alles Subjective zurüdjteht” . Ueber eine Tertausgabe, wie 





1) Rict aus dem St. Galliſchen, fondern aus dem anderen Hohenemſer 
Eoder (Lachmann's C) Hat Bodmer bie zweite Hälfte des Nib. genommen. 
Da von dem Dafein biefes Goder um 1807 niemand eine Ahnung hatte, fo 
lonnie natürlich auch Grimm nicht darauf Fommen. Erft im 3. 1812 Hat 
3.9. v. der Hagen bie Sache hiſtoriſch aufgehellt. S. oben ©. 336 fg. — 
9) D. 9. die jegt auf der Bibliothek zu München befindliche, ehemals Hohen» 
anfifge; Lachmann’ A. — 3) Reuer liter. Anzeiger 1807, Sp. 227. 

4) Chend. Sp. 230 fg. 


— — 


394 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


man fie wänfgen müffe, ſpricht Grimm fon Hier ſich fo aus: 
„Bei den Mängeln ber Mylleriſchen Ausgabe ift es vor allem 
nöthig, einen kritiſch berichtigten Tert zu Kiefern. Der Coder von 
Hohenems ſcheint der älteſte; er ift aber defect, und am beiten 
legte man ben zu St. Gallen zum Grunde. Aber höchſt intereffant, 
fat nothwendig ift es, von andern Manuferipten Varianten, wo 
fie beutend find, zu liefern. Es ift für die Geſchichte der Poeſie 
äußerft lehrreich, zu fehen, wie dasſelbe Gedicht in dem Fortgange 
der Zeit mobificiert und verändert wurde, eine Nüdficht, die man 
vernachläſſigt und geglaubt Hat, daß das älteſte Manufcript ge 
rabezu alle andern unnüg made“ 1). 

Eine eingehende Beurtheilung von Hagen's und Büſching's 
Deutſchen Gedihten des Mittelalters, die J. Grimm im Jahr 
gang 1809 der Heidelberger Jahrbücher lieferte, zeigt ung, wie et 
ſchon damals Hagen's Art und Weije gegenüber feine Stellung 
nahm. Er verfagt zwar der Gelehrſamkeit und den anderweitigen 
Berdienften der Herausgeber feine Anerkennung nicht, zugleich aber 
bedt er aud die ſchwachen Seiten ihrer Leijtung mit aller Schärfe 
auf?). Er führt dabei nicht nur die Unterſuchung über die Quel- 
Ien der von Hagen und Büſching herausgegebenen Gedichte weſent⸗ 
lid weiter, fondern er zeigt namentlich aud in Bezug auf die Be 
handlung ber Terte feinen überlegenen Scharffinn. Es tritt uns 
gleich hier die verſchiedene Anficht entgegen, die Grimm von ber 
Aufgabe des Herausgebers altdeutſcher Terte hegt. Die weitläufi- 
gen Beſchreibungen aller Aeußerlifeiten der Handſchriften weilt er 
zurüd. Dafür aber fordert er eine forgfältige und einfichtige Be 
handlung der Texte, wozu die bloße Aufzeihnung aller Schreib 
fehler und Nadläffigfeiten ber zufällig auf uns gekommenen jungen 
und ſchlechten Handſchrift nicht genügt. Insbeſondere weift Grimm 
nad, daß der Herausgeber das eigenthümliche Versmaß in dem 
zweiten, hier mit Unrecht vorangebrudten Theil des Morolf* niht 
ertannt hat, und zeigt, welche Bortheile zur Herftellung eines ver 
borbenen Textes die Stellung der Reime in der Strophe bietet. 

1) Ebend. Ep. 241. — 2) Heibelb. Jahrbücher ber Lit. 1809, Fünfte 
Abtheilung, Zweiter Band, S. 148 — 164. 210 — 224. 249 —259. 


Das Leben und die Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 805 


Jocob Grimm's Streit mit Docen und Fr. H. von ber Hagen 
über die Minnefänger und Meifterfänger. 


Gleich in feiner erften veröffentlichten Arbeit, den Bemerk⸗ 
ungen zu Adelung's Nachrichten im Neuen literarifhen Anzeiger, 
hatte Jacob Grimm den Wunſch ausgeſprochen, daß der Text des 
Bartburgfriegs „einmal kritiſch conftitwiert und mit Begleitung 
eines Commentars herausgegeben würde“, und zugleih den Ger 
danken hingeworfen, daß man babei „vortrefflihe Gelegenheit ha- 
ben würde, die fo verbreitete, als ungründliche, zum wenigſten 
angründlich aufgefaßte Unterjheidung zwiſchen Minne- und Meifter- 
gefang von Grund aus zu widerlegen” 1). Nicht lange darauf am 
9. Juni 1807 veröffentlichte er in demſelben Blatt einen Aufſatz 
unter Ver Ueberſchrift: „Etwas über ben Meifter- und Minnege— 
fang“). Diefer kurze, kaum drei Spalten füllende Aufjag ift 
höchſt harakteriftifch für Grimm's ganzes Wejen. „ES ift nicht viel 
länger, fo beginnt er, als ein Jahr, daß ich mich mit dem Stu- 
dium der altdeutſchen Poeſie und deren Geſchichte (welcher genauere 
Lenntniß und Einfiht den Aufwand vieler Jahre erfordert) abge- 
geben habe; was mir aber darin unter andern beſonders aufge- 
fallen ift, war der unbeftimmte, fhranfende Unterjhied, den man 
wilden Minne⸗ und Meiftergejang zu machen pflegt, und ber fi 
in Compendien und bei jeder anderen Gelegenheit wieder findet. 
36 dachte anfangs, es ließe ſich eine feſtere Grenzlinie zwiſchen 
beiden Arten ziehen, bin aber darüber auf ganz andere Unterjud- 
ungen und Reſultate gerathen. Und da neulich anderswo barauf 
gedeutet worden ift, fo halte ich es nicht für unſchicklich, mich jet 
darüber, wenn gleich kurz und ohne Beifügung der Beweiſe auszu⸗ 
laſſen und zu allenfallfigen Widerfprügen aufzufodern. Auch — 
fo wie es Bilder gibt, welchen man wohl, ohne weitere Wiffen- 
ſcaft vom abgebildeten Gegenftande, ihre Wahrheit anfehen kann, 
fo bin ih faft der Meinung, man werde das hier Behauptete fo 





1) Neuer Literer. Anzeiger 1807, 24. Märs. — 2) Gbend. 1807, 
9. Im. « 


396 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


wenig unwahrſcheinlich finden, daß ſich felbft in Jedes eigenem 
Stubium überraſchende Beftätigungen bazu ergreifen laſſen mögen. 
Sonft eigne ich mir überdem bei biefer Anſicht, ob ich fie fen 
für nen Halte, ein deſto geringeres Verdienſt an, als fie mir gar 
nicht ſchwer geworden ift, fonbern nad einigen angeftellten Be— 
mühungen plöglih und lebhaft vor Augen geftanden Bat, gleih 
einer Sache, die lang verfannt geweſen, wozu ich zwar nachher 
genug Belege gefunden, fie felbft aber nicht aus zufanmengetragenen 
Beweifen, wie ein mühfames Reſultat gezogen habe. Ich behaupte 
alfo: Der gemachte Unterſchied zwiſchen Minne- und Meiftergefang 
ift null und nichtig und (vielleicht alle) Minneſänger find ſelbſt und 
recht eigentliche Meifterfänger geweſen.“ Dies ift ber Kern von 
Grimm's Anfiht. Aus dem Folgenden heben wir nur noch her⸗ 
vor, was Grimm gleich hier über die relative Berechtigung jener 
Unterfheidung äußert. „Wenn alfo der Unterſchied zwiſchen Min- 
negefang und Meiftergefang wegfällt, fagt er, fo Kann man ben 
nod treffend genug bie beiden zur Bezeichnung zweier Perioden in 
der Geſchichte der Poefie fortgebrauchen, indem bie erfte ein Be 
ftreben umfaßt, bie Natur und Wirkung der Liebe auf das menſch⸗ 


liche Gemüth und dag Ritterthum in den fünftlichften Formen und 


bis zum Ermüden zu ſchildern (morin der völlige Verfall einer 
epiſchen Zeit war, und eines epifchen Charakter der Poefte: felbft 
bie erzählenden Gedichte durch diefen Hang voll lyriſcher Epifoden), 
bie zweite hingegen ſich allein an den zwangvollen Formen genügen 
ließ. Nur muß man nicht glauben, daß wie im der zweiten jener 
Inhalt untergieng, in ber erften au dieſe Kunft der Reime ge 
fehlt Hätte, und daß die erfte Periodifierung vom Inhalt herge 
nommen, bie zweite aber von ber Form entlehnt ſei. Kurz, ein 
jeder Miinnefänger ift aud ein Meifterfänger, aber man Tann nicht 
umlehren.“ 

Dies find die Grundzüge der Anſichten J. Grimm's über 
das Verhältnig des Minne- umd Meiftergefangs, und am biee 
zuerſt nur kurz und ohne Beweisführung hingeworfenen Gedanlen 
hat fih dann eine mehrjährige wiſſenſchaftliche Fehde angefmüpft, 
an welcher fi bie namhafteſten damaligen Vertreter der altbeut- 


Das Lehen und bie Arbeiten der Brüber Grimm Bis zum Jahr 1819. 897 


ſchen Studien: Grimm, Docen, Hagen, Biüſſching, betheiligten. 
Der Gegenftand der Fehde ift ſchon an fih von nicht geringem 
itereffe. Es Handelt fih um ein halbes Jahrtaufend aus ber 
Geſchichte unferer Poeſie. Es fragt fi, wie find die Lyriler bes 
zwölften und breizehnten Jahrhunderts anzufehen, und in weldem 
Verhaltniß ftehen fie zu den Meifterfängern des fünfzehnten und 
fedgenten. Der Streit gewinnt aber an Syntereffe durch bie käm⸗ 
pfenden Perſönlichteiten. Zwiſchen den ſchon anerkannten, ja raſch 
berühmt gewordenen Vertretern der altdeutſchen Studien, ſehen 
wir einen anfänglich noch faſt ganz unbelannten „Kriegsſecretär 
Grinm in Kaſſel“ auftauchen, und es dauert nicht lange, fo muß 
jeder Einfichtige, mag er über den Gegenftand ſelbſt denken, wie er 
wi, fich überzeugen, daß Bier der Mann auf den Plan getreten 
ift, deſſen weit überlegener Begabung die Zukunft gehört. Dem 
das ift die weit über ben fpeciellen Gegenſtand hinausgehende Be- 
deutung biefes Streites, daß fi an die Erörterung der befonberen 
Frage über den Minne- und Meiftergefang die Darlegung ber 
Anfohten knüpft, die Jacob Grimm über Vollspoefie und Kunft- 
poefie und über das Verhältniß beider zur Sage hegte. 

Was aber den Eifer betrifft, mit welchem bie fi) gegenüber- 
ftehenden Gelehrten fo manchen einzelnen, ung jegt vielleicht weni- 
ger wichtig ſcheinenden Punkt durchgeſtritten haben, fo wollen wir 
an die Worte erinnern, bie damals der gründliche und ehrliche 
Docen in einer feiner Erwiderungen ausgeſprochen Hat. „Freilich 
wird es nicht am ſolchen fehlen, fagt er, bie biefe umſtändlichen 
Unterfugungen für überfläffig, die Frage überhaupt für unbedeutend 
halten. Diefe beventen nicht, daß nur durch das lebhafte Beftreben, 
alles Einzelne zu erforſchen und in unſere Gewalt zu Bringen, wir 
3n jener grünbliheren Kenntniß des klaſſiſchen Alterthums gelangen 
lonnten, bie auf alles Treffliche, was unfere neuere Literatur be» 
fit, fo vielfältigen Einfluß gehabt hat; daß wir alfo eben dieſen 
Weg nicht ſcheuen dürfen, um von unferm eignen Alterthum eine 
beſſere Kunde zu erhalten, der ein gleich wohlthätiger Einfluß aufe 
behalten zu fein fcheint. Vorübergehend zwar wird mander Streit 
ud mande Arbeit auf diefem Wege jein, aber nicht fruchtlos; 


398 Drims Bud. Drittes Kapitel, 


was mühjam nad) und nad) gewonnen worben, ftellt nachher fih 
frei, zuverläſſig und belehrend für Alle dar; des leiten Beſites 
freut fi Jeder, und Keiner fühlt mehr die Schwierigfeiten, bie 
man der Erringung auch einer mäßigen Einſicht opfern mußte” !).. 

Nachdem X. Grimm feine gedrungenen Säge über Minne 
und Meifterjänger hingemworfen hatte, gab gleich in der folgenden 
Numer des neuen literarifchen Anzeiger8 vom 16. Juni 1807 
Dosen eine Entgegnung. Er weift auf den völlig ſchwungloſen, 
Höglihen Mechanismus der handwerksmäßigen Meifterjängerei des 
14. bis 16. Jahrhunderts hin und ftellt ihnen bie echte und edle 
Kunft der Dichter des 13. Jahrhunderts gegenüber. Da er aber 
nicht in Abrede ftelfen Tann, daß and dieſe Dichter ſchon als 
„Meijter“ bezeichnet werben, fo madt er den Vorſchlag, die Mer 
fter des 13. Jahrhunderts „Meifter- Singer“, die fpäteren bagegen 
„Meifter-Eänger” zu nennen. So wunderlih und unbrauchbar 
dieſe Namengebung erſcheint, jo läßt fih doch nicht läugnen, daß 
Docen gerade in biefem Theil feiner Abhandlung vieles Richtige 
vorbringt. „Ueber ihre (der Meifter- Singer) nachherige Ausartung, 
fagt er, hier aur Folgendes: Nachdem das Intereſſe an ber Kunſt 
fo wie ihre inmere Kraft bald nach dem Anfange des 14. Jahr⸗ 
hunderts verſchwand, fo erbte fi bie Form auf ben Handwerls ⸗ 
ftand über; Hier erzeugten fi num alle jene grellen Grjcheimangen, 
die jede Production menſchlicher Weisheit endlich herworzubringen 
pflegt, nachdem Geiſt und Leben ihres kräftigeren Dafeins ent 
wichen ift; man denle an bie veihsftäbtiigen Formalitäten, und 
wie jedem beliebt, am viele andere ähnliche Dinge im Leben und 
in ber Kunſt“ 2). Ganz mit Recht verwahrt fih dann Docen ge 
gen die Folgerungen, die man aus bem Namen, „BRinnefinger‘ 
siehen Tünnte. Diefer Name fei erſt von Boducer aufgebracha wor 
den, und zwar fehr mit Unveht. Denn in der vom ihm mb 
Breitinger herausgegebenen „Sammlung von Binwefingerw‘ „Lomme 





1) Doren im Mufeum für Alideutſche Piteratur und Kumft her. von 
Hagen, Toren und Büfhing, ®b. I, Heft 2, Berlin 1810, ©. 489 fg. -- 
2) Docen im Reuen liter. Wmeiger 1807, Ep. 37% 


Das Leben und bie Arbeiten der Brüder Grimm bie zum Jahr 1819. 899 


keineswegs bloß die in aller Welt beſungene Liebe, fondern faft jede 
andere Seite der Menjhennatur (die in jenem Zeitalter eine An- 
tegung fand) zum Vorſchein“ i). So weit ſpricht Docen im Wer 
fentligen vihtige und für die damalige Zeit feineswegs überflüſſige 
Anfihten aus. Aber wie er nun im meiteren Verlauf der Ab- 
handlung dazu kommt, fi bei einer ſolchen Auffafjung der Sade 
in einen Gegenfag zu Grimm zu ftellen, das ift auf dem erften 
Bid nicht leicht einzufehen. „Herrn Grimm’s Anjiht, fagt ex, 
lehrt, der angenommene Unterſchied zwiſchen beiden [den Minne⸗ 
und Meifterjängern] in NRüdficht der Form ihrer Gedichte fei null 
und nictig; (vielleicht alle) Minnejänger feien recht eigentliche 
Deifterfänger geweſen“ 2). Aber dagegen fei zuvörderſt zu erin- 
nem, daß Hr. Grimm „durd die Nichtachtung der mannigfaltigen 
Berigiebenheit der Gegenftände (des Minne- und Meifterge- 
fange) fich felöft den Weg verbaut hat. Hieraus entitand der 
weite ungleich größere Fehler, daß von Seiten der Form bie 
Sache ohne alle nähere Prüfung von ber Hand gelafjen wurde“ 3). 
Darauf antwortet nun Grimm in der Numer vom 27. October 
des Neuen literariſchen Anzeiger mit feiner Abhandlung: „Beweis, 
daß der Minneſang Meiftergejang iſt.“ Hier tritt Grimm den Ber 
weis an für feine früher nur als Ariome aufgefteliten Behaupt⸗ 
ungen. Wir gehen nicht näher auf den Bier gelieferten Beweis 
ein, weil derſelbe danıı eimige Jahre fpäter in Grimm's Buch über 
den altdeutſchen Wieiftergefang viel umfaſſender ausgeführt worden 
iſt. Die Redaction des Neuen literarischen Anzeiger, welcher 
Docen nahe ftand, behandelte Grimm's Zujendung mit gehühren- 
der Achtung. „Die Medaction, heißt es in einer vorausgeſchickten 
Bemerkung, hielt e8 für zweckmäßig, diefen intereffanten Aufiag des 
Hrn. Grimm ungeachtet feiner Länge gleich vollftändig dem Publi» 
am mitzutheilen.” Docen's Hinzugefügte kurze Entgegnungen 
find nicht ohne Vitterfeit 4), aber doch merkt er recht wohl, von 





1) Ebend. Sp. 378. — 2) Ebend. Sp. 374. — 8) Ebenb. in ber 


dur Zufall verjpäteten Fortjefung Sp. 535. — 4) Bol. 1. 8. Sp. 686 
die Aum. 4. 


400 Drittes Bud), Drittes Kapitel, 


weldem Schlag fein Gegner ift. Nicht fo Friedrich Heinrich von 
ber Hagen. In Nr. 6 vom 9. Februar 1808 des Neuen Fiterari- 
ſchen Anzeigers miſcht er fi in ben Streit mit einer Abhandlung: 
„Minnelied und Meiftergefang.” „Ohne mir ein fdjiebsricter- 
liches Anfehen anzumaßen in dem hierüber erhobenen Streit, jo 
beginnt er, wird es doch vergönnt fein, in biefer für die Geſchichte 
der altdeutſchen Poeſie wichtigen Sache auch meine umvorgreiflihe 
Stimme anzugeben. Ich werde mehr nur meine gegemvärtige 
Vorſtellung darlegen; das Urtheil über die Mitftreiter wird dadurch 
von felöft Herausfallen.“ Hierauf holt dann Hagen fehr weit aus, 
von ben „gewiß echt deutſchen“ Barden kommt er zu den Skandi⸗ 
naviern und endlich zu ben „Minnefingern, bei welchem Namen in 
ihrer fhönen poetifhen Zeit, wo Minne, ob bie irbifche, geiftige 
ober himmliſche (caritas), das Alles bewegende Princip war, es 
bewenben muß“ 1), und endlich auf den Meiftergefang. Wir wol 
Ten durchaus nicht Lingnen, daß Hagen mandes Wahre vorbringt. 
Aber nicht nur der hohe Ton, den er Grimm gegenüber an- 
ſchlägt?), macht jegt auf ung einen ſeltſamen Einbrud, wenn wir 
auf die geiftige Kraft beider Männer und ihre geſammten Leift- 
ungen zurüdbliden, fondern aud das theilweife Richtige in Ha 
gen's Aeußerungen ift mit einem Uebermaß von Schiefem gepaart. 
Sein endliches Ergebniß ift: „Der Meiftergefang ift gan 
etwas Neues und Eigenes. Der frühere Minnegefang war [gen 
ganz verſchollen und für jenen fo gut wie gar nicht vorhanden, 
und ift umd bedeutet in ber That und Wahrheit, im inmerften 
Geiſt und Form, fo wie in der Auferen Erfheinung und Umgeb- 
ung, durchaus etwas Anderes, Höheres“ °). 


1) Neuer lit. Anzeiger 1808, Sp. 88. — 2) Bol. z. B. aufer dem 
oben mitgeteilten Eingang Sp. 84 u.: — „fo Heißt das bie Frage in 
Nichts verflügtigen, unb beffer wäre geſchwiegen.“ gl. aud ben BSriej 
Hagen's an Docen im Mufeum für Altdeutje Sit. und Kunft I, 6. 76, 
Ann. — 3) Ebend. Sp. 101 fg. — Ich darf meine Auszüge aus Hagen’s 
Abhandlung nicht weiter ausdehnen, bemerke deshalb nur beiläufig noch, dab - 
auch in dem Ep. 99 über das VBoltlieb Geſagien ein Stüd Wahrpeit zwilden 


Das Leben unb bie Arbeiten ber -Brüber Grimm Bis zum Jahr 1819. 401 


Noch gab im Neuen literarifchen Anzeiger Hagen’s Freund 
Biihing dankenswerthe thatſächliche Bereiherungen zur Kenntniß 
des Meiftergefangs, beſonders aus ben beiden Meifterliederhand- 
friften bes Profeſſor Nüdiger in Halle‘). Dann aber zog ſich 
der Streit in eine ambere Zeitſchrift hinüber, nämlich in das von 
Hagen, Docen und Büſching herausgegebene Mufeum für Altbeut- 
{de Literatur und Kunſt. Hier veröffentlihte Docen feine aus⸗ 
führlide Entgegnung auf Grimm's Annahmen in der Abhandlung: 
‚Ueber den Unterſchied und die gegenfeitigen Berhältniffe der Minne- 
amd Meifterfänger. Ein Beitrag zur GCharakteriftif der früheren 
Zeitalter der beutfchen Poeſie“ 2). Docen geht mit mehr Gründ⸗ 
lichleit zu Werke, als Hagen; aber es ift oft ſchwer zu fagen, was 
er eigentlich bezweckt, ob eine Widerlegung Grimm’, oder ben 
Nachweis, daß er glei von Anfang an dasſelbe gejagt habe, wie 
Grimm. In einigen Punkten bringt er Grimm entſchieden in’s 
Gerränge, und wir werden fehen, daß Grimm fi da genöthigt 
fießt, feine Anfichten zurüdgunehmen oder doc einzuſchränken. So 
mern Grimm ſchon die Dichter des 13. Jahrhunderts in dem 
Sinn als Meifterjänger aufgefaßt Hatte, daß fie „eine gewiſſe Ger 
ſellſchaft· gebildet hätten „mit mancherlei Uebereinkunft und Ber 
fugniſſen“ 3). Ganz befonders anzuerkennen ift der anftändige und 
abtungsvolle Ton, mit dem Docen feinen Gegner behandelt. 


dem Itrigen fledt, und daß Hagen überhaupt mit Docen bie Eigenthümlich- 
kit teilt, was er in dem einen Gab behauptet, in dem nädjften ganz oder 
Yeitweife zutüczunehmen. — 1) Neuer lit. Anz. 1808 Ep. 183 fg. — 
D Mufeum für Alideutſche Lit. und Kunft, her. von Hagen, Vüſching und 
Deren, 8b. I, Heft 1, Berlin 1809, ©. 73125, und Heft 2, Berlin 1810, 
6.445 —490. — 3) 3. Grimm im Neuen liter. Anz. 1807, 27. Oct. — 
Kur in der Anmerkung führe ih an, daß Docen (Mufeum für Alideutſche 
& u. Kunf I, 16. 100) eine Stelle aus Adelung's Magazin für die 
Deufge Sprache (II, 3, ©. 6) beibringt, worin biefer die ,Schwabiſchen 
Dichter. für identiſch mit den fpäteren Meifterfängern ertlärt. (S. o. ©. 236). 
Docen ſelbſt fügt Hinzu, daß Grimm feine Anfiht ohne Zweifel nicht von 
Welung entlehnt habe, umb allerdings heißt es hier, wenn irgendwo: Duo 
quum faciunt idem, non est idem. 
Raumer, Gejä. der germ. Ppllalsgle. 26 


402 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


„Grimm wird daher, fagt Docen am Schluß, tm Fall ihm bie 
fernere Behauptung feiner Meinung am Herzen liegt, ſich noth⸗ 
wendig nad anderen Beweifen umſehen müſſen. Hätte ih ihn, 
wiber Wiffen und Willen, irgendwo nicht recht verftanden ober 
mißdeutet: fo möge er mit neuer und größerer Klarheit und Be 
ſtimmtheit dieſe Seiten feiner Anſicht wieder darlegen. Allein ich 
müßte mich ſehr irren, wenn er fie gegenwärtig nicht mehr zu ber 
grängen, auszubilden und der geſchichtlichen Wahrheit näher zu 
bringen veranlaft werben würde. Auch id; habe feit ber Grfchein- 
ung des Grimmifchen Beweiſes das Unrichtige meiner erften Wir 
derlegung einſehen gelernt, und bin nunmehr weit entfernt, bieie 
als mein endliches Urtheil in umferer ftreitigen Frage anzuerkennen. 
Ein Tag lehrt den andern, gilt von jedem Stubinm, und mo 
möchte diefes Wort wohl mehr an feinem Plage fein, wie in bem 
noch fo unbelannten Gebiet ber altdeutſchen Literaturꝰ“ 1). 


Jacob Grimm's erfte ſelbſtändig erſchienene Druckſchrift: „Ueber 
den altbeutſchen Meiſtergeſang.“ Unterſcheidung von Ratur 
und Kunſtpoeſie. 

Was Docen am Schluß feiner fo eben beſprochenen Abhaud ⸗ 
fung geforbert hatte, daS leiſtete J. Grimm in feinem erften 
ſelbſtandig erfhienenen Buch, bas von feiner Seite den Abſchluß 
dieſer ganzen literariſchen Fehde bildet. Er hatte deſſen Juhalt 
urſprünglich für von der Hagen's Muſeum beſtimmt; da aber zu⸗ 
fällige Umſtände die Antwort der Berliner Herausgeber verfpäteten, 
hatte Grimm inzwiſchen mit ber Dieterichihen Buchhandlung in 
Göttingen die felbftändige Publication verabredet 2). So erſchien zu 
Göttingen wit der Jahrzahl 1811 (die Vorrede ift unterzeichnet 
am 19. Auguſt 1810): „Ueber ben altdeutſchen Meiſtergeſang 
Bon Jacob Grimm." Hier gibt nun Grimm über das, was et 
zuerſt nur ohne Beweis Hingeftellt, dann bloß Kurz und abgerifien 
geftägt Hatte, ansführliche umd einbringende Rechenſchaft. Eine 

1) Docen im Muf. für Mtbentfge Lit. und Zunſt Ba IL, He 3 


Berlin 1810, ©. 489. — 2) 3. Grimm, Ueber ben altbeuifcen Weiferge 
fang, Bor. ©. 8. 


Des Leben umb bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 408 


Ginleitung, welche ven Verlauf bes geführten Streits barlegt, er⸗ 
Üfuet das Ganze. Dann folgt eine „Ueberfiht ber Meifterhumft 
von Anfang bis zu Ende.” Darauf gibt der Verfaffer die inneren 
Beweife für feine Anfiht und widerlegt eingehend die ihm ger 
mochten Einwendungen; und baran fließen fih in ähnlicher Art 
die äußeren Beweiſe. Im nädften Abſchnitt beipriht Grimm bas 
Berhältuiß des Meiftergefangs zur übrigen altveutihen Poefie, und 
zwar erftens zur Vollspoeſie und zweitens zu ben erzählenden und 
Epruchgedichten. Endlich thut er noch einen Ausblick auf die Poeſie 
anderer europäiſcher Völler, nämlich die der Provenzalen, Fran⸗ 
wien, Niederländer, Skandinaven und Engländer. 

In diefer Ausführung fehen wir nun in den tiefen Born, aus 
den die erften Gedanken Grimm's fo plöglid und unvermittelt 
hervorbrachen. Der ganzen Anſicht über ben Meiftergefang liegt 
bie Unterſcheidung von Natur⸗ und Kumftpoefie zu Grumde. „Ich 
habe einigemal, fagt Grimm Hier in der Vorrebe, den Unterſchied 
wilden Natur- und Kunftpoefie beftimmt vorausgefegt. Die Ver 
[Giebenheit deſſen, was unter dem ganzen Volt lebt, von allem 
dem, was durch das Nachſinnen der bildenden Menſchen an befien 
Stelle eingefeigt werben fol, leuchtet über die Geſchichte der Pocfie, 
mb dieſe Erkenntniß allein verftattet e8 uns, auf ihre innerften 
Wern zu ſchauen, bis wo fie fid flechtend in einander verlaufen. 
E ift, als ziehe ſich eine große Einfachheit zurüd und verſchließe 
fi in dem Maße, worin der Menſch nad; feinem göttlichen Trei⸗ 
ben fie aus ber eigenen Kraft zu offenbaren ſtrebt. Da nun die 
Borfie nichts anders ift, als das Lehen ſelbſt, gefaßt in Reinheit 
und gehalten im Zauber der Sprache, (melde in fo fern mit Recht 
eine himmliſche genannt und ber Profa entgegengeftelit werben 
darf), fo theilt fie fi in die Herrihaft der Natur über alle Herzen, 
wo ihr noch Jedes als einer Verwanbtin in's Auge ficht, ohne 
fe je zu betrachten; und in das Reich des menfchlichen Geiftes, der 
fh gleichſam von der erften Frau abſcheidet, als deren Hohe Züge 
ihm nah und nad fremb und ſeltſam däuchen. Man kann bie 
Raturpoeſie das Leben in ber veinen Handlung jeldft nennen, ein 
lebendiges Bud; wahrer Geſchichte voll, das man auf jedem Blatt 

26* 


404 Drittes Bud. Drittes Kapitel, 


mag anfangen zu lejen und zu verftehen, nimmer aber aublieft, 
noch durchverſteht. Die Kunftpoefie ift eine Arbeit des Lebens und 
fen im erften Keim philofophiiger Art. In den Heldengefängen 
veiht nur noch ein Zweig aus der alten Naturpoefie in unſer 
Lund herüber, die Freude, das Eigenthum bes Volks. an feinen 
geliebten Königen und Herren muß fih, fo zu fagen, non felber 
an und fortgefungen haben. Ueber ber Urt, wie das zuge 
gangen, liegt der Schleier eines Geheinmiſſes gebedt, an bas 
man Glauben haben foll.. Denn die Läugner, die fich bafür 
lieber mit einer dürren Wahrſcheinlichkeit behelfen wollen, brin- 
gen Syfteme auf, welche man mit Wahrheit widerlegen kann und 
nad) denen ihnen Nichts übrig bleibt“ '). „Die. Poefie ift fein 
Eigenthum der Dichter und das zu feiner Beit weniger geweſen als 
in ber epiſchen, ba fie, ein Blut, den ganzen Leib bes Bolks 
durchdrungen. Niemand weiß von Dichtern, geſchweige daß es die 
Nachwelt erfahren ſollte, aber bie Sänger ziehen in Haufen herum, 
und wen eine tönende Stimme zu Theil geworden, ober wer in 
ein treueres Gedächtniß alte Lieber und Sagen nieberlegen kann, 
da ihm das Licht der Augen entzogen worden,. der tritt hin vor 
König und Volt und fingt für Ehre und Gaben“ 2). Wenn. nun 
auch unter diefen Sängern „Erbſchaft und Lehre das. Amt bes Ge 
fanges fortpflanzten“, fo fam doch mit bem Kunftgefang der &y 
riler etwas Neues auf. „Daß in dem erblühenben Minneſang 
fagt Grimm, eine eigenthümlihe Kunft zu walten anfange, habe 
ich mic) zu zeigen bemüht und eben damit ben Urfprung des Me 
ftergefangs gefegt” ). Der Anfänger biefes Meiftergefanges. ift 
Heinrih von Veldeck“); und von da ab verläuft berjele in 
drei „Epochen.“ Die erfte Epoche bilden die Lyriler des 18. 
Jahrhunderts. „Die zweite Epoche ift fon viel früger vor 
bereitet, erſt im vierzehnten Jahrhundert bejonbers herorge 
gangen” 5). „Die Fürften ermüden der Minnelieder nad und nad, 
das Bolt kann fie nicht brauchen.“ „Der Meifter kehret ſich gan 

1) 3. Grimm, Ueber ben altbeutfgen Meiftergefang, ©. 5 ig. — 


9) Ebend. ©. 7. — 3) Ebend. ©. 8, — 4) Ebend. ©. 30. — 5) Ebend 
©. 31. 





Dss Beben umb bie Acheiten ber Brüber Grimm Bis zum Jahr 1819. 408 


feinem Gemüth zu, bie Luft, große Momane zu reimen, verliert 
fih, aber die Luft, den Weltlauf zu ergründen, bie göttlichen und 
menſchlichen Dinge zu betrachten, wird immer reger“ 1). „In der 
dritten Epoche, welche ih vom funfzehnten Jahrhundert bis an's 
Ende reine, wies es fih num mod; deutlicher aus, daß für bie 
Meifterpoefie die Zeit des Hoflebens und Wanderns vorüber.“ 
„Dagegen gerieth die Kumft in den Bürgerftand allmählich herab, 
nicht als ob vorher Teine Bürger derfelben theilhaftig geweſen, fon« 
dern weil jego eine Menge aus diefem Stand fie umfaßten und 
blühender als je machten, wenn man auf die Anzahl der Ausüben- 
den fieht, 2). Das, was diefe drei Perioden auf das engfte ver- 
bindet, ift die Gemeinfamfeit der metrifhen Form. „Ich wende 
mid nun zu dem, fagt Grimm, wo er auf die Unterjuhung ber 
Metra übergeht, was ih für den beften Leitftern unferer Unter» 
ſuchung, für das Charakteriftifde des Meifterfangs halte, um da 
durch, wofern es der früheren und fpäteren Zeit auf gleiche Art 
zukommt, meine Vorftellung zu rechtfertigen" °). Die „Regel“, die 
Grimm in dem ganzen Verlauf bes Meiftergefangs wieberfinbet, 
iſt die Dreitheiligfeit der Strophe. „In allen Meifterfängen jagt 
e, fowohl in den Minneliedern als in denen ber mittleren und 
legten Beriode erkenne ich folgenden Grundfag: Die ganze Strophe, 
oder das ganze Gefäß, hat drei Theile, davon find ſich die zwei 
erften gleich und ftehen in nothwendigem Band, der britte fteht 
allein und ift ihnen ungleich“ %. Diefen Say führt dann Grimm 
gegen alfe vorgebrachten Einwendungen dur und bejeitigt damit 
ein für allemal die Anfiht, die Leffing Hingeworfen und noch Ha⸗ 
gen feftgehalten hatte, als jet die Dreitheiligteit der Strophe eine 
Vefonderheit der Meiſterſänger bes 15. und 16. Jahrhunderts, die 
ihnen "direct aus dem Griechiſchen zugefommen fei. Im Verlauf 
feiner metriſchen Unterfuhungen fegt Grimm hier beiläufig auch 
das Wefen eines von der Dreitheiligkeit ausgenommenen Metrums: 
des Leis, in's Mlared). Auch fpriht Grimm in diejer Schrift 


1) @bend. S. 82. — 2) Ebend. 6.33. — 3) Ebend. 6.40. — 
4) Ebend. S. 48. — 5) Ebend. ©. 68 fg. 


zuerft den Gedanken aus, „daß bie Alliteration urſprunglich 
ihren Sig in der ganzen Poefte des deutſchen Sprachftanmms ges 
Habt hat“ ij. — Ebenſo hebt Grimm. hier zuerft den fir bie alt- 
deutſche Poefie fo wichtigen Unterſchied zwiſchen Singen und &a- 
gen hervor ?). 

Was die äußeren Beweiſe für bie Zufammengehörigteit ber 
älteren Minne- und ber fpäteren Meifterfänger betrifft, fo Hält 
Grimm zwar an der Annahme feit, daß eine gewiffe Verbindung 
auch unter den früheren Meiftern beftanden habe, erlärt aber zu 
glei, „eine fo förmliche Geſellſchaft, als fpäter daraus geworben, 
in diefer Frühe anzunehmen, fei ihm nie in den Sinn gelommen“ ?). 
Bas den Namen betrifft, jo kommt Grimm zu dem Ergebniß: 
„Unfere Dichter haben fon im Anfang Meifter geheißen, bie Zeit 
zu beftimmen, wenn fte fi den Namen ganz zu eigen gemacht, 
fällt aber unmöglig” 4. — Den verſchiedenen Charatter ber 
Perioden, die fein einer Meiftergefang durchlaufen hat, wußte 
übrigens Grimm recht wohl zu unterſcheiden. „Dritte Periode, 
fagt er in einem der früheren Auffäge, bloßer Meiſtergeſang, bloße 
leere in langweiligen Allegorien beſchäftigte Form“ 5). In unferer 
Schrift wahrt er nun zwar dem ſpäteren Meiftergefang mit Recht 
ein geroiffes ſittliches Verdienſt e), ihn aber am poetiſchem Werth 
mit dem alten Minne- und Meiftergefang des 13. Jahrhunderts 
zu vergleichen, fällt ihm nicht ein. Vielmehr fdildert er dieſen mit 
den jhönen Worten: „Diefe Dichter haben ſich ſelbſt Nachtigallen 
genannt, und gewißlich könnte mar auch durch fein Gleichniß, als 
das des Vogelſangs, ihren überreihen, nie zu erfaflenden Ton 
treffender ausdrüden, in weldem jeden Augenblick die alten Schläge 
in immer neuer Modulation wieberfommen. An der jugendlichen 
feifhen Weinnepoefie hat alle Kunft ein Anfehen der Natürlichleit 
gewonnen, und fie ift auf gewiſſe Weife au nur natürlich; mie 
bat vorher, noch nachher eine fo unſchuldige, liebevolle, unge 


1) Ebend. 6. 166. — 2) Ebend. ©. 197. — 8) Ebendb. 6. 76 4. 
Bel. auch S. 118. — 4) Ebend. 6. 101. — 5) J. Grimm im Rem 
fiterar. Anzeiger 1807, Ep. 676, — 6) Altbetihe Meifergefang © 9 


Das Leben unb bie Arbeiten ber VBrüber Grimm bis zum Jahr 1819. 407 


henhelte Poeſie die Bruſt bes Menſchen verlaffen, um ben Boben 
ber Welt zu betreten, und man darf in Wahrheit fagen, daß von 
feinem dichtenden Wolf die geheimmißvolle Natur des Reims in 
folder Maße erlannt und jo offenbar gebraucht worden“ 1). 

Als einer der ſchwierigſten Punkte erfeint Grimm felhft bas 
Verhãltniß dieſer Tunftreihen und doch fo natürlichen Lyrik zur 
Bollspoefie. Unter den einfachſten Liedern befonders ber Alteften 
Dinnefänger finden ſich mande, die fih unmittelbar an bie For⸗ 
men des Bollsgefangs anſchließen. „Man dürfte Tühnlih, fagt 
Grimm, einzelne Strophen der einfachen vierzeiligen Lieder in der 
Maneſſiſchen Sammlung in die Nibelungen einſchalten, wo fie nidt 
fören würden” 2). Da aber Grimm annimmt, aud bie altbeutfche 
Nunftpoefte fei auf einheimifhem Boden und Teineswegs „aus 
fremder Quelle oder Anregung entfprungen* ®), jo Tann er fi} die 
Sache in folgender Weife erflären. „Da ih anmehme, fagt er, 
daß der Meifterfang nicht allein bie Sitte der Vollksdichter beibe⸗ 
halten, fonbern auch fein eigenes Princip aus bem Bollsgefang 
geſchöpft und nur äußerlich aufgeftelt und fortgeführt Hat, fo finde 
ich es gang natürlich, daß die Form biefer einfachen Sieber an ben 
Bollsgefang erinnere“ 4). 

Meberall zieht e3 “acob Grimm. zum Vollsthümlichen, Ein 
fachen, und wir fehen ihm bei einem großen Theil dieſer Erſtlings⸗ 
ſchrift weit mehr mit ftrenger Gewiffenhaftigfeit, als mit Bingeben- 
der Neigung arbeiten. „Diefer Gegenftand, erflärt er gleih in 
der Vorrede, ift einer der trockenſten und verwideltften in der alt- 
deutſchen Poeſie überhaupt und in keiner Hinficht dem jchon in der 
Arbeit überall erfreuenden und im Nefultat viel reicher lohnenden 
Studium der poetiſchen Sagen an Seite zu fegen, weldem id 
meine hauptſächlichſte Neigung zugewenbet” 5). 





1) Ebend. ©. 37 fg. — 2) Ebend. ©. 141 Anm. — 3) Ebend. 
6.12. — 4) Ebend. 6.48. — 5) Ebend. S. 4. i 


408 Drittes Buch. Drittes Kapitel. 


Jacob Grimm über bie Sage und ihr Berhältnig zur epifgen 
Poeſie und zur Geſchichte. 


Jacob Grimm's eigentlihes Lieblingsſtudium: bie Erforſchung 
der Sage und ihres Verhältniſſes zur epiſchen Poeſie, hat in dem 
exiten Abſchnitt feiner wiffenfhaftligen Thätigfeit, vom Jahr 1807 
bis zum Jahr 1811, nod zu feiner umfafjenderen Arbeit geführt. 
Vielmehr fehen wir ihn emfig beihäftigt, die Quellen der altdeut- 
ſchen Kunſtpoeſie: des Minne- und Meiftergefangs, nad allen 
Seiten ‚hin durchzuarbeiten. Es wird .aber nicht bloß der Zufall 
gervefen fein, der ihn zunächſt gegen feine eigentliche Neigung auf 
diefe Bahn trieb und fo lange darauf feithiele. Vielmehr hat es 
den Anſchein, als habe er das Bedürfniß gefühlt, fid ‚mit dieſer 
ganzen Seite der Poefie gründlich abzufinden, um fi dann deſto 
fiherer und ungeftörter feiner wirklichen Liebe: der Erforſchung der 
alten Sage, hingeben zu können. Aber wenn auch auf dieſem 

- Hauptgebiet Jocob Grimm’s jegt noch feine größere Arbeit zu 
Stande kommt, fo befigen wir bafür aus jener Zeit bereits einige 
um fo werthvollere Heine, die in dem Neichthum ihrer genialen Ge⸗ 
drungenheit bie Samenlürner zu. ber folgenden Thätigkeit bes großen 
Forfchers darbieten. Schon im Sept. 1807, bald nad, feinem erften 
Auftreten, veröffentlichte %. Grimm im -Mündner Neuen literari⸗ 
fen Anzeiger einen kurzen Auffag: „Won Uebereinftinmmung der 
alten Sagen“ 1). Im folgenden Jahr theilte er in ber „Zeitung 
für Einfiedler“, in den Blättern vom 4. und 7. Juni 1808 „es 
danfen, wie fi die Sagen zur Poefie und Geſchichte verhalten”, 
mit. Aus dieſen beiden Auffägen, zufammengenommen mit man 
chen anderen gelegentlichen Yeußerungen, 3. ®. in ber Anzeige von 
Hagen's und Büſching's Deutſchen Gedichten des Mittelalters im 
Jahrgang 1809 der Heidelberger Jahrbüder, fehen wir, wie 
früh ſchon fih bei · J. Grimm die Anſichten entwidelt Hatten, die 
wir dann jpäter in einigen feiner berühmteften Werke weiter ge 
bildet finden. „Die Geſchichte der alten Poefie, fagt Grimm, fol 


1) Reuer lit. Anzeiger 1807, 8. Sept, Sp. 568-570. 


Das Leben unb bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 400 


nichts Anders vorhaben, als die verſchiedene Geftalt zu erläutern 
und zu beſchreiben, worin die Sage erſchienen ift, und fie fo weit 
als möglich anf ihren Urfprung zurüdzuführen“ 1). „In der erften 
Zeit der Völler ftrömen Poeſie und Geſchichte in einem und dem⸗ 
felben Fluß; und wenn Homer von ben Griechen mit Recht ein 
Bater der Geſchichte gepriefen wird, fo bürfen wir nicht Länger 
Zweifel tragen, daß in den alten Nibelungen bie erſte Herrlichkeit 
deutſcher Geſchichte nur zu lange verborgen gelegen habe“ 2). „Treue 
ift in den Sagen zu finden, faft unbezweifelbare, weil die Sage 
fi ſelber ausſpricht und verbreitet, und bie Einfachheit der Zeiten 
und Menſchen, unter denen fie erhallt, wie alfer Erfindung an fid 
fremd, auch teiner bedarf. Daher Alles, was ‚wir in ihnen für 
unwahr erfennen, ift es nicht, inſofern e8 nad der alten Anficht 
des Volles von ber Wunberbarkeit der Natur gerade nur fo er- 
feinen und mit diefer Zunge ausgeſprochen werben kann. Und in 
allen den Sagen non Geiftern, Zwergen, Zauberern und unge 
heuern Wundern iſt ein ftiller, aber wahrhaftiger Grund vergraben, 
vor dem wir eine inmerlihe Scheu tragen, welde in reinen Ge⸗ 
müthern die Gebildetheit nimmer verwiiht Hat und aus jener ge» 
heimen Wahrheit zur Befriedigung aufgelöjet wird“ 9. „Im ven 
Sagen Bat das Volk feinen Glauben niedergelegt, den es von ber 
Natur aller Dinge hegend ift, und wie e8 ihn mit feiner Religion 
verflicht, die ihm ein unbegreifliches Heiligthum erſcheint voll Selig- 
machung· 4. „Wenn men Poeſie nichts Anders ift und fein 6) 
laun, als lebendige Exfaffung umd Durchdringung des Lebens, fo 
darf man nicht erſt fragen, ob buch die Sammlung biefer Sagen 
ein Dienft für die Poefte geſchehe. Denn fte find fo gewiß und 
eigentlich felber Poeſie, als ber Helle Himmel blau ift; und hoffent- 
lich wird die Geſchichte der Poefie noch ausführlich zu zeigen haben, 
daß die fämmtlichen Ueberrefte unferer altdeutſchen Poefie bloß auf 
einen lebendigen Grund von Sagen gebaut find und der Maßſtab 





1) deidelb. Jahtbb. 1809, Fünfte Abtheilung, Zweiter Band, ©. 155. — 
9 Being fr @infieler 1808, 7. Jun, &p. 158. — 8) Ebend. Ep- 138g, 
— 4) &bend. Sp. 154 fg. — 5) Es ſieht: fagen. 


410 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


ber Beurtheilung ihres eigenen Wertes darauf gerichtet werben 
muß, ob fie diefem Grund mehr ober weniger treulos geworden 
find“ 1). „Ewig nämlich ift unter allen Länder- und Völlerſchaften 
ein Unterſchied gegründet zwiſchen Natur⸗ und Kunſtpoeſie.“ m 
Epos halfen bie Thaten und Geſchichten durch das ganze Belt fort. 
In ber Runftpoefie dagegen gibt ein menſchliches Gemäth fein Su 
neres Bloß ?). „Es iſt ungereimt, ein Epos erfinden zu wollen, 
denn jebes Epos muß ſich feloft dichten, von feinem Dichter ge 
ſchrieben werden. Beweis find die Menge mißlungener Arbeiten 
in allen Nationen. Aus dieſer Bollsmäßigleit bes Epos ergibt 
ſich aud), daß es nirgends anders entfprungen fein Tann, als unter 
dem Volle, wo fi) die Geſchichte zugetragen hat" 3). 

So wie im Berlauf der Zeit die Kunftpoefie der Sage und 
ber aus ihr fließenden Naturpoefie gegenübertrat, fo ſcheidet fih 
anbrerjeits Poefie und Geſchichte. „Nachdem bie Bilbung dazwiſchen 
trat und ihre Herrſchaft ohne Unterlaß erweiterte, jo mußte, Poeſie 
und Geſchichte fi auseinander ſcheidend, die alte Poeſie aus dem 
Kreis ihrer Nationalität unter das gemeine Bolt, das der Bildung 
unbefümmerte, flüchten, in befien Mitte fie niemals untergegangen 
iſt, ſondern fi) fortgefegt und vermehrt hat, jedoch in zumehmenber 
Beengung und ohne Ahwehrung unvermeiblicher Einfläfle der Ge 
bildeten · 4. Sage und Geſchichte ftehen im Gegenfah zu einander 
Die Sage haltet frei mit Namen, Zeit umd Ort; „an jedem Orte 
vernimmmt man fie fo neu, Land und Boben angemefien, daß man 
ſchon darum bie Bermuthung aufgeben muß, als fei die Sage 
durch eine anderartige Betriebfamleit ber legten Jahrhunderte unter 
bie entleguen Geſchlechter getragen worben" 5). „Das ift bie wahre 


1) Ebend. Sp. 155. — 2) Bol. ebend. 4. Juni, Ep. 152 — 
3) 3. Grimm im Neuen lit. Ungeiger 1807, 8. Sept, Sp. 571, wo dann 
zugleich Docen’s Anfiht, als gehöre ber Sagenfreis von Karl bem Grafen 
nicht Frankreich, ſondern Stalien an, widerlegt wird, mit Ginmweifung auf die 
„vorhandenen aliftanzbſiſchen Romane, wovon das Wenigfte befannt und uw 
terjucht if.” — 4) I. Grimm in ber Zeitung für Ginfiehler, 7. Jai 
1808, &p. 153. — 5) @bend. Ep. 154. 


Das Leben und bie Arbeiten der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 411 


Bedeutung des Epiſchen, daß es durchaus vollimäßig fein, in ber 
gungen Nation fortleben, und fih, indem es bloß bie Sache ergreift 
ud fefthält, mit Vernachläffigung der Zeiten und Benennungen, 
bei derfelden Grundlage in einer Mannigfaltigfeit von Geftaltungen 
dargeben müffe" 1). Dem gegenüber bringt die Geſchichte auf 
„Sicherheit. „Das kritiſche Princip, welches in Wahrheit, feit es 
in unfere Geſchichte eingeführt worden, gewiſſermaßen ben veinen 
Gegenfag zu diefen Sagen gemadt und fie mit Verachtung ver⸗ 
foßen hat, bleibt an ſich, obſchon aus einer unvechten Beranlaffung 
qadlich ausgegangen, unbezweifelt; allein micht zu fehen, daß es 
noch eine Wahrheit gibt außer ben Urkunden, Diplomen und Chro- 
niten, das ift höchſt unkritiſch.“ Die Sagen follen num nicht mit 
der Geſchichte vermengt werden. „&8 würde thöricht ſein, die fo 
mühfen und nicht ohne große Opfer errungene Sicherheit unferer 
Geſchichte durch bie Einmiſchung der Unbeftimmtheit der Sagen in 
Gefahr zu bringen.“ Aber die Geſchichte foll ihre Dürre und 
Lanfeit aufgeben und ſich die innere Lebendigkeit der Sage und ber 
epiſchen Poeſie zum Vorbild nehmen, „als die Bewahrerin alles 
dertlichen und Großen, was unter dem menſchlichen Geſchlecht vor- 
get 2), und feines Siegs über das Schlechte und Unrechte, damit 
jeder Einzelne und ganze Völler fih an bem unentwendbaren 
ee ee: teöften, ermuthigen und ein Beiſpiel 
"3. 


Bilgelm Grimm’s Arbeiten von 1807 bis 1811. 


Wilgeln Grimm’s erfte Arbeiten 1807 bie 1810. 


Die Jacob Grimm, fo begann auch Wilhelm feine wiſſen⸗ 
ſcafiliche Thätigfeit mit Meineren und größeren Abhandlungen, bie 
& in Zeitſchriften veröffentlichte. Auch feine frühften Arbeiten ent« 
Hält der Mündner Neue literariſche Anzeiger. Zuerſt ein par 





1) 3. @rinmm im Neuen liter. Mnzeiger 1807, 8, Sept. Ep. 568. — 
200 Reit: verget. — 8) So glaube ich Die eiwas bunffe Anfrüpfung 
Dr Gicle im der Zeitung für Ginfiebler Ep. 156 verfehen zu bücfen. 


412 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


Beine: „Einige Bemerkungen zu dem altbeutfäjen 1) Roman Wil⸗ 
heim von Oranſe“ in der Numer vom 26. Mai 1807, um: 
„Ueber bie Originalität bes Nibelungenlieds und des Helden 
buch“ 2); dann eine größere: „Beitrag zu einem Verzeichniß ber 
Dichter des Mittelalters“ 3). Charalteriſtiſch fir Wilhelm Grimm's 
Weſen find die Worte, mit denen er biefe etwas umfangreichere 
Arbeit beginnt: „Die Geſchichte ‘der deutſchen Poefle des Mittel: 
alters geht ungefähr mit dem 15. Jahrhundert zu Ende. Wenn 
es nun wahr ift, daß erft eine völlige Durchdringung und Beherr- 
fung des Details mögli macht, gedeihliche Refultate aufzuſtellen, 
(wobei auch keineswegs braucht befürchtet zu werben, daß fid bie 
Anſicht für das Ganze verliere) fo Tann Niemand bie Sorgfalt, 
auch das Geringere und unbebeutend Scheinende in biefer Be 
riode zu berüdfictigen, verwerfli finden; Eins fteht mit dem 
Andern in Verbindung und Märt ſich gegemfeitig auf.” Im barauf 
folgenden Jahr 1808 betheiligte fih Wilhelm Grimm an ber Zei- 
tung für Einſiedler dur die erfte Veröffentlihung von ihm übers 
fetter altdäniſcher Helvenlieder und Romanzen 9). 

In den Heidelbergiſchen Jahrblchern der Literatur vom Jahr 
1809 5) lieferte W. Grimm eine ausführlihe Beurtheilung der 
Hagen'ſchen Ausgabe des Nibelungenlieds vom Jahr 1807. Diele 
Kritik ift beſonders dadurch merhvürbig, daß W. Grimm Hier feine 
Anfihten über das Romantifhe und über Weſen und Werth der 
verſchiedenen mittelhochdeutſchen Dichtungen niederlegt. „Buerft 
alſo, ſagt er, diejenigen Gedichte, die man unter dem Namen ber 
Romantiſchen vernünftiger Weile begreifen Tann, find die aus bem 
Romanzo überfegten, und hier müffen wir aufrichtig geftehen, dah 
wir ſolche keineswegs für jene unübertrefflichen Rittergebichte Halten, 
für die fie Häufig ausgegeben werden“ 9). „Eine umbeſchreibliche 

i) Die Schreibung „altteutſchen“ wirb von ber Rebaction herrühren; ich 
Habe fie deshalb nicht beibehalten. — 2) 1807, d. 28. Juli. — 3) 180, 
ben 4. Rov. — 4) Zeitung für Einfiebler 1808, 20. April. 7. Mei 
15. Juni. 18. Zuni. 12, Zul. — 5) Heibelb. Jahrbücher, 1809, günte 
Abteilung, Erſter Band, ©. 179-189 u. 238252. — 6).Ehenb.-& 10. 


Dos Leben und bie Arbeiten. der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 418 


Geſchwãtzigkeit drängt fi durch die Geſchichte und treibt fie, mit 
Vernichtung jedes Intereſſe, nach allen Seiten Hin, wie Saune oder 
Zufall will. Ya, man hat durchgehends den Eindrud, als fei die 
Durftellung ber Geſchichte das Außerweſentliche, bloß vorgenommen, 
um darüber reden zu können“ ?).. Diefer romantiſchen Poefte fteht 
gegenüber als ein. Wefen völlig andrer Art „das Wichtigſte und 
Größte im der altdeutſchen Poeſie“: das Nibelungenlied. „Wem 
man die Mälleriie Sammlung zur Hand nimmt und lieſt das 
Ged der Nibelungen neben den andern, fo erfisunt man, wie es 
in.diefe Geſellſchaft gekommen, das. jo groß und fo umenblic viel 
hoͤher fteht, daß ihm. Richts von der. romantiſchen Porfte an bie 
Seite gejegt ober nur verglien werden Tann.“ „m ihm. wurde 
‚halten, was nicht wieder erjegt. werben konnte, das Bild einer 


vergangenen Zeit,. in welcher. ein großes Leben frei, herrlich und 


dod) wieber jo menſchlich erſcheint“ ?).. 

Berglichen.mit dieſen Grundanſichten über bie altveutjche. Poe- 
fie, wie fie W. Grimm Bier. dann weiter and im Einzelnen ent» 
widelt,. ift fein fpecieller. Tadel des Hagen'ſchen. Nibelungenlievs 
jegt von geringerem Intereſſe. Aber für bie Yortentwidlung der 
Biffenfhaft war dieſer vernichtende Angriff von ſehr großem 
Beth. Grimm erflärt fih nämlich auf das entjchievenfte gegen 
die Art von Mobernifteren, wobei „bie alten Formen: bloß in neue 
follen verwandelt werben, fonft aber das Ganze unverändert bleibt.” 
Denn „jedes Gedicht ift als ſolches ein organiſches Ganzes, jeder 
Ausdruc, jedes Wort ift Wbrug ber zum Grunde liegenden Idee 
und darf durchaus nicht weggenommen werden ober durch Fremd» 
atiges erjeßt, ohne dieſe zu zerftören, ohne einen Widerſpruch mit 
dem Anbern; kurz dieſes Mobernifieren ift ein heilloſes Zertrennen 
sand Auflöfen“ 3). Die Sprade, die fi Hagen für feine Moder- 
nifietung des Nibelungenlieds gefchaffen, „ift eine ſolche, wie fie zu 
feiner Zeit gelebt Hat“ 4). „Es ift eine Mobernifterung, bie 
ſchlechter ift als das Original, und doch nicht modern“ 5): Nicht 


. sbend. S. 180. — 2) Ehend. ©. 183. — 8) Ebend. S. 188. — 
4) Ehend. ©. 240. — 5) Ebend. ©. 238 





414 Drities Buch. Drittes Kapitel 


eine ſolche Weberfegung, fondern eine kritiſche Ausgabe bes Tertes 
zu beforgen, fei jet an der Zeit, da ber Abdruck in der Mülleri- 
ſchen Sammlung befanntli incorrect und defect ſei 1). Uebrigens 
erlennt W. Grimm die Gelehrſamleit Hagen’s vollkommen an. 
Was Hagen nebenbei für Verbeſſerung des Textes geleitet, ſei 
„bei weiten die glänzendfte Seite des ganzen Werks“ ; und obwohl 
er auch die Art von Erläuterungen, wie fie Hagen gibt, ohne 
rechtes Princip findet, fliegt Grimm doc feine ausfährlige Re 
cenfion mit ben Worten: „Hiermit foll aber Nichts gegen bie 
Gelehrjamteit des Verfaſſers gejagt jein, das Bud ift überall mit 
Gründlihleit und Neigung bearbeitet und verblent in biefer Hin 
ficht alle Achtung.“ 
Im Anflug an diefe Beurtheilung des Hagen'ſchen Nibelun⸗ 
genliebes veröffentlichte W. Grimm eine feiner bebeutenbften Arbeiten 
in den von Daub und Creuzer herausgegebenen Stubien, nämkd) 
die Abhandlung: „Ueber die Entſtehung ber altdeutſchen Poeſie 
und ihr Verhältniß zu ber norbifhen‘ 2). Hier wird das bort 
Gefagte weiter ausgeführt und durch eingehende Unterfuchungen 
über das Verhältniß der vollsthũmlichen deutſchen Poeſie zur nor 
diſchen begründet. Wilhelm Grimm geht Hier bereits im Jahr 
1808 von ganz Ahnligen Anfichten über die urſprungliche Beni, 
nigung von Poefie und Hiftorie aus, wie wir fie früher aus Jocob 
Grimm's Bud über den altventihen Meiftergefang mitgetfeilt 
haben 3), und daraus entwidelt er feine Anfiht über bie Entftehung 
1) &bend. &.249. — 2) Studien. Her. v. €. Daub u. F. Eresger Jahtz. 
1808, Heidelb. 1808, &.75—121 u. 216— 288. Man muß fich durch die Jahe: 
aahl 1808, verglichen mit der Jahrzahl 1809 des betreffenden Jahrgangs ber 
Heibelb. Jahrbüchet an bem wahren Sachverhältniß nicht irre machen laffen. 
In ber Vorrede, welde bie Berlagshandlung dem Erſten Heft bes Zaprgungd 
1808 ber Gtubien vorauefgidt, wird ausbrüdiid gefagt: „Die zweite U 
handlung biefes Heftes über bie Entflegung ber alideutſchen Pocfie ſtehl mit 
ber in deu Heidelbergiſchen Jahrbüchern (2r Jahrg. Fünfte Abtheil. Ir Bat) 
eingerüdten Beurtheilung des v. Hagen’f—en Ribelungenliebes in genauer © 
tüßrung und liefert zu bem, was bort kurz angebeutet if, ben wolflänbisern 
Beweis.” — 3) ©. 0. ©. 403 fg. u. vgl. damit W. Grimm in ben Gtubien 
a. a. O. S. 75-77. 


Das Leben unb bie Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 415 


des deutſchen Heldengefangs und insbefonbere unſeres Nibelungen 
lieds. „Bei jeder Nation blidt der Moment einer neuen Grund⸗ 
bildung, eines neuen Entſtehens duch.” An biefen Moment nüpft 
fi die Eutſtehung ihrer Heldendichtung, fo in Frankreich an Karl 
den Großen, in Spanien an ben Eid. „Groß umd welterregenb, 
wie noch Alles, was aus dem Leben dieſer Nation durchbrechen 
tonnte, Kat fi jener Punkt bei den Germanen gezeigt.” Es ift 
de gewaltige europäiſche Völferwanderung, an welde fi die Ent, 
fiefung ber deutſchen Heldendichtung nüpft. „Wenig Haben die 
Geidigtfggreiber von ben Thaten jener Zeiten aufbewahrt.“ „Aber 
die Poefie bewahrte es auf. Mas Fremden ober Geiftlicen mit 
fremder Bildung, nicht mehr zur Nation gehörig, in ihre trodnen 
Bücher aufzuſchreiben unmöglich war, das lebte fort in dem Munde 
und bem Kerzen eines Jeden unter bem Boll. Sie erzäßlten ſich 
mb den Nachtommen das Leben ihrer Väter, und bald entftanb 
eine gewiſſe Klaſſe, die ganz eigends fi dieſem Geſchäfte widmete: 
die Sänger. Sie waren gerabe nicht bie Dichter biefer Lieber !) und 
nahmen fie auch nicht zu ausſchließendem Befige dem Wolle ad, 
aber fie waren beſonders fähig zu dem Abfingen berjelben“ 2). 
dm Beweis des Gefagten beginnt dann Grimm, bie Zeugniffe 
zu ſaumeln für das Vorhandenfein der deutſchen Heldendichtung in 
dem verfchiedenen Jahrhunderten von den Zeiten der Völlerwan⸗ 
derung an, und legt fo die Keime, aus denen allmählich das wide 
figfte Werk feines Lebens erwachſen ift. Bon der deutſchen Helden 
poefie felbft iſt uns aus der früheren Periode nur Zweierlei übrig 
geblieben: „Die Erzählung im altjähfihen Dialekt von Hilde 
brand, wahrſcheinlich ein ſolches Volkslied, befien Inhalt unchytge 
niſch vielleicht zur Uebung aufgezeichnet wurde“, und das ganz 
nach römischen Muftern umgebildete lateiniſche Gebiht de prima 
Atülse expeditione. „Bei dem Bolt inbefien lebten bie Gefänge 
fort. In Unwiſſenheit und Unſchuld entfaltete ſich die Poefie im- 
wer mehr und zog am ſich, was neuere Begebenheiten, Boltsglaube 





1) „Ein Bolbslied dichtet fich ſelbſt·, fagt W. Grimm S. 245, Anm. — 
2) &end. ©. 79 fg. 


416 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


u f. w. Großes und Reizendes darbot, Alles vermiſchend und ver- 
wechfelnd. An jedem Ort mußte fie nah umd nad einheimiſch fein 
und darum brachte fie das Entfernte herbei und fegte die Nähe in 
geheimnißreihe Ferne, Gegenden, Zeit und Völker umtaufchend“ '). 
As nun im zwölften und breizehnten Jahrhundert die Särift 
ſchon allgemeiner wurde, „fingen die Sänger an, die Gedihte, 
deren Umfang fi immer mehr erweiterte, aufzuzeichnen, und wie 
fie jetzt lebten und ausgeſprochen wurden, nad) den Veränderungen 
vieler Jahrhunderte hindurch, fo wurden uns diefe Geſänge Altefter 
Zeit erhalten. Dies ift umfere Anfiht von der Entftehung des 
Nidelungen-Lieds“ 2). „Die urfpränglide Form der Nibelungen, 
wie überhaupt einer jeden Nationalpoefie, war das kurze Lieb, oder 
mit‘ einem uneigentlichen Ausdrud die Romanze. Wen innere Luft 
und Kraft dazu antrieb, d. 5. wer Dichter war, ber befang bie 
Helven ber Nation, und weil er fih nicht anders bewegen Tonnte, 
nad einem gewiffen Takt, nad einem orbnenden Geſetz. So er 
zeugte ſich das Lieb mit Khythmuus und Reim“ 9). „Die bald fih 
bildende Klafje von Sängern erweiterte folge Lieder umd verband 
fie zu einem größeren Ganzen; etwa wie Herder in richtigem Sim 
die Romanzen vom Eid“ 4). „Wie die Lieber bes Volls, fo daner- 
ten auch diefe größeren Gebichte fort, ſtets mit dem Fortgange ber 
Zeit in veränderter Geftalt. Niemals ftanden fie in irgend eine 
feft, und e8 ift eine falſche Anficht, die dag Nibelungen - Lieb im 
Ganzen eben fo, wie wir es jegt haben, glei) anfungs und auf 
einmal, wie das Werk eines Einzelnen entftehen läßt“ 5). Dies 
war „die Entftehung der deutſchen, das heißt aus deutſchem Geilt 
entfprungenen Poeſie.“ Einem ganz anderen Boden aber gehört die | 
romantiſche Poefie des Mittelalters an. Diefe lernten die Deut 
fen von den Franzofen. : „Man fagt gewöhnlich ſchön: damals 
Hang eine Poefie durch die ganze Welt; weldes aber nur auf bie 
jenigen gezogen werben darf, welche ſich im Ausland damit belannt 
gemacht hatten, auf die Nation nicht; eine jede hat fich ihrer eigen 


1) Ebend. S. 8%. — 2) Ebend. ©. 4. — 3) Eben. ©. 88. — 
4) Ebend. S. 89. — 5) Eben. ©. 90. 


Das Leben und bie Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 417 


thũmlichen, bei ihr einheimifen erfreut“ 1), „So entitand bie 
romantiſche Poefie des Mittelalters in einer geſchloſſenen Gefell- 
ſchaft mehr Gebilbeter, Adlicher, zu denen fih auch wohl Fürften 
geſellten, weil es ehrenvoll ſchien, ſolch edle Kunſt zu treiben.“ 
Run iſt zwar „Kunſtpoeſie, d. h. mit Bewußtſein und Abſicht ge⸗ 
dichtete, in ihrer Idee eben fo vortrefflich, als Natur- ober Natio- 
nal-Boefie; denn wenn fie echt ift, ſetzt fie dieſe nur fort, das 
heißt, wo diefe untergeht umd ſich micht mehr neu erzeugt, da bildet 
fie 3 B. durch Belefenheit erworbenen Stoff in dem Geift der 
Nation mit all dem, was ihr eigenthümilich ift, um, damit es ein- 
heimiſch werben kann. Hans Sachs ift in diefem Sinn Kunſtdichter 
mb Nationaldichter zugleih” 2). Aber nicht fo war e3 mit den 
deutſchen romantiſchen Gedichten bes Mittelalters. „Abgeſehen, 
daß eine Kımftpoefie überfläffig war, wo die Nationaldichtung noch 
lebendig lebte, fo war dieſe romantiſche Poefie nicht nur Kunft- 
poefie, fondern auch Manier, gariz außer dem Geiſt des Volks.” 
Die langen unrhythmiſchen Rittergedichte „ftanden in einem reinen 
Gegenſatz zu der Nationaldichtung. Das Bolt behielt feine Lieder 
don Dieterih von Bern und ben Helden“ 8). „Verſchieden, daß 
& mehr nit fein kann, ift die Darftellung der romantischen Poefie 
und des Nibelungen⸗Lieds. Wie ein großer Geift, ruhig, aber mit 
tiefbewegter Bruft erzählt es, was geſchehen, Alles Yäuternd in rei 
nem Aether ber Dieitung“ *). 

Wie verhält fi nun zur deutſchen Poefie die nordiſche? Wir 
müflen uns vor allem erinnern, daß „dieſelbe Sage bei den ver- 
fdiebenen Böllern einer Hauptnation ſich verſchieden ausbildete, mit 
andern mannigfach verwebte und Namen und Drte verwedhlelte” 9). 
Dies weift Grimm beifpielsweife an dev Ditung von König Er⸗ 
manaricns eingehend nad ©). Auf diefe Art ift der größte Theil 
deſſen zu erflären, was der norbifchen und ber deutſchen Poefie ge- 
meinfam iſt. Das Verhältniß ber norbifhen Poeſie zur deutſchen 
ift namlich im Ganzen betrachtet dies: „Stanbinavien Hat nicht 


1) Ebend. ©. 109. — 2) Ebend. ©. 110. — 3) Eben. S. 111.— 
4) Ebenb. ©. 119. — 5) Ebend. S. 91 fg. — 6) Ebend. S. 92—99. 
Raumer, Geld. der germ. Vhllelogie. EG 


416 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


u. f. w. Großes und Reizendes darbot, Alles vermiſchend und ver- 
wechſelnd. An jedem Ort mußte ſie nach und nach einheimiſch ſein 
und darum brachte fie das Entfernte herbei und ſetzte die Nähe in 
geheimnißreiche Ferne, Gegenden, Zeit und Bölfer umtauſchend“ '). 
As nun im zwölften und breizehnten Jahrhundert die Särift 
ſchon aligemeiner wurde, „fiengen die Sänger an, die Gedichte, 
deren Umfang fi immer mehr erweiterte, aufzuzeichnen, und wie 
fie jett lebten und ausgeſprochen wurden, nad den Veränderungen 
vieler Jahrhunderte hindurch, jo wurden uns diefe Geſänge ältefter 
Zeit erhalten. Dies ift unfere Anficht von der Entftehung de 
Nibelungen-Lieds” 2). „Die urſprüngliche Form der Nibelungen, 
wie überhaupt einer jeden Nationalpoefie, war das kurze Lied, ober 
mit‘ einem uneigentlihen Ausbrud die Romanze. Wen innere Lit 
und Kraft dazu antrieb, d. 5. wer Dichter war, ber bejang bie 
Helden der Nation, und weil er ſich nicht anders bewegen konnte, 
nad) einem gewifien Takt, nad einem ordnenden Geſetz. So er 
zeugte ſich das Lied mit Rhythmus und Reim“ 9). „Die bald ſich 
bildende Klaſſe von Sängern erweiterte folge Lieder und verband 
fie zu einem größeren Ganzen; etwa wie Herder in richtigem Sim 
die Romanzen vom Eid“ 4). „Wie bie Lieber des Volls, fo dauer 
ten auch diefe größeren Gedichte fort, ſtets mit dem Fortgange ber 
Zeit in veränerter Geftalt. Niemals ftanden fie in irgend einer 
feft, und es ift eine falſche Anfiht, die das Nibelungen - Lieb im 
Ganzen eben fo, wie wir es jegt haben, gleich anfangs und auf 
einmal, wie das Werk eines Einzelnen entftehen läͤßt“ 5). Dies 
war „die Entftehung der deutſchen, das heißt aus deutſchem Geilt 
entfprungenen Poefle.“ Einem ganz anderen Boden aber gehört die 
romantiſche Poeſie des Mittelalters an. Diefe lernten die Deut 
fen von den Franzoſen. „Man fagt gewöhnlich ſchön: damals 
Hang eine Poeſie durch die ganze Welt; welches aber nur auf bier 
jenigen gezogen werben darf, melde fi im Ausland damit belannt 
gemacht hatten, auf die Nation nicht; eine jede hat fich ihrer eigen 


1) Ebend. ©. 82. — 2) Ebend. ©. 84. — 9) Abend. ©. 8. — 
4) Eben. 6. 39. — 5) Ebend. S. WM. 


Das Lehen und bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 417 


Hämfien, bei ihr einheimiſchen erfreut“ 1) „So entſtand bie 
romantiſche Poefie des Mittelalters in einer geſchloſſenen Gefell- 
ſchaft mehr Gebildeter, Ablicher, zu denen fih auch wohl Kürten 
gefellten, weil es ehrenvoll ſchien, ſolch edle Kunft zu treiben.“ 
Rum iſt zwar „Kunftpoefte, d. 5. mit Bewußtſein und Abſicht ge- 
dichtete, in ihrer Idee eben fo vortrefflich, als Natur⸗ oder Natio- 
nal-Boefle; denn wenn fie echt ift, ſetzt fie diefe nur fort, das 
heißt, wo dieſe untergeht und fid nicht mehr neu erzeugt, da bildet 
fie 5 B. duch Beleſenheit erworbenen Stoff in dem Geiſt ber 
Rotion mit all dem, was ihr eigenthümlich ift, um, damit e8 ein- 
heimiſch werben Tann. Hans Sachs ift in dieſem Sinn Kunſtdichter 
md Rationaldichter zugleich” 2). Aber nicht fo war es mit ben 
deutſchen romantiſchen Gedichten des Mittelalters. „Abgeſehen, 
daß eine Kumftpoefie überfläffig war, wo die Nationaldichtung noch 
lebendig Yebte, jo war diefe romantiſche Poefie nit nur Kunft- 
poefie, fondern auch Manier, gariz außer dem Geift des Volks.“ 
Die langen unrhythmiſchen Nittergebichte „ftanden in einem reinen 
Gegenfag zu der Nationaldichtung. Das Volt behielt feine Lieder 
von Dieterih von Bern und den Helden“ 3). „Bericieden, daß 
es mehr nicht fein Tann, ift die Darftelflung der romantiſchen Poeſie 
und des Nibelungen-Liebs. Wie ein großer Geift, ruhig, aber mit 
tiefbewegter Bruft erzählt es, was geſchehen, Alles läuternd in rei⸗ 
nem Yether der Dichtung” *). 

Wie verhält fi num zur deutſchen Poefie die nordiſche? Wir 
möflen uns vor allem erinnern, baß „biejelbe Sage bei den ver» 
ſchiedenen Völkern einer Hauptnation ſich verſchieden ausbilbete, mit 
andern mannigfach verwehte und Namen und Orte verwechſelte“ 5). 
Dies weift Grimm beifpielsweife an der Dichtung von König Er- 
manaricus eingehend nad) 6). Auf diefe Art ift der größte Theil 
deſſen zu erflären, was ber nordiſchen und der deutſchen Poefie ger 
meinfam ift. Das Verhältniß der nordiſchen Poefie zur deutſchen 
iſt nämlich im Ganzen betrachtet dies: „Skandinavien Hat nit 


1) Ebend. ©. 109. — 2) Ebend. ©. 110. — 3) Ebend. S. 111.— 
4) Ebend. S. 119. — 5) Ebend. ©. 91 fg. — 6) Ebend. S. 929. 
Reumer, Gelb. der germ. Thilolagie. 7 


418 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


nur eine ihm allein eigenthũmliche, fondern auch eine mit Germa- 
nien gemeinfhaftlih erworbene; jedem Bolt gebührt derſelbe An- 
fprud darauf, und wenn daher eine Sage bei beiden angetroffen 
wird, fo berechtigt dies nicht, auf ein Erborgen von einer Seite zu 
fliegen. Indeſſen mag zur Verwirrung ber Umftand beigetragen 
Haben, daß in fpäterer Zeit wirklich deutſche Nationalgebichte in das 
Standifhe überjegt wurden“ 1). Die norbifhen Sagen theilt 
Grimm in hiſtoriſche und poetifhe. Die hiſtoriſchen braucht er nur 
beiläufig zu erwähnen, da fie dem Norden ausſchließlich angehören. 
Was dagegen die poetifhen betrifft, fo find die dem Norden allein 
zulommenden „von benen zu unterſcheiden, die auch wieder in 
Deutſchland gefunden werben. Unter den letzten find diejenigen 
gemeint, die auß ben Zeiten ber Völferwanderungen ihre Entiteh- 
ung herleiten, wo ein alfjeitiges Drängen die Völker vermiſchte, 
unter denen auch nordiſche Helden ftanden. Für ihre Thaten blieb 
ihnen billig der Ruhm in dem Gefängen ihres Volks“ 2). Zu 
diefem alten Gemeingut der Standinavier und der Deutſchen rede 
net W. Grimm den Theil der Helbenlieber der älteren Edda, der 
ſich auf die Völfungen und Giukungen bezieht, damals aber noch 
nit gebrudt war; dann bie Völſunga und „die Norna Geſters 
. Saga.” „Diejes find die Sagen, welde ven Heldenkreis ausführ- 
lich behandeln, aber au durch andere zieht die Erinnerung daran 
in mannigfahen Anklängen“ 3), „Wie bei uns, fo wurzelt auch 
bier die Dichtung in vaterländiſchem Boben, umd Alles ift eigen 
thümli entfaltet“ 4). „Bei fo ganz einheimiſcher Geftaltung ber 
Poeſie, die nicht die herüberpflangende Kunſt eines Gingelnen geben 
Tann, ift e8 [on unmöglih, un ein Abborgen zu deuten. Dann 
aber find in dem Norden, wie in Germanien, die frühen Spuren 
von ber Eriſtenz dieſer Gedichte gezeigt, daß man den Moment des 
Entleihens bis in die Zeit ihrer Entftehung zurüchſchieben müßte‘). 
„Vielmehr darf man es fo betrachten, baf beide Völker durch Heer 
Züge und Kriege vereinigt eine gemeinfame Poeſie erwarben.” 
1) &bend. ©. 220. — 2) hend. S. 236. — 3) hend. S. 29. — 

4) hend. ©. 240. — 5) Eben. ©. 241. 


Das Lehen und bie Arbeiten der Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 419 


Dahin gehören nun auch die däniſchen Bolfglieder, „die unter dem 
Titel Kiämpe Viiſer (Kämpfer Lieder) bekannt find“ 1), jo weit fie 
mit der deutſchen Sage in Zufammendang ftehen. Sie find, mit 
vereinzelten Ausnahmen, feine Ueberfegungen aus bem Deutſchen, 
fondern uralte Heldenlieder, wie fie früherhin ſowohl die Deutfchen, 
als die Sfandinavier befefen, aber allein die Standinavier erhalten 
haben 2). 

Bon dieſen wrgemeinfamen Dichtungen unterfdeidet Grimm 
die aus dem Deutſchen in das Nordiſche überfegten. Dahin gehört 
vor alfem die Wilfina Saga, deren Urfprung und Bufammen- 
fetumg Grimm eine ausführlihe Unterfußung widmet 3). Ueber 
monde andere Sagen, 3. B. die Blomfturvalla, kann er fein Ur- 
theil fällen, da fie noch nicht gebrudt waren. Die zweite Klaſſe 
vom nordiſchen Ueberjegumgen, welche der romantiſchen Poefie ange- 
hört, behandelt Grimm nur beiläufig, bemerkt aber bereits, daß 
vielleicht mandes Verlorene aus diefen Kreifen fih durch die nor- 
diſchen Weberfegungen ergänzen laffen werbe ). Am Schluß hebt 
er in nachdrücklichen Worten die hohe Wichtigkeit hervor, die das 
Studium der fo überaus reichen nordiſchen Poefie habe. „Wir 
können Taum etwas mehr von Bedeutung dagegen ftellen, als das 
Nibelungen - Lieb, wobei es nur erfreulich, daß gegen bie Vollendung 
und Herrlichkeit desfelben dort Nichts gehalten werben kann.” Cine 
Anzahl von Ueberfegungen aus dem Altnorbifhen und Däniſchen 
find der epochemachenden Abhandlung als Beilagen Hinzugefügt. 


Bilgelm Grimm's erfies felbfänbig erfgienenes Bert: Alt 
bänifge Heldenlieber 1811. 


Am Jahr 1811 erfien zu Heidelberg Wilhelm Grimm's 
etſtes felbftändiges Wert: Altvänifche Heldenlieder, Balladen und 
Marchen, überfegt von Wilhelm Carl Grimm. Das Bud, ftellt 


1) Ebend. S. 243. — 2) Ebend. S. 247. — 3) Ebend. S. 49 — 
37. — 4) Us Beifpiel führt W. Grimm ©. 259 die Ereds Saga an, 
die belannilich feitdem auch in Hartmann's mittelhochdeutſcher Dichtung wieder 


aufgefunden worben if. 2° 


420 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


fih eine doppelte Aufgabe. Es will einerjeits ber Verbreitung 
echter und volfsthümlicher Dichtung dienen und wenbet fih in bie 
ſem Sinn an alle, die Luft und freude am der Poefie haben. 
Andrerjeits ift ihm die Poefie und ihre Geſchichte ein Gegenſtand 
der Forſchung, und infofern fegt es die Unterfuchungen fort, die in 
der oben beſprochenen Abhandlung über das Verhältniß ber alt- 
deutſchen Poefie zur nordiſchen begonnen waren. Die Dänen ber 
figen einen großen Schat an Vollsliedern, theils Heldenliedern 
theils Liebesliedern. Die erfteren waren ſchon von Sörenſen 
Bebel im Yahr 1591 und dann vollftändiger von Peter Sy im 
Jahr 1695 unter dem Titel Kämpe-Bifer herausgegeben worden; 
die Iegteren erfdienen im J. 1657 unter dem Titel: Elslors 
Bifer (Liebeslieder) 1), Grimm wählte aus diefen Sammlungen 
vierzehn „Helbenlieber“ und ein und neunzig „Balladen und Mär 
Gen“ aus und bot fie hier dem deutſchen Publicum im möglicft 
treuer Nachbildung dar. In einer ausführlichen Vorrede und 
einem Anhang gelehrter Anmerkungen unterfuht er das Ber- 
hältniß der altdäniſchen Volkslieder zu den nordiſchen und beit 
fen, fo wie zu den Dichtungen anderer Völler und zur voefie 
überhaupt. Am wichtigften find ihm bie altdäniſchen Helden⸗ 
lieber megen ihres augenfälligen Zuſammenhangs mit dem Sa 
genkreis unferes Nibelungenliedes. Die Unterfuhung ergibt ihm 
das auffallende Reſultat, daß dieſe Lieder mit der urfpräng 
lich nordiſchen Dichtung, wie fie in der Völſunga, Norm 
geſtur Saga und in der Edda vorliegt, faft gar keine Wehnliheit 
haben 2), dagegen bie größte Verwandtſchaft mit ben deutſchen Dich⸗ 
tungen dieſes Sagenkreiſes zeigen. Dennoch aber Hält fie Grimm 
für echte däniſche Originale, weil fie durchaus feine Kennzeichen 
von Ueberfegung an fih tragen, wie fi um fo deutlicher ergikt, 
wenn man fie mit dem wirklich aus dem Deutſchen überfegten Lied 
vom alten Hildebrand vergleiht ). Sole einzelne Heldenliedet 
bat auch das deutſche Volt einft beſeſſen. Sie haben ſich in den 

1) ®. Grimm’s Borr. zu ben Wltbänifgen Heldenliedern ©. VII iä 


— Bel. 0. ©. 101. — 2) Altdan. Heldenlieder ©. 427. — 3) Ei. 
©. 488, 


Das Leben und bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 421 


dentſchen Nibelungen vereinigt, aber die einzelnen Lieber, die biefem 
vorangiengen, find in Deutſchlaud verloren. Die altvänifchen Helden- 
lieder zeigen uns das Verlorene in einer verwandten Geftalt 1). 

Eine andere Seite des vorliegenden Buches bilden die unter 
der Ueberſchrift: „Balladen und Märchen", zufammengefaßten Lie- 
der. Hier berührt ſich Grimm's Sammlung mit dem, was Arnim 
und Brentano im Wunberhorn für das deutihe Volkslied leiſten 
wollten. Selbſt das Aeußere des Buchs mit feinem in Kupfer ge 
ſtochenen Titel, der von Randzeichnungen in Dürer's altdeutſcher 
Weiſe eingefaßt ift, erimmert an dieſe Verwandtſchaft. „Diefe Bal- 
laden und Märden, fagt Grimm, werden den Meiften näher ftehen 
(als die Heldenlieder), nicht nur wegen ihrer Mannigfaltigteit, fon- 
dern auch weil es unmöglich ift, daß diefe Poeſie nicht für jedes 
Gemüth einen Punkt Habe, der es berühre und erfreue" 2). „m 
den Märchen ift eine Zauberwelt aufgethan, die auch bei ung fteht, 
in heimlichen Wäldern, unterirdiſchen Höhlen, im tiefen Meere, 
und den Kindern noch gezeigt wird“ 3). „Diefe Märden verbienen 
eine befjere Aufmerkamfeit, als man ihnen bisher geſchenkt, nicht 
nur ihrer Dichtung wegen, die eine eigene Lieblichleit hat, und die 
einem jeden, ber fie in der Kindheit angehört, eine goldene Lehre 
und eine heitere Erinnerung daran durch's ganze Leben mit auf 
den Weg gibt; fondern au, weil fie zu unfrer Nationalpoefie ge- 
hören, indem fi nachweifen läßt, daß fie fhon mehrere Jahrhun⸗ 
derte durch unter dem Volk gelebt" *). 

Was die Verwandtſchaft der altdäniſchen Balladen mit benach⸗ 
barter Poefie betrifft, jo bemerkt Grimm ihre auffallende Wehnlich- 
keit mit den englifen, „ſowohl an Tiefe und Weltanfiht, als in 
der äußerlihen Darftellung. Nur ſcheint es, als ob die eng. 
liſchen, als fpäter gefammelt, ausgebildeter, aber auch breiter 
wären“ 5), „Weniger bemerkbar ift eine Webereinftimmung ber 
dãniſchen Lieder mit dem deutſchen. Dieſe erſcheinen in ihrer 


1) Ebend. Borr. S. XXII. —- 2) Ebend. Borr. S. XXIV. — 3) Ebb. 
Bar. 6. XVI. — 4) Eben. Bor, S. XXVI fg. — 5) Ebend. Bor. 
6 IIXL 


422 Drittes Bud. Drittes Kapitel, 


Sammlung mannigfacher durch die verſchiedenſte Art und Manier 
der Dichtung, während jene ſämmtlich eine gewiſſe nationale Eigen- 
thümlichkeit ind Familienãhnlichkeit Haben. Wir zweifeln aber nicht, 
daß diefe Mannigfaltigteit der Deutſchen durch den Beitrag fpäterer 
Jahrhunderte, die verſchiedene fremdartige Einflüffe empfangen, ent- 
ftanden fei, wodurch ihre Reinheit geftört und ihre urſprüngliche 
Natur verſteckt worden” !). „Wenn man aus der deutſchen Samm- 
lung (dem Wunderhorn) diejenigen Lieber herausfceidet, von wel- 
Ken man vermuthen darf, daß fie mit den däniſchen won gleichem 
ter, mithin vor dem 17. Jahrhundert fon da geweſen find, und 
die, wenn man vergleichen will, allein dürfen dagegen gehalten 
werben, fo zeigt fi eine unlengbare Verwandtſchaft in dem Geilt 
der Dichtung“ 2). 


Die gemeinfamen Arbeiten ber Brüber Grimm 1812 bis 1816. 


Wir find den Arbeiten Jacob Grimm's und denen feines Bru⸗ 
ders Wilhelm bis zu dem Zeitpunkt gefolgt, in welchem die „Brä- 
der Grimm“ 3) mit ihrer erften gemeinfamen Leiftung vor die 
Deffentlifeit traten. Während fie in ben bisher befprodjenen 
Arbeiten jeder in feiner eigenthümlichen Weife der Erforſchung bes 
deutſchen Alterthums dienten, hatten fie in der Stille gemeinfam bie 
Plane gefaßt, die Sammlungen angelegt, durch welche bie Aufgaben 
gelöft werden follten, von denen fte im ihren bisherigen Schriften 
gewiffermaßen das Programm gegeben hatten. Die deutſchen Märs 
en und die deutſchen Sagen wurden geſammelt, mit der Heraus 
gabe altdeutſcher und altſtandinaviſcher Dichtungen ein Anfang 
gemacht und eine Zeitſchrift gegründet, die allen diefen Zwecken und 
der deutſchen Altertfumsforihung überhaupt nad) ihren verſchiede ⸗ 
nen Seiten hin dienen follte. 


1) Ebend. Bor. S. XXXIII. — 2) Ebend. Vorr. S. XXXIV ig. - 
3) In ber erfien Zeit ihres gemeinfamen Auftrelens naunten fig Jacob und 
Wilh. Grimm „Gebrüder Grimm." So unterzeichnen fie z. B. bie Antün 
bigung ihrer Ebda= Ausgabe in Gräter’s Anzeiger zu Idunna und Hermode 
vom 18, Jan. 1812. Auf bem Titel ber Ebbalieder ſelbſt (1815) menmen fe 
ſich „Brüder Grimm.“ 


Das Leben und bie Arbeilen ber Yrüber Grimm bis zum Jahr 1819. 428 


Die Kinder: und Hausmärden ber Brüder Grimm. 


Eima um das Jahr 1808 1) begannen die Brüder Grimm, 
die Sammlung von Märchen anzulegen, die dann nad) ſechs Jahren 
veröffentlicht wurde unter dem Titel: „Kinder und Haus-Märchen. 
Gefammelt durch die Brüber Grimm. Berlin, in ver Realſchul⸗ 
buchhandlung. 1812.” In ber Borrebe, unterzeichnet „Cafjel, am 
18. October 1812”, ſprechen fi die Brüder über Art und Zweck 
ihrer Sammlung aus. Was fie ſelbſt geben, ift der mündlichen 
Ueberlieferung entnommen. „Alles ift mit wenigen bemerkten Aus- 
nahmen, Heißt es in ber Vorrede, fait nur in Heſſen und ben 
Moin» und Kinziggegenden in ber Grafihaft Hanau, wo wir her 
find, nad) mündlicher Ueberlieferung gefammelt; darum knüpft fi 
uns an jedes Einzelne noch eine angenehme Erinnerung. Wenig 
Vücer find mit folher Luft entftanden, und wir fagen gern bier 
noch einmal öffentfih Allen Dank, die Zeil daran haben“ 2). 
Das Streben der Brüder gieng dahin, die Märchen ganz fo zu 
geben, wie fie durch den Volksmund überliefert find. „Wir haben 
ums bemüht, fagen fie, diefe Märchen jo rein als möglich war 
aufzufaffen, man wird in vielen die Erzählung von Reimen und 
Verſen unterbrochen finden, die ſogar manchmal deutlich altiterieren, 
beim Erzählen aber niemals gefungen werben, und gerabe dieſe 
find die älteften und beiten. Sein Umſtand ift hinzugedichtet ober 
verfönert und abgeändert worden, denn wir hätten uns geſcheut, 
in ſich feldft fo reihe Sagen mit ihrer eigenen Analogie oder Re- 
minifcenz zu vergrößern, fie find unerfindlih. In dieſem Sinne 
aiftiert noch Feine Sammlung in Deutihland, man hat fie fait 
immer nur als Stoff benugt, um größere Erzählungen daraus zu 
machen, die willkürlich erweitert, verändert, was fie auch ſonſt 
werth fein konnten, doch immer ben Kindern das Ihrige aus den 
Händen riffen, und ihnen Nichts dafür gaben." „Wären wir fo 
glüdlih geweien, fie in ehem recht beftimmten Dialeft erzählen zu 


H Kinder: unb Haus = Märden, Berlin 1812, Bor. ©. VI. — 
9) Ebend. ©. Vi fg. 


424 Drittes Bud. Drittes Kapitel, 


können, fo zweifeln wir mit, würben fie viel gewonnen haben; 
es ift hier ein Fall, wo alle erlangte Bildung, Feinheit und Kunft 
der Sprade zu Schanden wird, und wo man fühlt, daß eine ge 
läuterte Schriftſprache, fo gewandt fie in allem Andern fein mag, 
heller und durchſichtiger, aber auch fÄmadlofer geworben, und 
nicht mehr feft an den Kern fh fliege“ '). Wo ihnen ein Mär- 
chen in einem „redit beſtimmten Dialet“ mitgetheilt wirb, da hal 
ten fie an ber Mundart feſt. So in bem Märden „Bon ben 
Fiſcher und fine Fru“ 2), „meldes ber felige Runge aus ber 
pommerſchen Mundart trefflich niedergeſchrieben“ und das Arnim 
den Grimm „im Jahr 1809 freundſchaftlich mittheilte“ ); und 
ebenſo geben fie „das wunderſchöne Märchen“ „Ban den Machan⸗ 
vel-Boom“, das fie von Runge erhielten, plattdeutſch. Aber wo 
die Mittheilung nicht in einer „recht beftimmten“ Mundart ger 
ſchah, da machen fie die Sprache ſchriftdeutſch; und fie tun bies 
in der bewundernswerthen Weife, bie alle munbartlicen Formen 
abfteeift unb dabei doch bie ganze Einfachheit beibehalt, durch welche 
ſich die Volksſprache von ber Schriftſprache unterſcheidet. Die 
Sprade, deren die Grimm ſich zu diefem Zwed bedienen, ift da 
duch das Vorbild für alle ähnlichen Unternehuungen geworben. 
Den Kindern und bem Boll ihre ſchönen Märchen erzäplen 
und erhalten wollen die Grimm durch ihre Sammlung. „Es 
war vielleicht gerabe Zeit, dieſe Marchen feſtzuhalten, fagen fie, da 
diejenigen, bie fte bewahren follen, immer feltner werden; freilid, 
die fie noch wiffen, wiſſen auch recht viel, weil die Menſchen ihnen 
abſterben, fie nicht ben Menſchen“ 4)" „Wo biefe Märden noch 
da find, da leben fie jo, daß man nicht daran dent, ob fie gut 
ober ſchlecht find, poetiih ober abgeſchmackt, man weiß fie und liebt 
fie, weil man fie eben fo empfangen hat, und freut fi) baran 
ohne einen Grund dafür: fo herrlich ift die Sitte, ja aud das hat 
diefe Poefie mit allem Unvergängligen gemein, dag man ihr ſelbſt 
gegen einen andern Willen geneigt fein muß.“ „Wir wollen in 


1) Ebend. S. XVII fg. — 2) Nr. 19, ©. 68. — 3) Anfang 6X 
— 4) Bor. 6. VII. 


Das Leben und bie Arbeiten der Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 425 


gleichem Sinn Hier die Märchen nicht rühmen ober gar gegen eine 
entgegengefeßte Meinung vertheidigen: jenes bloße Dafjein reiht 
Hin, fie zu ſchützen. Was fo mannigfah und immer wieder von 
neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, das trägt feine Nothwen⸗ 
digkeit im ſich und ift gewiß aus jener ewigen Quelle gelommen, 
die alles Leben bethaut, und wenn es auch nur ein einziger Tro⸗ 
pfen wäre, ben ein Meines, zuſammenhaltendes Blatt gefaßt hat, 
ſo fhimmert er doch in dem erften Morgentoth." Syn biefem Sinn 
beſtimmen die Grimm ihr Buch den Kindern und dem Bolte. „Wir 
übergeben dies Buch wohlmollenden Händen, fo ſchließen fie ihre 
vorrede, dabei denken wir überhaupt an die fegnende Kraft, die in 
diefen Tiegt, und wünfchen, daß benen, welche diefe Brofamen ber 
Boefie Armen und Genügfamen nicht gönnen, es gänzlich verborgen 
bleiben möge.” 

Aber mit biefer unmittelbar praktiſchen Seite ift der Zweck, 
den die Brüder Grimm bei ihrem Märchenſammeln verfolgen, 
nicht erſchöpft. Die Märchen find ihnen zugleih ein Gegenftand 
ernfter Forſchung, der mit ihren Unterſuchungen über die Sage, ben 
Mythus und die Poeſie der Völker in nächſter Beziehung fteht. 
min ihrer äußern Natur, Heißt es in ber Borrebe, gleichen biefe 
Dichtungen alfer volks⸗ und fagenmäßigen: nirgends feſtſtehend, in 
jeder Gegen, faft in jedem Munde fih ummandelnd, bewahren fie treu 
denſelben Grund.” Die Grimm fuchen num, diefe Märchen bis in 
das tieffte Altertum des Volkes zurüdzuverfolgen, indem fte die» 
felben „mit dem großen Helbenepos und der einheimifhen Thier- 
fobel“ in Bufammenhang bringen. Ebenfo berufen fie ſich auf deren 
weite Verbreitung unter den verfdiebenartigften Völlern. Die 
Märden „erreichen Hierin nicht bloß die Heldenfagen von Sieg. 
fried dem Dradentöbter, ſondern fie übertreffen biefe fogar, indem 
wir fie, und genau dieſelben, durch ganz Europa verbreitet finden, 
fo daß ſich in ihnen eine Verwandtſchaft der edelften Völler offen- 
bart* 1). In dieſem Sinn nun ziehen die Grimm in ber Vorrede 
und in einem befonderen Anhang am Schluß des Buchs Alles 


1) Borr. S. ZI ig. 


426 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


heran, was fie an Märchen anderer Völker auftreiben können. 
Natirlih kommt ihnen aud Hier nur das in Betracht, was ihrer 
Anſicht nad einen wirklich vollsmäßigen Stempel trägt. So für 
Frankreich Charles Perrault (geboren 1633, geftorben 1708); für 
alien die Nächte des Straparola, befonbers aber ber Pentame 
vone des Baſile. Man erfieht aber aus dem bisher GErörterten 
zugleich, daß die Grimm mit ihren Vorgängern auf deutſchem Bo- 
den nicht viel anfangen konnten. „Muſäus und Naubert, fagen 
fie, verarbeiten meift, was wir vorhin Localfage nannten, der viel 
ſchätzbarere Otmar nur lauter ſolche; eine Erfurter Sammlung von 
1787 ift arm, eine Leipziger von 1799 gehört nur Halb hierher, 
wiewohl fie nicht ganz fchlecht zu nennen, eine Braunſchweiger von 
1801 unter diefen bie reichſte, obgleih mit ihnen in werfehrtem 
Ton. Aus der neuften Büſchingiſchen war für uns nichts zu neh⸗ 
men, ausbrüdlid aber muß noch bemerkt werden, daß eine vor ein 
paar Jahren von einem Namensverwandten A. 2. Grimm unter 
dem Titel: Kindermärchen, zu Heidelberg herausgelommene, nicht 
eben wohl gerathene Sammlung mit uns und ber unfrigen gar 
nichts gemein hat“ 1). Im Gegenſatz zu ihren Vorgängern befan- 
deln die Grimm ihre Terte mit der größten Gewiffenhaftigteit und 
ſchließen ihnen in den Anmerkungen bie forgfältigften Erörterungen 
über abweichende Darftellungen desſelben Märhens und über die 
Verwandtſchaft mit den Märden anderer Völfer an. 

Kaum zwei Jahre nad) der Herausgabe ihrer Kinder- und 
Haus-Märhen konnten die Grimm einen „Zweiten Band“ ald 
Fortſetzung erſcheinen Laffen 2). Das Glüd war ihrem warmen 


1) Bor. ©. XIX Anm. Ebenda werben auch bie 1813 in Jena bi 
Boigt in neuer Titelausgabe erfcienenen Wintermärchen vom Gevatter Johann 
mit Ausnahme des ſechſten und zum Theil des fünften für werthlos erflärt. — 
2) Iqh bemerfe, daß die erfle im Jahr 1812 erigienene Sammlung neh 
nicht bie Bezeichnung: Erſtet Band, hat. Der Zweite Band trägt zwar auf 
bem Titel bie Jahrzahl 1815, aber bie Borrebe ift unterzeichnet: „Gafid, 
am 30. September 1814.° Da num die Vorrede ber erften Sammlung „am 
18. October 1812 untergeidgnet if, fo ergibt fi, daß zwiſchen dem Abſqhlut 
der erften und der zweiten Sammlung noch nicht gauz zwei Japıe liegen. 





Das Lehen und bie Arbeiten der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 427 


Eifer entgegengelommen. Weftfälifhe Freunde hatten plattdeutſche 
Mörhen aus dem Fürftenthum Paderborn und Münfter beige- 
fteuert. Beſonders wichtig aber war die Bekanntſchaft mit einer 
Bäuerin aus dem nahe bei Kaffel gelegenen Dorfe Zwehrn, die den 
Grimm eine Menge von echt heſſiſchen Märchen erzählte 1). So 
lonnten fie jegt die Nachweiſungen, wie eng diefe Märchen mit der 
deutfchen Heldenbichtung und dem „urbeutichen Mythus“ zufammen- 
hängen, noch bedeutend vermehren ?). „Wir wollten indes, fagen 
fie, durch unfere Sammlung nicht Bloß der Geſchichte der Poefie 
einen Dienft erweifen, es war zugleich Abficht, daß die Poefie ſelbſt, 
bie darin lebendig ift, wirfe; erfreue, wen fie erfreuen kann, und 
darum auch, daß ein eigentliches Erziehungsbuc daraus werde” 3). 
Und in welchem Maß ift ihnen diefe Hoffnung in Erfüllung ge- 
gangen! Wie erfreut fih Jung und Alt an den Föftlichen Ge- 
ſchichten: Vom Sneewittchen, vom Brüderhen und Schweſterchen, 
von Hänfel und Gretel, und wie die ſchönen Märchen alle heißen! 
Denn fo viele und werthvolle Bereicherungen auch die folgenden 
Auflagen erhalten haben, die Märchen diefer erften Ausgabe find 
do immer der weſentlichſte Grundſtock des Ganzen geblieben. 

Die folgenden Ausgaben der Kinder und Hausmärden wurben 
nicht nur duch neu hinzugefammelte Märchen vermehrt, fondern 
insbefondere auch durch weitere Ausführung ber in den Anmerkun- 
gen ber erften Ausgabe begonnenen Unterfuhungen über die Ges 
ſchichte und Literatur der Märchen bereihert. Diefe Unterfuhungen 
bilden in der zweiten Auflage (Berlin 1822) einen bejonderen brit- 
ten Band. Die Genauigkeit und Treue in ber Nachweiſung und 
Wiedergabe der verſchiedenen Darftellungen, die fi von einem 
und demfelden Märchen finden, find in dieſen erweiterten Anmer- 
kungen wo möglich noch gefteigert. — Bei der erften Ausgabe 
der Märchen waren beide Brüber in gleihem Maß thätig, bie 
fpäteren und insbefonbere die im Jahr 1856 zu Berlin erſchienene 
erweiterte dritte Auflage der Anmerkungen hat Jacob ganz Wil- 

1) Rinder» und Haus- Wären, 8b. II, Bor. &. IV fg. — 2) ©. b. 
Stelle aus der Bor. S. VI fg. — 3) Borr. ©. VIII. 


428 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


helm überlaffen 1). Die Kinder- und Hausmärden find das ver- 
breitetſte Buch der Brüder Grimm. Im Jahr 1864 erſchien 
davon die achte Auflage, und daneben war eine Meinere Auswahl 
bis zum Jahr 1869 in vierzehn Auflagen verbreitet. Und ebenſo 
wie diefe Märhenfammlung dem deutſchen Volke einen unerſchöpf⸗ 
lien Schatz von Poefie geboten hat, ift fie in ihrer gewiſſenhaften 
und gründlichen Weife von hoher Bedeutung für die Wiſſenſchaft 
gervorden. Denn wenn auch die Folgezeit, wie wir fpäter jehen 
werben, bie Anfihten, melde die Brüder Grimm über unfere Mär- 
Gen Hatten, nicht unweſentlich berichtigt hat, fo Hat dod auch für 
diefe Berichtigung ber treue Ernſt ihrer Forſchung die Bahn ge 
brochen. 


Die deutſchen Sagen ber Brüder Grimm. 


Wenn wir an bie deutſchen Märchen der Brüder Grimm jo 
glei die Beſprechung ihrer deutfhen Sagen anſchließen, fo ver 
laſſen wir die chronologiſche Reihenfolge ihrer Schriften, um jene 
nah verwandten Stoffe nicht auseinander zu reißen. Um biefelbe 
Zeit, wie die Märden, hatten die Grimm aud die Sagen be 
deutſchen Volkes zu fammeln begonnen 2). Nach zehnjähriger Th 
tigkeit veröffentlichten fie unter dem Titel: „Deutſche Sagen. 
Herausgegeben von den Brüdern Grimm. Berlin 1816", eine 
Sammlung, die zwar nicht denfelben äußerlichen Erfolg, wie die 
Märchen, aber einen nicht geringeren Werth als diefe hatte. Der 
erften Sammlung folgte im Jahr 1818 ein Zweiter Theil, der das 
Unternehmen nad feinen verſchiedenen Seiten hin abſchloß. Das 
Gemeinfame und das Unterſcheidende des Märchen, der Sage und 
der Geſchichte ſprechen bie Brüder in der Vorrede zum erften Band 
der Sagen in den ſchönen Worten aus: „Es wirb bem Menſchen 
von heimathswegen ein guter Engel beigegeben, ber ihm, wenn er 


1) Vgl. Jacob Grimm's Brief an Franz Pfeiffer vom 19. gebt. 1860 
in Pfeiffer's Germania, Jahrgang XI, 2. Heft, Wien 1866, &.249, mb bie 
Bibmungen vor ber 7. Aufl. der Märchen, Göttingen 1857. — 2) Deutihe 
Sagen (D, Bor. 6. XX. 


Das Leben und bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 429 


ins Leben auszieht, unter der vertraulichen Geftalt eines Mitwan⸗ 
dernden begleitet; wer nicht ahnt, was ihm Gutes dadurd wider 
fährt, der mag es fühlen, wenn er die Gränze des Vaterlands 
überfchreitet, wo ihn jener verläßt. Diefe wohlthätige Begleitung 
iſt das unerſchöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geſchichte, 
welde nebeneinander ftehen und uns nadeinanber die Vorzeit als 
einen friſchen und belebenden Geift nahe zu bringen ftreben. Jedes 
hat feinen eigenen Kreis. Das Märchen ift poetiſcher, die Sage 
hiſtoriſcher; jenes ftehet Beinahe nur im ſich felber feft, in feiner 
angeborenen Blüte und Vollendung; die Sage, von einer gerin- 
gern Mannigfaltigfeit ber Farbe, Hat noch das Beſondere, daß fie 
am etwas Belanntem und Bewußtem hafte, an einem Ort ober 
einem durch die Geſqhichte geſicherten Namen. Aus biefer ihrer 
Gebundenheit folgt, daß fie nicht, gleich dem Märchen, überall zu 
Haufe fein könne, fondern irgend eine Bedingung vorausſetze, ohne 
melde fie bald gar nicht da, bald nur unvolltommener vorhanden 
fein würde“ ). „Um alles menſchlichen Sinnen Ungewöhnliche, 
was die Natur eines Landſtrichs befigt, oder weſſen ihn die Ge- 
ſchichte gemahnt, fammelt fih ein Duft von Sage und Lieb, wie 
fih die Ferne des Himmels blau anläßt und zarter, feiner Staub 
um Obft umd Blumen jet“ 2). „Weber den Verzug beider zu 
fireiten, wäre ungeſchickt; auch foll durch biefe Darlegung ihrer 
Verſchiedenheit weder ihr Gemeinfchaftliies überjehen, noch geläug- 
net werden, daß ſie in unendlichen Miſchungen und Wendungen in 
einander greifen und ſich mehr oder weniger ähnlich werden. Der 
Geſchichte ſtellen fi beide, das Märchen und bie Sage, gegenüber, 
infofern fie das ſinnlich Natürliche und Begreifliche ftets mit dem 
Unbegreiflichen mifchen, welches jene, wie fie unferer Bildung ange- 
meſſen ſcheint, nicht mehr in der Darftellung felbft verträgt, ſon⸗ 
dern es auf ihre eigene Wetfe in ber Betrachtung bes Ganzen neu 
hervorzuſuchen umd zu ehren weiß“ 9). „Man Tann ber gewöhn⸗ 
lichen Behandlung unferer Geſchichte zwei, und auf ben erſten 





1) Deutfje Sagen. Her. von ben Brübern Grimm. Berlin 1816, 
Borr. S. V fg. — 2) Ebend. ©. IX. — 3) Ebend. &. VII fg. 


430 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


Schein fi widerſprechende Vorwurfe maden: daß fie zu viel und 
zu wenig von ber Sage gehalten habe. Während gewiſſe Um- 
ftände, die dem reinen Elemente der Ießteren angehören, in die 
Neihe wirklicher Ereigniffe eingelaffen wırrden, pflegte man andere 
ganz gleichartige ſchnöde zu verwerfen als fade Mönchserdichtungen 
und Gefpinnfte müßiger Leute. Man verfannte alfo die eigenen 
Gelege der Sage, indem man ihr bald eine irdiſche Wahrheit gab, 
die fie nicht hat, bald die geiftige Wahrheit, worin ihr Weſen be 
fteht, abläugnete* i). Denn die Sage fieht mit anderen Augen 
als die Geſchichte, „fie weiß alle Verhältniſſe zu einer epiſchen Lau 
terfeit zu fammeln und wieder zu gebären. Es ift aber ſicher jedem 
Volle zu gönnen und als eine edle Eigenſchaft anzurechnen, wenn 
der Tag feiner Geſchichte eine Morgen- und Mendbämmerung der 
Sage hat; oder wenn bie, menſchlicher Augenſchwäche doch nie ganz 
erſehbare Gewißheit der vergangenen Dinge, ftatt der jchroffen, 
farblofen und ſich oft verwiſchenden Mühe der Wiffenihaft, fie zu 
erreihen, in dem einfachen und Maren Bildern der Sage, wer jagt 
es aus, durch weldes Wunder gebroden, wiederſcheinen kann“ 2). 
Freilich, wo die verbürgte Gefchichte uns die ergeifenden Züge des 
wirklich Geſchehenen aufbewahrt Hat, da „fteht ihr jede Sage nach 
wie ber Tugend bes wirklichen Lebens jede Tugend der Poefie‘ 9. 
„Aber alles, was dazwiſchen liegt, ben unſchuldigen Begriff der 
dem Bolfe gemüthlihen Sage verſchmäht, zu ber ſtrengen md 
teodenen Erforſchung der Wahrheit aber doch keinen rechten Muth 
faßt, das ift der Welt jederzeit am unnügeften geweſen“ 3). 
Indem fo die Grimm für die Sage beren eigene Rechte md 
Geſetze in Anfpruc nehmen, erklären fie: „Das erfte, was wir 
bei Sammlung der Sagen nicht aus ben Augen gelafien haben, 
ift Treue und Wahrheit. Als ein Hauptjtüd aller Geſchichte hat 
man dieſe noch ſtets betradtet; wir fordern fie aber eben fo gut 
aud für die Poeſie und erkennen fie in der wahren Poefie eben 
fo rein“ 4). — Als ihre hauptfählihfte Quelle betrachteten bie 





1) Deutſche Sagen. Zweiter Theil, Bor. ©. IV. — 2) Cbend. E.V. 
— 3) Ebend. — 4) Deutfe Sagen (1) Bor. ©. X. 


Das Leben und bie Arbeiten der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 481 


Grinm die mündliche, lebendige Erzählung. Zugleich aber arbeir 
teten fie bie VBücher durch, in benen fie Etwas für ihren Zweck 
u finden Hofften. Die bebeutendfte Ausbeute gewährten ihnen die 
Shriften des geſchmackloſen, aber ſcharffichtigen und gelehrten Fo, 
hannes Prätorius aus der zweiten Hälfte bes 17. Jahrhunderts 1), 
In den langen Zeitraum zwifchen ihm und Otmar's im Jahr 
1800 erfhienener Sammlung ber Harziagen fällt kein einziges 
Bug von Belang für deutſche Sagen. Mufäus und Frau Nau- 
dert lommen nur infofern in Betracht, als fie einige echte Sagen 
verarbeitet und bie Neigung darauf bingezogen hatten. Unter den 
mmittelbaren Vorgängern ber Grimm hatte Wyß feine Schweizer 
ſagen durch eigene Zuthaten entftellt 2), Die Sammlungen von 
Viſching (1812) und Gottſchalt (1814) waren noch unvollen⸗ 
det, und die Grimm glaubten fi deshalb nicht berechtigt, das 
wenige Unbelannte, was jene Sammlungen boten, in die ihrige 
aufzunehmen. „Wir denlen keine fremde Arbeit zu irren oder zu 
fören, jagen fie, fondern wünfgen ihnen glücklichen Fortgang“ 3). 
dir die geſchichtlichen Sagen waren natürlich vor allem die hiſto⸗ 
tigen umd poetiſchen Quellen des Mittelalters durchzuarbeiten. 

Die Grimm theilen ihren Sagenſchatz in zwei große Haupt 
gruppen. Der erfte Band umfaßt die „mehr örtlich gebundenen“, 
der zweite die „mehr gejhichtlich gebundenen“ 4), das ift die, 
welche fi unmittelbar am die wirkliche Geſchichte ſchließen“ 5), 
Bon den letzteren blieben jedoch die Sagen ausgeſchloſſen, welche 
‚im dem eigenen und lebenbigeren Umfang ihrer Dichtung auf 
ufere Zeit gelommen find” 6). Dahin gehören vor allen die Sa- 
gen, beren Mitte das Nibelungenlieb und das Heldenbuch bilden. Dann 
die große Hauptmaſſe des karolingiſchen Sagenkreifes und noch 
mande andere”). Der Unterfuhung des Hier ausgeſchloſſenen 
größten und wigtigften deutſchen Sagenkreiſes werden wir dann 
inter das Hauptwert Wilhelm Grimm’s gewidmet fehen. — Bon 

1) Ebend. S.XX fg. — 2) Ebend. S. XXI. — 3) Ebend. 
6. XxIII. — 4) Ebend. ©. XVL — 5) Ebend. Theil II, vorr. ©. II. 
— 6) Ebend. Theil II, Bor. ©. XI. — 7) Ebend. ©. XIIL 


482 Drittes Buch. Drittes Kapitel. 


ben deutſchen Sagen ift währenb bes Lebens ber Brüder Grimm 
teine zweite Auflage erſchienen. Sie waren aber längft vergriffen, 
als die Verfaffer ftarben. Doc erft nach ihrem Tode (1865) er- 
ſchien eine neue Auflage. 

Wie die Märchen, fo find die deutſchen Sagen ber Brüder 
Grimm der Anftoß und das Vorbild für eine lange Reihe zum 
Theil fehr vorzüglier Nachfolger geworden. Die Grimm erlann ⸗ 
ten ganz richtig, daß hier vor allem ein Beifpiel aufgeftellt werben 
müſſe. „Die Erfahrung beweift, fagen fie, daß auf Briefe md 
Schreiben um zu fammelnde Beiträge wenig ober nichts erfolge, 
bevor durch ein Mufter von Sammlung felöft deutlich geworben 
fein Tann, auf welche verachtete und ſcheinloſe Dinge es hierbei am 
Tommt. Aber das Gefhäft des Sammelns, ſobald e8 einer erıft 
lich thun will, verlohnt ſich Bald der Mühe, und das Finden reiht 
nod am nädften an jene unſchuldige Luft der Kindheit, wann fie 
in Moos und Gebüſch ein brütendes Vöglein auf feinem Net 
überraſcht; e8 ift auch Bier bei den Sagen ein leiſes Aufheben der 
Blätter und behutſames Wegbiegen der Zweige, um bas Wolf nicht 
zu ftören und um verftohfen in die ſeltſam, aber beſcheiden in fih 
geſchmiegte, nah Laub, Wiefengras und frifchgefallenem Regen 
riechende Natur blicken zu können.“ i. 


Die Altdeutſchen Wälder. 


Bom Jahr 1818 His zum Jahr 1816 gaben die Brüder 
Grimm neben ifren anderen Arbeiten eine Zeitſchrift heraus unter 
dem Titel: Altdeutſche Wälder ). Der Zweck der Herausgeber 
war, „aus ihrem gemeinſchaftlichen, beträchtlich angewachſenen Bor 
rath altbeutfcher Poeſien Materialien mitzuteilen, bie nicht ohne 
Abſicht fo vieljeitig als möglich audgelefen werden ſollen“ 3). „It 
einmal ber durchdringende Reichthum unferer alten Poeſie anerkannt, 
fagen fie, fo wird ſchon viel gewonnen fein“ >). „Es ift uns 





1) Ebend. Th. J. Vort. S. XXVI. — 2) BandI, Gaffel 1819. Band TI, 
Srankfurt 1815. Wand IIT, Frankfurt 1816. — 8) Altdeutſche Bälber, 
Vd. I, Bor. ©. I. 


Das Leben und die Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 433 


darum zu thun, ein Teitiiches Material zu liefern, wie es vor 
gründlichen Kennern beftehen ober fi rechtfertigen zu Tönnen 
glaubt" 1). Abhandlungen über die verſchiedenen Begenftände der 
deutſchen Alterthumsforſchung follten mit dem Ahbrud der Quellen 
wechſeln. Bor allem Andern thue das Sammeln umd Bervielfäl- 
figen Roth, wenn eine wahre Geſchichte der Poefie zu Stande 
Iommen ſolle 2). Mit Ausnahme einiger wenigen Beiträge von 
Docen und von Benecke ift der ganze Anhalt von den Brüdern 
Grimm geliefert. Doc haben fie nur eine einzige Arbeit gemein» 
ſam unterſchrieben; das Uebrige ift entweder mit Jacob's oder 
mit Wilhelm's Anfangsbuchſtaben bezeichnet. Die umfangsreicfte 
Abhandlung der ganzen Zeitſchrift find W. Grimm's „Zeugniffe 
über bie deutſche Heldenſage“ ®). Hier fehen wir die kurzen An- 
fünge, die wir in W. Grimm’s Abhandlung über die Entftehung 
der altdeutſchen Poeſie haben kennen lernen, bereits dem Reichthum 
vom deffen fpäterem Hauptwerk über die deutſche Helbenfage ſich 
nähern. Jacob ftenert grammatifhe, exegetifhe, Tritiide und an⸗ 
dere Abhandlungen Bei; darunter auch ausführlihe Mitteilungen 
über das „Geſellenleben“ aus ber Schrift des altenburgiſchen Con- 
vers Frifius H, und „Waibfprüde und SZägerjcreie ®) aus 
handſchriftlichen und gedrudten Quellen. Beide Brüder berei- 
dern die Kenntniß der altdeutſchen Literatur durch Deröffent- 
lichung noch ungebrudter altdeutſcher Terte, und auch Bier beginnt 
®. Grimm bereits eine Arbeit, die ihn bis in feine fpäteren Le⸗ 
beusjahre befhäftigt Hat: Die Herausgabe ber goldenen Schmiede 
des Conrad von Würzburg 9). Unter den durch Jacob Grimm 
veröffentlichten Texten nehmen bie Mittheilungen aus ber zweiten 
Hohenemſer Handſchrift 7) der Nibelungen bie erfte Stelle ein ®). 
Bir haben gefehen, daß diefe Handſchrift, aus welcher Bobmer im 


1) Ebend. S. UII. — 2) Ebend. S. V. — 3) Ebenb. Band I, 
6. 195— 823, unb Nachträge bazu Banb II, ©. 252-277. — 4) Ebenb. 
Band I, ©. 83-122. — 5) Ebend. Bd. IN, ©. 97—148. — 6) Ebenb. 
Band II, ©. 193—288. — 7) D. i. Hohenems » Lafıberg, jekt in Donaus 


hingen (Ladimann’s C). — 8) Altdeutſche Wälder, Bd. Fr ©. 145—180. 
Raumer, Geit. der germ. Philelogte, 


484 Drittes Buch. Drittes Kapitel. 


Jahr 1757 die zweite Hälfte der Nibelungen nebft der Klage hate 
abbruden laſſen, längere Zeit verſchwunden und dann im ben Belt 
eines gewiſſen Fridart in Wien gelommen wart). Hier unter⸗ 
fuchte fie Jacob Grimm während feines Anfenthaits zur Zeit dei 
Wiener Congreſſes. In der vorliegenden Abhandlung gibt er 
näheren Aufſchluß über dieſelbe, zeigt, wie Myller bie zweite Hälfte 
der Nibelungen aus diefer, bie erfte aus ber anderen Hohenenter 
Handiärift Herausgegeben hat?), umd legt zugleich feine Anfichten 
über die Entftehung der Nibelungen dar. Er vewirft A. ®. 
Sählege’s Muthmaßung, Ofterbingen ſei ihr Dichter ). „Die 
Nibelungen, wie wir fie befigen, find nicht? anders, denn Ichendige, 
aus der Vollspoeſie nothwendig, innerlich hervorgehende Umdicht 
ung“ 9. „Wenn alſo die Nibelungen bloß eine vollamäßige New 
geftaltung unverfiegter alter Grundlagen waren, fo konumt es wie 
derum darauf an, ben Grab zu beftimmen,  vermöge befien ber 
Urheber ihrer gegenwärtigen Geftalt mehr als ein eigentlicher Um 
dichter, oder mehr als bloßer Ahapfob, ber die Stäbe des alten 
Lieds gefammelt umd wieder gebunden, erſcheine“ d). Obwohl es 
ſchwierig iſt, das bereits Vorgefundene vom neu Sinzugefügten 
ſtreng zu ſcheiden, fo läßt uns doch eine Vergleichung der Wiltinen⸗ 
fage mit nmferen Nibelungen einen hinreichend Haren Blid in bie 
Entftehung ber legteren thun. Wir erkennen, „daß Safe mb 
(was daraus folgt) Lied an anderer Stelle oder zu anderer Jet 
bereits in lebendiger, voller Poefie vorhanden geivefen fein müſſe 
Bon dieſen Niederjegungen, fo zu fagen zeitlichen Erſcheinungen des 
Urftoffs wird jede in Wort und Inhalt eigenthämliche ihre Vorzüge, 
wie Schwächen gehabt haben, und es kann anf ben leiblichen Berfofier 
der einen ober der andern in den meiften Stüden weniger ber Nam 
eines Umdichters als ber eines Umſammlers fallen“ %). Daraus folgt, 
„wie wichtig für die genaue Einfiht und Kenntniß der wahren Be 
deutung des herrlichen Gedichts gehöre, daß davon alle und jede 
vorhandene eigenthümliche Handſchrift volfftändig für ſich und mit 


1) ©. o. 6.328. — 2) Altd, Wälder 6,146. — 3) Cbend. 6.150.— 
4) &benb. ©. 150 fg. — 5) Ebend. ©. 154. — 6) Ebert. S. 155. 


Das Leben und bie Arbeiten der Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 485 


andern unvermiſcht gebrudt erſcheine“ 1). Wie mißlich eine Ver⸗ 
mengung ber verſchiedenen Texte ſei, „bezeugt allem darauf ver⸗ 
wandten Fleiß zum Trotz die Hagen'ſche Ausgabe“ 2). Durch 
Mittheilungen ans ber zweiten Hohenemſer Handſchrift liefert dann 
J Grimm einen Beitrag zu der von ihm gewünſchten vollftändigen 
Lenntniß ber Nibelungenterte 3). 


Die Ausgabe bes Hilbebrandsliebs durch die Brüder Grimm, 


Im Jahr 1812 erſchien zu Caffel: „Die beiden älteften beut- 
ſchen Gedichte aus dem achten Jahrhundert: Das Lieb von Hilde 
brand und Habubrand und das Weißenbrunner Gebet zum erfien 
mal in ihrem Metrum dargeftellt und herausgegeben durch bie 
Brüder Grimm.“ Beide Denkmäler waren erft vor nicht langer 
Zeit von neuem herausgegeben worden: Das Hildebrandslied 
durch Reinwald im Neuen Fiterarifhen Anzeiger vom Jahr 1808 4); 
das Weffobrunner Gebet duch Gräter im Bragur °) und überfeßt 
von Reinwald in Docen’s Mifcellaneen 9) und ebenda erläutert 
von Doc ?), Die Brüder Grimm aber förderten nit mır an 
fo manden Stellen die Kritik des Textes und die Erklärung, fon- 
dern fie führten hier zum erftenmal ihre wichtige Entdeckung durch, 
daß beide Denkmäler in alliterierenben Verfen gebichtet find. Was 
das Hildehrandslied betrifft, fo hatte fhon im vorangehenden Jahr 
(1811) Jacob Grimm diefe Anfiht in Hagen’s Mufeum ausgefpro- 
chen ); Hier aber wird fie nun an den Texten ſelbſt im Einzelnen 
durchgeführt. Damit war bewiefen, „daß bie Alliteration vor dem Reim 


1) Ebend. ©. 160. — 2) Ebend. 161. Nämlich die Hagen'ſche Aus · 
gabe vom 3. 1810. (Bgl. ©. 146 fg.) — 3) Altbeutfehe Wälder, Band IL, 
©. 168 fg. Bb. II, ©. 1 fg. — 4) Neuer literar. Anzeiger 1808, 19. Jan. 
Bl. Sp. 38 fg. mit „Die beiden älteſten beutfhen Gedichte” — her. durch 
die Brüder Grimm S. 10. — 5) Bragur V, 1 (1797), 118 fg. — 
6) Mifcellaneen her. von Docen, Bd. II, 1807, ©. 290 fg. — 7) Ebenb. 
3. 1, 6. 20 fg. — Bgl. die Grimm'ſche Ausgabe ©. 86. — 8) Mufeum 
für Altdeutſche Literatur — her. von F. H. d. ber Hagen u. ſ. w. Bd. IL, 
6.314. Bgl. au W. Grimm, Altdän. Heldenlieder ©. 431. 
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486 Drittes Bud. Drittes Kapitel, 


aud) außer dem ſachſiſchen Stamm in Deutſchland geherrſcht Kat‘ '), 
Der größere Theil der Schrift ift dem Hildebrandslied gewidmet 
von welchem erſt der „urkundliche Zert”, dann eine „Wieder 
beritellung bes Textes“, darauf eine „wörtlihe Weberfegung“ 
und endlich eine „Umfdreibung“ geliefert wird. Es folgen 
dann ausführlie Anmerkungen zur Begründung ber Ueberjegung 
und eine Reihe von Abhandlungen über Handſchrift, Sprade 
und Alter des Gedichts, über Alliteration und Poefie, über Fort 
leben des Lieds, über deſſen Zufammenhang mit dem ganzen Fabel⸗ 
kreis und bie weiteren Beziehungen der Sage. Der zweite Heinere 
Theil der Schrift behandelt in ähnlicher Weife das Weſſobrunner, 
ober wie es hier irrthümlich genannt wird, Weißenbrunner Gebet?). 


Die Herausgabe ber Ebbalieber burd bie Brüber Grimm. 


Schon 1811 in der Vorrede zu ben altdäniſchen Heldenliedern 
ündigt W. Grimm an, daß er Hoffe, „durch die Güte bes Herrn 
Generals Grafen von Hammerftein“ demnädjft in dem Befig einer voll⸗ 
ftändigen Abſchrift der noch ungebrudten Lieber ber ſaemundiniſchen 
Edda, welde den Cyklus des Nibelungenliebs berühren, „zu fein 
und fie den Freunden dieſer Poefie mittheilen zu können” >). In 
einer Nachſchrift jagt er dann, daß er jegt im Beſitz ber gehofften 
Abſchrift fei und daß er fie gemeinschaftlich mit feinem Bruder von 
einer beutjhen Weberfegung begleitet herauszugeben gedenke 4). Die 
Brüder waren in ben Jahren 1810 — 12 voll von Planen zur 
Herausgabe altgermanifcher Poefieen. Sie beabfihtigten ſchon da 
mals eine Ausgabe des in Rom aufgefundenen Reinhart Fuchs ®). 


1) Die beiben älteften deutſchen Gedichte u. ſ. f. Vort. — Bl. 6.35 fg 
— 2) In Bezug auf das Wefjobrunner Gebet hatte ſchon Gräter in einem Pro⸗ 
gramm vom 6. Nov. 1807 bie Uebereinftimmung ber Versart mit ber alten nor 
diſchen bemerft, und Docen in ber N. Oberb. Lit. Zeit. vom 11. März 1811 
bie Alliteration nachgewieſen. gl. Grater's Idunna und Hermode 1818 
Anzeiger Nr. 6. Ebend. 1816, Lit. Behl. Nr. 1, ©. 7 fg. Jen. Lit. Zig. 
1815, Ergänsungsbl. B, 174. — 3) W. Grimm, Altbänifhe Heldenlicdet 
Heibelberg 1811, Borr. ©. XX. — 4) Ehen. ©. 545. — 5) Grhers 
Yunna und Hermobe I, Anzeiger Ar. 2, vom 18. Jan. 1812, 





Das Leben und bie Arbeiten der Brüder Grimm Bis zum Jahr 1819. 487 


Außer den Eddaliedern follte eine Sammlung altnordifher Sagen 
erſheinen i), fiir die fie bereits im Jahr 1811 eine Abſchrift ber 
Blomfturvalla » ſaga beſaßen 2). Eine „Ausgabe umb Bearbeitung 
des angelſächſiſchen Fragments von Yubith und der poetiſchen Um⸗ 
ſchreibung der Geneſis“ follte die Beobachtungen ergänzen, die fie 
am Hildebrandslied gemacht hatten 3). Die Ausgabe des Hilde⸗ 
brandslieds und des Weſſobrunner Gebets „lag auf dem Wege 
zur Herausgabe der eddiſchen Lieber” und „follte eine Probe von 
dem ablegen, was fi) die Brüder vorgenommen hatten, an den 
Ebdaliedern zu leiſten“ %. Als gewilienhafte Gelehrte vüdten fie 
aber mit ihren Planen nur langſam vorwärts, und fo kam ihnen 
3. 9. von der Hagen im J. 1812 mit der Herausgabe des Grund⸗ 
tettes der Eddalieder und 1814 mit deren Ueberjegung zuvor 5). 
Grit im Jahr 1815 erſchienen zu Berlin die „Lieber ber 'alten 
Eda. Aus der Handſchrift herausgegeben und erflärt durch bie 
Brüder Grimm. Erfter Band.“ Mehr als biefer erfte Band ift 
nicht herausgelommen. Er enthält ben Grundtert von dreizehn 
Helbenliebern der älteren Edda mit kritiſchen, ſprachlichen und fad- 
lichen Anmerkungen, und eine boppelte deutſche Ueberfegung berjel- 
ben, erft eine möglichft wortgetreue, dem Grundtert zur Seite ge- 
ftellte, und dann eine zweite in ſchöner deutſcher Profa. Seit jener 
Zeit ift für den Text und die Erflärung der Eddalieder fehr viel 
geihehen, und es verfteht ſich deshalb von felöft, daß von umferem 
ietigen Standpunkt aus nit Weniges im Text und in ben Er—⸗ 
Närungen der Brüder Grimm als verfehlt erſcheint. Verfegen wir 
uns aber um ein halbes Jahrhundert zurüd, fo werben wir nidt 
auftehen, in biefer Arbeit einen Beweis von dem Scharfſinn und 
von ben ſchon damals fehr bebeutenden Sprachkenntniſſen ber Bril- 
der Grimm zur fehen. 


i) S. bie Ankündigung in Gräter's Idunna und Hermode I, Anzeiger 
%.2, vom 18. Jan. 1812. — 2) Altbän. Heldenl. S. 440. — 3) Die beiden 
Atefgn deutſchen Gebichte u. ſ f, Her. durch bie Brüber Grimm, Gaffel 1812, 
Bor. — 4) Ebend. — 5) ©. 0. ©. 0, 


438 Deittes Bud. Drittes Kapitel. 
Die Ausgabe bes Armen Heinrih von Hartmann vom Aue. 


„Der arme Heinrich von Hartmann von ber Aue. Aus ber 
Straßburgiſchen und Vaticaniſchen Handſchrift Herausgegeben und er, 
Märt durch bie Brüder Grimm. — Berlin 1815” zeigt ung einer 
felts, wenn wir ihn mit dem Abdruck in der Myller'ſchen Samms 
lung (1784) vergleichen, mie hoch die Grimm fon bamals an 
Kenntniß des Mittelhochdeutſchen über ihrem Vorgänger ftehen, 
andrerſeits aber liefert er ums ben Beweis, welchen Umſchwung die 
Behandlung mittelhochdeutſcher Terte gleich in ben nächften Jahren 
durch Lachmann und bie Grimm feldft erfahren Hat. Wir gehen 
bier noch nicht auf diefen Gegenftand ein, fondern weiſen lieber 
daraufhin, wie treffend fi die Grimm ſchon damals über das 
Verhältniß ber höfiſchen mittelhochdeutſchen Dichter ausſprechen. Sie 
ertheilen der maßvollen Einfachheit des Armen Heinrich das ver⸗ 

diente Lob 1) und fahren dann fort: „Die eigene und beſondere 
Gabe des Dichters wirt dazu freilich das Ihre mit, und anf 
durch feinen wein bricht unverkennbar eine gewiffe Milde und 
Geiäjloffenheit durch, die wir weber im Triſtan noch weniger im 

Parcifal wahrnehmen. Im Triſtan flieht bie Rede fanft wie im 
wein, aber noch lieblicher, anmuthiger, manchmal bi in's fpielende; 
der Parcifal ift herber und fehwerer als beide, aber Tühner und 
präßtiger. In allen dreien Werken treten uns bie Eigenthümlid- 
feiten ber drei größten altdeutſchen Dichter ihrer Zeit guf das 
beutlichfte vor Augen: Gottfried's, Hartmann's und Wolfram’. 
Das Gedicht vom armen Heinrich iſt zu Mein, ums fich diefen zur 
Seite zu ftellen, fteht aber an innerer Gediegenheit zu alfer oberft“?) 
Die Uebertreibung, die in ben Schlußworten liegt, wird jegt Nie 
manb mehr unterſchreiben. Sonft aber fehen wir die Brüder 
Grimm bier bereits in wenigen treffenden Worten die Anficht über 
unfere höfiſchen Erzähler ausfpredien, bie jet im Weſentlichen bi | 
alten Geſchichtſchreibern unſrer mittelalterlichen Dichtung feftfteht. 


1) Bgl. 3. Grimm in ben Heidelb. Jahrbb. 1812, I, 6.49. — 2) Dr 
arme Heineid, Her. burd) die Brüder Grimm, Berlin 1815, ©. 138 fg. | 


Das Leben und bie Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 499 


Die gefonderten Arbeiten Jacob Grimm 6 und Wilhelm 
Grimm’s 1811 bis 1817. 


Jecob Grimm’s Abhandlung: „Gebanten über Mythos, Epos und 
Geſchichte.“ 1813. J 

Die Abhandlung, die J. Grimm unter obigem Titel in F. 
Sälegel’8 Deutſchem Muſeum 1813 1) veröffentlichte, bietet uns 
im Wefentlihen diefelben Gedanken, bie wir in früheren Abſchnitten 
aus anderen Schriften Grimm's mitgetheilt haben. Doch tritt ung 
Einiges Hier mit befonderer Klarheit entgegen. Wie überall geht 
auch Hier 3. Grimm davon aus, daß „Hinter der alten Fabel und 
Sage fein eitler Grund, Feine Erdichtung, fondern wahrhafte Dich⸗ 
tung liegt.“ Die Frage aber, die er unterfuden will, brüdt er 
in den Worten aus: „Löſen fi alle Sagen in einfade, immer 
einfachere Offenbarungen des Heiligften auf? Sind fie nur ein 
wechſelndes file das Unendliche, Unfaßliche ſich neuverſuchendes Wort 
und fließen fie, im Schein wandelbar, im Grund unwandelbar, 
endlich) in dem Urgedicht zufammen, von dem fie ausgegangen was 
ten? Ober aber haben fie fi, wie Gebirgsduft über Fernen tritt, 
an die vergangene Menſchenzeit gefegt, gehören fie zu unferer Ge» 
ſchichte mit, und find fie gleich diefer ewig hin etwas Neues, Ver- 
ſchiedenes, höchſtens Aehnliches?“ 2) Für beide Seiten laſſe ſich 
Vieles ſagen, meint J. Grimm. Man müſſe fie deshalb mit einan⸗ 
der zu vereinigen ſuchen. „Nur dadurch, fagt er, wirb der Wider- 
ſpruch verföhnt und gehoben werden, baß man beide Meinungen 
vereinbart, d. h. dem Vollsepos weber eine reinmythiſche (göttliche) 
noch reinhiſtoriſche (factifche) Wahrheit zufchreibt, fondern ganz 
eigentlich fein Wejen in die Durchdringung beider ſetzt. Gott» 
ähnlich find alle Menden, allein Gottes Ebenbild wurde erft durch 
die That des Menden, der feines Gleichen zeugt, gleihfam zu 
jedem geboren Menſchen Herzugerufen und neuerdings mit wieber- 
geboren; fo ift auch zu dem Epos eine hiſtoriſche That nöthig, von 
der das Volk Iehenbig erfüllt fei, daß ſich die göttliche Sage daran 


H Deutſches Mufeum her. von $. Sqhlegel. Dritter Band. Wien 1818, 
6.5975. — 2) Ebend. S. 54. 


440 Drittes Bud. Delnes Rapite. 


fegen könne, und beide find durch einander bedingt gemeien“ !). 
Dies führt nun Grimm an einigen deutfchen Beifpielen aus, näm- 
lich an der „berühmten Fabel von Wilhelm Tell” 2), und an den 
Traditionen „von ber fpinnenden rau Berta“ 3). In diefen Un 
terfuhungen bringt Grimm fehr verjhiedenartige Dinge zufanmen 
und will fie aus einer und berfelden Quelle ableiten. Tell fällt 
nicht nur mit dem engliſchen Schügen Bell, den nordiſchen Totko 
und Egill zuſammen, fondern auch mit dem griechiſchen Bellero- 
phon ). Frau Berta Ift nicht nur identiſch mit Frau Holle, fon- 
dern „wie Holle die Erde, war e8 auch Berta, nad abgeworfe⸗ 
nem Borfag — Erta, Hertha, Mutter Erde (De-meter, d. i. 
Gärmäter“ 9). Aber nach alle dem wendet fi Grimm nachdrüdlich 
zu dem Werth des Befonberen zurüd. „Betrachten wir aber num 
auch das Wefen ber Poeſie, fagt er, melde Fülle von Sprachleben⸗ 
digfeit hat ſich zwiſchen ber Urſprache (ber offenbarten) und ben 
heutigen Mundarten bewegt; welch ein Wachsthum des epiſchen 
Lebens liegt zwiſchen ber göttlichen dee und folgenden Zeiten, 
worin fie fi taufendmal wiedergeboren an menſchliche Geſchichten 
anknüpftel Die Poefie, das Epos ift mım gerade diefe nährende 
Mitte, diefe irdiſche Glüdfeligfeit, worin wir weben und athmen, 
dieſes Brot bes Lebens; weiter und freier als die Gegenwart, (bie 
Geſchichte, eine vergangene Gegenwart) enger und eingefhräntter als 
die Offenbarung (ber zeitlofe Urfprung). In der allgemeinen Sprache 
würde fein Dichter fingen können, durch eine allgemeine Mythologie 
würden wir ung um unfere Lieber, fo zu fagen um umfere weib⸗ 
liche Freude am Leben bringen, und follen daher, wenn wir das 
Allgemeine und Ewige ergründen wollen, das Befondere, Vater: 
ländiſche, Häusliche in ber That unangetaftet ruhen laſſen. Wem 
Homer und die Nibelungen uns das Herz bewegen, fo ift gewiß 
daß eine mythiſch bewährte gelehrte Miſchung beider es lalt laſſen 
müßte oder doch nit fo erfüllen könnte“ 6). — Nach meiner 


1) Gbend. 6.55 fg. — 2) Ebend. 6.56 fg — 9) Ebend. 
©. 02 fg. — 4) End. 6.59. — 5) Ebend. ©. 67. — 6) Cm. 
S. 72 ſo· 


Das Leben unb bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 41 


Meinung wird eSefeftftehen, daß das Epos, ja jeder rechte Menſch 
einen doppelten Theil an fi trage, einen göttlichen und menſch⸗ 
lichen. Jener hebt die Poeſie über die bloße Geſchichte, (in ber 
oft alle Luft niedergebrannt iſt und nur Fable Mauern ftehen) 
dieſer nähert es letzterer wieder, indem er fie nie ohne hiſtoriſchen 
Hintergrumd läßt und ihr einen frifhen Erdgeruch verleihet, ber 
nichts Eingebildetes, fondern etwas Wahrhaftes ift“ 1). 


Irmenftraße und Irmenfäule Cine mythologiſche Abhanb- 
fung von Jacob Grimm 1815. 


Wir beſprechen diefe zu Wien im Jahr 1815 erſchienene Ab⸗ 
handlung am diefer Stelle nur, um vorläufig ihren weſentlichen 
Inhalt anzugeben; auf ihre Methode und ihre Stellung in ber 
Entwilung Grimm's werden wir fpäter zurüdtommen. Der Ber- 
faffer geht aus von einer Sammlung der Vorftellungen, welde die 
verſchiedenen Völler mit dem „ihimmernden Streif zahllofer Fir- 
ferne am nachtlichen Himmel“ verbunden haben. Beinah alle 
nüpfen daran den mythiſchen Gedanken von Weg und Straße oder 
don Ausftreuung 2). Die Drientalen fehen die Himmelsftraße be⸗ 
freut mit goldener Spreu; bie griehifhen Sagen erkennen darin 
verfprügte Milch. „Im Chriftentfum nahm die dee wieder eine 
neue Wendung.” „Es herrſchte nunmehr der Begriff von einer 
himmliſchen Wanderſtraße vor“, eine „Straße der Seelen“, im 
Anſchluß an eine Vorftellung, die auch den antiten Griechen und 
Römern nit fremd. war 3). Gottes Boten wandeln auf dieſer 
Strafe. So wird fie in Verbindung gebracht mit den wandernden 
Pilgrimen und mit St. Jacob, dem Gottesboten; daher heißt fie 
Jacobsſtraße. Der Verfaſſer unterſucht nun zuerft die altfranzöfie 
ſche Sage 1), dann die deutſche von ring und der nach ihm be 
nannten Sternenftraße®). Er wendet fich darauf zu ben Sagen 
von berühmten Landſtraßen, umter denen ihm „die altengliſche bei 
weitem die wichtigſte“ 6) ift. Unter den vier fagenhaften altengli- 


1) &end. ©. 74. — 9) 3. Grimm, Irmenſttahe ©. 7. — 8) Ebend. 
&15.— 4) Eben. 6.18. — 5) Ebend. S. 21. — 6) Ebend. & 29, 


42 Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


fen Straßen ift wicher die Ermingfträt bie Wichtigſte. Diefe 
Bringt der Verfaffer einerjeits mit Armink (Armer, d. 1. Wanderer, 
Bettler) in Beziehung, andrerſeits aber fieht er darin bie deutſche 
Iringsſtraße ). Hier knupft fi ihm nun bie berühmte germani- 
fe Syrmenfäule an. „Irmin, fpäter Iring, war den germaniſchen 
Heiden ein hehrer Gott, König und Herrfher, allmählich wurde er 
in dem Epos zu einem großen Menſchenhelden, meil nach einem 
nothwendigen Gang der Sage ihre Wiebergeburten ung immer 
näher zu rüden pflegen“ 2), „Die Götterbilder und ihre Säulen 
ftanden aber auf dem Hauptplag bes Ortes, von dem aus die 
Straßen und Thore giengen, an ber Wegicheide und ben Wegen 
ſelbſt“ 9. „Natürlich alfo wurben bie Heiligen Säulen zu gleider 
Zeit Wegefäulen, woburd wir die Irmenſäule in einem nothwens 
digen Zufammenhang mit der Irmenſtraße erbliden" >). Hiemit 
ftehen dann wieber „die altdeutſchen Weichbilder der Städte, die 
Rolandfäulen am Gerichtsplatz“ ®) in Verbindung. Weiterhin aber 
„fällt noch ein neuer Lichtſtrahl in die Dunkelheit der Mythen, 
die, fo verſchieden fie aufgewachſen find, gleichen Urfprung Haben. 
Hermes wird in ber griehif—en Fabel in die Erflärung der himm⸗ 
liſchen Milchſtraße verflochten. Hermes aber ift ber Götterbote, 
der nit bloß die verfahrenden Seelen mit feinem Stabe, d. i 
Wanderftabe, geleitet, fondern aud ein Schützer und Pfleger der 
Erdenftraßen, darum ferner der auf ihnen wandernden Reiſenden, 
Armen, Bettler und Bagabunden war. Beides fließt aus derſelben 
Urſache, daß er Evodıog, Diebhelfer und feldft Dieb fein mußte, 
ben Heerftraßen ſowohl als dem Gefindel der Landftürzer, Räuber 
und Diebe vorftand. Was find alfo die Hermen (dome?) anders, 
als feine an offenen Landwegen errichteten Bildfäulen, genau unfere 
Sremenfäulen? Jetzt erft ift es erlaubt, am eine namentliche Ber- 
gleichung des Irmin mit Egws zu benfen, die auf feiner Exborg- 
ung jenes aus dieſem beruht, fondern tiefere gemeinſchaftliche Ur 
fprünge beider vorausſetzt“ *). ' 


1) &bend. S. 39 fg. — 2) Ebend. S. 41. — 3) Ebend, ©. 45.— 
4) Ebenb. ©. 46. 


Das Leben umb bie Arbeiten der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 448 


Jacob Grimm’s Sammlung altfpanifger Romanzen 1815. 


Unter bem Titel silva de romances viejos gab J. Grimm 
im Jahr 1815 zu Wien eine ſchon im Jahr 1810 angelünbigte *) 
Sammlung altjpanifger Romangen Heraus. J. Grimm ftellte ſich 
hier die bis dahin vernachläſſigte Aufgabe, das Urfprünglige und 
Ethte aus ber Maſſe der zahlreichen fpäteren Nachahmungen auszufgei- 
den und gefondert herauszugeben. Zugleich führte er einen mehr- 
fad von ihm beſprochenen Gedanken dur, indem er die Romanzen 
nicht, wie dies fonft üblich ift, in kurzen adt- und ſiebenſylbigen 
Berfen, fondern in epiſchen Langzeilen abbruden lieh. Wie bes 
deutend Grimm aud mit biefer Nebenarbeit eingegriffen hat, das 
ergibt ſich ſchon daraus, daß die größten Kenner ber fpanifchen Ro⸗ 
mangenpoefie Ferdinand Wolf und Eonrad Hofmann, noch nad 
vierzig Jahren ihre Sammlung der älteften und vollsmäßigften 
ſpaniſchen Romanzen Jacob Grimm widmen, „als bem Erften, ber 
die wahrhaft alten und vollsmäßigen Momanzen ber Spanier aus« 
zumählen und zu würdigen gewußt hat“ 2). 


3. Grimm's Beiträge zur Zeitfrift für geſchichtliche Net 
wiffenfaft 1815 bis 1817. 


Seit dem J. 1815 gab Savigny in Verbindung mit 6. F. 
Eichhorn und J. F. 2. Göſchen bie „Beitfgrift für geſchichtliche 
Rechtswiſſenſchaft· Heraus, an ber auch J. Grimm ſich betheiligte. 
Aufer einigen Meineren Beiträgen: „Ueber eine eigene altgerng« 
nie Weife der Mordſühne“ (1815) %), und: „Etwas über den 
Ueberfall ber Früchte" (1817) 4), und einer gelehtten Ueberſicht 
über die Literatur ber altnordiſchen Gefege 5) war es nor allem bie 


1) Bgt. bie Anfündigung I. Grimm's im Inteligengblatt ber Heidelb. 
gRehrbb. 1811, I, ©. 4. — 2) Primavera y flor de romances, — por 
Don Fernando Joss Wolf y Don Conrado Hofmann, Berlin 1856. 
6. bie Wibmung an J. Grimm und Jam. Geibel. — 5) Zeitſchrift für 
geſhicil. Rechtswiſſenſchaft, Bd. I, Berlin 1815, ©. 828—887. —.4) hend. 
&. I, 1817, 6.349367. — 5) Ebenb. Mb. TIL, Serlin 1817, 
6. 18-128; 


444 "Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


epochemachende Abhandlung: „Bon der Poeſie im Recht“, die 2. 
Grimm zu Savigny's Zeitfärift (1816) beiſteuerte ). „Es ift 
wohl auch einmal erlaubt, beginnt er, das Recht ımter den Ge 
fitspunft der Poeſie zu faffen und aus der einen im das andere 
lebendiges Beugniß geltend zu machen. Einen ſolchen Verſuch for- 
dert und verlangt jetzo zumal unſer deutſches Alterthum, in welchem 
fich von beiden beinahe aus gleichen Zeiten reiche und wichtige 
Denkmäler und nach den mannigfaltigen Landſtrichen, die der ger⸗ 
maniſche Stamm erfüllt hat, begegnen“ 2). „Daß Recht und Poefie, 
heißt es dann weiterhin, miteinander aus einem Bette aufgeftanden 
waren, hält nicht ſchwer zu glauben. Syn ihnen beiben, fobalb man 
fie zerlegen will, ftößt man auf etwas Gegebenes, Zugebrachtes, 
das man ein Außergefdichtlices nennen könnte, wiewohl es eben 
jedesmal an die befondere Geſchichte anwächſt; in Teinem ift blofe 
Satzung noch eitle Erfindung zu Haus“ 9. Dies wird dann näher 
ausgeführt mit befonberer Beziehung auf die epiſche Poefie. „Keinem 
Dieter gehört das Lied; wer e3 fang, mußte es bloß fertiger und 
treuer zu fingen. Eben fo wenig gieng das Anfehen. bes Geſetzes 
aus von dem Richter, der kein neues finden durfte; ſondern die 
Sänger verwalteten das Gut ber Lieber, bie Urtheiler verweſeten 
Amt und Dienft ber Rechte“ 9). Es wird num weiter nachgeiiefen, 
tote das altdeutſche Recht nach Anhalt und Form durchdrungen ift 
von poetifhen Elementen. Ueberall begegnen uns alfiterierende 
NRechtsformeln 6) und die Symbole bes alten Rechts zeugen für 
deſſen poetiſche Auffaffung 9). So beginnt Grimm hier feine reich⸗ 
haltigen, aus der Fülle gründlichſter Kenntniß geſchöpften Samm⸗ 
lungen für deutſche Rechtsalterthümer. Nicht bloß die bekannten 
Vollsrechte und mittelalterlichen Rechtsbücher, ſondern eben fo jeht, 
ia faſt noch mehr die Weisthümer und Satzungen einzelner Dorf- 
(haften, die altüberlieferten Gebräuche, die in ben Sagen und 
Märchen des Volles zerftrenten Züge uralter Rechtsanſchauung 


1) end. Vd. II, 1816, ©. 3599. — 2) Ebend. Bb. IL, 6.251. 
— 8) Ebend. Vd. II, ©. 37. — 4) Ebend. vd. I, 6. WM. — 5) Ede. 
8. II, 6. 40 fg. — 6) Ebend. Wh. I, ©. 74 fg. 


Das Leben und bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 445 


möffen ihm den Stoff liefern. Und das Alles wird mit dem Anu—⸗ 
hauch jener Friſche behandelt, welde die erften Ergüffe genialer 
Anſchauungen auszuzeichnen pflegt. 


Kleinere Arbeiten Jacob Grimm's und Wilhelm Srimms 
1811 bis 1816. 


Neben ihren größeren ſelbſtändigen Arbeiten fuhren die Brüder 
Grimm fort, in Beurtheilungen fremder Werke ihre Anfichten aus- 
zuſprechen. Für die Geſchichte ihrer Entwidlung find diefe kritiſchen 
Nebenarbeiten öfters von großem Werth, und wir werben uns 
ihrer zu dieſem Zweck mehrfach bedienen. Hier bemerken wir nur, 
daß es auch in ben Jahren 1811 bis 1816 vorzugsweiſe die Hei- 
delbergiſchen Jahrbücher waren, in denen bie Brüder Grimm ihre 
Urtheile nieberlegten. Wir heben aus benfelben hervor die um—⸗ 
faffenden Necenfionen Jacob Grimm’s über Hagen’s Muſeum für 
altdeutfche Literatur und Kunſt (1811), uber Hagen's Literariſchen 
Grundriß zur Geſchichte der deutfhen Poeſie (1812), über Bü- 
fhing’s Ausgabe des Armen Heinrich (1812), über den Lohengrin 
von Görres (1813), über Lachmann's Schrift über bie urfpränglice 
Geftalt der Nibelungen (1816) und über Benedce's Bonerius (1816) 
und die Recenſionen Wilgelm’s über Hagen's Heldenbuch (1811), 
über P. E. Müller's Aechtheit der Afalehre (1811) und über 
Rühs Edda (1812) umd defien Schrift über den Urfprung ber i8- 
Undiihen Poefte aus ber angelſächſiſchen (1814). Dieſen kritiſchen 
Arbeiten in den Heidelberger Jahrbüchern fügen wir nod hinzu bie 
Beurteilung von Raſt's isländiſcher Grammatik, die J. Grimm in 
der Halliſchen Allgemeinen Siteraturzeitung vom Jahr 1812 ver- 
Öffentlichte %). 


1) Als id) im J. 1865 das Kapitel Über das Leben unb bie Arbeiten 
der Brüber Grimm bis zum J. 1819 ſchrieb, mußte id mir das Material 
wähfen zuſammenſuchen. Jebt liegt es in Müllenhoff6 und Sqherer's ſorg⸗ 
tiger Ausgabe von Jac. Grimm's Recenſionen und vermiſchten Auffäden 
(Berlin 1869) zu bequemer Benutung vor. 


46. Drittes Buch. Drittes Kapitel. 


IM. Kücblik auf Iacob Grimm’s Aufichten und Leikungen während der 
erhen Periode feiner Thätigkeit 1807 bis 1819. 


Wir haben die Darftellung von J. Grimm’s Thätigfeit hin⸗ 
abgeführt bis zum Schluß ihrer eriten Periode. Blicken wir noch 
einmal zurüd auf Grimm's Arbeiten aus dieſer Zeit und ſuchen 
wir uns deren Vorzüge, wie deren Mängel zu vergegenwärtigen. 
Die ſchlummernde Liebe zu unfrer alten Poefie war in Grimm ger 
wet worben durch ben Vorgang ber Romantiter. Tied’s Mime 
Heber und beffen „Hinveißende Vorrede“ dazu hatten ihn auf die 
deutſchen Minnefinger „gefpannt gemacht“ i). Aber Bald belehrt 
ihn ein gründliches Studium, daß die Sache noch ganz anders an 
gefaßt werben muß. Er vergift zwar nit, was er den Roman 
tifern verdankt. „ES gehört mit zu dem Vorteilen ber neuen 
Schule, fagt er 1807, daß fie das Studium der altdeutſchen Ge 
dichte wieder in Anregung gebracht und ihren Werth ausgeſprochen 
hat“ 2). Aber er durchſchaut au die Schwächen ber Romantiler 
in ihrer Behandlung der altdeutſchen Gedichte. „Won Tiecs 
Sammlung (der Minnelieder), äußert ev 1812, verbient bloß das 
Lob ihrer Wirkung unter den Zeitgenoffen und die Vorrede auf 
die Nachwelt zu kommen“). Doch aud die Richtung, welde die 
Häupter ber romantiſchen Schule eingejhlagen hatten, fagte Grimm 
nit zu. Es war nicht das Mittelalter, am wenigften ber ſpeci⸗ 
fiſche Katholicismus bes Mittelalters, was ihn anzog, fonbern das 
Deutſche in den Erſcheinungen des Mittelalters. Dem Deutſchen 
aber wandte fi feine Forſchung zu nicht Bloß im Mittelalter, 
fondern ebenfo in ben Zeiten bes deutſchen Heidenthums, bie dem 
Mittelalter vorangiengen, und im benen Luther's, bie ifm nad 
folgten. Hier liegt die hohe Bedeutung der Arbeiten, durch welhe 
die Brüder Grimm ſchon in ber erften Periode ihrer Thatigleit 
eine neue Epoche dev Wiſſenſchaft anbahnten. 


1) 3. Grimmes Selbſtblographie in 2. W. Jufi’s Grundlage zu eine 
Heflligen Geiepriengeigigte, Marburg 1881, ©. 152. — 2) 3 Gran 
tim Mündener Reuen Literer. Unzeiger 21. Apr. 1807, Ep. HL. — 93 
Grimm in ben Heibelb. Japıhb. 1812, ©. 850. 


D 
Das Lehen und die Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 447 


Weit inmiger, als mit ben Häuptern der romantiſchen Schule 
befreundete fi Grimm mit dem Nachwuchs der älteren Romantik, 
vor allen mit Arnim, dem echt deutſchen Edelmann, ber rende 
und Leid feines Volls in treuem Herzen trug und in beffen Bruft 
bie Boefie des Volkes wieberflang. Aber auch zu Görres, wie er 
damals war, 309 es ihn hin. Wie Hod er ihn fhägte, hat er 
mehrfach ausgeſprochen 1). Es war die warme Liebe zum deutſchen 
Bolte und deſſen alter Eigenthümlichleit, was die beiden Männer 
zuſannnenführte. Aber noch ein anderes Element zieht Grimm zu 
Goͤrres. Grimm hat fih nie zufammenhängend mit der fpecula> 
tiven Philofophie beſchäftigt. Aber der Tiefſinn der philofophiigen 
Auffaſſung, die fi) damals von Schelling ausgehend über viele 
geiftvolfe Männer verbreitete, hat mitteldar auch ihn ergriffen. Der 
Einfluß, den Görres und Kanne in biefer Beziehung auf Grimm 
übten, ift am fo erflärliher, als au das diefen entgegengejegte 
Element in Grimm's Entwidlung: Savigny’s klare hiſtoriſche 
Auffaffung des Rechts, in naher geiftiger Verwandtſchaft zu Schel- 
ling's Philoſophie ftand. Auf dies letztere Verhältniß gehen wir 
hier noch mit ein. Wir werben fpäter darauf zurückkommen. 
Hier wollen wir nur über den Zufammenhang Grimm’s mit der 
Art von Raturphilofophie, wie fie ſich in Görres barftellte, bemer- 
ten, daß er neben den tieffinnigen und berechtigten Seiten biefer 
Auffoffungsweife auch deren großen und verberblihen Gefahren 
nicht entgieng. Mit Görres, Creuzer, Kanne und anderen For⸗ 
fern jener Tage erhebt fih Grimm über die feihte Meinung, bie 
in den Mythen ber Völler nur fabelhaften Unſinn oder Betrug der 
vrieſter fieht. Er fpürt ihrem tiefen Gehalt und ihren uralten 
Bufammenhängen nad. Aber wie bie genannten Forſcher, fo er- 
gibt auch er fi einem zügellos phantaftiihen Gombinteren, das 
ohne ſichere Methode das Verſchiedenartigſte zuſammenwirft. Er 
lobt Görres’ Einleitung zum Lohengrin mit ihrer wüſten Ver⸗ 
mengung alles Denkbaren ?), ja er fegt das von Görres Begon- 

1) Heibelb. Jahrbb. 1811, & 157. 1813, ©. 859. Nod 1815 Hat 
Grimm feine Sammlung altfpanifger Romanzen Görres gewidmet. — 
9) deidelb. Jahtbb. 1818. ©. 849. 


448 Drittes Bud. Drittes Kapitel 


nene noch weiter fort‘). Ebenſo leiftet er im feinen felbftänbigen 
mythologifhen Arbeiten das Unglaubliche in phantaſtiſcher Zuſam⸗ 
menwürfelung des Verſchiedenartigſten. In der Schrift über bie 
Irmenſtraße geht Grimm von einer Bufammenftellung der ver- 
fchiedenhrtigften Völker aus und gelangt dann zu Reſultaten wie 
dem, daß Theben mit sieben einerlei fei und anbrerfeits wieder 
in tief bebeutfamer Weife mit bem hebräiſchen theben (Stroh, 
Spreu) zufammenhänge, und daß man „felöft unfere, mit Syring 
identiſchen Sibich zu ber böfen Zahl sieben ftellen” und „in ihm 
den böfen Hund und Wolf, den mondſchlingenden Dieb Diebsgott, 
und Typhon herausheben“ dürfe 2). 

Man fieht, die ſichere Methode einer gründlichen Sprachforſqh⸗ 
ung, bie ben Arbeiten Grimm’s aus der folgenden Periode ihr 
laſſiſches Gepräge gibt, fehlt hier noch gänzlih. Aber, wird man 
fragen, wie ift die möglich, da doch auch die bisher beſprochenen 
Arbeiten Grimm's eine feltene und ausgebreitete Sprachkenntniß 
zeigen? Um ſich hierüber klar zu machen, iſt es vor allem erfor- 
derlich, zu unterſuchen, von welcher Art bis dahin bie Sprach⸗ 
kenntniſſe Grimm's gemeſen find. Ganz unbeſtreitbar hat fih 
Grimm ſchon während dieſer erſten Periode ſeiner literariſchen 
Thãtigkeit ſehr umfaſſende Sprachkenntniſſe erworben. Trotz aller 
Verſtöße, die wir jetzt feinen Ausgaben altgermaniſcher Sprad- 
bentmäler mit leihter Mühe nachweiſen, werben wir doch, went 
wir ums in die damalige Zeit verfegen, nicht läugnen, daß feine 
Lieder ber alten Edda ein ernftes Studium bes Altnordiſchen, fein 
Hildebrandslied eine damals nicht gewöhnliche Kenntniß des At- 
hochdeutſchen und Altniederdeutſchen, fein Armer Heinrich und fein 
Antheil an den Altdeutſchen Wäldern, fo wie feine Kritifen in den 
Heibelberger Jahrbügern eine umfaſſende Beſchäftigung mit dem 
Mittelhochdeutſchen bezeugen. Außerdem Bat er an ber Hand ber 
Barifer Manuftripte Altfranzoſiſch) und mit Hilfe ber wenigen 


1) @bend. ©. 855 fg. zu Gorres Einleitung zum Lohengrin &. XV. 
XVI. — 2) I. Grimm, Irmenſttahe und Irmenfäule, Wien 1815, ©.59. — 
3) J. Grimm, Jrmenfrafe, Wien 1815, ©. 18. ©. 30. 


Das Leben und die Arbeiten der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 449° 


damals zugänglichen Quellen Provenzaliſch getrieben 1). Für feine 
Kenntniß des Altſpaniſchen legt feine Silva de romances viejos 
Zeugniß ab. Auch fallen die Anfänge feiner eingehenderen ſlavi⸗ 
ſchen Studien bereits in die Zeit feines Aufenthalts zu Wien in 
den Jahren 1814 und 15%). Uber fo viel auch Grimm ſich da- 
mals ſchon mit der Sprache als folder zu ſchaffen macht, ber 
eigentliche Hauptzweck feines Sprachenlernens ift nod das Stublum 
der Poefie; hiezu foll ihm die Erlernung der mannigfaltigften 
Spraden als Mittel dienen. Wir haben öfters ſchon bemerkt, wie 
bedeutend Grimm’s Leiftungen auf diefem Gebiet, wie überraſchend 
richtig oft feine Blide in die Geſchichte der Dichtung auch damals 
ſchon waren. Bon diefer Seite gewinnt die Kritik und Erklärung 
der altgermaniſchen Texte bereit fein lebhaftes Intereſſe, und wir 
haben mehrfach gefehen, wie weit er in diefer Beziehung manchem 
angefehenen Zeitgenofien, 3. B. von der Hagen, fon damals vor⸗ 
aus war. Wie. weit er freilich auch hierin noch hinter feinen eigenen 
ipäteren 2eiftungen und denen Lachmann's zurüd blieb, das erkennt 
man, wenn er in der Ausgabe des Armen Heinrich (1815) aus- 
drũcllich auch die Schreibung der Handſchrift nicht verändern will 9). 
Ubrigens haben allerdings aud rein grammatifche Fragen ſchon da- 
mals für Grimm Intereffe, wie man aus feiner Beurtheilung von 
Raſk s Anleitung zur islandiſchen Sprache aus dem Jahr 1812 4), 
aus feinen grammatiſchen Erörterungen mit Benecke in den Alt 
deutſchen Wäldern 5) und den ebenbort veröffentlichten „Grammar 
tigen Anſichten“ (1813) erfennt‘). Ja wir finden in Grimm’s 
damaligen Arbeiten ſchon jo mande tiefe Blide in das Wefen der 





b 3. Grimm, Ueber den altbeutfpen Meiftergefang, Gött. 1811, 
&. 143 fg. — 2) I. Grimm's Selbfibiographie bei Zufii ©. 159. Beſchafugt 
mit den ſiaviſchen Sprachen Hat fic übrigens I. Grimm auch früher ſchon, 
wie man aus feiner Beurteilung von Raſt's Vejledning in ber Hall. Lit. 
Zig, 1812, d. 7. Gebr, Sp. 259 ſieht. — 3) Der arme Heinrich, her. durch 
die Brüber Grimm, Berlin 1815 ©. 142. — 4) Halliige Allgem. Literatur 
Zeitung 1812 d. 3. Febr. fg. — 5). Alideutſche Wälder, Bd. I, 1813, 


&.178 fg. — 6) Ebend. ©. 179 fg. 
Raumer, Gehß. der germ. Poifelogle. 29 


450° Drittes Bud. Drittes Kapitel. 


Sprache umd ihren Bau. Was er in der Abhandlung „Bon ber 
Poeſie im Recht“ (1816) über den Zufammenhang beider in der 
Sprache fagt, deutet bereit3 auf Grimm’s fpätere großartige Forſch- 
ungen bin. „Alles was anfänglih und innerlid) verwandt ift, 
heißt e8 da, wird fi bei genauer Unterſuchung als ein foldes 

ftet3 aus dem Bau und Wefen der Sprache jeldft rechtfertigen 
laſſen, in ber immerhin die regſte, Iebensvollfte Berührung mit 
den Dingen, bie fie ausdrüden foll, vorſchlägt. Und fo reicht die 
aufgeftellte Verwandtſchaft zwiſchen Recht und Poefie ſchon in die 
tiefften Gründe aller Spraden Hinab* '). Mit melden Scharf 
finn Grimm ſchon in jenen Jahren in den grammatifchen Bau der 
Sprade eindrang, das bezeugen feine Bemerkungen über bie Ent 
ſtehung bes norbifhen Paffivs aus dem Verwachſen des Refleriv 
pronomens ber britten Perfon mit dem Verbum (1812) 2) md 
über ben Zufammenhang der Perfonalendungen des griechiſchen 
Verbums (pas, cas, zas) mit den brei Perfonalpronominibus, 
zuerſt ausgefproden in der Beurteilung von Raſk's Vejledning 
1812 3) und weiter ausgeführt und aud auf das ws ber Berba in 
pa bezogen in ben Altdeutſchen Wäldern 1813 %). In fo manden 
weſentlichen Punkten finden wir Grimm ſchon damals auf dem 
richtigen Wege. Die „anfänglihe Gemeinſchaft aller germaniſchen 
Völfer fei für die Sprache Längft erwieſen, für den Mythus hödft 
wahrſcheinlich zu machen“, äußert er 1812 5). Will man weiter in 
die uralten Zufammenhänge der Völlker zurüdgehen und z. B. Zeus 
mit Odin vergleichen, fo „hält es, fagt Grimm 1815, ſehr leicht, 
ſolche allgemeine Säge, wie aud in der Geſchichte der Urſprache, 
überall wahrzunehmen. Sie haben aber gar fein Verdienſt, fe 


1) 3. Grimm, Bon der Poefie im Recht, in ber Zeitſche. für geſchichtich 
echtswiſſenſchaſt, Bb. IT, (1816) ©. 30. — 2) Hal. Literaturgeitung 1812. 
d. 7. gebt, Sp. 258 fg. — 3) Hall. Literatur » Zeitung 1812, d. 7. Gebr. 
Sp. 259. — 4) I. Grimm, Grammatiſche Anfihten, in ben Altdeutſchen 
Wälbern Band I, (1813) ©. 186. — 5) Die beiden älteften deutſchen Ge 
dichte — Her. durch die Brüder Grimm, Gaffel 1812, ©. 35. 


Das Leben und die Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 451 


fern fie nicht im Stande find, die ganze lebendige Reihe aller 
Nittelglieder nachzuweiſen“ 1). 

Nach alle dem wird man es nur geredtfertigt finden, wenn 
J Grimm ſchon vor dem Jahr 1819 für einen der erften Kenner 
der altgermaniſchen Sprachen umd Literaturen galt. Aber wie ftand 
es in Wahrheit mit feiner damaligen Sprachforſchung, wenn wir 
fie mit dem Maßftabe mefjen, den Grimm felbft uns durch feine 
ipäteren bahnbrechenden Werte an die Hand gegeben hat? Trotz 
der einzelnen ganz ‚richtigen Blide, die wir angeführt haben, erhob 
ſich Grimm's Spradforihung damals nicht über die regellos phan- 
taſtiſche Willkür, mit der fie von Kanne und ähnlichen Etymologen 
betrieben wurde. Grimm ſelbſt beruft fih mehr als einmal mit 
Beifall auf Kanne ?). Und in der That unterfKeidet ſich fein Ber- 
fahren nicht weſentlich von dem biefes Gelehrten. Wir könnten die 
Beweife für diefe Behauptung in Menge beibringen, beſchränken 
uns aber darauf, zu den bereit weiter oben mitgetheilten Beifpie- 
len nur noch ein einziges hinzuzufügen. In den „Gedanken über 
Mythos, Epos und Gedichte” (1813) meint Grimm, „daß von . 
der Grundform all oder ell (melde das ſchnelle, eilende, ge- 
ichnellte, ſcharfe ausbrüdt und noch in Ahle subula, isländ. alr, 
aneglſ. äle, engl. awl, und dem isländ. aull, öl Pfeil übrig ift) die 
unzähligen Bildungen: Pfeil, Bil, —, Beros, Biel, Tel, telum, 
le (fern), rail, Strahl, nail, Nagel, Nadel, Stachel, Adel, 
Egel, Igel u. ſ. w. herftammen.” Und dazu heißt es dann in 
einer Anmerkung: „Am richtigſten betrachtet man die meiften An- 
fangsconfonanten als gleihgültige Vorjäge vor den Wurzelvocal“ 3). 
Man fieht, Hier Handelt ſich's nicht um vereinzelte etymologiſche 
Mißgriffe, fondern um eine grundverfehrte Auffaffung des ganzen 
Gebiets. Und wie tief mußte diefe willkürlich phantaftische Behand- 


1) 3. Geimm, Jemenftraße, Wien 1815, ©. 35. — 2) I. Grimm in 
5 Sälegers Deutſchem Mufeum TIT, (1813) ©. 64. Die beiben älteften 
deutſchen Gedichte (1812) ©. 67. Irmenfirafie (1815) ©. 15. 59. 62. Alt 
beutfhe Wälder I, (1813) ©. 16. — 3) I. Grimm in F. Sqlegel's Deut: 


fhem Muſeum TIT, (1813) ©. 61. I 


452 Drities Buch. Viertes Kapitel. 


lung ber Sprade auf alle anderen Gebiete von Grimm's Forjſch⸗ 
ung einwirfen! Aber gerade hier vollzieht ſich gegen das Ende der 
jegt behandelten Periode die große Wendung in Grimm’s Studien, 
die feiner ganzen Forſchung und der gefammten deutſchen Alter- 
thumswiſſenſchaft eine neue Grundlage gab. 


Biertes Kapitel. 
Die Wendung zu ſtrengerer Wiſſenſchafilichteit 1815 bis 1818. 
Auguf Wilhelm Sqlegel's Benrtheilung der Altdentfgen Wälder 1815. 


An’ einer Beurtheilung der Altdeutſchen Wälder, die in ben 
Heidelberger Jahrbüchern 1815 erſchien 1), ſprach A. W. Schlegel 
ſeine Anſichten über die altdeutſchen Studien und über die Behand⸗ 
lung derſelben durch die Brüder Grimm aus. Er hat kein Auge 
für die geniale Tiefe, die ſich trotz aller Mängel auch in den 
früheren Schriften der Brüder Grimm fund gab, umb verhennt 

* deren eigentliche Bedeutung. Aber bie ſchwache Seite an ben Ar- 
beiten 3. und W. Grimm's durchſchaut er mit großem Scharfblick 
und dedt fie fhonungslos auf. Wir wollen ung hier nicht auf 
halten bei den theils richtigen, theils verkehrten Bemerkungen, die 
er über Epos, Sage und Märchen macht, ſondern fogleid; zu dem 
wichtigften Theil der ganzen Beurtheilung, zu Schlegel’s Angriff 
auf J. Grimm’s Bisherige Sprachforſchung übergehen. Mit ſchärj⸗ 
fter Vitterfeit greift er die „babyloniſche Sprachverwirrung“ in 
Grimm's Etymologien an, und nachdem er Grimm's Behauptung: 
„nemo nicht contrahiert aus ne homo, fondern ho ein bloßer 
Vorſatz, und mo foviel als mas, mans, Mon“, ſpottend widerlegt 
hat, führt er fort: „Darüber werben alle Kenner einverftanden 
fein, baß wer folde Etymologien an das Licht bringt, noch in den 
erſten Grunbfägen der Spradforigung ein Fremdling ift“ 2). So 

1) Heibelb. Jahrbb. 1815, ©. 721-766. Wieder abgebrudt in 1. ©. 


Eqhlegels ſammtlichen Werten, Band XII, ein 1847, ©. 3:48. — 
9) Heibelb. Jahrbb 1815, ©. 738. 


Die Wendung zu firengerer Wiffenfchaftlichfeit 1815 bis 1818. 458 


ummmmwınben verdammt Schlegel Grimm's damalige Sprachforſchung, 
obſchon er im anderen Beziehungen den Grimms „einen nicht ge- 
ringen Scharffinn, eine ausgebreitete Belejenheit, einen unermüd- 
Iihen Fleiß in Aufſpürung aud bes Unbemerkteften“ zuerlennt 1). 
Was Schlegel vor allem auch von der deutſchen Philologie 
fordert, ift ſtreng philologiſche Methode und dieſe wieder ift ihm 
nur möglich auf dem Grund der Grammatil. Nah ausführlicher 
Erörterung einer Stelle in Wolfram's Barcival fährt er fort: „Die 
Entifferung eines einzigen Verjes könnte unfern Leſern fo vieler 
Umſtändlichkeit nicht werth zu fein ſcheinen. Allein die Philologie 
hat immerfort mit folden Mlleinigfeiten zu thun; fie ſchämt fi 
deſſen nicht bei den geringften Ueberreſten des claffifchen Alterthums: 
warum ſollte fie e8 bei den altdeutſchen Denkmalen? Alle Beihäf- 
tigung mit ihnen bleibt ganz unerſprießlich, fo lange man fie nicht 
gehörig verfteht. Dazu ift ſcharfe Kritik, ſprachkundige Genauigkeit 
md gründliche Auslegungskunft erforberlih, -und hierin ift, einige 
rühmlige Ausnahmen abgerechnet, noch faft gar nichts geleiftet 
morden“ 2). Zu einer folhen Auslegung und Tertkritit find aber 
vor allem gründliche grammatiſche Kenntniffe unbedingt notwendig. 
„&8 wäre ein fehr erwünſchtes Geſchenk für alle Freunde unferer 
alten Dichter, jagt Schlegel, wenn ein gründlicher Gelehrter, wie 
Hr. Benede, eine deutſche Sprachlehre des dreizehnten Jahrhunderts 
liefern wollte. Man kann es nicht genug wiederholen, bie Be— 
ſchaͤftigung mit den alten einheimifhen Schriften kann nur durch 
Anslegungskunft und Kritit gedeihen; und wie find diefe möglich 
ofne genaue grammatiſche Kenntnig? Die Schwierigkeiten eines 
folgen Unternehmens find freilich nicht gering, wegen der vegellofen 
Screibung ungelehrter Abſchreiber, wegen bes Mangels an pro» 
feifen Schriften aus diefem Zeitraume, endlich wegen der Unzu- 
verläffigfeit der bisherigen Ausgaben“ 3). Man fieht, Schlegel hat 
über den Gegenftand gründlich nachgedacht. Cr weiß auch fehr wohl 
Veſcheid darüber, wo bis bahin für die altgermaniide Grammatik 
etwas gejhehen war. „Für die Geſchichte unferer Grammatik, jagt 





1) &bend. ©. 722. — 2) Ebend. ©. 734. — 3) Ebend. S. 748. 


454 Drittes Bud. Viertes Kapitel. 


er, ift bisher durch Ausländer mehr geleiftet worden, als durch 
deutſche Gelehrte. Wir nennen hier vorzüglich außer Hides und 
Lye eine holländiſche Schrift: Gemeenschap tussen de Gottische 
Spraeke en de Nederduytsche, von Lambert ten Kate. Sie 
umfaßt nicht die ganze gothiſche Grammatik, fondern bloß die Con⸗ 
jugation und Declination, dieſe find aber meiſterlich behandelt“ 1). 
Insbeſondere rühmt Schlegel an Ten Kate, daß er die germaniſchen 
ftarfen Verba erfannt habe. „Wie lange werben die deutſchen 
Spradlehrer fortfahren, fagt er, wie Adelung eine Menge Zeit- 
wörter als unregelmäßig zu verfennen, . die nur kunſtreicher vegel- 
mäßig find als die übrigen und zu einer zweiten Konjugation ge 
hören? Schon Hides (Thesaur. Ling. septentrion. II, p. 71) 
warf einen Wink darüber Hin. Lambert ten Kate hat den Sat 
durchgeführt, die ſämmlichen Beitwörter des Ulfilas nach Klaſſen 
geordnet und ihre Analogie bis in die feinften Verzweigungen nad: 
gemiefen“ 2). 

Die Necenfion Schlegel’s erihien im 3. 1815. Gleich in den 
nächſtfolgenden Jahren legt Grimm den Grund zu feiner deutſchen 
Grammatik, deren erfter Band 1819 herauslam. Ohne Zweifel 
war die große Wendung in Grimm’s Forſchung die Entwidelung 
eines in den Tiefen feiner eigenen Anlagen ruhenden Keims. er 
aber möchte den Zufammenhang von Schlegel’3 Aeußerungen mit dem 
endlich zum Durchbruch gefommenen Entſchluß des großen deutſchen 
Grammatikers läugnen? Schlegel hat ſich fpäter mit größter An- 
erfennung über Grimm’s Grammatik ausgeſprochen 3); und Grimm 
ſchreibt zwanzig Jahre nach jener ſcharfen Kritik Schlegel’s an 
Lahmann: „Gegen Schlegel find Sie fortwährend hart; faſt zu 
zu jehr. Ih banfe ihm immer noch die im meiner Jugend durch 
ihn empfangene Anregung“ 9). j 


1) Ebend. ©. 744. Ten Kate's ſpäteres Hauptwerk (f. o. ©. Ud ig 
ſcheint Schlegel entgangen zu fein. — 2) Ebenb. ©. 745. — 3) In einm 
Briefe an W. von Humboldt vom 21. Dec. 1822. A. W. Sqhllegers Br 
®b. XII, ©.403. — 4) W. Scherer, Jacob Grimm, Berlin 1865, S. 70. - 
Bol. aud den achtungsvollen Brief I. Grimm’s au A. W. Shhlegel vom 


Die Wendung zu firengerer Wiffenfhaftlichleit 1815 bis 1818. 455 


Georg Friedrich Benehe's frühere Arbeiten. 


Auf felbftändigem Wege, obwohl fpäter nah befreundet mit 
den Brüdern Grimm, Hat George Friederich Benede bie 
Bahn zu einem richtigen Verftänbnig der mittelhochdeutſchen Dichter 
gebrochen. Geboren am 10. Yuni 1762 zu Möndsroth im Für- 
ſtenthum Dettingen, wohin fein Großvater aus Braunſchweig ges 
zogen war, erhielt er feine erfte Bildung auf der Schule zu Nörb- 
fingen und fpäter auf dem Gymnafium zu Augsburg, wo fein ge- 
lehrter Oheim, Freiherr von Tröltſch, der ſich eifrig mit dem alt- 
deutſchen Rechte beihäftigte, eine erlefene Bibliothek befaß, deren 
laitaliſche Werte Benede’s Aufmerlſamkeit zuerft auf bie frühere 
Geftalt der deutſchen Sprache Ientten. Er bezog 1780 die Univer- 
fät Göttingen und wurde dort der Schüler des berühmten Haffifchen 
Philologen Heyne. Auf Heyne’s Empfehlung ward ew-1789, bei 
der Göttinger Univerfitätsbibliothet angeftellt. 1829 wide er zum 
Vihliothefar, 1836 zum Oberbibliothefar an berjelben befürbert. 
Auglei erhielt er 1805 eine auferordentlihe, 1814 eine orbent- 
liche Brofeffur der Philofophie an der dortigen Umiverfität. Seine 
Vorlefungen betrafen vorzüglich die engliſche Sprache, deren grüß- 
ter Kenner in Deutihland er war, und die altdeutſche Literatur. 
Als hochbetagter Greis ftarb er zu Göttingen am 21. Auguft 1844 1). 

Seine literariſche Laufbahn begann Benecke mit Arbeiten auf 
dem Gebiet der engliſchen Literatur. Es konnte kaum eine beſſere 
Vorbereitung für die Erforihung des mittelhochdeutſchen Sprad- 
ſchatzes geben als die genaue und forgfältige Behandlung des Eng- 
lügen, deren ſich Benede als hochgeachteter Lehrer diefer Sprache 
befleigigte. Am Engliſchen Yernt man, wie häufig das Deutſche 


3. Det. 1832 in dem Verzeichniss der von A. W. v. Schlegel nachge- 
Iassenen Briefsammlung v. Ant. Klette, Bonn 1868, 8. XI fg. — 
1) Die obigen Angaben über Benede’s Leben find theils dem Artikel Benede 
im erſten Band des Gonverfations:Lerifons ber neueften Zeit und Literatur, 
Airgig 1832, entlehnt, tHeils dem Neuen Nefrofog ber Deutſchen, 22fer 
Yasıgang, Weimar 1846, ©. 602 fg. 


466 Drittes Buch. Viertes Kapitel. 


und das Englifhe diefelden Wortkörper bewahrt haben, während 
die Bebeutungen desſelben Wortes in den beiden Sprachen bald 
ftäfer, Bald feiner auseinandergegangen find. Die erfte jelbftän- 
dige Arbeit Benede's auf altdeutihem Gebiet waren bie Beyträge 
zur Kenntniß der altdeutihen Sprache und Literatur, Erſter Band, 
Theil I, Göttingen 1810. Sie enthielten Ergänzungen zu Bod— 
mer's 1758 erihienenen Minnefingern aus der zu Bremen aufbe⸗ 
wahrten Abſchrift des Parifer Coder, die Goldaft beſeſſen hatte. 
Man erfannte daraus die Willfür, mit der Bodmer feine Vorlage 
behandelt hatte, und zugleich zeigte die vom Herausgeber beigefügte 
Interpunktion deſſen gründlices Verftändniß feines Textes. Sechs 
Jahre ſpäter (Berlin 1816) erſchien Benecke's Ausgabe von Bo— 
nerius Edelſtein 1). Hier legte Benede zuerſt ſeine Anſichten über 
das Verhältniß der mittelhochdeutſchen Sprache zur neuhochdeutjchen 
dar und gab zugleich in dem beigefügten Wörterbuch eine treffliche 
Probe von der richtigen Auffaſſung des mittelhochdeutſchen Wort- 
Tages. Die 1757 zu Züri erihienene Ausgabe von Bonerius 
Fabeln ſei vergriffen, fagt er im Vorberiht, und dann fährt er 
fort: „Zwar Hat Herr Hofrath Eſchenburg erft vor einigen Jahren 
eine Ausgabe diefer Fabeln veranftaltet; allein fein Abfehen war, 
feiner ausdrüclichen Erklärung zufolge, vorzüglich auf ſolche Leer 
gerichtet, welche durch die alte Sprache zurückgeſchreckt werben, 
während bie gegenwärtige Ausgabe einzig und allein für ſolche de 
fer beftimmt ift, welde duch die alte Sprade angezogen werden, 
und welde wünſchen, den alten Dichter in jeiner eigenthümlicen 
Geftalt kennen zu lernen. So wie es aljo bort darauf ankam, daß 
Alles Allen verſtändlich fei, fo kam es hier darauf an, daß Alles, 
fo viel als möglich, echt jei“ 2). Man kann den Gegenjag zwiſchen 
dem bisherigen Dilettantismus und ber beginnenden Wiſſenſchaft 
nicht treffender ausdrücken, als es in biefen Worten geſchieht. 

1) Der edel stein getichtet von Bonerius. Aus Handschriften 
berichtiget und mit einem Wörterbuche versehen von George Frie 
derich Benecke. Berlin 1816. — 2) Vorbericht des Herausgebers 
8. VIIL fg. 


Die Wendung zu frengerer Wiffenigaftlifeit 1815 bis 1818. 457 


Ueber die Art, wie der Tert eines altdeutſchen Gedichts zu behan⸗ 
dein fei, fagt Benede dann weiterhin viel Richtiges. Aber zur 
Erreichung des Zieles ftanden ihm weder die geiftigen, noch die 
äußerlien Mittel damals ſchon zu Gebote. Die Löfung diefer 
Aufgabe war feinem großen Schüler vachmann vorbehalten. Das 
beigegebene Wörterbuch dagegen ift nad) Anlage und Ausführung 
epochemachend, indem e3 den Anfang der wahrhaft wiſſenſchaftlichen 
mittelhochdeutſcheu Lerikographie bezeichnet. Die Kenntniß des Altdeut- 
ſchen ift nach Benecke's Anficht keineswegs leicht zu erwerben !). „Es 
bedarf eifrigen Forſchens und ſtets wacher Aufmerkſamkeit, um mit 
jedem Ausdrude den richtigen und Haren Begriff zu verbinden“ 2). 
Denn oft ift „zwar das Wort in der Sprache geblieben, aber 
tie Bedeutung hat fi) geändert” 3). Nach diefen Anfichten ver- 
führt dann Benecke in dem beigefügten Wörterbuch in eben fo feiner, 
als gründliche Weife und liefert dadurch die erjte von feinen grund- 
legenden Arbeiten zum richtigen Verſtändniß des mittelhochdeutfchen 
Wortſchatzes. Benecke's Leiftungen wurden von Jacob Grimm 
freubig begrüßt. „Recenſent, jagt Grimm in feiner Anzeige* von 
Benecke's Bonerius 1816, erinnert fi) feiner einzigen Schrift im 
Fade der altdeutſchen Literatur (und will am wenigften feine eige- 
nen Arbeiten davon ausnehmen), worin mit folder Sicherheit die 
Bedeutung einzelner Wörter und der Sinn ganzer Säge angegeben 
wäre” 4), 
Rarl Lahmann’s Anfänge. 


Karl (Konrad Friedrih Wilhelm) Lachmann wurde geboren 
am 4. März 1793 zu Braunſchweig, wo jein Vater eine Prediger- 
ftelle an der St. Andreas- Kirche bekleidete. Er jtammte aus der 
Atmart, wo feine Ahnen feit Jahrhunderten Prediger waren. 
Auf fein Vater hatte 558 zum Jahre 1792 als Felbprediger in 
preußiſchem Dienft geftanden. Seine Mutter, eine geborene von 
Üben, Tochter eines preußiſchen Majors, verlor Lachmann ſchon 





1) Eben. S. XIV. — 2) Ebend. ©. XVII. — 3) Ebend. ©. XV. 
— 4). Grimm in den Heibelberg. Jahrbb. 1816, ©. 307. 


458 Drittes Buch. Biertes Kapitel. 


im zweiten Lebensjahr; fie ftarb am 31. Yan. 1795. Den erften 
Unterricht erhielt Lachmann von feinem Vater, der ungemein ſtreng 
ja hart mit feinen Kindern war. Unfittlicfeit war ihm umd wurde 
ihnen ein Greuel, jede Unredlichkeit wurde als eine verabfchenungs- 
würdige Niebrigfeit geſchildert. Lernen, namentlih bie alten 
Sprachen, war das oberfte Princip der Erziehung. Im J. 1800 
trat Lachmann in bie Quinta des Ratharineums zu Braunſchweig 
ein. Bis zum März 1809 war er Schüler dieſes Gymnaſiums, 
das bamals unter der Leitung Konrad Heuſinger's, deffen Lad- 
mann fi) ſtets mit großer Pietät erinnerte, in hoher Blüthe ftand. 
Mit eminentem Erfolge betrieb Lahmann das Studium der grie 
chiſchen und lateiniſchen Klaſſiker, fo wie Geſchichte, Geographie und 
neuere Sprachen; Mathematik und Natnrwiſſenſchaften dagegen 
brach er über das Knie. Daher ehrten und liebten ihn auch ſeine 
philologiſchen Lehrer, nicht fo „die Pedanten in Zahlen- und Na- 
turbemonftration.”* Nach feinem Abgang vom Gymnaſium bezog 
Lachmann Oftern 1809 die Univerfität Leipzig, um dort Theologie 
und "Philologie zu ftubieren. Er hörte hier unter Anderen auf 
Gottfried Hermann. Im Herbſt desfelben Jahres gieng er nad 
Göttingen. Hier ſetzte er zwar ben Beſuch theologiſcher Borlefungen zu⸗ 
nüchſt fort, bald aber gewann die Philologie volfftänbig die Oberhand. 
Heyne, deſſen Vorlefungen er hörte und an deffen philologiſchem Semi- 
nar er ſich betheiligte, erkannte zwar Lachmann's Befähigung, aber in 
die eregetifche Akribie und ftrengere Kritik der jüngeren Schule fonnte 
er ſich nit vet finden. Fruchtbarer für Lachmann war Diffens 
Unterriät. Am meiften aber förderte ihm der Umgang mit be 
gabten gleichftrebenden Jünglingen, mit Joſias Bunfen, Eruſt 
Schulze, Brandis und Anderen. Lachmann's Hauptitubium waren 
die griechiſchen und lateiniſchen Klaſſiker, vor allen ſchon damals bie 
römiſchen Dichter. Doc) beſchränkte er feine Studien nicht hierauf, 
fondern trieb mit Eifer neuere Sprachen, befonders Italieniſch und 
Engliſch, letzteres unter Benecke's Leitung. Eutſcheidend aber für 
Lachmann's ganzes Leben war es, daß Venede fein Lehrer im At- 
beutf hen wurde, das von ba am neben ber Haffiihen Philologie 
den Kern feiner Studien bildete. Im J. 1815 unterbraden bie 


Die Wendung zu- firengerer Wiſſeuſchaftlichleit 1815 bis 1818. 459 


Beltereigniffe Lachmann's gelehrtes Leben. Beim Ausbruch des 
Kriegs gegen ben zurückgekehrten franzöfifhen Kaiſer trat er als 
freiwilliger Jäger in das preußifche Heer ein. Aber erft nachdem 
die Entſcheidung ſchon gefallen war, wurde die Wbtheilung, der er 
angehörte, nad) Frankreich geführt. Lachmann hat auf dieſe Weife 
den zweiten Zug der Preußen nad Paris mitgemacht, aber zu 
feinem großen Verdruß, ohne je vor den Feind gefommen zu fein. 
Nah Auflöfung feines Detachements begab fih Lachmann nad 
Berlin und fand dort bald eine Anftellung als Collaborator am 
Friedrich - Werberihen Gymnafium. Im Srühling 1816 Habili- 
tierte er ſich zugleih an der Berliner Univerfität. Die ftatuten- 
mäßige Borlefung vor der Facultät hielt er über die urfprüngliche 
Form des Nibelungenliedes. Sie erſchien unmittelbar darauf unter 
dem Titel: „Karl Lachmann über die urfprüngliche Geftalt bes 
Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin 1816." In demielben 
Frühjahr wurde Lachmann's Meifterftüc auf dem Gebiet der antifen 
Tertkeitif, feine Ausgabe des Properz veröffentliht. Zu Vorlefun- 
gen an der Berliner Univerfität am Lachmann damals nicht, denn 
ion im Sommer 1816 wurde er als Oberlehrer am Fridericia⸗ 
num zu Königsberg angeftellt. Hier verbanden ihn die altveutichen 
Studien beſonders mit feinem Amtsgenofien Karl Köpke. Er 
betheiligte fi an defien Ausgabe von Rudolf's von Montfort Bar- 
Iaam und Joſaphat (1818) und wandte gemeinfame Studien dem 
Balther von der Vogelweide zu, ben Köpfe herausgeben wollte ). 
Obwohl Lachmann ſich als einen vorzüglihen Lehrer an den oberen 
Klaffen eines Gymnaſiums bewährte, jo fonnte diefe Stellung doch 
nur eine vorübergehende für ihn fein. Am 17. Januar 1818 
wurde er zum außerorbentlihen Profeffor an der Umiverjität Kö- 
nigsberg ernannt 2). 

Bis hieher führen wir an biefer Stelle die Lebensgeſchichte 





1) Köpfe Hat nur eine Probe jeiner Ausgabe in Büſching's Wöcent: 
icen Nachtichten Bb. IV. (1819) ©. 12 fg. veröffentlicht. — 2) Die obir 
gen Angaben über Lachmann’ Leben find entnommen aus Karl Lachmann 
eine Biographie von Martin Hertz Berlin 1851. 


458 Drittes Buch. Biertes Kapitel. 


im zweiten Lebensjahr; fie ftarb am 31. Yan. 1795. Den eriten 
Unterricht erhielt Lachmann von feinem Vater, der ungentein ftreng, 
ja hart mit feinen Kindern war. Unſittlichkeit war ihm und wurde 
ihnen ein Greuel, jede Unreblichteit wurde als eine verabſcheuungs⸗ 
würdige Niebrigfeit geſchildert. Lernen, namentlih bie alten 
Sprachen, war das oberfte Princip ber Erziehung. Im J. 1800 
trat Lohmann in die Quinta des Katharineums zu Braunfchweig 
ein. Bis zum März 1809 war er Schüler dieſes Gymnaſiums, 
das damals unter der Leitung Konrad Heuſinger's, deſſen Lad. 
mann ſich ftetS mit großer Pietät erinnerte, in hoher Blüthe ftand. 
Mit eminentem Erfolge betrieb Lachmann das Studium der grie 
chiſchen und lateiniſchen Klaffiter, jo wie Geſchichte, Geographie und 
neuere Sprachen; Mathematit und Naturwiſſenſchaften dagegen 
brach er über das Knie. Daher ehrten und Tiebten ihm auch feine 
philologifchen Lehrer, nicht fo „„die Pedanten in Zahlen- und Na- 
turbemonftration.“* Nach feinem Abgang vom Gymmafium bezog 
Lachmann Oftern 1809 bie Univerfität Leipzig, um dort Theologie 
und "Philologie zu ftubieren. Er hörte hier unter Anderen auch 
Gottfried Hermann. Im Herbft desfelden Jahres gieng er nah 
Göttingen. Hier fette er zwar den Beſuch theologiſcher Vorleſungen zu- 
nädjft fort, bald aber gewann die Philologie vollftändig Die Oberhand. 
Heyne, deſſen Vorleſungen er hörte und an deſſen philologiſchem Semi- 
nar er ſich betheiligte, erfannte zwar Lachmann's Befähigung, aber in 
bie eregetiſche Afribie und ſtrengere Kritik der jüngeren Schule konnte 
er ſich nicht recht finden. Fruchtbarer für Lachmann war Diffen’s 
Unterriät. Am meiften aber fürberte ihn der Umgang mit ber 
gabten gleichftrebenden SJünglingen, mit Joſias Bunſen, Ernft 
Schulze, Brandis umd Anderen. Lachmann's Hauptjtubium waren 
bie griechiſchen und lateiniſchen Klaffiter, vor allen ſchon damals die 
römiſchen Dichter. Doc beſchränkte er feine Stubien nicht Hierauf, 
fondern trieb mit Eifer neuere Sprachen, befonders Italieniſch und 
Engliſch, letzteres unter Benecke's Leitung. Eutſcheidend aber für 
Lachmann's ganzes Leben war e8, daß Benede fein Lehrer im Alt- 
deutfchen wurde, das von da an neben der klaſſiſchen Philologie 
den Kern feiner Stubien bildete. Im J. 1815 unterbraden die 


Die Wendung zu firengerer Wiffenfchaftlichfeit 1815 bie 1818. 459 


Beltereigniffe Lachmann's gelehrtes Leben. Beim Ausbruch des 
Kriegs gegen den zurückgelehrten franzöfiigen Kaiſer trat er als 
freiwilfiger Jäger in das preußiſche Heer ein. Aber erſt nachdem 
die Entſcheidung ſchon gefallen war, wurde die Abtheilung, der er 
angehörte, nach Frankreich geführt. Lachmann hat auf diefe Weife 
den zweiten Zug ber Preußen nah Paris mitgemadt, aber zu 
jeinem großen Verdruß, ohne je vor den Feind gefommen zu fein. 
Rah Auflöfung feines Detahements begab fih Lachmann nach 
Berlin und fand dort bald eine Anftellung als Collaborator amt 
Friedrich» Werder'ſchen Gymnaſium. Im Frühling 1816 Habili» 
tierte er fi zugleih an der Berliner Univerfität. Die ftatuten- 
mäßige Vorlefung vor der Facultät hielt er über die urſprüngliche 
Form des Nibelungenliedes. Sie erihien unmittelbar darauf unter 
dem Titel: „Karl Lahmann über die urfprünglihe Geftalt bes 
Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin 1816." In demfelben 
Frühjahr wurde Lachmann's Meifterftüd auf dem Gebiet ber antiken 
Terttritif, feine Ausgabe des Properz veröffentlicht. Zu Vorlefun- 
gen an der Berliner Univerfität Fam Lachmann damals nicht, denn 
ihon im Sommer 1816 wurde er ala Oberlehrer am Fridericia- 
num zu Königsberg angeftellt. Hier verbanden ihn die altdeutſchen 
Studien befonders mit feinem Amtsgenofien Karl Köpfe. Gr 
betheiligte fi an deffen Ausgabe von Rudolf's von Montfort Bar- 
laam und Joſaphat (1818) und wandte gemeinfame Studien dem 
Balther von der Vogelweide zu, den Köpfe herausgeben wollte '). 
Obwohl Lachmann fi als einen vorzüglihen Lehrer an ben oberen 
Kafjen eines Gymnafiums bewährte, fo konnte diefe Stellung doch 
nur eine vorübergehende für ihm fein. Am 17. Januar 1818 
wurde er zum außerordentlihen Profeſſor an der Univerjität Kö— 
nigsberg ernannt 2). 

Bis hieher führen wir an bdiefer Stelle die Lebensgeſchichte 





1) Köpfe Hat mur eine Probe jeiner Ausgabe in Büſching's Wöcent: 
igen Nachtichten Bd. IV. (1819) ©. 12 fg. veröffentlicht. — 2) Die obi⸗ 
gen Angaben über Lachmanu's Leben find entnommen aus Karl Lachmann 
eine Biographie von Martin Hertz Berlin 1851. 


460 Drittes Buch. Viertes Kapitel. 


Lachmann's. Was feine diefer Zeit angehörenden Arbeiten auf dem 
Gebiet der germaniſchen Philologie betrifft, fo werben wir noch 
einmal auf fie zurüdfommen, wenn wir Lachmann's Leiftungen in 
einem fpäteren Abſchnitt zufammenfafiend ſchildern. Hier wollen 
wie nur einige Pımkte hervorheben, durch welche Lachmann gleich 
bei feinem erften Auftreten weentlih in die Entwidlung der ger- 
maniſchen Philologie eingegriffen hat. Nur beiläufig erwähnen 
wir, daß Lachmann den erften Band von Peter Erasmus Müllers 
Sagaenbibliothet des ſtandinaviſchen Altertfums aus der däniſchen 
Handſchrift überjegt (Berlin 1816) herausgegeben und dadurch dies 
trefflihe Buch fon vor feinem Erſcheinen in däniſcher Sprade 
(1817) in Deutihland eingebürgert hat. Die brei Arbeiten, in 
denen fi Lachmann's geiftige Bedeutung glei bei feinem erſten 
Auftreten anfündigte, waren die fon erwähnte Schrift über die 
urſprüngliche Geftalt des Gedichts von der Nibelungen Noth (1816), 
mit der er Hagen's Annahme von einem einzigen Dichter der⸗ 
felden entgegentrat, die Mecenfion von Hagen's Nibelungen und 
Benede's Bonerius im Jahrgang 1817 der Jenaiſchen Literatur: 
zeitung und die Verbefjerungen, die er F. K. Köpke's Ausgabe von 
Barlaam und Joſaphat (1818) Hinzufügte. Den Inhalt der erft⸗ 
genannten Schrift werben wir im folgenden Buch im Zuſammen ⸗ 
bang mit Lochmann's fpäteren Arbeiten über bie Nibelungen ber 
ſprechen. Hier bemerken wir nur, daß fie glei bei Lachmann's 
Eintritt in die gelehrte Laufbahn die Verbindung der Tlaffiihen 
Philologie mit ber altdeutſchen vollzog. Auch Jacob Grimm er 
kannte fofort die Bedeutung „diefer Heinen, aber recht ausgezeid- 
neten Schrift“, wie er fie (1816) nennt, und ftimmte ihr im We 
ſentlichen bei 1). Lachmann's Beurtheilung von Hagen's zmeiter 
Ausgabe (1816) des Nibelungenlieds und Benede's Bonerius 
ſpricht fih (1817) nicht nur über den Tert der Nibelungen aus, 
fondern fie enthält zugleih die ſchon ziemlich entwidelten Keime 
von vachmann's kritiſchen, metriſchen und grammatiſch⸗orthographi⸗ 


1) 3. Grimm's Recenſion ber oben beſprochenen Schrift Lachmann's in 
ben Heibelb. Jahrbb. 1816, S. 1089 — 1096." 


Die Wendung zu rengerer Wiſſenſchaftlichteit 1815 bis 1818. 461 


ſchen Lehren in Betreff ber mittelhochdentſchen Dichter überhaupt. 
‚Den Resarten einer einzigen Handſchrift folgen, fagt er, und nur 
ihte Schreibfehler aus anderen befjern, Heißt doch gewiß noch nicht 
eine kritiſche Ausgabe liefern* 1). Das einzig richtige Geſetz lautet 
vielmehr nad) Lachmann: „Wir follen und wollen aus einer hin⸗ 
reichenden Menge von guten Handſchriften einen allen diefen zum 
Grunde liegenden Text darftellen, der entmeber der urfprünglide ſelbſt 
fein oder ihm doch ſehr nahe fommen muß“ 1). „Wenn wir fleißig 
find, lönnen wir manche unſerer Gedichte gleich beim erften Drude 
in einer weit beſſeren Geſtalt liefern, als es bie erften Herausgeber 
der Klaſſiler mit dieſen gethan Haben; ja es ift gewiß, fo parabor 
es auch llingen mag, daß die Kritik in unferen alten Schriftftellern 
weit fierer gehen und viel mehr ausrichten kann, als in ben 
Schriften des Haffiihen Alterthums“ 2). Was Lahmann dann 
weiter über mittelhochdeutſche Lautlehre und Metrik erörtert, iſt 
unbedingt das Gediegenſte, was Bis dahin über dieſe Gegenſtände 
gejagt worden iſt. Weber die mittelhochdeutſche Metrik gibt er hier 
bereits bie erften Grundzüge feiner fpäterhin bis in's Feinſte aus⸗ 
gebildeten Lehren 3). „Das Publicum, meint er ſchließlich, hat 
überhaupt im allgemeinen noch wenig mehr gethan als urtheilen; 
zum Lernen iſt 6i8 jegt nur ein ſchwacher Anfang gemacht“ 4). 
Wie diefe Kritik, fo lafien Lachmann's Verbefferungen zu Köple's 
Ausgabe des Barlaam (1818) 5) den überlegenen Meifter des Faches 
auf jeder Seite erkennen. Grammatiihe Auseinanderfegungen von 
ſolcher Gediegenheit, wie bie hier gegebene über diu und die ©) oder 
die in ber oben beſprochenen Kritik befindliche 7) über mittelhoch- 
deutfhes z und s wird man anberweitig vor bem Erſcheinen von 
Grimm’ Grammatik vergeblich ſuchen. ö 


1) Jen. allgem. Literatur - Zeitung 1817, Julius, Sp. 114. — 
2) &bend. Julius, Sp. 119. — 3) Ebenb. Julius, Sp. 197. — 4) Ehe. 
JIalius, Sp. 142. — 5) Barlaam u. Jojaphat Her. von F. K. Kbpke, Berlin 
1818, 6.421436. — 6) @benb. ©.485. — 7) Jen. Allg. Literatur- 
Zeitung 1817, Jul, ©p. 122. 


462 Drittes. Bud. Viertes Kapitel, 


Stan; Bopp’s erſtes Auftreten 1816. 

Wenn wir in Lachmann's Arbeiten glei von Anfang an ben 
beilfamen Einfluß der antil⸗klaſſiſchen Philologie und ihrer ftrengen 
Methobe auf die altdeutſchen Studien erbliden, fo follte dieſen faft 
gleichzeitig auch noch von einer ganz anderen Seite eine epode- 
machende Förderung zu Theil werben. Wir haben im einem frühe 
ven Abſchnitt Friedrich Schlegel's Berdienft um bie Einführung 
des Sanskrit in die deutſche Wiſſenſchaft geſchildert. Aber fo wer 
fentlih das Verdienſt biefer erften Anzegung war, und fo tiefe 
Blide Schlegel in die Bedeutung feines Gegenftands gethan hat, 
fo war dod das wiſſenſchaftliche Eindringen in den neu gefundenen 
Schatz und feine wirkliche Aufiäliefung und Verwerthung für die 
Forſchung einem anderen Gelehrten vorbehalten, dem Gründer der 
vergleienden indogermaniihen Grammatit: Franz Bopp. Ge 
boren am 14. Sept. 1791 zu Mainz legte Franz Bopp bet 
Grund feiner wiffenfhaftlihen Bildung auf dem Gymnaſium zu 
Aſchaffenburg, wo ihn vorzüglich der ältere Windifhmann für das 
Studium der orientalifhen Sprachen begeifterte. Im Herbft 1812 
gieng er nad Paris und wibmete fi) Hier, unterftägt vom der 
königlich bayeriſchen Negierung, dann in London und Göttingen 
eine Reife von Jahren hindurch dem Stubium ber orientaliſchen 
Sprachen, insbejonbere des Sanskrit. Im Jahr 1821 wurde er 
Profeſſor der orientaliſchen Sprachen an ber Univerjität Berfin, 
an welder er fortan als einer ihrer berühmteften Lehrer wirkte '). 
Er ftarb am 23. Oft. 1867. — Den Grund zu feinen epode: 
madjenden Arbeiten legte Bopp in feiner 1816 zu Frankfurt am 
Main erfhienenen Schrift: „Ueber das Conjugationsſyſtem der 
Sanstritfprage in Vergleichung mit jenem ber griechiſchen, la 
teiniſchen, perſiſchen und germaniihen Sprache. — Heraus 
gegeben und mit Vorerinnerungen begleitet von Dr. 8. J. Win 
diſchmann.“ Sowohl die Vorerinnerungen Windiſchmann's, ald 


1) Franz Bopp, der Begründer der vergleichenden Sprachwiſſenſchaft. 
Von Adalbert Kuhn, in: Unfere Zeit, Leipgig, Vrochaus, IV, 1 (1868) 
©. 780 fg. — Windifämann, Vorerinnerungen zu Franz Bopp, über das 
Conjugationsſyſtem der Sansekritſprache, Frankfurt a. M. 1816, 


J 


Die Wendung zu frengerer Wiſſenſchafilichteit 1815 bis 1818. 468 


die ganze Anlage von Bopp's Schrift laſſen uns den Zuſammen⸗ 
hang erkennen, in welchem Bopp's Beſtrebungen mit Friedrich 
Schlegels Buch über die Sprache und Weisheit der Indier ftehen. 
Bie Schlegel, jo läßt auch Bopp auf die gelehrte Erörterung eine 
Anzahl überfegter Proben aus indiihen Werken folgen; und der 
Mann, der ihn zu feinem Studium des Sanskrit antegte, der 
ältere Windifhmann, war in Streben und Gefinnung Friedrich 
Shlegel nah verwandt. Auch blieb Bopp bis in fpätere Jahre 
in dankbar freundſchaftlichen Beziehungen zu. bem Lehrer feiner 
Jugend 1). Aber gerabe darin zeigt ſich die Selbftändigfeit Bopp’s, 
dab er trotz biefes Zufammenhangs mit Friedrich Schlegel gleich 
in diefer erften Schrift feine unabhängigen Bahnen einfchlägt. 
Darin zwar fehen wir Bopp mit allen tieferen Geiftern einver- 
fanden, daß es ihm nicht Bloß um dieſe oder jene Einzelheit 
zu thun ift, fondern daß er feine Gaben der Sprachforſchung „ſo⸗ 
glei vom Anbeginn mit der Abſicht widmet, auf biefem Wege in 
das Geheimniß des menſchlichen Geiftes einzubringen und demfel- 
ben etwas von feiner Natur und von feinem Geſetz abzugewinnen“ 2). 
Aber in der Erforſchung des Thatſächlichen geht Bopp mit größter 
Befonmenheit und ſtreng wiſſenſchaftlicher Nüchternheit zu Werke, 
und fo wird er der Gründer der vergleichenden indogermaniſchen 
Grammatil. Seine Unterfuhung beginnt Bopp mit einer Erör⸗ 
terung „über Zeitwörter im Allgemeinen“, barauf läßt er eine 
Darftellung der „Conjugation der altindifen Sprache“ folgen, 
und was er bier gefunden, wendet er dann in bejonderen Kapiteln 
auf die Conjugation der griechiſchen und lateiniſchen Zeitwörter 
und auf „bie Conjugation der perſiſchen Sprache und der alten 
germanifgen Mundarten" an. Die Anfihten, zu denen Bopp 
durch feine Unterjuhungen geführt wird, bilden in einem Angel- 
punkt der grammatiſchen Forſchung einen Gegenfag zu benen 


1) Bl. €. 3. H. Windiſchmann, die Ppilofophie im Fortgang ber Welt: 
gefgichte. GErfter Teil, erfte Wihlg. Bor. S. Vz zweite Abih. Erfläcung 
(S. In. — 2) Windiſchmann's Borerinnerungen zu Bopp über das Gonjus 
gationsfoftem ber Sanskritſprache ©. II. \ 


464 Drittes Buch. Viertes Kapitel. 


Friedrich Schlegel's. Wir haben gejehen, daß Friedrich Schlegel 
die Flexionen der indogermaniſchen Sprachen durch innere Um- 
wanblung ber Wurzel felbft fi bilden läßt; und zwar ftellt er die 
indogermanifchen Sprachen als flectierende gerade in Bezug auf 
die Bezeichnung der Perfonen in dev Conjugation in Gegenſatz zu 
den Spraden, melde die Berfon an Zeitwörtern durch Anfügung von 
Affiris bezeichnen. Nun ſpricht fi zwar auch Bopp in Betreff des 
Sangkit dahin aus: „Unter allen uns befannten Spradien zeigt 
fi) die geheiligte Sprache der Indier als eine der fähigften, die 
verſchiedenſten Verhältniſſe und Beziehungen auf wahrhaft organiihe 
Weife durch innere Umbiegung und Geftaltung der Stammfglbe 
auszubrüden.” „Aber“, fährt er fort, „ungeachtet dieſer bewun⸗ 
derungswürdigen Biegfamfeit gefällt e8 ihr zuweilen, ber Wurzel 
das verbum abstractum einzuverleiben, wobei fi ſodann bie 
Stammſylbe und das einverleibte verbum abstractum in bie 
grammatiſchen Functionen des Zeitwortes teilen“ '). Und auf 
diefem Wege gelangt nun Bopp ſchon im diefer Erftlingsfchrift zu 
einer Reihe feiner wichtigſten Entdedungen. Ex findet im indiſchen 
zweiten Futurum 2) und, dem entſprechend, im griechiſchen Futurumꝰ) 
die Wurzel as; und ebenfo im lateiniſchen Futurum auf bo die 
ſanskritiſche Wurzel bhü (Iateinif fu) ). Er erkennt im Indi⸗ 
cativ bes Iateinifhen Imperfects - bam die Wurzel bhd, im Eon- 
junctiv · rem (= sem) die Wurzel as d). Und fo führt er noch 
in einer Reihe von Fällen Flexionen des indogermanifchen Zeit 
worts auf Zufammenfegungen mit dem Verbum abstractum zurüd. 
Aber eine der wichtigſten Entdedungen wird ihm erft im Verlauf 
der Arbeit Har. In einem Binzugefügten „Naditrag* gibt er die 
Erflärung: „Es ſcheint mir feinem Zweifel mehr umtermorfen zu 
fein, daß die Buchſtaben, die ih in dieſem Verſuche Kennzeichen der 
Perſonen zu nennen pflegte, wirflihe Pronomina feten. Schon aus 
der griechiſchen und lateiniſchen Sprache ließ ſich dies muthmaßen; die 
Kenntniß des Alt⸗Indiſchen bringt es, meiner Meinung nad, zur 

1) Bopp, über das Gonjugationefufiem ©. 7. Vgl. &.8 unten u. 1. 
2) Ebend. ©. 30. — 3) Ebend. ©. 66. — 4) Ebend. S. 96. — 
5) Ebenb. ©. 98. 


Die Wendung zu frengerer Wiſſenſchaftlichteit 1815 bis 1818. 485 


Gewißheit. Wenn der Genius der Sprache mit bedachtſamer Bor- 
fiht die einfachen Begriffe der Perjonen mit einfahen Zeichen dar⸗ 
geitellt hat; wenn wir ob defien weifer Sparfamleit diefelben Ber 
griffe an Zeit- und Fürmörtern auf gleiche Weife ausgebrüdt 
finden, fo erhellet daraus, daß der Buchſtabe urfprünglich Bedeutung 
hatte, und daß er feiner Urbedeutung getreu blieb. Wenn ehebem 
an Grund vorhanden gewefen, warum mam, mid, tam, ihn 
beißt, und nicht legteres mich, und erfteres ihn: fo ift e8 gewiß 
aus demfelben Grund, daß nun Bhavami, id bin, und bhavati, 
er ift heißt, und nicht umgefehrt. Wenn das Zeitwort wegen 
mannigfacher Nebenbezriffe, die durch bedeutſame Flexion auszu⸗ 
drüden ihm zukommt, nicht auch die allzuwichtigen Begriffe der 
Berfonen durch eigene Mittel — durch innere Biegung — auszu- 
drüden vermochte, wenn es ſich desfalls Zeichen beigefellen mußte, 
deren Bebeutung feinem Zweifel Raum ließ: fo fonnte es mit 
Recht Feine andere Buchſtaben wählen, als bie, welde feit dem Ur- 
fprung der Sprade die ihm auszubrüdenden Begriffe mit volfftän- 
diger M arbeit barftellten“ 1). 

Unterfuhungen über die Urfprünge und die Entwidlung ber 
indogermanijchen Sprachen kommen natürli an fi ſchon, wie den 
übrigen Sprachen der Familie, fo aud den germanifchen zu gute. 
Aber Bopp hat überdies jeine Forſchung glei von Anfang an mit 
befonderer Vorliebe den germanifchen Sprachen zugewenbet. Vor 
allen fefjelt ihn das Gothiſche. Er glaube, Sanskrit zu leſen, 
wenn er den ehrwürdigen Ulphila Iefe, fagt er in einem Brief an 
Windiſchmann, feine Sprache halte fo zu jagen die Mitte zwiſchen dem 
Sanskrit und dem Deutſchen und jer enthalte manche echt indiſche 
Borte, die im Deutſchen ſich verloren haben 2). — Bei der Beur- 
teilung deffen, was Bopp in diefer Erſtlingsſchrift ſpeciell über 
die germanifchen Sprachen gibt, müſſen wir uns vor allem erin⸗ 





1) Ebend. ©. 147, Die Art, wie Bopp dieſe Anficht einführt, zeugt 
dafür, baf ihm I. Grimm's fon früher veräffentlihte Erklärung ber Ver⸗ 
balendungen aus ben Perfonalpronominibus nicht befannt war. — 2) Win- 
diſchmann's Vorerinnerungen zu Bopp, über das Conjugationsſyſtem, ©. X. 

Raumer, Beit. der germ. Phllelogie. 30 


466 Drittes Bud. Viertes Kapitel. 


nern, daß dieſelbe im Jahr 1816 erfjienen ift, das Heißt: vor ber 
erften Ausgabe von Grimm's Deuter Grammatik. Wir werden 
dann der feldftändigen Forſchung Bopp's alle Ehre angedeihen 
laſſen, zugleich aber aud ums überzeugen, welden Umſchwung auf 
dieſem Gebiet Grimm’s Grammatit hervorgerufen hat. Bopp er- 
fennt in der Reduplication der gothiſchen rebuplicierenden Praete 
rita den Zufammenhang -mit dem ſanskritiſchen Perfectum; aber er 
fieht darin ein nur dem Gothifhen angehöriges Perfectum, das 
den anderen germanifchen Spraden abgehe. „In ben übrigen 
germanischen Mundarten, fo wie aud im Perſiſchen, fagt er, wird 
das Perfect und Plusquamperfect umſchrieben“ '). Bon diejem 
Perfectum“ jcheidet Bopp das germanifhe Imperfectum“, das 
nad ihm auf doppelte Art gebildet wird, nämlich entweber „von 
dem part. pass. in t ober d“ (3.8. „sokida, machoda“*) 2), ober 
durch Veränderung de3 Stammvocals, z. B. „Angelſ. fandon, wir 
fanden; Goth. bandum, wir Banden; Isländ. gafum, wir gaben“). 
Richtig erkennt Bopp, gegen Fulda und mit theilweifer Verbeſſer⸗ 
ung ber Anfihten von Hides, daß das gothiſche Paſſivum (hai- 
tada, aflötanda u. f. f) mit dem Participium Paffivi nichts zu 
thun hat, fondern eine felbftändige, dem Activ entſprechende Flexion 
ift 4). Dagegen verkennt er völlig den Urſprung des altnordiſchen 
Baffivs, indem er es, wie das lateinifhe, aus einer Zuſammen ⸗ 
fegung mit der Wurzel as (esse) erflären will). Cine ſchöne 
Entdeckung, die ſich als richtig bewährt hat, bietet auch hier der „Nad- 
trag.“ Hier nämlich erkennt Bopp in den gothiſchen Formen 
sökid&dun, sökidedi u. |. f. „die Verbindung der Wurzel sök 

1) Bopp, Über das Gonjugationsfgflem &. 121. — 2) Ebend. 6.118. 
— 8) Ebend. 6. 120. Durch Vergleichung mit ©. 144 (bundun) 
vermuthe id in fandon und bandum Drudfehler für fandon und bandam. 
Uederfaupt find bei Beurtheilung ber Einzelheiten in dieſer Crflingefhrift 
Bopp's zwei Umſiände nicht außer Acht zu laffen: erſtens, da dem Verj- et 
damals nur ſehr mangelhafte altgermaniſche Texte zu Gebote ſtanden; und 
zweilens, daß ber Correcior, ber wohl gewiß ein Anderer war als ber Ber: 
faffer, eine reichliche Saat von Drudfehlern hat flehen laſſen. — 4) Ghend- 
©. 122-131. — 5) Bol. ebend. ©. 132 mit ©. 108 fg. 





Die Wendung zu frengerer Wiffenfdaftiichfeit 1815 bis 1818. 46T 


mit dem Praeteritum bes Halfszeitworts thun, ungefähr, wie 
wem man im Deutichen fagte: ſuchet haten, ſuchethäte“ ?). 

Der Gefammteindrud von Bopp's erfter Schrift, fo weit fie 
das Germaniſche betrifit, ift der, daf der Verfaſſer au den ger- 
manifchen Sprachen feinen eindringenden fpradvergleihenden Scharfe 
finn bereits Hier zu gute Tommen läßt, daß aber die Erforkgung 
der germaniſchen Sprachen ſelbſt damals noch auf einer zu niebri- 
gen Stufe ftand, um dem vergleichenden Linguiften mehr als ver- 
tinzelte richtige Blicke zu geftatten. Drei Jahre nad Bopp's 
Schrift über das Conjugationsſyſtem der Sangkritſprache, im Jahr 
1819, erſchien der erfte Band von Grimm’s Deutſcher Grammatik 
in erſter, abermals brei Jahr ipäter, im Jahr 1822, in zweiter 
gänzlich umgearbeiteter Auflage. Dies epochemachende Werk bietet 
dam auch Bopp’s Forſchung auf germaniſchem Gebiet einen neuen 
feften Boden 2). Aber eben weil Bopp zwar Grimm’s Leiftungen 
mit größter Anerlennung aufnimmt, dabei aber feinen eigenen auf 
noch umfaffenderer Grundlage errichteten Ba feldftändig fortführt, 
werben wir ihn im Stande fehen, Grimm's Ergebniſſe in wichtigen 
Punkten zu berichtigen und weiterzubilben. 


Hänftes Kapitel. 


Die germanifihe Philslogie in den Niederlanden, England, Schoit⸗ 
land und Stanbinabien 1797 bis 1819 Weit. 


In den Niederlanden fette au in dieſer Zeit der fleikige 
Elignett feine achtungswerthe Tätigkeit fort. Uber weder 


1) Ebend. S. 151. — NP) Bopp felbft ſpricht fich über dies Verhältnig 
in der Varzebe zu feiner Bergleihenben Grammatif aus Indem er bort 
ſeine gnglifhe Umarbeitung ber Schrift über das Eanjugationsjyem ber. Sand 
trilprache (Analytical Comparison of the Sanscrit, Greek, Latin and 
'Teutonic Languages, in den Annals of Oriental Literature, Lond. 
1820) und deren Weberfegung in Seebode's Archiv erwähnt, fügt er Hinzu: 
.Grimm's meifterhafte deuiſche Grammalit war mir leiber bei Abfaſſung dev 
engliſchen Umarbeilung nod nicht befanut geworben, und id; konnte damals 


für die altgermanifcgen Dialekte nur Hidcs und Fulda benuten.“ 
30* 


488 Drittes Bud. Fünftes Kapitel, 


lignett, no der veihbegabte Willem Bilderdijf” (geb. zu 
Amfterdam 1756, geft. am 18. December 1831) vermochten einen 
neuen Aufſchwung der germaniftifchen Studien hervorzurufen. Doch 
wird bes Letzteren Schrift über das Geſchlecht der Nennwörter 
(1805) immer ein Beweis feines Scharffinns und feiner geiftvollen 
Auffaffung bleiben. " 

In England erwarb fih Sharon Turner burd feine Ge 
ſchichte der Angelſachſen (1799- 1805) das Verbienft, wieder ein 
lebhafteres Intereſſe für diefe Periode der engliſchen Geſchichte zu 
erweden. Neben ifm waren James Ingram md J. J. Cor 
npbeare auf dem Gebiet der angelfähfiichen Literatur thätig, und 
George Ellis und Joſeph Ritfon bereicherten unfere Kennt 
niß der älteren engliſchen Poeſie. Auch in Schottland regte fih 
ein lebendiges Intereſſe für bie einheimiſche Sprache und Literatur, 
Neben Anderen bemühte fih hier Schottland’S berühmtefter Dichter 
Walter Scott um die Herausgabe der alten engliſchen umd 
ſchottiſchen Poefien. Auch einer unfrer Landsleute, He in rich We 
ber, entwidelt in dieſem Kreife eine verdienftliche Thätigkeit. Ein 
Wörterbuch der ſchottiſchen Sprade verfaßt (1808) Kohn Ja 
miefon?). 

Eine befonders eifrige und erfolgreiche.Pflege aber fanden auch 
in unferem Zeitabſchnitt die altgermanijhen Studien in Standina- 
vien. In Dänemark werden die großen Unternehmungen fortgejegt, 
deren Anfänge wir in einem früheren Abſchnitt beſprochen haben. 
Es erfeint 1818 ber zweite Band ber rhythmiſchen Edda zu or 
penhagen, welder bie altgermanifchen Heldenlieder enthält mit er⸗ 
läuternden Anmerkungen und einem Speeimen Glossarii. Ebenſo 
findet die begonnene Ausgabe der Heimskringla und die Thätigkeit 
für Veröffentlichung und Erläuterung altnordiſcher Sagaen ihren 
Fortgang. Nicht nur für das Altnordiſche, fondern für die Erfor⸗ 
ſchung der germanifgen Sprachen überhaupt ift ein däniſcher Ge 





1) Bgl. den Brief Walter Scotl's an einen ber beiben Grimme vom 
29. Apr. 1814, mitgeipeilt von Herman Grimm in Macmillan’s Magasine 
1868, Jan., p. 268 fg. 


Die germ. Philol. in den Rieberl., Engl., Schottl. u. Staub. 1797 bis 1819. 469 


lehrter biefes Zeitraums: Rasmus Kriftian Raſk, von folder 
Bedeutung, und fein Einfluß auch auf die Entwidlung der Sprach⸗ 
forſchung in Deutſchland fo tiefgreifend, daß wir ihm einen beſon⸗ 
deren ausführlicheren Abſchnitt widmen werben. Unter den übrigen 
dãniſchen Gelehrten jener Zeit nimmt eine hervorragende Stelle 
an Peter Erasmus Müller (geb. zu Kopenhagen 1776, 1801 
Brofefjor der Theologie dafelbit, geft. den 16. Sept. 1834) durch 
feine Unterfuhungen über die Echtheit der Afalehre (1812) und 
über die Glaubwürbigfeit von Saxo's und Snorri's Quellen (1823), 
beſonders aber durch feine trefflihe Sagabibliothet (1817—1820). 
Einem isländiſchen Gelehrten, dem als Archivar zu Kopenhagen 
lebenden Grimr Jonsſon Thorkelin (geb. 1752, + 1829) 
verdante jene Zeit eine der allerwichtigiten Veröffentlichungen, nämlich 
die erfte Ausgabe des angeljächfiichen Heldengedichts Beovulf, bie 
e im J. 1815 zu Kopenhagen unter dem Titel: De Danorum 
Rebus Gestis Secul. III et IV. Poema Danicum dialecto 
Anglosaxonica, bejorgte. Dem Verdienft ber erften Veröffent⸗ 
fiung eines fo widtigen Denkmals mag man bie feltfamen An- 
ſichten des Herausgebers über Däniſch und Angelſächſiſch zu gute 
halten. Ein andrer begabter Forſcher, der ſich, wie um das ſkan⸗ 
dinaviſche Alterthum, ſo auch um den Beovulf mannigfach bemüht 
hat, war der geiſtvolle und gelehrte, wenn auch öfters wunderliche 
Nik. Frederik Severin Grundtvig (geb. zu Udby 1788, 
lebte meiſt zu Kopenhagen). Unter den übrigen Gelehrten, die ſich 
in dieſem Zeitabſchnitte (1797 — 1819) neben den ſchon früher ge- 
nannten 1) um die altnordiſche Literatur verdient machten, find 
beroorzuheben Börge Thorlacius (f 1829) und Erich Chri- 
fian Werlauff. — In Schweden regte fih um biefe Zeit 
gleichfalls ein lebhafter Eifer für Erforſchung des ffandinavifchen 
Alterthums. Bor allen ift hier zu nennen der tief denkende Ge» 
ſchichtſchreiber Schwedens Erit Guftaf Geijer (geb. zu Nan- 
füters Bruk 1783, geft. 1847). In Berbindimg mit Arvid 
Auguft Afzelius (geb. 1785) gab er eine trefflihe Sammlung 


6.0.8. 196 fg. 





470 Drittes Bud. Funfies Kapitel. 


ſchwediſcher Volkslieder (1814—1815) Heraus. Sein Genoſſe A. 
zlius aber warf fih unter Mafl’s Leitung auch auf das Studium 
des Islandiſchen unb veröffentlichte in Verbindung mit feinen 
Meifter (Stocholm 1818) eine vorzüglige Tertausgabe der Sü- 
mundiſchen Edda. 


Rasmus RKrikian Kafk. 


Der Gelehrte, zu deſſen Leben und Arbeiten wir man über 
gegen, nimmt in ber Geſchichte unjrer Wiſſenſchaft eine ber erjten 
Stellen ein. Durch das Erſcheinen von Grimm’s und Bopp's 

epochemachenden Werken find Raffs Verdienſte bald in den Hin- 
tergrund gebrängt worden. Um fo mehr aber ift eine Gedichte 
der Wiſſenſchaft verpflichtet, dieſe Verbienfte in das rechte Licht zu 
ftellen. 
1. Raffs Leben. 


Rasmus Kriftian Raſk wurde am 22. November 1787 
in dem Heinen Ort Braendekilde, eine Meile von Obense auf der 
Inſel Fühnen, geboren. Sein Vater gehörte dem Bauernftande an, 
erhob fi aber durch eine gewiffe Bildung über feinen Stand. 
Schon in zarter Kindheit zeichnete ſich Raſt dur ein außerorbent- 
liches Gedächtniß aus, und da der Vater ziemlich viele Bücher ber 
faß, entwidelte fi bei Raſt, ſchon ehe er in die Lateinfchule kam, 
die Luft am Lefen. Im J. 1801 fam er auf die Schule in Obense. 
Da ihm bei feiner ungemöhnlichen Begabung die Schularbeiten 
leicht von der Hand giengen, jo blieb ihm Zeit genug, um nebenber 
feinen Lieblingsftubien obzuliegen. Diefe nahmen bald eine gar 
beftimmte Richtung: Er trieb Isländiſch. Die beften Lehrer ber 
Anftalt, die den Ernft feines Studiums und feine hohe Begabung 
erfannten, ermunterten und förderten ihn im feinen Beſtrebungen 
Bon bleibendem Einbrud für fein Studium des Altnordiſchen wat 
+3, als er im Jahr 1805 aus der Hand feines trefflichen Rectors 
%. Heiberg die drei erften Theile der Heimskringla als Schulpreis 
erhielt. Bon da an war das Jsländifhe fein ernftes Stubinm. 
Aber das einzige Hülfsmittel, das er zum Stubium biefer Sprache 


Die germ. Philol. in ben Nieberl., Engl., Schottl. u. Sand. 1797 bis 1819. 471 


hatte, war die Heimskringla felbft, der Tert mit der Ueberſetzung. 
Durch forgfältiges Sammeln der vorkommenden Beifpiele ſchuf er 
fih feloft eine isländiſche Grammatik. Auf ähnliche Weife Iegte 
er fih ein isländiſches Wörterbuch an, worin er nit nur bie 
Bedeutungen der Wörter, fondern auch ihre Etymologie, fo wie 
ihren Zufammenhang mit dem Angelſächſiſchen und anderen Spra- 
den barzuftellen ſuchte. Denn feine Studien beſchränkten ſich 
nicht auf das Isländiſche, fordern breiteten ſich allmählich aud auf 
das Angelfähfifhe, Gothiſche, Deutſche, Faerbiſche, Grönländifce, 
ja auf die Sprache im allgemeinen aus. Auch feine Unterſuchungen 
über die däniſche Rechtſchreibung begann er ſchon auf ber Schule. 
Aber das Altnordiſche blieb ftets fein Liehlingsfah. „So lange 
das Leben währt, ſchrieb er im Juni 1805 an einen feiner Freunde, 
wird es mein Troft und meine Freude fein, diefe Sprache zu ken⸗ 
nen und in ihren Schriften zu fehen, wie unfre Voreltern Leiden 
ertragen und muthig überwunden haben. Du barfft glauben, ich 
verwunderte mich im Anfang vielleicht mehr als du darüber, daß 
unfre Voreltern eine fo vortreffliche Sprache haben Tonnten, und 
daß wir, Bei benen nach meinem Dafürhalten die Wiſſenſchaften 
viel Höher geftiegen waren, eine weit ſchlechtere haben.” 

Im Jahr 1807 bezog Raſt die Univerfität Kopenhagen. Bon 
Nyerup, feinem fühniſchen Landsmann gefördert, fette er Hier fein 
friges Studium des Altnordiſchen fort. Bon befonderem Vortheil 
war ihm dabei die Bekanntſchaft mit dem gelehrten Kenner ber 
altnordiſchen Poefie, Jon Olafsſon. Schon im Jahr 1809 ſchrieb 
Raſt feine erfte bebeutendere Schrift, die 1811 zu Kopenhagen er- 
ſchienene Anleitung zur isländiſchen Sprade. Darauf wandte er 
ſich, durch P. E. Müller aufgefordert, ber Herausgabe bes islän- 
biigen Wörterbuchs zu, das ber Islander Biden Haldorſen hand 
ſchriftlich Hinterlaffen hatte. In großer Dürftigfeit und nur fehr 
ſpaͤrlich unterftügt ließ fi Raſt nicht Kindern, feine Sprachſtudien 
unermũdlich zu erweitern und zu vertiefen. Er beſchäftigte ſich, 
außer mit den europäiſchen Sprachen, mit manchen ber allerent- 
legenften afiatiſchen, namentli mit ben malayiſchen. Bor allem 
aber blieb fein Eifer dem Isländiſchen zugewandt, bas er im Um⸗ 


472 Drittes Buch. Fünftes Kapitel. 


gang mit Finn Magnusſon umd anderen Sysländern wie ein Ein 
geborener ſprechen und ſchreiben lernte. Er begann auch bereits, 
das Islandiſche in wiſſenſchaftlicherer Weiſe, als es bisher ger 
ſchehen war, mit anderen Spraden zu vergleichen: Studien, ans 
denen feine epochemachende, im Jahr 1814 vollendete; 1818 zu 
Kopenhagen erſchienene Unterjußung über den Uriprung ber alten 
nordiſchen oder isländifgen Sprache hervorgegangen iſt. Im Jahr 
1812 wurde Raſt Amanuenfis an der Kopenhagener Univerfitäts- 
bibliothel. In demjelden Jahr machte er mit Profefior Nyerup 
eine antiquarifde Reife nah, Schweden und Norwegen. Schwediſche 
und lappiſche Sprachſtudien, fo wie die Herausgabe von Ohthere's 
und Wulfftan’3 angelſächſiſchem Reiſebericht waren die Frucht dieies 
Ausflugs. — Im Sommer 1813 wurde Raſt ein lange gehegter 
Wunſch erfüllt. Dur Unterjtügung einiger Privatleute fonnte er 
eine Reife nad) Island unternehmen. Er blieb dort bis zum Jahr 
1815. Die Natur des Landes, jo mie die Sprade und die Sit- 
ten jeiner Bewohner boten feiner Beobachtung reihen Stoff. Ueber 
Schottland und Norwegen zurüdgelehrt, trat er die ihm während 
feiner Abwefenheit zu Theil gewordene Stelle eines Unterbibliothe ⸗ 
tars an der Univerfitätsbihliothel zu Kopenhagen an. Aber inzwie 
ſchen hatten ſich feine Gedanken nad) einer anderen Seite gewendet. 
Die oben erwähnte Schrift über den Urfprung der alten nordiſchen 
Sprade, die er während feines Aufenthaltes auf Island im Jahr 
1814 volfendet Hatte, wurde von ber königlichen Geſellſchaft ver 
Wiffenfhaften in Kopenhagen mit dem Preis gekrönt und fand 
überhaupt eine jo günftige Aufnahme, daß in Raſt der Gedanke 
erweckt wurde, ob e3 ihm nicht möglich fein möchte, eine Reiſe 
nad) Aſien zu unternehmen, um bort den ältejten Quellen der jlan- 
dinaviſchen und ber mit ihnen verwandten Sprachen nachzuſpüren ). 
Ein edelmüthiger Beförderer der Wiſſenſchaften, der Geheime Rath 
Vulow, verihaffte ihm diefe Mögliäleit, indem er ihm im Och 
ber 1816 zu einer wiſſenſchaftlichen Reife nach Afien die Summe 
1) Spt. aufer Petersen p. 32 fg. auch die Vorrede zu Rask's Under- 
sögelso om det gamle Nordiske eller Islandske Sprogs Oprindelse. 


Die germ. Philol. in ben Riebest., Engl., Schottl. u. Stand. 1797 bis 1819. 478 


von 2000 Reichsbancothalern zuſicherte. Die däniſche Regierung 
legte dann, auf Betrieb von Raſt's gelehrtem Freunde P. E. Mül- 
ler, eine namhafte Summe zu, die fie fpäter während Raſk's Aufent- 
halt in Afien auf freigebige Weife noch weiter vermehrte. Raſt 
wünſchte feinen Weg nad) Afien: fo zu nehmen, daß er ſich, vor 
jeinem Eintritt in den fremben Welttheil, in den durchreiſten euro» 
päiſchen Ländern mit allen zu jeinem Unternehmen nöthigen Kennt 
aifen nad) Kräften ausrüftete. Er gieng deshalb im Herbſt 1816 
zunächſt mach Schweden. Während jeines Aufenthalts in Stodholm 
hielt er Vorleſungen über die von ihm jpäter (1819) veröffentlich-⸗ 
ten Specimina Literaturae Islandicae, und bejorgte die eriten 
hitiihen Ausgaben der proſaiſchen und der rhythmiſchen Edda; 
letztere im Verbindung mit Arvid Aug. Afzelius. Außerdem ver: 
danlen noch zwei weitere bedeutende Arbeiten ihren Urſprung Raſk's 
Aufenthalt in Stodholm, nämlich feine Angelsaksisk Sproglaere 
tlligemed en kort Laesebog, die 1817 zu Stodholm in däni- 
iger Sprade erſchien, und eine Umarbeitung feiner 1811 heraus- 
gegebenen Vejledning, die er 1818 in ſchwediſcher Sprache veröffent- 
lichte ). Verſuche feiner Freunde, ihm in Schweden feftzuhalten, 
lehnte ex ab. Im Februar 1818 verlieh er Stodholm und begab 
#6 nah Abo in Finnland, wo er fih hauptfählih mit dem 
Studium des Finniſchen befhäftigte. Am 27. März 1818 traf er 
in Petersburg ein. Hier verweilte er bi zum 13. Juni 1819, in 
das umfafjendfte Studium europäiſcher und afiatiiher Sprachen 
vertieft. Er treibt Ruſſiſch, Armeniſch, Arabiſch, Perſiſch, indem 
er ſich, ſo viel als möglich, der Beihülfe von Eingebornen, die er 
in Petersburg kennen lernt, bedient. Am 18. Juni 1819 brach 
er von Petersburg auf und reiſte über Moſkau, Aſtrachan und 
Vilis, am Ararat vorüber, nad Erivan, wo er am 18. März 
1820 anlangte. In Aſtrachan hatte er ſich unter Leitung eines 
verſers im Perfiihen vervolffommnet, in Tiflis die Elemente des 


1) &ie erigien unter dem Titel: Anvisning till Isländekan eller 
Nordiska Fornspraket, af Erasmus Christian Rask. Fran Danskan 
öfversatt och omarbetad af Författaren. Stockholm 1818, 


474 Drittes Bud. Fünftee Kapitel. 


Turkiſchen und Georgiſchen gelernt. Sein Aufenihalt in Perfien, 
wo er bie berühmieften Stätten ber Neuzeit und bes Altertfums: 
Teheran, Isfahan, die Auinen von Perjevolis, beſuchte, dauerte 
etwa ein Haldes Jahr. Am 29. September 1820 erreichte er 
Bombay. Hier begann ein newer Abſchnitt in Raſt's Studien. Ex 
trat den indiſchen Sprachen näher, tried Sanskrit und Hindoſtaniſch, 
wurde mit Feueranbetern befannt und fuchte fi des Zend und des 
Pehlevi zu bemächtigen. Unter mannigfaltigen Schickſſalen, Krant- 
heit und Schijjbrud, Geldbedrängniß und liberaler Aushülfe von 
daniſcher und englifcher Seite jehen wir nun Raſt über zwei Jahre 
lang Indien durchkreuzen, raſtlos befüäftigt mit dem Stubium der 
verſchiedenſten indiſchen Sprachen, ſanskritiſcher und nichtſanskriti⸗ 
ſcher, tobter und lebender. Unter ben verſchiedenen Schriften, bie 
er während ſeines Aufenthalts in Indien verfaßte, erwähnen wir 
nur die äußerſt wichtige Om Zendsprogets og Zendavestas 
Aelde og Aegthed (lieber das Alter und die Echtheit der Zenb- 
ſprache und bes Zenbavefta), die er ben 3. October 1821 volfen- 
dete ) umb bie im Jahr 1826 in den Schriften der ſſandinaviſchen 
Kiteraturgefellichaft zu Kopenhagen gebrudt erſchien?). Am 1. Dec. 
1822 verließ Haft Indien. Er machte die Nüdreife zur See um 
das Cap ber guten Hoffnung. Am 5. Mai 1828 langte er in 
Kopenhagen an. 

Es begann nun für Haft eine Zeit ſchwerer Prüfungen. Sein 
Ruhm als Sprachforſcher war Über Europa verbreitet, aber er 
ſuchte vergebens in eine Stellung zu kommen, bie ihm geftattet 
hätte, einen Hausftand zu gründen und in forgenfreier Lage die 
Ausbeute feiner Studien der Welt mitzutheilen. Während er auf 
den vericjiebenften Gebieten der Sprachforſchung, europäiſchen und 
aſiatiſchen, raſtlos tHätig war und die Wiffenfchaft mit einer um 
unterbrochenen Reihe eingreifenber Arbeiten bereidherte, mußte er 
von manden Seiten ben Vorwurf hören, daß man fich mehr von 

1) Peierſen p. 79. — 2) Wieder abgebrudt in Samlede—Afhandlin- 
ger af R. K. Rask, Anden Del, Kopenhagen 1836, p. 360398. (Teuih 
durch von ber Hagen). 


Die germ. Philol. in ben Rieterl., Engl., Scpottl. u. Stand. 1797 bis 1819. 475 


einer afiatiſchen Reife veriprocen habe. Wir nennen unter feinen 
mannigfachen Schriften aus biejer Zeit nur die wichtigften von 
denen, bie ſich auf die germaniſchen Sprachen beziehen. Im Jahr 
1825 erſchien zu Kopenhagen jeine Frisisk Sproglaere udarbejdet 
efter samme Plan som den islandske og angelsaksiske (Frie- 
ide Sprachlehre, ausgearbeitet nad) bemfelben Plan wie bie is⸗ 
landiſche und angeljſächſiſche) 1). Mit befonderem Eifer wibmete 
ſich Raſt ben Arbeiten der Geſellſchaft für altnordiſche Literatur. 
US Borfigender der Gejellihaft hatte er namhaften Antheil an der 
Herausgabe ber drei erften Bände ber Fornmannasdgur; den 
Schluß des jechiten Bands und den ganzen fiebenten beforgte er 
alleine. Bei ber Herausgabe der Faereyingasaga beforgte er 
hauptſãchlich die Redaction bes faeröifhen Tertes. Er gründete die 
ielãudiſche literariſche Gefellihaft und beiheiligte ſich lebhaft an den 
vom ihr herausgegebenen Schriften. Endlich arbeitete er noch, nicht 
lange vor feinem Abſcheiden, feine kurzgefaßte isländiſche Sprad- 
lehre aus. Und alle diefe Schriften auf dem Gebiet der germani- 
fen Sprachen bilden nur einen Theil von Raſk's Gefammtthätig- 
teit. Aber feine äußere Stellung entſprach nicht feinen wiſſenſchaft⸗ 
lichen Leiftungen. Als er im Jahr 1825 einen ehreuvollen Auf 
nad Edinburg ausihlug, wurde er zum Profefjor der Literaturge- 
ſchichte mit beſonderer Rüdfiht auf die aſiatiſche Literatur an der 
Univerfität Kopenhagen ernannt, jedoch ohne materielle Verbeſſer⸗ 
ung feiner Lage. Endlich gelangte er zu ber Stelle, bie er feit 
vielen Jahren wünſchte, zur Profefjur der orientaliihen Sprachen 
an der Univerfität Kopenhagen. Als er die Ernennung erhielt, 
brach er im Gefühl der Krankheit, die an feinem Innern nagte, 
in die Worte aus: „Ich fürchte, es ift zu ſpät.“ Und es war 
zu ſpät. Am 14. November 1832 erlag er der Schwindſucht. 


2. RafPs Leiftungen. 


Aus dem Abris, den wir im Vorangehenden von Raſt's Leben 
gegeben Haben, erfieht man, daß Raſt's gelehrte Tätigkeit ſich weit 


1) Deutſch von . 3. Buß, Freiburg im Besg. 1834. 


476 Drittes Buch. Fünftes Kapitel. 


über das Gebiet hinaus erftredte, deſſen Geſchichte wir hier zu 
ſchreiben Haben. Bei einem Geift wie Raft hängt num zwar Alles, 
was er treibt, innerlich zufammen, und wir werben deshalb auf 
Manches berühren, was nur mittelbar zu den germanifhen Sprad- 
ftubien in Beziehung fteht; aber unfre eingehendere Darftellung 
müffen wir natürlih auf das Gebiet der germaniſchen Spraden 
beſchränken. — Raſk's eingreifende Thätigfeit auf dem Gebiet ber 
germaniſchen Sprachforſchung fteht in nächſter Beziehung zu dem 
größten Meifter des Faches, zu Jacob Grimm. Unter allen Bor- 
gängern Grimm's nimmt Raft an Scharffinn und Grünblichkeit die 
erſte Stelle ein. Seiner von alfen hat Grimm jo vorgearheitet 
wie Raft, der manden von Grimm's ſchönſten Entdecungen bereits 
ganz nahe war. Wir können deshalb aud einen fehr bedeutenden 
Einfluß Raſt's auf Grimm nachweiſen, und an diefem Einfluß ber 
mißt fi vorzugsweiſe die Stellung, die Raff für unſere Aufgabe: 
die Geſchichte der deutigen Wiſſenſchaft, einnimmt. Wir werden 
bemgemäß bie Thätigfeit Raſt's in zwei Perioden ſcheiden, von 
denen die eine bem eigentlich epochemachenden Auftreten Grimm’ 
vorausgeht, während die andere diefem Auftreten erſt nachfolgt. 
Das Werk, durch weldes Grimm eine neue Epoche begründet, ift 
die Deutſche Grammatif und von dieſer wieder vorzugsweiſe der 
Erſte Band. Bei biefem Erſten Band von Grimm’s Grammatit 
aber haben wir die merkwürdige Eriheinung vor uns, baß die 
erfte Ausgabe und die gänzlich umgearbeitete zweite ji in den 
Ruhm theilen, eine neue Epoche in ber Wiſſenſchaft begründet zu 
haben. Die erfte erigien im J. 1819, die zweite im J. 1822. 
Die Erörterung der Frage, welde Schriften Raſtk's Grimm ſchon 
bei Bearbeitung jeiner erften Ausgabe, welche erft bei der zweiten 
benugen konnte, veriparen wir auf bie Darſtellung von Grimm's 
Grammatit. Hier begnügen wir uns, Raſt's Arbeiten in zwi 
Hälften zu ſcheiden, von denen die erſte die Schriften umfaßt, bie 
vor bem Jahr 1822, das Heißt, vor der zweiten Ausgabe des eriten 
Teils von Grimm's Grammatik herausgegeben, bie zweite aber 
die, welde erft nad) dieſem Zeitpunkt, vom Jahr 1822 bis 1832 
erſchienen find. 


Die germ. Pilot. in ben Rieberl., Engl, Schottl. u. Skand. 1797 bis 1819. 477 


1) Raffs Forſchungen auf bem Gebiet ber germanifgen Spras 
Gen bis zum Jahr 1822. 


Us Raſt im Jahr 1811 mit jeinem erften größeren Wert, der 
Anleitung zum Isländiſchen, hervortrat, hatte er ſich bereits durch 
eine Reihe Heinerer Arbeiten bekannt gemacht. Schon diefe Arhel- 
ten zeigten, wie fehr Raſk in der gründlichen Kenntniß der ger- 
maniſchen Sprachen, zumal der nordifhen, feinen Vorgängern über- 
legen war. Insbeſondere bewies er dies dem damals berühmteften 
deutſchen Grammatiler, Adelung, gegenüber in jeinen „Bemerkun- 
gen über die ffandinavifhen Sprachen, veranlaßt durch den zweiten 
Theil de3 Adelung'ſchen Mithridates*, welche er in der zu Kiel er- 
iHeinenden Zeitung für Literatur und Kunft im Jahr 1809 ver- 
öffentlihte 1). Was er hier über den Bau und die Stellung der 
fandinavifgen Sprachen furz andentete, daS legte er dann zwei 
Jahre fpäter (1811) in ſeiner Vejledning til det Islandſke eller 
gamle Nordiſte Sprog ?) ausführlih dar. In der umfafjenden 
Borrede zu diefem Werk bezeichnet Raſt feinen Standpunkt. Ex 
ift ein begeifterter Verehrer des Altnordiihen, preift beffen hohe 
Vorzüge und begründet deſſen Unentbehrlichkeit für alle jfandinavifche 
Sprach⸗ und Alterthumsforſchung. Die Sprahfamile, welder die 
Mandinavifhen Spraden angehören, theilt fih nad Raſk zuerft in 
wei HauptHlaffen, die nordiſche (ſtandinaviſche) und deutſche (ger- 
maniſche), demnächſt theilt ſich Ießtere wieder in zwei Unterarten, 
Nieder- und Oberdeutih 9). Alle jkandinavifhen Spraden, die 
dãniſche ſowohl als die ſchwediſche, ſtammen von der altnordiſchen. 
Dieſe altnordiſche Sprache war in früheren Jahrhunderten mit nur 
ſehr geringen Unterſchieden *) über das ganze ſtandinaviſche Gebiet 
verbreitet und hat fih im Wejentlihen auf der Inſel Island er- 
halten. Den Beweis für die frühere ſprachliche Einheit des flandie 


1) Wieder abgedrudt in Samlede tildels forhen utrykte Afhandlin- 
ger af R. K. Rask, III. Del, Köbenhavn 1838, p.445 fg. — 9) D. i.. 
Anleitung zur isländifgen ober alten noidiſchen Sprache. — 3) Raſt, Be: 
mertungen u. ſ. f. 1809, Saml. Afhandl. 3, 453. — Bejledning, 1811, 
doriale, p. XVII. — 4) Vejlebning, 1811, Zortale, p. XXXII. 


478 Drittes Bud. Fuluftes Kapitel 


naviſchen Gebiets führt Raſt theils aus ben Angaben ber Sagaen 
und Geſetzbücher, theils aus den Reſten der alten däniſchen Sprache, 
aus ben Eigennamen und der übereinftinmenden Sprache der Runen- 
ſteine ). Das Isländiſche Hat fih zwar feit jenen früheren Jahr⸗ 
hunderten in einigen Punkten geändert, im Großen und Ganzen 
aber kann man es als identiſch mit der alten Grundſprache betrad- 
tem?), deren Töchter das Schwediſche und Dänifche find. Raſt ber 
handelt im Haupttheil feines Werl „die alte llaſſiſche Sprache, 
wie fie fi) bei Snorri, in der Eigla umb anderen guten Sagaen 
findet.” „Doch find die wenigen Abweichungen der neueren Sprade 
nicht Übergangen, fondern an ihrer Stelle in ber fehlten Abtheilung 
behandelt· 3). Da das Däntfe vom Altnordiſchen ſtammt, fo ift 
leicht einzufehen, daß jeber, welcher eine gelehrte Kenntniß feiner 
dänifhen Mutterſprache befigen will, mit dem Altnordiſchen belanni 
fein muß; „und wir haben ſicherlich alle Urſache, zu beflagen, dab 
die Meiften, wenn nicht Alle, welche eine däniſche Sprachlehre oder 
Sormenlehre verfaßt haben, dieſer wichtigen Kenntniß ermangelten. 
Eine Sprachlehre follte nämlich nicht ſowohl befehlen, wie man die 
Worte bilden folle, als vielmehr beſchreiben, wie fie gebildet und 
verändert zu werben pflegen und, wo möglich, warum und woher 
diefer Brauch gelommen ift, und was etwa für einen anderen Brauch 
ſprechen könnte; denn fo allein Tann man zulegt entſcheiden, was 
das Richtigſte ift. Aber dies kann, was das Daniſche und Schwer 
diſche Betrifft, unmöglich befriedigend ausgeführt werben ohne ger 
naue Kenntniß der Stammiprade; denn Hier allein findet man 
meiftens den legten Grund und erften Urſprung der im jenen 
Sprachen num herrſchenden Erjheinungen“ %). Wir fehen Hier Raſt 
fon ganz auf dem richtigen Wege ber geſchichtlichen Spracforid- 
ung. Was bie bänifhe Sprache betrifft, fo Hindert ihn fein flan- 
dinaviſcher Patriotismus nit, den großen Einfluß anzuertemen, 
den das Dänifhe vom Deutihen erfahren hat. Das Dänifce it 


1) Bejlebning, 1811, Sortale, p. XX fg. -- 2) Beilebming, 1811 
doriale, p. XLI. — 3) Bejlebning, 1811, Fortale ©. XLI. — 4) Beil 
ning, 1811, dortale, p. XVI, 


Die germ. Philol. in ben Nieberl., Gngl., Schottl. u. Stand. 1797 bie 1819. 479 


ihm zwar, umd mit Recht, eine in ihrem Grundbau weſentlich nor⸗ 
diſche Sprade, aber das alte Norbife wurde in Dänemark ſchon 
feit lange duch das Deutſche geftört, und fo entftand eine große 
Gäfrung oder Verwirrung in der Sprache, die mehrere Jahrhun⸗ 
derte lang währte, bevor das alte Nordiſche fih mit dem eindrin« 
genden und perſchieden gearteten Deutihen vereinigen fonnte, um 
wieder eine eigene neue Sprache zu bilden, das Daniſche, das als 
ine Miſchung von beiden anzufehen tjt 1). 

Raſt hat bei feiner grammatiſchen Bearbeitung ber altnorbi- 
ſchen Sprache nur fehr unvolltommene Vorgänger gehabt. Wenn 
vom den veröffentlichten Werten die Rede ift, fo fann man im 
Grunde nur einen Cinzigen nennen, nämlich den Isländer Runol⸗ 
phus Jonas. Was feit deffen isländifher Grammatit, das heißt 
feit dem Jahr 1651, bis auf Raſt erſchienen ift, beſteht nur in 
Auszügen ober wenig vermehrten neuen Ausgaben von Runolf's 
Bud 2). Es feine, bemerkt Raſt, gleihjam ein Zauber in dem 
Titel von Runolf Jonjens Schrift („Recentissima antiquissimae 
linguse septentrionalis incunabula“) zu liegen, da fie nun wirt⸗ 
lich über anderthalb Jahrhunderte recentissima -gebliehen fei 3). 
Raft war deshalb vorzugsweiſe auf feine eigenen Kräfte angemiejen. 
&r hatte die altnordiſche Sprache zu erforihen begonnen ohne alle 
grammatiihen Hülfsmittel, fi feloft aus den Quellen die Gram⸗ 
matit ausgezogen, die Materialien geſammelt und darauf fein Sy 
ftem gegründet, bevor er eine ber älteren Sprachlehren zu fehen 
belam. Dann erft fuchte er aus feinen Vorgängern Gewinn zu 
sieben, doch war derſelbe nur eim fehr mäßiger ). Er behandelt 
feinen Gegenftand in ſechs Abſchnitten. Im erften, den er als 
Vorbereitung bezeichnet, fpriht er von der Ausſprache und ber 
Rechtſchreibung; der zweite behandelt die Formenlehre, der dritte 
die Wortbildung, der vierte die Syntar, der fünfte die Verslehre, 
endlich der ſechſte die munbartlihen Verſchiedenheiten. In Bezug 


1) Bejlebning, 1811, Fortale, p. 1 fg. — 2) ©. 0. ©. 108 fg. — Bol. 
Raft, Bejlebning, 1811, dortale, p. XXIV fg. — 3) Ebend. p. XKXVL 
— 4) @bend, p. XL. 


480 Dritte Bud. Fünftes Kapitel. 


auf die Lautlchre ift ſchon das bezeichnend, daß Raſt fie Hier 
noch als eine bloße Vorbereitung zur eigentlichen Spradlehre 
betrachtet und ausdrücklich erflärt, fie fei, ebenfo wie ber letzte 
Abſchnitt, nur der Vollſtändigkeit wegen hinzugefügt, ohne 
ftreng genommen zum Syſtem zu gehören. Gr behandelt fie 
dann au vorzugsweife als cine Anleitung zur richtigen Aus 
ſprache des Isländiſchen; auf ihre Wichtigkeit für die Etymo⸗ 
logie nimmt er nur ganz beiläufig Rüdfiht. Für feinen Zwed 
Bietet er in diefem Abſchnitt fehr viel und läßt das dürftige Kapitel 
des Nunolphus Jonas De literis weit hinter fi. — In der 
Formenlehre unterfucht Raſt insbejondere den Bau des Verbums 
mit eindringendem Scharfſinn. Im Anflug an den Schweden 
Botin !) erfennt er, daß die |. g. unregelmäßigen 2) Berba der 
germanifhen Sprachen gleichfalls einer beſtimmten Regel folgen 
und daß fie gerade die älteften Thatwörter der nordiſchen Spraden 
enthalten. Er faßt jie deshalb in eine einzige Konjugation zuſam⸗ 
men, welde er die zweite nennt, während die erfte außer Grimm's 
ſchwachen Verbis auch die mit dem Präteritum auf ri und Grimm’s 
Präterita mit Praefensbedeutung (ann, unnum u. ſ. f.) umſchließt. 
In der Hauptſache, der richtigen Beurtheilung der ftarken Berba, 
fehen wir Raſt auf demfelben Wege, den Hundert Jahre vor ihm 
der Niederländer Ten Kate jo glücklich gebahnt hatte ?). Mir 
dürfen hier dem trefflihen Werke Naff’s nicht weiter in's Einzelne 
folgen und bemerken nur noch, daß auch die übrigen Abteilungen 
desſelben reih an ſcharfſinnigen und treffenden Bemerkungen find 
und daß in diefem Buch zum erftenmal eine wahrhaft wiſſenſchaft ⸗ 
liche Anleitung zur Erlernung der altnordiihen Sprache gegeben 
war. Die zweite Bearbeitung, bie Raſt 1818 in ſchwediſcher 
Sprache Herausgab, enthält nit nur viele Erweiterungen und 
Berbefferungen im Einzelnen, fondern fie bietet in manchen Haupt 
ſtücken eine durchgreifende Umgeftaltung. So geht Raſt hier vid 





1) Raft, Vejledning, 1811, ©. 110. 134. Bl. (Botin), Srenske 
Bpräket (2), Btokholm 1792, &. 129. 151. — 2) D. $. Grimm's Harte 
Babe. — 8) S. 0.6. 141g. 


Die germ. Philol. in ben Nicderl., Engf., Schottl. u. Stand. 1797 Hi 1819. 481 


tiefer als in der erften Ausgabe auf die Lautlehre und insbeſondere 
af die Erörterung des Lautwandels ein. Seiner zweiten Haupt 
conjugation (Grimm’s ftarfen Verbis) gibt er eine anders geord- 
nete Klaſſeneintheilung. Am meiften aber geftaltet er feine erfte 
Hauptconjugation um. Er theilt fie jest in drei Klaſſen, deren 
erfte im Imperfectum hat adi (kalla, kalladi), die zweite di ohne 
Veränderung des Stammvolals (brenni, brendi), die dritte di 
mit Veränderung des Stammvokals (tel, taldi), — Im Anſchluß 
an feine altnordiſche Grammatik ſchrieb Raſt feine angelſächſiſche 
Sprachlehre (1817). In Anordnung und Behandlung folgt er 
der erfteren, und zwar mit einer für feine Zeit ſehr tüchtigen Bes 
herrſchung des angelſächſiſchen Sprachftoffs. Die Practerita mit 
Vraeſensbedeutung führt er jetzt nicht mehr als dritte Klaſſe der 
ſchwachen Berba auf, fondern er bezeichnet fie lieber als „abwei— 
ende”, weil fie fo gering an Zahl und unter ſich felbft fo ver- 
ſchieden feien '). Noch will ich auf einen ſcheinbar nur äußerlichen, 
aber doch, wie wir fpäter fehen werden, merfwürdigen Umftand 
aufmerfiam machen. Mafl’s erfte Anleitung zum Isländiſchen (die 
Bejledning 1811) war mit deutfhen (danske, gotiske) Buchftaben 
gedrudt, und zwar erflärt fih Raſt dort ausdrücklich für die An— 
wendung diefer Buchftaben 2). Dagegen bedient er fih nicht nur 
in der ſchwediſch gefhriebenen Anvisning till Isländskan (1818), 
fondern auch in der däniſch abgefaßten angelſächſiſchen Sprachlehre 
(1817) der Iateinifhen Lettern, und zwar, wie er fagt, aus reif- 
Tier Ueberlegung, weil die fo genannten däniſchen Buchſtaben gar 
feine däniſchen, fondern nur von den mittelalterlien Münden ver- 
derbte Tateinifche Buchſtaben feien 9). 

Im Jahr 1818 erfhien zu Kopenhagen Raſt's epochemachende 
Undersögelse om det gamle Nordiske eller Islandske Sprogs 
Oprindelse (Unterſuchung über den Urfprung der alten nordiſchen oder 


1) Ebend. S. 60. Ebenſo behandelt er in der Anvisning till Isländs- 
kan (1818) 8. 146 snda, eneri u. |. f. ale „abweichende. — 2) Vejled⸗ 
ning 1811, p. 8. — 3) Bl. die weitere Ausführung und Raſt's Be 
zufung auf Gatterer in ber Angelsaksisk Sprogl. 1817, Fortale, p. 44. 

Raumer, Ceſq. ber germ. Pfllelogle, 31 


482 Drittes Bud. Fünftes Kapitel, 


tBländifchen Sprade). Raſt hatte diefe von der föniglich däniſchen Ge⸗ 
ſellſchaft der Wiſſenſchaften gekrönte Preisſchrift während feines Auf- 
enthalts auf der Inſel Island ausgearbeitet und im J. 1814 nad) Kopen- 
hagen gefandt, aber erft nad) dem Antritt feiner großen aſiatiſchen 
Neife wurde fie, während feiner Abwefenheit, in Kopenhagen zum 
Drud befördert. Wir müffen diefe Beitbeftimmungen feſt im Auge 
behalten, um die Stellung richtig zu würdigen, welde Raſks 
Schrift in der Entwicklung unferer Wifjenfhaft einnimmt. Nadr 
dem Raſt in einer vortrefflihen Einleitung gezeigt hat, wie wir 
nur mit Hülfe der Sprachforſchung das tiefe Dunkel allmählich 
lichten können, das die Urzeit der menſchlichen Geſchichte bebeit, 
entwidelt er im erften Hauptftüd meifterhaft das Weſen und die 
Aufgabe der Etymologie. Nur auf dem Boden der vergleichenden 
Sprachforſchung laſſen fih Haltbare Ergebnifje gewinnen '). Die 
Sprachvergleichung muß fih aber nicht auf das Leritalifche beſchrän⸗ 
fen, fondern fie muß fih außerdem auf deu grammatifchen Bau 
der Sprade erftreden. Sprachbau und Wortvorrath find die beir 
den Haupttheile, mit denen es die vergleichende Sprachforſchung zu 
thun hat?). Die Vergleihung des Sprachbaus führt zu viel 
ſicherern Ergebniſſen, als die des Wortſchatzes, weil bei dieſem 
fpätere Entlehnung möglich ift 2). Die Sprade, welche die kunft 
reichſte Grammatik Hat, ift die urfprünglichfte und der Quelle am 
nächſten 3). Bei der Vergleihung der Wörter hat man vor allem 
die Gefege der Lautübergänge aufzuſuchen und an dieſe Gejege hat 
man fih dann beim Etymologifieren ftreng zu halten‘). Man 
muß aber feine Vergleihungen nit auf die gejchriebenen Zeigen 
bauen, fondern auf die richtige Ausſprache 5). Darauf handelt Rail 
im zweiten Hauptftüd von den germaniſchen Spraden, die er unter 
der Bezeichnung „gotiſch“ zufammenfaßt, jo daB dann das Nor 
diſche (Standinavifge) und das Germaniſche die beiden Haupt: 
ftämme des Gotiſchen bilden. Das Germaniſche theilt ſich dann 
wieder in Sächſiſch ( Frieſiſch, Holländifch, Plattdeutſch, Angelfähfiih, 


1) Rask, Undersögelse, 8.31. — 2) Ebend. ©. 34. — 3) Eben. 
©. 35. — 4) Ebend. ©. 18. 36. 47. — 5) Ebend. ©. 56, 


Die germ. Philol. in den Nieberl., Engl., Schottl., u. Stand. 1797 bie 1819. 488 


Engliſch) und Deutſch (Möſogotiſch, Hochdeutſch) 1). Im dritten 
Hauptſtũck ſucht Raſt die Quelle der „gotiſchen“ und insbeſondere 
der isländiſchen Sprache nachzuweiſen, indem er die verſchiedenen 
Sprachen ihrer geographiſchen Lage nach durchgeht und ſie mit dem 
Gotiſchen“ vergleicht. Da findet er im Grönländiſchen ?), Kelti- 
fgen >), Vaſtiſchen ) und Finniſchen 5) gar keine ober doch nur 
eine ganz geringe Aehnlichkeit mit dem „Gotiſchen.“ Dagegen 
zeigt das Slaviſche, von deſſen Ban Raſt eine etwas eingehendere 
Darftellung gibt ©), eine auffallende Verwandtſchaft mit dem 
„Gotiſchen“ ); und nod weit mehr ift dies der Fall mit dem 
Rettifchen ©), deſſen Titauifchen Zweig Raſt zum Zwed ber Sprad- 
vergleichung näher zergliedert ). Aber doch ift das Lettiſche nicht 
die Quelle des „Gotiſchen“, ſondern beide weiſen auf eine gemein⸗ 
ſame ältere Quelle: das Griechiſche und Lateinifche, zu deren Betrach⸗ 
tmg Raſt num übergeht 1). Er faßt fie unter dem Namen 
‚tHrakih” zufammen, indem er fie als die füblichiten Zweige des 
großen thrakiſchen Stammes anfieht, deſſen übrige Sprößlinge uns 
verloren feien. Die nahe Berwandtihaft der beiden antiten Spra- 
en mit den „gotiſchen“ meift er ſowohl am Wortihag, als am 
grammatifhen Bau nad. Was den Wortſchatz betrifft, fo finden 
fi ſo viele verwandte Wörter, daß Megeln für den Lautwechſel 
daraus abgeleitet werden Können !t). Solde Regeln ftellt nım Raſt 
auf, und bier ift es, wo er der bald darauf von Grimm erwieſenen 
Rautverfchiebung fo nahe kommt 12). Wir verfparen aber die nähere 
Darftellung von Raſt's Entdecung auf den Abſchnitt, in welchem 
wir Grimm’s Geſetz beiprechen werden. Die Webereinftimmung 
des Sprachbaus meift Raſt an den Flexionen ſowohl der Declina- 
tion als der Conjugation nad und macht hier eine große Menge 
ſcharffinniger und trefiender Beobachtungen. Wir Heben daraus 


1) Ebend. 6.64.65. — 2) Ebend. ©. 75 fg — 3) Ebend. 

6. 76 fg. — 4) Ebend. ©. 93 fg. — 5) Ebend. S. 95 fg. — 6) Ebend. 

6.118 fg. — 7) Ebend. ©. 143. — 8) Ebend. 155 fg. — 9) Ebend. 

ET — 10) Ebend. 6.189 fg. — 11) Ebend. S. 161. — 
12) send. ©. 169 fg. . 
1 


482 Drittes Bud. Fünfıes Kapitel, 


islãndiſchen Sprache). Raſt hatte diefe von ber Königlich däniſchen Ge⸗ 
ſellſchaft der Wiſſenſchaften gekrönte Preisſchrift während feines Auf- 
enthalts auf der Infel Island ausgearbeitet und im J. 1814 nad} Kopen- 
hagen gejandt, aber erft nad dem Antritt feiner großen aſiatiſchen 
Neife wurde fie, während feiner Abweſenheit, in Kopenhagen zum 
Drud befördert. Wir müffen diefe Zeitbeftimmungen feft im Auge 
behalten, um die Stellung richtig zu würdigen, welde NRaffs 
Schrift in der Entwidlung unferer Wiſſenſchaft einnimmt. Nach⸗ 
dem Raſtk in einer vortrefflihen Einleitung gezeigt hat, wie wir 
nur mit Hülfe der Sprachforſchung das tiefe Dunkel allmählich 
lichten können, das die Urzeit der menſchlichen Geſchichte bebedt, 
entwidelt er im erften Hauptftüc meifterhaft das Weſen und die 
Aufgabe der Etymologie. Nur auf dem Boden der vergleichenden 
Sprachforſchung laſſen ſich haltbare Ergebniffe gewinnen !). Die 
Spradvergleihung muß fi) aber nicht auf das Lerikalifche beſchrän⸗ 
ten, fondern fie muß fi außerdem auf den grammatiſchen Bau 
der Sprache erjtreden. Sprachbau und Wortvorrath find die beir 
den Haupttheile, mit denen es bie vergleichende Sprachforſchung zu 
thun hat 2). Die Vergleihung des Sprachbaus führt zu viel 
fiherern Ergebniffen, als die des Wortſchatzes, weil bei dieſem 
fpätere Entlehnung möglich ift 2). Die Sprade, welche die lunſt⸗ 
reichſte Grammatik hat, ift die urfprünglichfte und der Quelle am 
nächſten 3). Bei der Vergleiung ber Würter hat man vor allem 
die Gefege der Lautübergänge aufzuſuchen und an diefe Gejege hat 
man fih dann beim Etymologifieren ftreng zu halten‘), Man 
muß aber feine Vergleihungen nit auf die geſchriebenen Zeichen 
bauen, fondern auf die richtige Ausfprade 5). Darauf handelt Rait 
um zweiten Hauptftüd von den germanifhen Sprachen, die er unter 
der Bezeichnung „gotiſch“ zufammenfaßt, jo daß dann das Nor⸗ 
diſche (Standinavifhe) und das Germanifhe die beiden Haupt: 
ftämme des Gotifhen bilden. Das Germaniſche theilt ſich dann 
wieber in Sächſiſch (Frieſiſch, Hollandiſch, Plattdeutſch, Angelſächſiſch 


1) Rask, Undersögelse, 8.31. — 2) Ebend. ©. 34. — 3) Ebd. 
©. 35. — 4) Ebend. ©. 18. 36. 47. — 5) Ebend. ©. 56, 


Die germ. Philol. in ben Niederl. Engl., Schottl., u. Stand. 1797 bie 1819. 488 


Engliſch und Deutſch (Mifogotifc;, Hochdeutſch) ). Im dritten 
Hauptſtück ſucht Raſt die Quelle der „gotiſchen“ und insbeſondere 
der isländiſchen Sprache nachzuweiſen, indem er die verſchiedenen 
Sprachen ihrer geographiſchen Lage nach durchgeht und fie mit dem 
Gotiſchen“ vergleiht. Da findet er im Grönländifgen ?), Kelti- 
ſchen 3), Vaſtiſchen 4) und Finniſchen d) gar feine oder doch nur 
eine ganz geringe Wehnlichleit mit dem „Gotiſchen.“ Dagegen 
zeigt das Slaviſche, von deſſen Bau Nafl eine etwas eingehendere 
Darftellung gibt 6), eine auffallende Verwandtſchaft mit dem 
„Gotifhen“ ); umd noch weit mehr ift bies der Fall mit dem 
bettiſchen ®), deſſen litauiſchen Zweig Raſt zum Zweck der Sprad- 
vergleihung näher zergliedert 9). Aber doch tft das Lettiſche nicht 
die Quelle des „Gotiſchen“, fondern beide weilen auf eine gemein- 
fame ältere Quelle: das Griechiſche und Lateiniſche, zu deren Betrach⸗ 
tmg Raſt nun übergeht 9). Gr faßt fie unter dem Namen 
‚thrafifch” zufammen, indem er fie als die ſüdlichſten Zweige des 
großen thrakiſchen Stammes anfieht, deſſen übrige Sprößlinge ung 
verloren feien. Die nahe Verwandtſchaft der beiden antiten Spra- 
den mit den „gotiſchen“ meift er fowohl am Wortihag, als am 
grammatifchen Bau nad. Was den Wortihag betrifft, fo finden 
fih fo viele verwandte Wörter, daß Megeln für den Lautwechſel 
daraus abgeleitet werben können !1). Solde Regeln ftellt num Raſt 
auf, und bier ift es, wo er ber bald darauf von Grimm erwiejenen 
Rautverfchlebung fo nahe tommt 12). Wir verſparen aber bie nähere 
Darftellung von Raſt's Entdeckung auf den Abſchnitt, in welchem 
wir Grimm’s Geſetz beipreden werben. Die Uebereinftimmung 
des Sprachbaus weift Raſk an den Flexionen ſowohl der Declina- 
tion als der Eonjugation nah und madt hier eine große Menge 
ſcharffinniger und treffender Beobachtungen. Wir Beben daraus 


1) Ebend. 6.64.65. — 2) Ebend. S. Tg — 8) Ebend. 
6. 78 fg. — 4) Ebend. ©. 98 fg. — 5) Ebend. ©. 95 fg. — 6) Eben. 
©. 118 fg. — 7) Ebend. ©. 143. — 8) Ebend. 155 fg. — 9) Ebend. 
Ef — 10) Ebend. 6.189 fg. — 11) Ebend. S. 101. — 
12) Ebenb. ©. 169 fg. . 

31 


484 . Drittes Buch. Funftes Kapitel. 


nur hervor, daß er die gothiſche neutrale Endung ata, die deutihe 
es im lateiniſchen ud (aliud) wiedererfennt und diefe .mit dem 
griechiſchen o (dxelvo), das ftatt od ftehe, zujanmenftellt 1); 
daß er in dem altnordifhen Accuſ. Plur. der Mafculina (fiska, 
blinde) durch Vermittlung des gothiſchen ans (fiskans, blindans) 
den griechiſchen Accuſ. Blur. auf ovg („ftatt oyc“) erfennt 2); dab 
ex den altnordiſchen Dativ Pluralis auf um durch Vermittlung 
des litauiſchen ms mit dem lateiniihen bus zuſammenbringt >); 
daß er in dem m des angelſächſiſchen oom, dem n des deutſchen 
ich bin das ps des Griechiſchen fieht ‘). Das Ergebniß Raifs 
ift, daß Standinavier und Germanen (b. h. Deutſche, Engländer 
u. ſ. f.) nit von einander abftammen, fondern Beide Zweige des 
großen thrakiſchen Vollsſtammes find, deſſen ältefte Ueberreſte wir 
im Griechiſchen und Lateinifchen befigen. Wenige Werke bieten jo 
viel Neues von bleibendem Werth, wie diefe Schrift Raſt's. Sie 
hat neben Bopp's Conjugationsfyftem der Sanskritſprache (1816) 
und Grimm’s Grammatik (1819) der vergleidenden Sprachforſchung 
die Bahn gebogen. Ihre Schranke findet Raſt's Einficht im dieſer 
Schrift noch da, wo er über die Gränzen der europäiſchen Spra- 
Ken Hinaushlidt. Vom Sanskrit und Zend meint er, es feien 
gewiſſe Achnligteiten zwiſchen diejen Sprachen und den „gotiſchen“ 
nicht zu läugnen, doch meift mur mittelbare durch die thrakiſche 
Sprade 5). Die unmittelbare Quelle des Isländiſchen feien fie 
jedenfalls nicht, und es ſei deshalb Sade der griechiſchen Sprad- 
forfgung, zu unterſuchen, woher die thrakiſche Klaſſe wieder ihren 
wahren Urfprung hat ©). Da aber keiner der Männer, welde diefe 
Vergleichungen angeftelit Haben, Gothiſch, Isländiſch und Sanskrit 
verftanden hat, jo kann man das, mas fie auf eine Anzahl ähn⸗ 
licher Wörter und ganz vereinzelte grammatiſche Uebereinftimmungen 
gegründet haben, nur für eine vorgefaßte Meinung oder aufs 


1) Ebend. ©. 189192. — 2) Gbend. ©. 25. — 3) Cbend. 
©. 208 fg. (ogl. ©. 127). — 4) Ebend. 258. — 5) Ebend. S. 304. 
6) Eben. ©. 305. 


Die germ. Philol. in ben Nieberl., Engl., Schottl. u. Skand. 1797 6i8 1819. 486 


höchſte für eine unerweisliche, obwohl nicht ungereimte Muth⸗ 
maßung erflären 1). 

Noch müffen wir der großen DVerdienfte gedenten, die Raſk 
fh durch feine Ausgaben der beiden Edda 2) (1818) um den Tert 
diefer Hauptwerke der altnordiſchen Literatur erworben hat. 


DRaff8 Arbeiten auf bem Gebiet der germanifhen Spragen 
feit bem Jahr 1822. 


Auch in den letzten zehn Jahren feines Lebens (1822 — 
1832) war Raſt als Sprachforſcher unermüdlich thätig. Seine 
Arbeiten erſtrecken ſich weit über das Gebiet hinaus, mit weldem 
mir uns hier befchäftigen. Aber aud unter den außerhalb unferes 
Kreifes liegenden Arbeiten Raſt's find mande für unfere Wiffen- 
ſchaft mittelbar von großer Bebeutung, 3. B. die epochemachende 
Abhandlung über das Alter und die Echtheit der Zendſprache und 
des Zendavefta (1826) ?). Unter den Echriften, die dem germa- 
niſchen Gebiet angehören, heben wir hervor den ſcharfſinnigen Ver⸗ 
ſuch einer wiſſenſchaftlichen däniſchen Rechtſchreibung (1826) *) und 
die frieſiſche Sprachlehre (1825) 9). Die legtere fließt fi, wenn 
auch mit manden Abänderungen, im Wejentlihen doch ganz den 
Anfihten über den germanifgen Sprachbau an, die Raſt ſchon 
1811 in feiner Anleitung zur isländifhen Sprache aufgeftellt Hatte. 
Ton einem Einfluß der inzwiſchen erfhienenen Grimm'ſchen Gram- 
matif ift nichts zu bemerfen. In einer ausführlichen Beurteilung 
von Raſt's Buch, die in den Göttingifhen gelehrten Anzeigen 





1) Ebend. S. 304. Man überfehe hiebei nicht, daß Raſt's Under- 
sögelse zwar nach Bopp’s 1816 erfhienenem Gonjugationsfgftem der Gand- 
tritſprache herausgegeben (1818), aber vor demfelben (1814) geſchrieben if. 
— 9 Die Edda Saemundar gab »ex recensione Erasmi Christiani 
Raske Arv. Aug. Afgelius heraus. — 3) Wieder abgebrudt in Raſt's 
Samlede Afhandlinger II, 1836, 8. 360-393. — 4) Forspg til en 
videnskabelig dansk Retskrivningslasre, erfdienen als I. Bind ber 
Tidsskrift for nordiek Oldkyndighed, Kj@b. 1826. — 5) Frisisk 
Sproglaere, Kobenhavn 1825, ” 


486 Drittes Buch. Fünftes Kapitel. 


(1826) erſchien, ftellt Grimm feine Anfichten denen Raſk's gegen- 
über. Raſt empfand dies ſehr übel und erwiderte Grimm's Be 
merkungen in einer fehr erbitterten Weife (1826) ). Diefer Er- 
wiberung ließ er dann noch (1830) eine Beurtheilung der beiden 
erften Bände von Grimm's Grammatik folgen 2). Alle dieſe ki- 
tifchen Ergüffe des fonft fo verdienten Sprachforſchers machen einen 
höchſt peinlichen Einbrud. Wie überall, fo zeigt er auch hier gründ⸗ 
liche Kenntniffe auf vielen Gebieten und ſcharfe Beobachtungsgake. 
Er Hat nicht felten im Einzelnen gegen Grimm Recht; ja er be 
rührt auch mit richtigem Blick die ſchwächeren Seiten von Grimm's 
Methode. Aber er hat feine Ahnung von Grimm's Bedeutung. 
Gegen das Bahnbrechende von Grimm's Forſchung ift er voll 
Tommen Blind, und ebenfo verſchließt er fi gegen deſſen ſchönſte 
Entdedungen. Bis an fein Lebensende (1832) bleibt Raſt feſtge⸗ 
bannt auf dem Stanbpunft, den er vor bem Erſcheinen von Grimm’s 
Grammatik eingenommen hatte 9). 


1) Im der daniſchen Zeitſchrift Hermod; wieder abgebrudt in Rajts 
Samlede Afhandlinger III, 1838, 8. 198 — 234. — 2) Im Lonboner 
Foreign Review, March 1830. Wieber abgebrudt in Raſt's Saml. Af- 
handl. II, 1836, 8. 442—462. Manches in diefer Beurteilung deutet ſchein⸗ 
bar auf einen anberen Verfaſſer als Raſt. So ©. 443 »our om — 
Hickese; S. 449 »our modern English«; ©. 456 »the system of the 
Danish professor« ; ober wenn ©. 445 Raſt's angelſächſ. Sprachlehre >= 
very remarkable production« genannt wird. Aber da biefe Kritif nicht 
nur unter Raſt's Abhandlungen aufgenommen ift, ſondern aud) in dem Ber: 
zeichniß feiner Schriften (Saml. Afh. III, Fortale 8. 48) auedrüclich Reſt 
qugejprieben wird, fo Mnnen wir feine Berfafferfehaft eiber nicht in Abree 
flellen. — 3) gl. 5. 8. A. Grammar of the Anglo-Saxon Tongus, — 
by Er. Rask. A new edition enlarged and improved by the author. 
Translated from the Danish by B. Thorpe, Copenhagen 1R90, pre 
face, postscriptum p. LVII. Tann p. 68. 86, — Ferner Kortfatted 
Vejledning til det oldnordiske eller gamle islandske Sprog ved R- 
Rask 1832; Tredje Oplag, Kßbenhavn 1854, Forord; bann 3. V. 
S. 51. 


Die neuhochdeuiſche Säriftfpr. u. d. Volfsmunbarten 1797 bis 1819. 487 


Sechſtes Aapitet. 


Die Bearbeitung der neuhochdentichen Schriftiprahe und ber deut⸗ 
ſchen Voltsmunbarien in ben Jahren 1797 bis 1819. 


Die Thätigfeit Adelung’s, die wir im vorigen Buch befpro- 
den haben, reicht tief hinein in den gegenwärtigen Zeitabſchnitt. 
Die zweite Ausgabe feines deutfhen Wörterbuch erſcheint in den 
bren 1783 bis 1801, und an biefe knüpfen bie gleichzeitigen 
Bemühungen um die deutfche Schriftiprahe an. Der belannte Pä- 
dagog Joachim Heinrih Campe (geb. 1746 zu Deenfen im 
Braunſchweigiſchen, geft. zu Braunſchweig am 22. Oct. 1818) 1) 
verband fi im J. 1797 mit mehreren Kennern ber deutſchen 
Sprache zur Herausgabe eines „beutichen Wörterbuchs zur Er- 
gänzung und Berichtigung des Abelungifden" 2). Das Wert kam 
as Mangel an Theilnahme von Seite des Publicums und durch 
die Erkrankung mehrerer Mitarbeiter zunächft nicht zu Stande >). 
Aber Eampe feldft arbeitete an dem von ihm übernommenen Theil 
eifrig fort, und fo entftand fein im J. 1801 zu Braunfchweig ers 
idienenes „Wörterbuh zur Erklärung und Verdeutſchung der un« 
ferer Sprache aufgebrungenen fremden Ausdrücke.“ Cinige Jahre 
ipäter vereinigte fih Campe mit Theodor Bernd und Joh. 
Gottlieb Radlof zur Herausgabe eines vollftändigen „Wörter 
buchs der deutſchen Sprache“), das 1807 bis 1811 in fünf 
großen Quartbänden zu Braunſchweig erihien. Campe hatte bei 
feinen lexilaliſchen Arbeiten ein boppeltes Biel im Auge. Erſtens 


1) Zörbens, Lerikon deutſcher Dichter und Profaiften I, 279 — 293. — 
A. Hm. Niemeyer in der Allgem. Enchel. Her. von Erf und Gruber Thl. XV, 
6.47 9. — 2) ©. bie Anfündigung und Probe desjelben in: Beiträge zur 
weitern Ausbilbung ber deutſchen Sprache von einer Geſellſchaft von Sprache 
freunden. Neuntes Stüd, Braunſchweig 1797, ©. 3— 108. Die Namen 
der Mitarbeiter daſ. ©. 17 fg. — 3) ©. die Vort. zum erfien Bb. von 
Gampe's Wörterb. der deutſchen Sprache S. IV. — 4) Bgl. über die Ent: 
fehung diefes Werkes und ben Antheil, ben bie einzelnen Mitarbeiter daran 
hatten, Campe's Borr. zum erfien Bd. ©. VI fg. 


488 Drittes Bud. Sechſes Kapitel. 


wollte er dem engherzigen Begriff Adelung's von der ,hochdeutſchen 
Mundart“, wie wir ihn im vorigen Buch geſchildert haben, einen 
umfaffenderen entgegenftelfen 1). Er nimmt deshalb eine Menge 
von Wörtern auf, denen Adelung das Bürgerrecht verjagt hatte; 
und da Campe und feine Mitarbeiter auch ſonſt fleißig nachſam⸗ 
meln, jo bieten fie mehr als doppelt fo viele Wörter als Adelung. 
Zweitens aber geht Campe's Beſtreben darauf, die deutſche Sprache 
von Fremdwörtern zu reinigen. Mit einer Abhandlung über die 
fen Gegenftand gewinnt er einen von der Berliner Alademie aus 
geſetzten Preis?). Seine Grundfäge find troß aller Uebertreibun⸗ 
gen doch verftändiger als die fo mander anderer Puriften, und 
wenn es ihm auch an Tiefe und Gründligkeit fehlt, fo trifft fein 
nüchterner Verſtand doch öfters das Richtige. Wie Campe, fo gieng 
Joh. Heinrih Voß damit um, Adelung’s Wörterbuch durd ein 
befferes zu erfegen. Seine ausführliche Beurtheilung Adelung's 
(1804) 3) trifft die ſchwachen Seiten desſelben mit fchneibender 
Schärfe, verfennt aber deſſen wirkliche Verdienſte. Weit tiefer 
griff Voß ein auf dem Gebiet der deutjhen Metrik durch feine 
1802 erſchienene „Beitmeffung der deuten Sprache”, worin er die 
Grundfäge darlegte, nad) denen er felbft den deutſchen Vers ber 
handelte. Unter ben lerxilaliſchen Arbeiten diefes Zeitraums erwäh- 
nen wir no Theodor Heinfins „Vollthümliches Wörterbuch 
der deutſchen Sprade für die Geſchäfts- und Leſewelt“ (1818 — 
1822). Das Gebiet der deutſchen Synonymik erhielt in unferer 
Periode eine werthoolle Bereiherung durch Joh. Auguft Eher 
hard's (geb. zu Halberftabt 1739, 1778 Prof. der Philofophie zu 
Halle, geft. den 6. “ar. 1809) 4) „Verfuch einer allgemeinen beut- 


1) Bgl. die angeführte Vorrede, und bie Abhandlung Campe's: „Was 
iR Hochdeutſch?“ in den Beiträgen, Erſtes Stüd, 1795, ©. 145. — 2 Tit 
Abhandlung iſt (theilweiſe und mit einigen Veränderungen) wieder abgedruci 
vor Campe's Wörterbuh — zur Verbeutigung u. ſ. w. — 3) In ber Jen 
Lit. -Zeitung 1804, Nr. 24 — 40. Bol. Adelung's Gegenerflärung in ber 
Leipziger Lit.- Zeitung 1804, Intelligenzbl. Stück 15. — 4) Jördent, 
eeriton VI, 80 fg. 


Die neuhochdeutſche Schriftfpr. u. d. Vollemundarten 1797 bis 1819. 489 


ſchen Symonymik in einem tritifch - philofophifhen Wörterbuche der 
finnverwandten Wörter der hochdeutſchen Mundart“ (1795—1802). 
Eine Ergänzung diefes Werts lieferte (1818 — 21) Ehrenreih 
Maaß (Brof. in Halle, + 1828). 

Einen befonderen Eifer wendet man in diefer Zeit der „Rei—⸗ 
nigung und Verbefferung der deutſchen Sprade” zu. Mit Kennt 
niß und Verſtand ſchrieb K. W. Kolbe (geb. zu Berlin 1757, den 
größten Theil feiner Lebenszeit in Deffau, geft. den 13. Yan. 
1835) 3) „Ueber den Wortreihthum der deutſchen und franzöfifchen 
Sprade und beider Anlage zur Boefie" (1806), und „Ueber Wort» 
mengerei“ (1809). Mit rührendem Eifer, aber unglaublicher Ver⸗ 
tennung feines Gegenftandes müht fih Chriftian Hinrich 
Wolke für das Befte feiner „herlichen Mutterſprache“ und „eines 
geliebten Vatervolles“ ab. Geboren zu ever im J. 1741, wurde 
er 1774 Baſedow's rechte Hand bei Errihtung des befannten Def- 
fauer Philanthropins. Bis in fein hohes Lebensalter mit pädas 
gogiſchen umd fpradligen Experimenten beſchäftigt, ftarb er am 
8. Jan. 1825 zu Berlin 2). Sein Hauptwerk auf unferem Gebiet 
ift fein „Unleit zur deutschen Geſamtſprache oder zur Erkennung 
und Berichtigung einiger (zu wenigst 20) taufend Spradfehler in 
der hochdeutschen Mundart; nebft dem Mittel, die zahllofen, — 
in jedem Jahre den Deutschfhreibenden 10 000 Jahre Arbeit oder 
die Unfosten von 5 000 000 verurfahenden — Schreibfehler zu ver- 
meiden und zu erjparen“ (1812). Wir wollen hier nicht auf die 
zahlloſen Sonderbarfeiten des Verfaſſers in Orthographie, Wort 
bildung und Verdeutſchung eingehen, fondern nur feinen Grundges 
danfen hervorheben, weil er uns mehr, als irgend etwas, zeigt, 
was damals, — fieben Jahre vor dem Erſcheinen von Grimm’s 
Stammatit —, auf bem Gebiet der Spradweisheit noch möglich, 
war. Wolfe ift nämlich alles Exrnftes der Anſicht, daß ein einzelner 
„tatiger, Tentnisvolfer, mit Berftand, Sprah- und Schönfin bes 
gabter Man, Kenner der Deutschin, bifen [den deutſchen) Wortbau 


1) Neuer Nekrolog der Deutſchen, Jahıg. 1835, I, ©. 66 fg — 
2) Chend., Jahrg. 1825, ©. 28 fg, 


490 Drittes Bud. Sechſtes Kapitel. 


nad) einerlei echtdeutschen, d. i. natur⸗ unb vernunftgemäsen For⸗ 
men vorzunemen und feine Wortgebilde aufzuftellen“ habe. Da- 
durch „bereitet er das Mittel, unfre — von gants Unwissenden 
begründete, von Unfundigen meisfterlof zufammengeflifte, nad 
einem bunfeln Gefühl gefhaffene Sprache zu einem mit fich über 
einftimmigen, widerſpruchloſen Kunsſtwerke zu machen, gar nicht, 
um dife von Einem erleuchteten Verftande erzeugte und zur Wis 
bergeburt beförberte Sprache gleich einzufüren, fondern fi nur als 
Muster zur freien, almäligen Nachamung für die Zeitgenossen und 
tre Nachkommen aufzuftellen. Dis Werk, weltbauähnlich, da Ein 
Berftand es, wi in Einem Gus, erſchuf, wird fi nur durch 
neue Vorteile, Schönheiten und Volkommenheiten ſehr merflih 
von der Sprache unterfcheiden, welche bis dahin der unfundige und 
fteiffinnige Vielkopf gröstteils zufammengeftült Hat“ '). Mit mehr 
Kenntniß der deutſchen Sprade, als Wolfe, aber doch aud mit 
wunderlichen Borausfegungen wollte Radlof fi der Verbefferung 
unferer Sprade annehmen in feinen „Trefflichkeiten der ſüdteutſchen 
Mundarten zur Verjhönerung und Bereicherung ber Schrift 
Sprade“ ?) (1811). 

Die grammatifhe Bearbeitung der neuhochdeutſchen Schrift 
ſprache fand aud in unferer Periode (1797—1819) zahlreiche Ver⸗ 
treter. Den Anlaß zur Herausgabe deutſcher Grammatiten gab 
jegt, wie früherhin, das Bedürfniß des Unterrichts. Eine deutſche 
Regierung, die bayeriſche, fühlte dies Bedürfniß fo lebhaft, dab 
fie ihm (1807) durch Ausjegung eines namhaften Preifes fir eine 
den Anforderungen der Gegenwart entfpredende deutſche Grammar 
tif abzuhelfen fuchte 3). Aber ihre Abſicht blieb unerfüllt 4). Unter 
den deutſchen Grammatifern jener Zeit nennen wir Theodor Hein 
fius (in Berlin), Joſ. Wismayr (in Münden), Georg Mid. Roth 


1) Wolfe, Anleit, 1812, S. 181. — 2) Bgl. . B. S. 91 — 
3) ©. das Auefgreiben in der Hallifhen Lit. Zeitung 1807, Znteligembl. 
Num. 78. — 4) Bgl. über ben Berlauf biejer ganzen Angelegenheit Radlof, 
Ausführlige Schreibungslehre, Franff. a. M. 1820, Bor. — Auf bien 
Vorgang bezieht fih Grimm, Gramm. I, (1) Bor. S. XII. 


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Die nenhochdeutſche Schriftſpr. u. d. Voltsmunbarten 1797 bis 1819. 491 


(m Frankfurt am Main), Georg Reinbek (aus Berlin, fpäter in 
Stuttgart), Heine. Bauer (in Potsdam), Wild. Harnifd (in Bress 
lau), Bhil. Steineil (in Stuttgart), endlih Joh. Ehriftian 
Anguft Heyfe (in Magdeburg). Alle diefe Grammatiker hatten 
ihren zum Theil weit ausgebreiteten Wirkungskreis. Aber nur der 
zuletzt genannte, nämlich Heyfe, erreichte einen ähnlichen Einfluß, 
mie vor ihm Adelung. Wir werden deshalb im folgenden Buch 
auf ihn zurüdtommen. Gier bemerken wir nur noch, baß gerabe 
für die neuhochdeutſche Grammatik von befonderer Wichtigkeit ber 
frankfurtiſche Gelehrtenverein für deutſche Sprache“ wurde, ben der 
ſcharffinnige und verdiente Georg Friedr. Grotefend (geb. zu 
Minden 1775, 1808 am Gymnaſium zu Frankfurt am Main ans 
geftelft, 1821 Director des Lyceums zu Hannover !), geft. den 
15. Dec. 1853) 2) im J. 1817 gründete 3). 

Wie die Schriftſprache, fo fanden auch die deutihen Mundar⸗ 
ten in unferem Zeitraum nicht wenige Bearbeiter. Die mundart- 
liche Poefie nahm gerade im jener Zeit einen neuen Aufſchwung 
durch Joh. Heine. Voß’ plattveutiche und Peter Hebel's alleman- 
niſche Gedichte (1803). Neben ihnen könnten außer dem Nürnber- 
ger Grübel (F 1809) nod eine Reihe Anderer genannt werben, bie 
fi} in den verſchiedenen deutſchen Mundarten dichteriſch verſuchten. 
Aber wir ſchreiben hier nicht die Geſchichte der mundartlihen Dicht⸗ 
ung, fonbern die der mundartlichen Forſchung. Doc geht gerabe 
auf diefem Gebiet öfters Beides Hand in Hand. Unter den vielen 
Beiträgen zur Kenntniß der beutihen Mundarten, bie theils als 
felbftändige Werke, theils in Zeitſchriften erfchienen, heben wir her» 
vor Franz Joſ. Stalder's Verſuch eines ſchweizeriſchen Idioti⸗ 
lons (1812) und deſſen Schweizeriſche Dialektologie (1819), Joh. 
Friedr. Schütze's (geb. zu Altona 1758, geſt. 1810) Holfteini» 
ſches Idiotikon (1800— 1806) und Matthias Höfer’s Volls- 
ſprache in Defterreih (1800) und Etymologiſches Wörterbuch der in 


1) Converſations-Lex. der Gegenwart, Bd. II, Leipz. Brodaus 1839, 
6. 564 fg. — 2) Brodauf. Eonv-Ler. (11) VII, 457. — 3) Bol. Ab⸗ 
Hanblungen des frankf. Gelehrienvereins u. f. f. Erſtes Stüd, 1818. 


492 Drittes Buch. Giebentes Kapitel, 


Oberdeutſchland, vorzügli aber in Defterreih üblichen Mundart 
(1815). Verſuche, einen Ueberblid über ſämmtliche deutſche Mund⸗ 
arten zu gewinnen, wurden gemadht von Severin Bater, im 
Anſchluß an Adelung’s Mithridates, im feinen Proben deutſcher 
Voltsmundarten (1816) und von Joh. Gottlieb Radlof in 
den „Spraden der Germanen in ihren ſämmtlichen Mundarten 
dargeftelft und erläutert durch die Gleichniſſ- Meden vom Stemanne 
und dem verlorenen Sohne“ (1817), denen er dann fpäter (1821) 
nod einen Mufterfaal aller deutſchen Mundarten folgen ließ. 


Siedentes Kapitel. 
Nüdblic. 

Wir haben geſehen, wie gegen den Ausgang des achtzehnten 
Jahrhunderts die Romantiker den Blick in unſre Vergangenheit 
wieder öffneten. Wir haben das große Verdienſt, das die Roman 
tifer fi dadurch erwarben, rühmend anerkannt, zugleich aber auf 
die Gefahren Hingewiefen, die mit einer folden Verherrlichung des 
Mittelalters, wie wir fie bei den Romantikern finden, unausweid- 
lid) verbunden waren. Wir haben dann aber weiter gefehen, wie bie 
deutſche Philologie, obwohl auf dem Boden der Romantik ermadr 
fen, doch das Kranfhafte diefer Richtung mehr und mehr abftreifte, 
indem fie ihre Neigung nicht dem Mittelalter, fondern dem Deut 
ſchen aller Zeiträume zuwandte. Nichts führt uns dieſen Unter 
ſchied fo Har vor Augen, als die Stellung, die unfer größter Dich 
ter einerfeits zu den Romantikern und andrerfeits zu unſrer ge 
waltigften altdeutſchen Dichtung einnahm. Wir erinnern uns, wie 
Goethe gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts ſich einer 
ausſchließlichen Vergötterung des Griechenthums in die Arme warf. 
Aber ein Geift von fo gefunder umd unerſchöpflicher Naturkraft 
tonnte in diefer erfünftelten Cinfeitigfeit nicht verharren. Wohl 
blieben ihm bie Griechen in Kunft und Poefie das Höchſte, und 
wer wollte dem, vichtig verftanden, widerſprechen? Aber fein Blid 
erweiterte ſich auch wieder für die Schöpfungen anderer Bälle. 
Zwar das krankhafte Katholifieren der Romantiker widerte ihn an 


Rüdblid, 493 


Wohl aber erkannte fein ungetrübter Blick das Tüchtige und Ge- 
ſunde in unſrer altdeutſchen Heldendihtung. Im Jahr 1807 bes 
ſcaftigt ſich Goethe eingehend mit dem Nibelungenlied; er lieſt es 
einem Kreis edler Damen aus dem Grundtert improviſierend in 
neuhochdeutſcher Sprache vor !). Seit dieſer Zeit hat ihn das In⸗ 
tereſſe an „unfern herrlichen Nibelungen“ 2) nicht mehr verlaffen, 
wern er auch nachdrücklich vor einer Vergleihung mit der JIlias 
warnt ?). Und noh im hohen Greijenalter (1829) thut er den 
Ausſpruch: „Das Klaſſiſche nenne ih das Gefunde, und das Ro— 
mantiſche das Kranke. Und da find die Nibelungen Hafjiih wie 
der Homer, denn beibe find geſund und tüchtig“ 3). 

Die Niederwerfung Deutſchlands dur die Franzojen gab dem 
Studium unferer alten Sprade und Literatur eine erhöhte Bedeut- 
ung. Dan wendete fih den Zeiten zu, in denen Deutihland groß 
und herrlich gewefen war, um won dort Troft für das Elend der 
Gegenwart und Stärkung für das Ningen nach einer beſſeren Zu⸗ 
hmft zu gewinnen. Dies ift der Geift, von dem wir bie deutſchen 
Patrioten in den Jahren 1806 bis 14 erfüllt fehen. Auch begann 
man ſchon zu ahnen, welhen Schat für die Bildung der deutſchen 


1) Goethe Annalen, 1807, Wfe. 1840, Bb. 27, ©. 249. Bol. eb. 
©. 267, und Briefwechſel zwiſchen Goethe und Kuebel, Thl. I, Leipz. 1851, 
©. 338 fg. — 2) Goeihe, Noten u. ſ. w. zum Weft:öftlichen Divan (1819), 
Be. 1840, 8b. 4, ©. 232. — 3) Edermann, Geſpraeche mit Goethe, (2) 
1,6. 92. Bgl. aud Goethe, über Simrod’s Ueber. bes Nib., in dem 
Wien 1840, Bd. 32, ©. 273 fg. — 4) Vgl. die oben (S. 327) angeführte 
Weuperung U. W. Schlegel’. — Dann F. A. Gotthold (in Küſtrin) in ber 
Rexen berlinifen Monatfepeift, 1809, Jar. ©. 52 fg. — K. Beffeldt, Ober 
lehrer am Gymnaf. zu Tilfit, Bon dem Verhäliniß alıbeutfher Dichtungen 
zur voltsthümlichen Erziehung, Königeberg 1814. — Ueber Evers in Aarau 
dgl. Graͤter's Idunna und Hermode, Unz. 26. Sept. 181%. — Ueber Gotth. 
* Heine. Schubert in Nürnberg ſ. deſſen Selöflbiograpgie II, 1 (1855), S. 326fg. 
— Hier erwähnen wir aud, daß einer ber gründlichſten Kenner des griechi⸗ 
fen und römifgen Altertum, 8. W.Göttling, ſich als ein begeifterter Ber: 
chtet des Nibelungenlieds ausfprad. (Ueber das Geſchichtliche im Nibelun: 
gealiede. Bon K. W. Götting, Rudolſiadt 1814, S. 5 fg. ©. 48 fg.)- 


494 Drittes Bud. Siebentes Kapitel, 


Das warme, aber zum Theil noch dunkle Streben, fih ber 
deutfhen Vergangenheit geijtig zu bemächtigen, entwidelte ſich alls 
mählih immer mehr zu einer echt wiſſenſchaftlichen Erforſchung un 
fereg Altertfums. Aus ber geiftvollen Wiederentdeckung unfrer 
mittelalterlihen Kunft, wie wir fie bei den Häuptern der Roman 
tit finden, bilden fi die Beſtrebungen der Brüder Boifferde 
für Geſchichte der deutſchen Mahleret und ber deutſchen Baufunft 
heraus, und diefe Veftrebungen Haben wieder die bedeutungsvolifte 
Rückwirkung auf die Gründung der neuen deutſchen Kunft durch 
Cornelius. 

Wie die ſeitdem nicht vaftenden und zu immer größerer Voll 
tommenheit fortgefhrittenen Arbeiten auf dem Gebiet der deutjchen 
Kunſtgeſchichte in jener Zeit ihren Urſprung haben, fo wurde in 
den legten Sahren unſerer Periode ein neuer Eifer für die Er 
forſchung unferer politiſchen Geſchichte erwet. Der größte beutfhe 
Staatsmann, der die Grundlagen zum Wiederaufbau Preußens ger 
Tegt Hatte, der Freiherr vom Stein, wurde aud der Neugrünber 
unſerer deutſchen Geſchichtsforſchung, indem er (1816 fg.) mit fer 
ner unerihütterlihen Thatkraft die Sammlung der deutſchen Ge⸗ 
ſchichtsquellen betrieb, die als Monumenta Germanise historica 
unter &. 9. Perg’ einſichtsvoller Leitung das Fundament der 
deutſchen Geſchichtsforſchung geworden find. Gleichzeitig aber nahm 
das Studium des deutjhen Rechts und feiner Geſchichte durch 8. 
3. Eichh orn einen neuen Aufſchwung. 

In diefem Zufammenhang müffen wir die Arbeiten der Bri- 
der Grimm in den Jahren 1806 bis 19 betrachten. Sie nehmen 
eine ber erften Stellen ein in ber Wiedererfennung bes deutſchen 
Alterthums. Noch aber fehlt ihnen der ftreng wiſſenſchaftliche Bo- 
ben. Lachmann, Bopp und Raſt arbeiten, jeder im feiner Weil, 
auf beffen Gewinnung hin. Ihn in feinem ganzen Umfang zu ge 
twinnen und dadurch der germanifhen Philologie für immer ifre 
Stellung im Kreife der Wiſſenſchaften zu fihern, war dem Werte 
beftimmt, zu beffen Schilderung wir num übergehen: Jacoh 
Grimm’s deutſcher Grammatik. 


Biertes Bud. 


Die germanifche Philologie vom Erfheinen von Grimm’s 
Grammatik bis zur Gegenwart. 


1819 bis 1869. 


Erſtes Kapitel. 
Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 


1. £eben der Brüder Grimm 1819 bis 1840. 


Bus Wert, daS die neue Periode begründete, deren Ger 
ſchichte wir in dieſem Buche ſchreiben wollen, war 3. Grimm's 
deutſche Grammatik. Ehe wir aber an die Darftellung dieſes 
epochemachenden Werkes gehen, müſſen wir zuvor das Xeben ber 
beiden Brüder während diefer ihrer fruchtbarſten Periode mit eini- 
gen Worten ſchildern. Wir Haben fie im vorigen Buch verlaffen, 
nachdem Wilhelm Grimm 1814 Secretär an der Bibliothek zu 
Kaſſel, Jacob 1816 zweiter Bibliothefar am derſelben Anftalt ge- 
worden war. So lebten fie eine Reihe von Jahren in fehr be- 
ſcheidenen Verhältniffen ein ftilles, dem Dienft der Wiſſenſchaft ge 
weihtes Leben. Wilhelm gründete (1825) einen ſchönen und be— 
glücten Hausftand durch feine Verheiratfung mit Dorothea Wild, 
der Tochter des Apothekers Rudolf Wild in Kaffel 1). Jacob hatte 





H Herman Grimm, ber geiftreihe Verfaſſer von Michelangelo's Leben, 
iR das Altefte von W. Grimm’s brei Kindern. 


496 Viertes Bud. Erſtes Kapitel. 


600 Thaler Befoldung, Wilhelm 300; die warfen fie zujammen 
und lebten davon '). Seht, wie von Jugend auf, ftanden die beir 
den in „brüderlicher Gütergemeinſchaft; Geld, Bücher und angelegte 
Colfectaneen gehörten ihnen zufammen“ 2). Diefem eingezogenen 
Forſcherleben entfprang 3. Grimm's gewaltigftes Wert. Im J. 1819 
erfien der erfte Band der deutſchen Grammatik, 1822 deſſen 
gänzlich umgearbeitete neue Ausgabe, 1826 der zweite, 1831 der 
dritte, 1837 der vierte Band; dazwiſchen 1828 die deutſchen Rechts⸗ 
alterthümer, 1835 die deutfche Mythologie. Auch Wilhelm's Haupt 
wert: Die deutſche Heldenfage (1829) gehört biefer Periode an. 
Und unter welden äußeren Verhältniffen find dieſe bahubrechenden 
Werke entftanden! Nah dem Tode des Kürfürften Wilhelm I. 
(1821) wurde die Bibliothek unter den Befehl des Oberhofmarſchall- 
amts gejtellt, und diefe Behörde kam auf den Einfall, zum Behuf 
einer nothwendigen Controffe müffe ihr binnen kurzer Zeit eine 
Abſchrift des gefammten Katalogs eingereicht werben. So mußten 
J. und W. Grimm in der Blüthe ihrer wiſſenſchaftlichen Thätig- 
keit anderthalb Jahre lang die edelſten Stunden auf diefe gänzlih 
unnütze Abſchrift verwenden. Denn „Schreiber waren feine da“ 3). 
„Und doc lebe ich getroft umd vergnügt“, ſchreibt J. Grimm in 
jener Zeit ermuthigend an Hoffmann von Fallersleben. „Mein 
Stübchen ift wohl noch enger als Ihres; der Stühle habe ih nur 
drei (zwei überflüffig); ftörender Arbeiten die Laft liegt auf mir.“ 
„Es ſcheint heute”, fo fügt er in einer Nachſchrift bei, „eine milde 
Frühlingsſonne, und Gott ift fo gut; fein Sie auch von biefem 
Frühling am heiter und zufrieden, man fann fi dran gewöhnen, 
und das ift eine der ſchönſten Gewohnheiten" ). Endlich aber 
teieb man die ſchnöde Zurüdjegung diefer unvergleichlichen Männer 
fo weit, daß aud bie ungerftörbarfte Geduld reißen mußte. As 
im J. 1829 der erfte Bibliothekar ftarb, ließ man J. Grimm, der 

1) Jac. Grimm's Brief an Hofjmann von Fallersleben vom 6. Mir 
1826 in Pfeiffer's Germania XI, 500. — 2) I. Grimm, Selbfbiogr., bei 
Juſti ©. 163. — 3) 3. Grimm an Hoffmann a. a. D. 6.49. — 
4) Ebend. S. 500. 


Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 497 


feit 28 Jahren im Dienft war, nicht im deffen Stelle vorrüden, 
ſondern man ſchob einen’ andern ein. In demſelben Jahr noch er⸗ 
hielten die Brüder einen ehrenvollen Ruf nach Göttingen, und fo 
ſchwer ihnen der Abſchied von ihrer Hefitihen Heimath wurde, folg⸗ 
ten fie dem Ruf umd traten Neujahr 1830 ihre Göttinger Stellen 
an, Jacob als orbentlicher Brofeffor und Bibliothekar, Wilhelm 
als Unterbibliothefar 1). 

Das Leben in Göttingen ftellte den Brüdern eine neue Aufe 
gabe. Sie follten als Lehrer ‚auftreten, was fie bis dahin no nie 
gethan Hatten und was fo fpät erft begonnen, felten zu gelingen 
legt. Aber bie umergleihlihe Beherrſchung ihres Stoffs, bie 
ſtrenge Gewiſſenhaftigkeit in der Erfüllung ihres Berufs und bie 
warme Liebe zu ihrer Wiſſenſchaft und zur alademiſchen Jugend 
hieß fie diefe Hindernifje überwinden. Jacob las über deutſche 
Grammatik, über deutſche Rechtsalterthümer, über deutſche Litera- 
turgefhichte, über die Germania des Tacitus, eine Vorlefung, die 
zugleich die Grumdzüge ber deutſchen Medtsaltertfümer und ber 
deutfhen Mythologie umfaßte. Es war ein überwältigendes Ge 
fuhl, Hier den Meifter des Fachs feine großen Entdedungen in an⸗ 
ſpruchloſeſter Form, aber mit der Unmittelbarkeit des Selbſtdurch⸗ 
lebten vortragen zu hören. Wilhelm las über mittelhochdeutſche 
Dichtungen. Leider war er durch zunehmende Kränklichkeit, die ſich 
einigemal bis zu ſchwerer Gefahr ſteigerte, öfters verhindert, die 
angefündigten Vorleſungen zu halten. Obwohl durch das doppelte 
Amt, an der Bibliothel und auf dem Katheder, ſehr in Anſpruch 
genommen, behielten die Brüder doch Zeit genug übrig, um an 
ihren wiſſenſchaftlichen Unternehmungen fortzuarbeiten. Mehrere 
ihrer hauptſächlichſten Werte kamen in Göttingen zu Stande: Von 
J Grimm der dritte und vierte Band der Grammatik, die deutſche 
Mythologie (1835) und der Reinhart Fuchs (1834), von Wilhelm 
die Ausgabe des Freidank (1834). So lebten die Brüder in der 
Fülle der ausgiebigften Arbeit und im angenehmften und gewinn⸗ 
teihften Verlehr mit Collegen wie Benede, Dahlmann, Otfrid 


1) 3. Grimm’s Selbſtbiogr., bei Jufti ©. 161. 
Raumer, Geä. der germ. Philologie. +32 


ws Vieties Wh. (rien Bapitzl. 


Müler, Gerotnws, ala plöglich ein Gveiguiß ciutrat. has dieſen 
ganzen fihänen Dofein ud zugleich der Wläthe bes Univecität 
Göttingen ein Cude machte. Als König Exrnft Auguß ben hanaz 
verichen Thron beitteg, exflärte er durch Patent vous 1. Rev. 1887 
dad Gtaotögrumdgefeh des Ganden für aufgehoben. Dichem Nechts⸗ 
beuch gegenũher fühlten hie Brüder Grimm ſich dunch ihr Gewiſſen 
gedrungen, im Verein mit ihren Collegen Dahlmmm, eruins, 
Ewald, W. Weber und Albreqht eine ernfte, aber ehrerbietige Ein- 
gabe am das Caratoxium ber Univerſität zu richten, worin fie er 
Härten, daß fie ſich buxch ihren auf das Stantögeunbgefei geleifie 
ten Eid fortwährend nerpffichtet Halten müßten 1). Die folge mer, 
daß jene fieben ausgegeichneden Gelehrten ſofort ohne Urtheil anh Bet 
ihrer Stellen entjegt und drei vom ihnen: Dahlmann, J Grimm 
und Germinus, weil fie ihre Erklärung aud Anderen nügeifeilt 
hatter, gebaten wurde, binnen drei Tagen bie Uninerfttät und bes 
Konigreich zu verlaffen 9. J. Grimm hat ums non feiner Abſet⸗ 
ung und Berbannmug eine ewgreifenbe Schilberumg. gegeben 2, Sie 
ASt una einen tiefen Blid thun in das herrliche Gemüth mad ben 
nannhaften Ehexadter des großen Gelehrten. Grimm war lein 
Bolitider, aber ein beusfer Man im vollen ſchönſten Siam des 
Worte „Mein Leben, jagt er, infomeit feine Schidjale von 
meiner Gemütksort uud Gefinmung abhängen, usixhe ſull eb su 
gefaͤhedet in umabläffigem Dieufte ber Wifſenſchaft verfloffen fen“ 
„Was ift es denn für ein Ereiguiß, das an bie abgelegene Aumuner 
meiuer einförmigen und harmloſen Beihftigungen ſchlagt, einbringt 
und mid, herauswirft? Wer, nor einem Jahre noch, hätte mir 
die Möglichkeit eingeredet, daß eine zurückgezogene, unbeleidigende 
Eriſtenz beeinträätigt, geleidigt wab verlegt werben könnte? Der 
Grund iſt, weil ich eine wom Band, in das ich aufgenonunen wor⸗ 
den war, ohno alles mein Zuthun, wir auferlegt Pflicht wiht 
brechen wollte, und als bie drohende Auforderung as wich trat, 


1) Zur Berfiimbigung von Dahlmam, Bafel 1838, &.35. — 9) Gbent. 
©. 71. — 3) Jacob Grimm über feine Entfaffung, Bafel 1898, Wieber 
abgebrudt in: Kleinere Sehriften.von 3. Grimm, Ba. I, (1884), 8. 25-52. 


Die Brüber Orunm 1819 Die 1840. 41% 


das zu chun, was ich ohne Meineld nicht them kounte, niche zus 
derte, der Stimme meines Gewiſſens zu folgen.“ „Die Welt iſt 
voll von Männern, bie das Rechte denken und lehren, ſobald fie 
über handeln ſollen, von Zweifel und Kleinmuth angefochten wer⸗ 
den und zurũckweichen.“ „ch ſehe das Takte Lächeln derer, die fich 
bie Klugen nennen“; — „habe ich doch ſelbſt ſagen hören, ein Eid 
ix politiſchen Dingen bedeute nicht viel, oder auch, der aufgelegte 
& binde eben nicht, man erfülle ihn fo weit man Luft Habe. 
ns, denkt der Eine, daß ſich Veranlafjung findet, eine liberale 
Berfaffung mangunverfen, wer es gelingt, ſo Heilige bes Zweck bie 
Mittel; wir Haben ein höheres Hecht, das bie diechte dad Mad 
werts wicht zu achten braucht. Was Himmert mich die Politat, 
weint bes Andere, wenn fis mic in meiner Behaglichkeit ober in 
weinen gelehrten Arbeiten ſtört. Aber fo ſehr ift bie Meligiofität 
nicht verfätounden, daß nicht Viele, bie eiwas Höheres als weltliche 
Angkeit. leunen, bie volle Schwere des Grumdes mit mir im tiefe 
fen Herzen empfinben. &s sit wu innm, de anf de Ge 
walt gegenüber ein Gewiſſen haben.“ 

So lehrte Jacob Grimm im December 1837, ohne Ricter- 
ſpruch aus dem Lande verbannt, bem ev wit volles Hingabe gedient 
hatte, in die alte heſſiſche Heimath nad Kaſſel zurüd. Wilhelm 
folgte einige Zeit fpäter mit feines Familie nach; und fo lebten 
mn die Brüder, wenn auch umter ganz amberen Verhältniſſen, 
wieder mehrere Jahre in der Hauptfiabt ihres engeren Baterlandes. 


2. Zacob Grimm’s Arbeiten von 1819 bis 1840. 
1. Die deutſche Srammatik. 


Als Jacob Grimm fein dreifigftes Lebensjahr überſchritt, 
lonnte er bereits auf eine Reihe bedeutender, ja zum ‘Theil epoche⸗ 
machenber Leiftungen zuwüdhliden. Er zählte unter die anerlannteften 
Dieifter der dentſchen Sprach· und Alterthuntsforſchung. Aber während 
im gewöhnlichen Berlanf der Menſch nad Erreichung diefes Zieles 
anf dem Wege zu verharren pflegt, den er bis dahin mit Glüd 
und Beifall eingehalten hat, fehen wir in Jacob Grimm eine der 
32* 


500 Viertes Bud. Exfes Kapitel. 


feltenen und großartigen Erſcheinungen, daß ein ſchon berüßimter 
Schriftſteller die Mängel feines ganzen bisherigen Treibens durch⸗ 
{haut und, wie von vorne anfangend, fid eine neue Bahn brit. 
Schon während der früheren Periode hatte Grimm fid eifrig auf 
mit Sprachſtudien beſchäftigt, ja er hatte fon fo manche ſchöne 
Beobachtung auf diefem Gebiete gemacht. Aber dies alles blieb 
vereinzelt und ohne Zuſammenhang und Tonnte deshalb keinen feften 
Halt bieten gegen die willfürliche Behandlung des Uebrigen !). Da 
erkannte Grimm, baß bier der Punkt fei, von bem aus ber ganzen 
germanifen Alierthumsforſchung eine feſte wiffenfcaftlige Grunb- 
Tage geihaffen werben müſſe. Der Gedanke, daß Hier von Seite 
ber deutſchen Gelehrten etwas nachzuholen fei, ftand zwar niht 
vereinzelt. Während nad; anderen Seiten bin, für Herausgabe 
altdeutſcher Quellen und die lerxikaliſche Bearbeitung älterer germa- 
niſcher Sprachen, die Deutſchen fih neben die übrigen Völker ftellen 
durften, Hatten fie die grammatiſche Erforſchung ber älteren germa- 
niſchen Sprachen faft ganz verabfäumt. Sie hatten nichts aufzu⸗ 
weifen, was fi aud nur entfernt mit ben Leiftungen von Hide, 
Ten Kate oder Raſt Hätte vergleichen laſſen. Es mar deshalb 
natürlich, daß in den Männern, die fi mit neuer Liebe der alt- 
deutſchen Literatur zumandten, das Verlangen nad) einer gramma ⸗ 
tiſchen Bearbeitung ber älteren germanifhen Sprachen ſich regte. 
Aber was auf biefem Gebiet vor Grimm in Deutſchland wirllich 
geleiftet wurde, war, abgefehen von manchen nur beiläufig gemachten 
guten Beobachtungen ?), völlig unbedeutend. So im achtzehnten Jahr ⸗ 
hundert Zulda’sund Michaeler's, im neunzehnten Steinheil’s (1812) 9), 
Mone's (1816) 4) und J. W. Pfaff's (1817) 9) Anläufe. Aber 


1) ©. oben ben Rüdblid auf Grimm’s erfle Periode S. 446 fg. — 
2) gl. das oben ©. 461 über Lachmann Geſagte. — 3) Lehrgebiude 
ber deutſchen Sprache, mit einer Geſchichte biefer Sprade überhaupt, und 
jedes Rebetheiles insbefondere, von F. €. P. von Steinheil, Prof. am fgL 
Gymnaſium zu Stuttg. Stutig. 1812. — 4) Franc. Jos. Mone, De 
emendanda ratione grammaticae Germanicae libellus. Heidelbergse 
1816. — 6) Algemeine Umriſſe ber germanifhen Sprachen. Bon J. ®- 
Pfaff, Prof. in Nürnberg, Nürnb. 1817. 


Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 501 


nachdem die Deutfchen fo Yange zurücgeblieben, traten fie num 
plöglih an die Spige der Forſchung, als im Jahr 1819 zu Göt- 
fingen erſchien: Deutſche Grammatik. Bon Jacob Grimm. 
Erſter Theil. 

J. Grimm erfaßte ſeinen Gegenſtand mit einem Ernſt und 
einer Gründlichkeit, wie er bis dahin noch nie behandelt worden 
war. In Savigny's „Lehre, fagt er in der köſtlichen Bueignung 
am biefen feinen großen Meifter, lernte ich ahnen und begreifen, 
was es heiße, etwas ftubieren zu wollen, fei e8 die Rechtswiſſen⸗ 
ſchaft ober eine andere” 1). So fern die Stoffe der beiden großen 
Gelehrten: römiſches Necht und deutſche Grammatik, ſich zu ftehen 
fdeinen, und fo grundverſchieden ihre Naturen waren, fo nahe be 
rühren fie fi in ber Art, wie fie ihren Gegenftand auffafjen. 
„Meine bisherigen Arbeiten, fagt Grimm in der angeführten Wid⸗ 
mung an Savigny, von benen Sie ftets unterrichtet geweſen find 
und an welden Ste immer Antheil genommen haben, ſchienen mir 
doch zu gering ausgefallen, ober bloße Sammlung voher Stoffe, 
deren Wichtigfeit künftig einmal gezeigt werben Tarın, zu wenig 
mein eigen, als daß id} fie zu einem Maßſtab meiner Dankbarkeit 
und Anhänglickeit hätte brauchen dürfen. Ich ſchlage auch gegen- 
wärtige® Buch, deſſen Mängel nicht verborgen bleiben werben, 
nur etwas höher an, weil es mich größeren Fleiß gefoftet hat, und 
weil ihm ein gewiſſes Verbienft nit entgehn Tann, infofern in 
einem ungebauten Feld es zugleich leichter und ſchwerer ift, Ente 
dedungen zu machen. Man nimmt mit ber erften, halbwilden 
Frucht vorlieb, da fie an der Stätte, woher fie kommt, nicht er- 
wartet wurde, aber ihr wohl bie Mühjfeligfeit des unbefahrenen 
Weges anzufehen ift, auf bem ich fie einbringe. Sollte e8 hiermit 
auch anders ftehen, fo verjehe ich mich doch zum voraus, daß Sie 
meinem Verſuch, von diefer Seite Her in umfer deutſches Alter- 
tum Bahn zu brechen, fein Recht geſchehen Yaffen, und den Ger 


1) An — Savigny 6. III der erfien Ausgabe des erſten Bandes von 
Grimm's Gramm. In der zweiten Ausg. fehlt dieſe Witmung, in bie britte 
if fie wieder aufgenommen. 


5OR Biertes Buch. Erſtes Repitel. 


danlen billigen werben, einmal aufzuſtellen, wie auch in ber Grem⸗ 
mat! die Unverletlichteit und Nothwendigteit der Geſchichte 
anerfannt werden müfe* 1). Nicht die Sprache zu meiflern, 
fondern durch gewifjenhaftes Studium und liebevolle Hingabe ihrem 
geheimnißvollen geſchichtlichen Gang auf die Spur zu fommen, ift 
die Aufgabe, die Grimm ſich ftellt. „Seit man die dentſche Sprache 
geammatif zu behandeln angefangen hat, beginnt er bie Vorrede 
feines Wertes, find zwar ſchon bis auf Adelung eine gute Zahl 
Bücher und von Adelung an bis auf heute eine noch faft größere 
darüber erſchienen. Da ich nicht in diefe Reihe, fondern ganz aus 
ihr heraustreten will, fo muß ich gleich vorweg erflären, warm 
ich die Art und den Begriff deutſcher Sprachlehren, zumml der in 
dem letzten halben Jahrhundert belannt gemachten und gutgeheiker 
nen für verwerflih, ja für thöricht Halte. Man pflegt 'allmählich 
in allen Schulen aus dieſen Werken Unterricht zu erthellen und fie 
feloft Erwachſenen zur Bilbung und Entwicklung ihrer Sprachfer ⸗ 
tigleit anzurathen. Eine unfäglie Pedanterei, bie es Mühe koſen 
würde, einem wleder auferftandenen Griechen ober Römer nur ber 
greiflich zu machen“ 2). „Den geheimen Schaden, den biefer Un 
terricht, wie alles Ueberflüffige, nach ſich zieht, wird eine genanere 
Prüfung bald gewahr. Ich behaupte nichts anders, als daß da 
durch gerade die freie: Entfaltung des Gpraßbermögens in ben 
Kindern geftört und eine herrliche Anftalt der Natur, melde uns 
die Rede mit der Muttermild eingibt und fie in dem Befang des 
elterlichen Haufea zu Macht kommen Iaffen will, verkannt werbe 
Die Sprache gleich allem Natürlichen und Sittlichen iſt ein unver 
merktes, unbewußtes Geheimniß, welches fi in ber Jugend ein 
pflanzt und unfere Sprachwerlzeuge für die eigenthükichen vater ⸗ 
ländifgen Töne, Biegungen, Wendungen, Härten oder Weichen 
beftimmt; auf biefem Eindrud beruht jenes unvertifgliche, fehnfärh 
tige Gefühl, das jeben Menſchen befüllt, dem in der Frewide feine 
Sprache und Mundart zu Ohren fallt.” „Sind aber dieſe 
Sproglehren ſelbſt Täufhung und Irrthum, fo ift der Beweis 


1) Ebend. ©. III fg. — 2) Grimm, Gramm. I di), Bor. & IL 


Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 308 


ſchon geführt, weiche Frucht fie in uuſeren Schulen bringen und 
wie fie die von ſelbſt treibenden Kmofpen abſtoßen ftatt zu et» 
fliegen. Wichtig und unbeſtreitbar ift hier auch bie von Vielen 
gemachte Beobachtung, daß Mädchen und Frauen, die in der Schule 
weniger geplagt werben, ihre Worte reinlicher zu reden, zierlicher 
zu fegen und naturlicher gu wählen verſtehen, weil fie fih mehr 
nad) dem Tontuenden inneren Bebürfniß bilden, die Bilbfamdeit und 
Verfeinerung ber Sprache aber wit bem Geiftesfortſchritt über 
haupt ſich von ſelbſt einfindet und gewiß nicht ausbleibt. Jeder 
Deuiſche. der fein Deutſch ſchlecht und vecht weiß, d. 5. ungelehrt, 
darf fich, nach dem treffenden Ausdrus eines Franzofen, eine ſelbſt⸗ 
gene, lebendige Grammatik nennen und kuhnlich alle Sprach ⸗ 
weiſterregeln fahren laſſen“ ). „Vor ſechshundert Jahren Hat 
jeder gemeine Bauer Volllommenheiten und Feinheiten ber deutſchen 
Sprache gewußt, d. 5. täglich ausgeibt, von denen ſich bie beiten 
heutigen Sprachlehrer nichts mehr trüumen Laffen; in ben Dich ⸗ 
ungen eines Wolfram's von Eſchenbach, eines Hartmann's von 
Aue, die weder von Declination, noch von Conjugation je gehört 
haben, vielleicht wicht einmal leſen und ſchreiben konnten, find noch 
Unterſchiede beim Subſtautivum und Verbum mit folder Meinlic- 
teit und Sicherheit in des Biegung und Setzung befolgt, die wir 
erft wach und nach auf gelehrtem Wege wieder emtdeden wmüfjen, 
aber nimmer zurädführen bürfen, denn die Sprache geht ihren 
naahinberlichen Gang“ 2). Wir können aber dieſen Gang nir⸗ 
gends In foldem Umfang beobachten wie am Deutſchen. Denn 
„fein Bolt auf Erden hat eine ſolche Geſchichte für feine Sprade, 
wie das beutie. Zweitauſend Jahre veichen vie Quellen gurüd 
in ſeine Vergangenheit, in dieſen zweitauſenden iſt lein Jahrhun⸗ 
dert ohne Zeugniß und Dentmal* 3). „Das grammatiſche Stu⸗ 
dium kann kein anderes, als ein ftreng wiſſenſchaftliches, und zwar 
der verſchiedenen Richtung nach entweder ein philoſophiſches, kriti⸗ 
ſches oder hiſtorijches fein“ *). „Von dem Gedanken, eine hiſtoriſche 





1) Chen. S. X fg. — 2) Ebene S. X. — 8) Ebend. S. XVII. - 
4) Cem. ©. ZI. 


504 Viertes Bud. Erftes Kapitel, 


Grammatik der deutſchen Sprache zu unternehmen, ſollte fie auch 
als erfter Verſuch von zufünftigen Schriften bald übertroffen wer- 
den, bin ich lebhaft ergriffen worben. Bei ſorgſamem Lefen alt- 
deutſcher Duellen entdedte ih täglich Formen und Vollkommen⸗ 
heiten, um bie wir Griechen und Mömer zu neiden pflegen, wenn 
wir bie Beſchaffenheit unferer jegigen Sprache erwägen; Spuren, 
die noch in dieſer trümmerhaft und gleichſam verfteint ftehen ge 
blieben, wurden mir allmählich deutlich umd die Uebergänge geläft, 
wenn das Neue fih zu dem Mitteln reihen konnte und das Mittele 
dem Alten die Hand bot. Zugleich aber zeigten fi bie über 
raſchendſten Aehnlichleiten zwiſchen allen verſchwiſterten Mundarten 
und noch ganz überſehene Verhältniſſe ihrer Abweichungen. Dieſe 
fortſchreitende, unaufhörliche Verbindung bis in das Einzelnſte zu 
ergründen und darzuſtellen, ſchien von großer Wichtigkeit; die Aus- 
führung des Plans habe ih mir fo vollftändig gedacht, daß mas 
ich gegenmwärtig zu leiften vermag, weit dahinten bleibt“ 1). Die 
bisherigen Etymologen haben zu ſchnell gebaut. „Wird man fpar- 
famer und fefter die Verhältniffe der einzelnen Sprachen ergründen 
und ftufenweife zu allgemeineven Bergleijungen fortſchreiten, fo it 
zu erwarten, daß bei der großen Menge unfern Forſchungen offener 
Materialien einmal Entdeckungen zu Stande gebracht werben fön- 
nen, neben denen an Sicherheit, Neuheit und Meiz etwa nur bie 
der vergleihenden Anatomie in der Naturgefdichte ftehen“ 2). Iſt 
erft einmal die Geſchichte unferer Sprache und Poefie fruchtbarer 
entiidelt, fo wird fie jelöft auf die griechiſche und Iateinifhe Ge⸗ 
lehrſamleit wohlthätigen Einfluß äußern 9). Aber auch abgefehen 
davon, und ohne „der ungeläugneten Trefflichkeit griechiſcher und 
fonft für Maffiich gehaltener Muſter“ 9) Abbruch thun zu wollen, 
müffen wir in unferer eigenen Vorzeit den uns am nächften liegen- 
den Gegenftand erfennen. „Ich bin des feiten Glaubens, jagt 
Grimm, felöft wenn der Werth umferer vaterländifchen Güter, 
Denkmäler und Sitten weit geringer angenommen werben müßte, 


1) Ebend. ©. XVIL — 2) Ebend. 6. XII. — 3) BWibmung an 
Saviguy S. IV fg. — 4) Ebend. ©, IV. 





Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 505 


als wir ihn gerecht und beſcheiden vorausſetzen bürfen, daß dennoch 
die Erlenntniß des Einheimiſchen umfer die würbigfte, die Heilfamfte 
und aller ausländiſchen Wiſſenſchaft vorzuziehen wäre Auf das 
Baterland find wir von Natur gewieſen und nichts anderes vermögen 
wir mit unſern angeborenen Gaben in folder Maße und fo fiher 
begreifen zu lernen“ 1). „Die vechte Poeſie gleicht einem Men- 
ſchen, der fi tauſendfältig freuen kann, wo er Laub und Gras 
wachſen, die Sonne auf» und niebergehen fieht; die falſche einem, 
der in fremde Länder fährt umd fi) an ben Bergen ber Schweiz, 
dem Himmel und Meer Italiens zu erheben wähnt; fteht er nun 
mitten darin, fo wird fein Vergnügen vielleicht lange nicht reichen 
an das Maß des Daheimgebliebenen, dem fein Apfeldaum im 
Hausgarten jährlich blüht und die Finken darauf ſchlagen“ 2). 

Daß Grimm den volfftändigften Gegenfag gegen Adelung und 
deſſen Genoſſen bildet, brauchen wir nad) den angeführten Stelien 
nicht weiter zu erörtern. ber wir fehen aus ihnen auch, worin 
ber wefentliche, alles Einzelne überragende Unterſchied zwiſchen 
Grimm und den großen Sprachforſchern befteht, die wir in früheren 
Abſchnitten gefchildert Haben. Auch Raſt und Ten Kate find zwar 
nit ohne Sinn für Poeſie. Aber die Poefie tritt bei ihnen weit 
urüd Hinter den Scharffinn des Philologen. Grimm aber ift 
bei allem Scharffinn eine durch und durch poetifche Natur. Die 
Boefie ift es, was ihn zuerft und vor allem anzog. Bon ihr aus 
tommt er zur Sprachforſchung. Was ihn in der erften Periode 
feiner Thätigfeit ganz erfüllt Hatte, das gibt er in ber zweiten nicht 
auf, fondern er nimmt es geläutert und vertieft in den ftrengen 
Ernft feiner Forſchung mit hinüber. Nur dann verftehen wir 
Grimm und den großartigen Zujammenhang, der alle feine Leiſt⸗ 
ungen umfhließt, wenn wir ung erinnern, baß er das Wahre 
mb Bleibende in den Beſtrebungen der Romantiter mit der Schärfe 
der wiſſenſchaftlichen Forſchung vereinigt hat. 

Treten wir nun dem Inhalt bes bahnbrechenden Werkes näher. 
Auf die Widmung an Savigny und die inhaltveiche Vorrede folgten 


1) @bend. — Cbend. 6, VII. 


506 Vieries Buch. Erſtes Rapitel. 


im der erften Ausgabe (1819) „Einige Hauptfäge, bie id) ans der 
Geſchichte der deutſchen Sprache gelernt Habe“ 1); darauf eine 
„Einleitung in die gebrauchten Quellen und Hülfamittel“ 2). Nach- 
dem dann noch bie für die Anführung der weſentlichſten Quellen 
gebrauchten Abkurzungen verzeichnet find, gebt ber Verfafler ſofort 
zur Darftellung der Declinationen über. Er behandelt aber unter 
dem gemeinfamen Ramen „Dentich 3) folgende Sprachen: Gothiſch 
Alte Hochdeutſch, Alt - Niederdeutſch, [nnd zwar A.) Alt-Säaͤchſich 
B.) Angelſachfiſchl; Alt⸗ Frieſtich; Alt ⸗Nordiſch; Mittel · Hofe 
deutſch; Mittel ⸗ Niederdeutſch, lund zwar A.) Miittel-Sachſich 
B.) Mittel-Englifch, C.) Mittel⸗Niederländiſch] ; Neu-⸗Nordiſch, ſnam⸗ 
lich A.) Schwediſch, B.) Dänifh]; Nen ⸗ Hochdeutjch; Ne-Rieder 
landiſch; Neu-Engliſch. Der Aufſtellung der Parabignten, zum 
Zeil mit reichlichen Quellenbelegen, folgt dann eine ausfuhrliche 
„Grläuterung der deutſchen Declination des Subftantins“ 4). a 
berfelben Art wird hierauf bie Declination des Adjectivums, ber 
Bahlwörter, ber Eigennamen, bes Pronomens durchgegangen d). 
Deu zweiten Haupttheil bildet die Flexion des Verbums, bie in 
derſelben Weiſe durch bie verfgiebenen Sprachen mit Ginzwgefügten 
Erläuterungen durchgeführt wird, wie die Deelination, mr baf 
Bier noch zwei beſondere Abſchnitte Hinzugefügt werben, nämlich 
erſtens „Bergleiungen aus fremden Sprachen“ %), und zweitens 
„Vergleihung der Eonjugation und Declination“ 7). 

In wenigen Jahren war das Werk vergriffen, und ſchon 1822 
erihien eine zweite Ausgabe In welchem Maß dieſe „zweite 
Ausgabe” umgeſtaltet war, ſpricht Grimm glei im Beginn ber 
Borrede aus. „Es hat fein langes Vefinnen geloftet, jagt et, den 
erften Aufſchuß meiner Grammatil mit Stumpf und Stiel, wie 
man jagt, niebergumähen; ein zweites Kraut, dichter und feiner, 
it ſchnell nachgewachſen. Ylüten und veifende Früchte Läpt es viel 


H end. 6. XVI-xXXVn. — 2) 6. AKKVII-LXRIX — 
3) Byl. I. Orimm's Wertäeibigung dieſes Sprachgeteauche in feinen Buhl: 
altertgümern Vorr. S. VII fg. — 4) 6. 181--187. — 5) & 18. 
— 6) &. 604-616. 644650. — 7} & 617-692, 


Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 507 


lit Hoffen.“ In ber That Haben wir in biefer „zweiten Aus⸗ 
gabe“ großemtheils eim ganz neues Wert nor uns. Ich übergehe 
hier alle übrigen Wenberungen und bemerle nur das Eine, daß 
dieſe zweite Ausgabe ein umfangreihes „Erites Buch. Bon ben 
Vuchſtaben· (&. 1 595) bem „Zweiten Bud. Bon den Wort 
Biegungen“ vorausſchidt, umb gevabe biefes erfte Buch, von dem in 
ber früheren Ausgabe noch Feine Spur vorhanden war, enthält zum 
Zeil die berfignteften Gntbedungen Jacob Grimme. 

Bei der Ausarbeitung feiner deutſchen Grammatik kannte und 
benutte Grimm faft alles irgend Brauchbare, was bis dahin auf 
dem Gebiet der germaniſchen Sprachforſchung erſchienen war ſowohl 
in Bezug auf die Herausgabe ber alten Sprachquellen, ala auf die 
grammatifche und Ierifalifhe Behandlung der germaniſchen Spra- 
den‘). Wenn es num auch zu’ den Eigenthümlichleiten Grimm's 
gehörte, überalt unmittelbar ans den Quellen zu arbeiten, fo ver⸗ 
fußt fich doch ambererfeits von ſelbſt, baf er einen bebeutenben 
Einfluß von Seiten feiner Vorgänger erfuhr; und bie Geſchichte 
der Wiſſenſchaft Hat nachzuweiſen, in melden Verhältniß bas Neue, 
das er brachte, zu dem ftand, was ſchon vor ihm vorhanden ger 
weien wor. Ein Mann, wie Grimm, erfährt natürlich Einflüſſe 
von den verfdiebenften Seiten, und wir müßten anf bie ganze 
Bisher entwickelte Gefdjichte unferer Wiſſenſchaft verweifen, wenn 
wir fagen follten, was alles mittelbar ober unmittelbar auf Grimm 
eingewirkt hat: Wber dennoch laſſen fi wohl die Vorgänger ber 
ihnen, die auf Grimm's grammatiſche Forſchungen einen beſon⸗ 
ders tief greifenben Einfluß geübt Haben. &s finb, abgeſehen 
von Bopp's und Lachmann's bis zum Jahr 1818 erſchienenen 
Atbeilen, vorzüglich) Ten Kate umd Nofl. Was Raſt beieifft, 
fo Gaben wir berelts früher die Darſtellung feiner Reiftungen fo 
eingerichtet, daß wir bie Schriften, Die vor 1828 erſchienen find, 
von denen getrennt hielten, bie einer fpäteren Zeit angehören 2). 
Var Auſchluß daran werben wir nun näher zu exürtern haben, 





1) Bsl. die Finleitung in hie gebrauchten Quellen und Hälismitieh” 
in Grimm's Gramm. I (1) S. XXXVII—LXXIZ. — 2) ©. o. 6.4768 
‘ 


508 Viertes Bud. Erſtes Kapitel. 


welche Schriften Raſt's Grimm ſchon bei der erften Ausgabe feiner 
Grammatik (1818 — 19), melde erſt bei ber zweiten zugänglid 
waren, und welden Einfluß fie auf jede der beiden Bearbeitungen 
geübt haben. Die Unterſuchung diefer Fragen Hat fi aber nicht 
lediglich an bie Jahrzahlen zu halten, in denen bie betreffenden 
Schriften erſchienen find. Denn bei der Langfamleit bes bamaligen 
Verlehrs und ber verhältnigmäßigen Wögelegenheit von Grimm's 
Aufenthaltsort dauerte e8 ſehr lange, bis ein in Dänemark oder 
gar in Schweden erfchienenes Buch dem deutſchen Gelehrten zu 
Geſicht kam. Theils ans beftimmten Angaben, theils aus ber Ber 
ſchaffenheit von Grimm’s Wert ſelbſt erfennen wir, daß Raſrs 
Schriften zu den beiden Ausgaben von Grimm's Grammatit in 
folgendem Verhältniß ftehen: 

Bon den größeren Werken Raff’s kannte Grimm, als er die 
erfte Ausgabe des erften Theils feiner deutſchen Grammatik ſchrieb 
nur die 1811 erſchienene Vejledning til bet Islandſte eller gamle 
Nordiſte Sprog '). Er rühmt fie in der Vorrede (S. LXXVI). 
Die Undersögelse om det gamle Nordiske eller Islandske 
Sprogs Oprindelse ?), obſchon fie bereits 1818 erſchienen ift, hatte 
Grimm bei Ausarbeitung der erften Ausgabe noch nit. Er erhielt 
fie erft gegen dg8 Ende feiner Arbeit und erfannte fofort ihre 
große Bedeutung. „Unterdeffen, jagt er in der Vorrede 9), bat 
Raſk's treffliche, mir erft beinahe nad) der Beendigung dieſes Buchs 
zugekommene Preisſchrift weitreichende Aufſchlüſſe über bie vielfeitige 
Berührung der beutjhen mit ben lettiihen, ſlaviſchen, griechiſchen 
und lateiniſchen Sprachen geliefert; beſonders anziehend ift die Ver 
"mittlung beutjher und flavifher Formen in dem lettiſchen und 
lithauiſchen Stamm aufgehellt und für die frühere Geſchichte, mo 
Gothen mit andern im Dunkel liegenden Völkern jene Gegenden 
bewohnten, von größter Bedeutung. Derſelbe Gelehrte bereift 
gegenwärtig einen Theil des ruſſiſchen Aſiens und wird ums eine 
Ausbeute wichtiger Entdeckungen über die Sprachen ber bort woh⸗ 

1) Anleitung zur isfänbifgen ober alten nordiſchen Sprache. — 


2) „Unterfuung über den Urfprung ber alten nordiſchen ober ielandiſchen 
Spaß” — 8) 6. XVII. 





Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 509 


nenden Völlerſchaften und ihr Verhältniß zu dem ſlaviſchen und 
deutihen Stamm zurückbringen; frühere Neifende Haben bloß nad 
Burzeln ſammeln können, wer des innern Baues der Sprachen 
tundig ift, vermag ungleich fiherer und fruchtbarer zu Werke zu 
gehn. Inſoweit ih mit Najt’s Anfihten von ber Beſchaffenheit 
der alten deutſchen Sprachen übereingetroffen war, mußte mir 
daraus bie erfreulichſte Beftätigung der Nichtigkeit meiner Unter 
juchungen hervorgehen; hiſtoriſche Stubien führen nothwendig zu 
ahnlichen Reſultaten, wie unabhängig von einander fie auch ange⸗ 
ftelft gewefen fein mögen. Ueber das Verhältnß der europäiichen 
Sprachen unter einander bin ich durch die raſtiſche Schrift beträcht⸗ 
lich gefördert worden; da mein Buch mehr die durchgeführte Auf- 
ftelung des Einzelnen bezwedte, wird Hoffentlich auch Raſk mande 
willtommene Ergänzung und Betätigung, zumal was die ihm 
größtentheils unbekannt gebliebene alt» und mittelhochdeutſche 
Mundart angeht, daraus ſchöpfen.“ Bezeugt uns die ſchöne und 
unbefangene Art, wie Grimm bier Raſt jeine Anerkennung zu 
Theil werden läßt, einerjeits, daß wir Uebereinftimmungen zwiſchen 
der erften Ausgabe von Grimm's Grammatik und Raſt's Under- 
sögelse nicht von einer Benutzung ber Raſtiſchen Schrift durch 
Grimm ableiten dürfen, fo weiſt fie uns andrerſeits darauf hin, 
wie bedeutend. biefe Schrift für die Weiterentwidlung von Grimm's 
Anfihten wurde, und biefer Einfluß der Raſtiſchen Schrift tritt 
uns dann beutli. in ber zweiten Ausgabe ber Grimm'ſchen Gram⸗ 
matif entgegen. — Noch zwei andere größere Werke Raſt's tragen 
eine Jahrzahl auf dem Titel, die älter ift als die erfte Ausgabe 
von Grimm's Grammatik, nämlih die angeljähfiihe Sprachlehre, 
die 1817, und die zweite, umgearbeitete Anmeifung zur isländiſchen 
Sprache, die 1818 erſchienen ift. Beide find in Stodholm heraus- 
gelommen, und ſchon daraus erflärt ſich Hinreichend, daß fie Grimm 
bei Ausarbeitung der erften Ausgabe no nicht zugänglich waren. 
Von Raſt's angelſächſiſcher Sprachlehre bemerkt dies Grimm aus⸗ 
drücllich. „Eine gewiß Alles, was in England feloft dafür ge- 
ſchehen ift, Hinter ſich laffende angeljähiiihe Grammatik, fagt er, 
hat Raſt kürzlich, in däniſcher Sprade zu Stodholm druden laſſen; 


10 Viertes Bud. Erſtes Kapitel. 


zu meisumm Seibwefen Babe ich mir bis jetzo Tin Gremplar eines 
Hülfsweittels verſchaffen können, defien ih fo benöthigt geweien 
wäre" 2). Daß bie in ſchwediſcher Sprache geſchriebene zweite 
Bearbeitung ber Anweiſung zum Jslandiſchen Grimm bei ber erjien 
Ausgabe noch wicht gu Gebote fianb, erſehen wir daraus, deß 
Grinm bie 1811 erſchienene Bellebuing anführt, ohne ber 1818 
bexansgegebenen Umarbeitung wit einem Wort Erwähnung zu 
ihun 2) Aber beide Bücher finb dann auf die zweite Ausgabe von 
Grimm's Grammatik ‚nicht ohne Einfluß geblieben. 

Ans biefer Grörterntig ergibt fih, daß unter Naft's Schriften 
amt die Anleitung zum Yaländifchen (1811) Einfluß auf die erſte 
Ausgabe von Grinum's Graumatil gehabt haben kann. Dieier 
Eiaſluß befhrämft fi ſo ziemlich auf das Altaordiſche, für welches 
Grimm Raſk's Leitungen auch ansdrüdlich vühmend hervorhebt ) 
Die wehentlichſte Cinwirkung Raſts dagegen zeigt ſich erſt in 
Grinuns zweiter Ausgabe (1822). Einen verhältnißmäßig water: 
geordneten Umſtand wollen wir mus beiläufig berühren. Wie 
Maffs Beileiming (1811), jo iſt auch die erfie Ausgabe von 
Grimm's Grammatik mit |. g. deutſchen Buchſtaben gedrudt. In 
der zweiten (ſchwediſchen) Bearbeitung (1818), fo wie im der 
Oaniich geſchriebenen) angeljächfihen Sprachlehre (1817), exlärt 
fig Haft im ber emtichiebewften Weife gegen bie deutſchen (däniſchen) 
Buchtaben und wählt ftatt ihrer bie lateiniſchen. Denſelben Wechſel 
laßt Grinun im ber zweiten Ausgabe der Grammatik (1822) eintwe- 
ten, und daß et es aus denſelben Gründen wie Raſt geihan, beweiſen 
feine Worte in der dritten Ausgabe ). Aber ben wejentlichten 


1) Grimm, Gramm. XL I (Grfe Ausg.) Gin. &. LXXVIL — 
2) @send. 6. LXXVU. — 3) Eben. ©. LXXVIL. — 4) Ball. 
Grivem, Gramm. I, (3) ©. 26 fg. mit Rask, Angelsaksisk Sproglere 
Fortale 8. 44. S. o. S. 481. — Zugleich mit ber Veriauſchung ber beut- 
ſchen Schrift gegen bie lateiniſche nahm Grimm eine Eigenchülmlichteit an, bie 
diel won fi reden gemacht hat: die Wefeitigung ber großen Hefangebuih: 
Naben ber Gauptwörter. In ber 1. Musg. der Grammauik (18 10) freibt 
@ die Hanperdeiet wech mit großen Mnfangetmihftaben, in der zweiten (1892 
wit Einen. 


Die Veiber Grimm 1819 bio 2840. 51 


Genfluh anf Geism’s zweite Ausgabe übt Maffs Preisfärikt über 
den Urſprang des Isländiſchen. Wie fehr Grimm biefe amsge- 
vihmete Arbeit ſchadte, Haben wir oben gejehen‘). Ohne Zweijel 
war es dieſe Schrift, welde bie weitaus größte Wenderamg ber 
weiten ‚Ausgabe von. Grinan’s Grammatit vevanlaßt hatı bie 
Vorausſeadung einer whfaflenden Unterſuchung der „Buchſtaben.“ 
Natürlich mußte Grimm die. Wichtigkeit der. Laute für die gefchicht- 
liche Granuuatik ahnen. Auch war er duch Ten Kate?) nade 
drũdlich darauf hingewieſen. Aber dennoch beginnt er in der erſten 
Ausgabe ſofort mit den Flexionen; eine „allgemeine Unterſuchung 
‚der Laute“ verſpricht er im „Nachtrag“ des erſten Theils für den 
künftigen zipeiten ). Daß abex bei Grimm bie Ueberzeugung zum 
Durchbruch Tam, die ganze geſchichtliche Grammatik fei mit einer 
umfafjenden Unterſuchung der Laute zu beginnen, das war ohne 
Zoeifeh eine Folge ber einbringenben Bemerkungen und Beobad- 
tungen, die Raſt in feiner Preiaſchrift über die Wichtigfeit ber 
Rautlehre und über die vegelmäßige Lautvertretung macht. Wir 
find zu diefer Annahme um fo mehr berechtigt, als auch das wich⸗ 
tigfte Stück von Grimm's Lautlehre — fein berühmtes Gefeg der 
Lautverſchiebung — im naher Beziehung zu Beobachtungen ſteht, 
die Raſt in feiner Preisfhrift mitteilt. Grimm ſpricht fein Geſetz 
wit den Worten aus: 

Roch merkwürdiger als die Ginftimmung der Liquidae uud 
Spiranten 4) ift die Abweichung der Lippen-, BZungen- und Kehl⸗ 
laute nieht allein wen ber gothiſchen, fondern auch von ber althoch⸗ 
deutſchen Einrichtung, Nämlich genau wie das Altgochdeutige in 
allen drei Graben von ber gothiſchen Orbuung eine Stufe abwärts 
vjanlen ift, war bereits das Gothiſche ſelbſi eine Stufe nom ber 

beiniſchen (griechiſchen, ineiigen) herabgewichen. Dias Gothiſche 





H S. o. S. Eh. — 96.0 ©. 148 ig. — 9 Grimm, Gramm. 
re), S. 658. Bol. 6. 688. 060. Ato Grimm biefem „Nachtrag“ ſchrieb, 
tedie er Brise Mails Poriskhrift. MyL bie eben ©. 508 amgehährte 
Stelle aus Grimm's Borrede: „beinahe nad der Beendigung biejes Buchs.“ 
— 4) Nämlich ber eben vorher beſprochenen antifen mit ben beutjchen. 


512 Viertes Buch. Erfles Kapitel. 


verhält fih zum Lateiniſchen gerade wie das Althochdeutſche zum 
Gothiſchen. Die ganze für Geſchichte der Sprade und Strenge 
der Etymologie folgenreihe zweifache Lautverſchiebung ftellt fid ta- 
bellariſch ſo dar: 


gie.P. B. F. T. D. Th. B.6. Ch 
go. F. P. B. | Th. T.D. X. d. 
alt. B.(V.)F. | DZT G.Ch.K*)) 


Nach einer Zwiſchenbemerkung über das gothiſche h folgt dann eine 
große Menge von Belegen für das aufgeftellte Geſetz, aus denen 
wir zur Verdeutlichung je einen Fall für jeden Lautübergang her- 
ausheben wollen. I. P. F. B, V. rA&og, goth. fulls, alt. voll. 
L. B, P. F. cannabis, altnordiſch hanpr, alth. hanaf. II. Ph. 
B. P. fero, goth. bafra, alth. piru. IV. T. Th. D. tu, goth. 
thu, alt. du. V. D. T. Z. ducere, goth. tiuhan, alth. ziohan. 
VI. Th. D. T. 9uy@ene, goth. daühter, alt. tohtar. VIL K. 
H, 6. H, G. caput, goth. häubith, alth. houbit. VII. G. K. 
Ch. genus, got. kuni, alth. chunni. IX. Ch. G. K. zer, 
goth. gans, alth. kans. 

So Grimm's berühmtes Geſetz. Bon namhafter Seite aber 
ift fpäterhin ausgefproden worden, nicht Grimm habe dies Geſetz 
entdedt, fondern es finde fich bereit bei Mafl. Wie verhält es 
fi nun damit? or allem ift feftzuftellen, daß, wenn es fih 
um einzelne Beobachtungen handelt, die dann wieder in Grimm's 
Geſetz zur Verwendung fommen, wir weit über Raſt zurüdgeben 
müffen. Schon Aventin (1533. 1566) macht die Beobachtung, daß 
die Nieberländer „p allein brauchen, wo das Oberland pf hat“, 
die Sachſen t, wo bie andern Deutfchen s haben (Watter, Wafler) ?). 
Der Verfaſſer der Anmerkungen zum Williram in Merula's Aus 
gabe (1598) bemerkt, daß das z in ber Sprache bes Williram fuft 
überall in ein niederländiſches t umgewandelt worben fei?). Me 
chior Goldaft jammelt (1604) zahlreiche Beiſpiele für den Wedel 
bes griechiſchen und lateiniſchen p mit deutſchem ft). Franciscus 
Junius (f 1677) macht die Beobachtung, daß griechiſches k, latei⸗ 

ID Gramm. I, (9,5. — 9 6.0.6.8. 96.60 - 
4) ©. 0. ©. 56, Anm. 4. 


Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 518 


riſhes o bem gothiſchen und angelſächſichen h etymologiſch entfpre- 
den‘). Daniel Morhof wiederholt (1682), wie es ſcheint, unab⸗ 
hangig dieſe Beobachtung und fügt bie weitere hinzu, daß deutſches 
g lateiniſches h vertritt?). Endlich Arnold Kanne 3) weiſt (1804) 
nah die etymologiſche Uebereinftimmung des germaniſchen f mit 
geiehifchem 7 *), bes germaniſchen b mit griehifgem 9, Iateini- 
füem #5), bes hochdeutſchen z mit plattveutjhem t, griechiſchem d%), 
des hochdeutſchen t mit plattdeutſchem d 7), des germaniſchen h mit 
griehifhem x ®), des germanifen g mit griechiſchem 2°), bes ger- 
manifhen k mit griehifgem y'%). Dies Alles freilih noch mit 
vielem Halbwahren und ganz Irrigen vermifht. Ohne feine Vor⸗ 
gänger zu erwähnen, höchſt wahrfdeinli ohne fie zu kennen, gibt 
Raſt in feiner Preisfhrift (1818) eine Zufammenftellung der Laut- 
übergänge vom Griechiſchen und Lateinischen zum Jsländiſchen 11). 
In diefer Zufammenftellung verzeichnet er, mit einigen Belegen, 
den Uebergang von lateiniſch⸗- griechifch 7 zu isländiſch f, t zu 
th, kzuh; dyut,yauk; 9 zu b, 5 zu d, x zu g. Bon b 
bemerkt er, daß es meiſt beibehalten werde. Hier ſind nun unbe⸗ 
ftreitbar die ſämmtlichen Elemente zu Grimm's Lautverſchiebungs⸗ 
geſeg gegeben, fo weit fid dasſelbe auf das Verhältniß ber grie- 
Gifgelateinifgen zur älteren germanifchen Kautftufe bezieht. Es 
wird auch Kaum einem Zweifel unterliegen, daß der Blick auf Raftg 
Bufammenftellungen Grimm zur Entdeckung der griechiſch⸗germani⸗ 
ſchen Lautverſchiebung geleitet hat. Aber die Entdeckung ſelbſt Hat 
nicht Raſt, fondern Grimm gemadt. Das Weſentlichſte in Grimm’ 
Entdeckung befteht in zwei Punkten: Erſtens darin, daß hier ein 
Yautwanbelgefeg vorliegt, das alle Organe gleichmäßig beherrſcht, 
das alfo durch denſelben Vorgang p zu f; t zu th und k zu h 


1 S. 0. S. 127. — 9 ©. 0. 6158. — 3) ©. 0. 6.368, — 4) Ar 
nolb Kanne, Ueber bie Verwandiſchaft der griech. und teutſchen Sprache, 
Leipn. 1804, ©. 111 fg. — 5) Ebend. ©. 122 fg. — 6) So ch. ©. 205 
nad} Mafgabe ber gefammelten Beiſpiele. Kanne's eigene Sqhlußfolgerung ift 
jedech verkehrt und verworten. — 7) Ebend. ©. 209. — 8) Ebend. S. 230. 
9) Ebend. S. 287. — 10) Ebend. S. 241. — 11) Rask, Undersögelse 
0.8.7.8. 169. . 

Raumer, Seſch. der germ. Phlielogle. 8 


514 Viertes Bud. Etſteo Kapitel, 


umwanbelt, und ebenſo durch einen zweiten Vorgang b zu p, d 
zu t, g au k; endlich durch einen britten im fich ſelbſt gleichmäßigen 
Vorgang p zu b, 9 zu d, x au 69). Zweitens barin, daß ber- 
felde Vorgang, der das Griechiſche mit dem Gothiſchen verknüpft, 
fi vom Gothifgen zum Althochdeutſchen wiederholt. Weder von 
der einen, noch von ber anderen Erſcheinung hat Raſk eine Ahnung. 
Nirgends findet ſich bei ihm eine derartige Aeußerung, die Grimm's 
Entdedung vorhergienge; ja er verräth ganz unzweideutig, daß ihm 
nichts dergleichen in den Stun lam, dadurch, daß er am bie oben 
angeführten Lautwechfel ohne Unterbrehung einen anberen (ben 
griechiſchen Spiritus afper und isländiſch 3) anknüpft 2), der mit 
ber vorliegenden Frage nichts zu thun hat. Aber mod mehr! 
Raſt Hat Grimm’s Grammatit im Jahr 1830 ausführlich und 
ſehr feindfelig recenfiert. Hätte er geglaubt, Grimm Babe feine 
epochemachende Entbedung ihm entwendet, fo würbe er dies ohne 
Zweifel geltend gemacht haben. Aber davon finden wir Feine Spur. 
Vielmehr begnügt fi Raſt, Grimm's ganze Lautlehre als zu aus 
fuhrlich, zu fpitfindig 3) und zu abstrus zu verhöhnen 4). Er hat 
mithin, ſelbſt nachdem fie vorlag, Grimm's große Entdeckung feiner 
Beachtung gewürdigt! 

Dies führt uns auf eine der weſentlichſten Seiten, bund die 
Grimm fih von Raſt unterſchied. Auch Naft beſchäftigt fig mit 
Sprachvergleichung. Aber jo bedeutend feine Verbienfie auf diefem 
Gebiete find, fo war doch fein Sinn weit mehr auf die fharfe und 
genaue Darftellung der einzelnen Sprache gerichtet. Hier zeigt er 
fi unläugbar-auf einigen Gebieten Grimm überlegen. Durd das 
eindringende Studium der wirklich gegebenen Spraden, insbeſon 
dere auch ber lebenden Ausſprache, weiß er bisweilen Grimm's 


1) Wohlgemerkt! Nur jeben ber brei Vorgänge für ſich bezeichnen wir 
oben als einem und bemfelben Geſetz unterworfen; bie Frage über ben Bu: 
fammenhang ber drei Vorgänge unter einander laffen wir hier offen — 
2) Rask, Undersögelse, 8. 170. — 3) »Nice.« Zn Verbindung mit 
abstrusee wird nice wohl mit „Ipitfinbig" zu geben fein. Zugleich be: 
zeichnet es das Meinlie, Unbebeutende. — 4) Rask, Samlede Af- 
handlinger II, 8. 450. 


Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. ‘515 


ſchwãchere Seiten geſchickt aufzudelen. Aber Grimme Befikt eine 
Gabe, durch die er berufen war, weit über Raſt hinaus Epoche zu 
machen: Den genialen Blick in bie Zuſammenhänge ber Sprachen 
verbunden mit der treuften Erforſchung ihrer hiſtoriſchen Cutwic⸗ 
lung. Dadurch daß er den Ummandlungen aller einzelnen germani- 
ſchen Sprachen Schritt für Schritt nachgeht und zugleich ihren 
gemeinfamen Grundbau geſchichtlich zu erforfhen ſucht, gelingt es 
ihn, die Wege zu entbeden, auf melden fih bie germaniſchen Spra- 
den in der ung zugängligen Beit entwidelt Haben, und eben bies 
befähigt ihm dann, ſichere Schlüffe zu ziehen auf bie vor mfrer 
geſchichtlichen Kenntniß Tiegenden Zufammenhänge der Gproden. 
Das find die Unterſuchangen, von benen Raſt nichts willen will 
und die er als „vorhiftorifc—he“ verfpottet 1). Gerade hierin aber 
zeigt ſich uns ber Kernpunkt von Grimm's Sprachforſchuug; auch ia 
dem befonderen Fall, von dem wir hier ausgegangen find. Es Legt 
bei Wortforffungen, fagt Grimm, weniger an ber Gleichheit oder 
Aehnlichteit allgemein» verwandter Gonfonanten, als an der Wahr 
nehmung des hiſtoriſchen Stufengangs, welcher ſich ‚nicht verrüden 
oder umdrehen läßt“ 2). Wir dürfen bie Fruchtbarleit dieſes Ger 
dankens hier nicht weiter verfolgen und bemerken zur noch, daß 
Grimm beide Stufen feines Lautverfhiehungsgefeges din eine 
folge Fülle ſelbſtentdeckter Belege ftägt, daß Raſt's par Beiſpiele 
dagegen ſehr bürftig erſcheinen. 


H In den Gegenbemertungen gegen Grimm’s Anzeige von Raſt's 
friefifher Sprachlehre (1826). Raſt führt Hier Grimm’s Worte über Raſt's 
Berfagren in folgender Weife an: „Solche hiſtoriſche (rettere forhisto- 
riske) Unterfuhungen meibet ber Verf. in ben meiflen Fllen.“ Jeg 
forudswtter nl. at Leeseren af en Sproglere helst Önsker at vide, 
hvorledes Sproget er, og ikke hvorledes Forf. indbilder sig det har 
veret förend det blev til, eller dog förend det blev skrevet. (Bask, 
Saml. Afhandl. II, 217). Dieſe Worte bezeichnen bie Schwäche Rojee, 
Grimm gegenüber; zugleich aber weifen fie richtig auf eine Gefahr Hin, wel 
Ser Grimm nicht immer entgangen if. Jene Anfiht Hat Übrigens Raft ſchon 
vor dem Erſcheinen von Grimm's Grammatik ausgeſprochen in feiner An- 
vian. till Isl. 1818, 8,160. — 2) Anm. 2 zur Lautverſchiebung in Grimm's 
Stumm. I (2) ©. 588, . 

33 


516 Biertes Bud. Erſtes Kapitel. 


Wir Tönnen natürlich nicht daran denken, in dieſer kurzen 
Darftellung ben Reichthum von Grimm’s grammatiſchen Ent- 
dedungen erfhöpfen zu wollen. Wir müfjen ums vielmehr darauf 
beſchränlen, einige ber hauptſächlichſten hervorzuheben. Grimm’s 
Methode bei ber Behandlung der Flexionen ift dieſelbe, bie wir 
bei ber Lautlehre geſchildert Haben. Ueberall ift es ihm um hiſto⸗ 
riſche Entwidlung des Neueren aus bem Xelteren zu thun. Er 
geht deshalb aus vom Gothiſchen, das in ben meiften Fällen die 
volltommenften Formen bewahrt hat. Daran ſchließt er bie Fle⸗ 
tionen der nächjftälteften germanifhen Spraden: des Althochdeut⸗ 
ſcheu, Altſächſiſchen, Angeljähfiigen, Altfrieſiſchen und Altnordiſchen. 
Dann folgen die mittleren Sprachen: Mittelhochdeutſch u. ſ. w. 
Endlich die neueren. Schon biefe Anorbnung bietet Grimm den 
unfhägbaren Vortheil, daß eine Menge von trämmerhaften Er 
ſcheinungen in ben fpäteren Sprachen fi wie von ſelbſt aus den 
älteren erflärt. Gleich bei ber Declination kommt Grimm auf 
eine vichtigere und einfachere Eintheilung, als die bisherigen Gram- 
matiler, indem er bie gothiſche Declination zu Grunde legt. „Die 
deutſche Declination“ tHeilt fi ihm danach „vorerft in zwei Haupt 
Hafien, in bie ftarke und ſchwache“ 1). „Das Kennzeichen dieſer 
unvolltommneren [dev jhwaden] Declination ift der in allen Ca⸗ 
ſus, außer dem ſtets auf einen Vocal endigenden Nominativ Sing, 
hervortretende Conſonant n” 2). Die Unterabtheilung der ftarten 
Declination wird „lediglich dur die vorherrſchenden Vocale ber 
ftimmt. Syn ber erften regiert a ober o, in der dritten m, in 
ber vierten i“ 9). Die zweite Declination „ift genau betrachtet und 
urſprünglich der erften gleich, indem fie Bloß Ableitungen vermit- 
telft des Vocals i umfaßt“ 8). Wir werben in einem fpäteren 
Abſchnitt fehen, daß die Annahmen Grimm's über bie ſtarke und 
ſchwache Declination durch Bopp's umfafjendere Sprachvergleichung 
eine bedeutende Abänderung erfahren haben. Aber wenn man ſich 
Überzeugen will, welchen gewaltigen Fortſchritt Grimm’s Anjihten 





1) Grimm, Gramm. I (l) 6.139. — 2) Ebend. S. 14. — 
3) Ebend. ©. 138. 


Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 517 


über bie germaniſche Declination bezeichnen und wie ſehr fie die Grund⸗ 
Inge für bie weitere Forſchung gebilbet haben, fo Braudt man fie 
nur mit den unmittelbar vorher veröffentlichten Arbeiten Raft’s 1) 
zu verfleihen. Weit bedeutender nod find Grimm's Unterſuchun⸗ 
gen über das Berbum. Auch hier haben wir Raſt auf richtigerem 
Wege gefunden, als die meiften feiner ſtandinaviſchen Vorgänger. 
Aber weit mehr noch, als Rat, ift ein anderer Forſcher hier als 
Vorläufer Grimm's zu bezeichnen, nämlich Ten Kate ?). Wie Ten 
Kate, jo flieht auch Grimm in den ablautenden Beitwörtern bie 
Grundlage ber germanifhen Spraden ?). Er bezeichnet ihre Ab⸗ 
beugung als die „ftarfe ‚Sonjugation“, die bis dahin „regelmäßig“ 
genannte (ich liebe, ich liebte u. f. f.) als die „ſchwache.“ Die 
ſtarke Conjugation „enthält Yanter einfahe kräftige Wurzeln, die 
ſchwache Hingegen meiftens Ableitungen, aljo fpätere, aus jenen 
Wurzeln erft entfprumgene Verba“ 4). Die ſtarke Gonjugation 
bildet ihr Praeteritum durch den Ablaut, bie ſchwache „behilft ſich 
mit äußeren Mitteln“ ). Die Lehre vom Ablaut und bie vom 
Umlaut, der etwas ganz Anderes ift als der Ablaut, gehören zu 
den glängenbften Ergebniffen von Grimm's Forſchung. Der Ab- 
laut ift die Veränderung bes Wurzellauts im Praeteritum ber 
ſtarken Eonjugation, er ift „die Seele der eigentlichen älteften Con- 
ingationsform" 9.. Dagegen ift der Umlaut die Umwandlung 
eines Vocals durch ein darauf folgendes i oder u”). Das Go- 
thiſche Hat noch gar keinen Umlaut ®). Die hochdeutſchen Sprachen 
haben den durch i bewirkten Umlaut, der im Althochdeutſchen noch 
ſehr eingeſchränkt ift 9) und ſich erft im Mittelhochdeutſchen immer 
weiter ausbreitet 10). Aehnlich iſt es in ben altnieberbeutfchen” 
Spraden 1), Das Altnordiſche endlich Hat außer dem buch i 


1) ©. befien Anvisning till Isländekan 1818, 8. 65, und Angel- 


saksisk Sproglere 1817, 8. 20 fg. — 2) Grimm, Gramm, II, 8. 67 
Anm. Bol. 0. 6.141 fe — 8) Grimm, Gramm. II, 8.5. — 
4) Grimm, Gramm. I (1), 6.558. — 5) Ebend. J (1), S. 558. — 


6) Ebend. ©. 546. — 7) Ebend. S. 168. — 8) Ebend. ©. 131. 562. — 
9) Ebenb. ©. 158. — 10) Ebend. ©. 175 fg. — 11) Ebend. 161. 574. 


518 Biertes Bud. Erfies Kapitel. 


bewirlten Umlaut auch den durch u bemirkten 1). Obwohl Grimm 
in der erften Ausgabe noch Feine befonbere Lautlehre gibt, erör⸗ 
tert er doch eingehend bie Erſcheinungen des Umlauts und des 
Ablauts in ben betreffenden Abſchnitten ber Declination und Con 
jugation. Beide Erſcheinungen konnten auch früheren Forſchern 
nicht verborgen bleiben, und namentlich lag im Mltmorbifden die 
umlautwirtende Kraft des i und des u Far vor Augen So 
finden wir fie denn aud von Raſt bemerkt 2). Aber von einer 
richtigen Erlenntniß dieſer Erfheinung und von der Einſicht in 
ihre durchgreifenden Wirkungen ift Raſt noch weit entfernt. Um⸗ 
laut und Ablaut find ihm mod unter bem gemeinfamen Namen 
„Omlyd* vereinigt und führen ihn dadurch an entſcheidender Stelle 
irre 9). Hier zeigt fih fo recht die Ueberlegenheit von Grimm’s 
Methode. Daburh daß er alle germaniſchen Sprachen vergleihend 
zuſammenfaßt, indem er vom Gothiſchen als dem Uxfprüngliäften 
ausgeht und dann Schritt für Schritt zu ben jüngeren Sprachen 
fortſchreitet, ergeben ſich ihm bie ſchönſten Entdeckungen wie von 
ſelbſt. Auch Raſt war diefer Methode auf ber Spur, aber ftatt 
ihr weiter nachzugehen, tft er ihr felt dem Höhepunkt, ben jeine 
trefflihe Preisſchriſt bezeichnet, mehr und mehr abgeneigt gewor⸗ 
dent). Es Yam aber noch ein befonderer Umftand hinzu, der 
Grimm in eben dem Maß zum Vorteil, wie Raft zum Nactheil 
gereichte. Bon vorzügligem Werth nämlich war Grimm bei allen 
feinen Forſchungen die ftätige Folge, in welcher ſich bie gothifcen 
Formen durch die althochdeutſchen hindurch allmählich zu ben 
mittelhochdeutſchen umbilden. Raſt aber, ber ſich der verihie 
denſten aftatifen unb europäiſchen Sprachen mit berfelben Leid 
tigfeit bemaͤchtigte, Bat es gleichwohl verfämäßt, auch nur die 
Elemente des Althochdeutſchen und Mittelhochdeutſchen zu lernen ) 


H @bend. ©. 168 fg. 576. — 2) Bask, Anvisning till Isländskan 
1818, 8.48 fg. — 2) Rask, Angelsaksisk Sproglere 1817, 8. 60, 
verglichen wit ©. 53, — 4) Bol. 3. B. Raſtis Modbemserkninger gegen 
Grim's Niyeige feiner friefifgen Sprachlehte in RefPs Samlede Afhand- 
linger III, & 217. — 5) So unglaublich bie obige Behauptung Mingen 


Die Brüder Grimm 1819 bis 1840, 519 


Gerade die gründliche Erforſchung bes Althochdeutſchen und Mittel- 
hochdeutſchen aber bahnt Grimm vorzugsweife ben Weg zur Er⸗ 
jenntniß der Entwidlung ver germaniſchen Spraden. — So feßen 
mir nım bei Grimm bie ſtarke Eomjugation bie ihr zukommende 
erſte Stelle einnehmen, während Rat fie no im Jahr 1826 als 
„unregelmäßig“ ber ſchwachen als ber „regelmäßigen“ nachſtellen 
will *) und noch 1830 die ſchwachen Verba für die Grundlage des 
germanifchen Berbalfyftems erflärt 2. — Die Reihenfolge der 
ftarten Eonjugationen hat Grimm mehrmals geändert. Er konnte 
auf vein germaniſchem Gebiet laum zu einem ſicheren Princip ge 
langen. Aber eine ſehr ſchöne Entdecung gab ihm Aufſchluß über 
eine merkwůͤrdige Klaſſe ſtarlet Verba. Er fand nämlich, daß die Berda, 
melde im Gothiſchen ihr Praeteritum durch Nebuplication Bilden 
(haita, haihait u. ſ. f.), in ben übrigen germanifchen Sprachen dieſe 
Nebuplication in einen ſcheinbaren Ablaut zufammengezogen haben ®} 
(Althochdeutſch heizu, hiaz; mittelhochdeutſch hoiso, hiez; nen- 
hochdeutſch: Heike, hieß u. ſ. w). So war für alle germaniſchen 
Sprachen die Neduplication als Bezeihnung der Vergangenheit 


mag, jo ift fie dennoch buchfäbli wahr. Wir entnehmen Raſt's Unkenutniß 
des Alt- und Mittelhochdeutſchen nicht nur aus ber auffallenden Dürftigkeit, 
in die ſich Raſt's Bemerkungen über das Hochdeutſche verlieren, wo es gölte 
über das Neuhogdeutfche zurüdzugreifen, ſondern er kat feine Unwiſſenheit 
auch pofitiv beuttundet. In den öfters ſchon angeführten Modbemerkninger 
gegen Grimm ift es ihm ganz unbegreiflih, was Grimm mit einer Unter: 
ſcheidung von e und 8 wolle, und feine Begründung dieſes Nichtbegreifene 
iR noch haarſträubender als das Nichtbegreifen felbft. (Baml. Afhandl, III, 
83.225 fg.). Statt von Grimm zu lernen, verhögnt cr ihn >med al sin 
mittelhochd. Lerdom« (Eben. &. 227; vgl. auch ©. 221.) 

1) Rask, Samlede Afhandlinger. III, 8. 239. — 2) A Gram- 
mar of the Anglo-Saxon Tongue by Er. Rask. A new Edition 
enlarged and improved by the Author. Translated from the Danish 
by B. Thorpe, Copenhagen 1830, Raſt's Postseriptum zu Thorpe's 
Preface p. LVIL — 3) Grimm, Gramm. I (1), ©. 554. — ©. 558 
iR die gothiſche Rebuplication im Weſentlichen richtig aufgefaht. ©. 408 
hatte fie Grimm noch verfannt. 


520 Biertes Bud. Erftes Rapitel. 


erwiefen. — Wie für bie ſtarken, fo waren für bie ſchwachen Gon- 
jugationen Grimm’s Entdeckungen epochemachend. Seine Lehre 
vom Umlaut zeigt Ähm den Weg, die ſchwachen Gonjugationen aller 
germanifgen Spraden in richtiger Weife auf bie drei gothiſchen 
6, d, ai) zurüdgufügten %). In ber erften Ausgabe (1819) trennt 
er noch die kurzſylbigen (nasja) von den langſylbigen (sökje), fo 
daß er vier ſchwache Eonjugationen erhält; in der zweiten (1822) 
faßt er fie mit Recht in Eine Conjugation zufammen. Auf Grund 
Inge feiner einbringenden Erforſchung des ftarken und des ſchwachen 
Verbums gelingt es Grimm endlich auch, bie eigenthumlichen Zeit- 
wörter, bie in allen germanifchen Spraden eine Miſchung ber ftarfen 
und der ſchwachen Eonjugation barzuftellen ſcheinen, völlig aufs Klare zu 
bringen. Schon Hides hatte an einem berjelben (vait, vitum) bie 
Form des Practeritums erfannt, feine Beobachtung aber nicht 
weiter verfolgt 2). Raſt bemerkte (1811) die Aehnlichteit, welche 
die Gegenwartsform diefer Wörter mit der Vergangenheitsform 
feiner zweiten Klaſſe (Grimm's ftarter Conjugation) hat ®). Aber 
erſt Grimm wies in durchgreifender Weiſe nad), daß dieſe Zeit- 
wörter regelrechte Praeterita beftimmter Ablautreihen find, beren 
ſtarles Praeteritum mit Praefensbedeutung ein zweites und zwar 
ſchwaches Praeteritum zur Bezeichnung ber Vergangenheit bildet 4). 

Im Jahr 1826 erſchien der zweite, 1831 der dritte Theil von 
Grimm’s Orammatil. Beide Theile (1808 Seiten) füllt das „Dritte 
Bud. Von der Wortbildung.“ Diefer Ausdrud ift aber hier im 
weiteften Sinne gefaßt. Denn es behandelt dieſes Buch in zehn 
Kapiteln 1) die Bildung dur Laut und Ablaut, 2) die Ab 
keitung, 3) die Bufammenfegung, 4) die Pronominalbilbungen, 
5) die Adverbia, die Praepofitionen, Gonjunctionen und Inter⸗ 
jectionen, 6) das Genus, 7) die Comparation, 8) bie Diminsution, 
9) die Negation, 10) Frage und Antwort. Wir können Bier na 
türlich die gewaltige Maſſe biefer beiden Bände nicht im Einzelnen 


1) Grimm, Gramm. 1 (1), ©. 564 fg. 571. 578. 518 m. f.w. Me 
vergleiche mit Grimm’s einfagen Sägen bie Gonfuflon Rafre. — 2) 6. o. 
6.188. — 3) Bejlebning ©. 124. — 4) Grimm, Gramm I (1), 6.5501 


Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 521 


darlegen, fondern müffen uns auf einige allgemeinere Betrachtungen 
einſchränken. Was ung zuerft in die Augen fällt, ift ber ſtaunens⸗ 
werthe Meichthum des angefammelten Stoffes. Wie ſchon im erften 
Bande, fo geht auch in dieſen beiden Grimm darauf aus, für alle 
wigtigeren Erſcheinungen die Beifpiele in den einzelnen Sprachen, 
fo weit e8 ihm wmöglid) ift, vollftändig zu ſammeln. Es ergeben 
fih aus dieſem SHineinarbeiten des geſammten Spradftoffes in bie 
Grammatik die merhwürbigften Blide in das Verfahren und ben 
Entwicllungsgang der einzelnen Spraden. Bilbungsmittel, welche 
die eine Sprache in weiteftem Umfang verwendet, Yäßt bie andere 
nafverwandte faft unbenugt. So fehlt bie Partikel ga, ge (ge- 
brauchen, Ge-schöpf u. f. f.), die in allen übrigen germaniſchen 
Sprachen eine Unmaffe von Wörtern bildet, im Nordiſchen faft 
ganz 1). Erſt durch eine folde Kenntniß der Bildungsweifen, deren 
fih die einzelnen Sprachen bedienen, zufanmengenommen mit der 
ftrengen Lautwandellehre, tie fie Grimm im erften Buch aufftellt, 
ergibt fih die Möglicfeit einer wiffenfhaftlihen Etymologie. Es 
ift nun feine Rede mehr von einer oberflächlichen Vergleichung 
jüngfter Wortgebilde nach bloßer Aehnlichkeit des Klangs, fonbern 
jedes Wort iſt zuvörderſt Schritt für Schritt auf feine älteſte ung 
zugängliche Form zurüdzuführen und diefe dann in ihre wurzel⸗ 
haften und ihre nur ableitend hinzugefügten Beſtandtheile zu zerlegen. 
Erſt wenn auf dieſe Art der Kern des Wortes geſchichtlich heraus⸗ 
geſchält ift, kann am eine Vergleichung mit fremden Sprachen ger 
dacht werden, und nur dann Bat eine folde Vergleichung wiflen- 
ſchaftlichen Werth, wenn fie auf beſtimmten, jene Sprachen ver» 
Tnäpfenben Lautwandelgeſehen beruht. 

Eine der wefentlihften Seiten an Grimm’s Sprachforſchung, 
die fein ganzes Wert durchdringt, ganz befonders aber in dieſen 
Bänden zu Tage tritt, ijt der tiefe Sinn für die Poefle ber 
Sprache. Nur wer biefen beftgt, konnte Grimm’s ſinniges Kapitel 
über das Genus fehreiben. Ohne bie eigenthünlihen Vorzüge ber 
füngeren Sprachen zu verlennen, fühlt fi Grimm doch vor allem 





1) Grimm, Gramm. II, 8. 733, 


522 Biertes Bud. Erſies Kapitel. 


zu ber älteren Spradje hingezogen, im welder ber poetiſche Trieb 
noch lebendig waltet. „Die wurzelreiche ältefte Sprade, fagt er, 
erfreut ſich Tebendiger Namen und Wörter, für deren nothwendige 
und geheime Beziehungen ihr eine Fülle von Ahlauten und Zlerionen 
zu Gebote ftehen. Die fpätere, indem fie Wurzeln aufgibt, Ab⸗ 
laute fahren läßt, ftrebt durch Förderung der Ableitungen und Zu 
fammenfegungen Beweglichkeit und Deutlichfeit des Ganzen zu ver- 
vollfommmnen“ ij. So fehr nun auh im Folgenden Grimm bie 
Vorzüge der jüngeren Sprachen anerfennt, fo geht doch durch fein 
ganzes Werk, fo wie durdy alle feine Arbeiten, ein tiefer Zug 
geiftiger Verwandtſchaft mit der poefievollen Sprachbildung unferes 
Alterthums. 

m Jahr 1887 erſchien der vierte Theil der Grammatik, wel⸗ 
Ger das vierte Buch: die Syntar beginnt. Er behandelt (auf 
964 Seiten) den einfachen Sat, und zwar im erften Abſchnitt das 
Verbum im einfachen Sag in fünf Kapiteln, nämlih 1) das Ger 
nus Verbi, 2) den Modus, 8) das Tempus, 4) den Numerus, 
5) die Berfonen; darauf im zweiten Abſchnitt das Nomen im eine 
fachen Sag in acht Kapiteln, nämlich 1) Begriffe" des Nomens, 
2) Genus und Numerus, 3) das perfönliche Pronomen, 4) die 
übrigen Pronomina, 5) die Flexion, 6) die Cafus, 7) den abſo⸗ 
Inten Cafus, 8) Adverb und Adjectiv. Auch auf dem Gebiet ber 
Syntar bricht Grimm eine neue Bahn, indem er ſich nicht bamit 
begnügt, die Syntar irgend eines beftimmten Zeitraums als etwas 
fertig Gegebenes barzuftellen, fondern bie geſchichtliche Entwidlung 
der ſyntaltiſchen Verhältniffe vom Gothiſchen herab durch die älteren 
und mittleren germanifchen Sprachen bis auf die neueften vor 
Augen legt, und das Alles wieder mit einer ſtaunenswerthen Fülle 
des beigebrachten Stoffes. Ein fünfter Band ſollte noch vom meht- 
fagen Sa, von der verbindenden Conjunction und von der Wort 
folge Handeln). Aber Grimm ift darüber hingeſtorben, und fo 
fteht num das gewaltige Wert unvollendet da, wie unfre herrlichen 
alten Münfter. 


1) Grimm, Gramm, II, 8.4. — 2) Grimm, Gramm. IV, 8. 2. 


Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 523 


2. 3. Grimms Deutfge Rechtsalterthümer 1828. 


Ein Werk über deutſche Rechtsalterthümer gehört als foldes 
nicht der Geſchichte der Philologie 1) an, fondern ber Geſchichte dev 
Rehtswiſſenſchaft. Es ift deshalb nicht ber ftofflihe Inhalt, fon 
dern die Art, wie Grimm feinen Stoff behandelt, was uns ber 
rechtigt, auch dies Werk in einer Geſchichte der germaniſchen Ppilo- 
Togie zu beipredien. Wir haben in einem früheren Abſchuitt ge⸗ 
ſehen, wie Grimm in feiner Abhandlung „Von der Poefie im 
Recht· (1816) die nahe Verwandtſchaft des altdeutſchen Rechts weit 
der altbeutjchen Poefie nachweiſt 2). Dasfelbe Ziel verfolge er in 
feinen 1828 Yeransgegebenen Deutſchen Rechtsalterthümern, mir 
jegt mit viel veiheren Mitteln und auf ber feften ſprachlichen Grunde 
Inge, die er inzwiſchen durch die deutſche Grammatik gewonnen 
hatte. Es iſt vorzüglich das „finnliche Element ber deutſchen 
Rechtsgeſchichte“ ®), für welches Grimm „Materiolien, fo viel er 
ihrer habhaft werden Tonnte, vollftändig und getreu fammeln“ 
wollte. Dies finnlihe Element zeigt fi einerfeits in den Sym⸗ 
bolen ober „ber bildlichen Vollbringung eines Geſchäfts“ 4); anbrer- 
feits in den ſprachlichen Formen, deren fih das Recht bedient, 
Diefe Formen haben es im altdeutſchen Recht nicht auf ver⸗ 
fianbesmäßige ftreng juriſtiſche Beſtimmungen abgefehen, fonbern 
fie bedienen fi der volleren poetiſch ſinnlichen Ausdrucsweiſe. 
Sie zeigen deshalb auch ſehr häufig bie ber altgermaniſchen Poefie 
gemeinfame Alliteration. Für alle diefe Dinge bietet Grimm's 
Bert die reichhaltigſten Sammlungen aus den Quellen aller Jahre 
hunderte von Tacitus Germania bis auf die Gegenwart mit uns 
ermeßlicher Gelehrſamkeit und finnvoller Freude zuſammengeſtellt. 
Eine Hauptquelle bilden „die Weisthümer des deutſchen Rechts, 
ihrem Weſen und Gehalt nad völlig vergleichbar ber gemeinen 
vollsſprache und den Volksliedern. Diefe Rechtweiſungen durch 


)6.0.61- 3) S. o. S. 448 ſg. — 8) J. Grimm, Deutfhe 
Rechtealierthüũmer, Vort. ©. VIL — 4) I. Grimm, Rechtsalterthümer 
6. 109, ° 


524 Viertes Buch. Erſtes Kapitel, 


ben Mund bes Landvolls machen eine höchſt eigenthümliche Er- 
ſcheinung in unferer alten Verfaffung, wie fie ſich bei feinem an- 
dern Voll wiederholt, und find ein herrliches Zeugniß der freien 
und edlen Art unferes eingebornen Rechts. Neu, beweglich und fih 
ſtets verfüngend in ihrer äußeren Geftalt enthalten fie Iauter her⸗ 
gelommene alte Rechtsgebräuche und darunter ſolche, die Tängft 
keine Anwendung mehr litten, die aber vom gemeinen Mann gläus 
big und in ehrfurchtsvoller Scheu vernommen wurden. Sie Kin 
nen durch die lange Fortpflanzung entftellt und vergröbert fein, 
unecht und falſch find fie nie. Ihre Uebereinſtimmung untereinander 
und mit einzelnen Zügen alter, ferner Geſetze muß jedem Beobach⸗ 
ter auffallen und weiſt allein fon in ein hohes Alterthum zuräd. 
Es ift geradezu unmöglich, daß die poetifchen Formeln, deren bie 
Weisthümer voll find, in den Jahrhunderten ihrer Aufzeichnung 
entiprungen fein ſollten“ 1). In biefer Weiſe Altes und Neues 
aus Nehtsaufzeihnungen und Gedichten zufammenftellend behandelt 
Grimm erft in einer Einleitung die Formen und Symbole des 
Rechts, dann in ſechs Büchern 1) den Stand, 2) den Haushalt, 
3) das Eigenthum, 4) die Gevinge, 5) bie Verbrechen und 0) das 
Gericht. Das Wort „bentih* nimmt Grimm in feinen „Deutfhen 
NRechtsalterthümern“ in bemfelden Umfang wie in feiner , Deutſchen 
Grammatik“, jo daß es auch das Skandinaviſche und Angelſächſiſche 
mit umfaßt?). Die Bearbeitung der deutſchen Rechtsalterthumet 
hat Grimm zu befonderer Freude gereiht®), und er iſt ihr and, 
fo weit e8 irgend feine Zeit erlaubte, bis an fein Lebensende zu 
gethan geblieben. Schon in ber Vorrede zur erften Ausgabe (1828) 
fagt ee: „Wird der ſchmale langgewundene Steig, den id bier 
eingeſchlagen Habe, der aber an ftilfe Pläge führt und an fteile Ab⸗ 
hänge, von welden herunter unerwartete Ausficht tft, der Nachfolge 
werth erachtet, fo will ich Feine Tritte fparen, um ihn zugaͤnglichet 
au maden“ 4). 


1) Ebend. Borr. &.IX. — 2) Ebend. Vorr. S. VII fg. — 3) Eben. 
Vorr. zur zweiten Ausgabe (1854) ©. XIX, — 4) Ebend. Borr. S. XVIIL 


Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 525 


3. Jacob Grimm’s Deutſche Mythologie 1835, 


Schon in ber erften Periode feiner Thätigfeit haben wir J. 
Grimm öfters mit mythologiſchen Forſchungen beſchäftigt gefehen. 
So namentlih in feiner 1815 erſchienenen Abhandlung über Ir⸗ 
menfiraße und Irmenſäule. Seit jener Zeit war auf dem Gebiet 
der deutſchen Mythologie jo Manches von Anderen verſucht wor- 
den. Wir erwähnen darunter ıdie feltiamen Schriften Katl 
Barth's über „Hertha und über die Religion der Weltmutter im 
alten Teutſchland⸗ (1828) und „Die Kabiren in Teutſchlaud⸗ 

.(1832), und H. Leo's Abhandlung über Odins Verehrung in 
Deutſchland (1822). Das umfaſſendſte Wert auf dieſem Gebiet 
war Franz Joſeph Mone's (geb. 1796 zu Mingolsheim bei 
Bruchſal, 1822 Ord. Profeffor in Heibelberg, 1827 in Löwen, 
1885 Archivdirector in Karlsruh) 1): Geſchichte des Heidenthums 
im nördlichen Europa, das in ben Jahren 1822 und 23 als fünf- 
ter und ſechster Theil von Creuzer's Symbolik und Mythologie 
der alten Völler erſchien. Mone geht von den Anſichten aus, die 
Görres und bie Brüder Grimm in ben Jahren 1807 bis 15 über 
Mythus, Sage und Märchen ausgeſprochen Hatten. Aber fo ſehr 
er ſich au vornimmt, „die Slaubensforfhung vom Einzelnen an— 
zufangen, nicht vom Allgemeinen“ und „zuerft ben Glauben eines 
Bolles grũndlich aus ſich felber aufzuftellen” 2), fo gelangt er doch 
auf der von Greuzer eingefälagenen Bahn fehr raſch zu allgemeinen 
Ergeöniffen. Er begnügt fih nicht damit, in ber Sage und im 
&pos mit ben Brüdern Grimm mythiſche Elemente anzunehmen, 
ſondern er „erflärt veligiöfe Grundgebanten als das Wefen ber 
Sage, und bieje als eine verkörperte Ueberlieferung heidniſcher Bild⸗ 
ung und Religion“ 3). „Der Begriff der Sage" war ihm, „daß 
fie veligiöfe Ueberlieferung in irdiſchem Gewande fei‘ ). So 
wurde erft die Sage zu Mythologie und die Mythologie ſelbſt wie 


1) Real·Encytlopãdie, Reipzig, Brodhaus (11) X, 329, — 2) Mone, 
Gesch. des Heidenthums im nördl. Europa I, Vorr. 8. VIL — 
3) Ebend. II, ©. 318. — 4) Ebend. II, ©. 308. 


526 Vierles Bud. Erſtes Kapitel. 


der zu einigen allgemeinen theologiſch fpeculativen Sägen verflüh- 
tigt; und Grimm konnte mit Recht von Mone, den er übrigens 
„einen redlichen und begabten Forſcher“ 1) nennt, fagen: „m 
Mone's Werl erfreut die wieder pofitiv geworbne Betradtumg; 
aber fie leidet unter dieſes Verfaſſers Eigenheit, feine Ergebniſſe, 
ſeien fie haltbar ober unhaltbar, reif oder unreif, gleich von vornen 
berein fertig abzuthun; feine nicht felten finnige, allein ſpröde 
Sombination beraubt fi dadurch aller wachſenden Beweglichleit 
und ber Leſer mag ihr nicht folgen“ 2). 

Nach diefen in Mitte liegenden Arbeiten erſchien im Jahr 
1835 die „Deutfhe Mythologie von Jacob Grimm‘ 
Wie die deutihe Grammatik, jo erlebte auch dies epochemachende 
Werk nach einigen Jahren (1844) eine neue fehr erweiterte und 
theilweije umgearbeitete Ausgabe, von ber dann wieder im J. 1854 
ein neuer Abdruck nöthig wurde). Wie verhält ſich num Grimm 
zu feinen Vorgängern, und wie verhalten fi) vor allem feine 
eigenen epodemmadenben Arbeiten aus ber reifen Periode zu ben 
verihollenen Anlöufen feiner früheren Zeit? Die Antwort ergibt 
RS in einem einzigen Wort: Zwiſchen Grimm’s früheren unytholo⸗ 
giſchen Arbeiten und feiner Deutſchen Mythologie liegt die Deutſche 
Srammatit. Die befonnene, daS Ganze orbnend durchdringende 
Sprachforſchung befreit Grimm nicht nur von ber früheren will 
Türfigen und haltlofen Etymologie, fondern fie gibt auch feiner 
Übrigen Forſchung eine nene fefte Grundlage. Grimm feldft hat 
dies Mar erkannt. „Wenn das grammatiie Studium zu nichts 
Hülfe, fpreibt er 1822 an Hoffmann, fo macht's befoamener. Mone 
mit dem beiten Willen gibt uns unverbaute, rohe Mythologit, daß 
mich ſs um bes verhungten fhönen Stoffs oft efelt“ 4). 


1) J. Grimm, Deutsche Mythol. (2) Borr. 6. XXIII. — 2) Ebend. 
(1) Borr. ©. KXIX. — 3) Einiges iſt in ber 2. umb 3. Ausgabe megge- 
blieben. So ber umfangreiche Anhang: „Aberglaube“, dem die erfe Ausgabe 
©. XXIX— CLXII hat; und flat ber umfafenden Zufhrift am Dahlmann 
bietet die 2. Ausgabe eine neue ausführliche Vorrede. — 4) In Pfeifler's 
Germania XI, 8. 382, 


Die Brüber Grimm 1819 bis 1840, 627 


Die Bezeichnung „deutih“ nimmt Grimm in feiner „deutſchen 
Mothologie“ in einem engeren Umfang als in der ,deutſchen Gram⸗ 
matif" und den „deutſchen Rechtsalterthümern.“ Während in die 
fen das Wort „deutſch“ das Skandinaviſche mitumfaßt, hat Grimm 
von feiner „deutiden Mythologie" die Darftellung ber flandinavi- 
ſchen abſichtlich ausgeſchloſſen. Nicht als wenn Grimm bie nahe 
Verwandtſchaft der ſtandinaviſchen und deutſchen Mythologie läug⸗ 
nen wollte. Es iſt im Gegentheil eine Hauptabſicht Grimm's, 
deren urſprüngliche Einheit nachzuweiſen. Wie die nordiſche Sprache 
„mit in den Kreis ber übrigen deutſchen Dialekte gezogen werben 
muß“, fo gehören auch nordiſcher und deutſcher Glaube auf das 
engfte zufammen. Diefe Zufanmmengehörigfeit gibt für die Sprache 
und die Rechtsalterthümer jetzt jedermann zu. Aber „für den heid⸗ 
niſchen Glauben, jagt Grimm, hat man eine andere Meinung ger 
faßt, weil feine Quelle in Skandinavien reichlich, in Deutihland 
ſparſam fließt. Diefe ſehr begreifliche Verſchiedenheit ift zu der 
doppelten Folgerung gemißbraut worden, um ben Urfprung ber 
nordiſchen Mythologie ftehe es verdächtig, und das übrige Deutich- 
land ſei götterlo8 geweſen.“ — „Niemals hat eine falſche Kritif 
ärger gefrevelt, indem fie wichtigen, unabwendbaren Zeugniffen 
trogte und bie naturgemäße Entwicklung nahverwandter Voller 
ſtaͤmme läugnete. Um fie aber auszurotten, habe ich wohl einge 
ſehn, daß ich nicht von einer Darftellung der nordiſchen Fülle, 
vielmehr der deutſchen Armuth ausgehend, Aehren Iefen mußte, 
feine Garben ſchneiden durfte. Erſt aus folgen Aehren und ihren 
Körnern Habe ih Nahrung zu gewinnen und Schlüffe zu ziehen 
gewagt; es ift dadurch aller Beſonderheit, wie ih hoffe, das Recht 
gewahrt worben. Denn Eigenthümlices und Abweichendes tritt 
bier nicht anders wie in der Sprache ein, und feiner habhaft zu 
werden, hat den höchſten Reiz. Größer aber als bie Abweichung 
ift die Webereintunft, und das früher befehrte, früher gelehrte 
Deutſchland kann die unſchätzbaren Aufſchlüſſe über den Zufammen- 
hang feiner Mythentrümmer dadurch dem reicheren Norden vergel⸗ 
ten, daß es ihm ältere hiſtoriſche Zeugen für die jüngere Nieder⸗ 
ſchreibung an die Hand liefert." — „Bweierlei feftzuhalten, daran 


528 Viertes Bud. Erſtes Kapitel. 


iſt es Hier gelegen: daß bie nordiſche Mythologie echt fei, folglis 
auch die deutſche, und daß bie deutſche alt ſei, folglich aud bie 
nordiſche“ 1). Auf diefe Art jet Grimm überall die ſtandinaviſche 
Mythologie voraus und greift nur da in fie Hinüber, wo es gilt, 
die weſentliche Uebereinftimmumg oder auch den durch bie Eigen 
thümlichleit der Stämme und Zeiten bebingten Unterſchied der 
deutſchen und ber ſtandinaviſchen Mythologie zu zeigen. Für die 
deutſche Mythologie wird „neben den lateiniſchen Beugniffen, die 
von ber Nömerzeit anheben und durch das ganze Mittelalter fih 
erftredfen“, von Grimm „auf Vollsfagen überall Fein Meines Ge 
wit gelegt, und lohnende Ausbeute as ihnen gewonnen." 
Ihren Werth bezeichnet das Verhältniß Heutiger Volksmundarten 
ganz genau, in welchen fi uralter Wortftoff, den die gebildete 
Sprache Längft ausgeſchieden hat, in Menge findet. Es ift wahr, 
die feineren Formen der Wörter find zu Grund gerichtet, die ger 
naueren Fugen des Mythus geiprungen, allein die Wahrheit der 
Grundbedeutung Tann ſich unverborben bewahrt haben. Befonbers 
wichtig aber, ja entſcheidend ift hier die Analogie des Abſtands 
deutſcher, däniſcher und ſchwediſcher Vollsſagen von ben älteren 
Mythen. Wandelt eine neunordiſche Ueberlieferung die Götter in 
Rieſen, fo darf fie eine deutſche zu Teufeln herunterdrücken, und 
Saro mag wiederum eine Mittelſtufe zwiſchen ſpäterer Traditlon 
bezeichnen und der Edda“ 2). In ber Verwerthung dieſer verein⸗ 
zelten und trümmerhaften Ueberlieferungen beweiſt nun Grimm 
neben der tiefſten Gelehrſamleit einen durchdringenden Scharfſinn 
und eine wahrhaft wunderbare Combinationsgabe. Und dieſe Com⸗ 
binationsgabe geht jetzt nicht mehr willkürlich in's Wilde, ſondern 
ſie iſt gezügelt durch eine nüchterne, auf feſten Geſetzen ruhende 
Sprachforſchung. So dienen ſprachliche Unterſuchungen, die mit 
der Meiſterſchaft des großen Grammatilers das ganze Gebiet der 
germaniſchen Sprachen methodiſch umfaſſen, ben meiften Abſchnitten 
zur Grundlage. In dieſer Weiſe werden erſt die allgemeineren 


1) Grimm, Deutsche Mythol. (1), Wibmung an Dahlmiann S. Vfg- 
— 1) Ein. 6. VI. 


5 


Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 529 


Beziehungen des Glaubens und des Cultus: Gott, Gottesbienft, 
Tempel, Briefter unterfucht; dann die Götter und Göttinnen des 
deutſchen Glaubens nachgewieſen; hierauf zu den Helden, weiſen 
Frauen, Wichten, Elfen und Niefen übergegangen. Es folgen 
dann einzelne Seiten des heibnifchen Glaubens: Schöpfung, Ele 
mente, Bäume und Thiere, Himmel und Geftirne, Tag und Nacht, 
Sommer und Winter, Zeit und Welt, Seelen, Tod, Schiefal und 
Heil, Berfonificationen, Ditkunft, Gefpenfter, Entrüdung, Teufel, 
Zauber, Aberglaube, Krankheiten, Kräuter und Steine, Sprüde 
und Segen. Wir geben diefe einfache Aufzählung des Inhalts, 
um ben Neichtfum des Werts vor Augen zu ftellen. Dar⸗ 
auf, „ein Syftem zu entdeden · in ber altbeutfejen Mythe, geht 
Grimm nicht aus). „Bor der Verirrung, fagt er, die fo häufig 
dem Stubium ber nordiſchen und griechiſchen Mythologie Eintrag 
gethan, ih meine die Sucht, über halbaufgebedte hiftorifhe Daten 
philoſophiſche oder aftronomifge Deutungen zu ergießen, ſchützt 
mich ſchon die Unvollftändigkeit und der Iofe Zufammenhang des 
Wettbaren. Ich gehe darauf aus, getreu umd einfach zu ſammeln, 
was bie frühe Verwilderung ber Völker felft, dann ber Hohn 
und die Schen der Chriften von dem Heidenthum übrig gelafien 
haben, und wünſche nichts, als daß meine Arbeit für einen Anfang 
weiterer Forſchungen in dieſem Sinn gelten könne“ 2). 

Wir wifjen recht wohl, daß Grimm auch hier in feinen Com⸗ 
binationen bisweilen zu kühn geweſen ift, daß er mande feiner 
Quelfen verfannt hat, daß er Bin und wieder für urſprünglich 
dentſch nimmt, was eine fpätere Unterfuchung als aus ber Fremde 
eingeführt erwieſen hat, daß ihm die tiefere Kenntniß des indiſchen 
Alterthums noch abgieng, wie fie in der Folgezeit durch das Stu⸗ 
dium der Vedas eröffnet worben ift. Aber das Alles kann den 
unfägbaren Werth feines bahnbrechenden Werts nit herunter 
drüden. Denn wer wird Forderungen an ein Wert ftellen, die 
zu feiner Zeit nod gar nicht zu erfüllen waren? Wir müffen 
dasſelbe an ber Stelle betrachten, die e8 in ber Entwicklung ber 


1) &bend. S. XXV. — 2) Grimm, Dentsche Mythol. (1), 8. 9 
Raumer, Geh. der germ. Phllologle. 3 


530 Biertes Bud. Erſtee Kapitel. 


Wiſſenſchaft einnimmt, und ba fteht-e8 vor uns riefengroß Allem 
gegenüber, was bis bahin über deutſche Diythologie gejchrieben 
worden war: eine wahrhaft neue Schöpfung. In einer Beziehung 
aber wird es für immer eins ber großartigften Erzeugniffe der 
deutſchen Wiſſenſchaft bleißen, nämlich durch bie tief poetiſche 
Geiſtesverwandtſchaft des Verfaſſers mit feinem Gegenftande. 

In Grimm's deutſcher Mythologie teitt der heidniſche Glaube 
unferer Borfahren zum erftenmal wieder fo vor unfer Auge, wie 
ee wirflid war, und dadurch wird dem bisherigen unflaren Hin- 
und Herreden für immer ein Ende gemacht. Wir fehen, daß der 
deutſche Glaube ein dem altnordiſchen verfchwifterter, wenn auch 
eigenthünlich entwidelter Bolytheismus war. Durch die Einführ- 
ung des Chriſtenthums wurde feine Entwidlung früh unterbroden, 
und die deutſche Weyehologie „hat deshalb nicht geleiftet, was fie 
Hätte leiften können. Auch Sprache und Poeſie waren empfinblid 
geftört umd gehindert, allein fie dauerten und konnten neuen Trieb 
gewinnen; ber heidniſche Glaube blieb in der Wurzel abgeſchnitten 
feine Ueberbleibſel durften fig nur in andrer Geftalt verftoßlen 
bergen. Roh und rauh muß er erfdeinen, doch das Rohe Bat 
feine Einfachheit, das Mauhe feine Treuherzigkeit. In unſrer heid- 
niſchen Mythologie treten Vorftellungen, deren das menfhlihe 
Herz hauptſaͤchlich bedarf, am denen es ſich aufrecht erhält, ftart 
und vein hervor“ !). Aber bei aller Wärme, mit der Grimm den 
heiduiſchen Glauben der germaniſchen Völler darſtellt, ift er doch 
durchaus nicht blind gegen die unermeßlichen Vorzüge des Epriften- 
thums. „Bielgötterei, fagt er, ift, bedünkt mic, faft überall in be 
wußtloſer Unſchuld entiprungen, fie Hat etwas Weiches, dem Gemäth 
Zuſagendes; fie wird aber, wo der Geift fich fanmelt, zum Mono⸗ 
theisnus, von welgem fie ausgieng, zurüdfchren“ 2), „Wir 
dürfen annehmen, wenn ſchon das Heidenthum noch eine Zeit lang 
lebendig hätte wuchern, gewiſſe Eigenthümlichteiten der Völler, die 
ihm ergeben waren, ſchärfer uud ungeftörter ausprägen können 
daß doch ein Keim bes Verderbens und der Verwirrung in ihn 


1) Deutsche Mythol. (2) Vorr. 8. XLI. — 2) Ebend. &. XLV. 


Die Brüber Grimm 1819 bie 1840. 581 


ſelbſt lag, welder es ohne Dazwiſchentritt ber chriſilichen Lehre 
xtrũttet und aufgeliſt haben würde. Ich vergleiche das Heiden- 
thum einer ſeltſamen Pflanze, deren farbige, duftende Blüthe wir 
mit Verwunderung betrachten, das Chriſtenthum der weite Strecken 
einnehmenden Ausſaat des nährenden Getraides. Auch den Heiden 
feimte der wahre Gott, der ben Chriſten zur Frucht erwuchs“ 1). 
„Der Sieg des Chriftentfums war ber einer milden, einfachen, 
geiftigen Lehre über das ſinnliche, grauſame, verwildernde Heiden- 
thum 2), 

4. 3. Grimme Reinhart Fuchs und Übrige Arbeiten von 1819 

bis 1840, 


Wir haben die drei großen Hauptwerle J. Grimm’s: die 
Grammatik, die Rechtsalterthümer und die Mythologie, Hinter ein« 
ander beſprochen. Zwiſchen die Rechtsalterthümer und die Mytho- 
logie fällt aber ber Zeit nad; nod ein anderes wichtiges Wert 
I. Grimm’s, fein Reinhart Fuchs (1834). Außer ber erften 
Beröffentlihung des lateiniſchen Isengrimus (aus dem Anfang 
des 12. Jahrhunderts) gibt Grimm bier den mittelhochdeutſchen 
Reinhart in einem befjeren Tert, als dem im der Ausgabe bes 
Roloczaer Coder (1817), und den mittelniederländiſchen Reinsert 
in einem befjern, als dem Gräter’s (1812), und überdies eine An- 
zahl kleinerer der Thierfage angehöriger Stüde. Das Wichtigſte 
aber find die vorausgeſchidten umfafjenden Abhandlungen über das 
deutſche Thierepos. Durch eine eindringende Unterfuhung der la⸗ 
teiniſchen, altfranzöfiichen, mittelhochdeutſchen, mittelniederländifchen 
und niederdeutſchen Dichtungen vom Fuchs Reinhart gelangt Grimm 
zu dem Ergebniß, daß die Erzählungen vom Fuchs Reinhart (d. i. 
Raginhard, Rathskundiger) von uralt germaniihem Urſprung 
find, daß fie mit den Franken in das nördliche Gallien eingezogen 
und dort mündlich fortgepflanzt worden find, bis fie im 12., 13. 
und 14. Jahrhundert ſich in eine reihe Fülle altfranzöfiicher Dichtun ⸗ 
gen ergoffen. Aus den franzöfiichen Dichtungen ftammen dann wieder 





1) Deutsche Mythol. (2) &. 6. — 2) Ebend. ©. 4. 
Pr 


582 . Viertes Bud. Erſtes Kapitel. 


bie mittelhodcheutſchen und mittelniederländifchen und aus letzteren der 
niederdeutſche Reineke Vos. Aus derjelden epiſchen Ueberlieferung Haben 
die Iateinifchen Dichtungen Isengrimus am Anfang und Reinardus 
um die Mitte des 12. Jahrhunderts geſchöpft. So bilden ber Fuchs, 
der Wolf und ihre Genofjen die Träger eines Thierepos, das ähn: 
lich wie die epiſche Heldendichtung von Jahrhundert "zu Jahrhun⸗ 
dert fortgepflanzt die mannigfaltigſten, Geſtalten annimmt und tief 
im Geiſt des germaniſchen Volles wurzelt. Hier ſchließt ſich die 
Thierdichtung einerſeits der Sprache an, wie ſie Grimm in der 
Grammatik darlegt, andrerſeits bereitet fie den Uebergang zur My: 
thologie vor. „Die Poefie, nicht zufrieden, Schidjale, Handlungen 
und Gedanken der Menſchen zu umfaffen, hat au das verborgene 
Leben der Thiere bewältigen und unter ihre Einflüffe und Gejeke 
bringen wollen. Erſten Anlaß hierzu entdeden wir fon im der 
ganzen Natur der für fich ſelbſt betrachtet auf einer poetiſchen 
Grundanſchauung beruhenden Sprade. Indem fie nicht umhin 
Tann, allen lebendigen, ja ımbelebten Weſen ein Genus anzueignen 
und eine ftärfer oder leifer daraus entfaltete Perſönlichkeit einzu 
räumen, muß fie diefelde am deutlichſten bei den Thieren vorherricen 
laſſen, welche nit an den Boden gebannt, neben voller Freiheit der 
Bewegung, bie Gewalt der Stimme haben und zur Seite des 
Menſchen als mitthätige Geihöpfe in dem Stillleben einer gleich 
ſam leidenden Pflanzenwelt auftreten. Damit ſcheint der Urſprung 
faft die Nothwendigleit der Thierfabel gegeben“ 1). In ber finnig: 
ften Weife verſenkt fih dann Grimm in die mannigfaltigen Be 
ziehungen, welde den Menſchen mit den Thieren verbinden. „Tie 
früheren Zuftände menſchlicher Geſellſchaft Hatten aber dies Band 
fefter gewunden. Alles athmete noch ein viel frifcheres ſinnliches 
Naturgefühl” 2). „Mir ift, als empfände ich noch germaniſchen 
Waldgeruh in dem Grund und der Anlage diefer Lange Jahrhun⸗ 
derte fortgetragenen Sagen“ °). Selbſtverſtändlich verwarf Grimm 
die Entſtehung der Reinhartdichtungen aus einer ſatiriſchen Ber 


1) Reinhart Fuchs, Von Jacob Grimm, 1834, 8. I. — 2) Ent. 
©. 2. — 3) Ebend. S. COXCIV. 


Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 583 


Meibung hiſtoriſcher Perſönlichkeiten, wie fie no vor Kurzem Mone 
in feiner Ausgabe bes Reinardus (1832) wieder durchzuführen ge- 
ſucht Hatte !). Doch ftellte er nicht in Abrede, daß einzelne ſatiriſche 
Anfpielungen auf beftimmte Perfonen fi in das Thierepos, dem 
fie urſprünglich fremd waren, eingeſchlichen Haben 2). "Den Zuſam⸗ 
menhang der germanifhen Thierfage mit ben Thierdichtungen an- 
derer Völfer läugnet Grimm nicht. Aber er führt ihn, in fo weit 
er wirflih das Weſen der Sage berührt, auf Urverwandtſchaft 
zurück ). Die Sage vom Fuchs umd vom Wolf „hat ihr eigen⸗ 
thümlich deutſches Recht, das ihr nicht verfümmert werben foll, 
noch durch eine auffallende, Berührung mit ber Fabelweisheit des 
Orients Schmälerung erleiden kann.“ Doch ftellt Grimm nidt in 
Abrede, „daß einzelne andere Fabeln in der That für uns morgen« 
landiſchen Urfprung haben“ +). Ebenſo ift es befannt, daß im 
auf des 18. und 14. Jahrhunderts die Fabeln, bie fih um ben 
Namen Aeſop's gruppieren, in bie germaniſchen Sprachen über» 
gingen. „Wie zu erwarten fteht, unter diefen Fabeln find meh- 
tere aus bem Kreis bes Fuchſes und Wolfs, und einige noch an 
die einheimiſche Dichtung grängende; fie Haben ſich aber faft alle 
von ihr geſchieden gehalten und fo wenig damit vermengt, wie bie 
ängeführten Sagen von Alerander, Troja und Aeneas mit der 
nibelungiſchen ober kerlingiſchen Heldenfage* 5). 

Sechs Jahre nah feinem Erſcheinen erhielt Grimm’s Rein⸗ 
hart Fuchs nod einen wichtigen Nachtrag. Grimm hatte nämlich 
die mittelhochdeutſche Dichtung, die dem 12. Jahrhundert angehört, 
nur in einer Ueberarbeitung bes 13. herausgeben können; ber ur⸗ 
ſprũngliche Tert ſchien verloren. Da fanden fih im %. 1839 als 
Umſchläge von Rechnungsbüchern in Kurheffen Blätter einer Hand- 
ſchrift aus dem Ende des 12. Jahrhunderts, welche Bruchftüde des 
unüberarbeiteten Reinhart enthielten. Hoch erfreut gab fie Grimm 
mit einigen weiteren Zuthaten heraus (1840) in einem Sendſchrei⸗ 


1) Ebend. ©. CCLIE fg. — 2) Ebend. ©. CCLVI fg. — 3) Ebend. 
©. CCLXVI fg. COLXIX. COLXXIK. — 4) Ebend. ©. CCLXXXI. — 
5) Cbend. ©. CCLXXI. 


534 Viertes Bud. Erftes Kapitel. 


ben an Lachmann, dem er aud feinen Meinhart Fuchs gewid⸗ 
met hatte. 

Die wahrhaft ftaunenerregende Thätigkeit J. Grimm's wäh- 
rend jener Jahre feiner höchſten Kraft fand neben ben bisher be 
ſprochenen großen Arbeiten noch Zeit, unferen Quellenporrath durch 
Herausgabe verfdiedener alter Denkmäler zu bereichern. m 
3. 1880 veröffentlichte er aus ber Abſchrift des Franciscus Junins 
die dem 9. Jahrhundert angehörende althochdeutſche Ueberſetung 
von 26 lateinischen Kirchenhymnen. Im J. 1888 gab er im Verein 
mit Schmeller „Lateiniſche Gedichte des X. und XE Jahrhunderts” 
heraus, worin außer dem XTert des Waltharius und einiger fleis 
neren Stüde die reichhaltige Borrede und bie Einleitung zum Wal ⸗ 
tharius von Grimm herrühren. Gndlih im J. 1840 veröffentlichte 
Grimm zwei der älteften angelſächſiſchen Gedichte: Andreas und 
Elene, wiederum wit einer wertvollen Einleitung und mannig ⸗ 
fachen Erläutermgen. Zugleih befprah Grimm fortlaufend die 
bebeutendften Erſcheinungen auf dem Gebiet feiner Wiſſenſchaft in 
den Göttingifchen gelehrten Anzeigen und anderen Zeitſchriſten '). 
Unter den vielen und zum Theil fehr eingehenden Mecenfionen, die 
Grimm in diefem Zeitraum ſchrieb, will id nur die ſchöne und 
veihhaltige Anzeige über Berthold's Predigten (1825) 2) hervorhe⸗ 
ben. Nebenbei aber griff er auch über den Bereich der germani- 
fen Sprachen hinaus, indem er ſich eingehend mit dem Serbiſchen 
beſchäftigte, angeregt durch die Veröffentlihungen von Wuk Ste 
phanowitſch, deſſen ſerbiſche Grammatif er (1824) in's Deutihe 
überjegte und mit einer Vorrede begleitete. 


Wilhelm Grimm's Arbeiten von 1819 bis 1840. Berſchieden 
heit Jacob Grimm’s und Wilhelm Grimm'e. 


Schon in einem früheren Abſchnitt Haben wir gefehen, wie J. 
und W. Grimm trog aller Gemeinſamkeit doch wieder in mander 





1) @ejammelt in: Becensionen und vermischte Aufsätze von Jac. 
Grimm, Erster Thl. Berl. 1869. — 2) Wiener Jahrbucher Bo. 32. (Jr 
der eben angeführten Sammlung 6. 296 fg.). 


Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 585 


Hinficht ſehr verſchieden geartet waren. Diefe Verſchiedenheit mußte 
natürlich immer ſchärfer hervortreten, je mehr bie Brüder ſich zu 
voller Reife entwidelten. J. Grimm war eine durchaus urfprüng« 
fihe Natur, voll Kraft und Leben, immer bereit, in die Tiefe des 
Gegenftands hinabzutauchen. Im Gefühl unerſchöpflicher geiftiger 
Mittel wagt er ſich an die ſchwierigſten und großartigfien Aufgaben: 
die Erforſchung des gefammten deutſchen Sprahbaus, des altdeut⸗ 
fen Rechts und des altdeutſchen Glaubens. Aber er arbeitet im 
Bunde mit dem Geifte, aus dem fein Gegenftand hervorgegangen 
iſt. Es ift etwas in ihm von derſelben Kraft, die Sprade, Recht 
und Mythus geſchaffen Hat. Mag ihm daher auch manches allzu 
Hüßne Wagniß im Einzelnen mißglüden, im Großen und Ganzen 
bricht er ſich die richtige Bahn. Ganz anders Wilhelm Grimm. 
Von der genialen Kraft Jacob's befigt er nur ein geringeres Maß. 
Aber mit feinem Geift baut: er fih im engeren Kreiſe an. „Seine, 
ganze Art war weniger geftellt auf erfinden als auf ruhiges, 
fiheres in fi Ausbilden* '). Was er dann auf dieſe Weife er- 
greift, das behandelt er mit einer Gründlichkeit und Sauberfeit, 
die feine Arbeiten als wahre Mufter ihrer Gattung erſcheinen laſſen. 
Schon im Stil kündigt ſich diefe Verſchiedenheit der Brüder an. 
Jacob's Sprache ift bisweilen rauh, bisweilen eigenmädtig ab- 
weichend vom hergebracht Gültigen, aber fie ift durch und durch 
urfprünglih und eben deswegen von unnachahmlicher Friſche. Sinn⸗ 
ih) belebt in jedem Ausbrud trifft fie ohne viele Umſchweiſe den 
Nagel auf den Kopf. Dagegen ſchreibt Wilhelm mehr den vein- 
lien, einfach maßvollen Stil, wie ihn Savigny im Anſchluß an 
Goethe in die Wiſſenſchaft eingeführt hat. Diefer verſchiedenen Ra- 
tur Wilhelm Grimm’s entſpricht die Art feiner Arbeiten. Es find 
teils Unterfuhungen auf einem, mit den Leiftungen Jacob's ver- 
glichen, engeren Gebiet, tHeils find es Ausgaben mittelhochdeutſcher 
Dichtungen. Der erfteren Gattung gehört daS bedeutendfte Wert 
W. Grimm’s an, feine im %. 1829 erfdienene Deutſche Helden- 





1) I. Grium’s Rebe auf Grimm, in J. Grimm's Kleineren Schriften 
1, 172 


‚ 


686 Vieries Bud. Erftes Kapitel. 


ſage. Sie iſt die reife Entwiclung ber verwandten Arbeiten, bie 
wir in dem erſten Abſchnitt über bie Brüder Grimm erwähnt ha⸗ 
ben ). Inzwiſchen war (1816) Lachmann's Schrift „über bie ur- 
ſprüngliche Geftalt bes Gedichts von ber Nibelungen Noth“ er 
ſchienen. W. Grimm hatte fie (1817) 2) öffentlich beurtheilt, und 
daran hatte fi) (1820 fg.) ein eindringender Briefwechſel der bei⸗ 
den großen Kenner unfrer Heldendichtung gehüpft, worin fie fih 
fomohl über die Verſchiedenheiten, als das Uebereinftimmende ihrer 
Anfihten in's Klare zu fegen fuchen ®). Die veifite Frucht feiner 
Forſchung: Die deutſche Heldenfage hat dan W. Grimm (1829) 
Lachmann zugeeignet. Die in den altdeutſchen Wäldern begonnene 
Bufammenftellung der Beugniffe für die deutſche Helbenjage erſcheint 
hier fehr bereichert und erweitert. Letzteres befonders dadurch, dab 
bier nicht mehr bloß die äußeren, fondern auch die inneren Zeug 
niffe über die deutſche Heldenfage gefammelt werden, das heißt, die 
Ausfagen, melde die Diätungen bes Fabelkreiſes felbft über ihre 
Quellen enthalten. Die ſämmtlichen Zeugnifje find Hier in drei 
Perioden geſchieden und mit nur wenigen abfihtligen Ausnahmen 
chronologiſch geordnet‘). Auf dieſe Weife tritt uns ber Vortheil 
seht Mar vor Augen, ben die Unterfuhung bes Epos und ber 
Sage bei den Deutſchen vor den übrigen Völfern voraus bat, daß 
wir nämlich „die Veränderungen der Sage in Dentmälern beob- 
achten können, welde von ben erften Spuren bis zu dem völligen 
Verſchwinden den Raum von etwa taufend Jahren einnehmen“ ®). 
„Für uns, fügt W. Grimm harakteriftifch hinzu, liegt die Mahn 
ung darin, innerhalb diefer Gränze und vorerft ohne Rücſicht auf 
andere Völker, die Nefultate zu ſuchen, welche ſich aus Betrachtung 
eines fo glüdlichen Verhältnifjes ergeben müſſen.“ Auf die chrono⸗ 
logiſche Zuſammenſtellung und Erörterung ber einzelnen Zeugniſſe 


1) &. 0. ©. 483. — 2) In der Leipz. Lit. Zeitg 1817, Nr. 94. 95. 
— 3) In ber Zeitschr. für deutsche Philol. von Höpfner u. Zacher, Il, 
8. 193 fg. (1869) und 8.843 fg. (1870) if dieſer hochſt intereffante Brief 
wechfel gebrudt erjchienen. — 4) W. Grimm, Deutſche Heldenjage 1829, 
Bor. S. V. — 5) Ebenb. ©. 386, 


Die Brüber Grimm 1819 bie 1840. 537 


lt W. Grimm eime eingehende Abhandlung über Urfprung und 
Fortbildung der Sage ımb bes Epos folgen. Durch die gründ- 
fihfte und gemifjenhaftefte Bergliederung der einzelnen Dichtungen 
wird Schritt für Schrift die Umbildung nachgewieſen, welche bie 
Sage im Lauf der Zeit erfahren Kat. Wir fehen, wie durch die 
Beränderumg ber Sitte und Lebensanfhauung,. durch Fallenlaſſen 
alter Beziehungen und Einflechtung von neuen, durch Verknüpfung 
von Sagen, die früherhin ohne Verbindung waren, eine durch⸗ 
greifende Umgeftaltung ber Sage ftattgefunden hat. Das Alles 
aber geſchieht ohne die Abſicht, Neues erdichten zu wollen, in der 
„nicht bloß in der früheften Zeit, fondern noch bei ben gebilbetften 
Dichtern des Mittelalters herrihenden Ueberzeugung von der voll» 
Iommenen Wahrheit der Ueberlieferung” 1). Bei ber Yortpflanzung 
und Ausbildung der epifen Dichtung haben wir bie Ueberliefer- 
ung durch den Mund der Sänger und die ſchriftliche Aufzeichnung 
zu umterfcheiden. In ber älteren Zeit kann nur von mündlicher 
Ueberlieferung die Mebe fein. Das „Singen nnd Sagen“ ber 
Dieter war früßerhin nicht unterfhieden, „die Begriffe von Ges 
fang und Rede lagen ſich vielmehr fo nah, daß häufig einer ben 
andern erſetzte; das zeigt das nordiſche qveda, das beides heißt, 
fingen ımd fagen“ 2). Durch forgfältige Sammlung und Prüfung 
der Zeugniffe über die münblie Ueberlieferung und bie jhriftliche 
Aufzeihnung kommt W. Grimm zu dem Ergebniß: „Während die 
auf Feine Schrift ſich ftügenden Sänger, wie man der Natur der 
Sache nad) glauben darf, Türzere Lieber fangen, etwa von dem 
Umfange der ebbifchen, deren Stoff fie nach Wohlgefallen ausmähl- 
ten und begränzten, und welde daher, in beftändiger, lebendiger 
Fortbildung Begriffen, von ſelbſt in einem cylliſchen Kreis ftanden, 
machte die Schrift, welche überhaupt die epiſche Ausführlichteit be» 
günftigte, größere Compofitionen, Zufäge, Ueberarbeitungen, eigen- 
mächtige Verknüpfungen, und dergleichen nicht ganz unſchuldige 
Einwirkungen, ſelbſt die Anwendung einiger Gelehrſamkeit mög⸗ 
A“). „Ruhend und in eine fefte Form gebunden, bürfen mir 


1) &benb. ©. 397. — 2) Ebend, ©. 374. — 3) Ebend. ©. 379. 


588 Viertes Buch. Erſies Kapitef. 


uns das Epos zu feiner Zeit denken. Vielmehr herrſcht in ihm 
der Trieb zur Bewegung und Umgeftaltung, ja ohne ihn würde es 
abfterben, wenigftens die Kraft lebendiger Einwirkung verlieren“ '). 
Was die Frage betrifft, ob der Urfprumg der Sage mythiſch oder 
hiſtoriſch fei, fo erflärt ſich W. Grimm gegen Beides. Er be 
trachtet es „als ausgemacht, daß bie geſchichtlichen Beziehungen, 
welche die Sage jetzt zeigt, erſt ſpäter eingetreten ſind, mithin die 
Behauptung, daß jene Ereigniffe die Grundlage geliefert, aller 
Stügen beraubt ift” 2). Ebenſo aber verwirft W: Grimm auch 
die Borftellung eines mythiſchen Urſprungs, wonach „bie Helden, 
welde die Dichtung in geſchichtlichem Scheine auftreten läßt, früher 
bin Götter waren, verkörperte, ſinnbildlich aufgefaßte Ideen über 
Erſchaffung und Fortdauer der Welt“ 3). Dieſe Anfiht „muß zu 
unerweisbaren Borausfegungen ihre Zuflucht nehmen“ 3). Grimm 
bat „Iein Beifpiel von der Umwandlung eines Gottes in einen 
bloßen Menſchen gefunden“ +). Der Glaube an überirdiſche Dinge 
wird immer ein weientlihes Clement des Epos bilden. „Keinem 
Gedichte, wenn es wahrhaft bejeelt ift, fehlt innere Bedeutung oder 
eine fittlihe Erkenntniß. — Aber nichts berechtigt uns bis jegt zu 
der Bermuthung, daß die deutſche Heldenfage aus Erforſchung 
göttliher Dinge oder aus einer philofophiihen Betrachtung über 
die Geheimmifje der Natur hervorgegangen fei und in einem fin 
bildlichen Ausdrud derfelden ihren eriten Anlaß gefunden habe. Sie 
feloft Hat, fo weit wir zurüdhliden können, ſich allezeit neben ver 
Geſchichte ihren Play angewieſen“ 5). Neben den Liedern von dem 
Gott Thuifto (Tac. Germ. 2) beftanden Helbenlieber, dergleichen 
jene waren, welche die Thaten des Arminius feierten (Ann. I, 88). 
Jedenfalls Hat man vor ber Entſcheidung jener allgemeinen Fragen 
zuvörderſt die genaufte Unterfuhung des gegebenen Sagenſtoffs 
vorzunehmen, um Altes und fpäter Hinzugefügtes zu unterjqhei ⸗ 
den). „Ich entfage gern dem Vortheil, fo beginnt W. Grimm 
feine Unterfuchungen, eine vorausgewählte Anfiht in die Mitte zu 


1) Ebend. ©. 396. — 2) Eben. S. 397. — 3) Ebend. S. 38. — 
4) &benb. ©. 898. — 5) Ebend. 399. — 6) Ebend. ©. 398, 


Die Brüber Grimm 1819 bis 1340. 539 


fteflen, ober mit dem glänzenden Schwerte eines ſinnreichen Ein- 
fol auf den Knoten loszuhauen. Ich theile hier eine Reihe von 
Beobachtungen mit, die aus Betrachtung der Denkmäler ſelbſt her- 
vorgegangen find und bie mir tauglich fcheinen, Aufklärung über das 
Weſen der Sage zu geben. Auf diefem Wege follen wir, glaube 
id, dem noch unerforſchten Ziele näher rüden, und dieſer Verſuch 
wird verdienftlic fein, wenn er nur von der Richtigkeit des Weges 
überzeugt“ '). — Neben dieſer Hauptarbeit, die ſich durch fein gan- 
38 Leben Kindurchzieht, fand W. Grimm in den Jahren 1819 His 
1840 noch Zeit zu einer Reihe anderer bebeutender Leiftungen. In 
feinen Unterfuhungen „Ueber deutſche Runen“ (1821) wies er die 
Verwandtſchaft und das Verhältniß des norbifchen, deutſchen und 
angelſächſiſchen Runenalphabets nad. Eine reichhaltige Fortſetzung 
diefer Forſchungen veröffentlichte er 1828 in den Wiener Jahr⸗ 
büchern ber Literatur 2). Seine hauptſächlichſte Thatigkeit aber 
wenbete er der kritiſchen Herausgabe mittelhochdeutſcher Dichtungen 
zu Wie auf dem Gebiet der Sagenforfhung, fo berührte er fi 
auch Hier insbeſondere mit Lachmann's epochemachenden Leiftungen. 
In feiner Ausgabe von Ruolandes liet (1838) gibt er außer dem 
forgfältig behandelten Text eine eindringende Unterfuchung über die 
altfranzöſiſche Sage von Roland und feinen Genofjen und über das 
Berhältniß der diefer Sage angehörenden Dichtungen. Vridankes 
bescheidenheit (1834) erhält durch die Fritifche Abwägung ber oft 
weit angeinanbergehenden Handſchriften eine neue Geftalt, nnd die 
ausführliche Einleitäing gibt biefem trefflihen alten Spruchgedicht 
feine Stellung in ber Geſchichte des Sprichwortes. Auf die am 
Schluſſe ausgeſprochene Vermuthung, Hreidank ſei Walther von ber 
Bogelweide, kommen wir fpäter zurüd. Hier erwähnen wir noch 
W. Grimm’s trefjlihe Ausgaben des Nofengarten (1836) und des 
Grave Ruodolf (1828) 3), fo wie fein forgfältiges Facfimile bes 
Hildebrandslieds (1830). 

1) &bend. ©. 337. Cine „zweite vermehrte und verbefferte Ausgabe“ 


von ®. Grimm’s Heldenfage Seforgte 1867 K. Müllenhoff. — 2) Auch ein: 
zeln erfgienen. — 3) Zweite erweiterte Ausgabe 1844. 


0 Biertes Buß. Zweites Kapitel. 


Zweites Kapitel. 
Die mitforſcher der Brüder Grimm. 


Mit dem Erſcheinen von Grimm's Grammatit (1819) beginnt 
ein neuer Zeitraum in der Geſchichte der germanifchen Philologie. 
In diefem Wert finden bie ausgezeichneten Forſcher, bie fih ſelb⸗ 
ftändig neben Grimm herangebilbet haben, eine ſichere Grunblage 
für ihre Beftrebungen. Bor allen ift e8 Lachmann, der Grimm freus 
dig die Hand bietet, und neben ihm Benece, Scheller, Uhland, 
jeder in feiner eigenthümlichen Weiſe für die Forſchung thätig und 
doch alle innig verbunden für ven Einen großen Zwei. Im An 
ſchluß an diefe bahnbrechenden Forſcher aber tritt nun bald auf 
eine Schaar reich begabter jüngerer Mitarbeiter hervor, fo daß das 
weite Gebiet der germaniſchen Philogie im Laufe weniger Jahr 
zehnde einen veiheren Anbau findet, als in ben bisher verfloffenen 
Jahrhunderten. 


1. Aatl Ladmann (18191851). 6.5. Benehe (18191844). 


Seit 1818 außerordentlicher Profefjor an der Univerfität Kö 
nigsberg vertrat Lachmann neben Lobec die klaſſiſche Bhilogie, zu 
gleich aber hielt er Vorleſungen über altdeutſche Grammatik und 
mittelhochdeutſche Dichter. Obwohl bereits einer der erften Kenner 
des Alt- und Mittelhochdeutſchen widmete Lachmann während jener 
Jahre (1818— 24) diefen Sprachen ein fortgefetes umermübliches 
Studium. Alles Gebrudte und was er von handſchriftlichem Ma 
terial erreichen Konnte, unterzog er nad) allen Seiten Hin einer im 
mer erneuten Durcarbeitung. Für den Sommer 1824 nahm « 
Urlaub, um bie Bibliotheken Mittel- und Sübbeutiglands für fein 
Bwede auszubeuten. Er gieng zunächſt nad Berlin, von da nad 
Wolfenbüttel, Kaffel, wo er die Brüder Grimm aufſuchte, Min 
den und St. Gallen. Ein reicher Schatz von Abſchriften und Ber 
aleichungen war die Frucht diefer Reife). Am 27. Febr. 1825 


1) ®gl. Iwein (2) 8. 860. 





Die Mitforfger der Brüber Grimm. 541 


wurde Lachmann zum außerordentlichen, am 27. Juni 1827 zum 
ordentligen Profeſſor für das Fach der klaſſiſchen und der deutſchen 
Philologie an der Umiverfität Berlin ernannt. Mit größter Ge 
wiffenhaftigfeit ift er hier feinem Lehrberuf nach deſſen beiden 
Seiten hin bis an fein Lebensende nachgekommen, und obwohl feine 
ganze Art nit auf den Beifall großer Zuhörermaſſen berechnet 
war, hat er doc durch die ſtreng wiſſenſchaftliche Behandlung feines 
Gegenftandes und bie Heranbilbung treffliher Schüler als Univer⸗ 
fitätslehrer kaum weniger gewirkt, wie als Schriftſteller. Gegen 
Ende des Januar 1851 wurde Lachmann von heftigen Schmerzen 
im linfen Zußgelent befallen. Es jentwidelte fi eine gefährliche 
Entzündung. Der Fuß mußte abgenommen werden. Lachmann 
ertrug Alles mit ruhiger Ergebung. Aber es war feine Rettung 
mehr. Am 13. März 1851 endete dies reiche, arbeitsvolle Leben 1). 

Lachmann's wiſſenſchaftliche Thätigleit erftredt ſich über weite 
Gebiete, von denen nur ein Theil in unſeren Bereich fällt. Die 
antik klaſſiſche Philologie verdankt ihm nicht weniger, als die ger⸗ 
maniſche, und von jener aus hat er feine Bemühungen auch auf 
den Grundtert bes Neuen Teftaments und die Bearbeitung römi- 
ſcher Rechtsquellen ausgebreitet. - Aber cr war weit entfernt von 
der planlofen Zeriplitterung des bloßen Polyhiſtors. Vielmehr 
wurden alfe feine Arbeiten zufammengehalten durch das Band ber 
kritifchen Methode, beven einzelne Anmwendungen fie nur bildeten. 
Der unterfeidende Grundzug von Lachmann's Textkritik war bie 
ſtreng hiſtoriſche Sichtung der handſchriftlichen Quellen, aus benen 
wir unferen Text jhöpfen. Der Kritiker hat das Verhältniß der 
Handſchriften genau zu unterſuchen, und indem er fo ber Entftefung 
des Ueberlieferten rückwärts nachgeht, gewinnt er „auf dem Wege 
hiſtoriſch⸗methodiſcher Forſchung den älteften und bezeugteſten Text, 
der fi durch die Ueberlieferung erreichen läßt“ 2). Doc} ift dieſer 
Text noch keineswegs der wahre. Vielmehr Hat da, wo bie Ueber⸗ 
lieferung irrt, die Emendation einzutreten. Aber nur nad) gewifjen- 


1) ®gl. Karl Lachmann. Eine Biographie von Martin Hertz. 
Berlin 1851. — 2) Hertz, Lachmann, 8. 194. 


542 Viertes Buch. Zweites Kapitel. 


baftefter Unterſuchung der Weberlieferung findet die Emendation 
ihre Stelle. Diefe Grundfäge der Textkritit wendete Lachmann 
gleichmäßig auf die klaſſiſche, wie auf die germaniſche Philologie 
-an, und gerade auf biefe Verbindung der llaſſiſchen und der ger- 
maniſchen Philologie gründet ſich die epochemachende Stellung, bie 
Luhmann in der Entwidlung der germanifhen Philologie ein- 
nimmt. Aber Lachmann war nicht bloß der Mitfhöpfer ber rich⸗ 
tigen Methode auf dem Gebiet der philologifhen Kritik, fondern er 
war aud in eminentem Maß mit all ben Gaben ausgeräftet, die 
zu einer glüdlichen praftifden Anwendung jener Methode erfordert 
werden. Erinnern wir uns nun, wie grundlich vachmann's Kennt 
niffe im Altveutfhen ſchon am Begim umfrer Periode (1819) 
waren und mit welcher Strenge gegen ſich felbft er nichtsdeftoweni ⸗ 
ger zu lernen fortfuhr, fo können wir uns denken, mit welder 
Ueberlegenheit er den bloßen Dilettanten auf bem Gebiet bes Alt- 
deutſchen gegenüberftand. Das Bewußtfein dieſer Weberlegenheit 
fpricht ſich bei Lahımann in einer allerdings ſchroffen Weiſe aus, 
aber es ift nicht feine Perfon, bie er dabei im Auge hat, fonbern 
das Junutereſſe der Sade, die Gründung einer neuen Wiſſenſchaft. 
Als er im J. 1820 feine Auswahl ans den Hochdeutſchen Dichtern 
des dreigehnten Jahrhunderts herausgab, zog er die ſcharfe Gränze 
zwiſchen unberufener Pfuſcherei und redlicher Forſchung. „Bollen 
Unmwiſſende lehren“, jagt er in der Widmung an Benede '), „bie, 
von michtiger Luſt angereizt, arbeitfheuen Liebhabereifer und wohl⸗ 
gemeinte, aber eitele und erfolglofe Betriebſamkeit fi als Verdienſt 
anrechnen: die Verachtung ihrer Schüler ftürze fie, die jeto leicht 
zu durchſchauen find, von dem Stuhle des Hochmuths. Wir haben 
Urſach genug, endlih durch unverbroffene tüchtige Arbeit bie fo 
lange und nicht mit Unrecht verweigerte Achtung ber Zeitgenofien 
uns zu verdienen." Daß diefe Strenge nöthig und Heilfam war, 
das erkennt man leicht, wenn man fieht, welche Dinge damals 
mod, und felbft Jahre lang nad dem Erſcheinen ber Grimmſchen 
1) Auswahl aus den Hochdeutſchen Dichtern des breigeßnten Jehrhun- 
berts von K. Lachmann. Berlin 1820, ©. XXL 


Die Mitforfher ber Brüder Grimm. 543 


Grammatik, von viel genannten Männern zu Markte gebracht wur 
den ). Doc wollen wir felbftverftändlic mit diefer Rechtfertigung 
des großen Gelehrten nicht jedes feiner ſchroffen Urtheile gut- 
heißen. — In jener Widmung feiner Auswahl (1820) entwidelt 
Lachmann, wie auf dem Wege ftrenghiftoriiher Kritit von der 
Screibung der Handihriften zum Text des Dichters zu gelangen 
fü. Denn „die Dichter des dreizehnten Jahrhunderts vebeten, bis 
auf wenig mundartliche Einzelheiten, ein beftimmtes unmandeldares 
Hochdeutſch, während ungebildete Echreiber fih andere Formen 
der gemeinen Sprache, theils ältere, theils verderbte, erlaubten“ 2). 
Der Herausgeber foll ſich mit allen Rede- und Versgebräuchen 
feines Dichters volllommen vertraut machen. Dann muß „aus 
einer hinlänglichen Anzahl von Handſchriften, deren Verwandtſchaft 
und Eigenthümlichkeiten der Kritiler genau erforſcht hat, ein Tert 
fih ergeben, der im Kleinen und Großen dem urfprünglicen des 
Dichters oder feines Schreibers jehr nah kommen wird“ 3). So 
vorzüglih vachmann's „Auswahl* (1820) ihre Aufgabe Löfte, fo 
war do „am ſtrengkritiſche Behandlung bei Auszügen aus fo viel 
verſchiedenen Dichtern nicht zu denken“ *), um fo weniger, als auch 
die nöthigen Hülfsmittel noch fehlten. Erſt fünf Jahre fpäter ver- 
wirklichte Lachmann feine Anſprüche am die lritiſche Bearbeitung 
eines mittelhochdeutſchen Werts in feiner Ausgabe von Hartmann’s 
wein. In feiner am 31. März 1825 unterzeichneten Vorrede 
durfte ex mit vollem Recht diefe Ausgabe den erften Verſuch nen- 
nen, ein altdeutſches Gedicht Tritifch zu behandeln. Und es war ein 
meifterhaft gelungener Verſuch, die Frucht von vachmann's viel- 
jährigen einbringenben Forfhungen über den Sprachgebrauch und 

1) BgL. Lachmann's Recenfion von Mone's 1821 erſchienenem Dtnit in 
ber Jenaischen Allgem. Literatur - Zeitung, Jan. 1822, Sp. 97 — 124. 
Bas dort Ep. 105 fg. zufammengeftellt wird, find night einzelne Verſehen, 
fondern es if der Beweis vollſtändiget grammatiſchet und feritalif—er Unz 
wiffengeit. Und wenn es fo bei einem durch mande fpätere Arbeit verbienten 
dorſqhet beſtellt war, wie mag es ba erſt bei der großen Maffe der Mitfpreipen: 
mollenden auögefegen haben! — 2) Auswahl, 1820, &. VIII. — 3) Ebend. 
S. X. — 4) Ebend. ©. VII. 


544 Viertes Bud. Zweites Kapitel, 


bie Metrik ber mittelhochdeutſchen Dichter. Lachmann Hatte ih zur 
Herausgabe bes Iwein mit feinem würbigen Lehrer VBenede ver 
bunden. Während Lachmann bie kritiſche Herſtellung bes Tertes 
beſorgte, fielen die erflärenden Anmerkungen überwiegend Benede 
zu. Diefer hatte feit Herausgabe des Bonerius (1816) 1) nicht 
geraftet, fondern durch eine Ausgabe von Wirnt's von Gravenberg 
Wigalois mit Anmerkungen und Wörterbuch (1819) fi auf die 
Arbeit am Iwein trefflich vorbereitet. Seine Erläuterungen zum 
mein find wirklich mufterhaft und verdienen volllommen das Lob, 
das Lachmann Benede ſpendet, daß er mit Sinn unb beſcheidener 
Sorgfalt zuerft ein ganz neues Verftänbniß ber mittelhochdeutſchen 
Boefie eröffnet habe ?). Später (1883) ließ Benede fein „Wörter 
buch zu Hartmannes wein“ folgen, das ben Grund zur mittel 
hochdentſchen Lexikographie Iegte, indem es nicht bloß einzelne ım- 
verftänblic gewordene Wörter erklärte, fondern ben ganzen Sprach⸗ 
ſchatz des Gedichts in allen feinen Beziehungen wohlgeorbnet dar⸗ 
bot. Durch das Zuſammenwirken mit Beuece Hatte fih bie 
Herausgabe bes wein bis zum Jahr 1827 verzögert 3). Das 
ẽrſcheinen desſelben bildet für die Behanblung mittelhoibentider 
Texte eine ähnliche Epode, wie Grimm's Grammatik für bie Er⸗ 
forkgung ber germaniſchen Sprachen überfaupt. Denn in ber 
kritiſchen Herftellung altdeutiher Terte war Lachmann's methodiſch 
geübter Scharffinn auch Grimm überlegen, und es ift ein erfrew 
licher Anblid, wie die beiden bebentenden Männer ihre verſchiedenarti ⸗ 
gen Borzüge wechſelſeitig anerfennen und fi einander unterftägen. 
„Sole ausführlige und rüchhaltsloſe Mittheilungen, als mir fur 
mann gemacht hat, jagt Grimm (1822) in der Vorrede zur zweiten 
Ausgabe der Grammatik 4), muß man an fi erfahren haben, um 
ihren Werth zu begreifen, denn fie belehren, treiben am und ftören 
doch nicht das zur Arbeit nöthige innere Gefammeltjein, fondern 
man meint, buch fich ſelbſt fortzulernen.” „Er war zum Heraus 


1) 6. 0. ©. 456. — 2) Iwein (2) 1848, Vorr. 8 II. — 9m 
3. 1848 etſchien eine neue ſehr vervollfommnete Ausgabe, 1868 eine britte. — 
4) 8. XIX. 


Die Mitſorſcher der Brüder Grimm. 545 


geber geboren, jagt Grimm (1851) in feiner Rede auf Lachmann 1), 
feines Gleichen hat Deutſchland in biefem Jahrhundert noch nicht 
gefeßn.” Und wiederum, mit welder Beſcheidenheit ſpricht Lad 
mann von Grimm’ Grammatik. „Uns ift die Dreiftigfeit under 
greiflich, fagt er (1822) in der Necenfion von Mone's Otnit, daß 
einer jet, ohne Neues und Wichtiges vorzubringen, deutſche Gram⸗ 
matif lehrt, jegt, da wir eben die zweite Ausgabe bes Grimmi⸗ 
{hen Werls erwarten, bie uns alle zur Sam bringen wird über 
unfere Unwiſſenheit“ ). Und ein anderes mal (1827). erklärt er, 
welchen Gewinn er für feine Tertbehandlung aus „I. Grimm’s 
neuen und nod immer wunderbar ſcheinenden Entbefungen“ gez0- 
gen Babe °). 

Auf den Iwein folgte noch in bemjelben Jahr (1827) eine 
andere bahnbrechende Arbeit vLachmann's, feine Ausgabe des Wal, 
ter von ber Vogelweide. Es gehörte mit nur Lachmann's kriti⸗ 
fer Scharffinn, fondern auch fein eindringendes Studium ber 
mittelhochdeutſchen Dichter in allen Eigenthumlichteiten der Sprache 
und ber Metrik dazu, um „den reichſten und vielfeitigften unter den 
Xieberbihtern bes breigehnten Jahrhunderts in würdiger Geftalt 
wieber erſcheinen zu laffen“ ). Lachmann widmete fi diefer Ar- 
beit mit beionderer Freudigleit. „Uhland's eben ſo lebendige als 
genaue Schilderung Walther’s (1822) Hatte die Aufmerfamfeit der 
Empfängligen auf s neue geweckt“ 4); Benede, I. u. W. Grimm 
und Uhland fürderten das Unternehmen auf jede Weiſe; und was 
Lachmann ſchon bei diefer erften Ausgabe hatte thun wollen 5), das 
führte er bei der zweiten (1848) aus: Er widmete fie „Lubwig 
Upland zum Dank für deutſche Gefinnung, Poeſie und Forſchung.“ 
Schon das nahe Verhältniß zu Uhland würde hinreichend beweifen, 
wie fehr man Lachmann verkennt, wern man ihn für einen bloßen 


1) Berlin 1851, 8. 16. — Vgl. auf Grimm’s Witmung des Reinhart 
Fuße an Lachmann. — 2) Jen. Allg. Literatur - Zeitung, 1822, Jan. 
Sp. 106. — 3) ort. zum Walther 1827, 8, I. — 4) Sahmann’s 
Bort, zum Walıher 1827, S. II. — 5) S. Lahmann’s Brief an Uhland 
vom 4. Rov. 1843 in: Ludwig Uhland. Eine Gabe für freunde. Zum 
26. April 1865. ©: 314. 

Raumer, Seid. der germ. Philologie. 35 


546 Viertes Bud. Zweites Kapitel 


Verſtandesmenſchen Hält. So ſehr auch bie kritiſche Schärfe des 
Verſtandes das Hervorſtechende feines Weſens war, fo beſaß er 
doch zugleich einen feinen Sinn für Poefie. Dies ſpricht fih aus 
in ber treffenden Charakteriftif der mittelhochdeutſchen Dichter, die 
er in feiner Auswahl (1820) 9) gibt, in feiner Schilderung des 
bingebenben „einfach wahren und unſchuldigen Verftänbnifles‘ der 
Boefie (1843) 2), in feiner Vorrede zum Walther und vor allem 
in feiner begeifterten Verehrung Wolfram’s von Eſchenbach. Dieſem 
tieffinnigen und ſchwierigen Dichter waren Lachmann's nächſte Be 
mühungen gewidmet. Schon in ber Auswahl (1820) hatte er 
feine Bewunderung für ihn ausgefproden. Nach langen und gründ⸗ 
lien Vorarbeiten gab er 1833 Wolfram’3 Werke heraus: Den 
Barzival, den Willehalm, die Lieder und die Mündener Bruchſtüce 
des Titurel. Denn daß nur diefe, nicht aber ber jüngere Titel, 
Wolfram's Werk feien, hatte Lahmann ſchon (1820) in der Aus 
wahl geäußert, und in der Vorrede zu ſeinem Wolfram legt er es 
näher dar. Durch Lachmann's Ausgabe ift Wolfram von Eſchen⸗ 
bach eigentlich erft zugänglich geworden. Denn fie gibt gegenüber 
den äußerſt mangelhaften Myller'ſchen und Caſparſon'ſchen Duden’) 
nicht nur einen kritiſchen, fondern überhaupt erjt einen lesbaren 
Text. Mit vollendeter Meiſterſchaft verfolgt Lachmann hier fein 
Biel, „daß uns möglich gemacht werben follte, Eſchenbach's Gedichte 
fo zu leſen, wie fie ein guter Vorleſer im der gebilbetften Gefell- 
ſchaft des dreigehnten Jahrhunderts aus der beften Handſchriſt vor- 
getragen hätte“ 4). Erklärende Anmerkungen hat Lachmann feiner 
tritiſchen Herftellung des Textes nicht beigegeben, obwohl er fie für 
die Zukunft keineswegs verrebet 5). Nichtsdeſtoweniger hat er auf 
für die Erleichterung des Verſtändniſſes ungemein viel geleiſtet 
Seine wohldurchdachte Interpunktion bildet eine fortlaufende Er⸗ 
läuterung, bie ten Lefer ganz unvermerkt über eine Unmaffe von 
Schwierigkeiten hinweghebt. 

1) Widmung an Benede ©. III fg. — 2) Vorr. zur 2ien Ausgabe 
des Iwein ©. III fg. — 3) ©. o. ©. 260. 263. — 4) Lachmann's Bor: 
rede zum Wolfram, 1833, S. VI. — 5) Ebend. ©. XI. 


Die Mitferjher ber Brüder Grimm. 547 


Eine Frucht von Lachmann's eindringendem Studium der alte 
und mittelhochdeutſchen Dichter und zugleich wieber die Grundlage 
feiner Zeitifchen Tertausgaben waren feine Entdeckungen auf dem 
Gebiet der altdentſchen Metril. Er berichtet ums ſelbſt über den 
Gang feiner Studien: „Im Februar 1818 begann ih ein um⸗ 
faſſendes Reimwörterbuch über ben größten Theil der erhaltenen 
erzaͤhlenden Gedichte und Lieder anzulegen, wodurd ich das Regel⸗ 
tete in den Wortformen und ihrer Quantität, nebft dem Eigen⸗ 
thümlichen vieler einzelnen Mundarten und Dichter, genau kennen 
Iernte. Im Winter 1823 und 24 ward die althochdeutſche Vers⸗ 
hunft mit Aufzählung aller Beiipiele bis in’s Kleinſte vollftändig 
ewörtert, babei die Umbildung oder Verfeinerung ber gefundenen 
Regeln in ben Werfen der forgfältigften Dichter des breigehnten 
Jahrhunderts erforſcht· 1). Don feinen Eutdeckungen, bie ſich 
natürlich durch feine kritiſchen Arbeiten forticreitend erweiterten 
amd vertieften, hat Lachmann nur einen Theil im Zufammenhang 
veröffentlicht in feiner grundlegenden Abhandlung „Ueber althod- 
deutſche Betonung und Verskunſt“, (gelefen in der Berliner Ala- 
demie dev Wiſſenſchaften 1831 und 82, herausgegeben im deren 
Abhandlungen 1834). Das Uebrige findet fid teils in den An⸗ 
merbungen zu Lachmann's Tertausgaben zerftvent, theils hat er es 
my mündlih in feinen Collegien vorgetragen 2). Den Kern der 
altdeutſchen Metrik faßt Lachmann in die Worte zufammen: „Der 
deutſche Vers, beſonders der ältere, bis gegen das ſechzehnte Jahre 
fundert, wo die romaniſche Form überwiegt, hat eine beftimmte Zahl 
düße, das heißt Hebungen, bie in höher betonten Silben beftehn als 
je bie nachfolgende Senkung; und die Sentungen vor ober zwiſchen den 
Hebungen dürfen auch ganz fehlen. Die Eigenthümlichleit aber ber 
alt- und mittelhochdeutſchen Verſe beſteht num in zweierlei: 1) We 
zwiſchen zwei Hebungen bie Senfung fehlt, muß die Silbe lang 
fein dur; Vocal oder Confonanten. Und zu diefem durchbrechen⸗ 
den Princip der Quantität kommt 2) die rhythmiſche Beſchränkuug, 


1) Iwein (2) 1843, 8. 360. — 2) ©. Lachmann’s mittelhoch- 
deutsche Metrik in Pfeiffer's Germania 1857, 8. 105 fg. 
35° 


548 Biertes Bud. Zweites Kapitel, 


daß mur der Auftakt allenfalls mehrere Silben zuläßt; bie übrigen 
Senkungen dürfen nur einſilbig fein“ 1). Bon dieſer einfachen 
Grundlage aus entwidelte Lachmann die Geſetze der alt- und mit, 
telhochdeutſchen Metrit für die verſchiedenen Zeiträume und für die 
bebeutendften Dichter bis in's Gingzelnfte Binein, und wo man 
früher nur voße Willie gefefen Hatte, da zeigte ſich eine Feinhen 
und Gefegmäßigleit bes Versbaus, an welche die Boefie der neue 
ven Jahrhunderte kaum hinanreicht. 

Abfichtlich Haben wir bis hieher eine Thätigfeit Lachmann's 
verfpart, bie fi durch fein ganzes gelehrtes Leben Kinburdgieht: 
feine Arbeiten über die Nibelungen. Gleich fein erftes Auftreten 
bezeichnete Lachmann durch feine berühmte Schrift: Ueber die urfpäng- 
Vie Geſtalt des Gedichts von ber Nibelungen Noth, Berlin 1816. 
Die Wolfifgen Forſchungen über bie urfpränglige Geftalt ber 
Homerifchen Gefänge Teiteten Lachmann auf eine gleiche Unterfuhung 
bes Gedicht3 von den Nibelungen. Ich glaube nämlich, fagt er 
im Eingang feiner Schrift, und werde in bem Folgenden zu ber 
weifen ſuchen, daß umfer jo genanntes Nibelungenlieb, oder beftinm- 
ter, bie @eftalt desſelben, in ber wir es, aus dem Anfange des 
breizehnten Jahrhunderts ung überliefert, leſen, aus einer noch 
jest erfennbaren Zufammenfegung einzelner romanzenartiger Lieder 
entftanden fei” 2). Wir befigen belanntlich außer unferem ftropfir 
fen Nibelungenlied 3) ein zweites nah mit ihm verwandte Ge 
dicht in höfiſchen Reimpaaren: die Klage. Aus der Vergleichung 
dieſes Gedichts mit ber zweiten Hälfte der Niehelungen „ergibt fih, 
wie es Lachmann ſcheint, fehr beftimmt, daß ber Werfafler der 
Klage viele von ben Liedern der legten Hälfte unferer Nibelungen 
in einer, dem Inhalte nad wenigftens, im Ganzen nur felten ab 
weichenden, bald.mehr, bald weniger vollſtändigen Geftalt vor fih 


1) Lachmann, Ueber althochdeutsche Betonung und Verskunst 
(1831), Historisch-Philologische Abhandlungen der k. Akad. der 
Wissenschaften zu Berlin 1834. 8. 235. — 2) Lachmann, Ueber bie ur: 
fprüngt, Geſtalt u. ſ. w. S. 3 fg. — 3) Ih bediene mid der allgemein 
üblichen Benennung unferes Gedichts, ohne damit ber Unterfudhung irgendwie 
"vorgreifen zu wollen. 








Die Witforfher der Brüder Grimm. 549 


hatte, Hingegen einige andere auch wieder gar nicht kannte“ 1). Da 
wir für die erfte Hälfte ber Nibelungen fein anderes Gedicht be⸗ 
fiten, das in fo nahem Verhältniß zu diefem Theile ftände, wie 
die Mage zu dem zweiten, fo muß bie Unterfuhung bier in ans 
derer Weife geführt werden. Erſtens aber zeigt fi im erften 
Tpeil der Nibelungen „überall weniger Ausgebildetes und ein 
firengeres Beibehalten der alten Form; weshalb in diefem Theile 
auch auf anfdeinend Meine Punkte weit mehr gebaut und vielleicht 
fogar noch mehr in's Einzelne gehende Refultate, als in der zweiten 
Hälfte des Gebichts, können gewormen werden“ 2). Und zweitens 
lommt uns bier ein äußeres Zeugniß fehr glüdlih zu Statten. 
Ich meine, fagt Lachmann, die jegt in Münden befindliche zweite 
Hohenemfer Handſchrift des Liedes, deren Vergleihung auch in ber 
zweiten Hälfte, wo ihre Lesarten noch unbefannt find, vielleicht 
eine neue Seite fir unfere Unterfuhung darbieten möchte. Es ift 
ausgemacht, daß die erfte Hohenemfer Handſchrift das Gedicht in 
einer augenfcheinlich fpäteren, befonders in vielen Punkten gemil- 
derten Weberarbeitung liefert. Und wenn ich nun fage, daß, wie 
diefe Handſchrift eine fpätere, fo die andere eine frühere Necenfion 
umferes Liedes enthalte, das in der Sanct-Galliihen, mag die 
Handſchrift ſelbſt jünger oder älter, als die zweite Hohenemfer fein, 
in der höchſten Blüthe fteht und den Grad der Vollkommenheit, 
den gerade jenes Beitalter der damaligen Geftalt des Liedes geben 
lonnte, erreicht Kat: fo foll das, denke ih, niemand wundern, der 
bei der Vergleichung beider in den mannigfaltigen Wenderungen 
und Zufägen der Sanct- Galler Handſchrift eine meiftentheils ab- 
ſichtliche Tünftlihe weitere Ausbildung der noch weniger glatten und 
geſchmücten Form in der anderen erfannt hat“ ). Mit dem, was 


1) Sahmann a. a. D. ©. 59. — 2) Ebenb. ©. 67 fg. — 3) Ebend. 
©. 68. Zur Erläuterung obiger Stelle bemerfe ih, daß bie „zweite Hohen 
emſer Hanbfcprift“ die nachmals von Lachmann Burg A bezeichneie ift, von 
welcher Damals nur ber durch Myller (1782) veröffentlichte erſte Theil Lade 
mann zu Gebote ftand. Dagegen ift „bie erſte Hohenemfer Hanbferift" Lach: 
mann's C. 


850 Viertes Bud. Zweites Kapitel. 


uns fo bie äußeren Gründe an die Hand geben, ſtimmen nad 
Lahınann in überraſchender Weife auch die inneren. „Dabei ift 
‚ nun aber, fährt er an ber obigen Stelle fort, jehr auffallend und 
bemertenswerth, daß man keineswegs überall in der Sanct-Baller 
Hanbirift, fondern nur in einigen Aventüren fehr viele, in an- 
deren nur wenige und in manchen gar Zeine neuen Strophen findet; 
woraus denn doch zum allerwenigiten erhellt, daß ber geſchidte 
Urheber der Sanct ⸗Galler Recenſion einen Unterſchied zwiſchen je 
nen Liedern bemerkte, von denen er einige vieler Veränderungen 
und Zufäge, andere nur einer geringen Nachhülfe bedürftig glaubte. 
Wenn nun gerade diefelben Lieder auch an anderen Kennzeichen 
mit denen Inhalt oder Darftellung behaftet wären, ſich von den 
übrigen verſchieden zeigten, fo möchte fih auch daraus Mandes 
für die weitere Erörterung unferer Frage ergeben. Es fei erlaubt, 
bier in voraus das Reſultat anzuzeigen, daß gerade in ben Liedern, 
welde in der Sanct⸗ Galler Recenfion feinen bebeutenden neuen 
Zuwachs erhalten Haben, fih am Häufigften die Hand bes früheren 
Orbners, deſſen Arbeit uns das Hohenemſer Manuffript Iiefert, 
zu eriennen iſt), und baf insbefondere, um glei etwas ganz 
Einzelnes anzuführen, alle Strophen mit inneren Reimen theils 
dem Orbner, teils dem Sanct- Galler Berbefferer, aber nie ber 
urſprünglichen Geftalt ımferer Lieder angehören" 2). Durch Nah 
weifung eingefobener Steffen, fo wie mamigfacher Widerſprüche 
und Unebenheiten im Innern des Gedichts ſucht Lachmann feine 
Anſicht zu erhärten. Aber, ſagt er ſchließlich, „auf vollſtändige 
Nachweiſung der Veränderungen jedes Liedes machen wir feinen 
Anſpruch, deren man ſich ſelbſt dann noch nicht vergemiffert halten 
bürfte, wenn auch alle erkennbaren Wenderungen genau und voll. 
ftändig gezeigt wären“ 3). Endlich berührt Lachmann nod die 
Frage, „ob bei der Zuſammenfügung unferer wie der Homeriſchen 
Lieder die Diaffeuaften Zufammendang und Folge nad einem vor- 
handenen, wenn auch kürzeren Gedichte, das aber den ganzen Ju⸗ 
halt der Geſchichte befaßte, oder nur nad; Anleitung der Sage ber 


1) 2ies: gibt. — 2) Ebend. ©. 69. — 3) ©. 84. 


Die Mitforfeher der Vrüber Grimm. 551 


ſtimmten.“ Er beantwortet fie dahin, die Kritik werde ſich ver- 
bunden Halten, „deutlich und beftimmt zu erklären, daß jene Frage 
jegt durchaus Feiner Löſung mehr fähig ſei“ 1). Seine Anficht über 
das Verhältniß unferes Epos zu Einem Dichter, faßt Lachmann 
zum Schluß feiner Schrift in die Worte zufammen: „Bei den 
mannigfaltigverfchiebenen Verbindungen, in die einzelne Theile un- 
ferer Nibelungengeſchichte in anderen und anderen Geftalten der 
Sage geſetzt worden find, muß man enblih ben, welcher Kriem- 
hildens Nahe an Siegfried’ 3 Ermordung dur Hagen und ihren 
Bruder Günther gehrüpft, für den eigentlißen Dichter des beut- 
ſchen Epos erflären. Wenn aber gefragt wird, mit was jedem 
wahrſcheinlich důnke, fondern was ſich ftreng erweifen laffe, wer 
will dann zu beftimmen wagen, ob fi in einem einzelnen größeren 
Gedichte, oder nur in der Sage, wenn auch nur eines Theiles von 
Deutſchland, die weniger bei jener Verbindung weſentlichen Um⸗ 
ftände zufammengefunden und in biefem Sinne, nah Grimm’s 
freilich ſehr wunderlichem Ausbrude, das Nibelungenlied fi unbe⸗ 
wußt felber gebichtet Habe, oder von Einem Dichter geſchaffen fet? 
Ehen fo wenig mag es aber auszumachen fein, ob bie Homeriſchen 
Lieber nach einem urſprünglichen Gedichte geordnet, ja vielleicht 
möglicher Weife zum Theil als Abſchnitte eines Jedermann be 
fannten größeren Gedichts gefungen feien, oder ob die einfache Fa- 
bel der Odyſſee und bie nicht mehr zufammengefegte der Ilias nur 
dureh die Sage ſich neben ben einzelnen Liedern erhalten habe. Wir 
wollen die Völler glücklich preifen, in denen Sage und Vollsge⸗ 
fang ſich zu ſolchen großen poetiſchen Bildungen geftalteten, und 
den Dichtern danken, die ben Zorn des Adilles und Odyſſeus 
Rüdtehr, und den tragiſchen Wechſel von Freude und Leid in Kriem⸗ 
hildens Gedichte, in fo herrlichen Werken verewigten, daß noch 
fpäte Jahrhunderte fi an ihnen erfreuen und fräftigen mögen“ 2). 
Diefe erfte Schrift Lachmann's legt den Grund zu alle feinen wei- 
teren Unterfuhungen über die Nibelungen. Noch aber fpriät er 
ih Hier in Bezug auf die wirkliche Zerlegung des Gedichts in ein- 


6.89. — 26.871. 


562 Biertes Buch, Zweites Kapitel. 


zelne Sieber und deren Ausführbarkeit nicht entſchieden ans, laßt 
aud das Ganze als ſolches in feiner Größe beſtehen. Mit ber 
Zeit aber glaubte fi) Lachmann durch feine wachſende Kenntniß der 
mittelhochdeutſchen Poefie und insbeſondere ifrer Metik, fo wie 
durch eine genaue Vergleichung ber Hohenems - Münchener Hand- 
ſchrift (A) der Nibelungen in den Stand gejet, bie Herſiellung 
der alten Vollslieder, aus deren Sammlung und Weberarbeitung 
unfer Gedicht entftanden fei, zu unternehmen. Im J. 1826 gab 
er auf Grund der Hohenems-Miündener Handſchrift (A) Heraus: 
der Nibelunge Not mit der Klage in der Alteften Geſtalt mit ben 
Abweichungen ber gemeinen Lesart. Im J. 1886 ließ er feinen 
tritiſchen Commentar „Zu ben Nibelungen und zur Klage“ folgen, 
worin er bie Zerlegung des Gedichts durchführte. In der zweiten 
Ausgabe feiner Nibelunge Noth (1841) machte er dann die ange 
nommenen urjprünglichen Lieder und beren Fortfegungen, fo wie 
bie eingefgobenen Strophen, theils durch verfiebenen Drud, theils 
durch kritiſche Zeigen kenntlich ). Das Ergebniß Lachmann's war 
folgendes · Die Hofenems-Dündener Handſqhrift (A) „fteft allein 
allen übrigen Handſchriften mit dem offenbar älteren Text entge 
gen“ 2). „Jedes Wort, das nicht in A fteht, hat feine größere 
Beglaubigung als eine Conjectur“ 9). Diefer ältefte handſchriftlich 
aufbewahrte Tert hat dann eine erweiternbe und ausglättenbe Ueber⸗ 
arbeitung erfahren, bie uns in ber St. Galler Handſchrift (B) 
vorliegt, und eine zweite, welde die Hohenems ⸗ Laßbergſche Hanb- 
ſchrift (C) bietet. Das Zerriffene und öfters Unzuſammenhängende 
in dem Zert der Handſchrift A rührt chen daher, daß hier noch 
nicht fo viel geſchehen ift, um bie urfprünglichen Lieber in Zuſam⸗ 
menbang zu bringen, wie in B und C. ben deshalb bietet A 
eine fo gute Handhabe, um die Nähte der alten Lieder zu erlennen. 
Natürlich aber erhalten dieſe äuferliien Anhaltspunkte erſt ifre 
wahre Bedeutung durch bie innere Kritik, bie ſich ſowohl auf ben 


D 4. Ausg. (6. Abdr. des Textes) 1867. — 2) Der Nibelange 
not, her. von Lachmann, Berlin 1826, Vorr. 8. VL — 3) Ei. 
6. vl. 


Die Mitforfeher ber Brüder Grimm, 553 


Inbalt, als auf die Form der einzelnen Strophen zu richten hat. 
Mit Hülfe aller diefer Mittel ſchält Luhmann zwanzig urfprüng- 
liche Bolfslieder aus unſerem Gedicht heraus, von denen zwei ohne 
ihren Anfang uns überliefert find. Dieje Lieber haben ſchon, be 
dor fie aufgefhrieben wurben, mannigfache Zufäge erhalten, zwi» 
fen den Jahren 1190 und 1210 aber hatten fie die Geſtalt, wie 
wir fie in unferem Gedicht lefen‘). Um das Jahr 12102) Kat 
dann ein „Anorbner“ 3) diefe Vollslieder gefammelt ımd fie durch 
nhlreiche Hinzugefügte Strophen zu dem Ganzen verbunden, das 
wir in Handſchrift A vor uns haben. Dies find die Grundlagen 
von Lachmann's Kritik der Nibelungen, wie er fie feldft öffentlich 
ausgeſprochen hat. Wir werben fpäter fehen, daß erft nad Lach⸗ 
mann’8 Tode noch ein weiteres nicht unwichtiges Moment feiner 
Nidelungenkritit zum Vorſchein kam. Hier wollen wir nur no 
erwähnen, daß mit ben befprodenen Arbeiten Lachmann's noch 
zwei andere in naher Beziehung ftehen. Erſtens nämlich feine Ab⸗ 
handlung: „Kritit der Sage von den Nibelungen“, die 1829 in 
Niebuhr's Rheiniſchem Muſeum für Philologie erſchien 1). Lach⸗ 
mann ſondert hier die verſchiedenen Beſtandtheile der Sage und 
gelangt zu dem Ergebniß, daß Siegfried urſprünglich ein Götter⸗ 
wefen war, und zwar benft man bei ihm natürlich fogleih an ben 
nordifhen Baldur. Doc) foll diefe Vergleichung „feine rohe Iden⸗ 
tification” fein®). Die zweite hieher gehörige Abhandlung ift die 
von Lachmann 1883 in der Berliner Akademie gelefene über Singen 
und Sagen °). Strophifie Ditungen wurden urſprünglich gejun- 
gen. „Hingegen hırze Meimpaare ohne ſtrophiſche Abtheilung find 
ganz fiher im 12. und 13. Jahrhundert nur gejagt und gelejen“ 7). 
„Höchſt mertwürbig ift aber, daß in ben ausgebilbetften Darftellun 
gen deutſcher Sagen in ſtrophiſcher Form, in den Nibelungen und 


1) Zu den Nib. 1836, 8. 8. 5. 6. — 2) Eben. &. 1. — 3) Ebend. 
©. 5. — 4) Wieder abgebrudt bei Lachmann: Zu den Nibelungen 1836, 
8. 383 fg. — 5) Ebend. ©. 344. — 6) In ten Historisch-philol. Ab- 
bandlungen der K. Akad. der Wiss. zu Berlin. Aus dem J. 1833. 
Berlin 1835. 8. 105 fg. — 7) Ebend. S. 109. 








554 Biertes Bud. Zweites Kapitel. 


im Alphart, in Kudrun, nur das Sagen und durchaus Fein Sin⸗ 
gen vorkommt" 1). Wir müſſen deshalb in ber Blüthezeit ber höfi- 
ſchen Poefie ‚auch in dem Vortrage der (ſtrophiſch voltsthünlicen) 
erzählenden Gedichte eine der höfiſchen Bildung entſprechende Ber- 
änderung annehmen, daß fie nämlih nun mehr geſagt und vorge⸗ 
leſen als gefungen und vermuthlich richt einmal vorzugsweiſe von 
den Fahrenden vorgetragen wurden“ 2). 

Außer den beſprochenen haben wir noch zwei werthvolle kriti⸗ 
ſche Arbeiten Lachmann's zu berühren: feine Ausgabe des Ulrich 
von Lichtenſtein (1841), zu welder Theodor von Karajan erflür 
ende Anmerkungen lieferte, und feine Abhandlung über brei Brud- 
ftücte niederrheiniſcher Gedichte (1836) 3). So überwiegend Lad 
mann’3 Arbeiten dem Gebiete der Kritit angehören, fo war er doch 
nicht minder au ein Meifter auf bem der Gxegefe. Er bewies 
dies in den zahlreichen erflärenden Bemerkungen, die ex feinen kri⸗ 
tiſchen Commentaren einfügte, im&befondere aber durch feine vor 
teefflihen Abhandlungen über das Hildebrandslied (1833) +) und 
über ben Eingang des Parzivals (1835) 5). 

Wie den Werten ber älteren deutſchen Literatur, fo wandte 
Lachmann gegen das Ende feiner Laufbahn auch denen der neueren 
feine kritiſche Thätigleit zu. Von ben Berlegern aufgefordert über- 
nahm er im J. 1887 „bie Durchſicht und Herausgabe ber ſammt⸗ 
lichen Leſſingſchen Werke‘ %). Er fah aber dieſe Aufgbe nicht als 
eine bloß untergeorbnete Lohnarbeit an, wie bies bis dahin ge 
wöhnlich geſchehen war, ſondern er ſetzte ſich eime kritiſche Textaus⸗ 
gabe ſeines Autors zum Ziel. Zu dieſem Behuf brachte er erſtens 
eine zwedmäßige Anordnung in das Chaos ber früheren Ausgaben 
von Leſſing's Werfen, und zweitens legte er den Texten bie Origi⸗ 


1) Ebend. S. 111. — 2) Ebend. ©. 114. — 3) Philos.-hist, Ab- 
handlungen der K. Akad. der Wiss. zu Berlin. Aus dem J. 1886, 
Berlin 1838. — 4) Hist-philol Abhandlungen der K. Akad. der 
Wiss. zu Berlin. Aus dem J. 1833. Berlin 1835, 8. 198 fg. — 
5) @benb. aus bem 9. 1885, Berlin 1887, 8. 227 fg. — 6) Beris, 
Lachmann, 8. 168. 


Die Mitforfer der Brüber Grimm. 555 


nalbrude zu Grunde und verfah fie mit den nöthigen kritiſchen 
Bernertungen 1). In den Jahren 1838 bis 1840 erſchienen auf 
diefe Weife „Leffings ſämmtliche Schriften herausgegeben von Karl 
Lachmann.“ So hat Lachmann au auf diefem Gebiet, deſſen 
Wichtigkeit ſeitdem immer mehr zur Anerfennung gelommen ift, die 
Bahn gebroden. 


2. Iohann Andreas Schmeller. 

Es war ein überaus glüdliches Zufammentreffen der Umftände, 
daß Grimm's Forſchung, wie fie durh Lachmann's philologifchen 
Scharfſinn eine wejentlige Ergänzung in Betreff der Textkritik ge- 
wann, gleichzeitig auch noch von einer anderen fehr wichtigen Seite, 
nämli in Bezug auf die Unterfugung der Vollsmundarten, eine 
wahrhaft epochemachende Bereicherung erhielt. Aus ganz anderen 
Berhältnijfen heraus und von einem anderen Ausgangspunkt, 
als % Grimm, Hatte Johann Andreas Schmeller 
die Erforſchung feiner heimatlihen Mundart begonnen. Geboren 
zu Tirſchenreuth in der Oberpfalz am 6. Auguſt 1785 als 
der Sohn eines braven, aber armen Korbflehters, wuchs Schmel- 
ler auf in dem Dörfhen Rimberg nörblih von Pfaffenhofen 
in Altbayern. Dahin nämlich war der Vater ſchon im zweiten 
Lebensjahr des ‚Knaben übergefiedelt. Da keine Schule in dem 
Heinen Orte war, fo unterrichtete der Vater ſelbſt neben feiner 
Arbeit den Sohn im Lejen, Schreiben und Rechnen. Bald aber 
nahm fi der treffliche Pfarrer des benachbarten Dorfes Rohr, . 
Anton Nagel, des Knaben an und verfhaffte ihm die Aufnahme 
unter die Schüler des Kloſters Scheiern. Hier lernte Schmeller 
die erften Elemente des Lateins; aber bei dem Einbrud der Fran⸗ 
zofen im J. 1796 zerftreuten fi die Schüler, und als nad dem 
Borüberziehen des Triegerifhen Unwetters das Seminar wieber er» 
öffnet wurde, nahın der Abt bes Klofters trotz der heißeften Bitten 
Schmeller nit wieder auf. Doch fein Vater verzichtete nicht auf 
die Hoffnung, den Sohn einmal als Geiftlihen zu jehen. Mit 


1) ©. Lachmann's Selbſtanzeige bei Hertz, Lachmann, Beil. B, 8. 
XV fg. 


556 Viertes Bud. Zweites Kapitel, 


Mühe brachte er die nothbürftigften Mittel zuſammen, um ihn 
(1797—99) auf dem Gymnaſium in Ingolſtadt zu erhalten. Sm 
%. 1799 gieng ber junge Schmeller nad Münden und vollendete 
dort auf Gymnaſium umd Lyceum bie allgemein bildenden Studien, 
indem er fi feinen Unterhalt in angeftvengter Thätigfeit durch Pri⸗ 
vatunterricht erwarb. Es war die Zeit, in welder der allgemeine 
Umſchwung der Gelfter auch nad Althayern einzubringen begann 
Schmeller’s ftrengem Wahrheitsfinn widerftrehte es, einen Beruf 
zu ergreifen, dem er fi nicht mit voller Ueberzeugung Hätte, wid- 
men lönnen. Er gab deshalb den Gebanten, Priefter zu werden, 
auf. Aber während er nad einem anderen Lebensberuf fuchte, be⸗ 
gann er an aller Bücherweisheit irre zu werben. Es ſchien ihm, 
als werde er nur in bem einfachen Beruf des Landmanns Ruhe 
und- Befriedigung finden. So gieng der gründlich gebildete abfol- 
“ vierte Lyceift (1808) in fein väterlihes Dorf, um Bauer zu wer- 
den. Allein bald zeigte fi, daß er ber geiftigen Beſchränkung fo 
enger Berhältniffe entwachfen war. In feiner ländlichen Zurüdge 
zogenheit ſchrieb er eine Abhandlung „Über bie naturgemäßefte Art, 
Kinder, die eine von der Schriftſprache abweichende Mundart rer 
den, im Schreiben und Lefen zu unterweifen.“ Schon von ben 
Knabenjahren an Hatte er das Unterrichten praktiſch geübt; als 
Schüler des edlen Cajetan Weiller auf dem Lyceum zu Münden 
hatte er bie hohe Bedeutung bes Erzieherberufs würdigen lernen; 
fo erfannte er nun feine Rebensaufgabe darin, Xehrer und zwar 
vorzugsweiſe Lehrer der Mutterſprache zu werben. Er machte ſich 
auf und wanderte (1804) in bie Schweiz zu Peſtalozzi, dem großen 
Neformator des Erziehungsweſens. Bei diefem, der eben im Be 
geiff war, von Burgdorf nach Münchenbuchſee zu ziehen, fand er 
jebod feine Verwendung, und als auch verſchiedene andere Verſuche, 
eine Stelle als Lehrer zu finden, fehlſchlugen, ließ er fid für ein 
ſolothurniſches Megiment in ſpaniſchen Dienften anwerben. Faſt 
zwei Jahre Hatte er fo, erſt als Gemeiner, dann als Corporal, in 
Tarragona zugebradit, als eine günftige Wendung feines Geſchices 
eintrat. Einer ber Offiziere des Regiments, ber Hauptmann Boitel, 
Tieß ſich von dem jungen Gorporal Unterricht im Engliſchen erthei⸗ 


Die Witforfer der Gräber Grimm. 557 


len und war nicht wenig übervafcht, einen ebenfo begeifterten Ber- 
ehrer der Peſtalozzi ſchen Methode in ihm Tennen zu lernen, wie 
er jelöft war. Bald wurden die beiden Männer nah befreundet. 
Boitel verſchaffte Schmeller zunächſt eine Verwendung an der Ne 
gimentsſchule zu Tarragona, und als Kurze Zeit darauf eine könig⸗ 
liche Probeſchule nad; Peſtalozzi ſchen Grundfägen in Madrid er- 
richtet werben ſollte, da wurde Hauptmann Voitel zu ihrem Dir 
sector und Schmeller (17. Rov. 1806) zu deſſen erftem Gehülfen 
ernannt. Schmeller hatte bier außer ber ſpaniſchen Sprade, bie 
er fih während feines Aufenthalts in Tarragona volllommen an- 
geeignet Hatte, aud das Franzöſiſche, Engliſche und Deutſche zu 
kehren. Die Anftalt nahm einen glänzenden Aufiäwung; allein der 
Beginn der fpanifgen Unruhen hatte (1808) ihre Auflöfung zur 
Folge. Schmeller, ber. ſchon 1807 feinen Abſchied als Soldat er- 
halten Hatte, gieng (1808) nad) Yverbon zu Peſtalozzi und grün 
dete Bald darauf in Verbindung mit feinem Freunde Samuel Hopf 
eine Privatlehranftalt zu Baſel, die bis zum J. 1813 beſtand. 
Us Schmeller (Der. 1818) nad; Bayern zurüdlehete, war bies 
vor hurzem durch den Wieder Vertrag ber deutſchen Sache beigetre- 
tem. Schmeller beſchloß, feine Kräfte der Vertheidigung des Bater- 
Iandes zu weihen. Am 20. San. 1814 wurde er zum Oberlieute- 
nant im freiwilligen Jägerbataillon des Illerkreiſes ernannt. Ber 
vor er einrückte, befuchte Schmeller noch einmal feine Eltern. „Es 
war feine Bahn von Gundamsried nach Rimberg“, ſchreibt er in 
feinem Tagebuch vom 8. Jan. 1814, „der nach zehn Jahren Wie 
derlehrende brüdte bie erften Fußſtapfen in den Schnee. Alles ſchien 
mir bebeutungsvoll ein jeltenes himmliſches Feſt zu feiern. Am 
fteilen Pfad, wo ich einft die von Nagel geliehenen Dichter leſend 
gegangen war, wo id} beim Scheiven vor zehn Jahren im tiefiten 
Behmutgegefühl ſaß, fand ich wieder fill. Die Schweiz und 
Spanien, Tarragona und Voitel, Madrid und Anduja Tagen zwi 
fen damals und jest. Ich gieng nach Rimberg heim und ftatt 
in Ried ober Pfaffenhofen, war ich in Tarragona, Madrid und 
Bafel geweſen. — O unbeichreißbares Gefühl! — Ich ſah hinab 
auf die wohlbelannten lieblichen Hütten — noch ftanden fie alle, 


558 Viertes Bud. Zweites Kapitel. 


wie einft. Hinauf, Hinein, mit pochendem Herzen gellopft. — G 
iſt zu; durch's Senfterhen geſehen, — es ift niemand darin. Um 
das Häuschen herum — eine entblätterte Rebe bekleidet bie Of 
feite, hinten ift eine mir neue Thür, ein neues Gemüßgärthen, 
der Stall voll Thierftimmen, wohl mit Stroh verwahrt. Die 
Nachbarin kommt, kennt mich, fagt, die Eltern feien nach Rohrbach 
auf ber erften Meſſe (Primiz). — Auf der eriten Meſſe! Gerade 
an biefem Tage meiner Zurüdtunftl Schmerzenvoll werden fie 
denken, wenn unfer Sohn nidt ein ungerathener wäre, fo hätten 
wir dieſe Freude auch an ihm erleben können. — Bei der Nad- 
barin wartete ich num, bis ich wirklich meine lieben Eltern kommen 
ſah. Mit lautem mweinenden Schreien rief die Mutter: O mein 
Andrel, mein Kind! Dann ftanden fie wortlos eine Zeit lang, 
mid in ihren Armen haltend. Dann wieder Thränen und lautes 
Weinen ber Mutter. „Mein Find, fo fol ich dich benm doch noch 
einmal ſehen!““ O mir war · das Herz zum zerſpringen. Aehn⸗ 
Uches Habe ich noch nie empfunden. Dann in die väterliche Stube. 
„„So fei mir denn willlommen unterm väterlichen Strohdach!““ 
fogte ber Bater mit einem Blid gen oben, ber mid anbeten made. 
O Gott, fein gewaltigerer, heiligerer Priefter für mich, als mein 
Bater! Welche Fülle echter begeifterter Neligiofitätl „„Mles durch 
Gott, für Gott. Wir find oft umfonft, fagte er,. nach Scheyern, 
Freyfing, Landshut gegangen, nein! nicht umfonft, weil Gott es 
fügte.” Wohl vergab er mir, daß ich ihm nicht das Gluc ver 
ſchafft, auch einen geiftlihen Sohn zu Haben. „Du haft ja beir 
nen freien Willen, fagte er, und Gott hat es fo haben wollen.’ — 
Die tiefe, rührende Anhängligfeit an Eltern und Heimath, bie ans 
Diefen Worten Schmeller’s ſpricht, ift ber Boden, auf dem feine 
Sprahforigung erwachſen iſt. „Wie ein Neuerer“, ſchreibt er 
ans Rimberg ben 27. Janner 1814, „von Griehenlaud's und 
Rom's Großheit begeiftert, im Athen's und Rom's Umgebung um ⸗ 
herwandelt, ſo ſehe ich in der Sprache, in den Sitten dieſer Dör⸗ 
fer ehrwürdige Ueberreſte und Mahnung an die Zeit der Siegfriede 
und Chrimbilden in Menge. Wahrhaftig mit frommer Aufmerl ⸗ 
ſamkeit belauſche ich die feit einem Jahrtauſend rein und eigene 





Die Mitjorſcher der Brüber Grimm. 559 


thümlich bewahrten Töne und Worte dieſer einfachen Hütten. Cine 
eigene Negelmäßigteit waltet in den Ausſprachgeſetzen diefer heimath - 
lichen Mundart, welche als eine der älteſten Urkunden für den 
ganzen deutſchen Sprachbau erhalten ift.“ 

Das bayeriſche Reſerveheer, zu welchem die freiwilligen Jr 
gerbataillone gehörten, kam während des Feldzugs von 1814 nit 
zum Ausrüden. Schmeller ſtand mit feinem Bataillon in emp 
tem. Er benutzte die ihm gewordene Muße zur Ausarbeitung feiner 
erſten ſelbſtändig erihienenen Druchſchrift: „Soll es Eine allge 
meine europäifche Verhandlungs- Sprache geben?“ Auch der zweite 
frangöſiſche Feldzug im %. 1815 war durch die Schlacht bei Belle 
Alliance bereits entſchieden, bevor ber Heerestheil, bei dem Schmel- 
ler ftand, auf dem Kampfplatz anlangte. Schmeller lonnte daher 
den Mari durch Frankreich und eine längere Einguartierung in 
diefem Lande zum Studium ber franzöfiihen Mundarten benugen. 
Bald nad) der Rücklehr aus Frankreich begann Schmeller's epoche⸗ 
machende wiſſenſchaftliche Thätigfeit, Wir Haben gefehen, wie ihn 
die Beobachtung feiner heimathlihen Mundart und ihr Verhältniß 
zur gejammten deutſchen Sprache ſchon von frühauf beſchäftigte. 
Aus der Fremde zurüdgefehrt, nahm er dieſe Studien mit neuer 
Ruft wieder auf. Während fein Bataillon in Salzburg ftand, ließ 
er fi (Anfang 1816) Urlaub geben, um die Schäge der Münchner 
Bibliothel für feine Zwede zu benugen. Hier lernte er Schlichte⸗ 
groll, Scherer und Docen kennen. In der Münchener Alademie 
der Wifjenfhaften war bereit? ein reger Eifer für Erforſchung der 
deutſchen Sprache und insbejondere ber bayerifhen Mundart vor⸗ 
handen. Wir haben in einem früheren Abſchnitt die verbienjtlichen 
Leiftungen Docen’s gefildert. Der ehrwürdige bayeriſche Hiftori- 
ter Lorenz von Weftenrieder (f 1828) veröffentlichte im 
J. 1816 fein Glossarium Germanico -Latinum vooum obsole- 
tarum primi et medii aevi, inprimis Bavaricarım. Der Bih- 
liothelar Joſeph Scherer (F 1829) gieng mit ber, Herausgabe 
der altſächſiſchen Evangelienharmonie und der Ausarbeitung eines 
bayeriſchen Idiotikons um. Diefen Männern blieben Schmeller's 
gründlige Studien und feine ausgezeichnete Befähigung für derar⸗ 


560 Bieries Buch. Bweiles Kapitel. 


tige Arbeiten nicht Tange verborgen, und namentlich war es Schere, 
der Alles aufbot, um Schmeller für die Bearbeitung ber bayeri- 
ſchen Mundarten zu gewinnen. Durch feine Verwendung erhielt 
Echmeller einen ſechsmonatlichen Urlaub, und bald darauf eftimmte 
ihm der Kronprinz Ludwig von Bayern auf zwei Jahre einen jährlichen 
Geldzuſchuß von fünfhunbert Gulden zum Behuf einer wiſſenſchaftlichen 
Bereifung des Königreichs zur Unterfuhung feiner Mundarten. Mit 
Freude ergriff Schmeller die dargebotene Gelegenheit zur Ausführung 
feiner Lieblingsplane, und nad den grünblicften Vorbereitungen und 
fünfjägriger angeftrengter Arbeit erſchien im J. 1821 fein erfes 
größeres Wert: Die Mundarten Bayerns grammatifch dargeſtellt 
Mit großer Sorgfalt und Umſicht behandelt Schmeller hier die Laute 
und Formen der bayerifgen Mundarten und fügt dann zum Schluß 
eine Anzahl wohlgewählter Dialeltproben bei. Aber noch braudte 
es ſechs weitere Jahre des ununterbrodenen Sammelns unb Zu 
bereitens, bis im J. 1827 der erfte Band von Schmeller's Haupt 
wert an's Licht trat unter dem Titel: „Bayerifhes Wörterbug. 
Sammlung von Wörtern und Ausbrüden, die in den lebenden 
Mundarten fowohl, als in der Altern und älteften Provincial- 
Litteratur des Königreichs Bayern, befonders feiner Altern Lande, 
vorkommen, und in der heutigen allgemein -beutjgen Schriftiprade 
entweder gar nicht, oder nicht in denſelben Bedeutungen üblich find, 
mit urlundlichen Belegen, nah den Stammſylben etymologiid- 
alphabetiſch georbnet.” Im J 1828 erſchien ber zweite, 1836 der 
dritte, 1887 der vierte Theil, der das ganze Wert ſchloß. 

Seit dem Auftrag, bie bayeriſchen Mundarten zu erforfhen, 
geftalten fih auch Schmeller's äußere Verhältniſſe günftiger. Der 
Urlaub, den er als Oberlientenant erhalten hatte, wurde ihm fer- 
nerhin verlängert. Im J. 1284 ernannte ihn die Mündener Aa 
bemie der Wiſſenſchaften zu ihrem Mitgliebe. 1826 wurbe er er- 
mähtigt, Vorleſungen an der Mündener Univerfität zu halten. 
Er eröffnete dieſelben 1827 mit der Antrittsrede: „Ueber das 
Studium der altveutfgen Sprade und ifter Denkmäler." Im 
3%. 1828 wurde er außerordentlicher Profeffor der altdeutichen 
Sprache und Literatur, 1829 Guftos an der Hof- und Staat 


Die Mitſorſcher der Brüber Grimm. 51 


bibliothek, 1844 Unterbibliothelar, endlich 1846 orbentlidher Pro⸗ 
feffor der altdeutſchen Sprache und Literatur. In allen dieſen 
Stellungen erfüllte Schmeller feine Verpflichtungen mit muſterhafter 
Gewiſſenhaftigkeit. Der von ihm begrundete Handſchriftenkatalog 
der Münchener Bihliothel 1) iſt ein bleibendes Denkmal feines auf⸗ 
opfeenden Fleißes. Seine Wirkfamfeit an der Univerfität wurde 
1829 durch Mafmann's Anftellung unterbrochen, erft im J. 1846 
nahm er fie wieder auf). Schmeller's Iekte Lebensjahre wurden 
dur einen unglücklichen Zufall verbittert. Auf einer Neife durch 
Tirol im Herbft 1847 brach er am Jaufen bei Sterzing das Bein. 
Die ſchmerzvolle Kur des zuerft verlannten Bruches vermochte nicht, 
die Folgen des unglüdjeligen Ereigniffes zu befeitigen. Geiftig un. 
gebrochen, aber körperlich hinſiechend verlebte Schmeller bie folgen- 
den Jahre, bis ein raſch verlaufender Choleraanfall am 27. Juli 
1852 feinem Leben ein Biel fegte?). 

Schmeller's Studien erſtredten fi nicht nur über ben ganzen 
Bereid) der germaniſchen Sprachen, ſondern fie giengen auch noch 
weit über dieſen Bereich hinaus. So beſchäftigte er ſich namentlich 
ſehr eingehend mit ben ſlaviſchen Sprachen. Aber den Mittelpunkt 


1) Die deutschen Handschriften der k. Hof- und Staatsbibliothek 
za München nach J. A. Schmeller’'s kürzerem Verzeichnias. Thl. I 
und II. München 1866. Bgl. daſelbſt ben Vorbericht bes Herausgebers 
8. Halm; und außerdem Konr. Hofmann’s Vortrag über Schmeller’s amtliche 
Tätigkeit auf der k. Slaatebibliothet (Mündener Gel. Anzeigen 1855, Nr. 
14—16), unb Ant. Ruland in Naumann's Serapeum XVI, (1855), Nr. 4. 
3. 24. Bol. aber auch $. Bögmer chend. XVI (1855), Wr. 18. 19. — 
2) Zwei -Borlefungen Schmiller's über deutſche Grammatit theilt (nad 
einem Gollegienhefte Rodinger’s) Ant. Birlinger mit in Herrig’$ Archiv für 
das Studium der neueren Sprachen, Bd. 37 (1865) 8. 358 fg. — 
8) Die thatſachlichen Angaben Über Schmeller's Leben find folgenden Scheif- 
ten entnommen: Lebensffizge Schmeller’s. Won Bibliothekar Föringer. Mün- 
en 1855. — Rede von Sr. von Thietſch, In ben Münchener Gelehrten An- 
wigen 1858, Nr. 8 fg. — Der Artifel Schmeller in Brodhaus’ Eonverjations- 
Leriton ber neueſten Zeit und Literatur, Ub, IV, (1834) ©. 173—175. 


(Rah Föringer a. a. D. ©. 6 eine abgefürzte Mutoblogrpgie Sämeller’s). 
Rammer, Gchd. der germ. Pfllelegie. 


562 Viertes Bub. Biweites Kapitel. 


feiner Thatigkeit bildete bie Erforſchung ber fühbentfcien Volle 
munbarten. Aufgewachſen in ländlicher Abgeſchiedenheit als Sohn 
eines arınen Kürbenzäuners *) hieng er mit der ganzen Innigkeit 
feines veichen Gemuths an ber Sprade und Sitte bes Bolles. 
Und hier Ing auf der Ausgangspımkt feines Forſchens, ala ſich 
feine eminente Begabung für die Unterſuchung der menfelicen 
Sprache mehr und mehr entwidelte. Die ältere deutſche Sprache 
309 ihn anfänglich durchaus nicht an. Er hielt fie, durch Adelungs 
Autorität beftimmmt, für barbarifh. Die vollen Endungen waren 
ihm entweder „wilftärliche "Anhängfel“ oder „verftanblofe Rad 
affungen lateiniſcher Grammaticalformen.“ Höchſtens intereffierte 
ibm „das crude Material ihrer Ausdrũcke.“ „Ich ſah alſo in dieſen 
Sprachalterthüumern, fo berichtet er uns ſelbſt, nur ben rohen 
Sörper, weil id ihnen einmal Teinen Geift, d. i. feinen Tebenbigen, 
ftrengen, nothivendigen Grammaticalismus zutraute und aljo einen 
folgen auch nit in ihnen ſuchte. Nur das Xufpären und Ber 
folgen der wunderbaren geiftigen Gliederungen und Gelente, bie 
tw conjequenten Grammaticalismus einer Sprache liegen, vermag 
den damit befdäftigten Gelft zu reizen und zu vergnügen. Bo 
diefer Reiz nicht ift, da Hört alles Intereſſe auf. Es gab deumach 
eine Zeit, wo ich diefe Ueberbleibfel des Alterthums mit völliger 
Gleichgültigleit, ja mit einer Art von Ekel betrachtete. Mittler: 
weile Hatte ih doch nicht laſſen können, (unbefriedigt, wie ich war, 


dur Adelung's Ausiprüde), über die feftere Begründung oder *| 


Vereinfachung mandes Satzes in der Grammmatit der dentfhen 
Sprache nachzudenken. Mit Ueberraſchung fah ich oft, baf da, me 
die Bücherſprache ftarr und tobt jeder Erklärung aus ſich felhft 
widerſtrebte, die im Munde des Volles für ſich fortlebende gemeine 
Sprache die erhellendſten Aufſchluſſe bot. Die herfömmlid vor 





1) Schmeller's Bayer. Wörterbud) II, (1828), 327: „Der Kürbenzäuner, 
der aus Holz: und Wurzel: Schienen Kürben fliht, zäunt. (Unter allen Ger 
werben ift dieſes unfdeinbare dem Verfaſſer des b. Wörterbuchs bas chrwir 
digRe, denn es ift das eines Bald achtzigiährigen Chrenmennes, Dem er fin 
Dafein und feine erfte Erziehung verbanft).“ 


Die Witforfer der Brüder Grimm. 568 


! nehme Geringſchatzung biefes Feldes der Spracherſcheinung konnte 
“mich von da an nicht weiter abhalten, beſonders aufmerkſam auf 
dasſelbe zu fein. Bald lehrte es mich eine Reihe von Analogieen 
mb Gefegen, von denen in der Bücherſprache nur wenige Spuren 
vorhanden find. Von biefer, in die Ohren fallenden Wirklichteit 
ausgehend, wandte ih mic nun aufs neue zurüd zu jenen miß⸗ 
lannten Alterthümern, und fieh, e8 zeigte ſich eine Uebereinſtimm⸗ 
ung, die meinen Zweifeln über die Wahrheit und Echtheit der 
grammatifchen, in diefen Reften des Altertfums erhaltenen Formen 
ein Ende und mir dieſe Weberbleinfel zum Gegenftand eines neuen 
und des für den Geiſt anziehendften Studiums machte. Ich fah, 
wie fehr ich die organifche Natur der Sprache darin verfannt hatte, 
daß ich glaubte, das, was war, müſſe durch das, mas ift, erflärt 
und gemeiftert werden, ftatt das ewige Geſetz alles Organismus 
zu bedenken, nad) weldem alles, was ift, nur aus bem, was 
war, hervorgegangen fein Tann.” „Auf biefem Standpunkt befand 
ich mid, fährt Schmeller fort, als Jacob Grimm’s deutſche 
Grammatik erſchien. Ausgeftattet mit ganz außerordentlichem Ta- 
Ient für Forſchungen nicht bloß diefer Art, war diefer Mann viel 
früger und gleih von oben herein zur vollen klaren Anſchauung 
deflen gelommen, wozu id mid erft von umten auf mühfam em⸗ 
porzuaxbeiten ſuchte. Was ih aus dem manmigfaltigen, vielfach 
verfiegten oder trüben Bächen bes wirklichen Volkslebens in man⸗ 
cherlei Gauen dentſcher Zunge auf bie nicht bequemfte Weiſe zu- 
ſammentrug, das ſchöpfte er bequemer und reiner aus ben ſchrift⸗ 
lichen Quellen felöft, die dem gemeinfamen Urfprung, von weldem 
alle dieſe weitzertheilten Bäche ausgegangen find, um zehn bis 
fünfzehn Jahrhunderte näher liegen. Statt auf einem einzigen 
Wege fortzufchreiten, der bei befangener Ausfiht, eh er zurüdge 
legt ift, immer feine rechte, innere Sicherheit vor ber Gefahr des 
Sichverlierens gewährt, umfaßte Grimm gleich das ganze vor ihm 
liegende Gebiet, rüdte mit der möglicften Umſicht auf allen Wer 
gen zugleich vorwärts, und auf folde Art wurde gefunden und bis 
zur Evidenz nachgewieſen die organiſche Einheit des germanifchen 
Sprachſtammes umd der durchgehende Parallelismus, unter welchem 


36* 


564 Viertes Bud. Zweites Kapitel 


feine Aeſte von Knoten zu Roten auseinanbertreten. Durch bie 
überraſchenden Reſultate, bie er in feinem großen, noch nicht ge 
ſchloſſenen Werte über die deutſche Sprache im weiteſten Sinne 
miebergelegt Hat, findet ſich die nächſte Gegenwart in Harem Zu- 
fammenhang mit ber entfernteften Vergangenheit“ 1), Man kam 
Schmeller's Verhältniß zu Grimm nicht treffender ſchildern, als & 
hier von Schmeller felbft geſchieht. Bewundernswerth aber war 
es, mit welder Energie und Begabung nun Schmeller auf die 
großen Entdefungen Grimm's eingieng. In kurzer Zeit war er 
einer der erfien Kenner auch der altgermaniſchen Sprachen. Und 
gerade diefe Verknüpfung ber beiden entgegengejeßten Enden ber 
Forſchung ift das Epochemachende in Schmeller's mumbartligen Ar- 
beiten. Auf ber einen Seite ſchöpft er aus bem Iehenbigften Ber 
kehr mit dem Volke. Gr fieht den Leuten anf den Mund und 
faßt mit feinem Obr die gehörten Laute auf, für deren Beſonder⸗ 
heiten er fid durch Meine Ahänderungen ber gewöhnlichen lateini⸗ 
ſchen Buchſtaben ein neues Bezeichnungsmittel ſchafft. Mit ein- 
gehendem Verſtändniß und finnigem Gemüth ſammelt ex bie eigen- 
thümlichen Ausdrüde und Nebeweifen des Volles und läßt uns bar 
dur tiefe Blicke in beffen Sitten und Gewohnheiten thun. An 
dererſeits aber durchforſcht er für feinen Zweck bie Denkmäler aller 
älteren germaniſchen Sprachen, gebrudte und ungebrudte; und na- 
mentlich bieten ihm hier die handſchriftlichen Schäge der Mündener 
Bibliothek ein unerſchöpfliches Material. So wird fein Bayeriſches 
Wörterbuch eine eben fo reihe Fundgrube für die ältere Spradk, 
wie für die neuere Mundart. Und das Alles fteht nicht etwa als 
roher Stoff unvermittelt neben einander, fondern es wirb anf bie 
einfachfte Weife, Bald dur) die bloße wohlüberlegte Anordnung 
bald durch überraſchend ſcharfſinnige Gombination in Verbindung 
gebracht. 

Wenn auch Schmeller's größtes Verdienſt in feinem Bayeri- 
hen Wörterbuch) Tiegt, fo nimmt er doch zugleich unter ben Her- 


1) Schmeller, Weber das Stubium ber altdeutſchen Sprache und ihrer 
Denkmäler, Münden 1827, ©. 7 fg. 


Die Mitforfger der Brüber Grimm. 565 


ausgebern älterer germaniſcher Sprachdenkmäler eine der erften 
Stellen ein. Er ift es, dem man bie lange und ſehnlichſt erwartete 
Herausgabe ber altfächfifhen Evangeliendichtung verdankt. Unter 
dem Titel: Heliand. Poema Saxonicum seouli noni, ließ Schmel- 
ler im J. 1880 zu Münden den Tert des Werkes erſcheinen. 1840 
folgte das ungemein forgfältig gearbeitete Gloſſar. Diefe wahrhaft 
„ uftergültige Leiftung bildet bie Grundlage alfer nachfolgenden alt- 
ſachſiſchen Stubien. Wit derſelben Sauberkeit veröffentlichte Schmel- 
ler 1841 zum erftenmal volfftändig und kritiſch aus dem St. Gal- 
ler Coder die früher nur mangelhaft befannt gemachte 1) althoch⸗ 
deutſche Weberfegung der Evangelienharmonie des Ammonius oder 
Tatianus. Unter den übrigen Tertausgaben Schmeller’8 heben wir 
noch hervor das von Docen entdedte, von Schmeller (1832) zuerft 
herausgegebene alliterierende althochdeutſche Gedicht auf den jüngften 
Tag, dem Schmeller den Titel Muspilli gab; die Benedictbeurer 
&ederhandfhrift bes 13. Jahrhunderts (1847); die Jagd des Haba- 
mar von Laber, ein ſchwieriges Gedicht aus dem 14. Jahrhundert 
(1850); und endlich die in Gemeinſchaft mit X. Grimm (1838) 
herausgegebenen Lateiniſchen Gebichte des X. und XI. Jahrhunderts, 
unter welchen Schmeller die Bruchſtücke des Ruodlieb angehören. 
Ale diefe Ausgaben find mit werthvollen Einleitungen, einige auch 
mit eingehenden Erläuterungen verjehen. Außerdem veröffentlichte 
Schmeller eine Neihe gehaltvoller Abhandlungen in den Schriften 
der bayerifchen Afademie der Wiſſenſchaften. Wir nennen darunter 
die „über die Nothwendigkeit eines ethnographiſchen Gejammtna- 
mens für bie Deutſchen und ihre nordiſchen Stammverwandten“ 
(1826, gedrudt 1835), worin ſich Schmeller für den Gefammtna- 
men Germanen erflärt; die über Wolfram’3 von Eſchenbach Hei- 
math (1837); die über ben Versbau in der alliterierenden Poeſie 
befonders der Altfachfen (1839); die über Quantität im bayriſchen 
und einigen andern oberdeutſchen Dialekten (1830, gedrudt 1835); 
endlich die über die fogenannten Cimbern der VII und XIII Com- 
munen auf ben Venediſchen Alpen und ihre Sprache, (gelefen 1834, 


16. o. ©. 176, 180. 


566 Biertes Bud. Zweites Kapitel. 


gebrudt 1838). An die zuletzt genannte umfangreiche Abhandlung 
ſchloß ſich Schmeller's fogenanntes cimbrifches Wörterbuch, das ift 
deutfches Idiotilon der VI und XII Communi in den venetia- 
niſchen Alpen, an, das erſt nad Schmeller's Tode von Joſeph 
Bergmann (1855) Herausgegeben wurde. Die forgfältigfte Un 
terfuhung an Ort ımd Stelle und die umfaflendfte Kenntniß der 
ganzen einfhlägigen Literatur fegte Schmeller in ben Stand, 
zum erftenmal eine wiſſenſchaftlich probehaltige Darftellung jener 
merhoürbigen deutſchen Spradinjeln zu geben 1). Co fehen 
wir Schmeller nad) den verſchiedenſten Seiten Hin thätig. Aber 
wo wir ihm aud begegnen, da find Schlichtheit und Buverläffig- 
feit die Grundzüge feines Weſens. 


3. Ludwig Ahland. 


In Ludwig Uhland finden wir brei Richtungen vereinigt, 
die fonft getrennt zu fein pflegen. Er ift Dichter, Vollsvertreter und 
wiſſenſchaftlicher Forſcher. Aber biefe drei Beftrebungen Taufen bei 
ihm nicht etwa bloß zufällig neben einander her, fondern fie haben 
ihre gemeinfame Wurzel in dem Geift und Gemüth des reichbegabten 
und charaltertüchtigen beutihen Mannes. Wir haben Hier nur 
uhland den Forſcher zu ſchildern, und nur in dieſer Beziehung 
wollen wir zunäcft einen Turzen Ueberblick über fein Leben geben 
Ludwig Uhland wurde geboren zu Tübingen am 26. April 
1787. Schon 1801 bezog er die Umiverfität Tübingen, um Juris⸗ 
prubenz zu ftubieren. Seine Neigung wäre auf Philologie gegan ⸗ 
gen. Aber alle Lehrftellen des Landes wurben damals noch mit 
Theologen beſetzt. So verband er mit einem geroiffenhaften Be 
trieb feines Berufsfaches die Studien, zu denen ihn die Neigung 
309. Er las mit Eifer die antiten Klaſſiler. Aber wunderbat 
ergriff ihn, was ihm von ber altgermanifchen Sage zu Handen lm: 
der Saro Grammaticus, das Heldenbuch und beſonders das latei⸗ 


1) Eine namhafte Anzahl anderer Verdffentlihungen Schmeller's mäffen 
wir Hier umerwäßnt laſſen. Ein chronologiſches Verzeichniß von Sqhmellere 
Arbeiten gibt Fringer a. a. O. S. 39-55. 


Die Witforfer der Brüder Grimm. 587 


nifhe Gedicht von Walther und Hildgund. Des Knaben Wunder 
born führte ihn (1805) in das Vollslied ein. Auch Herder's 
Bollslieder ımd Percy’s Reliques wurden ihm nun befannt, und 
ex beichäftigte ſich mit dem Engliſchen und Franzöſiſchen, dem Spa- 
nifgen und den ſtandinaviſchen Sprachen, um bie alten Lieber im 
Urtegt leſen zu fönnen. Uhland's Studien und Uhland's Dichtung gien- 
gen Hand in Hand. Es war die Zeit der Romantik; doch fühlte ſich 
Upland vorzugsweiſe zu der neuen Richtung der Romantik hingezogen, 
die ihren Ausbrud in Arnim's Einfteblerzeitung fand. Im April 
1810 erwarb fi Uhland die jwriftiihe Doctorwürde zu Tübingen 
und glei im folgenden Monat trat er eine Reife nad) Paris an, um 
fih dort in ber Kenntniß des franzöfiichen Rechts zu vervolllommnen. 
Er verabfäumte dieſen offiziellen Zwed feiner Reife nicht, feine 
Hauptthätigfeit aber war den Muſeen und vor allem der Biblio⸗ 
thek zugemendet. Hier beihäftigten ihm die altdeutſchen und bejon- 
ders die altfranzöfifgen Handſchriften, und aus biefen Studien 
gieng (1812) feine epochemachende Abhandlung über das altfran- 
zoͤſiſche Epos !) hervor. Auch knüpfte fih dort auf dem Boden 
gemeinfamer Beftrebungen Uhland's Freundſchaft mit einem der 
größten unferer philologiſchen Krititer, Immanuel Belter, der neben 
feinen berühmten Haffiichen Arbeiten aud die romaniſche Philologie 
mit Liebe pflegte. Am 26. Yan. 1811 verließ Upland Paris und 
tehrte in feine Heimath zurück, 1812 wurde er Secretär beim 
Yuftizminiftertum in Stuttgart, 1814 gab er jedoch diefe Stellung 
auf umd Fieß ſich ebendort als Advocat nieder. Wir dürfen bier 
weber Uhland's Tätigkeit für die Herftellung der alten württem- 
bergiſchen Verfaſſung (1815. 1816), no feine Wirkamteit als 
Vollsvertreter (1819—25) ſchildern. Wir bemerken nur, daß feine 
furchtloſe Vertretung der Freiheit und des Rechts die Urſache war, 





1) In Fouqus's und Neumann's Mufen, Berlin 1812, Drittes Omartat, 
©. 59 fg. Dazu: Proben aus altfranzöfiihen Gebichten, im folgenden Quar- 
tal. Das Ganze mit Uhland's handſchriftlichen Zufäpen und Verichtigungen 
wieder abgebruct in deſſen Schriften zur Sisisr der Ditung und Sage " 
IV (1889) ©. 327 fg. 


568 Biertes Vuch. Erſtes Kapitel, 


daß er fo fpät die feinen Gaben entſprechende öffentliche Anftehung 
erhielt und daß er berfelben fo Bald wieder entzogen wurde. 
Gegen Ende des Jahres 1829 nämlich wurde Uhland eine aufer- 
ordentliche Profeffur der beutihen Literatur an der Untverfität Tü- 
Dingen übertragen. Daß man ben bereits zweiunbvierzigjährigen 
berühmten Dichter nur zum außerordentlichen Profefjor ernannte, 
war um fo auffalfender, als Uhland fi damals ſchon nicht mr 
durch die erwähnte Abhandlung über das altfranzöfiie Epos, fon 
dern auch durch feine ſchöne und gründliche Schrift über Walther 
von ber Vogelweide (1822) als Forſcher einen ſehr geachteten Na- 
men erworben hatte. Uhland fühlte fih als Lehrer der afabemi- 
fen Jugend in feinem Element. Mit größter Gewiſſenhaftigleit 
und tieffter Sachkenntniß las er im Sommer 1830 über Geſchichte 
ber deutſchen Poefte im 18. und 14. Jahrhundert 1), woran fih 
im Sommer 1831, die Geſchichte der deutſchen Dichttunſt im 15. 
und 16. Jahrhundert ?) anreiste. Im Winter 1891 auf 32 ud 
im darauf folgenden Sommer trug Uhland bie Sagengeſchichte der 
germaniſchen und romaniſchen Völker vor). In allen feinen 
Vorleſungen erfreute er ſich einer ſehr zahlreichen und mit Kiebe 
folgenden Zuhbrerſchaft, und mander begabte Forſcher iſt durth 
uUhland's Vorträge für die germaniſche Philologie gewonnen wor- 
den. Aber Uhland's Wirkfamfeit als Univerjitätslehrer follte nicht 
lange währen. Am 8. Juni 1882 wählte ihn Stuttgart in bie 
württembergiihe Kammer ber Abgeorbneten. Paul Pfizer's Motion 
gegen bie Bundesbeſchlüſſe vom 28. Juni 1832, welcher and U 
land beiftimmte, veranlaßte die Negierung, die Kammer im Mär 
1883 aufzulöfen. Uhland wurde von neuem gewählt, und als ihm 
die Negierung den Urlaub zum Eintritt in die Kammer verweigerte, 
brachte er fein ihm theures Amt zum Opfer und kam um Gntlaffung 
von feiner Profefur ein. Bis zum J. 1838 fehen wir Uhland nım 


1) Diefe Borlefungen find Herausgegeben durch A. v. Keller und @. & 

Holland in Uplanb's Sqriften zur Geſchichte der Dichtung und Sage Ed. I, 

” Stuttg. 1865 und Mb. II, 1866. — 2) Her. durch W. 2. Holland chend. 
®b. II, (1866). — 3) Her. durch A. von Keller, ebend. Bb. VII (1868). 


Die Mitforfer ber Brüber Grimm. 569 


im Verein mit ben trefflichſten Männern als württembergifhen 
Volksvertreter thätig. Aber fo gewiſſenhaft er auch feinen Pflichten 
als Vollsvertreter oblag, fo ließen ihm bie Landtagsverhandlungen 
doch Zeit, ım auch feine Lieblingsſtubien fortjegen zu Können. Wir 
fehen ihn damals (1834 und 35) vorzugsweife mit der nordger⸗ 
manifchen Mythologie beſchäftigt, und eine Frucht biefer Studien 
itt fein 1886 erfäjienener Mythus von Thor. Im J. 1839 kehrte 
Uhland nad; Tübingen zuräd, und nun konnte er ſich eine Reihe 
von Jahren hindurch ungeftört feinen Forſchungen Hingeben. Sein 
Aufenthalt in Tübingen ift nur unterbroden von Meifen buch 
Deutſchland und die Schweiz, die er zum Zwed feiner Arbeiten 
und in der lebendigen Freude an Natur und Gedichte unternimmt. 
& tritt mit den namhafteſten Forſchern in brieflihen und perſön⸗ 
lien Verkehr, mit J. und W. Grimm, mit Lachmann, Schmeller, 
W. Wadernagel, Franz Pfeiffer und K. Müllenhoff. Der Germaniften« 
tag zu Frankfurt (1846) führt ihn mit einem großen Theil der Fach- 
genofien perſönlich zufammen. Ex arbeitete in biefer Zeit an einem 
Hauptwerk feines Lebens, an feinem Volkslied. 1844 und 45 gab 
ex den Exften Band feiner Alten hoch- und nieberbeutfchen Vollslieder 
Heraus, welcher die Terte und ben Nachweis ihrer Quellen enthält, 
Aber dies ruhige Forſcherleben Uhland's follte noch einmal buch 
politiſche Stürme unterbroden werden. Das Jahr 1848 griff 
auch in Uhland's Leben tief ein. Er wurde von ber wirttember.. 
giſchen Regierung in bie Verfammlung ber ſiebzehn Vertrauens⸗ 
männer entjenbet, welde der Bundesverſammlung Vorſchläge zur 
Revifion der Bundesverfaſſung machen follte, und bald darauf 
wurde er von bem Wahldezirt Tübingen » Rottenburg zum Age 
ordneten in das deutſche Parlament gewählt. Uhland ſchloß ſich 
dort feinem politiſchen Club an, aber feinen ernſt und offen aus⸗ 
geſprochenen Ueberzeuguugen nad} gehörte er in ber beutfchen Frage 
zur großbeutfchen, in den inneren Angelegenheiten zur demokratiſchen 
Partei. Doch mochte man Uhland's politiſche Anſichten theilen 
ober nicht, der Lauterkeit feines Charalters und feinem echt deut⸗ 
ſchen Sinn Tonnte niemand feine Hochachtung verſagen. Um Uhr 
land's politifche Stellung zu verftehen, muß man alle feine übrigen 


8570 Viertes Bud. Zweites Kapitel. 


Lebensäußerungen: feine Dichtung und feine Forſchung, mit in Ber 
tracht ziehen. Dann erfennt man, welche Anficht er vom Volle 
und insbeſondere vom deutſchen Bolfe hatte, und wie wenig die 
gewöhnliche Parteiſchablone im Stande ift, Uhland's Wefen zu er- 
ſchöpfen. Mit der Treue, die den Grundzug feines Charakters 
bildete, folgte Uhland der Verlegung des Parlaments nach Stute 
gart und blieb bis zu beffen gewaltfamer Auflöfung (18. Juni 
1849) bei der Fahne feiner Partei. Schmerzlid ergriffen von dem 
Scheitern feiner politiſchen Hoffnungen zog er fi (1849) wierer 
nad Tübingen in das Privatleben zurüd. Mit alter Liebe pflegte 
ex bier das Studium ber beutihen Sage und Dichtung. Das 
Erſcheinen von Pfeiffer’ Germania (1856 fg.) veranlaßte ihn, 
einzelne Früchte feiner Forſchungen zu veröffentlichen. Aber ber 
Reichthum feiner gelehrten Thätigkeit ſollte erſt nad feinem Tode 
zum Vorſchein kommen. Am 13. November 1862, — drei Jahre 
nah Wilhelm und ein Jahr vor Jacob Grimm, — wurde Uhland 
aus dem Leben abgerufen 1). 

Die wiſſenſchaftliche Aufgabe, die Uhland's Leben erfüllte, war 
die Erforfhung der germanifchen Poeſie. Was ihn aber vor 
zugsweiſe anzog, waren nidt ſowohl die beſtimmten dichtenden 
Perſonlichleiten, in denen die Poeſie in literariſch gebildeten Zeit- 
altern fi verkörpert, als vielmehr die allgemeinen Quellen 
aller Boefie, wie fie zumal im der Jugendzeit das ganze Bolt 
durchſtrömen. Die Grundlage von Uhland's Forſchung bildet des⸗ 
bald feine Darftellung der germaniſchen Sage, wie er fie in feiner 
Sagengeſchichte der germanifchen und romaniſchen Bölfer (1831. 32) 
gegeben hat. „Der literarifhen Ausbildung und dem Hervortreten 
ſchriftſtelleriſchet Perſönlichteit, fagt er dort, geht überall ein Zeit: 
alter voltsthümlicher Ueberlieferung voran. Dieſe verſchiedenen 
Zuftände find Erzeugniß und Ausdruck der innern Geſchichte des 
geiftigen Völterlebens. So lang alle Kräfte und Richtungen des 





1) Die thatſachlichen Angaben über Uhlanb's Leben find entnommen dem 
trefflichen von feiner Wittwe herausgegebenen Bud: Ludwig Uhland. Eine 
Gabe für Freunde. Zum 26. Mpril 1865. Ms Handſchrift gebrudt. 


Die Mitforfer der Brüder Grimm. 571 


Geiftes im der Poefie gefammelt find, blüht bas Meich der lebendi⸗ 
gen Sage; jo bald bie geiftigen Thätigfeiten ſich nad verſchiedenen 
Seiten der Erkenntniß zu fondern beginnen, entfaltet fi die Liter 
rate“ 1). — „Die Sage der Völler ift hiernach weſentlich Volks⸗ 
poefie; alle Boltspoefie aber ift ihrem Hauptbeftande nad fagenhaft, 
fofern wir unter Sage die Meberlieferung durch Erzählen, das 
epiihe Element der Poefie, zu verftehen pflegen” 2). — „Der 
Drang, der dem einzelnen Menſchen inwohnt, ein geiftiges Bild 
feines Wefens und Lebens zu erzeugen, ift auch im ganzen 
Böltern, als folden, ſchöpferiſch wirlſam umd es ift nicht bloße 
Nedeform, daß die Völker dichten. Eben in diefem gemeinfamen 
Hervorbringen haftet ber Begriff der Vollspoeſie und aus ihrem 
Urfprumg ergeben fi ihre Eigenfchaften. Wohl Tann auch fie nur 
mittelft Einzelner fi äußern, aber bie Perſönlichkeit der Einzelnen 
ift nit, wie in der Dichtkunſt literariſch gebildeter Zeiten, vorwie⸗ 
gend, fondern verſchwindet im allgemeinen Volkscharalter. Auch 
aus ben Zeiten der Vollsdichtung haben fi berühmte Sängerna- 
men erhalten und, wo biefelbe noch jet blüht, werben Beliebte 
Sänger nambaft gemacht. Meiſt jedoch find bie Urheber ber 
Sagenlieder unbelannt oder beftritten, und die Genannten feldft, 
auh wo bie Namen nicht in's Muthiſche fi verlieren, er⸗ 
feinen überall mm als Vertreter der Gattung, bie Einzel» 
nen ftören nicht die Gleichartigkeit der poetiſchen Maſſe, fie 
pflanzen das Weberlieferte fort und reihen ihm das Ihrige nad 
Geift und Form übereinftimmend an, fie führen nicht abgefonderte 
Werke auf, jondern fhaffen am gemeinfamen Ban, der niemals bes 
ſchloſſen ift“ 3). „Eine bedeutende Abftufung und Ungleichheit ber 
Geifteshildung ift aber im dieſem Jugendalter eines VBoltes nicht 
wohl gebenkbar; fie Tann erft mit der vorgerüdten künſtleriſchen 
und wifjenfhaftligen Entwidlung eintreten‘ 4). „Und fo Bleibt 
zwar bie Thätigleit der Begabteren unverloren, aber fie mehrt und 
fördert nur umvermerkt das gemeinfame Ganze“ 4). Aus biejen 
Geficgtspunkten gibt Uhland mit gründlichſter Sachkenntniß eine 

1) uhland's Schriften zur Geſchichte der Dichtung und Gage. Bd. VII, 
©. 3. — 2) Ebend. S. 4. — 8) Ebend. ©. 4 fg. — 4) Ebend. ©. 5. 





572 Biertes Bud. Zweites Kapltel. 


umfafjende Darftellung der nordiſchen, deutſchen und romaniſchen 
Sage. Er beginnt mit der Götterfage und geht dann über zur 
Heldenfage. In Bezug auf biefe erflärt er ſich gegen Mones 
Anſicht, daß die Heldenfage nur eine umgewandelte Götterfage ſei 
„Allerdings finden wir, fagt er, in der Geſchichte der Sagen häufig 
auch den Hergang, daf die Göttermythen menſchlich umgeftaltet 
werden. — Aber jener Hergang ift Teineswegs ber allgemeine 
ober vorherrſchende. Wo überhaupt die Sage zu einer vollen Aus 
Bildung gelangt ift, werben wir bie höhere und bie irdiſche 
Welt, Göttliches und Menſchliches, gleichzeitig beſtehen und mannig- 
fa in einander greifen fehen. Auch die Heldenfage ift dann nidt 
ohne Götter, immer zeigt fie im Hintergrunde den Götterhimmel, 
und bie einzelnen @öttergeftalten treten freundlich ober feindlich 
wirkend in bie irdiſche Handlung ein; aber nur aus dem gleicher 
tigen Vorhandenfein zwei verſchiedener Welten kann dieſes Berhält- 
niß hervorgehen. So bilden Götterfage und Heldenjage zuſammen 
ein Ganzes, aber fie find nicht identiſch“ 1). 

Als einen Theil der Sage betrachtet Uhland ben Göttermy 
thus, umd biefem Gebiet gehören zwei feiner bedeutendſten Arbeiten 
an: „Der Mythus von Thör nad) norbifgen Quelfen* (1836) und der 
erſt nach Uhland's Tod (1868) Herausgegebene Odin. Ausgehend von 
der nothwendigen Verbindung der Mythenforſchung mit der Sprad- 
forſchung führt Uhland feine Unterſuchungen auf. ber Grundlage einer 
eindringenden Kenntniß des Altnordiſchen. Schon „die unverkennbate 
Bedeutſamkeit der mythiſchen Namen“ 2) fordert eine genaue Be 
kanntſchaft mit dev Sprache, welder diefe. Namen angehören. Aber 
der Name „gewährt doch nur dann eine fihere Mythendeutung 
wenn das Wefen, dem er angehört, auch durch feine Erſcheinung in 
Lied und Sage bemfelben wirklich entſpricht“ 2). Diefer Erſchein⸗ 
ung geht nun Uhland in den nordiſchen Quellen ebenfo grumdlich 
als geiftvoll nad. Die Mythen find „aus dichteriſch ſchaffendem 
Geiſte Hervorgegangen. Sie können darum auch nur mit poetifchen 


1) Ebend. ©. 87. Vgl. ©. 889 fg. — 2) uhland's Sqhriſten zu 
Geſchichte ber Dichtung und Sage, 8b. VI, ©. 7. 


Die Mitforfher ber Brüder Grimm. 673 


Auge richtig erfaßt werben, diefem aber werben ſie ſich bei näherem 
Anblick immer voller und lebendiger entfalten“ 1). Es ift wenig 
damit gethan, den Wechſel der Jahreszeiten, bes Lichtes ımd Dun- 
kels u. |. w. in den Mythen nachzuweiſen. „Man würbe unter 
der finnbilbliien Verhütung doch oft nur die befannteften Natur⸗ 
erſcheinungen wieberfinden. Die Hauptſache ift hier ehen das ſchöne, 
ſinnreiche Bild, die lebendige Handlung“ 2). Die mythiihe Sym- 
bolik Hat ſich bei verſchiedenartigen Völkern ganz verſchieden ange 
laſſen, und ber Erflärer Hat deshalb je bie Eigenthlunlichteit ber 
befondern Bötterlehre zu beachten. „Der Drang bes menſchlichen 
Geiftes, ſich mittelft der ihm eingeborenen Vermögen ber Außen- 
welt zu bemädtigen, ift in philoſophiſchen Zeitaltern vorzugsweiſe 
durch bie Meflerton, in poetifchen durch bie Einbildungskraft thätig. 
Bie die Natur felöft ihre Spiegel hat, Im Waffer und in ber 
Luft umd im Auge des Menſchen, fo will aud die Dichterfeele von 
den äußeren Dingen ein Gegenbilb innerlich Bervorbringen, und 
dieſe Aneignung für ſich ſchon iſt ein geiftiger Genuß, ber ſich auch 
andern Betrachtern des Bildes mittheilt. — Das Innere des 
Menſchen aber ſtralt nichts zurück, ohne es mit ſeinem eigenen 
Leben, ſeinem Sinnen und Empfinden getränkt und damit mehr 
oder weniger umgeſchaffen zu haben. So tauchen aus dem Borne 
der Phantaſie die Kräfte und Erſcheinungen der unperſönlichen 
Natur als Perſonen und Thaten in menſchlicher Weiſe wieder auf. 
Die nordiſche Mythologie zeigt dieſen Hergang in allen Graden 
der Belebung und Geſtaltung, und wer ſie in ihrem eigenen Sinne 
würdigen will, muß dieſer Wiedergeburt im Bilde, als ſolcher ſchon, 
ihre ſelbſtändige Geltung einräumen. Gleich den Kräften und Er⸗ 
ſcheinungen ber Natur find aber auch die des Geiſtes in den Mythen 
perfönlid geworben; ſelbſt die abgezogenften Begriffe, namentlich 
die Formen und Verhältniffe ber Zeit, Haben ſich als handelnde 
Weſen gefaltet. Indem fo einerjeits die Natur durch Perfonifie 
cation beſeelt wird, andrerſeits ber @eift durch dasſelbe Mittel 
äußere Geftaltung erlangt, werben beibe fähig, auf dem gleichen 


1) &benb. S. 8. — 2) Ebend. ©. 8 fg. 


574 Biertes Buch. Zweites Kapitel, 


Sthauplatze ſinnbildlicher Darſtellung zuſammenzutreten“ 1). Bir 
können hier nicht weiter verfolgen, wie Uhland dieſe Grund⸗ 
ſatze auf die Mythen von Thör und Odin anwendet, und bemerlen 
nur, daß er in ſeinen beiden Abhandlungen den größten Theil der 
nordiſchen Mythen im ſinnigſter Weiſe zu deuten ſucht. Wie Uh⸗ 
land in feinen nordiſchen Mythenforſchumgen den urſprünglichen 
Glauben der germanifhen Völker auf Grundlage ber älteften flan- 
dinaviſchen Quellen zu ergründen fuchte, fo knüpfte er eine Reihe 
anderer werthvoller Unterſuchungen an bie Ueberlieferungen feiner 
näheren Heimath. „Wenn die Forſchung von meiner nädjften 
Heimat ausgeht, fagt er im feinem erften Beitrag zur ſchwäbiſchen 
Sagentunde, fo verzichtet fie deshalb nicht darauf, weitere Kreiſe 
zu ziehen. Es ift aber im Gebiete der Sagen immerhin rathjam, 
den Blid in das Allgemeine und Entlehene an ber genauen Beob⸗ 
aiftung des Beſondern und Heimifcen zu jfärfen* 2. 

An bie Erjorſchung der Sage jchloß ſich bei uhland die In 
terſuchung und Darſtellung ber altdeutſchen Poeſie. Hier iſt uh⸗ 
land zwar auch ein Meiſter in der Schilderung der beſtimmten 
dichtenden Perſönlichteit, wie er dies ſchon durch feinen ,Walther 
von der Vogelweide“ (1822) bewies. Aber fein hauptfädlicftes 
Augenmerk ift auf die im ganzen Volle lebende Poefie gerichtet. 
&o find in feinen Vorlefungen über bie Geſchichte der altdeutſchen 
Poeſie (1830 und 31) zwar auch die Bemerkungen über die einzel 
nen großen Dichter vortrefflih, aber die Hauptfache ift ihm doch, 
zu zeigen, wie bie im Volle überlieferten Sagen fi dichteriſch ger 
ftaltet Haben. Natürlich; bilden deshalb die Gebihte aus ben deut- 
fen Sagentreifen den weſentlichſten Theil von Uhland's Darftell- 
ung. Gr berichtet über ihren Inhalt und ihre Form und unterfuht 
die Art ihrer Entſtehung. Indem er fih mit W. Grimm’s Auf 
faſſung ber deutſchen Heldenfage auseinanberjegt, findet er das 
hiſtoriſche Glement derſelben bedeutender, als Grimm zugeben 
wollte 3). Anbrerfeits betont ex das mythiſche Element und bringt 

1) Ebend. &.9. — 2) Germania, her. von Frans Pfeiffer I (18561 
8.1. — 3) uhland's Säriften zur Geſchichte der Dichtung und Sage, 
®. 1, 6. 136, 





Die Mitforfher der Brüder Grimm. 875 


den Sagenkreis der Nibelungen mit odiniſchen ), den der Amelun« 
gen mit perfiihen Mythen 2) in Beziehung. Aber jo forgfältig er 
fowohl den geſchichtlichen, als den mythiſchen Spuren nachgeht, fo 
findet er doch in beiden wicht das eigentliche Wejen des Epos. 
Weder von geſchichtlicher, noch von mythiſcher Seite, jagt er, Hat 
fih und der wahre und volle Gehalt bes deutſchen Heldenliedes 
erihloffen. Das Gejhihtlihe fanden wir nur in Durchgängen 
und Umriſſen erkennbar, das Mythiſche verdunkelt und mißverſtan⸗ 
ben. Gleichwohl ift diefe Heldenfage nicht als verwittertes Dent- 
mal alter Volksgeſchichte ober untergegangenen Heidenglaubens 
ftehen geblieben, fie ift im längft befehtten Deutſchland lebendig 
fortgewachſen, im dreizehnten Jahrhundert in großen Dichtwerken 
aufgefaßt worden, hat noch lange nachher in ber Erinnerung des 
Volles gehaftet und fprich® noch jetzt verftänblic zum Gemüthe. 
Die Erklärung ift einfach, wenn wir fie im Weſen des Gegenftan- 
des ſuchen. Unfere Sagenmelt ift weder Geſchichte, noch Glaubens⸗ 
lehre, fie foll auch feines von beiden für fih fein. Sie ift Poeſie, 
und zwar biejenige Art derfelben, die wir als Volksdichtung be- 
zeichnet und deren Haupterfheinung wir im Epos gefunden 
haben. Ihr Lebenstrieb muß baher eim poetiſcher, er muß in 
der Natur ber Vollspoeſie gefeimt fein. Eine zum Epos aus⸗ 
gebildete Vollspoeſie ftellt als folhe das Gefammtleben des 
Volles dar, aus dem fie hervorgegangen ift. Ste umfaßt alfo 
zwar auch Volksgeſchichte und Volksglauben, aber fie vergei- 
ftigt jene und veranſchaulicht diefen, fie nimmt dieſelben umge 
ſchieden von den übrigen Beziehungen des Lebens“ 5). In Bezug 
auf das Nibelungenlied erllärt Uhland: „Was Hier, wo wir von 
der Gompofition der Helbenlieder handeln, biefem Gedichte fo beſon⸗ 
dere Bedeutung gibt, ift der Umftand, daß e8 vor alfen andern 
ben beftimmten Eindrud eines Kunftganzen madt. Eben darum 
ſtellt fi bei ihm die Frage nach dem Dichter am natürlichſten und 
dringendften hervor“ *). Diefe Frage beantwortet nun Uhland 
nad fjorgfältiger Erwägung aller Umftände dahin: „Von einem 
OD Eben. S. 141 ig. — 2) Ebend. S. 164 fg. — 3) Eben. 
©. 211 fg. — 4) Ebend. ©. 433. 


876 Biertes Bud. Biweites Kapitel, 


Dichter bes Nibelungenliebes lönnen wir nicht fpredien, fofern wir 
unter einem ſolchen ben Erfinder feiner Fabel oder auch ben ge 
ftaltenden Bearbeiter eines vorher noch nicht poetiſch zugebilbeten 
geſchichtlichen ober fagenhaften Stoffes veritänben. In langer, 
lebendiger Fortbildung war ber poetiſche Inhalt des Liedes, Hand 
lung und Charakteriftit, ſchon vollendet; ihr Dichter war allerbings 
nit ein einzelner, fonbern bie längſt tm Volle wirkende dichteriſche 
Geſanmikraft. Gleichwohl kann ums aud) ein bloßer Orbner nicht 
zufrieden ftellen“ i). Bei ber ſchriſtlichen Auffaſſung der He 
denſage zum Behuf des Vorleſens war es im Allgemeinen nicht 
auf das bloße, wörtliche Aufſchreiben der in mumdlicher Ueberliefer- 
ung vorhandenen Lieber und Sagen abgejehen, fonbern wer ſchrieb 
oder dictierend ſchreiben ließ, Hatte irgend einen Bwed, bie Sache 
weiter zu führen, für feine Beit wirkfam zu machen 2). Daß aber 
ber „Orbner“ bes Nibelungenkiebes nicht bie in ber Weherlieferung 
vorhandenen romanzenartigen Lieber bloß zuſammenſtellen und da⸗ 
bei nur bie ihm nöthig ſcheinenden Verknüpfungen und Ergänzungen 
anbringen wollte, bavon zeugt die Beſchaffenheit des Wertes ſelbſt) 
Was nah Wegräummg jener Vernüpfungen übrig Bleibt, kann 
niemals in ſolcher Geftalt als Lieber in vollsmäßiger Ueberliefer ⸗ 
ung gelebt haben ®). Durch bas Ganze aber geht ein einheitlicher 
Geiſt, ſowohl objectiv in der Darftellung der Zeitfitte, als „in ber 
durch das Gange verbreiteten fubjectiven Stimmung“ %). „Anbeut- 
ungen ber Zukunft finden wir als zum epiſchen Stile gehörig auch 
in andern und ältern Gedichten. Aber biefer ahnungsvolle Hauch 
durch das Ganze, biefe Verkündigung des Unheils vom Anfang an, 
die Vorausſchauung in der träumenden Seele, die immer näher 
rudende und bei jebem Vorſchritt wieder durch einen Wehelaut an 
gerufene Erfüllung, dieſe Weife iſt nur dem Nibelungenliede eigen. 
Und warım Bat denn and Feines von allen andern Gedichten 
dieſes Kreiſes jene Aumuth, jene ans dem friſcheſten und Ichenbige 
ften Gefühl erzeugte Wahrheit, bie jebes Wort durchdringt und 





1) &bend. ©. 441. — 2) Ebenb. ©. 448. — 3) Cbend. 6, 44. — 
4) Ebend. 6. 447. 


Die Mitforfger der Brüder Grimm. 877 


beſeelt?“ 1) „Wie follen wir aber einen Ordner nennen, befien 
Geiſt auf folge Weife die alte Sage in fih auffaßt und zuräd- 
ſpiegelt?“ — Nicht nur in der Sprache des Mittelalters würbe er 
als tihtaere zu bezeichnen fein. „Auch wir werden im Sprach⸗ 
gebrauch umfrer Zeit fein Hinberniß finden, ben Ordner, bem wir 
folge Eigenſchaften zuſchreiben, gerad heraus einen Dichter zu nen- 
nen. Er ift, um es kurz zu bezeichnen, nicht der Dichter der Sage, 
aber der Dichter des Liedes, wie es als ein Ganzes vor ung liegt“ 2). 
Die reichhaltigen Borlefungen über Geſchichte der deutſchen Dicht⸗ 
Kunft im fünfzehnten umd ſechzehnten Jahrhundert, die Uhland im Som- 
mer 1831 hielt ®), Yeiten ung hinüber zu einem feiner Hauptwerke, 
den Alten hoch⸗ und niederdeutſchen Volksliedern. Uhland hat dieſer 
Arbeit einen vieljährigen raſtloſen Fleiß gewidmet. Er wurde nicht 
mũde, durch Reiſen und Brieflihe Anfragen fein Material zu ver- 
vollftändigen, und fo lange ihm noch irgend eine Quelle entgieng, 
zauderte er mit ber Veröffentlihung. Glüdlicherweife fegte er dieſer 
faft übertriebenen Gewiffenhaftigfeit infofern ein Ziel, daß er im 
J. 1844 wenigftens bie Liederſammlung ſelbſt Herausgab. Er 
ſchöpfte nit aus mündlicher Ueberlieferung, ſondern „aus älteren 
Urkmden, aus Handſchriften und Druden vom fünfzehnten bis in's 
ſiebenzehnte Jahrhundert” 4). Er wußte vet wohl, daß feinen 
Vollsliedern dadurch „hie und ba der romantiſche Duft von den 
ügeln geftreift wurde, daß fie leibhafter, geſchiqhtlicher, ſelbſt ger 
lehrter anzufehen” waren. „Doch find fie eben bamit, fährt er - 
fort, wahrer und echter geworben, wie fie aus dem Leben ihrer Zeit 
hervorſprangen“ 5). Durch dies ftreng geſchichtliche und forgfältig 
teitifche Verfahren Uhland's Haben wir erft eine Mare und richtige 
Borftellung vom Weſen bes Vollslieds erhalten. Der Lieberfamm- 
kung wollte Uhland noch eine Abhandlung über die deutſchen Volls⸗ 


1) Ebend. S. 447. Das Leiste find Worte W. Grimm’s, Heldenfage, S. 368, 
— 2) Wend. ©. 448. — 3) Herausgegeben von W. 2. Holland in Ufe 
land's Schriften zur Geſchichte der Dichtung und Sage Bb. II (1866), — 
4) Alte hoch⸗ und nieberbeutfhe Wolfslieber er. v. Uhland. Abthl. I, Vorw. 
©. VIL— 5) 2ubwig Upland. Zum 26. Apr. 1865, ©. 326. 
Raumer, Get. der germ. Philologie. 37 


578 Wierted Bud. Biweites Kapitel, 


lieder und Anmerkungen zu den einzelnen Liedern folgen laſſen 
Über ehe er das Wert zum Abſchluß brachte, ſchied er aus bem 
Leben. In feinem Nachlaß fand fi nebſt den Anmerkungen zu 
einem großen Theil der einzelnen Lieder i) die Einleitung zu jener 
Abhandlung und außerdem die Abſchnitte: „Sommer und Winter‘, 
„Fabellieder“, „Wett- und Wunſchlieder“, „Liebeslieder“ 2). Ohne 
Frage gehören diefe Arbeiten zum Reifiten und Vorzüglicften, mas 
Uhland gefrieben hat. Noch einmal jeden wir ihn hier das Jüngfte 
mit dem Aelteſten nerfnüpfen, aber, wie immer, nicht durch geift- 
reihe Einfälle, fondern durch forgfältige geſchichtliche Unterſuchung 
Was das Weſen des Vollslieds betrifft, fo tritt er der früherhin 
verbreiteten Anficht entgegen, „als gehöre bie Zerriſſenheit, das 
wunderliche Meberjpringen, der naive Unfinn zum Weſen eines ech⸗ 
ten und gerechten Vollslieds.“ „Schon die befiere Beſchaffenheit 
andrer Lieber gleichen Stils weiſt darayf Hin, daß auch ben mm 
zerrütteten die urſprüngliche Einheit und Klarheit nicht werde ge 
fehlt haben“ 3). Dies ergibt ſich um fo gewiſſer, alg man be 
geſchichtlicher Verfolgung der Zertvexberbniffe ſehr wohl nachweiſen 
Kann, durch welche Umftände die alten Texte zerrüttet worben find). 
Das Schönfte aber in diefen Abhandlungen ift der tiefe und früde 
Siun, mit dem Uhland in unfer Vollsleben einbringt. „Inden 
nun gezeigt worden, fagt er am Schluffe ber Einleitung, daß bie 
deutſchen Vollslieder aus dem Vollsleben zu erläutery und zu a 
gängen feien, fo Fonnte ſich zugleich bemertlih machen, daß ad 
umgetehrt das Volt ohne Beiziehyng feiner Poefie nur ymmellftän 
dig erkannt werde. Wenn die Sonne hinter den Wolken ficht, 
Tann weber Geftalt noch Farbe der Dinge vollfommen Kerwortseim; 
nur im Lichte der Poefie kann eiue Zeit klar werben, deren Beir 
ſtesrichtung weſentlich eine poetiſche war. Das bürftige, einförmige 
Daſein wird ein völlig andres, wenn dem friſchen Sinne bie gane 


1) Uhland's Schrifien zur Geſchichte der Dichtung und Sage, Bb. IV, 
1869, ger. von W. 2. Holland. — 2) Herausgegehen von Fram Peifier in 
Upland's Schriften zur Geſchichte der Dichtung und Sage, Gd. III (1866). — 
3) Ebend. S. 7. — 4) Ebend. ©. 6. 





Die Mitforfger der Vrüber Grimm. 878 


Natıre fih befreundet, wenn jeder geringfügige Befitz fabelhaft er- 
glänzt, wenn das prumflofe Feſt von innerer Luft gehoben ft; ein 
armes Leben und ein reiches Herz“ i). So greift bei Uhland bie 
Siehe zum dentſchen Bolfe und das Stublum der altdeutſchen Poefte 
feft in einander. „Eine Arbeit biefer ftilfen Art, ſchreibt er über 
feine Vollsliederforſchungen am 31. December 1849 an Hafler in 
Um, ſetzt ſich freilih dem Vorwurf aus, daß fie in ber jegigen 
Lage des Vateriandes nicht an ber Zeit fei. Ich betrachte fie aber 
nit lediglich als eine Auswanderung in bie Vergangenheit, eher 
als ein rechtes Einwandern in die tiefere Natur des deutſchen Volls⸗ 
lebens, an befien Geſundheit mar irre werben muß, werm man 
einzig die Erſcheinungen des Tages vor Angen hat, und deſſen ed» 
leren reineren Geiſt geſchichtlich Herzuftellen, um fo weniger unmäg 
ſein mag, je trüber und verworrener bie Gegenwart fich anläßt“ 2). 
Und am 7. October 1850 an Moriz Haupt: „Mitten in ber 
Schwüle biefer zerrütteten Zeit laſſen es doch jene Brummen aus 
der Tiefe des deutſchen Weſens niemals gänzlih an Labſal und Er- 
frifäung fehlen“ 3). 


4. Die auderen Mitforfher der Brüder Grimm. 


Wir haben in ben vorangehenden Abſchnitten drei hervorragende 
Männer von jehr verſchiedener Art beſprochen: Lachmann, Schmel⸗ 
ler und Uhland. Auch die übrigen Mitforiher der Brüder Grimm 
zeigen eine auferorbentlihe Mannigfaltigfeit der natürlichen Bes 
gabung und bes geiftigen Entwidlungsganges. Gerade diefe fi 
wechſelſeitig ergänzende Verſchiedenheit aber follte unſerer Wiſſen⸗ 
ſchaft weſentlich zu ſtatten kommen. 

Bevor wir das neu herauwachſende Geſchlecht der durch Grimm 
und Lachmann gewedten Forſcher beſprechen, müffen wir erft einiger 
Männer Erwähnung thun, deren Anfänge noch in bie vorige Per 
riode zurückreichen. Hier haben wir zuerft einen Dann zu nennen, 
der au in ber jekigen Periode feine Thätigleit auf bem Gebiet 


1) Eend. ©. 15 fg. — 2) Ludwig Uhland. Zum 26. april 1868. 


©. 41. — 3) Ebend. ©. 412. 
37 


580 Bieries Bud. Biweites Kapitel. 


der altdeutſchen Literatur vaftlos fortfegte, nämlich Friedr. Heinr. 
von der Hagen. Im J. 1821 als Ordentlicher Profeſſor an 
die Univerfität Berlin berufen, wo er 1856 ftarb, wibmete er 
feine Zeit Hauptfäglih der Herausgabe altdeutſcher Dichtungen. 
Außer vielen kleineren Arbeiten gehören biefer Periode folgende 
Hauptwerte Hagen’s an. Erſtens eine dritte Auflage feines Nibel- 
ungenlieds in ber Urfprade. Diesmal mit dem zweiten Titel: 
„Der Nibelungen Noth zum erftenmal in ber älteften @eftalt aus 
der St. Galler Urſchrift mit den Lesarten aller übrigen Hand 
ſchriften.“ Breslau 1820. Die Sammlung ber Lesarten ift na 
türlich bei weitem nicht volfftändig und bie ſprachliche Behandlung 
bes Textes leibet immer noch an vielen Gebrechen. Aber „auher 
einer gründlichen und ausführlichen Abhandlung über bie Geſchichte 
bes Liebes, über bie Handſchriften und ihr Verhältniß, endlich über 
die Einrichtung der neuen Ausgabe, erhalten die Leſer Hier zumäcit 
einen faft durchaus urkundlichen Text, lesbar und verftänblid bis 
auf wenige Stellen, in der Schreißmeije einer fehr guten Hand 
ſchrift, die in einigen Punkten mit Sprachkenntniß noch geregelt 
if.” So lautet (1820) Lachmann's anerfennendes Geſammturtheil 
in einer Kritit des Hagen'ſchen Werts, in welcher er bann ben 
Fehlern und Schwächen besfelsen mit gründlicher Schärfe zu Leibe 
geht 1). Insbeſondere ift die Sorgfalt zu rühmen, mit der Hagen 
das Verhaltniß der Handſchriften unterfugt. Der Hohenems «Laf 
berg’fchen als „der Nibelungen Lieb“ ftellt er die übrigen als „ber 
Nibelungen Noth“ gegenüber). Die Hohenems-Müncener nennt 
er „bie mangelhaftefte”, weil ihr „59 Lieber“ fehlen), dennoqh 
aber meint er, „fie ftamme, bei manden Auslafjungen und Ber 
fegen, wohl zunächſt aus ber älteften Urkunde“ 4). Auch hier (1820), 
wie bis an fein Ende, Hält übrigens Hagen an ber Ueberzeugung 
feft, daß „unfer Nibelungenlied von Einem großen und eblen, auf 


1) Jen. Allg. Literatur-Zeitung, 1820, Ergänzungeblätter Nr. 70fg. 
Neben ber größeren Ausgabe Hagen’s erſchien in demfelben Jahr (1820) auh 
noch eine Heinere. — 2) Einl. ©. XLVII, LI. — 8) @bend. ©. XXXIX — 
4) &benb. 6. XLIV. 


Die Mitforſcher der Brüder Grimm. 581 


ber ganzen Höhe feiner herrlichen Zeit ftehenden Dichter verfaßt 
iſt⸗ ). Die zweite Hauptarbeit Hagens aus diefer Periode ift 
„Der Helden Buch in der Urfprade”, das er herausgab in Ber, 
bindung mit Aloys Primiffer (geb. zu Innsbruck 1796, geft, 
als Euftos ber Ambrafer Sammlung in Wien am 25. Juli 1827) 2), 
Der erfte Band des Werkes erfhien zu Berlin im J. 1820 und 
enthielt außer dem Nofengarten den erften Drud des Viterolf und 
der Gudrun. So trat dies nur in ber Ambrafer Handſchrift er- 
haltene, von Aloys Primiffer (1816) entdeckte ) und ſeitdem fo 
berũhmt gewordene Gedicht, deſſen Hohen Werth Hagen ſogleich 
erkannte, zuerſt im bie Oeffentlichkeit. Der zweite Band (1825) 
gibt zum erftenmal das f. g. Helbenbuch des Kafpar von der Moen 
aus ber Dresdener Handſchrift, ebenfo zum erftenmal Dietrichs 
Ahnen und Flucht zu den Heunen und bie Ravenna⸗Schlacht, und 
außerdem einen neuen Abdruck des Hürnen Seyfried nad) Georg 
Wachter's Nürnberger Ausgabe 4). — Wie dem Nibelungenlieb, 
fo blieb auch der übrigen deutichen Heldendichtung Hagen's Thätig- 
keit bis an fein Lebensende gewidmet. So ließ er 1855 feinem 
erſten Heldenbuch ein zweites folgen, daS wieberum ſehr werthvolle 
Beiträge zur deutſchen Heldendichtung enthält. Darunter Alphart’s 
Tod, eins ber ſchönſten Gedichte aus dem Sagenkreife Dietrich's 
von Bern, zum erftenmal veröffentlicht. — Neben der beutfhen 
Heldenpoefte wandte Hagen auf ben aus franzöfiichen Quellen 
ſchöpfenden mittelhochdeutſchen Dichtern fein Intereffe zu. Im 
J. 1828 gab er zu Breslau Gottfried's von Straßburg Werke 
heraus, den Triſtan mit den Fortſetzungen Ulrich's von Thürheim 
und Heinrich's von Freiberg, wozu Hoffmann von Fallersleben 
noch die Brucftüde einer älteren deutſchen Triſtandichtung von 
Eilhart von Oberge fügte. — Aber nit bloß bie erzählende 


1) Einleitung S. XXVIII. — 2) Neuer Nekrolog der Deutſchen, Jahr: 
gang 1827, ©. 1180. — 8) J. G. Büfging’s Wöcentlige Nachtichten Ob. I, 
Bresl. 1816, ©. 46. 889. — 4) Ein vorangehenber Titel bezeichnet bies 
ganze Helbenbuch als: Deutſche Gedichte des Mittelalters her. v. F. H. dr 
ber Hagen und I. ©, Büfing. Zweiter Band. 


582 Viertes Bud. Zweiies Kapitel, 


Dichtung. beihäftigte Hagen, fondern fait in gleichem Maß aub 
die lyriſche. Viele Jahre bereitete er. das umfafjende Unternehmen 
einer Herausgabe aller mittelhochdeutſchen Lyvifer vor, bis endlich 
im 3.1888 das Wert erſchien unten dem Titel: Minnefinger. Deutihe 
Liederdichter des zwölften, dreizehnten und viergehnten Jahrhunderts, 
aus allen bekannten Handiriften und früheren Druden gefammelt 
und berichtigt, mit. ben Lesarten berfelben, Geſchichte des Lebens der 
Dichter und ihrer Werke, Sangweifen der Lieder, Reimverzeichniß 
der Anfänge, und Abbildungen: fünmtliher Handſchriften, von 
Friedrich Heinrich von der Hagen, Leipzig, vier Bände in Quart 
Hagen verfuhr dabet fo, daß er zuerft die „Maneſſiſche Sammlung 
aus ber Parifer Urſchrift, nach G. W. Raßmann's Vergleichung 
ergänzt und hergeſtellt· abdrucken ließ und dieſe dann „aus ben 
Jenaer, Heidelberger und Weingarter Sammlungen und den übti- 
gen Handfhriften und früheren Druden“ vervolfftändigte. Was 
das Wert fonft bietet, ift in dem oben angeführten, Titel enthalten. 
Endlich beſchäftigte ſich Hagen auch viele Jahre hindurch mit der 
Sammlung. der kleineren gereimten deutſchen Erzählungen aus dem 
12. bis 14. Jahrhundert, die er. dann in drei Bänden (Stuttgart 
und Tübingen 1850) unter dem Titel herausgab: „Gefammtaben 
teuer. Hundert altdeutſche Erzählungen: Nitter- und Pfaffen- 
Mären, Stadt- und Dorfgeſchichten, Schwänke, Wunderfagen und 
Legenden.” Die Sammlung gab vieles noch nicht Veröffentlichte, 
wenn auch das auf dem Titel ftehende: „meift zum erſtenmal ge 
druckt“, übertrieben war 1). Bon befonbevem Werth find die reich 
haltigen Nachweiſungen, die Hagen über bie „Geſchichte der einzel⸗ 
nen Erzählungen” gibt. — Faſſen wir ſchließlich unfer Uxtheil über 
Hagen's Leiftungen zufammen, fo werden wir feinen bedeutenden 
Berbienften, feiner. warmen. Liebe zur Sache, feiner barans. enb 
fpringenden anregenden Thätigfeit, feinem Sammlerfleiß alle Ge⸗ 
rechtigleit widerfahren laſſen. Wenige Gelehrte Haben fo viele 
Denkmäler unferer alten Literatur herausgegeben wie Hagen; noch 


1) Vgl. Franz Pfeiffer's Veurtheilung von Hagen's Wert in den Dkün 
jener Gelehrten Anzeigen 1851, I, Sp. 673. 


Die Mitſorſcher ber Brüder Grimm. 588 


wenigeren iſt es vergönut gewefen, fo viele wichtige Werke zum 
erfienmal zu veröffentlicgen. Aber fo verdienſtlich dieſe Bereicher⸗ 
ung unferes Materials war, fo wenig genägen Hagen’s Ausgaben 
den firengeren Anforberimgen ber philologifchen Kritif. Gerade bie 
ſpecifiſch philologiſchen Gaben find ihm bei aller Liebe zur Litera- 
tur und bei alfen fonftigen Talenten nur in geringerem Maß zu 
Theil getvorden: Diefer Mangel mußte natürlich; immer auffälfiger 
hervortreten, je mehr ſich bie germaniſche Philologie durch Grimm's 
Grammatit und Lachmann's Kritik zur Wiſſenſchaft geftaltete. Sm 
Grinmm’s: Grammatik hat fih der gereifte Mann noch in fehr' acht» 
ungswerther Weiſe Hineingenrbeitet. Aber Lachmann's Forderungen 
zu erfüllen, war er von Natur außer Stande. Wenn! man fid 
erinnert, mit welcher Meiſterſchaft Lachmann das kritiſche Verfahren: 
für die Behandlung altdeutſcher Texte feſtſtellte, fo macht es einen’ 
peinlichen Eindruck, zu ſehen, wie Hagen außer Stande, den neuen: 
Anforderungen zu genügen, fi mit einer Art von Troß gegen die 
gewonnene richtige Methode verſchließt '). Kam num dazu ber Ge- 
genſatz zwiſchen Hagen: und Lachmann in Bezug auf das Nibelums 
genlied und eine tiefgemurzelte und nicht unbegründete Abneigung 
der Brüber Grium gegen Hagen, fo erklärt fi bie einfame und 
zurũckgeſchobene Stellung, die diefer verdiente Gelehrte in’ feinen 
ſputeren Lebensjahren einnahm. 

Wir haben / hier zunächſt noch zwei andere Forſcher zu nennen, 
deren Anfänge in bie vorige Periode zurückreichen: Mone und 
den Freiherrn von Laßberg. Von Mone führen wir außer dem 
ſchon fräher: Erwähnten?) an’ die Quellen: und Forſchungen zur 
Geſchichte der teutjchen Literatur und Sprache (1830), bie Ausgabe 
des Reinardus Vulpes (1832), die „Unterfuhungen zur Geſchichte 
der teatſchen Heldenſage“ (1886)} bie Weberficht der nieberländifchen 
Bolls- Literatur. älterer Zeit (1838),. endlich die‘ „Alttentfchen 
Schauſpiele“ (1841) und bie „Schaufpiele des Mittelalters (1846). 
Auch vereinigte fih Mone (1834) mit Hans Freiheren von 


1) 88. darüber Ftanz Pfeiffer in ber oben angeführten Beurtheilung 
von Hagene Geſammabenteuer Sp 700 fg. — 2), S. 0: ©. 525. 


584 Viertes Bud. Zweites Kapitel. 


Auffeß zur Herausgabe bes von dem letzteren (1832) gegründeten 
Anzeigers für Kunde des deutſchen Mittelalters" — Joſeph 
Freiherr von Laßberg wurde geboren am 10. April 1770 zu 
Donaueſchingen. Nachdem er ſeit 1789 den Furſten von Fürſten⸗ 
berg als Forſtmann gedient hatte, zog er ſich 1817 von den Ge⸗ 
ſchäften zurück und lebte ſeitdem ganz dem Studium der älteren 
deutſchen Literatur und Geſchichte, erſt auf feinem reizenden Landſit 
Eppishauſen im Thurgau, dann ſeit 1888 auf dem ſchönen alten 
Schloß zu Meersburg am Bobenfee. Hier übte er eine wahrhaft 
patriarchaliſche Gaſtfreundſchaft. Bon nah und fern kamen bie 
Freunde der altdeutſchen Literatur, unter ihnen namentlich Upland 1), 
um°ben vitterlihen Greis und bie literarifhen Schäge, bie er um 
ſich verfammelt Hatte, kennen zu lernen. Seine Bibliothek. war 
eine ber koftbarften, die ſich je im Beſitz eines ſchlichten Privat- 
manns Befunden hat. Sie zählte 278 Handſchriften 2), und ber- 
unter bie berühmte Handſchrift O bes Nibelungenliebes. Nach Laß 
berg's Abſcheiden (15. März 1855) kamen feine Büderihäge in die 
Bibliothek des Fürften von Fürſtenberg zu Donaueſchingen. Noch 
Hei Lebzeiten Laßberg's Hatte ber Fuͤrſt bie Bibliothel gefauft, aber 
deren Benutzung ihrem bisherigen Vefiger auf Lebenszeit belaffen). 
Unter Laßberg's gelehrten Veröffentlichungen machen wir Bier nur 
namhaft feinen „Lieder Saal. das ift: Sammelung altteutfier Ge 
dite, aus ungebruften Quellen“, befjen vierter Band ben erſten 
Abdruck des Hohenems» Lafderg’fhen Nibelungentertes enthält. 
Schon 1820—25 gebrudt, aber vom. Herausgeber nur verſchenlt, 
lam biefe wichtige Sammlung erft 1846 in den Buchhaudel. 

Mit dem Erfeinen von Grimm's Grammatik (1819) und 
Lachmann's Ueherfiebelung nad Berlin (1825) begann fig ein 
neues Geſchlecht von Forſchern auf dem Gebiet der germauiſchen 
Philologie heranzubilden. Obwohl natürlich alle ben Einfluß von 


1) Drieſwechſel zw. Laßberg und Upland, her. von Franz Pfeiffer, Bien 
1870..— 2) K. A. Barack, Die Handschriften der fürstl. Fürstenberg. 
Bibliothek su Donaueschingen, Tübingen 1865, Vorw. 8. V. — 
3) Augsburg. Mgem. Zeitg. 1855, Ar. 81 Beil. — Sr. 194 Beil. 


B 


| Die Mitforfer ber Brüber Grimm. 585 


Luhmann’ Arbeiten erfahren, fo Tann man biefe Forſcher doch 
feiben in folge, die als Schüler Lachmann's zu bezeichnen find, 
amd in folde, bei denen dies nicht der Fall ift; und zwar ift hier 
nicht immer ber perſönliche Unterricht Lachnann's das Entſcheidende, 
ſondern auch der Anſchluß an feine Art umb Weiſe. Unter ben 
Gelehrten, deren Tätigkeit in ben “Jahren 1819 His 1840” beginnt, 
heben wir zuerft einige hervor, bie, obſchon mit Lachmann in Bes 
rührung gelommen, doch nicht deſſen Schule beigezählt werden kön⸗ 
nen, nämlich Hoffmann von Fallersleben, Maß mann und 
Graff. 

Heinrich Hoffmann wurde geboren am 2. April 1798, zu 
Fallersleben im ehemaligen Churfürſtenthum Hannover. Im 
%. 1816 bezog er die Univerfität Göttingen, um Theologie zu 
ftubieren, vertaufchte jedoch dies Studium bald mit dem der Phi⸗ 
lologie. Angeregt durch 3. G. Welder, warf er fi mit Vorliebe 
auf das Studium der Archäologie und wollte ſich vorbereiten zu 
einer Reife nad) Italien und Griechenland. Da lernte er durch 
einen günftigen Zufall auf ber Kaffeler Bibliothek Jacob Grimm 
lennen. Ich fand ihn eben beſchäftigt mit feiner Grammatik“, 
fo erzählt uns Hoffmann ſelbſt. „Mehrere Bogen lagen bereits 
gebrudt vor. Ich ſah und erftaunte, eine neue Welt gieng mir 
auf, ic wurde nachdenklich und ſchwankend in meinen Plänen.“ 
„Den anderen Tag fahen wir uns wieder auf der Bibliothel. Jetzt 
lernte ich auch feinen Bruber Wilhelm kennen.“ „Ms id mit Ja⸗ 
cob zuſammen die Treppe hinab gieng, erzählte ih ihm, daß ich 
nad Italien und Griechenland zu reiſen beabfidtigte, um dort an 
Ort und Stelle die Weberbleibfel alter Kunſt zu ftubieren. „„Liegt 
Ihnen Ihr Vaterland nicht näher?““ fragte er darauf in einem 
herzlichen, Tiebevolfen Tone. Ich höre die Worte noch heute, bie 
Worte vom 5. September 1818. Noch auf der Meife entſchied id 
mich für die vaterländiſchen Studien: deutſche Sprade, Literatur⸗ 
und Kulturgeſchichte, und bin ihnen bis auf dieſen Augenblick treu 
geblieben" i). Won Göttingen überfiedelte Hoffmann im J. 1819 

1) Mein Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen von Hoffmann von 
Sallersteben, ®b. I, Hannover 1868, ©. 125. 


586 Biertes Bud. Zweites Kapitel, 


nad Bonn Auf ber dortigen Univerſitätsbibliothel entdedte er 
Brudftüde einer Handſchrift von Otfrid's Evangelienbuch. Ihrer 
Veroͤffentlichung (1821) fügte er ein VBruciftüc des mittelnieder⸗ 
länbifchen Romans Renout van Montalbaen und eine Ueberfiht 
über bie Denkmäler der mittelniederländiſchen Dichtung Hinzu: 
Trefflich vorbereitet, unternahm er hierauf im J. 1821 eine Reiſe 
nad Holland. Ein mehrmonatliher Aufenthalt in diefem Lande 
gewann ihm die Zuneigung Bilderdijl's 1) und anderer bebeutenber 
Gelehrten, und feine Forfhungen auf den dortigen Bibliotheken 
boten die Mittel zu feinen epochemachenden Reiftungen auf dem Ge 
biet, der älteren niederländiſchen Siteratim 2). Nach einem längeren 
Aufenthalt in Berlin (1821—1828), wo er ſich bes lebhaften Ver⸗ 
kehrs mit Hartwig von Meuſebach erfreute, erhielt Hoffmann (1823) 
eine Stelle an der Central Bibliothek in Breslau ?). Auf Grund 
lage feiner bedeutenden gelehrten Arbeiten wurbe er 1830 zum 
außerorbentlihen *), 1885 zum ordentlichen Profeffor der deutſchen 
Philologie 6) am der Untverfität Breslau ernannt. Als er aber in 
feinen „Unpolitijgen Liedern“ die damaligen Zuftände Deutſchlands 
angviff, wurde er (1843) aus feinem Amt als Profefior ohne Pen- 
fton entlaffen 9, Es folgte mın ein langes und unftätes Wartder- 
leben. Ein mehrjähriger Aufenthalt: in Weimar (1854—1860)- bot 
auch feine dauernde Befriedigung. Endlich bereitete bie Ernennung 
zum Bibliothelar des Herzogs von Ratibor in Corvey (1860) dem 
viel geprüften Gelehrten: wieder eine ruhige Stätte). — Wir 
haben Hier Hoffmann von Fallersleben weder als Dichter;, noch als 
Politiker zu ſchildern. Nur fo viel. ſei uns zu bemerken erlaubt 
daß Hoffmann's Dichten. ſich mit feinen germaniſtiſchen Stuben 
auf das näcfte berührt. Was aber Hoffmann den Politiker ber 
trifft, fo wird fein Lebenslauf jedenfalls dazu dienen, das / Vorur⸗ 
theil zu befeitigen, daß bie Liebe zur altdeutſchen Literatur eine 


1) Vgl. Brieven van Mr. Willem Bilderdijk aan A. H. Hoffmann 
van Fallersleben. Rotterdam 1837. — 2) Bgl. Hoffmann, „Mein Lehen“ 
u. ſ. f. I, 258-297. — 3) Ebend. 1,386, — 4) Ebenb IL, 181. — 
5) &benb. II, 296. — 6) Ebenb. IV, 32. — 7) Ebendi VI; 908. 


Die Mitforfger ber Vrüber Grimm. 887 


reactionäre Geſinnung vorausſetze. — Hoffmann's gelehrte Thatigkeit 
erſtrectt ſich vorzugsweiſe auf zwei Seiten: Die Herausgabe ger⸗ 
maniſcher Sprachdenkmale und die literaturgeſchichtliche Forſchung. 
Die Gebiete, denen er feinen Fleiß zuwendet, find ſehr mannig⸗ 
facher Art. Doc tritt eins derfelden infofern in den Vordergrund; 
als Hoffmann auf ihm unter aller deutſchen Gelehrten ohne Wi⸗ 
derſtreit bie erfte Stelle einnimmt: Die Erforſchung ber älteren 
nieberlänbifhen Literatur. Den größten Theil feiner dahin gehöri« 
gen Arbeiten hat Hoffmann in feinen „Horse Belgicas“ nieder-⸗ 
gelegt, die in ben Jahren 1830 bis 1862 in zwölf Theilen er⸗ 
ſchienen und die werthvollſten Beiträge zur Kenntniß der älteren 
nieberlänbifchen Literatur enthalten. Gleich zum Eingang gab er 
(1880) eine bibliographiſch⸗ literariſche Abhandlung „De antiquiori- 
bus Belgarum literis“, die alles, was wir bis dahin über diefen 
wichtigen Biweig ber germaniſchen Piteratur beſaßen, weit Hinter 
fi ließ, und die er feloft dann fpäter (1857) in einer noch ſehr 
bereicherten zweiten Ausgabe zu einer „Ueberficht ber mittelnieder⸗ 
ländiſchen Dichtung“ umgearbeitet Hat. Die folgenden Theile ver- 
öffentlichen eine Reihe mittelnicderländifcher erzählender Dichtungen 
und Schaufpiele mit Anmerkungen und Gloffaren, legen den 
Grund zu einem Glossarium Belgicum, machen bie feltene älteſte 
Sammlung niederländifher Sprichwörter durch einen neuen Ab⸗ 
druck zugänglid), und geben eine reiche Ausbeute an nieberlänbi» 
fhen Volksliedern. Dieſen legten wandte Hoffmann feine beſon⸗ 
dere Vorliebe zu, fo daß er die 1883 zum erſtenmal erſchienene 
Sammlung im %. 1856 mit vielen Vereiherungen zum zweiten . 
mal herausgeben Tonnte. Schon als er bie erfte Ausgabe ver- 
öffentlichte, Hatte ſich Hoffmann in die Spradje und den Tor biefer 
Dichtungen in ſolchem Mafe eingelebt, daß er zwei von ihm ſelbſt 
gedichtete altholländiſche Lieder unter die übrigen einfchieben Tonnte, 
ohne daß jemand bie Unechtheit bemerkte. Ya einer ber erften ein- 
heimiſchen Kenner der altniederländifchen Literatur, Willens in 
Gent, nahm (1848) ohne alles Arg dieſe Gedichte Hoffmann’s in 
feine Sammlung alter. vlaemiſcher Lieder auf !), Später (1852) 2) 
yy Horae Belgicae, P. VII, p. V. — 2) Ebend. p. IV 2q. 


588 Biertes Buch. Zweites Kapitel. 


bekannte fi Hoffmann als Verfafler, Tieß fie (1856) in der zwei⸗ 
ten Ausgabe feiner Niederländiſchen Vollslieder weg, hatte fie aber 
inzwiſchen (1852) mit noch 28 anderen von ihm gedichteten alt, 
niederländiſchen Liedern ımter feinem Namen von neuem abbruden 
laſſen *). Eine fo tiefe und umfaffende Kenntniß der älteren nie 
derländiſchen Literatur hatte fi Hoffmann natürlich nur mit Hälfe 
wiederholter Neifen nad Holland und Belgien erwerben Tönnen. 
In jenen Ländern fanden feine Leiftungen bie größte Anerkennung. 
So füllten fie nit bloß eine weſentliche Lücke in den Studien der 
deutſchen Germaniften aus, ſondern Hoffmann's Eifer für bie alt 
niederlandiſche Dichtung wecte aud) In deren Heimath bie erkaltete 
Liebe zu dieſen Studien, wie dies ber größte dortige Kenner bes 
Atnieberländifcgen, Profeſſor M. de Vries in Leiden, mit warmen 
Worten bezeugt ?). Nah verwandt feinen niederländiſchen Studien 
waren bie Bereiherungen, welche die mittelnieberbeutiche Literatur 
Hoffmann verdankt: die erfte Veröffentlichung des niederdeutſchen 
Schaufpiels Theophilus aus dem 15. Jahrhundert (1853. 1854), 
cine neue Ausgabe bes Meinefe Vos (1834), ber nieberbeutide 
Aeſopus (1870) und bie ältefte niederdeutſche Sprichwörterſamm⸗ 
lung von Tunnicius (1870). Neben feinen niederländiſchen und 
niederdeutſchen Arbeiten widmete ſich Hoffmann mit nicht geringe 
rem Eifer auch ben hochdentſchen Sprachen. Beſonders verbanft 
ihm die Kenntniß des Althochdeutſchen ſehr wichtige Bereicherungen. 
Auch hier iſt es hauptſächlich das Auffinden und Herausgeben von 
Sprachquellen, wodurch ſich Hoffmann verdient macht. Im J. 1897 
entdedt er zu Valenciennes die ſeit Schilter's Tagen verlorene 
Handſchrift des Ludwigslieds von neuem und gibt fie in Gemein 
ſchaft mit Willens Heraus °). Schon vorher (1827) Hatte 


1) Horse Belgicae P. VIII, (1852). In P. XII ber Horae Bel- 
gicae (1862) fügte Hoffmann noch neunzehn weitere don ihm gebictete al: 
niederlandiſche Lieder bei. — 2) In der Wibmung feines großen Middel- 
nederlandsch Woordenboek (1864) an Hoffmann von Fallersleben. — 
8) Ueber die merkwürdige Geſchichte der Entdectung und fein Berhältuiß u 
Willems Elnonensia (Gand 1897) eigen Hoffmann in feinem Leben II, 

20 — 25. 





Die Mitforiger der Brüder Grimm. 589 


williram's Paraphraſe des Hohen Liebes in doppelten Terten aus 
ber Breslauer und Leidener Handſchrift herausgegeben. Auch hier 
waren es vor allem die gelehrten Reiſen durch einen großen Theil 
Deutſchlands, insbefondere Deftreihs, die Hoffmann's unermüdlichem 
Spürfinn eine reihe Ausbeute gewährten. Wir nennen bier nur 
das althochdeutſche Gedicht, das Hoffmann unter bem Titel Meri- 
garto (1834) veröffentlihte, dann feine Althochdeutſchen Gloſſen 
(1826) und bie Fragmente der älteften hochdeutſchen Ueberfegung 
des Evangeliums Matthäi aus dem achten Jahrhundert, bie Ste- 
phan Endlicher C} 1849) auf der Wiener Bibliothek auffand und 
gemeinfam mit Hoffmann (1834) herausgab. Einen großen Theil 
feiner Entbedungen veröffentlite Hoffmann in zwei ſehr werth« 
vollen Sammelwerten, den „Fundgruben für Geſchichte deutſcher 
Sprache und Literatur (I. 1830. II. 1837) und den „Altdeutſchen 
Blättern“, die er in Gemeinſchaft mit Moriz Haupt (I. 1836. IT. 
1837—1840) herausgab. Hier findet namentlich; auch bie deutſche 
Dichtung des 12. und 18. Jahrhunderts widtige Bereicherungen. 
Unter Hoffmann’s zahlreichen literaturgeſchichtlichen und bibliogra- 
phiſchen Schriften ift vor allem feine Geſchichte des deutſchen Kir⸗ 
chenlieds bis auf Luthers Zeit (1882, und ſehr vermehrt 1864) zu 
nennen. Auch aus feinen literaturgeſchichtlichen Schägen gab Hoffe 
mann Vieles in zwei Sammelwerfen vereinigt, in dem „Weimari» 
ſchen Jahrbuch für deutſche Sprache, Literatur und Kunft“, das er 
mit Oskar Schade (1854— 1857) herausgab, und in den „Find» 
Yingen. Zur Geſchichte deutſcher Sprache und Dichtung“ (1860). 
Unter ben rein biblographiſchen Schriften Hoffmann’s Heben wir 
hervor das „Verzeichniß ber Altdeutſchen Handſchriften ber I. f. 
Hofbibliothek zu Wien" (1841). Auch auf oberbeutichem Gebiet 
richtete ſich Hoffmann’s Aufmerffamkeit mit Vorliebe auf bas 
Boltsthümlie. „Unfere voltstäimligen Lieder“ (1859) 1) geben 
mũhſame und genaue Nachweiſungen über die Lieder neuerer Dice 
ter, bie unter dem Volle die weitefte Verbreitung gefunden Baben. 
„Die deutſchen Geſellſchaftslieder bes 16. ımb 17. Jahrhunderts“ 


1) Die erſte Ausgabe im Weimarifjen Jahrbuch VI (1857). 


590 Wieries Buch. Zweites Kapitel. 


(1844) achmen ſich einer kulturgeſchichtlich wichtigen Gattung an. 
Die „Shlefiigen Volkslieder mit Melodien. Aus dem Bunde 
des Volles gefammelt“, (1842) waren neben vielen anderen auf 
Schleſien bezůglichen Schriften ein bleibendes Denkmal von Hoffe 
mann's Aufenthalt in diefem Lande. Auch das Mundartliche hatte 
für Hoffmann einen beſonderen Reiz. Dichtete er doch felbft „Ale 
manniſche Lieber“ (1826) und betheiligte ſich vielfach an der mund- 
artlichen Forſchung, namentlih durch eine Darftellung feiner hei⸗ 
mathlichen Fallerslesener Mundart (1858) 1). Noch Haben wir 
ſchließlich ein Wert Hoffmann’s zu erwähnen, das die Grunblinien 
unferer Wiffenfhaft bieten follte: „Die deutſche Philologie im 
Grundriß. Ein Leitfaden zu Vorlefungen“ (1836). Hoffmann 
faßt „bie deutſche Philologie" als „das Studium des geiftigen 
Lebens des beutfchen Volkes, infofern es ſich durch Sorache und 
Kiteratur kundgibt“ 2). Er behandelt feinen Gegenſtaud zwar nur 
bibliographiſch aber mit geoßer Umfiht und Zuverläffigfeit, und 
eine lehrreiche Vorrede gibt Auskunft über fein Verfahren 3). 

Bon einer gang amberen Seite als Hoffmann kam Hans 
Serdinand Maßmann au die altveutfhen Studien heran. 
Geboren am 15. Auguſt 1797 zu Berlin, wo fein Vater ein ftred- 
ſamer und gefäieter Uhrmacher war, beſuchte Maßmann das 
Friedrich Werderſche Gymnaſium daſelbſt in der Zeit, in der Jahn 
den Berliner Turuplatz gründete. Jahn's Weſen machte auf den 
iungen Maßmann einen unauslöfgligen Eindrud. Deutſch zu fein 
in Wort und That, wurde fortan Biel feines Strebens. Im 
J. 1814 bezog er die Univerfität Berlin, um Theologie zu ſtudie ⸗ 
ven. Aber fon im folgenden Jahr (1815) unterbrach er feine 
Studien und machte als freiwilliger Jäger ben Feldzug nah 


1) Sonderabbrud aus Frommann’s Dentfgen Wumbarten, V (1858). — 
2) Vor. 8. V. — 3) Wir Haben hier natürlich mur die hauptfächlichhen Ar 
beiten Hoffmaun's hervorheben Können. Ein vollſtändiges Verzeichnth feiner 
Eqriſten (bis 1868) gibt: Hoffmann von Fallersleben 1818—1868 Funf- 
zig Jahre diohterischen und gelehrten Wirkens bibliographisch dar- 
gestellt von J. M. Wagner. Wien 1869, 


Die Mitjſorſcher der Brüder Grimm. 39 


Feankrei mit. Von 1816 bis 18 ftnbierte er dann abwechſelnd 
in Jena und Berlin. Ein eifriges Mitglied der neugegründeten 
Burſchenſchaft nahm er Theil an der Begeifterten Feier ber dent⸗ 
fen Reformation, die am 18. Oktober 1817 zugleich mit bem 
Jahrestag der Schlacht bei Leipzig auf der Wartburg begangen 
wurde. Als die Aufgabe feines Lebeus betrachtete Makmansı, für 
eine echt deutſche, körperlich und geiftig gefunbe Erziehung ber 
Jugend zu wirken, und namentlich fah er im Turnweſen einen 
weientlihen Beſtandtheil einer ſolchen Erziehung. Nachdem er 
mehrere Jahre (feit 1818) in Breslau, Magdeburg und Nürnberg 
als Jugendlehrer thätig geweſen war, kehrte er nad) Berlin zurück 
„uunmehr feine früh und ſtets mit Liebe gehegten hiſtoriſchen Sta⸗ 
dien der Mutterjprache beftimmter aufzunehmen" 1). Im 3. 1824 
machte er eine „ſprachwiſſenſchaftliche Reife“ durch das weſtliche 
Deutſchland, um die Bibliotheken für ältere Deutſche Literatur aus⸗ 
zubeuten. Zwei Jahre danach (1826) wurde er Turnlehrer au 
ber abetten-Anftalt zu Münden, und 1828 erhielt er ven Auf⸗ 
trag, „eine öffentlihe Turnanftalt für die Schulen der Hauptſtadt 
zu errichten.“ Zugleich Hielt er Vorlefungen über ältere deutſche 
Literatur vor Studierenden und Künftlern. Im J. 1829 wurde 
er zum auferorbentlihen, 1835 zum ordentlichen Profefjor an der 
Univerfität ernannt. 1842 nahm er einen Ruf na Berlin au 
als Leiter des neu einzurichtenden preußiihen Tuxnweſens und 
Profeſſor an der Uuiverfität 2). Maßmann's gelehrte Tätigkeit 
war eine fehr mannigfaltige. So weit fie in unferen Bereich fülft, 
bezog fie ſich hauptſächlich auf das Gothiſche, Mittelhochdeutſche und 
Althochdeutſche. Eine Reihe bedeutender Denkmäler verdankt Maß ⸗ 
mann ihre erſte Veröffentlichung durch den Druck. So ber He 
rander des Pfaffen Lamprecht (1828) 3), und die übrigen Gedichte 


1) Raßmann's Selbfibiographie in: Adolph von Gchaben, Gelehrte 
Dänen, Münden 1824, 6. 70. — 2)_Bgl. außer ber oben angeführten 
Selbſibiogtaphie den Artikel Mafmann in Brodgaus Real» Encyllop. (11) 
9, 927. — 3) Denkmäler Deutſcher Sprache und Literatur aus Handſchriften 
des 8. bis 16. Jahrhunderts zum erflen Male herausgegeben von H- 8. 
Maßmann. Münden — 1828, ©. 16— 75, 





692 Biertes Bud. Zweites Kapitel. 


des 12. Jahrhunderts, welde die ſtraßburg⸗ molsheimiſche Hand» 
ſchrift entHält (1887) i), der Eraclius (1842), der Alexius (1843). 
Ebenſo eine Anzahl Heinerer althochdeutſcher Denkmäler, bie Maß⸗ 
mann vereinigt mit ben bereit3 veröffentliten unter dem Tiel: 
„Die deutſchen Abſchwörungs⸗, Glaubens-, Veiht- und Betformeln 
vom achten bis zum zwölften Jahrhundert“, 1839 herausgab. Vor⸗ 
zugsweiſe aber find es zwei Gegenftände, die Maßmann's germa⸗ 
niſtiſche THätigfeit viele Jahre hindurch in Anfpruc nehmen: Die 
Mefte des Gothiſchen und die f. g. Kaiſerchronik. Im J. 1838 
zeifte er im Auftrage des Kronprinzen Marimilian von Bayern 
nad Jtalien, um bie gothiſchen Sprachreſte auf den Bibliotheken 
zu Mailand, Rom und Neapel zu unterſuchen. Die Frucht dieſer 
Reife war die erfte Veröffentlihung von Brucftüden einer gothie 
fen Auslegung des Evangeliums Johannis (Münden 1834) und 
eine vorzügliche neue Ausgabe der gothiſchen Urkunden von Neapel 
und Arezzo (1887). Endlich nad; vieljähriger Vorbereitung er 
ſchien: „Ulfilas. Die Heiligen Schriften alten und neuen Bundes 
in gothiſcher Sprache. Mit gegenüberftehendem griechiſchem und 
lateiniſchem Texte, Anmerkungen, Wörterbuch, Sprachlehre und ger 
ſchichtlicher Einleitung von H. F. Maßmann. Stuttgart 1857." 
Wie auf den Ulfilas, ſo verwendete Maßmann auf die Herausgabe 
der Kaiſerchronik eine lange Reihe von Jahren in muhevoller Ar⸗ 
beit. Schon auf ſeinen gelehrten Reiſen im J. 1824 hatte er ſein be⸗ 
ſonderes Augenmerk auf bie Handſchriften biefes Wertes gerichtet und 
bereits 1825 die Herausgabe desſelben angefünbigt. Aber erft in 
den Jahren 1849 bis 1854 gelangte ber Entſchluß zur Ausführ ⸗ 
ung, weil immer neues handſchriftliches Material den urſprünglichen 
Plan erweiterte und bereicerte. Nun aber war es dem Heraus⸗ 
geber auch möglich gemacht, ſowohl die verſchiedenen Bearbeitungen 
des Kertes zu erkennen, als aud das Ganze mit mühfamen und 
werthvollen Unterfugungen über die Entftehung und das Forilchen 
bes Wertes zu begleiten. 


1) Quedlinburg und Leipsig 1837. 


Die Mitforfher ber Brüber Grimm, 598 


Wie Mafmann, fo am auch Eberhard Gottlieb Graff 
von Seite der Pädagogik zu den altveutfhen Stubien. Geboren 
am 10. März 1780 zu Elbing widmete fih Graff (1797) zu Rd- 
nigsberg der Vorbereitung zum Lehramt, wurde 1802 Lehrer am 
Gymnaſium zu Jenkau, 1805 gründete er eine Töchterſchule zu El⸗ 
Bing, Yam dann aber 1810 als Schulrath zur Megierung in Ma- 
vienwerder und fpäter (1814) in gleicher Eigenſchaft nach Arnsberg 
und Koblenz. Er nahm fih mit großem Eifer bes Unterrichtswe⸗ 
ſens an und veröffentlichte (1817) wohlgemeinte, wenn auch keines⸗ 
wegs Mare und praktiſche Vorſchläge zu deſſen fundamentaler Um- 
geftaltung 1). Im J. 1813 war er Mitglied des Central-Comitss 
unter dem Freiherrn vom Stein. Schon als Pähagog hatte er 
die Wichtigkeit der deutſchen Sprade für Erziehung und Unterricht 
mehr und mehr kennen lernen. Als er im J. 1820 wieber in 
feine Heimath verfegt wurde, und zwar anfangs ohne Amt, warf 
er fi) ganz auf das gelehrte Studium der deutfhen Sprade. Die 
eben erſchienene Grimm'ſche Grammatit bot ihm dazu die Grund⸗ 
Inge und der perfönlihe Umgang mit Lachmann in Königsberg bie 
fierfte Leitung 2). 1823 erhielt er die Doctorwürbe, 1824 eine 
Brofeffur der deutſchen Sprahe an ber Univerfität Königsberg. 
Im 5%. 1830 gab er alle amtliche Thätigkeit auf und lebte fortan 
mit Genehmigung der Regierung ganz feinen gelehrten Arheis 
ten zu Berlin, wo er nad langen Kränkeln am 18. Oktober 
1841 ſtarbꝰ). Obwohl Graff fih mit den verſchiedenen älteren 
germanifen Sprachen bekannt machte, ja feine Studien auch über 
die Grenzen des Germanifhen hinaus auf dag Sanskrit erftredte, 
fo Hatte er ſich doch glei beim Beginn feiner Forſchungen ein be 
ſtimmites Gebiet zur Bearbeitung ausgefuht: Das Athocbeutiäl. 


1) Bgl. darüber K. Bormann, Graff als Pädagog, im Neuen Jahrbuch 
der Berliniſchen Geſellſchaft für Deutſche Sprache, Bd. V (1843), S. 67 ig. — 
2) Graff, bie althochdeutſchen Präpofitionen, Widmung an Grimm, ©. IV fg. 
Bal. Hertz, Lachmann, Berl. 1851, $. 50. — 8) Sr. $. von ber Hagen, 
Erinnerung an E. ©. Graff, im Neuen Jahrb. ber Berlin. Geſellſchaft für 


Deutfdge Sprache. Bb. V (1843), ©. 58 fg. 
Rammer, Gef. ber germ. Phulolegie. 38 


584 Vierte Bud. Zweites Kapitel. 


ESchon im J. 1821 begann er die Sammlung eines althochdentſchen 
Sprachſchahes '), und auf bie Ausarbeitung biefes Werkes find von 
da an mittelbar oder unmittelbar alle feine Beſtrebungen gerichtet. 
Im 9. 1824 gab er als Vorläufer feines fünftigen Sprachſchates 
eine Schrift über bie althochdeutſchen Praepofitionen heraus, die 
Jacob Grimm gewidmet ift und die beffen vollen Beifall erntete?). 
In den Jahren 1825 bis 27 machte Graff mit preußiſcher Unter 
ftägung eine gelehrte Reife durch Deutſchland, Franlreich, bie 
Sqhweig und alien, um aus ben Handferiften ber Bibliothelen 
Material für feinen althochdeutſchen Sprachſchatz zu ſammeln. Die 
Früchte diefer Reiſe veröffentligte er tHeilweife in einer Zeitigrift: 
Diutiska. Denkmäler deutiher Sprache und Literatur, aus alten 
Hanbiäriften zum erſten Male teils Herausgegeben, theils nad 
gewiefen und befrieben.“ Drei Bände 1826 — 29. Graff gikt 
bier zwar auch ſchätzbare Beiträge zur mittelhochdeutſchen Literatur, 
die wichtigſte Stelle aber nehmen die vielen bier zum erftenmal 
veröffentlichten althochdeutſchen @loffen ein. Im J. 1831 gab 
Staff den Tert von Otfrid's Evangelienbuch unter dem Titel: 
Krist, weit beffer heraus, als man ihn Bis bahin beſeſſen hatte. 1887 
ließ er bie althochdeutſchen Bearbeitungen bes Boethius, bes Mar⸗ 
cianus Capella und von Ariftoteles xernyoglas und wege dam- 
velas, 1839 die Windberger und Trierer Interlinearverſionen der 
Palmen folgen. Aber alle diefe Bemühungen betrachtete Graff 
nur als Hülfsorseiten für fein Yauptwert: Den althodbeutigen 
Sprachſchat. WS es endlich fo weit war, daß bie Veröffentlichung 
desſelben hätte Beginnen Können, fanb fih fein Verleger, ber bie 
großen Koften des Druds daran zu wagen bereit gewefen wäre 
Da trat ber preußiſche Kronprinz Friedrich Wilhelm (der nachmalige X 
nig Friedrich Wilhelm IV.) in's Mittel und übernahm die Koften ber 
Veröffentligung auf feine Kaffe. So konnte im J. 1834 ber erfte 
Theil von Graff's althochdeutſchem Sprachſchatz erigeinen. Im 


1) Graf, Althochd. Sprachschats I, Vorr. 8,I. — 2) 3. Grium 
an Hoffmann von Fallersiehen d. 28. Aug. 1824, in Pfeiffer's Germanis 
ZI, 886. 


Die Mitforſcher der Brüder Grimm. 505 


3. 1886 folgte ber zweite Theil, 1837 der dritte, 1838 ber vierte, 
1840 ber fünfte. Vor Volfendimg des fechften Theiles, welcher das 
ganze Werk abſchließen follte, ſtarb Graff. Diefer Theil wurde aus 
Groff3 Papieren, fo weit biefelden reichten, und mit Benutzung 
von Schmeller’s Sammlungen durch Mafmann (1842) heraus 
gegeben. Auch fügte Maßmann (1846) einen felftändigen alpha 
betiſchen Inder über das ganze Wert Hinzu. Graff hatte nämlich 
die althochdeutſchen Wörter nicht nach dem Alphabet georbnet, fon 
dern nach Wurzeln, und auch diefe find nicht nach unjerem Alpha 
bet aufgeftelft, ſondern fo, daß bie vocaliſch anlautenden ven Anfang 
machen, dann J und W, darauf 2, R, M, N, dann die Labialen, 
die Gutturalen, die Dentalen folgen, fo daf die mit S anlauten« 
den Wörter den Schluß bilden. Das Auffinden wird aber noch 
mehr erſchwert dadurch, daß Graff öfters althochdeutſche Wörter 
unter Sanskritwurzeln bringt, unter denen fie niemand fucht. Diefe 
Säwierigfeit des Gebrauchs und fo mande Ungenauigkeiten und 
Verfehen, die fih Graff beim Leſen der Handſchriften Kat zu 
Schulden kommen laſſen, hat man dem Werk nicht felten zum Vor⸗ 
wurf gemacht. Aber alle diefe Mängel zugegeben, ift Graff's ums 
fangreiches Lebenswert doch ein höchſt verdienſtliches. Es bietet 
nad zwei Seiten Hin ein Hülfsmittel, wie es vor Graff auch nicht 
amäherungsweife vorhanden war. Erſtens gibt e8 die Wörter der 
eigentlichen althochdeutſchen Literatur mit einer veihen Anzahl von 
Belegen aus Otfrid, Notler, Iſidor u. f. w., und zweitens ſam⸗ 
melt es den größten Theil der überaus zahlreichen althochdeutſchen 
Gloſſen in einer folden Weife, daß es eine, wenn auch mit Bor 
fit zu benutzende Grundlage für die ganze hochdeutſche Wortfor⸗ 
ſchung bildet. 

Lachmann's Ueberſiedelung nad Berlin bezeichnet einen 
Wendepunlt in der Entwidlung der altveutfcen Studien, indem 
diefer Meifter der philologifhen Kritit nun eine fürmlide Schule 
gründete für die methodiſche Behandlung der altdeutſchen Literatur. 
Sein Einfluß griff um fo tiefer ein, als er mit feinen begabteften 
Schülern auch in einen regen perfönlihen Verkehr trat. Einen 
geſellſchaftlichen Vereinigungspunlt für bie gründlichſten Vertreter 


38° 


806 Viertes Bud. Zweites Kapitel. 


der alidentſchen Stubien bildete damals daB Hans des Präfbenten 
Karl Hartwig Gregor von Menſebach in Berlin. Gebe 
ven am 6. uni 1781 zu Wodftebt bei Artern Hatte Meuſebeqh 
in @öttingen und Leipzig bie Rechte ftubiert und war nad man 
nigfachen juriſtiſchen Beamtungen in Dillenburg, Trier und Rob 
Teng zulegt Praſident bes rheiniſchen Caſſationshofs in Berk 
geworden. Seit dem J. 1842 aus bem Staatsbienft getreten, 
finb er am 2. Aug. 18471). Die Mufeftunden, die ifen fein 
praltiſcher Beruf lieh, hatte Meuſebach von früh an dem Gtubime 
der beutfejen Literatur gewidmet. Sein naͤchſtes Biel war, bie in 
Drud erſchienene deutſche Literatur bes 16. bis 18. Jahrhunderts 
in möglichfter Vollſtändigheit zu ſammeln. Er verfolgte biefes Ziel 
mit ſolcher Sachtenntniß, Aufopferung und Beharrlichkeit, daß es 
ihm gelang, eine Bibliothek zuſammen zu bringen, die tm Bezug anf 
die deutſche Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts nicht ihres gei⸗ 
Gen hatte 2). Nach feinem Tode iſt diefelbe von ber preufifchen fer 
gierung für die königliche Bibliothek in Berlin angelauft worben. 
Meuſebach war aber nichts weniger als ein bloßer Büderfammler. 
Boll Geiſt, Scharffirm und Humor wandte er vielmehr das lebhef ⸗ 
tefte Intereſſe der Literatur felbft zu, und namentlich waren es bie 
feiner eigenen Natur verwandten Erſcheinungen, vie ihn wor allem 
anzogen: Johann Fiſchart und das deutſche Volkslied. Zeitlebens 
bat er für beide Zwecke geſammelt, ohne doch je zum Abſchluß za 
gelangen. Was wir auf wiſſenſchaftlichem Gebiet von ihm beſihen 
Fund einige Kritiken, die ebenfo feine profunde Beleſenheit, wie fer 
nen geiftreichen Humor bezeugen, die eine über Halling's Ausgabe 
von Fiſcharl's Gluchaftem Schiff ®), bie andere eim humoriſn⸗ 
ſcher, auf feinem Gebiet berechtigter Angriff anf Grimm’ Grm 


1) Brochaus, Real-Encytlop. (11) X, S. 187 fg. — 2) Mt. Die 
deutschen Sprichwörtersammlungen nebst Beiträgen sur Cliarasteri- 
stk det Meusebach'schen Biblivthek: Bine bibliogr. Skizze von Julios 
Yachbt. Leips, 1853: — 3) (Hallische) Allein. Literatur-Zeitung, 
1829, Mürs, Nr. 55 fg. — 4) Zur Recenfion ber beutjden Granimatil. 
Untoiterlegt heranehegeben von Jacob Grimm. Caſſel, 1826. 


Die Mitforfeper der Brüber Grimm. [77 


Dean wie mit Lachmann, fo ftand Meuſebach auch mit Jacob und 
Bädeln Grimm in freundſchaftlichem Verkehr. Grimm’s Rechtsal⸗ 
terthünger find ihm gewidmet. 

Der erfte bebeutende Schüler, ben Lachmann in Berlin gewann, 
war Wilpelm Wadernagel. Geboren zu Berlin am 23. April 
1806 widmete ſich Wilhelm Wadernagel auf der Uninerfität Berlin 
in ben Jahren 1824 bis 27 unter Lachmann's Leitung dem Stu⸗ 
dium der Philologie und zwar vorzugsweiſe ber beutichen. Gleich 
feige erften gelehrten Arbeiten, die Spiritalia theotisca (Vratis- 
laviae 1827) und das Wefjobrunner Gebet und die Weflobrunner 
Gloſſen (Berlin 1827) zeigten den ſcharffinnigen und umfichtigen 
Zorjcher. Aber weder dieſe, noch feine darauf folgenden Arbeiten 
vermochten ihm den Weg zu einer Anſtellung in Preußen zu bah⸗ 
nen. Nachdem er 1828 bis 30 in Breslau privatifiert, dann fich 
von neuem in Berlin aufgehalten Hatte, folgte er 1883 einem Hufe 
nach Bafel als Lehrer der deutſchen Sprache und Literatur an ber 
Univerfität und am Pädagogium. Bald darauf, im J. 1887, ex⸗ 
biekt er durch Ehrengeſchenk das Baſler Bürgerrecht und wurde 
1854 in den Großen Rantonsratf, 1856 in ben Stadtrath gewählt. 
Allgemein verehrt und geliebt ftarb Wadernagel am 21. Dec. 
1869 ?). 

W. Wadernagel war ein Mann von ebenfo tiefer, als amd 
gebreiteter Begabung: Ein treffliher Jugendlehrer, ein ausgezeich⸗ 
neter Gelehrter, ein finniger Dichter, gleich tüchtig an Geift, wie 
an Charakter. Was er immer beginnt, Alles faßt er mit derſelben 
Treue, berfelben Gewiſſenhaftigleit an. Seine gelehrte Thätigfeit 
erſtredt ſich auf ſehr verſchiedene Gebiete, aud über ben Bereich 
hinaus, deſſen Darftellung uns hier zunächſt obliegt. Durch eine 
Neige von Abhandlungen und Einzelſchriften bat er fih an der 
Hanfte und kuliurgeſchichtlichen Forſchung betheiligt. Wir nennen 
darunter nur beifpielsweife „Die deutſche Glasmalerei“ (1855), „Die 
goldene Altartafel von Bafel“ (1857), „Weber bie mittelalterliche 


1) Brochaus, Real-Euchtlop. (11) XV, 210. — Zur Erinnerung an W. 
Wadernagel. Bafel 1870. 


Sammlung zu Bafel” (1857), endlich ben köſtlichen Vortrag über 
Gewerbe, Handel und Schifffahrt der Germanen (1858) 1). Aber 
auch auf bem Gebiet der Philologie in dem engeren Sinn, in wel 
chem wir das Wort bei unferer Darftellung faffen, ift W. Waders 
nagel's Thätigfeit eine fehr weit greifende. Um uns den inneren 
Zufammenhang diefer fo mannigfaltigen, aber überall mit gründ⸗ 
lichſter Sachkenntniß ausgeführten Arbeiten Har zu maden, ber 
fprechen wir zuerft Wadernagel’s Hauptwerk. Dies ift fein Deut, 
ſches Leſebuch nebft den bamit in Verbindung ftehenden Arbeiten: 
dem Wörterbuch und ber „Geſchichte ber beutfchen Literatur.” 
Das Leſebuch erſchien zuerft im J. 1885. Im J. 1861 erlebte 
der erſte Theil, das altdeutſche Leſebuch, die vierte ſehr vervoll⸗ 
tommnete Ausgabe. Dieſer erſte Theil umfaßt das Gothiſche, Al 
hochdeutſche, Mittelhochdeutſche und deſſen Fortſetzungen bis in den 
Beginn des 16. Jahrhunderts. Die folgenden Bände, welche 
Proben der deutſchen Poeſie und Proſa ſeit dem J. 1500 geben, 
erſchienen 1847 in neuer Auflage. W. Wadernagel's Leſebuch iſt 
nicht, wie manche andere derartige Bücher, eine raſch aus An⸗ 
deren zuſammengeraffte Compilation, ſondern es iſt ein Merl 
ſelbſtändigſter gelehrter Arbeit, wie es nur dem Meiſter des 
Fachs gelingen Tann. Nicht nur find die einzelnen Stück 
mit größter literaturgeſchichtlicher Umſicht ausgewählt, fondem 
die Behandlung ber Terte zeigt auch überalf ben gründlichen 
Kenner der Sprache und kritiſchen Philologen. Das beigefügte 
Wörterbuch ſchloß fi in ber erften Bearbeitung genau an das 
Leſebuch an und bilbete durch feine zahlreichen Anführungen einen 
vortrefflien Commentar zu demfelben. In der neuen Bearbeitung 
(1861) ift e8 über biefen beſchränlteren Geſichtskreis hinansgefärt, 
ten, indem es ſich, mit Hinweglaſſung der Citate, zu einem ge 
drängten mittel- und althochdeutſchen Handwörterbuch erweitert hat. 
Der Kenner bemerft leicht, daß bie hier dargebotenen Ergebniſſe 
auf den umfaffendften Vorarbeiten ruhen Schon im J. 180 
hatte W. Wadernagel im Verein mit Hoffmann von Fallersleben 

1) In Haupte Zeitschrift für deutsches Altertkum IX (1859) 
8. 530— 578. 


Die Mitforfper der Brüder Grimm. 599 


ein vorzügfies „Wloffar für das XII. — XIV. Jahrhumdert“ 
herausgegeben ), un feine in bemfelben Jahr veröffentlichte „lexi⸗ 
tographiid-fgntactifhe Abhandlung. über bie mittelhochdeutſche Ne 
gationspartifel ne ift ein mufterhafter Worläufer eines mittelhoch⸗ 
beutfchen Wörterbuchs. An einem folgen Kat denn auch W. 
Wadernagel viele Jahre gearbeitet, und eine Frucht biefer Arbeit 
ift das feinem altdeutſchen Leſebuch beigegebene Wörterbuch, das In 
trefflicher Weife die ſcharfe und Mare Entwidlung der Bebeutungen 
mit einer maßvoll geübten Etymologie verbindet. — Ein zweites 
Bert W. Wadernage?s, das ſich feinem Leſebuch anſchließt, iſt die 
Geſchichte der deutſchen Literatur.” Auch Hier Hatte Wadernagel 
feit Yange nad) den verſchiedenſten Seiten hin vorgearbeitet. So 
ift feine „Geſchichte des deutſchen Herameters und Pentameters“ 
(1831) ein wichtiger Beitrag zur Geſchichte der deutſchen Metro, 
während die Abhandlung über dramatiſche Poefte (1838) von der 
hiſtoriſch⸗ aeſthetiſchen Seite der Literaturgeſchichte ben Weg bahn, 
und bie über Bürger's Lenore (1835) eine einzelne anziehende 
Frage gründlich erörtert. Im J. 1848 begann dann Wadernagel 
bie Herausgabe feiner deutſchen Literaturgeſchichte, bie von ben Als 
teften Beiten beginnt und mit bem 1855 erſchienenen vierten Heft 
bis in den Anfang bes 17, Jahrhunderts reicht. Der Verfaſſer 
bezeichnet feine Literaturgeſchichte als „ein Handbuch“, und gerade 
ber dadurch geftellten Aufgabe wird er im ausgezeichneter Weiſe 
gerecht. Durch bie glücliche Gruppierung des Stoffes und bie 
einfach ſchmudloſe, ftreng wiſſenſchaftliche Form ber Darftellung 
weiß er eine große Fülle von Thatſachen auf einen engen Raum 
zufammehzubrängen, ohne doch je dunkel oder unlesbar zu werben. 
Dabei iſt fein Wert nichts weniger als eine bloße Anhäufung 
rohen Stoffs. Vielmehr erhalten wir überall im Einzelnen bie 
Ergebniffe einbringender felbftändiger Forſchung, und durch bas 
Ganze ziehen fih verknüpfen die Gedanken, bie der Verfaffer aus 
der Entwidlung ſowohl ber Sprache, als ber Literatur zu gewinnen 


1) Im ben Fundgraben für Geschichte deutscher Sprache und 
Litteratur, I, 347 fg. 


600 Viertes Buch. Zweites Kapitel. 


ſucht. Auf die Epit der althochdeutſchen, die Lyrik der mittelhod- 
deutſchen Jahrhunderte folgt der neuhochdeutſche Zeitraum mit dem 
Drama und der Proſa '). Dabei „in ber Sprache, in den Trägern ber 
Literatur, in deren Stoffen und Arten überall ein Fortſchritt zum Ums 
faffendften und Allgemeinften“, immer mehr ein Aufnehmen aller Bor- 
zeit und Fremde. So ift die deutſche Literatur „auf dem Weg, und 
vielleicht | hon nah am Ende des Wegs, eine Weltliteratur zu wer 
den" 2). — Diejelden Gaben, die W. Wadernagel in feinem Lie 
buch und deffen beiden DBegleitern, dem Wörterbuch und der Liter 
turgeſchichte, zeigt: kritiſch-⸗philologiſche Schärfe, gewiſſenhafte Treue 
ber Forſchung und ein feiner Sinn für die Erſcheinungen der Sprache 
und Literatur, treten ung entgegen in einer Reihe anderer bedeu⸗ 
tender Leiftungen. Ws kritiſcher Philolog beſpricht er die Hand 
ſchriften der Bafler Univerfitätsbibliothet (1836), gibt er den 
Schwabenfpiegel (1840), das Biſchofs- und Dienſtmannenrecht von 
Bafel (1852), ven Vocabularius optimus (1847), und im Berein 
mit Max Rieger den Walther von ber Vogelweide (1862) heraus 
Seine Ausgabe altfranzöfifcher Lieder und Leiche (1846) verbreitet 
durch die beigegebenen Abhandlungen ein neues Licht über den Zu 
ſammenhang der provenzalifhen, altfranzöfifcen, deutſchen und ita- 
lieniſchen Lyril. In feinem letzten Wert: „Johann Fiſchart von 
Straßburg und Baſels Antheil an ihm“ (1870), gibt er eindrin ⸗ 
gende Unterſuchungen über das fo dunkle Leben bes großen Humo- 
riften. Auf der anderen Seite Hären feine linguiſtiſchen Abhand- 
lungen wichtige Fragen der Sprachgeſchichte auf. So gibt die Abhand- 
lung über die Nachahmung der Thierjtimmen: „Voces varise 
animantium® (1867) einen bebeutenden Beitrag zur älteften, die 
über die Umbeutfhung fremder Wörter (1861) zur vergleichsweiſe 
jüngften Entwidelung der Sprache, während die Unterſuchungen 
über „Sprade und Sprachdenkmäler der Burgunden“ (1868) °) 
unfere Kenntniß der älteften germanifhen Sprachzuſtände erweitern. 

1) W. Wackernagel, Gesch. der deutschen Litter. III (1855) 
8. 362. — 2) Ebend. ©. 368. — 3) We Beigabe zu €. Binbing’s Dur 
gunbifsromanifcgem Königreich, Thl. I. 





Die Witforfer der Brüber Grimm. 601 


Ueberali aber finden wir dieſelbe Sorgfalt, Schärfe und Be 
leſenheit 1). 

Der zweite bebeutende Schüler Lachmann's, Moriz Haupt, 
Hat nicht im eigentlihien Sinn bes Worts Lachmann's Unterricht 
genoſſen; aber der Schule Lachmann's gehört er nichtsdeſtoweuiger 
fo fehr an, wie nur irgend einer. Geboren zu Zittau am 27. Juli 
1808 ftubierte Haupt in den Jahren 1826 His 30 unter Gottfried 
Hermann’s Leitung in Leipzig Philologie. Nachdem er dann län 
gere Zeit in Zittau privatifiert hatte, habilitierte er fi 1887 an 
ber Univerfität Leipzig. 1848 wurde er zum Ordentlichen Pro⸗ 
feſſor der deuten Sprache und Literatur ernannt. Er entwidelte 
als Univerfitätslefrer eine jehr erfolgreihe Thätigkeit ſowohl auf 
dem Gebiet der deutſchen, als auf dem der klaſſiſchen Philologie. 
Aber im J. 1850 wurde er auf Grund feiner Theilnahme an der 
nationalen Bewegung ber Jahre 1848\und 49 von ber k. ſächſiſchen 
Regierung feines Amtes entfegt. Doch die preußiſche Regierung 
öffnete feiner ausgezeichneten Lehrgabe ein neues Feld, indem fie 
ihn im J. 1853 an Lachmann's Stelle als ordentlichen Profeffor 
der klaſſiſchen Philologie nad Berlin berief?). — Haupt Hat in 
feiner ganzen Geiftesart die nächte Verwandtſchaft mit Lachmaun, 
und bie perſönliche Begegnung mit biefem älteren Meifter, 1884 
in Meuſebach's Haufe ®), mußte deshalb den nachhaltigften Ein⸗ 
drud auf ihn machen. Es entwidelte ſich bald ber innigfte Verkehr 
zwiſchen beiden Männern, ber fih allmählich zur vertrauteften 
Freundſchaft geftaltete. Wie Lachmann, fo verband Haupt die Mafe 
file Philologie mit der germaniſchen und wie jener, fo faßte auch 
Haupt vor allem die Tritifch - hiſtoriſche Feſtſtellung ber Texte in's 


1) ®ir Haben Hier natürlich nur bie Haupiwerfe W. Wadernagel’6 bes 
ſprechen unb einzelne feiner kleineren Schriften als charakteriſtiſche Beifpeile feiner 
Tätigkeit hervorheben können. Ein volftändiges Verzeichniß feiner überaus 
aahlreigen Arbeiten geben J. G. Wacernagel und 2. Sieber in ber Zeitschr. 
für deutsche Philol. von Höpfner u. Zacher II, 3 (1870) 8. 337348. 
— 2) Brodhaus, Real: Encyklop. any VII, 708°fg. — 8) Herts, Lach- 
mann, 1851, 8. 244. 


602 Viertes Buß. Zweites Kapitel. 
. 


Auge. Wir müffen hier zur Seite liegen laſſen, was Haupt auf 
dem Felde der klaſſiſchen Philologie, namentlich für die römiſchen 
Dichter geleiftet hat. Auf germaniihem Gebiet war neben Lad. 
mann’3 Rath und Beifpiel der Verkehr mit Hoffmann von Fallerd- 
leben für Haupt mannigfach anregend '). In Verbindung mit ihm 
gab er 183640 bie Altdeutſchen Blätter heraus, eine Sammlung 
von bisher unveröffentlichten altdeutſchen Dentmälern und wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Unterfuhungen und Notizen. Die größten Verdienſte 
erwarb fi) Haupt durch kritiſche Herausgabe mittelhochdeutſcher 
Dichtungen. 1839 veröffentlihte er zum erftenmal Hartmann’ 
Exec, 1840 den Guten Gerhard des Rudolf von Ems; 1842 gab 
ex die Lieder und Büchlein und den armen Heinrich bes Hartmann 
von Aue heraus, 1845 den Winshelen, 1851 bie Lieder Gottfried's 
von Neifen, 1858 die des Neidhart von Reuenthal. Alle biefe 
Ausgaben find mit einer Sorgfalt, einer Sprachkenntniß, einem 
Scarffinn in Handhabung fowohl der handſchriftlichen, als com 
jecturalen Textkritik durchgeführt, die fie den Arbeiten Lachmann's 
würdig an bie Seite ftellen. So hat dem auch Lachmann biefen 
feinen Freund und Schüler zum Erben und Vollender feines Iite- 
rariſchen Nachlaſſes eingefegt. Die Sammlımg ber älteften mittel 
hochdeutſchen Lyriker in reinlichen Texten hat Lachmann begonnen, 
Haupt im J. 1857 unter dem Titel: Des Minneſangs Frühling, 
vollendet. Wo von Lachmann's wichtigften Arbeiten: dem Walther, 
dem Wolfram, den Nibelungen, neue Ausgaben nöthig wurden, ba 
fiel deren Beforgung Moriz Haupt anheim. Ein ſehr weientlihes 
Berbienft endlich erwarb fih Haupt durch die Gründung feiner 
Zeitfeift für deutſches Alterthum (1841), auf welche wir fpäter 
noch einmal zurückkommen werben. " 
Noch Haben wir einen Schüler Lachmann's zu beſprechen, ber 
fih dann feine eigenthümliche Lebensbahn gebrochen hat: Karl 
Simrod. Geboren zu Bom am 28. Aug. 1802, wibmete fih 
Simrock feit 1818 erft zu Bonn, dann zu Berlin der Rechtswiſſen⸗ 
ſchaft. Daneben aber betrieb er mit Vorliebe, in Berlin unter 


1) Hoffmann von Fallerbleben, Dein Leben, II (1868), ©. 248. 275 fg- 


Die Mitforfger der Wrüber Grimm. 608 


Lachmann's Leitung 1), das Studium der älteren deutſchen Litera⸗ 
tur. Nach längerem Privatifieren habilitierte er fi für dies Fach 
an ber Univerfität Bonn und erhielt im J. 1850 bie ordentliche 
Profeſſur der altdeutſchen Literatur dafeldft 2). Stmrod’s Thäs 
tigfeit wendete ſich hauptſächlich zwei Seiten zu: der Ueberfegung 
altdeutſcher Dichtungen und ber deutſchen Mythologie. Selbſt Dichter 
und mit ganzer Seele dem deutſchen Alterthum zugethan, weiß 
Simrod fih völlig in bie Stimmung und den Ton der alten 
Dichtung zu verfegen. Was aber gleih feine erfte, in ihrer Art 
epochemachende Leiftung: feine UWeberjegung des Nibelungenlieds 
(1827), vor den vorausgegangenen Verſuchen auszeichnete, war 
feine Mare und bewußte Erfenntniß bes durchgreifenden Unterſchieds 
zwifchen dem Mittelhochdeutſchen und Neuhochdeutſchen. Bei einem 
möglichft rihtigen und genauen Verſtändniß bes mittelhochdeutſchen 
Ausdruds ſuchte er den Sinn des alten Dichters in wirklich gutem 
Neuhochdeutſch wiederzugeben. Simrod’3 Ueberfegung des Nibelun- 
genliebs fand bie günftigfte Aufnahme; im J. 1869 erlebte fie bie 
zwanzigſte Auflage. Dem Nibelungenlieb ließ Simrock in Gemein- 
ſchaft mit W. Wadernagel (1833) die Ueberfegung des Walther 
von ber Vogelweide folgen. 1842 überfegte er Wolfram's Parzi- 
val und Titurel, 1848 die Gudrun, 1852 Gottfried's Triftan, 1858 
den Wartburgfrieg, 1867 den Freidank. So ſehr Sinrod auch bie 
höfiſchen Dichter zu [häten wußte, fie reichten ihm nicht an das Nibe⸗ 
lungenlied, „ein Gedicht von der tiefften und mächtigſten Wirkung, 
ein Gedicht, dem ſich unter ben höfiſchen weder der Parzival noch 
der Triſtan vergleichen darf“ 3). Das Nibelungenlied machte er 
deshalb auch zum Gegenftand feiner unabläffigen wiſſenſchaftlichen 
Studien. Eine Frucht diefer Studien war (1858) die Schrift 
über die Nibelungenſtrophe und ihren Urfprung. — Simrock bes 
ſchränkte ſich aber nicht auf bie mittelhochdeutſche Zeit, fonbern er 
wagte ſich auch an bie alliterierenden Dichtungen der älteren Periode. 

1) Hertz, Lachmann 8, 89. 244. — 2) Brodhaus, Renl-Encykiop. 
(11) XII, 716 fg. — 3) Das Nib, Über. von Gimrod, zwanzigfe Aufl., 
Stuttg. 1869. Cinl. ©. XXI. Bıl. ©. VL. 


04 Vierte Bud. Ziveiied Kapitel. 


Ju J. 1856 erſchien feine Ueberſetung des Heliaud, 1869 die des 
Beowalf, und fon früher (1851) die der Edda. Auch Hier ver 
dient das Geſchick, mit dem Simrock die faft unüberwindlichen 
Scrvierigleiten bewältigt hat, die größte Anerkennung. Die Weer- 
ſetzung ber Edda leitet ums hinüber zu Simrock's zweiter Leiftung, 
der deutſchen Mythologie. (Ein Lieblingsſtudium Simrocks bilden 
adanlich die vollsthümliche Erzählung, wie fie ſich in Märchen und 
Sagen und in den ſ. g. Volksbüchern ausſpricht. Dahin gehören 
Simrocks „Rheinfagen“ (1887), feine Deutſchen Marchen (1864), 
feine Ausgabe der deutſchen Volksbücher (1889 fg.), und die Quel⸗ 
len des Shalfpegre in Novellen, Märchen und Sagen (1831). 
Hören Abſchluß finden diefe Studien in dem „Handbuch ber best: 
fen Mythologie mit Einfluß der nordiigen" (1855; dritte ſeht 
vermehrte Auflage 1869). Denn in der deutſchen Mythologie fieht 
Simrock den Urfprung unferer Sage und Dichtung. „Die Ge 
ſchichte, ſagt er, muß dem Boll, wenn auch nur in Geſtalt ber 
Sage, gegenwärtig Bleiben, wenn es nicht vor ber Zeit altern ſoll 
Bor allem gilt das von umferer Mythologie," denn auch bie Götter 
Ihre, der alte Gottesdienſt ift Poefte, die älteſte und erhabenſte 
voeſie der Völker, und wie bie frähefte Quelle ber umfern, bie 
Edda, Urgroßmutter bebentet, die Urgroßmutter aller beutfchen 
Sage und Dichtung, fo ift in der deutſchen Mythologie eine voeſie 
miebergelegt, bie in allen deutſchen Herzen anklingt, weil fie das 
lautere Gold unferes eigenen Sinnes ift, unſer beftes und älteftes 
Erbe, das wir nicht verwahrlofen follen“ 9). 

Hiermit Haben wir die hauptſächlichften Genoſſen ber Brüder 
Grimm geihildert. Wir haben ihre Thötigleit fogleih bis zum 
Ende verfolgt, um unſre Darftellung nicht zu unterbrechen. Das 
jüngere, erft fpäter Hinzugetretene Geſchlecht von Forſchern behalten 
wir einem anderen Abſchnitt vor. . Hier aber mällen wir noch 
einige Arbeiten aus den erften Jahrzehnden nad; dem Erſcheinen 
von Grimm's Grammatik kurz erwähnen. Mittelhochdeutſche Hel- 
dendichtungen gaben heraus O. F. H. Schönhuth, F. F. Oehhele, 


1) x. Sumroc, Handbuch ber Deutchen Mytfologe (3) 1869, ©. II 


Die Mitforfher ber Brüder Grimm. 608 


E. Inl. Lechtien, 2. Eitmüller, Aolf Ziemann. Der zuletzt ge 
warnte veröffentfichte and; (1888) ein zwar noch ſehr mangelhaftes, 
aber doch in damaliger Zeit willfommenes mittelhochdeutſches Wör- 
terbuch. Den Triften gab heraus E. von Groote (1891), ben 
Suchenwirt (1827) Aloys Primiffer, den Nenner (1833) ber Bam- 
berger biftoriiche Verein, eine Auswahl aus Berthold's Predigten 
(1824) Chr. F. Ming. P. E. Müller’3 Unterfuhungen Aber das 
Berhältniß ber nordiſchen und deutſchen Heldenfage bearbeitete in 
felsftändiger Weife ©. Lange (1832). — Beiträge zur Kenntniß 
des älteren Nieberbeutfchen (und Mitteldeutſchen) gaben (1832 fg.) 
F. Wiggert und (1831) TH. Yof. Lacomdlet. Für das Angelſach⸗ 
fie waren J. M. Lappenderg und H. Leo thätig. Der Ichtere 
wirkte zugleich in fehr verbienftliher Weife als Untverfitätslchrer 
für die Verbreitung altgermanifher Kenntniffee ©. Ch. F. Mohr 
nite, 2. Gieſebrecht, Ferd. Wachter, 2. Ettmüller, €. F. Köppen, 
% 2. Studach beſchäftigten fi mit den ſtandinaviſchen Literaturen. 
W. Bäumlein unterfuhte (1833) die Entftehung bes gothiſchen 
Alphabets. — Was in dieſer Zeit für das ältere Neuhochdeuiſche 
geſchah, war meift noch mangelhaft. Wir wollen dem ſchon früher 
Erwähnten Hier nur no bie von bem Nürnberger Hector J. 
Adam Göz beforgte Auswahl aus Hans Sachs (1829 fg.) 1) und 
A. Gebauer’3 Bemühungen um die Dichter des 17. Jahrhunderts 
(1828 fg.) hinzufügen. — Bon hohem unmittelbarem Werth für bie 
germaniſche Philologie waren die Arbeiten mehrerer Nechtögelehrten 
und Hiftorifer. Wir dürfen uns natürlich hier nicht näher auf 
diefe Gebiete einlaffen und erwähnen deshalb nur beiſpielsweiſe €. 
©. Homeyer’s Sachſenſpiegel (1827 fg.). Unter ben Hiftoritern 
aber ift Hier vor allen zu nennen Friedr. Chriſtoph Dahl 
mann (geb. zu Wismar 1785, 1829—1837 Prof. in Göttingen, 


1) Das allerdings ſqwierige Unteruchmen einer wiſſenſchafulich gendgens 
den und zugleich buchhändleriſch möglichen Ausgabe bes Hans Sache hat bis 
jest noch nicht feine Ausführung gefunden. Unter ben älteren Verſuchen ver ⸗ 
best dex wit dem 1. Wb. in's Stoden gerathene von J. H. Häslein (Rürnd. 
1781) Yervorgehoben zu werben. Vgl. aber auch unten Rap. 7. 


606 Viertes Bud. Zweites Kapitel. 


+ zu Bonn am 5. Dec. 1860). Ms Forſcher, Freund und Che 
alter war er der würdige Genoſſe der Brüder Grimm. Syn feinen 
meifterhaften Unterfuchungen über Saxo Grammaticus (1822), 
denen er dann noch Erläuterungen zu Aelfred's Germania umb eine 
Ueberfegung von Are's Isländerbuch folgen ließ, bringt Dahlmann 
von Seiten ber ſtreng geſchichtlichen Forſchung in das germauiſche 
Mtertfum ein, um das Sagenhafte aus der Geſchichte gründlich 
auszuſcheiden; do miht um Sage und Dichtung ihres Werthes 
au berauben, fonbern um fic als bas, was fie find, in ihrer vollen 
Würde beftehen zu laſſen 1). Hier treffen von entgegengefegten Aus 
gangspunkten Dahlmann und Jacob Grimm zufammen, und biefer 
Tonnte deshalb feine deutſche Mythologie feinem Wandigewn wid · 
men, als Dahlmann. 


Drittes Kapitel. 


Das Sanskrit und befien Einwirkung auf bie Erforſchung ber 
germanischen Sprachen. 


1. Stanz Sopp. 


Wir Haben in einem früheren Abſchnitt Bopp's Leiftungen bis 
zum Erſcheinen von Grimm's Grammatik verfolgt. Was mm 
auch fernerhin Bopp befähigte, ſelbſt einen Forſcher wie Grimm 
weſentlich zu ergänzen, war außer feinem ſprachvergleichenden 
Scharfſinn vor allem feine gründliche Kenntniß des Sanskrit. Das 
Sanskrit bietet in feinem Lautfyftem, zumal auf dem Gebiet des 
Vocalismus, Erjgeinungen von fo ungetrübter Urſprünglichkeit, daß 
ſelbſt die älteſten europäiſchen Schweſterſprachen erft von bort iht 
Licht empfangen. Ebenſo bewahrt das Sanskrit eine folde Voll⸗ 
konunenheit ber alterthümlichen Flexionen, daß viele Erſcheinungen 


1) ©. 3. Dahlmann, dorſchungen auf dem Gebiete der Geſchichte, W-T, 
tona 1822, ©. 195. 829 fg. 


Das Sanskrit u. beffen Einwirkung auf d. Erforſch. d. germ. Sprachen. 607 


anf euroͤpiſchem Gebiet erft durch bie Vergleichung mit dem 
Sanskrit verftänblich werden‘). Zu dieſen Vorzügen ber Sprade 
ſelbſt kommt dann ferner der fehr wichtige Umftand, daß das 
Sanskrit feit einer Langen Reihe von Jahrhunderten duch einhei⸗ 
miſche Grammatiker mit bewundernswerthem Scharfſinn und in einer 
von der europätfcen fehr abweichenden Weife bearbeitet worden ift 2). 
Bopp wandte, nad feinem erften Auftreten mit einer ſprach⸗ 
vergleichenden Schrift, feine Bemühungen zunächſt der grammati« 
ſchen Bearbeitung der Sanskritſprache jelft zu. Durch feinen 
Unterriät wurde Berlin neben Bonn, wo Auguft Wilhelm 
Schlegel für Ausbreitung des Sanskrit wirkte, die hauptſächlichſte 
Pflanzſtätte des Sanstritftubiums in Deutſchland. Durch eine 
Neihe von Lehrbühern und braugbaren Tertausgaben aber er⸗ 
ftredte Bopp feine Wirkjamteit weit über den Bereich feines Ber- 
liner Lehrſtuhls Hinaus. Den größten Einfluß unter biefen von 
Bopp geſchaffenen Lchrmitteln Hat ohne Zweifel feine im Jahr 
1834 zu Berlin erfdienene „Kritiide Grammatif der Sanstrita- 
Sprade in kürzerer Fafjung“ gehabt, melde im J. 1868 die vierte 
Auflage erlebte. Aber jo wichtig Bopp’s Thätigleit auf dem ber 
fonderen Gebiet des Sanskrit war, fo hat er doch feine hauptſäch- 
lichſte Bedeutung als Begründer ber vergleichenden indoeiropätf—en 
Grammatil. Was er in feinem oben beſprochenen Erſtlingswerk 
begonnen hatte, das führte er dann zunächſt in einer Reihe ein 
zelner Abhandlungen weiter, in denen er theils bie bereit ge 
wonnenen. Ergebniffe noch fefter begründete, theils die Wiſſenſchaft 
durch eine Menge newer Entdedungen bereicherte. Wir erwähnen 
hier als beſonders wichtig für die germaniihe Sprachforſchung bie 
Abhandlungen, die Bopp vom Jahr 1823 His zum Jahr 1831 
unter ber Ueberfhrift „Wergleihende Zergliederung des Sanskrit 
und der mit ihm verwandten Sprachen“ in der Berliner Akademie 
der Wiſſenſchaften gelefen hat, und namentlich die ausführliche Kritif 


1) Ueber bie Bebeutung bes Sanskrit für bie Sprachforſchung dgl. Tpeo« 
dor Benfep, Geſchichie der Spraqhwiſſenſchaft S. 857 fg, — 2) Ebend . 
6.35 . 


608 Bieries Bud. Drittes Kapitel. 


über Grimm's dentſche Grammatit, bie Bopp im April imd Mei 
1827 in ben Berliner Jahrbüchern für wiſſenſchaftliche Kritit er- 
feinen Tieß, umd die Beurtheilung von Graff's althochdeutſchem 
Sprachſchatz, die er in berjelden Zeitſchrift im Februar 1885 ver- 
öffentlichte. Die beiben zulegt genannten Arbeiten gab dann Bopp 
in erweiterter Geftalt als beſonderes Buch Heraus unter dem Titel: 
„Bocalismus oder fprachvergleichende Kritiken Über J. Grimm's deutſche 
Grammatil und Graff's althochdeutſchen Sprachſchatz mit Begrändung 
einer neuen Theoriedes Ablauts. Berlin 1836." Das Geſammtergebniß 
feiner Forſchungen über ben Bau der indogermaniſchen Sprachen aber 
legte Bopp nieder in feinem Hauptwerk: „Vergleichende Grammatit 
bes Sanskrit, Zend, Griechiſchen, Lateiniſchen, Litthauiſchen, Gotfi- 
ſchen und Deutſchen“, Berlin 1838 bis 1852. In den Jahren 
1857 bis 1861 erſchien bie „Bweite gänzlich umgearbeitete Aus- 
gabe” diefes epochemachenden Werts, in welcher der Verfaſſer den 
oben genannten Sprachen auch noch das Armeniſche und Altſlavi- 
ſche hinzufügte i). Der erſte Band dieſer zweiten Ausgabe (Berlin 
1857) handelt vom Schrift- und Lautſyſtem, von den Wurzeln und 
von ber Bildung ber Caſus; der zweite (1859) vom Adjectivum, 
von den Zahlwörtern, von den Pronominibus und vom Berbum, 
der britte (1861) feßt die Erörterung des Verbums fort und geht 
dann zu ber Lehre von ber Wortbildung über. 

Sollen wir nun in ber Kürze die wictigften Ergebniſſe zu- 
ſammenfafſen, durch melde Bopp's Arbeiten die germanifge Sprad+ 
forſchung bereichert Haben, fo ift vor allem hervorzuheben, daß auch 
abgefehen von den wichtigen Entdedungen, die Bopp im Einzelnen 
gemadt hat, fein Gefammtrefultat von. unberehenbarer Wichtiglet 
für die germaniſche Philologie war. Was man nämlich bis bafin 


1) D. h. auch auf dem Titel und mit ber Abficht, biefe Sprachen durh 
weg in ben Kreis der Unterſuchung zu giefen. Denn Berüdfigtigung hat 
das Altſlaviſche ſchon in der erfien Ausgabe gefunden und zwar in fehr auf: 
gebiger Weile. Bol. in bee 1. Ausgabe S. 820 — 861 den Abſchuin über 
die „Bildung der Caſus im Atflavifhen.” — 1868 fg. erfhien eine dritt 
Ausg. von Bopp’s Vergleichender Grammatif. 


Das Sandkrit u. deſſen Einwirkung auf d. Erforſch. d. germ. Sprachen. 809 


nur an vereinzelten Beiſpielen beobachtet hatte, bas Hat Bopp durch 
den ganzen Bau der indogermaniſchen Spraden durchgeführt und 
dadurch den unumſtößlichen Beweis geliefert, daß alle dieſe Sprachen, 
vom Ganges bis nad; Island, eine einzige große Familie bilden, 
deren fümmtlihe Zweige aus einem Stamm hervorgewachſen 
find. Was insbeſonbere die germanifhen Sprachen betrifft, fo iſt 
es in hohem Maß erfreulich, zu verfolgen, wie in deren Ergründs 
ung ſich Grimm und Bopp in die Hände arbeiten, und wie beibe 
Männer, fo verſchieden ihre Ausgangspunfte find, fih in ber 
Meberzeugung begegnen, daß die Leiftungen des einen auch dem an⸗ 
deren zu gute kommen. Gleich in der erften Ausgabe der deutſchen 
Grammatik ſpricht fih Grimm über dies Verhältniß aus. Won 
Naffs Unterſuchungen über den Urfprung ber isländiſchen Sprade 
fagt er bort: „Daß er bie perſiſche und indiſche Sprache aus ber 
Reihe feiner Forſchungen abſichtlich ausgeſchloſſen Hat, gereicht diefen 
gewiß zum Vortheil und ihm zum Lob; denn ſich beſchränken thut 
jeder Arbeit wohl, wenn man von bem Innern, d. h. hier dem 
Einheimiſchen ausgehen will und foll. Die Ringe der Verwandt 
haft, welde die ſlaviſche, lateiniſche und griechiſche Sprade um 
umfre deutſche herum bilden, find engere umd ber Aufgabe näher 
gelegene, als die weiteren bes Perſiſchen und Indiſchen. Aufſchlüſſe 
aber, wozu ums die allmählich wachſende Bekanntſchaft mit ber 
reinſten, urfprünglichften aller biefer Sprachen, nämlich dem Sans- 
krit berechtigt, erſcheinen darum nicht geringer, fondern als Schluß- 
ftein der ganzen Unterfuhung überhaupt, und fie hätten feinen 
befferen Händen anvertraut werben können, als denen unferes 
Landsmannes Bopp.“ So urteilte Grimm bereits im Jahr 
1818, als ihm von Bopp noch Nichts vorlag als das 1816 er- 
ſchienene Conjugationsſyſtem der Sanskritſprache und die Beur⸗ 
teilung von Forſter's Sanskrit ⸗Grammatik in den Heidelberger 
Jahrbüchern von 18181). Wie ſehr andererſeits Bopp von der 

1) Stimm, Deutſche Gramm. Erſter Thl., Göttingen 1819, Vorrede 
(unterzeichnet: d. 29. September 1818) S. XIX. — Bl. auch Grimm's 
Aeußerungen fiber bie maßgebenbe Wichtigkeit des Sanslrit in ber Borrede zum 


weiten Theil ber Grammatif (1826) ©. V fg. 
Raumer, Gefd. der germ. Philologie, 39 


619 Vieries Bud. Dritieo Kapitel, 


epochemachenden Bedeutung der Griman’fhen Forſchungen durqh⸗ 
drungen war, das ſpricht er au mehr als einer Stelle ſeiner 
Schriften aus. So äußert er z. B. in der Vorrede zu feinem 
Hauptwerk: „Huf das Germaniſche iſt hierbei ganz worgäglide 
Sorgfalt verwendet worden, und es mußte dies gefchehen, wenn 
nad Grimm's vortrefflihen Werke noch Erweiterungen und Be 
richtigungen in ber theoretiſchen Auffaflung feiner Verhältnif- 
Formen gegeben werben, neue Verwandtſchafts⸗Beziehungen aufge 
dest, ober bereits erlannte ſchärfer begränzt, und bei jedem Schritte 
der Grammatik die Rath gebende Stimme ber afiatifchen wie der 
europäifen Stammfcweltern fo gesan wie möglich beobachtet 
werben follte” *). 

Von Bopp’3 Entdedungen Tommt zunörberft alles das au 
den germaniſchen Sprachen zu gute, mas Bopp in Bezug auf bie 
Entſtehung der grammatiſchen Formen gefunden hat. Gerabe Hier 
hat die Forſchung bie älteften uns nod zugänglichen Geftaltungen 
der indogermanifgen Sprachen zu Grunde zu legen, und es läßt 
ſich deshalb auf einem vergleichsweiſe fo jungen Gebiet, wie das 
der germanifgen Spraden, wenig ausrichten ohne Hinzuziehung 
der älteren Schweſterſprachen. Wenn nun au bei Gatgifferung 
der grammatiſchen Formen nod Vieles dunkel und unſicher ift, fo 
hat fi doch Anderes der eindringenden Forſchung bereits hin⸗ 
reichend erfäloffen. Ich erinnere beifpielsweife an den Zuſanmen ⸗ 
hang ber Perjonalenbungen bes Verbums mit den entſprechenden 
Perfonalpronominibus, den Bopp bereits im Jahr 1816 gemuih⸗ 
maßt ) und dann in den beiden Ausgaben ber Vergleichenden 
Grammatik weiter begründet hat. 

In ber Lautlehre war es vorzüglich der Vocalismus, der durch 
Bopp's Unterfuhungen eine neue Geftalt erhielt. Obwohl Grima 
innerhalb des germaniſchen Gebiets auch den Vocalen eine einbrin- 
gende und umfafjende Darftellung gu The werben ließ, fo war 


1) Bopp, Vergl. Gramm. Berlin 1833, Borr. S. XIV. — Bel auf 
Bopp's Anzeige von Grimm’s Gramm, in ben Berliner Jahrbügern für will. 
Kritit 1827; beſonders Sp. 253; 2545 725. — 2) ©. 0. S. 465. 


Das Sanetrit u. beffen Cinwirkung auf d- Grfarkh, &. germ. Sprachen. 611 


8 ihm doch durch bie Modes der aermantihen, ja ber europaiſchen 
Sprachen überhaupt vumðglich gemacht, in das Weſen bes Vocalismus 
fo Huf einzudringen, wie ihus bies in vieler Beziehung beim Gone 
ſonantismus geglüdt if. Mie Vocale ber germaniſchen Sprachen, 
jelbit die bes Gothiſchen, find in manden Punkten fon zu weit 
von bes urfpränglicgen Geftalt abgewichen, um ber Unterſuchnug 
eine genügende Grundlage zu Kieten; und auch das Griechiſche und 
Lteiniſche gewähren hier keine hinreichende Aushülfe. (rt das 
Sanskrit bietet bie Aufihläffe, welche die europäiſchen Sprachen 
verfogen. Namentli die Umwandlung, welche das» ſowohl in 
den germanifen Sprachen, ala im Griechiſchen und Lateiniſchen 
an vielen Stellen erfahren hat, verdedt ben urſprünglichen Bau 
der Sprache in ſolchem Maß, daß auch der größte Scharffinn das 
Richtige wicht Hätte finden Knuen ohne Beipülfe bes Sauskrit, has 
weade Hier eine Hohe Uriprünglihleit bewahrt hat. Das a ift 
über nit nur an ſich der mwictigfte Mocal, ſondern es gewinnt 
ung dadurch am Bebentung, daß es andereu Vocalen als Element 
der Steigerung vorangeſchidt wich. So bildet im Sauskrit a-+i, 
Wlommengegogen in $, bie erſte Steigerung bes i; a + u, zus 
aumengezogen in d, bie erfte Steigerung bes u. Tritt noch ein 
8 vor diefe erſte Steigerung, jo erhalten wir bie zweite Steiger- 
ug, namlich a + a + i, gufammengegogen ni; a +a + m, 
wrfammengegogen iu Au. Der Vocal a zeigt nur bie zweite Steir 
Wernng und wird durch dieſelbe zu A Die indiſchen Grammatiler 
Haben bie erſte dieſex Steigerutgen Guna (Tugenb), bie zweite 
Vriddhi (Wachsthum) genannt, Ale dieſe Erfgelmmgen finbex 
fü aun and in ben suzapliigen Schweſterſprachen bes Sauskrit, 
aber durch die mannigfaltigen Trübtingen bes urfprünglichen a häufig 
verdarilelt. Kin nicht geringer Theil von Bopps Cutdedungen 
wit auf feiner ſqarffinnigen Zergliederung bes Vocalismus, wie 

wir dies im Folgenden noch öfters fehen werben. Hier will ik 
nur das Eine bemerfen, daß Grimm's Forſchung zwar innerhalb 
der germaniſchen Sprachen zu einer forgfältigen Berüdiätigung 
and des Vocqlismus geführt Hatte, daB aber für bie etymologilche 

Po 


612 Viertes Bud. Drittes Kapitel. 


Vergleichung germaniſcher Wörter mit griechiſchen, lateiniſchen u. |. w- 
erſt Bopp ben Vocalen ihr Recht verſchafft Hat. 

Die Erforſchung der germaniſchen Flexionen verdankt Bopp 
in ihren beiden Haupttheilen: der Declination und ber Conjuga⸗ 
tion, fehr bedeutende Fortſchritte. Seiner Eintheilung der Decli⸗ 
notionen in ſtarke und ſchwache hatte Grimm in der zweiten Ausgabe 
der Grammatik eine andere Auffaſſung zu Theil werben laſſen, als 
in der erften d. Er Hatte in der erſten Ausgabe das m ber ſchwa⸗ 
Gen Declination als eine „Bwifchenfdjiebung“ betrachtet. Doc; war 
ex bereit auf der richtigen Spur, indem er die Declination des 
gothiſchen namd, namins mit dem lateiniſchen nomen, nominis 
aufammenftellte. Sm ber zweiten Ausgabe (1822) erklärt er bas 
n ber ſchwachen Delination für ein „Princip der Bildung“ im 
„Bufammenftoß mit dem der Flexion“, und läßt den Nominativ 
des ſchwachen Maſculins blöma für blöm-an-s ftehen. Er ver- 
gleicht damit Yateinif homo, hominis; sermo, sermonis; fans 
feit, ’sarma (felix), Genet. ’sarmanas. Diefe richtige Annahme 
Grimm’s führt dann Bopp dur genauere Berglieberung der 
Sanstritbeclination zu volltommener Gewißheit 2). Wie bei ber 
ſchwachen Declination, fo fehen wir Grimm auch bei der ftarfen ber 
reits auf dem richtigen Weg. Aber ein Punkt bleibt ihm dunkel, 
und indem Bopp gerade biefen fehr wichtigen Punkt mit ſcharffin ⸗ 
niger Benügung bes Sanskrit aufhellt, fällt auf die ganze germa⸗ 
niſche Declinatton ein neues Licht. Grimm ſcheidet beim Subftan 
tivum vier Declinationen. Er fieht nicht nur, daß der charalteri ⸗ 
ſtiſche Buchſtabe feiner dritten Declination (gothiſch m. sunus; f. 
handus; n. faihu) u ift, fondern er erkennt auch als charakteriftie 
ſchen Buchſtaben feiner vierten Declination (gothifh m. halgs; f. 
ansts) ganz richtig das i. Ja nad einer Stelle in ber zweiten 
Auflage des erften Bandes feiner Grammatit könnte man glauben, 


1) Bf. Grimm, Gramm. I, Erfte Ausg. ©. 147 mit I, Zweite Ausg. 
©. 817 fg. ©. 892 fg. — 2) Bopp in ben Zahıbüdern für wifl. ri. 
1927, Sp. 726 fg., und dann völlig durchgeführt in ber Vergleichenden 
Grammatit. 


Das Sanskrit u. deſſen Einwirkung auf b. Erforſch. b. germ. Sprachen. 618 


Grimm Habe au das Wefer feiner erften Declination (gothiſch 
m. fisks, f. giba, n. vaurd) Bereits durchſchaut. Er fagt dort 
nämlich: „Die Verſchiedenheit ber einzelnen Declinationen beruht 
auf den Vocalen, nicht den Conſonanten. Ste zeigt fih am deut⸗ 
lichſten im Subftantioum, weniger im Abjectivum, tritt aber auch 
im Pronomen hervor. Wiederum ift fie unter den drei Geſchlech⸗ 
term vorzüglich Beim Maſculinum entwickelt. Zum Kennzeichen 
der vier männlichen Declinationen mag ber gothiſche Accuſativ Plus 
ralis Maſculini dienen, welcher in ber erften a, in ber zweiten ja, 
in ber britten u, in der vierten i gibt” 1). Hat num Grimm hier 
nicht deutlich erkannt, daß der Vocal a in feiner erften Declination 
dieſelbe Rolle fpielt, wie u in ber dritten, i in ber vierten? Man 
ſollte es benfen, und uns, die wir ben wahren Bufammenhang ber 
Sache Tennen, mag e3 leicht fo erſcheinen. Dennoch aber war es 
nicht ber Fall. Wir fehen dies aus der Art, wie Grimm feine 
erfte Declination behandelt. Er ift ganz nahe daran, fie als A- 
Declination zu erkennen. Das i im Genetiv Singularis fällt ihm 
auf, er hält es aus Gründen, bie er auf dem Boden ber germanifchen 
Spraden gewinnt, für unorganiſch. Die ältere Flexion bes Altſächſiſchen 
(fiso, Genetiv fiscas) führt ihn darauf, das is bes Gothiſchen auf 
ein zu Grunde Tiegenbes as zurüdzuführen. Aber feiner erſten 
Declination überhaupt ein Thema, bas mit a fließt, zu geben 
und bemgemäß den Nominativ Singularis fisks für entftanden 
aus fisk(a)s zu erfläven mit unterbrüdtem a, dazu ift Grimm 
nicht gelommen. Vielmehr hat diefen Schritt erft Bopp gethan, 
und zwar zuerft in feiner Beurtheilung von Grimm’s Grammatif 
in ben Berliner Jahrbügern für wiffenfhaftlige Kritik, Mai 
182729). Die Entdeckung einer folden durch alfe indogermaniſchen 
Sprachen hindurchgehenden A - Declination war besmegen auf 
europãiſchem Boden fo ſchwer zu machen, weil bie Trübung bes a 
in u im Lateiniſchen, in o im Griechiſchen auch in ben beiden an⸗ 


1) Stimm, Gramm. Thl. I, zweite Ausgabe, 1822, S. 810. — 
2) Spalte 730 (In dem neuen Abbrud in Bopp's Vocaliemus. Berlin 1836 
el). 


82 Viertes Bud. Written Eupitel 


dien Spenden dieſe Declinction fehe vervamlelt Kat. Dagegen 
bot das Sanskrit, das biefe A-Deckinition in derſelben Market 
bewahrt Hat, wie bie I- und U-Decktnation, Bobp’s Scharfſin 
bie Mittel, bie Sache auch anf germaniſchem Beben aufzuhellen 
Dieſe Entdecung war aber besiegen von folder Wichtigkeit, weil 
fie zuſammengenommen mit Bopp'9 übrigen Ergebniſſen ſowohl für 
die finrfen Dedinationen unter fi, als für bas Verhaäktniß der 
ſtarken Declimationen gu ben ſchwachen die Forſchung erſt zum Ab⸗ 
ſchluß brachte. Die germaniſchen Deckinationen fügten ſich nun in 
den ganzen Bau der indogermaniſchen Sprachen ſo ein: die ger⸗ 
maniſchen Declinatlonen ſcheiden ſich in ſolche, deren Stämme vo⸗ 
caliſch ſchliehen, und in ſolche, deren Stämme conſonantiſch ſchließen 
Die erſtere Kiafſe bilden bie ſtarken Declinationen, und zwar it 
ben drei Abtheilungen der Stämmte auf a (Grimm's erfte unb 
zweite ftarte Declinatlon); ber Stämme auf i (Geimm’s vierte 
flarte Declination) und der Stänmte auf u (SGrimm's dritte ſtarke 
Declination). Unter den conſonantiſch ſchließenden bilden bie Haupt⸗ 
maſſe bie Stämme anf n (Grimm’s ſchwache Declinationen). Aber 
dieſe Stämme anf n ſind keineswegs bie einzigen conſonantiſch 
fließenden Derlinationsftämme in beit germaniſchen Gprathen. 
Ebendahin gehören bie Stämme anf r (goffif dauhter u. f. w) 
und fo mandes Andere, das fi mıf germaniſchem Boden anomal 
ausnimmt. In feiner dergleichenden Grammatik hat Bopp bies 
Alles eingehend erörtert, indem er die einzelnen Cafusbildungen 
der germaniſchen Sprachen mit ben entſprechenden bes Sanskrit, 
Griechiſchen, Lateiniſchen w. |. m. vermittelt. — In Bezug auf ben 
unterſchied zwifgen ber Detlination bes ſtarken Subſtantivs und 
Adjectivs war Grimm der Meinung, daß bie vollen Formen bes 
Adjectivs (gothifch Dativ Sing. Maſc. und Neutr. blindamnes, 
Venet. Sing. Fem. blindaiade, u. ſ. w) bie urſprunglichere Der 
clination erhalten haben, welche in ben kürzeren Formen bes Sub ⸗ 
ſtantivs (Dativ. Sing. Maſcul. ſiaka, Neutr. vaurda; Gene. Sing. 
Gem. gibde) mus abgeftumpft fi‘). Dagegen ſtellte Bory in feiner 


1) Grimm, Gramm. I, zweite Aueg, 1822, ©. 807 fg. 





Das Sanskrit u. beffen Einwirkung auf d. Erſorſch. d. germ. Sprachen. 818 


Verglelchenden Grammatik im Jahr 1885 bie Anfit auf, daß ber 
Unterfied ber germaniſchen ſtarlen Adjeetivdeclination von ber 
Subftantivdechinatien daher rühre, daß fi das ſtarle Adjectiv ein 
Bronomen einverleibt Habe, und dies Pronomen, obwohl mit dem 
Adjectivſtamm feft verwachsen, feine pronominale Deckinationsmelfe 
beibehalte 2). 

Wie für die germanifdge Declination, fo wurden auch fir bie 
Eonjugation Bopp’s Forſchungen von eingreifender Bedeutung. 
Die germaniſchen ftarfen Konjugationen ſcheiden fi im Gothiſchen 
in rebuplicierende (halda [id weibe], Praeteritum haihald; sl&pa 
lich ſchlafeſ, Praeteritum saizlöp; töka [ich beräßte], Praeleritum 
taitök, u. ſ. w.) und ablautende. Die vebuplicierenden find in 
den anderen germaniſchen Sprachen durch Zuſammenziehung zu 
ſcheinbar bloß ablautenden geworden. (Althochdeutſch haltu [custo- 
dio] Praet. hialt; släfu [ih ſchlafe] Praeter. eltaf). Daraus und 
aus der Vergleihung mit dem Sanskrit, dem Griechiſchen und 
bateiniſchen Hatte Grimm 1822 in der zweiten Ausgabe des erften 
Teils feiner Grammatil, wenn auch nur fragend und zweifelnd, 
die Bermuthung geſchöpft, es möchten vielleicht alfe ablautenben 
Eonjugationen der germanifchen Sprachen auf früger vorhandene 
Retuplicationen zueüdzuführen fen. Bumäcft möchte er den Ab⸗ 
laut ö, uo (gothiſch fara [prefieisoor], Praeter. för; althochdeutſch 
farı, fuor) ähnlich erflären, wie das althochdeutſche fa ber ehemals 
reduplicierenden Praeterita. Und obwohl ihm dieſe Erflärung dann 
doch wieder bedenllich ſcheint, fährt er fort: „Sollte man nicht 
weiler gehen, allen und jeden Ablaut ſelbſt der übrigen ſtarken 
Conjugationen aus anfünglicher Reduplication leiten?“ ). Und 
nach einigen andern Muthmaßungen ſchließt er: „Ich häufe Hier 
mehr Fragen und Zweifel, als ich jetzt ſchon beantworten und löſen 
lann; doch ſcheint mix Im voraus gewiß, daß das Weſen des beut- 
ſchen Ablauts nicht in dem hohlen Klang zu ſuchen iſt; dieſe Ver⸗ 


1) Bopp, Vergleichende Gramm. Erſte Ausg., Zweite Abtheilung, Berlin 
1885, &. 367. Zweite Ausg. Bd. II (1859) S. 2 fg. — 2) Grimm ⸗ 
Gcamm. I, zweite Ausg. 18, ©. 1088. 


— — 


616 Viertes Buch. Drittes Kapitel. 


ſchiedenheit der Vocale muß aus einer anfänglichen, ſinnlich-bedeut⸗ 
fameren Wortflerion entfpringen, ſei fie num ber Rebuplication 
ähnlich ober nicht." Ja an einer fpäteren Stelle fagt Grimm mit 
ausbrüdlichen Worten: „Sanskritiſche Verba mit wurzelhaftem 
Vocal und einfachauslautender Confonanz erhalten im ‚Singular 
Praeteriti neben der Neduplication einen Ablaut (melde Veränder⸗ 
ung indifhe Grammatifer Guna benennen, Bopp Annals p. 35), 
nämlih a wird zu &, i zu 6, u zu 6; Dual und Plural behalten 
den Wurzeloocal; 3. B. taträsa (timui) tutöpa (percussi) tutd- 
pitha (percussisti) tutöpa (percussit), Plır. tutupima (pöreus- 
simus) tutupa (percussistis) tutupus (percusserunt); und Wur ⸗ 
zeln mit kurzem a umd einfacher Confonanz nad) demſelben befiken 
weiter bie Eigenheit, daß fie nur in L III. Singul. veduplicieren, 
in DI. Singul,, im ganzen Dual und Plural Hingegen ftatt ber 
Reduplication den Ablautö nehmen. Beiſpiele: tatäpa (arsi) töpitha 
(arsisti) tatäpa (arsit) töpima (arsimus) tôpa (arsistis) toͤpus 
(arserunt) [ftatt tatäpa, tatäpitha, tatäpa; Plur. tatapima, 
tatapa, tatapus] von der Wurzel tap; ebenfo von svap, tras; 
I. susväpa, tatäpa 1); II. svöpitha, trösitha; III. susväpa, ta- 
tApa 1); ®lur. I. svöpima, trösima eto. Jener Vocalwechſel im 
Sing. und Plur. eripnert beutlih am bie Verſchiedenheit des Ab⸗ 
lauts im Singular und Plural deutfher Conjugationen und noch 
merhoürdiger die Gleichſetzung bes Plurals mit der IL. Singularis 
gegenüber ber I. III. Singularis an die althochdeutſche und angel 
ſächſiſche Weife: I. las IT. läsi II. las; pl. I. läsum&s, IL 
läsut, III. läsun, wozu felöft die in deutſcher und indiſcher Sprache 
eintvetende Abftumpfung ber Flexrion von I. II. Singularis 
ſtimmt. Neuer Grund für die Zuſammenziehung bes Ablauts aus 
früherer rebuplicierender Form“ 2). Uber wenige Sabre fpäter 
gibt Grimm den Hier eingefhlagenen Weg wieder auf. Ju 
dem 1826 erfchienenen zweiten Band der Grammatik heißt ed: 
„Dur alle deutſchen Sprachen gilt aber die ausnahmsloſe Hegel: 
Nebuplication, auf das Praeteritum Indicativi und Conjunctiri 


1) So fießt da, — 2) Grimm, Gramm. I, zweite Ausg. 1822, ©. 1055 19 


Das Sanskrit u. beffen Einwirkung auf b. Erforſch. d. germ. Sprachen. 617 


befehränkt, nicht einmal in bas Participium übertretend, erſtreckt ſich 
nie in bie übrige Wortbildung” 1). — „Jene Negel, der Mangel 
aller aus dem Praeteritum gezogenen Wortbildungen ſpricht Mar 
dafür, daß die allmählige Zufammendrängung ber Nebuplication 
in die Doppeloocale ie und 6 bie Natur organifcher Ahlaute nie- 
mals erreichte. Defto weniger bürfen die wahren Ahlaute aus 
früheren Nebuplicationen erflärt werben. Die ablautenben Conju⸗ 
gationen find älter als bie rebuplicierenden und biefe, wie ſchon 
ihr ſchwerfälliger langer Vocal ober ihre doppelte Conſonanz zu 
erlennen gibt, aus jenen entſprungen“?). — „Den Ablaut aller 
deutſchen Worthildung zum Grund gelegt, offenbaren ſich im allges 
meinen drei Abftufungen, auf denen ber Sprachgeiſt vorrüdte. Die 
erfte erkenne ih in aus reinen ablautenden Wurzeln gezeugten un⸗ 
einfachen, dennoch wiederablautenden Verbis. Als biefe Kraft er⸗ 
loſch, wandte ſich die Sprache zur Reduplication, ohne von den 
Formen ſtarler Flexion ſonſt etwas nachzulaſſen. Mit der ſchwa⸗ 
chen Conjugation entſprang die dritte Stufe” 3). Dieſer Anſicht, 
nach welcher alſo der Ablaut das Urſprünglichere, die Reduplication 
etwas erſt fpäter Eingetretenes wäre, trat Bopp im Jahr 1827 
entgegen. Nachdem er in feiner Kritif von Grimm’s Grammatik 
deſſen frühere Anfiht und deren fpätere Zurüdnahme angeführt 
und diefe Zurücknahme mißbilligt Hat, fährt er fort: „Es wäre 
alſo nad) diefer Theorie bie Reduplication nur ein Erſatz für den 
Ablaut, ein Erſatz, zu dem die Sprache ihre Zuflucht genommen hätte, 
. als die Kraft, durch Vocalwechſel Vergangenheit auszubrüden, er⸗ 
loſchen war. Der Bufammenhang ber gothifchen Reduplication mit 
der altindifchen und griechiſchen müßte alfo aufgehoben, oder fo ges 
faßt werben, daß beide Sprachen bereits auf der zweiten der vom 
Verfaſſer aufgeftellten Abſtufungen fi befänden, indem fie ber 
Fähigfeit, durch Vocalwechſel grammatiſche Verhältniffe zu bezeich⸗ 
nen, ſehr frühzeitig beraubt geworben wären, und daher durch Me 
duplication die Vergangenheit bezeichneten, bie fie in einem voll⸗ 


1) &rimm, Gramm, II, 1826, 6.72, — 2) Eben. S. 78. — 
3) Een. 6. 73 fg. 


818 Biertes Buch, Drittes Kapitel, 


Tommmeren Zuftand durch Wocal-Wechfel mochten augedeutet haben. 
Obwohl wir Teiner der mit dem Sanskrit verwandten Sprachen 
die Moglichkeit abſprechen wollen, in manchen Punkten treuer als 
jenes ben Urzuſtand ber Sprache aufbewahrt zu haben, fo lönnen 
wir doch biefen Vorzug nicht dem Ablaut ber germanifchen Spra⸗ 
chen zugeftehen, ben wir ala ein Erzeugniß euphoniſcher Einwirkung 
anfehen müſſen, von welcher bie Sprachen in ihrem Lebenslaufe in 
dem Maß mehr und mehr abhängig werben, als das Bermußtfein 
bes weſentlichen Antheils ſich ſchwacht, dem jeder Beſtandtheil der 
Wurzel, beſonders der Stammooral, an der Grumbbebenhug 
nimmit“ i). Wir fehen hier alſo Bopp die Anſicht vertreten, def 
bie Nedupfication, wie im Sanskrit und Griechiſchen, fo auf is 
den germanifhen Sprachen das Grimbgefeg ber Perfectbilbung ill, 
und daß erft in einer jüngeren Periobe ber Spradentwidelung ber 
Ablaut allmählih; deren Stelle eingenommen Hat. Die eigentlihe 
Theorie aber, nach welcher Bopp den Ablaut entftehen läßt, hat | 
fi erft in dem Jahrzehnd, bas bem Jahr 1897 folgt, volkftäudig 
Hei ihm entwidelt. Wir fehen fie in den verfchiebenen Cehriften 
Bopp's allmahlich fih Bilden, und wen wir die Anmerlungen 
mit welchen Bopp feine im Jahr 1827 erſchienene Kritil von | 
Grimm's Grmmatik neun Jahre fpäter in feinem Vocalismus wir -· 
der abdruden ließ, mit bem Text vergleichen 2), fo nehmen wir bie 
bedeutenden Fortſchritte wahr, die Bopp in jenen neun Jahren ix 
der Auffaſſung des germanifchen Ablauts gemacht hat, Ihren Ar 
ſchluß findet Bopp's Theorie erſt in ber zweiten Ausgabe der Ber 
gleichenden Grammatik; ihre allmähliche Ausbildung aber verfolgt 
man nicht bloß in der erften Ausgabe ber Vergleichenden Gram 
matit, jondern auch in anderen Schriften Bopp's, namentlich in der 
1884 erſchienenen Kritiſchen Grammatik ber Sanskritaſprache ia 
lanerer Faſſung 9). 
1) Bopp In den Berliner Jahtbuchern für wiſſenſch. Kriut 1997, der, 
Sp. 269 (Vocalismus ©. 28 fg). — 2) Bl. 2. 8. Anm 9 (5 21%) 
son Bopp’s Vocaliemus. — 3) Wal, Bopp, Krit, Grammatik der Bans- 
krita-Sprache in kürzerer Fassung, Berlin 1834, Vorr. 8. VII &. 


Das Gansteit u. beffen Einwirkung auf b. Erforfih. d. germ. Sprachen. 61P 


Das Ergebniß von Bopp's Forſchungen in Bezug anf bie 
ſtarken Zeitwörter der germaniſchen Sprachen war in ben Grund⸗ 
zugen folgendes: Das ſtarle Praeteritum ber germaniſchen Spra⸗ 
chen iR dieſelbe Form wie das ſanskritiſche und griechiſche redupli⸗ 
clerende Perfectum. Bei dem Theil ver germaniſchen ſtarken Berba, 
die im gothiſchen Praeteritum vebuplicieren, liegt bie Verwandt ⸗ 
ſchaft mit dem ſanskritiſchen und griechiſchen Perfectum nahe. Aber 
auch die ſchon im Gothiſchen nicht mehr reduplicierenden, ſondern 
bloß ablautenden Verba waren in einer früheren Periede vedupli⸗ 
cierend und haben die Reduplication nur verloren. Der verſchie⸗ 
dene Vocal, ben der Stamm der ablautenden Verba in den ver⸗ 
ſchiedenen Tempnsformen zeigt, erflärt fi aus bloßen Mobifica- 
tionen de3 eigentlien reinen Stammpocals, und biefe Mobiftcatter 
nen find bewirlt werben durch das größere ober geringere Gewicht 
ber Flexionsſylben. Der Vocal des reinen Stammes wirb nämlich 
bald nad) ber oben geſchilderten Weiſe gefteigert, balb wird er ges 
ſchwächt. Solche Säwädungen erfährt ſehr Häufig bes kurze a 
ber Wurzel, indem es bald in ben leichteren Vocal n, Bald in ben 
noch leichteren i verwandelt wird. uf biefe Art führt Bopp die 
ablautenden, ſchon im Gothiſchen nicht mehr reduplicierenden Beit- 
wörter theils auf ben Wurzelvocal a, theils auf i, theils aufm 
zurück. Der Wurzelvocal iſt keineswegs Immer im Praeſens erhalten, 
ſondern oft auch im Singular oder Im Plural des Praeteritums 
Auf den Wurzelvocal a führen fi zueüd die VIL, X., XI. und 
XII. Ablautsreihe Grinm’s. In bee X. (gothiſch gibe, gaf, 
gbum, gibans), XI. (gothiſch stila, etal, stälum, siulanı) imb 
XII. (gothiſch hilpe, halp, hulpum, hulpans) hat der Singular 
des Praeteritums ben urſprünglichen Vocal der Wurzel, nämlich a, 
bewahrt. Das u in stulans, hulpum, hulpans; das i in giba, 
stüla, gibans find nur Schwachnngen des urfprüngligen a Da- 
gegen erflärt ſich das lange & des Pluralis Praeteriti der X. und 
ZL Ablautsreihe (gothiih gäbum, atllum; althochdeutich gäbu- 
mös, stälum&s) aus ber Zufammenzichung einer früheren Redu⸗ 
plication (gargabem), wie it Genstrit aus tatanima (L Mur. 


620 Viertes Buch, Drittes Kapitel. 


Perfecti von tan, ausbehnen) tönima wird 2). In Grimm's 
VD. Ablautreihe (gothiih fara, för, förum, farans) Hat das 
Praeſens und das Participium Praeteriti bas urſprüngliche a ber 
Wurzel bewahrt. Das 6 bes Praeteritums erflärte Bopp früher 
Hin für eine Steigerung des wurzelhaften a, fo daß ſich gothiſch 
för (aus älterem faiför) ganz fo zu fara verhalten würbe, wie im 
Sanskrit das Perfectum Easära zur Wurzel Car (gehen) 2). Spi- 
ter gab er diefe Erklärung auf und zog vor, in för, vöhs (id 
wuchs) u. |. f. Zuſammenziehungen aus ben angenommenen redu⸗ 
plicierten Formen fa-far, va-vahs zu erkennen ?). So mie bie 
bisher beſprochenen vier Ablautsreihen fi auf ben Wurzelvocal a 
aurädführen, fo die VIIL. (gothiſch steige, staig, stigum, stigane) 
auf iz die IX. (gothiſch giuta, gaut, gutum, gutans) auf u. 
Den urfprüngligen Wurzeloocal hat in beiden ber Plural bes 
Praeteritums erhalten (stigum, gutum), während das Praeſens 
(steiga, giuta) und der Singular bes Praeteritums (staig, gant) 
Steigerung des urſprünglichen Vocals erfahren Haben. — 

Bon befonderer Wichtigkeit für die Erkenntniß dev germanifgen 
Conjugation erwies fi die Anwendung, bie Bopp von der Ein 
teilung der ſanskritiſchen Conjugationen auf bie germanifden 
Zeitwörter machte. Es ergab ſich ihm, daß bie große Maſſe der 
germaniſchen ftarfen Verba ber erften (umb fechften) Klaſſe der 
ſanskritiſchen Zeitwörter angehört, welche bie Wurzel durch ein ein- 
geſchobenes a mit ber Perfonalendung verbinden 4). Im Griechi⸗ 
fen entfpricht diefen beiden Verbalklaffen die Conjugation auf a; 
im Lateiniſchen bie dritte Gonjugation. Das a, das urſprünglich 
zwiſchen Wurzel und Endung teitt, wird im Gothiſchen öfters in 
i gefchwächt, fo wie im Griechiſchen in o und e, im Lateiniſchen in 
i und u. So entipricht gothiſches gib-i-th (2. Plur. Praeſ. In⸗ 
bie, ihr gebt) dem ſanskritiſchen böd-a-Fa (ihr wißt), dem griedi« 


1) Bopp, Vergl. Gramm., 2. Ausg. Bd. II, 8. 481 fg. — 
2) Bopp, Vergl. 'Gramm., I. Ausg., 4. Abthlg. 1842, &, 842 fg. — 
8) Bopp, Vergl. Gramm. IL Ausg. Bd. II (1859) 8. 478.-— 4) Zucht 


eusgefprogien in ben Jahrbüqhern f. wiſſenſch. Ariti, 1897, Gebr., Ep. 28. 


Das Sanskrit u. beffen Einwirlung auf d. Erforſch. d. germ. Sprachen. 621 


fen Ady-e-ve, dem lateiniſchen leg-i-tis. Ebenſo gib-a-m (wir 
geben) bem ſanskritiſchen böd-A-mas (wir wifien), dem griechiſchen 
Aty-o-ner, bem lateiniſchen leg-i-mus. Dagegen entipredhen bie 
ſaͤmmtlichen ſchwachen Conjugationen ber germaniſchen Spraden 
ben Beitwörtern ber zehnten Klaſſe des Sanskrit, welche zwiſchen 
Wurzel und Endung aja einſchiebt (6ör-aja-ti, er ftiehlt, von sur, 
ftehlen). Die Charakterbucftaben der drei [wachen Conjugationen 
lgothiſch 1.) i, 2.) d, 8.) ai] find alfo nur verſchiedene Ahänberuns 
gen eines und desſelben früheren aja. Ebenſo wie dies bei den 
drei Arten ber griechiſchen Verba contracta auf do, dm und des 
und bei ber erften, zweiten und vierten Conjugation des Lateini⸗ 
fen der Fall ift. Gehört demnach die unermeßliche Mehrzahl der 
germanifhen Verba den angegebenen drei ſanskritiſchen Klaſſen an, 
fo ergab fi, daß viele andere Erſcheinungen, die auf germanifchen 
Gebiet das Ausfehen des Anomalen haben, fih daher erflären, daß 
diefe anomal ſcheinenden Verba nur vereinzelte Weberrefte anderer 
ſanskritiſcher Verballlaſſen find. So Hat fi in unferem ist eine 
Form ber ſanskritiſchen zweiten Klaſſe erhalten, welche die Endun⸗ 
gen unmittelbar an die Wurzel fügt. (Deutſch is-t = Sanskrit 
as-ti, griediih 2o-ri, lateiniſch es-t). Aber wir können natürlich 
hier nicht Bopp's Entdeckungen in alfe ihre oft überraſchenden Ein- 
zelheiten verfolgen und bemerken nur noch, daß auch die fon im 
Jahr 1816 veröffentlite Entdeckung Bopp's über die Entſtehung 
des germaniſchen [wachen Praeteritums aus einer Bufammenfegung 
mit dem Hülfszeitwort thun in ber Vergleichenden Grammatik 
eine ſchlagende gelehrte Begründung gefunden Hat‘). Eine Menge 
von anderen treffenden Beobachtungen, die ſich in alfen Theilen von 
Bopp's Vergleichender Grammatit finden, müffen wir Bier über⸗ 
gehen. 
2) Der fortdanernde Einhup des Sanskrit anf die Erforfhung der ger- 
manifden Sprachen. 
Durch die Arheiten Bopp's und feiner Mitforſcher war bis 


1) Bopp, Vergleichende Gramm,, 2. Ausg. Bd.ilI (1859) 8.398 u, 
8. 503 — 506, 


[2] Viertes Qu, Drities Kapliel. 


ins Einzelne der ſtreng · wiſſenſchaftliche Beweis geführt von bem ar 
gen Zuſauumenhang, in welchem bie germaniſchen Sprachen zit dem 
Sanskrit uud den übrigen Idiomen ber inboenropäiicen Zamilie 
ſtehen. Bon da as mußten natürlich bie Fortſchritte in ber Kenat- 
niß des Sauakrit und feines Berhältniſſes zu den nerwanbten 
Sprachen auch ber germauiſchen Forſchuug zu Statten kommen 
Es war deshalb auqh für bie germaniſchen Studien won grefer 
Bedeutung, daß ſich von Bonn, wo ſeit 1819 Auguſt Wilpelm 
Sälegel für das Studium bes JInbdiſchen wirkte, und vom Berlin 
aus, wo Bopp im Jahr 1821 feine Lehrthätigleit eröffnete, der 
Betrieb des Sauskrit allmählich auf alle deutſchen Univerfitäten 
verbreitete. Ohne daß wir ben großen Verdienſten anderer Völler 
namentlih der Engländer uund Franzoſen, zu nahe tretem, bürfen 
wär wohl fagen, daß im Lauf der legten vierzig Jahre Deutſchlaud 
der Hauptfig des europäiſchen Sanskritſtudiums geworden ift Mir 
haben hier natürlich nicht die Leiftungen auf bem Gehiel des 
Sanakeit ſelbſt au verfolgen, fondern es Tiegt uns nur ob, ben 
Einfluß des Sanshit auf bie germanifge Sprachforſchuug dacu⸗ 
ſtellen. Auf die Accentuation bes Sanskrit gründeten Abolf Holy 
mann (1841) and C. W. M. Grein (1862) neue Theorien des 
germanifhen Ablauts. Rudolf Weſtphal entwidelte (1868) ca 
eigenthamliches Auslautsgeſetz bes Gothiſchen, wonach dieſe Sprade, 
bevor fie in den Bereich unſrer Kenutniß tritt, eine zwieſache Um⸗ 
geſtaltung erfahren haben ſoll. Erſt hat fie eine Periode tun 
gemacht, in ber fie unter den Conſonanten nur s und r im Au⸗ 
laut duldete. Jeder andere im Auslaut erſcheinende Eonfonant wurde 
eutweber abgeworfen ober durch Anfügung eines = zum Julaut 
gemacht. Später trat dann das Gothiſche in eine Periode, in br 
& in urfprüngligen Endfilden mehrfilbiger Wörter Fein urfprüng 
lich Kurzes a und i duldete, fonbern biefe Vocale wegfallen ließ ). - 
Ueber "Grhamn’s Suutverihiehumgsgejek ſchrieben &. Enrtins (1858), 
W. Scherer 2) (1868), Berth. Delbruc (1869); über bie Fleion 

1) R, Westphal, Das Auslantagesets des gothischen, in ir 
Zeitschrift für vergl. Sprachforschung von Aufrecht und Kchn, 
Ba, IT (1858), 8. 161-190. — 2) ©. auf unten Rap. 7. 





Das Sanskrit u, deſſen Eimseirkung auf d. Erforſch. & germ. Sprachen. 629 


der Adjectiva im Dentſchen Leo Meyer (1868) ). — Wie in man ⸗ 
nigfachen Einzeluuterſuchungen wurde auch im Ganzen ber Verſuch 
gemacht, die Ergebniſſe der Sanskritforſchung des germaniſchen 
Grammatik zu gute Tonnen zu laſſen. Auguſt Schleier (geb. 

zu Meiningen 1821, } zu Jena 1868)?) fahte in feinem Compendint 
der vergleichenden Gremmatik der indogermaniſchen Sprachen, (Weir 
mar L 1861; II. 1862) die Refultate Bopp's, Grimm's und 
ihrer Mitforfger zufammen 9; in feiner Schrift: Die beuifge 
Sprage, Stuttgart 1860 4), hob er aus ber vergleichenden Gram⸗ 
matit das heraus, was fi; auf das Neuhochdentſche und Mittel- 
hochdeutſche bezieht. — Einen Verfuh, die Grammatik aller ger- 
manifhen Sprachen auf Bopp's vergleichender Grundlage zeu zu 
behandeln, begann Johann Kelle (Profeffor an ber Univerfität 
Brag) in feiner Vergleihenden Grammatit der germanlſchen Spra⸗ 
Gen, deren erfter 1863 zu Prag erſchienener Band das Nomen barftellt. 
— Bie auf die Grammatik, fo hatte natürlich auch auf die etymo⸗ 
logiſche Erforſchung des Woriſchatzes das Studium des Sanskrit 
großen Einfluß. Auguft Friedrich Pott (geb. am 14. Nov. 
1802 zu Nettelrede im Hannoverſchen, feit 1883 Profeffor der all⸗ 
gemeinen Sprachwiſſenſchaft an ber Univerfität Halle) lieferte in 
feinen hieher gehörigen Schriften auch zur Erforſchung der germa- 
niſchen Sprachen bedeutende Beiträge. Bon feinen Etymologiſchen 
Forſchungen erſchien der exfte Band 1838, ber zweite 1886 zu 
Lemgo. Die zweite Auflage, erjter Theil 1859 (Praepofitionen), 
zweiter 1861 (Wurzeln, Einleitung) „in völlig neuer Umarbeitung“ 


1) Wir müfjen uns natürlich Hier begnügen, einige hervorragende Beir 
fpiele diefer ſprachvergleichenden Tätigkeit anzuführen. Cine weiter gehende 
Aufzäglung aller der Meineren Arbeiten, Beiträge zu Zeitſchriften u. f. w., 
die ſich vergleichend mit dem Gennantjäen befäftigen, würbe Bier um jo 
werniger om Platze ſtin, als fie ſich weit über bie Grängen bes grrmantſchen 
Getlets ausbreiten müßte. Dem nicht felten enthaften gerade ſolche Arbeiten, 
die fich gar nicht ſpeciell wit dem getmaniſchen Sprachen Serhäftigen, auch 
für anſer Gebiet ſtuchebate Berbahtungen. — 2) Bol. Auguß Sqleicher 
Skügge won Dr. Salemen Lefmann. deiph. 1870. — 8) Zueite Ames. 
1866. — 4) Zweite Ausg. 1869. J 


624 Viertes Buch. Wierted Kapitel. 


iſt ein ſelbſtändiges, von ber erſten Ausgabe ganz verſchiedenes 
Berl. — Wie bie meiften bedeutenderen Richtungen in ber Wiflen- 
ſchaft, fo fuchte auch bie vergleihende Sprachforſchung fi in be 
fonderen Zeitfäriften Sammelpunfte für die Mitteilung des Er 
forften zu gründen. So entftand im 3. 1846 unter der Leitung 
von Alb. Hoefer (Brofeflor an ber Univerfitit Greifswalb) bie 
Zeitſchrift für die Wifjenfchaft der Sprache“, von welcher bis zum 
Jahr 1853 vier Bände erſchienen. Im J. 1852 gründeten Theo 
dor Aufreht und Adalbert Kuhn die „Beitihrift für ver 
gleichende Sprachforſchung auf dem Gebiete bes Deutſchen, Griehis 
{den und Lateiniſchen“, die (vom dritten Jahrgang 1854 an unter 
Kuhn's alleiniger Leitung) im J. 1869 bereits zu ihrem 19. Bande 
gebiehen ift. Dazu kam dann noch (1862 fg.) Theodor Ben 
fey’s „Orient und Occibent.“ 


Biertes Kapitel. 


Die fäulmäßige Behandlung bes RNeuhochdeuniſchen in den Jahren 
1819 bis 1840. 


Es kann unfere Abſicht nicht fein, in einer Geſchichte ber 
Wiſſenſchaft bie große Menge ber deutſchen Schulgrammatilen zu 
beipredien, bie zwar theilweife ihren praltiſchen Zweck in ganz ach⸗ 
tungswerther Weife verfolgen, aber zur Förderung ber Wiſſenſchaft 
nichts beigetragen haben. Wir werben uns vielmehr- auf einige 
hervorragende Erſcheinungen beſchränken, die auch für die Wiffens 
ſchaft nicht ohne Frucht waren. Dahin gehören vor allen die Ar 
beiten der beiden Heyſe, zumal bie des jüngeren. Johann 
Ehriftian Auguft Heyfe wurde geboren am 21. April 1764 
zu Norbhaufen, ftubierte 1788 bis 86 zu Göttingen Theologie und 
Padagogik und widmete fi dann ganz ber praktiſchen Ausübung 
der Iegteren. 1792 wurbe es Lehrer am Gymnaſium zu Olben- 
burg, 1807 Rector des Gymnaſiums zu Norbhaufen und Director 
der zu errichtenden Tochterfchulen. Endlich im J. 1819 nahm er 


Die ſchulmahige Behandl. bes Neuhochdeutſchen von 1819 5. 1840, 625 


einen Ruf als Director einer höheren Töchterſchule in Magbeburg 
an und ftarh daſelbſt am 27. Juni 1829 1). Heyfe war ein ſehr 
geachteter Pädagoge, und von dieſer Seite her kam er aud zu 
feinen deutſch⸗ſprachlichen Arbeiten. Der bebeutendften unter ihnen 
gab ex ben Titel: „Theoretiſch⸗praktiſche deutſche Grammatik ober 
Lehrbuch zum reinen und richtigen Sprechen, Lefen und Schreiben 
der deutſchen Sprade. Für den Schul- und Hausgebrauch bear- 
Keitet“, (Hannover 1814). Ihr Bwed follte fein, „nicht bloß ber 
Jugend unter Anführung des Lehrers ein praftiices Lehr- und 
Leſebuch ihrer Mutterſprache, fondern auch denlenden Gefchäftsleuten, 
denen die Reinheit und Richtigkeit im Sprechen nicht gleichgültig 
iſt, ein eben ſo vollſtändiges, als bequemes Nachſchlagebuch in 
zweifelhaften Fällen zu verſchaffen“ 2). 1816 gab dann Heyſe 
einen Auszug aus feinem größeren Werk unter dem Titel: „Kleine 
theoretiſch⸗ praftifche deutſche Sprachlehre“ Heraus, und endlich im 
J. 1821 ließ er noch feinen Kurzen Leitfaden zum gründlichen Un⸗ 
terriht in ber deutſchen Sprache folgen. Daß Heyſe mit dem 
praltiſchen Geſchick des geübten Schulmanns gearbeitet hatte, bewies 
der große Erfolg, den feine Bücher fanden. Ein beſonderes Glück 
für dieſe aber war es, daß Heyſe ihre weitere Vervolllommnung 
feinem Sohne Karl überlaffen Tonnte. 

Doch bevor wir ung zu dem jüngeren Heyfe wenden, mollen 
wir erft noch einen anderen einflußreichen Grammatiker befprechen, 
nämlih Karl Ferdinand Beder. Geboren am 14. April 
1775 zu Lyfer an der Mofel wurde Beer auf dem Gymnaſium 
zu Paderborn gebildet und trat dann in das Priefterfeminar zu 
Hildesheim. Doch bevor er die Priefterweihe nahm, gab er den 
geiſtlichen Stand auf und wibmete fid (1799) in Göttingen dem 
Studium ber Medien und der Naturwiſſenſchaften. Insbeſondere 
ergriff ihn die Verbindung, melde damals die Naturphilofophie 
zwiſchen Mebiein und Speculation anſtrebte. 1808 verheirathete 
er ſich und hieß ſich als praktiſcher Arzt zu Hörter nieder. 1810 


1) Hall Literatur- Zeitung 1829 Intelligenzbl, Nr. 76. — 
9) Vorbericht, 6. III 
Raumer, Gef, ber gem. Billologie 10 


626 Biertes Bud. Viertes Kapitel, 


ernannte ihn die weſtfäliſche Regierung zum Sous-Directeur ber 
Salpeterfabrication im Harzbepartement. In ben Jahren der Be 
freiung wurde er (1814) in bie Gentralhofpitaloermaltung zu 
Frankfurt am Main berufen und nach deren Auflöfung fiebelte er 
als praltiſcher Arzt nad; Offenbach über. Angefefene Freunde im 
benachbarten Frankfurt veranlaßten ihn, ifre Kinder mit ben fein, 
gen zu erziehen. Durch den zu ertheilenden Unterricht wurde er 
zur Sprachwiſſenſchaft geführt. So entftand die Weihe feiner 
jprachwiſſenſchaftlichen Schriften. In Hofer Achtung als Pädagey 
und -patriotifh gefinnter Ehrenmann ſtarb Beer am 4. Sept. 
1849 1). Wir führen num zuvörderſt Becer's ſprachwiſſenſchaft⸗ 
liche Hauptfgriften nah der Reihenfolge ihrer Entſtehung anf. 
Bon ©. F. Grotefend und Herling veranlaft bearbeitete er zuerſt 
(1824) die Wortbilbung 2). 1827 folgte ber „Organism ber 
Sprache als Einleitung zur deutſchen Grammatil”, mit dem Neben 
titel: Deutſche Sprachlehre. Erſter Band. Der zweite Band er 
ſchien als deuiſche Grammatik 1829. 1831 folgte die „Schulgram⸗ 
matik der deutfhen Sprache ?), 1883 das Wort in feiner orgams 
fen Verwandlung, 1836 — 89 die „Ausführliche deutſche Gram⸗ 
matif“, 1841 eine „neubearbeitete Ausgabe des „Organism ber 
Sprache", 1842 und 43 die „Ausführlie deutſche Grammatil 
als Kommentar der Schulgrammatif, zweite neubearbeitete Aus 
gabe“, enblid 1848 „Der deutſche Stil.“ In allen biefen man 
nigfachen Arbeiten fuchte Becer eine und diefelde Grundanſicht zur 
Geltung zu bringen. Angeregt duch Wilhelm von Hum 
boldt's geniale Forſchungen wollte Beder eine fundamentale Um⸗ 
geftaltung der Grammatik dadurch Herbeiführen, daß er nicht, wie 
die bisherige Grammatik, die Form, fondern bie Bebentung 


1) Rarl Fetd. Beder, der Grammatifer. Eine Skizze von G. Helm 
dörfer. Frankf. a. M. 1854. — 2) Die beutfhe Wortbilbung ober die or⸗ 
ganiſche Entwidelung ber deutſchen Sprade in der Ableitung. Bon Dr. & 
F- Beer. Frantf. a. M. 1824. Diefe Sqhrift Bidet zugleich das vierte 
Stüd der Abhandlungen des franffurtiigen Gelehrtenvereines für deutſche 
Sprache. — 3) Im J. 1879 erſchien die 9. Aufl, neu beach. vom Tpeod- 
Beder. 


Die ſchulmãͤßige Behandl. bes Neuhochbdeutſchen von 1819 5. 1840. 827 


zur Grundlage feines Syſtems machte‘), Die Sprachformen, 
fagt er, finden nur vermittelft ihrer Bedeutung einen gemein« 
ſamen Vereinigungspunkt in dem Satze ). „Dadurch, daß bie 
Grammatik von ber Betrachtung bes in dem Sattze ausgebrüdten 
Gedantens ausgeht und alle bejondern Sprahformen aus dem 
Sage entwidelt, werben zugleih alle Theile derſelben mit einander 
in eine innere Verbindung und in eine lebendige Beziehung gejegt“ 2). 
Die Sprade ift nämlich ein Organismus. : Denn „bie Verrichtung 
des Sprechens geht mit einer inneren Nothwendigleit aus dem or. 
ganiſchen Leben des Menſchen hervor“ ). „Da num jeves auf 
orgamifche Weife erzeugte Product eines organiſchen Dinges nothe 
wendig auch organiſch ift, fo müffen wir au in ber gefprochenen 
Sprache nothwendig eine organifhe Natur anerkennen“ 5). „Die 
Sprache ift nichts Anderes als ber in bie Erſcheinung tretende Ge 
banfe, unb beide find innerlih mr Eins und Dasſelbe“ 9. Die 
Sprache hat „zwei Seiten: eine innere, welde ber Intelligenz, und 
eine äußere, welde der Erſcheinung zugewendet iſt. Bon jener 
Seite angefehen ift die Sprache Gedanke, von diefer Seite ange 
ſehen ift fie eine Vielheit mannigfaltiger Saute: wir nennen jene 
die lo giſche, umd diefe bie phonetiſche — die Rautfeite — der 
Sprache. ). „Alle Sprache ift, weil ſich in ihr nur ber menſch⸗ 
liche Gedanke ausprägt, nur Eine Sprade‘ 9. „Eine Gram⸗ 
matit, welde bie Verhältnifie bes Gedankens und der Begriffe zu 
ihrer Grundlage macht, kann und muß, weil diefe Verhältnifje in 
allen Sprachen dieſelben find, die Grammatil für alle Spraden 
fein“ 9. Dies find die Fundamente, auf welden Beder das Ge 
Bände feiner Grammatik errichtet. Wir können hier feine eingehende 
Kritik feiner Anfihten geben, fondern begnügen uns, den Punkt zu 
bezeichnen, durch welchen ſich dieſelben am weſentlichſten von benen 


1) Ausfügrlige deutſche Grammatit I (1836) Bor. S. VII. — 
2) Ebend. S. VII. — 8) Ebend. S. IX. — 4) Organiem ber Sprache 
@) 1844, 6. 1. — 5) Ebend. 6.9. — 6) Ebend. S. 2. — 7) Ebend. 
6.12, — 8) Ebend. S. 11. — 9) Aueſuͤhrliche deutſche Grammatik I 


1836) Bor. ©. X. 
(1836) u. 


628 Wiertes Bud. Biertes Kapitel. 


Wilhelm von Humboldts unterſcheiden, weil biefer Punkt 
zugleich der ift, an welchem bie Unhaltbarkeit von Becker's Grund- 
anſichten am fchlagendften zum Borfchein kommt. Die geiftige 
Seite ber Sprache geht bei Beder in den logiſchen Denkformen 
auf, die Bei allen Sprachen biefelben find; bie Unterſchiede ber 
Sprachen fallen ber leiblich⸗phonetiſchen Seite anheim. Dagegen 
legt W. von Humboldt ein Hauptgewicht auf bie „Innere Sprad- 
form.“ „Es kann feinen, fagt er, als müßten alle Spraden 
in ihrem intelfeftuelfen Verfahren einander gleih fein. Bei ber 
Lautform ift eine unendliche, nicht zu berechnende Mannigfaltigfeit 
begreiflich, da das ſinnlich und körperlich Individuelle aus fo ver 
ſchiedenen Urſachen entfpringt, daß ſich bie Möoglichkeit feiner A 
ſtufungen nicht überſchlagen läßt. Was aber, wie der intellektuelle 
Theil der Sprade, allein auf geiftiger Selbſtthätigkeit Berußt, 
ſcheint auch bei ber Gleichheit bes Zwecks und ber Mittel in allen 
Menſchen gleich fein zu müffen; und eine grüßere Gleichförmigkeit 
bewahrt biefer Theil der Sprache allerdings. Aber auch in ihm 
entfpringt aus mehreren Urfachen eine bedeutende Verſchiedenheit 
Einestheils wird ſie durch die vielfachen Abſtufungen hervorgebradt, 
in welden, dem Grabe nad, die ſpracherzeugende Kraft, ſowohl 
überhaupt, als in dem gegenfeitigen Verhältniß der in ihr hervor 
tretenden Thätigleiten, wirkſam ift. Anderentheils find aber auf 
hier Kräfte gefhäftig, deren Schöpfungen ſich nicht durch ben Ber 
ftand und nad bloßen Begriffen ausmefien laſſen. Phantafie und 
Gefühl bringen individuelle Geftaltungen hervor, in melden wieder 
der individuelle Charakter ber Nation hervortritt, und wo, wie bei 
allem Individuellen, die Mannigfaltigkeit der Urt, wie ſich bad 
Nämliche in immer verſchiedenen Beftimmungen darſtellen Tann, 
in's Unendliche geht” 1). — Wenn wir nun aud Beder’s Unter 
nehmen im Weſentlichen als verfehlt bezeichnen müffen, fo ſchließt 
dies doch nicht aus, daß die Schriften biefes ſcharfſinnigen Mannes 


1) W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des mensch- 
lichen Sprachbaues, Werke VI (1848) 8.98 fg. — Bgl. H, Steinthal, 
Grammatik Logik und Psychologie, Berlin 1855, 


Die ſchulmaßige Behandl. bes Neuhochdeutſchen von 1819 5. 1840. 629 


durch mannigfache Anregung die Wiſſenſchaft geförbert Haben. Na- 
mentlih auf dem Gebiet det Syntax find fie theils trog der un⸗ 
richtigen Grundanſicht, theils eben wegen berfelben Iehrreich. 

Bir ehren nun zurück zu Karl Heyfe. Er war der Sohn 
des oben beſprochenen Auguſt Heyſe und wurde geboren am 
15. Oft. 1797 zu Oldenburg. Nachdem er auf den Gymnaſien 
zu Olbenburg und Norbhaufen und in einem Privatinftitut zu Wer 
vay feine Vorbildung erhalten Hatte, wurde er 1815 von Wilhelm 
von Humboldt zum Führer feines jüngften Sohnes gewählt. Im 
% 1816 gieng er nad Berlin, wo er vorzüglih F. A. Wolf, 
Boech's und Solger’s, fpäter auch Hegel's und Bopp's Vorträge 
hörte. 1819 bis 1827 war er Lehrer im Hauſe Mendelsſohn 
Bartholdy's. Hierauf habilitierte er ſich (1827) in ber philoſophi⸗ 
ſchen Fakultät der Univerfität Berlin und erhielt bafelbft 1829 
eine außerordentliche Profeſſur. Seine Vorlefungen erftredten ſich 
über mehrere griechiſche und römische Klaſſiler und über Philofophie 
ber Sprade. Er ftarb am 25. Nov. 1855 1). — Nach dem Tobe 
feines Vaters (1829) übernahm K. Heyfe die Beforgung ber neuen 
Ausgaben von befien Schriften. Er arbeitete biefelben aber in 
folgem Maß um, daß man ihre fpäteren Ausgaben als feine eige- 
nen Werte bezeichnen muß. So namentlich bie „fünfte, völlig um⸗ 
gearbeitete" Ausgabe ber „Theoretiſch⸗ praltiſchen deutſchen Gram⸗ 
matit· (I. 1888. IT. 1849) und bie „Theoretiſch⸗prattiſche deutſche 
Schulgrammatik“ insbeſondere von der zwölften Ausgabe (1840) 
an. Ebenſo das vom älteren Heyſe im J. 1804 herausgegebene 
„Wörterbuch für Verdeutſchung und Erklärung der in unferer 
Sprache gebräuchlichen fremden Wörter und Nebensarten” in feinen 
fpäteren Ausgaben 2), Bon Anfang an felbftändige Arbeiten 
Karl Heyſe's waren das Handwörterbuch ber deutſchen Sprache 


1) Brodhauo, RealEncyft, (11) VII, 905. — Augeb. Allgem. Zeitg. 
1855, Mr. 341 (aus der Voſſiſchen Zeitung). — Steinthal's Vorr. zu 
Heyse’s System der Sprachwissenschaft. — 2) Nach R. Heyſe's Tode 
beforgte (1859) bie 12. Ausgabe ſehr bereichert €. 9. F. Dahn, bie 18, 
1865) A. Otto Walfter, bie 14. (1870) Guſt. Heyſe u. W. Wittich. 


630 Viertes Bud. Biertes Kapitel. 


(1838—49) und bie „Ruragefahte Verslehre ber deutſchen Sprache 
(1820. Zweite umgenrbeitete Ausgabe 1825“). Dazu kam ba 
noch ein wichtiges Wert K. Heyſe's, das erſt nad deſſen Tode von 
GSteinthal (1856) Heransgegebene „Suiten ber Sprachwiſſen⸗ 
ſchaft.“ — Auch Heyſe geht in feinen Anfihten von W. von 
Humboldt aus, doch ohne benfelben in Becer's Weiſe mike 
verftehen. Schon 1829 erflärte er fih gegen Beder's Auffaffung 
ber Sprade als eines bloßen Organismus. „Die Sprade, fagt 
er, wird durch bie Benennung einer „„organtihen Verrichtung““ 
in bie Kategorie bloßer durch bas Naturleben geforberter bewußt ⸗ 
loſer Thätigteit herabgeſetzt. Der Menſch als ſelbſtbewußtes, geiftig 
freies Wefen fteht auf einer höheren Stufe als alle Naturgefchäpfe 
und diejenigen Yeußerungen bes Menſchen, welche Ausflüffe feiner 
Spntelfigenz finb, birfen nicht als bloße Naturthätigkeiten betrachtet 
werben“ 1). „Die Sprade, fagt er fpäter in feinem Syſtem ber 
Sprachwiſſenſchaft, darf nicht aus einem vorausgefeßten Begriffs 
foftem conftrutert werben; fonbern ihre Entwidelung muß als ein pfye 
chologiſch⸗ phyſiologiſcher Proceß bargeftellt werben, in welchem beide 
Seiten ſich vollftändig durchdringen“ ). „Das eigenthümliche 
Leben der Einzelſprache zeigt ſich aber nicht allein in ber Verſchie⸗ 
denheit ber Lautform für bie Vorftellung, fonbern auch im ber in⸗ 
neren Anfhauungs« und Auffaflungsweife ber Vorftellungen und 
Beziehungen jelbft, welche in jeder Sprade eine andere ift* 9). 
Dagegen „ſchlägt bei Beder bie verheißene Phyſiologie der Sprache 
in ein abftraltes Syſtem ber Logik um“ 4). Heyſe's Grunbanfih- 
ten Bieten ihm nun aud bie Möglichkeit, zwiſchen Vollsmundart 
und Schriftſprache gehörig zu unterſcheiden umb daraus bie Noth⸗ 
wendigkeit abzuleiten, daß bie Iegtere auch von ben eigenen Volls⸗ 
genoffen grammatifd erlernt werbe, ohne doch ben Iebenbigen Zu⸗ 
fammenhang mit ber Vollsſprache aufzugeben. Auch hier ſchließt 





1) Berliner Jahrbücher für wissenschaftl. Kritik 1829, Bd. |, 
Sp. 129. — 2) K. Heyse, System der Sprachwissenschaft, Berlin 
1856, 8. 66. — 3) Deutfhe Schulgrammatik (12) 1840, Bon. S. X. — 
4) System der Sprachwissenschaft. S. 6. 


Die fhulmägige Vehandl. des Neuhochdeutſchen von 1819 5. 1840. 6B1 


fi Hefe den Anfiten Wilhelm von Humboldts an. Nad- 
dem biefer im feinem großen Werk über die Verſchiedenheit bes 
menſchlichen Sprachbaus von ben Dichtern und Profailern und ih⸗ 
rem Einfluß auf bie Sprache geſprochen Hat, führt er fort: „Neben 
biefen, lebendig in ihren Werken bie Sprade geftaltenden Bildnern 
ſtehen dann die eigentlichen Grammatifer auf und legen bie legte 
Hand an die Vollendung bes Organismus 1). Es ift nicht ihr 
Geſchaft, zu ſchaffen; durch fie kann in einer Sprade, ber es fonft 
daran fehlt, weder Flexion, noch Verſchlingung ber End- und Ans 
fangslante vollsmäßig werben. Aber fie werfen aus, verallgemei⸗ 
nern, ebnen Ungleiäheiten und füllen übrig gebliebene Lücken.“ — 
„Sole Bearbeitungen einer und berfelden Sprahe können in vers 
ſchiedenen Epochen auf einander folgen; immer aber muß, wenn bie 
Sprache zugleich vollsthũmlich und gebildet bleiben foll, bie Regel 
mäßigfeit ihrer Strömung von dem Volle zu ben Schriftftellern 
und Graumatilern, und von diefen zurüd zu dem Volle unumter- 
brochen fortrolfen“ 2), Die Anführung ber letzteren Stelle leitet 
Heyfe mit ben Worten ein: „Heißt ſich die Spriftſprache von ber 
Vollsſprache ganz 108, fo läuft fie Gefahr zu erftarren und endlich 
zur tobten Sprade zu werben. — Andrerſeits muß, damit der 
Vollsdialekt nicht verwildere, jeber in ihm Aufgewachſene die Schrift- 
ſprache der Nation erlernen, um an bem geiftigen Gefammtleben 
der Nation Antheil zu haben und den bildenden Einfluß, welder 
daraus hervorgeht, nicht zu verlieren“ ). Dies iſt der Geſichts⸗ 
punkt, von bem K. Heyſe die deutſche Sprache In feinen „theoretiſch-⸗ 
praltiſchen· Grammatilen behandelt. Sowohl bie hiſtoriſche Er⸗ 
forſchung der Sprache, als die Sprachphiloſophie dienen auch der 
praltiſchen Grammatik zur Grundlage. Aber weder bie eine, noch 
bie andere ift Zweck der Schulgrammatik. Vielmehr „fol ber 
Schüler feine Mutterſprache in ihrem gegenwärtigen Buftanbe ver- 


1) Ueber die Bebeutung biefes Wortes bei W. von Humboldt vgl. H. 
Bteinthal, Grammatik Logik und Psychologie 1855, 8. 125 fg. — 
2) W. von Humboldt, Wke. VI, 198 fg. — 8) K. Heyse, System 
der Sprachwiss, 8, 230 fg. 


682 vieries Vuch. Junftes Kapitel. 


ſtehen und mit Sicherheit und Freiheit handhaben lernen“ ) 
Denn „bie gebildete Schriftſprache hat eigentlich nur eine ideale 
Eriſtenz, ift mehr ober weniger ein Yünftliches Kultıre » Probuit. 
Das Hochdeutſche z. B. wird vom Volle nirgends ganz rein ge 
ſprochen; e8 muß erlernt werben, ſoweit fi bie Abweichungen 
von dem Volksdialekt erftreiten“ 2). 

Unter den übrigen Bearbeitern ber neuhochdeutſchen Sprache 
nennen wir noch den ſchon früher erwähnten Joh. Gottlieb Radlof, 
beffen 1820 erſchienene „Ausführligie Schreibungslehre ber teutjhen 
Sprache, für Denkende* neben manchem Verlehrten auch mehreres 
Richtige enthält; dann S. H. U. Herling, defien „Grundregeln des 
deutſchen Stils ober der Periodenbau ber deutſchen Spradje” 1823 
unb beffen „Syntar ber deutſchen Sprache“ 1880 erſchien; ferner 
Friedrich Schmitthenner, der vom J. 1821 am die deutſche Sprache 
in einer Reihe von Schriften behandelte, und enblih Marimilten 
Wilhelm Ginger, beffen deutſche Sprachlehre für Schulen 1827 
zum erften, 1869 ®) zum zehntenmal erſchien. 


Sänftes Kapitel. 


Das Leben und bie Werke der Brüder Grimm vom Jahr 1840 
bis zu ihrem Tod. 


1. Das £eben der Brüder Grimm vom Jahr 1840 bis zu ihrem Led. 


Wir Haben bie Brüder Grimm in Kaffel verlaffen, wo fie feit 
ihrer Göttinger Amtsentfegung in ftilfer Zurückgezogenheit ihren 
wiſſenſchaftlichen Forſchungen lebten. Die ungeftörte Ruhe tat 
wohl nach der Göttinger Zeit, die bei allem Schönen und Anre⸗ 
genden ihre Thätigfeit doch in bedeutendem Maß für amtliche Ge 


1) 8. Heyfe's Vort. zur 12. Ausg. ber Schulgrammatik (1840) ©. ZIIL— 
2) K. Hoyse, Syst. der Sprachwiss. 8.5. — 3) Die 10. Auflage, durqh 
gejehen unb zum Theil überarbeitet von Dr. Ernft Gobinger, Prof. au ber 
Kantoneſchule in St. Gallen, erſchien 1869. 


Das Leben u. b. Werke ber Brüder Grimm v. 1840 b. zu ihr. Tod. 88 


ſchäfte in Anfpruch genommen Hatte. Aber ohne eigenes Vermögen, 
wie fie waren, konnten fie doch unmöglich in biefer unſicheren Lage 
verharren. Da eröffnete die Thronbefteigung König Friedrich 
Wilhelm's IV. von Preußen neue Ausfihten. Die Brüder erhiel- 
ten (1840) einen Ruf nad Berlin und nahmen ihn an. Sm 
März 1841 fiedelten fle dahin über. Cine gewiffe Abneigung, die 
fie früherhin gegen Berlin gehabt Hatten, wich bald einer beſſeren 
Meinung, und zumal Wilhelm pflegte Fremden gegenüber bie 
Borzüge bes Berliner Lebens in das hellſte Licht zu fegen 1). Auch 
Jacob wußte das viele Gute, das ber Aufenthalt in Berlin bot, 
wohl anzuerkennen; aber doch fühlte er fi öfters nicht vecht in 
feinem Element, wie er dies in ber Töftlihen Beglüdwünfhungs- 
ſchrift zu Savigny's Doctorjubiläum (1850) fo anſchaulich aus⸗ 
ſpricht ). Er fühlte das Ungeſunde ber damaligen preußiſchen 
Zuſtände um fo lebhafter, als er ben hohen Beruf Preußens für 
Deutſchland wohl zu würdigen wußte *). Mannigfache größere 
und kleinere Reifen unterbrachen J. Grimm's Aufenthalt in Ber- 
In. So beſuchte er von dort aus Schweden und Italien 4. Als 
im J. 1846 die Germaniften, d. h. die Forſcher auf dem Gebiet 
ber deutſchen Geſchichte, bes deutſchen Rechts und ber deutſchen 
Sprache und Literatur ſich zu Frankfurt am Main verſammelten, 
wählten fie J. Grimm zu ihrem Vorſitzenden. Dasfelbe wieder⸗ 
holte fih im Jahr 1847 bei der Verſammlung in Lübel. Das 
Jahr 1848 führte Grimm in das deutſche Parlament. So 
ſehr aber auch Grimm von der veinften Liebe zum beutfchen 
Volle erfüllt war und fo tiefe Blicke er in deſſen Natur und Ver 
gangenheit gethan hatte, jo war doch in einer politifchen Ver⸗ 


1) 9. Grimm, Zur Rede 3. Grimm’s auf Wilhelm, in J. Grimm’s 
Nleineren Schriften I, 183. — 2) Das Wort des Beſihes, in I. Grimm’s 
Kleineren Schriften I, 117 fg. — 3) Bgl. I. Grimm’s Brief an Lachmann 
vom 12. Mai 1840. Ebend. I, 182, und bie Widmung ber Gefdhichte ber 
deutſchen Sprache an Gervinus (1848), ©. IV. — 4) Bol. Jialieniſche und 
feandinavifhe Eindrücke, vorgelefen in ber Berliner Afademie ber Wiſſen⸗ 
ſqchaften 5. Dec. 1844, in I. Grimm's Kleineren Säriften I, 57 — 82. 


634 Viertes Bud. ünftes Kapitel. 


ſaumlung, welche bie ſchwierigſten praktiſchen Aufgaben ber Gegen 
wart loſen follte, nicht feine Stelle. Er fah im manchen weſent⸗ 
lichen Fragen ſehr richtig, aber es fehlte ihm in Taum glaublichem 
Maß das Verſtändniß ber unentbehrlichen politiſchen Formen. 
Weber das Eine, noch das Audere wird läugnen, wer feine Fraul⸗ 
furter Rede über bie Geſchäftsordnung ) mit Unbefangenheit lieſt 
Den Reſt feiner Jahre brachte J. Grimm in unermüblicher gelehr ⸗ 
ter Thätigleit in Berlin zu. Vorleſungen an ber Univerfität haben 
er und Wilhelm nur einige Jahre gehalten, bei den Sitzungen der 
Alademie ber Wiſſenſchaften aber fehlten fie Aufßerft felten. Wir 
verbanten biefer Theilnahme eine Reihe werthvoller Abhandlungen. 
Das Werk aber, das bie Brüder in ben legten Jahren ihres Le⸗ 
bens faft ganz in Anfprud nahm, war bas Deutſche Wörterbuf. 
Da zerriß plöglih der Tod das Band, das von frühfter Kindheit 
am bie Brüber jo innig vereinigt hatte. Am 16. December 1869 
ftarb Wilhelm Grimm. Tief erſchüttert ließ fih Jacob Grimm 
doch nicht nieberbeugen. Er vertiefte fih nur noch mehr in feine 
Arbeit. Am 5. Juli 1860 Hielt er in ber Alademie ber Wiſſen⸗ 
ſchaften die Dentrebe auf feinen Bruber 2). Aber allmählich zeigten 
Mich die Gebrechen des Alters. In ben legten Zeiten waren feine 
Nächte nicht mehr ſo gut als früher. Er erwachte und Tonnte den 
Schlaf nicht wiederfinden. „Wie ſchön find bie langen Sommer 
tage, worauf fi Vögel und Menſchen freuen! Sie gemahnen an 
die Jugendzeit, in der bie Stunden Licht einfaugen unb Kangfam 
verfließen; was davon noch übrig war, wird vom Dunlel des 
Winters und bes Alters ſchnell geiäludt. Nun bin ich bald 78, 
und wenn ich ſchlaflos im Bette liege und wache, tröſtet mic bie 
liebe Helle und flößt mir Gedanken ein und Erinnerungen. 3. uni 
1862. ac. Grimm.“ Dieſe Worte fanden ſich auf einen Heinen 
Zettel geſchrieben in feiner Brieftaſche 3). Bald nad ber Rüdtehr 


1) Sienographiſcher Bericht über bie Verhandlungen der — Ratimak 
verfammlung zu Frankfurt a. M., Bd. I, Franffurt 1848, ©. 166. — 
2) Wieder abgebrudt in I. Grimm's Rleineren Sqhriften I, 188. — 3) 6 
Grimm, Zur Rebe auf W. Grimm, in 3. Grimm's Kleineren Sqhrifien I, 186. 


Das Leben u. b. Werke der Brüber Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 685 


von einer Herdftreife im Jahr 1863 befiel ihn in Folge von Er⸗ 
taltung eine Leherentzündung. Diefe ſchien gehoben, da traf ein 
Schlagfluß feine rechte Seite. Cr verfiel in einen Zuſtand von 
Sälaftrumteneit. Sonntag den 20. September Abends zehn Uhr 
that er ben legten Athentzug '). 


2. 3. Grimm’s Arbeiten vom Jahr 1840 bis zum Jahr 1863. 


Unter den feit 1840 erſchienenen Arbeiten J. Grimm’s find 
zwei dem Titel nad; nur neue Ausgaben früherer Schriften, in der 
That aber neue Werke: Die angefangene dritte Ausgabe bes erften 
Theils ber deutſchen Grammatit (1840) und bie zweite Ausgabe 
der beutfehen Mythologie (1844). Won ber letzteren Haben wir 
fon früher gefproden. Die dritte Ausgabe der Grammatik er- 
ſtredt fi leider nur über bie Lehre von ben Vocalen, biefe aber 
behanbelt fie (auf 552 Selten) mit einer Neihhaltigteit, melde bie 
vorangehende Bearbeitung noch weit übertrifft ). Ein anderes 
Hauptivert, das bie legten Lebensjahre J. Grimm’s ausfüllte: das 
mit feinem Bruber gemeinfam unternommene Deutſche Wörterbuch, 
behalten wir einem befonberen Abſchnitt vor. Unter ben’ übrigen 
Arbeiten 3. Grimm's aus biefem Zeitraum treten durch Umfang 
und Bedeutung zwei hervor: Die Sammlung ber Weisthümer und 
die Geſchichte der deutichen Sprade. 


1. BWeisthümer gefammelt von Jacob Grimm, 1840 fg. 


Wir haben bei der Beſprechung von Grimm’s Rechtsalterthü⸗ 
mern gefehen, welden Werth der große Forſcher auf die Aufzeih- 
nungen ber ländlichen Rechte legt, bie ben Namen ber Weisthümer 
zu führen pflegen. Seit ber Bearbeitung jenes Werks gieng er 
mit dem Gebanfen um, biefe wichtigen Denkmäler bes altdeutſchen 
NRechts zu ſammeln und durch ben Drud dem Untergang zu ent- 


1) Ebend. S. 187. — 2) Da bie Ausfiht, biefe dritte Ausgabe zu 
vollenben, immer mehr in bie gerne trat, geftattete Grimm (1852) einen 
wörtlichen Wieberabbrud ber vergriffenen unb viel begehrten zweiten Aus- 
gabe des erften Theiles und ber erfien Ausgabe bed zweiten Theiles ber 
Grammatik. 


686 Viertes Buch. ünftes Kapitel, 


zeißen. Endlich im J. 1840 gelangte der Plan zur Ausführung. 
In Verbindung mit Ernft Dronte und Heinrich Beyer gab Grimm 
in biefem Jahr ben zweiten Theil feiner Weisthümer heraus 
Der erfte erſchien (übrigens mit derſelben Jahrzahl 1840) durch 
einen Zufall ein Jahr fpäter als ber zweite 1). Der britte folgte 
1842, der vierte 1863. Der fünfte (1866) und ſechſte (1869) wır- 
den erft nach Grimm's Tobe von Richard Schroeder Hinzugefügt. 
Die brei letzten Bände biefes wichtigen Werks wurden mit Unter- 
ftügung König Marimilian's IL durch die Miündjener hiſtoriſche 
Commiffton herausgegeben. Das Gange enthält über zweitauſend 
ſolche Rechtsaufzeichnungen, obwohl bie zahlreichen öſterreichiſchen 
größtentheils ausgeſchloſſen find, weil fie einer befonderen Zufam- 
menftellung entgegenfahen 2. „Tauſcht mid) nicht meine Vorliebe, 
fagt Grimm am Beginn bes Werks, fo wird biefe Sammlung ums 
fere Rehtsalterthümer unglaublich bereichern und beinahe umgeftal- 
ten, wichtige Beiträge zur Kunde der deutſchen Sprade, Mytho⸗ 
logie und Sitte liefern, überhaupt aber gewiſſen Partien ber frühe⸗ 
ven Geſchichte Farbe und Wärme verleihen; denn es braucht nicht 
erſt gefagt zu werben, daß ber Urfprung vieler in ben Ueherliefer- 
ungen ber Weisthümer enthaltenen Gebräude weit über bas Da⸗ 
tum ihrer Aufzeichnungen Binausreiht“ 9). Grimm hatte bie Abficht, 
bie Natur, das Alter und die vielfache Bedeutſamteit diefer Denl- 
male ausführlich zu erörtern‘). Mber er ift micht zur Ansführe 
ung biefes Planes gelommen, ba er vor Vollendung der Samm- 
ung durch den Tod abgerufen wurde. Aber kurz und gebrunge 
faßt ex noch einmal im letzten Jahr feines Lebens feine Grundan⸗ 
ſchauungen über Sprade, Glauben und Recht bes deutſchen Alter- 
thums zufammen. „Als es gelang, die heimiſche Sprache in ifre 
Ehre einzufegen, fagt er, als verſchollene Kunde bes Heidenthums 
aus Lied und Sage neu erwacht war, ſchienen alle bisher geltenden 


1) Grimm, Weisthümer, Thl. II, »Zur Nachrichte, 8. IIL Did 
Vorrede zum 2ten Theil ift unterzeichnet ben 7. Dec. 1839, bie zum erfen 
den 3. Jan. 1841. — 2) Weisthümer, gesamm. von J. Grimm, Thl 
IV, Vorbericht 8. II. V.— 3) Ebenb. I, 8. IV. — 4) Ebenh. I, 
8. II 





Das Leben u. b. Werke ber Brüder Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 637 


Borftellungen von der Nechtsgewohnheit unferer Vorfahren fortan 
dürftig ober unhaltbar. Denn wie bie Sprade, eine Iautere Kraft 
des menfhlihen Denkvermögens gewaltig entiprungen, in Poefle 
und Rebe endlofe Wurzel geſchlagen hat, wie ber Glaube aus inniger 
Naturanſchauung erzeugt in die Geſchichte der Völker verwebt und 
fortgetragen wurde, müſſen auch Uebung und Brauch die vielgeftal- 
tete Sitte bes Lebens zu förmlichem Recht erhöht und geweiht ha⸗ 
ben. Diefe Dreiheit der Sprade, des Glaubens und des Rechts 
leiten fi aus einem und bemfelben Grunde Her, und um ber näm⸗ 
lien Urſache willen ift ihre ſinnliche Fülle im Verlauf der Zeit 
verloren gegangen“ 1). 


2. Geſchichte der beutfgen Sprade von Jacob Grimm 1848, 


JGrimm's Geſchichte der deutſchen Sprache ift ein fehr eigen- 
thümliches Buch, in deſſen Zuſammenhang ſich ſchwerlich jemand 
finden wird, wenn er bie Entſtehungsgeſchichte bes Buches nicht 
Tennt. Seinem nachdenkenden Lefer Tann entgehen, daß das Buch 
eigentlid etwas ganz Anberes enthält, als der Titel erwarten läßt. 
Der Berfafler verſucht zwar in ber Vorrede feinen Plan zu recht⸗ 
fertigen, indem er drei verſchiedene Arten unterfheidet, in denen 
die Geſchichte der deutſchen Sprache geſchrieben werben könne. „Im 
engſten Sinn, ſagt er, wäre ſie nur auf das, was wir heute in 
Deutſchland herrſchende Sprache nennen, auf die hochdeutſche ange⸗ 
wieſen.“ In einem weiteren Sinn hätte fie alle „deutſchen Spra- 
chen“ zu umfaflen, wie bies in Grimm’s Grammatik geſchehen ift. 
Aber „wie niht Sicherheit, allein Fülle und Gewicht der Sprad- 
geſetze durch Aufnahme aller Munbarten und Dialekte in ben Kreis 
der Unterfugung fi fteigern, muß es dieſe noch in höherm Grade 
fördern, wenn aud die Sprachen ber uns benachbarten und ur⸗ 
verwandten Völker zugezogen werben. Grit damit erlangt jenes 
Bild, in welchem uns ſämmtliche deutſche Spraden bie vordere 
Bühne einnehmen, feinen Grund für bie in der Tiefe aufgefteliten 
ausländiſchen, und eine rechte Perſpective thut fih unfern Bliden 


1) Ebend. IV, 8. III, geſchrieben ben 18, Dec. 1862, 


638 Biertes Bud. Funftes Kapitel, 


auf. Won foldem Stanb aus Habe id mid; nicht enthalten können, 
diesmal bie Geſchichte unferer Sprache zu umternehmen“ 1). Aber 
auch nad diefer Erklärung wird ber Lefer eine Menge Dinge in 
dem Buch finden, die er Hier nicht erwartet, fo die ausführligen 
Unterfuchungen über Völker, von beren Sprache wir wenig ober 
nichts wiſſen; und andrerfeits wird er oft gerabe das vermiffen, was 
er in dem Buche zu fuchen berechtigt ift, nämli bie eingehende 
Berüdfihtigung der urverwandten Spraden. So müßte ohne Frage 
bei der Aufgabe, die ſich Grimm Bier ftellt, ba8 Sanskrit eine Haupt 
rolle fpielen. Aber gerade dem Sanskrit wird in Grimm's Wert 
nur eine fehr beiläufige Berückſichtigung zu Theil. Alle diefe auf 
fallenden Erſcheinungen finden ihre Erllärung, wenn wir auf die 
Entftehung des Buches zurüdgehen. Es ift nämlich hervorgegangen 
aus einer ethnographiſchen Hypotheſe, die Grimm ſchon einige Jahre 
früger aufgeftelft Hatte. In einer Abhandlung über Jornandes 
und die Geten bie er am 5. März 1846 in der Berliner Alademie 
gelefen und in demfelsen Jahr zum Drud befördert hatte, verſuchte 
ex ben Beweis zu führen, daß die alten thrakiſchen Geten und 
die deutſchen Gothen ein und basfelbe Wolf feien. Diefe Hypo 
thefe zu ftügen und weiter auszuführen, war ber Hauptzwed von 
Grimm's Geſchichte ber deutſchen Sprache. Daß wir hiemit dem 
Buche nicht zu nahe treten, ergibt ſich aus Grimm's eigenen Wor- 
ten. Wo er im zweiten Band einen Rückblick auf feine Unterfud- 
ungen vwirft, beginnt er die Zufammenfaffung feiner Gründe mit 
den Worten: „Da ber Geten und Gothen Identität faft ein An 
gel ift, um ben fi mein ganzes Werk dreht, und wie id bie 
deutſche Sprache nad; ber gothiſchen geregelt Habe, nun au der 
Vordergrund deutfher Geſchichte die Geten nicht entbehrt, will if 
bier meine Anſicht, und welche Einwände ihr entgegenfteh, mode 
mals überfhauen" 2). Aber trog allem Aufwand von Gelehrjamteit 
amd Fühnfter Combination ift e8 Grimm nicht gelungen, feine Sr 
potheſe auch nur wahrſcheinlich zu machen. Vielmehr hat er bei 


1) J. Grimm, Gesch. der deutschen Sprache, Vorr. 8. IV. - 
2) Ebend. ©. 800. 


Das Lehen u. d. Werke ber Brüber Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 089 


befonnenen und nüchternen Geſchichtsforſchern nur die Ueberzeugung 
hervorgerufen, daß die hier von ihm angewendete Methode auf bie 
bedenllichſten Abwege führt 1). 

Müſſen wir alfo das Buch in Betreff der nächſten Aufgabe, 
die es ſich ſtellt, fallen laſſen, fo bietet dasſelbe doch andere Sei- 
ten, bie ihm einen weit höheren Werth verleihen. Grimm ift mit 
den epochemachenden Werken, durch welche er der Wiſſenſchaft neue 
Bahnen gebrochen hat, nit zum Abſchluß gekommen. Die neue 
Ausgabe der deutſchen Grammatik brach 1840 ab, nachdem fie nicht 
über ein Viertel des erften Bandes hinausgefommen war. Die 
Mythologie, ſowie bie Rechtsalterthümer hätte Grimm in ben lei 
ten Jahrzehnden feines Lebens im fehr erweiterter und theilweiſe 
umgearbeiteter Geftalt ericheinen lafjen, wen er dazız gelangt wäre. 
Mit einem umfafjenden Werk über die deutſche Sitte?) trug er 
ſich ſchon feit Jahren, ohne zu deffen Ausführung zu kommen. Auch 
der großartigfte Fleiß und bie gemwaltigfte Arbeitskraft, wie fie 
Grimm auszeichneten, waren nit im Stande, allen diefen Anfor- 
derungen gerecht zu werben. Da ergriff ber greife Forſcher bie 
Gelegenheit, die ihm feine Geſchichte der deutſchen Sprache barbot, 
um mit raſcher Hand wenigſtens einzelne Abſchnitte ber großen 
Aufgaben auszuarbeiten, zu beren vollftändiger Bewältigung ihm 
mehr und mehr die Hoffnung ſchwand. So Bietet das Werk in 
den Kapiteln über bie Lautverſchiebung, über den Ablaut, über bie 
Declinationsvocale, über die ſchwachen Nomina den Entwurf deffen, 
was wir in ber britten Ausgabe der Grammatik zu erwarten ge 
habt hätten, wenn ber Verfafler zu deren Vollendung gelangt 
wäre. Wir haben hier das letzte Wort vor uns, das ber große 


1) gl. Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte 1 (2) ©. 5, 
m. Karl Müllenhoff in der Allgem. Encyflopäbie von Erſch u. Gruber, Erſte 
Section, 64. Thl., ©. 483 fg. Ueber Grimm’s unkritiſche Methode in ber 
eigentligen Gefgicteforfhung vgl. Waitz a. a. D. ©. 6 und befien. fonft fo 
verehrungsvollen Vortrag: Zum Gedächtnis an Jacob Grimm, Göttingen 
1868, 8. 25. 32. — 2) Bgl. u. 9. J. Grimm, Gesch. der deutschen 
Sprache 8. 1016. 


640 Biertes Bud, Fünfte Kapitel. 


Sprachforſcher in diefen fırndamentalen Fragen geſprochen hat. Aus 
ber Fülle feiner Studien Bietet er viel des Anregenden und Neuen, 
und auch wo wir ihm nicht beiſtimmen können, werben wir fein 
unverbrofjenes Fortarbeiten in Ehren halten. Insbeſondere unter: 
zieht er hier die zerftreuten Sprachreſte der älteren germaniiden 
Völker, der Langobarden, Burgunden u. ſ. w. einer erneuten Prü- 
fung. Wie zur Grammatik, fo bietet das Werk mannigfage Et⸗ 
gänzungen zur deutſchen Mythologie, fo 3. B. einen bejonderen 
Abſchnitt über die Edda. Ant anziehenbften aber find bie Borar- 
beiten zu feinem Wert über die deutſche Sitte, die Grimm feiner 
Geſchichte der deutſchen Sprache einverleibt hat. So bie friſchen 
Schilderungen bes urfprüngliden Hirten» und Jägerlebens und im 
Gegenfag dazu die des Aderbaues. Mit diefen Darftellungen der 
Sitte und des Lebens fteht eine ber werthvollſten Seiten des gan⸗ 
zen Werkes in engfter Beziehung, nämlich bie Unterfuchung des 
Wortſchatzes nad beftinmten Richtungen Bin, um ans ben Wörtern, 
mit denen die Sprachen gewiſſe Dinge, 3. B. bie Metalle, das Vieh, 
die Getraibearten u. ſ. w. bezeichnen, Schläffe zu ziehen auf die 
Kultur und bie alten Verbindungen ber Völker. Zwar iſt auf 
hier die größte Vorfiht nöthig, um ſich nicht übereilten Folgerungen 
binzugeben. Aber jedenfalls hat Grimm hier ein ſehr fruchtbare 
Gebiet betreten. Und fo können wir denn auf dieſes Wert Grimms 
anwenden, was er felbft im allgemeinen von den deutſchen Arbei⸗ 
ten fagt: Es ſcheint mie insgemein eine löbliche Eigenſchaft deut 
ſcher Arbeiten, daß fie nicht Alles abthun, noch vorſchnell zu Schlufle 
bringen wollen, fonbern fi aud unterwegs gefallen, an unvorher 
gefehener Stelle niederlaſſen und Beete anlegen, bie noch fortgrür 
nen, nachdem das Hauptfeld ſchon in rüftigere Hände übergegangen 
iſt; franzöſiſche umd feldft engliſche Bücher, welden an forgfamer 
Ausgleihung des Inhalts mit der Form allzuviel Tiegt, pflegen, 
wenn fie veralten, leicht entbehrlich zu werden“ 1). 





1) J. Grimm, Gesch. der deutschen Sprache, Vorr. 8. XVI. 


Das Leben u. d. Werke ber Brüber Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 641 
3. Kleinere Arbeiten Jacob Grimm’s von 1840 bis 1868, 


Bon den zahlreichen Heineren Schriften Grimm's aus den 
Jahren 1840 bis 63 haben wir einige ſchon erwähnt, andere, wie 
die Rede auf Lachmann, beſprechen wir in einem fpäteren Abſchnitt 
Diefe Arbeiten find mit wenigen Ausnahmen Vorträge, die Grimm 
in ber Berliner Akademie ber Wiſſenſchaften gehalten Hat. Wer 
diefe zahlreichen Vorträge über bie verfchiedenartigften Gegenftände 
vereinzelt betrachtet, der wird vielleicht denken, Grimm habe fih 
doch gar zu fehr zerfplittert; wer fie aber mit Aufmerkfamfeit in 
ihrer Gefammtheit überblidt, ber wird ſich Überzeugen, daß auch 
bier, wie in der Geſchichte der deutſchen Sprache, der große For⸗ 
ſcher ſich gedrungen fühlte, der Welt wenigftens Bruchſtücke defjen 
zu überliefern, wovon er nicht wußte, ob ihm die vollftändige Aus- 
arbeitung noch vergönnt fein werde. So Bietet bie Sammlung 
von Grimm's Kleineren Schriften !) einen außerordentlichen Neich- 
thum ber mannigfaltigften Unterfuhungen, aber der Kenner wird 
fie Teiht in die verſchiedenen großen Gebiete von Grimm's Forſch⸗ 
ungen einveihen. Auch hier begegnen wir zuerft einer Anzahl von 
Abhandlungen aus dem Gebiet der Grammatik, dies Wort in dem 
umfaffenden Sinn genommen, wie es Grimm’s Deutſche Gram- 
matif thut. Und zwar gehören bieje grammatiſchen Unterfuhungen 
theils den Lehren an, die Grimm in den vollendeten Abſchnitten 
feines Hauptwerks fon behandelt hatte, und bilden infofern Vor⸗ 
arbeiten zur Fortſetzung der angefangenen neuen Ausgabe; theils 
geben fie Bruchſtücke defien, was Grimm ung in bem nicht erſchie⸗ 
nenen fünften Bande geboten haben würde. Zur erjten Art rede 
nen wir, obſchon nur theilweiſe, die Abhandlungen über Diphthon- 
gen nad weggefalfnen Confonanten (1845) 2), über den Perfonen: 
wechſel in ber Rede (1855) 3), über das Pedantiſche in ber deut⸗ 
ſchen Sprache (1847) 4), von Vertretung männlicher durch weib⸗ 
tie Namensformen (1858) 5). Die zulegt genannte Abhandlung 


1) Heransgegeben von X. Müllenhoff, Bd. I-III, Berlin 1864-1886, 
— 9) J. Grimm, Kleinere Schriften 3, 108. — 3) Ebend. 3, 236. — 
4) &senb. 1, 327. — 5) Ebend. 3, 349. 

Reumer, Geh. ber germ. Phlilogie. 4 


642 Wiertes Bug, - Fünftes Kapitel. 


bietet, nad Grimm’s Weife, mehr als bie Ueberſchrift veripriät. 
Sie entwidelt zugleih, im Anſchluß an das reichhaltige fechfte Ra- 
pitel des dritten Buhs der Grammatit, Grimm’s Anſichten über 
das natürliche und das grammatifhe Geſchlecht. Auch zeigt fie und, 
wie Grimm die Eigennamen zu behandeln gedachte und wie er auf 
auf diefem Gebiet der Forſchung neue Antriebe gab. Er hatte 
(1846) Förſtemann's Sammlung der althochdeutſchen Eigennamen 
veranlaft. „Welchen Reiz, ſagt ber greife Forſcher jet (1858), 
und welche anziehende Kraft hat unter allen ſprachlichen Unterſuch⸗ 
ungen eben die über bie Eigennamen, wie gejhäftig fein muß man 
um jede bier auffteigende Frage zu behandeln; ich werde zwar oft 
nod) die Eingänge finden, aber nit mehr den Genuß haben, bis 
in die Mitte der Forſchung zu gelangen, geſchweige ihren Ausgang 
zu ermitteln” 1). Dem fünften Band, den Grimm feiner Gram- 
matif nod Hinzufügen wollte: der Lehre vom zufammengefegten 
Sat, gehört die Abhandlung ‚über einige Fälle ber Attraction 
(1857) 2) an. Manche Arbeiten, wie der Vortrag über Frauemna⸗ 
men aus Blumen (1852) 3), über die Namen des Donners (1853) ), 
über ben Liebesgott (1851) 9) und über das Gebet (1857) ©), wen 
den die Sprachforſchung auf Mythologie und Sitte an. Der Rechts⸗ 
wiſſenſchaft Hatte Grimm (1850) in feinem Nachweis, daß die mal 
berg'ſche Gloſſe zur Lex Salica fränfiih und nicht keltiſch jei, feine 
eindringende Forſchung zu gute kommen laſſen 7). Bon beſonde⸗ 
vem Intereſſe aber in Bezug auf Grimm's wiſſenſchaftliche Grund⸗ 
anſichten find einige linguiſtiſche Abhandlungen von alfgemeinerem 
Inhalt, wie die Bemerkungen über Etymologie und Spradver 
gleichung (1854) 8 und vor allen die Vorlefung über den Urfprung 
der Sprade (1851) 9). Was die Löſung dieſes ſchwierigen Bro 

1) Ebend. 3, 351. — 2) Ebend. 3, 312. — 3) Ebend. 2, 366. — 
4) Ebend. 2, 402. — 5) Ebend. 2, 314. — 6) Ebend. 2, 489. — 7) u 
ber Vorrebe zu Joh. Merkel's Ausgabe der Lex Salica, Berlin 1850. Sqhea 
1846 Hatte X. Müllenhoff (in G. Waitz, das alte Recht der Salischen 
Franken, Kiel 1846) den fränfifgen Urfprung der malberg’fäjen Gloſſe ge: 
gen Leo's keltiſche Erflärungen vertreten. — 8) J. Grimm, Kleinere Schrif- 
ten 1, 299. — 9) Ebend. 1, 255. 


Das Beben u. d. Werke bes Wrüber Grimm v. 1840 b. zu ihr. Tob. 848 


blems betrifft, To ſchließt fi Grimm. im Weſentlichen den Anfichten 
Herder's an. Noch wichtiger aber als die Betrachtungen über das 
eigentliche Thema biefer Vorleſung find uns darin für unferen 
Zwei die Anſichten, die Grimm über bie geſchichtliche Entwickelung 
der vorhandenen Sprache äußert. „Anfangs, fagt er, entfalteten 
fi, ſcheint es, die Wörter unbehindert in idylliſchem Behagen, ohne 
einen anderen Haft als ihre natürliche vom Gefühl angegebene Aufe 
einanderfolge; ihr Eindrud war vein und ungeſucht, doch zu voll 
und überladen, fo daß Licht und Schatten fi nicht vecht vertheilen 
Tonnten. Allmählih aber läßt ein unbewußt waltender Spradgeift 
auf die Nebenbegriffe ſchwächeres Gewicht fallen und fie verdünnt 
und gekürzt der Hauptvorftellung als mitbeftimmenbe Theile ſich 
anfügen. Die Flexion entfpringt aus dem Einwuchs Ientender und 
bewegender Beſtimmwörter, die man wie halb und faft ganz ver- 
deckte Triebräder von dem Hauptwort, das fte anregten, mitge- 
ſchleppt werden und aus ihrer urſprünglich auch finnlichen Bedeu⸗ 
tung in eine abgezogene übergegangen find, durch die jene nur zu- 
weilen noch ſchimmert. Zuletzt Hat ſich auch die Flexion abgenutzt 
und zum bloßen ungefühlten Zeichen verengt, dann beginnt ber ein⸗ 
gefügte Hebel wieder gelöft und fefter beſtimmt nochmals äußerlich 
gejett zu werden; die Sprade büßt einen Theil ihrer Elaſticität 
ein, gewinnt aber für den unendlich gefteigerten Gedanlenreichthum 
überall Maß und Negel. Erſt nad gelungener Berglieverung ber 
Flexionen und Ableitungen, wodurch Bopp's Scharffinn jo großes 
Berdienft errungen hat, hoben fih die Wurzeln hervor und es 
warb Mar, daß die Flexionen größtentheils aus dem Anhang ber- 
felden Wörter und Vorftellungen zufanmmengebrängt find, welche im 
dritten Beitraum gewöhnlich außen vorangehn. Ihm find Praepo- 
tionen und deutliche Zufammenfegungen angemefjen, dem zweiten 
Flexionen, Suffixe und fühnere Compofition, der erfte ließ freie 
Wörter ſinnlicher Vorftellungen für alle grammatiſchen Verhältniſſe 
aufeinander folgen. Die ältefte Sprade war melodiſch, aber weit⸗ 
ſchweifig und haltlos, die mittlere voll gebrungener poetifcher Kraft, 
die neue Sprache fucht, den Abgang an Schönheit durch Harmonie 
des Ganzen ficher einzubringen, und vermag mit geringeren Mit- 
41*® 


644, Biertes Bud. Fünftes Kapitel, 


teln dennoch mehr“ 1). Diefe Aeußerungen laſſen uns einen ber 
tiefften Blide in Grimm's Anſichten über die Sprache tfun. Die 
mittlere von feinen. brei Perioden hat ihn immer beſonders ange 
zogen. In ihr „ſehen wir die Sprade für Metrum und Poefie, 
denen Schönheit, Wohllaut und Wechſel der Form unerläßlich find, 
aufs höchſte geeignet” 2). Aber trotzdem gibt er ihr nicht dem Preis 
vor ber dritten Periode. „Da nun aber, fagt er, die ganze Natur 
des Menden, folglich aud die Sprache dennoch in ewigem, unaufe 
haltbarem Aufſchwung begriffen find, Tonnte das Geſetz biefer zwei- 
ten Periode der Spradentwidlung nicht für immer genügen, fon 
dern mußte dem Streben nad) einer noch größeren Ungebundenheit 
des Gedankens weichen, welchem fogar duch die Anmuth und Macht 
einer vollendeten Form Feſſel angelegt ſchien“ %). „Keine unter allen 
neueren Sprachen hat gerade durch das Aufgeben und Zerrütten 
aller Zautgefege, durch den Wegfall beinahe ſämmtlicher Flexionen 
eine größere Kraft und Stärke empfangen als die engliſche“. „An 
Reichthum, Vernunft und gebrängter Zuge läßt ſich feine aller noch 
lebenden Sprachen ihr an bie Seite fegen“ %). „Die Schönheit 
menſchlicher Sprache blüßte nit im Anfang, fondern in ihrer 
Mitte; ihre reichſte Frucht wird fie erft einmal in der Zukunft 
darreihen“ 4). Unſrer Aufgabe gemäß haben wir ung etwas Län 
ger bei biefer Abhandlung aufgehalten und Lönnen nun nur noch 
die wichtigften unter den übrigen Arbeiten Grimm’s erwähnen. Zur 
Mythologie gehört der Vortrag Über zwei Gebichte aus der Zeit des 
deutſchen Heidenthums (1842), deren Auffindung auf der Merſe⸗ 
burger Dombibliothet „buch den gerechteſten Zufall Herm Dr. 
Georg Waig überwiefen worden iſt“ %). Einen wichtigen Beitrag 
zu Mythologie und Aberglauben liefern ferner die Abhandlungen 
über Marcellus Burdigalenfis (1847) 6) und über die Marcelliſchen 
Formeln (1855) 7). Mit Neht und Sitte beichäftigen fi bie 
Vorträge über deutſche Grängalterthümer (1843) &), über Schenken 


1) Ebend. 1. 283 fg. — 2) Ebend. 1, 291. — 3) Ebend. 1, 291 fg. 
— 4) Ebend. 1, 298. — 5) Ebend. 2, 2.— 6) Ebend. 2, 114. — 
7) &bend. 2, 152, — 8) Ebend. 2, 30. 


Das Leben u. d. Werke der Brüder Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 645 


und Geben (1848) 1) und über bas Verbrennen ber Leichen (1849) 2). 
Eine bebeutende Stelle nehmen die Arbeiten zur Literatur ein: die 
Gedichte des Mittelalters auf König Friedrich den Staufer und 
aus feiner fo wie ber nädftfolgenden, Zeit (1843) 3), die Rede auf 
Schiller (1859) 4), und endlich der eingehende Vortrag über das 
finniſche Epos (1845) 5). Dazu fommen noch die mehr allgemei- 
nen Betrachtungen über Schule, Univerfität, Akademie (1849) 6) 
unb bie Mebe über das Alter (1860) ). Blicken wir zurück auf 
alles Angeführte, wozu nod eine Reihe Mirzerer Arbeiten kommt, 
fo fegt uns ſchon bie Menge und Mannigfaltigkeit deſſen, was 
Grimm neben feinen großen Hauptwerken zu leiften vermochte, in 
Berwunderung. Aber unſer Erſtaunen fteigert fi, wenn wir fehen, 
daß Grimm in diefe Arbeiten nicht nur eine Fülle von Geiſt aus- 
gegoffen, fonbern fie auch mit einem folden Maß gründlichſter Ge— 
lehrſamkeit ausgeftattet Hat, daß man kaum begreift, woher er die 
Zeit zu alfen diefen umfafjenden Sammlungen genommen hat. Und 
Grimm beſchränkt fi Hier nicht auf die Dircharbeitung des weit⸗ 
ſchichtigen germaniſchen Matertals, fondern er greift weit über bef- 
fen Gränzen hinaus in das griehifche, ſlaviſche und finniſche Alter- 
tum. Wir mögen in vielen Dingen anderer Anſicht fein als der 
Berfaffer, wir mögen öfters feinen allzutühnen Combinationen nicht 
folgen, ja in Manchem feine ganze Anſchauungsweiſe beftreiten: 
aber bei dem alfen erhalten wir einen mächtigen Einbrud von dem 
geiftigen Reichthum J. Grimm’s, wenn wir uns vergegenmwärtigen, 
daß ſchon diefe feine „MHeineren“ Nebenarbeiten hinreichen würben, 
um ihm eine der erften Stellen in der Geſchichte unferer Wiffen- 
ſchaft zu ſichern. 
3. dilhelm Grimm’s Arbeiten vom Jahr 1840 bis zum Yahr 1859. 
Die Arbeiten aus Wilhelm Grimm’s letzter Periode ſchließen 
fi meift denen aus ber vorangehenden an. Es find hauptſächlich 
“ forgfältige und mit feiner Kenntniß hergeftellte Ausgaben mittel- 
1) Ebend. 2, 173. — 2) Ebend. 2, 21l.— 3) Eben. 8,1. — 


4) Ebend. 1,374. — 5) Ebenb. 2,75. — 6) Ebend. 1, 211. — 
T) Eben. 4, 188, 





646 Viertes Bug. Fünftes Kapitel. 


hochdeutſcher und althochdeutſcher Schriften. Von ber goldenen 
Schmiede des Konrad von Würzburg gibt er jetzt (1840) einen kri⸗ 
tiſchen Tert, indem er über ſeine eigene Ausgabe dieſes Gedichts 
in den Altdeutſchen Wäldern (1815) bemerkt, daß fie „weiter leine 
Berüdfichtigung mehr verdiene“ 1). Desfelben Dichters Silvefter 
gibt er (1841) zum erftenmal vollitändig Heraus. Den Werner 
vom Niederrhein (1839) und Athis von Prophilias, ein nur in 
Brucftüden erhaltenes mitteldeutſches Gedicht aus dem erften Jahr⸗ 
zehnd des 18. Jahrhunderts (1846), behandelt er mit berfelben 
gründlichen Sorgfalt, wie früher den Graf Rudolf. Am Tängften 
aber beſchaftigt ihn fortgefegt Freidank. Er Hatte in feiner Aus 
gabe desſelben (1834) die Vermuthung ausgeſprochen und zu bes 
gründen geſucht, Freidank ſei Walther von ber Vogelweide. J. 
Grimm Hatte (1848) die Richtigkeit dieſer Annahme bezweifelt 2). 
Wilhelm ſuchte darauf, biefelde in feiner alabemifchen Vorleſung 
„Ueber Freidant“ (1849) noch fefter zu begründen. (Einer ber er⸗ 
ften Kenner der altdeutſchen Literatur, Wilhelm Wadernagel, trat 
ihm bei (1853) 9). Gin anderer anerfannter Forſcher aber, Franz 
Pfeiffer, ſuchte (1855), W. Grimm’s Beweisführung zu wiberle 
gen 4), vorauf dann W. Grimm (1855) in einem zweiten Nachtrag 
über Freidant erwiderte. Mag man im Endergebnis W. Grimm 
beiſtimmen ober nicht, darüber ift Alles einig, daß er feine Anfiht 
mit Meifterfhaft vertreten Hat 5). — Die Auffuchung der Aehnligleiten 
zwiſchen Freidank und Walther von ber Vogelweide hatte W. Grimm 


1) Konrads von Würzburg Goldene Schmiede von W. Grimm 
1840, Vorr. 8. VII. — 2) Gedichte des Mittelalters auf König Fried- 
richI den Staufer (1848), in J. Grimm’s Kleineren Schriften 3, 8. 8fg. 
u. 8. 100 fg.— 3) W. Wackernagel, Gesch. der deutschen Litteratur, 
Zweite Abthlg., Basel 1853, 8. 279. — 4) Zur deutschen Litteratur- 
geschichte, Drei Untersuchungen von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1855, 
8. 37 fg. Deffen Freie Forſchung, Wien 1867, S. 163 fg. — 5) Epl. 
Franz Pfeiffer a. a. ©. ©. 37; und Pfeiffer’ Urteil Über bie Trefflichteit 
von W. Grimm's Ausgabe bes Freidank in deſſen „WB. Grimm’ (1860), 
wieber abgebr. in Pfeiffer's Freie Forfhung (1867) ©. 388, 


Das Leben u. d. Werke ber Brüber Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 647 


auch auf eine nähere Erörterung ihrer Reime geführt !). Bei der 
Gründlichfeit, mit der er feine Sache betrieb, wurde er dadurch zu 
umfaffenden Unterſuchungen über den Reim veranlaft ?), deren Er- 
gebniffe er in der Abhandlung „Zur Geſchichte des Reims“ (1850) 
nieberlegte, einer Arbeit, bie in mehr als einem Punkte zeigt, wie 
ſcheinbar Heine Dinge, mit folder Genauigkeit und Feinheit unter 
ſucht, zu wichtigen und unerwarteten Aufihlüffen führen lönnen 3). 
Die Unterfuhungen über das Metrifche im Freidank ſelbſt fanden ih⸗ 
en Abſchluß in der neuen Bearbeitung jenes Spruchgedichts, die 
erſt nah W. Grimm's Tod (1860) erſchien. Außer den befprode- 
nen mittelhochdeutſchen Dichtungen waren es vorzüglich einige der 
älteften althochdeutſchen Denkmäler, womit fih W. Grimm im letz⸗ 
ten Abſchnitt feines Lebens eingehend beidäftigte und bie er in fei- 
ner gründlichen Weife Herausgab, nämlich die Exhortatio ad ple- 
bem christianam und bie Glossae Cassellanae (1848) und bie 
„Mtbeutf hen Gefpräge" aus einer Vaticaniſchen Handſchrift des 
neunten Jahrhunderts (1849) und einer Pariſer des zehnten (1851). 

Wir haben hier natürlich nur einige der wichtigften unter den 
vielen Mleineren Arbeiten W. Grimm’s hervorheben können. Eine 
fortgefegte Beſchäftigung gewährte ihm das Nachſammeln zur Litera- 
tur und Geſchichte der Märchen, wozu die Einleitung zu ben von 
den Brüdern überfegten iriſchen Elfenmärden (1826) einen ſchönen 
Beitrag geliefert hatte, und das feinen Abſchluß (1856) in der brit- 
ten Auflage bes dritten Bandes der Kinder und Hausmärden fand *). 
Den größten Theil feiner Zeit aber nahm im legten Jahrzehend 
von W. Grimm’s Leben fein Antheil am deutſchen Wörterbuch in 
Anſpruch. 


1) Vridankes Bescheidenheit, von W. Grimm, 1834, Einleitung, 
&. CXXVII. — Ueber Freidank von W. Grimm 1850, 8. 47 fg. — 
‚D W. Grimm, Zur Geschichte des Reims 1852, 8.1.4. — 3) 95 
verweife beifpielsweife auf das, was W. Grimm ©. 52. 89. 106 der genann- 
ten Abhandtung über bie Reime ber Nibelungen fagt. — 4) Bgl.o. ©. 427 fg. 
Bir werben nicht irre gehen, wenn wir aud an ben iriſchen Elfenmärden ben 
Sauptantheil W. Grimm zufgreiben. 


648 Biertes Bud. dünfies Kapitel. 
4. Das Denifhe Wörterhu der Srüder Grimm 1852 bis 1863. 


ALS die Brüder Grimm im Jahr 1837 wegen ihres Feſthal⸗ 
tens an ber umgeftürzten hannoveriſchen Berfaffung ihrer Aemter 
entfegt worben waren, wurde ihnen von der Weidmanm'ſchen Buch⸗ 
handlung der Antrag gemacht, ihre „unfreiwillige Muße auszufül- 
Ien und ein neues, großes Wörterbuch der deutſchen Sprache abzu- 
faſſen.“ „Unmuße, fagt J. Grimm, und bie freiwilligfte war 
genug da, fie wäre nimmer ausgegangen, was frommte ihrer mehr 
und im Ueberſchwank zu bereiten? Beinahe hieß e8, alte warm 
gepflegte Arbeiten aus dem Neft ftoßen, eine neue ungewohnte und 
mit jenen, alfer nahen Verwandtſchaft zum Trotz unverträglide, 
ihren Fittich heftiger ſchlagende darin aufnehmen. Auf deutſche 
Sprade von jeher ftanden alle umfere Beftrebungen, den Gedan⸗ 
fen, ihren unermeffenen Wortvorrath ſelbſt einzutragen, hatten wir 
doch nie gehegt, und ſchon ber mühſamen Zurüftungen ſich zu un 
terfangen, Tonnte den für die Ausdauer unentbehrlihen Muth auf 
die Probe ftellen. Aber im Vorſchlag Tag auch etwas Unwiderſteh⸗ 
liches, das fich gleich geltend machte und zum Voraus allen Schwie 
rigfeiten, ben vor Augen ſchwebenden, wie folgen, die ſich erft, 
wenn Hand angelegt werben follte, erzeigen würden und bie es 
vorauszufehen unmöglich ift, die Spite bot. Wir erwogen und erwo⸗ 
gen, ein unabjehbares, von feinem noch angelegte, geſchweige vollbrach⸗ 
tes Wert, öffnete allenthalben die fernften Ausfihten. Es gab weder 
ein deutſches Wörterbuch, noch einer andern neueren Sprade in 
dem umfafjenden Sinn, den wir ahnten, weldem gerade jett mehr 
als irgendwann mit treu aufgewandten Kräften Folge geleiftet, mit 
reger Teilnahme entgegengelommten werben könnte.“ „Eingedenl 
des uralten Spruchs, daß ein Bruder dem andern wie bie Hand 
der Hand helfe, übernahmen wir williges und beherztes Entſchlufſes 
ohne langes Fadeln, das dargereichte Geſchäft“ 1). Im Frühjahr 
1888 wurde zu Kaffel der Vertrag zwiſchen den Brüdern Grimm 


1) Deutsches Wörterbuch von J. Grimm und W. Grimm, I, 
Bp. I fg. 


Das Leben u. d. Werke ber Brüder Grimm v. 1840 6, zu ihr. Tod, 649 


und Karl Neimer abgeihloffen 1). Ueber den Plan und Fortgang 
des Werts erftattete im Herbft 1846 W. Grimm Bericht auf ber 
Berfammlung der Germaniften zu Frankfurt am Main, die J. 
Grimm zu ihrem Vorfigenden gewählt hatte. „Das Wörterbuch, 
fagte er, fol die deutſche Sprache umfaſſen, wie fie fi in drei 
Jahrhunderten ausgebilbet Hat: e8 beginnt mit Luther und ſchließt 
mit Goethe. Zwei ſolche Männer, welde, wie bie Sonne dieſes 
Jahrs den edlen Wein, die deutſche Sprache beides feurig und 
lieblich gemacht haben, ftehen mit Recht an dem Eingang und Aus« 
gang. Die Were der Schriftfteller, die zwiſchen beiden aufgetreten 
find, waren forgfältig auszuziehen, nichts Bedeutendes ſollte zurüd- 
bleiben. Ich brauche nicht zu fagen, daß die Kräfte Zweier, zumal 
wenn fie über die Mitte des Lebens längſt hinweggeſchritten find, 
nicht zureichen, diefen Schag zu heben, kaum zu bewegen: aber ganz 
Deutſchland (auf Hier mahte das nördliche und fühlihe keinen 
Unterſchied) Hat ung treuen Beiftand, manchmal mit Aufopferung 
geleiftet; oft ift er uns ba, -mwo wir ihm nicht erwarteten, angebo⸗ 
ten, nur felten, wo wir ifn erwarteten, verfagt worden“ 2). Jacob 
Grimm beftimmt dann in der Borrede zum Wörterbuch 3) ben Um- 
fang desſelben näher dahin, daß es mit ber zweiten Hälfte des 
15. Jahrhunderts beginnen folle. Außer den gedruckten deutſchen 
Wörterbüchern, deren bebeutendere wir in früheren Abſchnitten be⸗ 
ſprochen haben, ftanden den Verfaflern Exemplare des Friſchiſchen 
und des Abelungifen Wörterbuchs mit handſchriftlichen Zufägen 
von oh. Heine. Voß und des Campe'ſchen Wörterbuchs mit Ein 
tragungen von Meufebah zu Gebot ). „Neben diefen beiden, 
unferm Wörterbuch voransgehenden und gar nicht für es angeleg- 
ten Sammlungen, fagt I. Grimm, fommt num ber weit anſehn⸗ 
lichere Vorrath von mannigfalten Auszügen in Betracht, die ihm 
unmittelbar zur Grundlage gereihen follten, zum Theil aus unfrer 
eignen, unablaffenden Lefung der Quellen hervorgiengen, zum gro» 

1) Ebend. Sp. LXVIIL. — 2) Verhanbfungen ber Germaniften zu 
Frankfurt am Main — 1846, Frankf. a. M. 1847, ©. 14. — 31, 
Sp. XVII. — 4) Eben. Sp. LXV. 





650 Biertes Bud. Fünftes Kapitel. 


Ben Theil aber durch Andere abgefaßt wurden, bie wir damit 
beauftragt hatten, oder die fie von freien Stüden und nad) elgner 
Wahl anboten“ 1). So ſammelt ſich um bie Brüber ein maffen- 
haftes Material. „Wie wenn tagelang feine, dichte Flocken vom 
Himmel nieberfallen, fagt J. Grimm, bald die ganze Gegend in 
unermeßlichem Schnee zugebedt Tiegt, werde ih von der Maffe aus 
allen Eden und Migen auf mich ambringender Wörter gleichſam 
eingeſchneit· 2. Kein Wunder, baß er bisweilen „Alles wieder 
abzufhütteln” dachte, aber um fo achtungswerther, daß er dennoch 
in umabläffiger Arbeit aushielt. Das Werk follte weber eine bloße 
Sammlung der noch gebräuchlichen Wörter, nad Art des Adelung'⸗ 
ſchen Wörterbuchs, noch auch ein Gloſſar zur Erläuterung veralte- 
ter Ausdrüde fein, fondern es follte den ganzen Sprachſchatz der 
legten vier Jahrhunderte umfaſſen in allen feinen Verzweigungen 
und in ber vollftändigen geſchichtlichen Entwidelung der Bebentun- 
gen. „Hinter allen abgezogenen Bedeutungen bes Worts liegt eine 
finnlie und anfhaufie auf dem Grund, die Bei feiner Findung 
die erfte und urſprüngliche war. Es ift fein leiblicher Beſtandtheil, 
oft geiftig überdeet, erſtreckt und verflüchtigt, alle Worterklärung, 
wenn fie gedeihen ſoll, muß ihn ermitteln und entfalten. Aufzu⸗ 
ſuchen ift er vor allem in dem einfachen Verbum und wiederum 
zuerſt in dem ſtarken“ 3). „Diefe finnlichen Bedeutungen anzu. 
geben und voranzuftellen, ift in dem ganzen Wörterbuch geftreht 
worden, e8 war aber unmöglich, überall den bezeichneten Weg ein⸗ 
zuſchlagen, da es mande einfache und ſelbſt ftarke Verba gibt, 
deren ſinnlicher Gehalt nicht mehr deutlich vorliegt”, und da wir 
von manden Subftantiven nicht mehr ſicher wiffen, von welden 
Verbum fie abzuleiten find *). Definitionen wurden meiſt unter 
laſſen, ftatt ifrer wird bie Bedeutung durch ein beigefegtes latei ⸗ 
niſches Wort angegeben. Das Wörterbuch ift zwar für das ganze 
Bol. Denn „bie Grammatif ihrer Natur nad iſt für Gelehrte, 
Biel und Beſtimmung bes allen Leuten dienenden Wörterbuds find 


1) &bend. Sp. LKVI. — 2) Eben. Sp. fg — I Ebend. 
&p. XLV. — 4) Ebend. Sp. ZLVI. 


Das Leben u. b. Werke ber Brüber Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tob, 51 


neben einer gelehrten und Begeifterten Grundlage nothwendig auch 
im ebelften Sinne praftijh" 2). Aber „das Wörterbuh braucht 
gar nicht nad platter Deutlicfeit zu ringen und kann fi ruhig 
alles üblichen Geräthes bedienen, defien die Wiſſenſchaft fo wenig 
als das Handwerk entbehrt, und der Lefer bringt das Geſchick dazu 
mit ober erwirbt fih’s ohne Mühe. Fragſt du den Schufter, ben 
Bäder um etwas, er antwortet bir auch mit feinen Wörtern und 
es bebarf wenig ober feiner Deutung. Auch ift gar Feine Noth, 
daß Allen Alles verftändlih, daß Jedem jedes Wort erklärt fei, 
er gehe am dem Unverſtandnen vorüber und wird es das nädjite- 
mal vielleicht faffen“ 2). Darauf hin bedienen fih nun die Ver- 
foffer ohne weiteres der ganzen wiſſenſchaftlichen Terminologie. 
Bei den Philologen Haben fi längft lateiniſche Kunſtwörter eins 
geführt, die fogar in üblicher Abkürzung von jedermann verftanden 
werden und an benen ohne Nachtheil niemand ändert“ 3). „Mit 
den Buchſtaben m. f. n. werben die brei Geſchlechter auf das ein- 
fachfte Hezeichnet“ 3). Aber nicht Bloß der Kunftausbrüde der Tatei- 
niſchen Grammatik, fondern aud der Abkürzungen, die Grimm in 
feine deutſche eingeführt, bebient fi das Wörterbuch: ags. (angel- 
ſãchſiſch), ahd. (althochdeutſch) u. f. w. Diefe Ahkürzungen und bie 
der Inteinifhen Kunftausbrüde werden vor dem erften Band aufge⸗ 
löft, aber nicht bie ber althochdeutſchen, mittelhochdeutſchen und an - 
deren altgermanifhen Schriften, wonach 3. B. O. den Otfrib, 
MSH die Minneſänger in der Ausgabe von Hagen bedeutet u. ſ. w. 
Wer in dieſen Fächern bewandert ift, verfteht ihre Titel und Ahr 
Hingungen von felöft”, heißt es in ber Einleitung *). Und doch 
follte das Wörterbuch nicht bloß für Gelehrte fein, fondern „allen 
Leuten dienen“ und „im ebelften Sinne praltiſch“ fein 5). Aber 
„man barf nur nit die fejlelnde Gewalt eines nachhaltigen Fülle 
horns, wie man das Wörterbud) zu nennen pflegt, und den Dienft, 
den es thut, vergleichen mit bem ärmlichen eines bürren Hand» 
lerilons, das ein paarmal im Jahr aus dem Staub unter ber 


1) Ebend. Sp. VI — 9) Ebend. Sp. XI. — 8) Ebend. 
Sp. XXKVIIL — 4) Ebend. Sp, XCL. — 5) Cbend. Ep. VI. 


652 Viertes Bud. Fünftes Kapitel, 


Bank hervorgelangt wird, um ben Streit zu ſchlichten, welde von 
zwei ſchlechten Scähreibungen ben Vorzug verdiene ober bie fteife 
Verdeutſchung eines geläufigen fremden Ausbruds aufzutreiben" '). 
„Einem Uhrwerke gleich Laßt ſich das Wörterbuch fiir ben Gehbrauch 
des gemeinen Mannes nur mit derſelben Genauigkeit einrichten 
die auch der Aſtronom begehrt, und wenn es überhaupt mugen fol, 
gibt es kein anderes als ein wiſſenſchaftliches“ °). 

Die Brüder vertheilten bie Arbeit in der Weife unter ſich 
daß jeber beſtimmte Buchftaben übernahm, ohne daß ber Eine dem 
Andren dreinreden ſollte. Jacob begann mit den Buchſtaben 4, 
B, €; Wilfelm wählte D. Er hat vor feinem Abſcheiden (1859) 
diefen Bucjftaben gerade noch vollendet. Jacob Kat anfer den 
drei erſten Buchftaben auch noch E und enblih F bis zu dem Worte 
„Frucht“ ausgearbeitet. Ueberbliden wir, was auf den 5768 deut⸗ 
lich, aber eng gebrudten Großoctavſpalten geboten wird, fo Lönnen 
wir ohne alle Einſchränkung fagen, daß feine der lebenden europdis 
ſchen Sprachen ein Wert aufzuweifen Hatte, das fih bem Grimm’ 
ſchen Wörterbuch an die Seite ftellen ließ. Die mit Recht ſtreng 
alphabetiſch geordneten Wörter werben in der Weiſe behandelt, daß 
eine etymologiſche Einleitung den Beginn macht. Daran fließt 
ſich in gebrängter Kürze bie Vorgeſchichte des Worts während des 
althochdeutſchen und mittelhochdeutſchen Zeitraums, doch mr als 
Eingang zu der neuhochdeutſchen Entwickelung des Wortes. Dieſe 
wird dann ſowohl in Beziehung auf die Geſtalt, als die Vebent 
ung bes Worts nah alfen Seiten Hin geboten mit ber reidhften 
Fülle der Belege vom 15. Jahrhundert an bis auf unfere Tage 
Mag man aud die Kühnheit des Etymologiſierens tadeln, ber ih 
53. Grimm in feinen alten Tagen wieder mehr hingab, als auf der 
Höhe feiner Forfhung, fo wird man doch nicht Täugnen, daß unter 
vielem Zweifelhaften ober geradezu Verfehlten ſich eine Denge tref- 
fender Etymologieen und geiftvolfer Vermuthungen über den du 
fammenhang der Wörter findet. Iſt auch die Entwidelung und 
Ordnung der Bebentungen nicht immer gleich gelungen, fo öffnen 





1) @bend. Sp. XUI. — 2) Ebend. Ep. XIV. 


Das Leben u. b. Werke der Brüder Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 668 


fich doch unzählige Einblicke in die geſchichtliche Entfaltung der Ber 
deutungen, an bie vor bem Erſcheinen des Grimm'ſchen Wörter⸗ 
buchs niemand gedacht hat. Während fo das Buch eine unfchäg- 
bare Quelle für die Erkenntniß unfrer Sprache feldft ift, bietet es 
zugleich ein lexilaliſches Hülfsmittel für das Verftänbniß ber älteren 
neuhochdeutſchen Literatur, wie wir ein foldes in den vorhandenen 
dentihen Wörterbüchern auch nit von fern beſeſſen Hatten. 

Wenn nun das Grimm'ſche Wörterbuch bei dem größten Theil 
des deutſchen Publicums die freudige Aufnahme findet, welde die 
gefeierten Verfaſſer ſich verſprechen durften, fo läßt ſich bod nicht 
läugnen, daß andrerſeits auch Stimmen heftigen Tadels laut wur- 
den. So in ben Rritifen von Chr. F. 2. Wurm (1852 fg.) und 
don Daniel Sanders (1852 fg.). Man wird ben Ton, der von 
dieſer Seite gegen die größten Meifter des Fachs angeſtimmt 
wurde, nur im höchſten Maß mißbilfigen, und feinem Urtheils- 
fähigen wird e8 einfallen, die Tabler an Geiſt und Wiſſen auch 
aur von fern mit %. Grimm zu vergleichen. Aber dies Alles als 
jelbftverftändlih vorausgejegt, werden wir uns doch nicht verhehlen 
Tonnen, daß jene Angriffe jo mandes Wahre enthielten. Und je 
weniger wir natürlich geneigt fein werden, die Angreifer irgendwie 
als ebenbürtige Gegner J. Grimm's anzuerkennen, um fo mehr 
drängt fih die Frage auf, wie es möglich war, daß eben dieſe 
Männer doch mehr als Eine ſchwache Seite der Grimm'ſchen Ar- 
beit aufzufinden vermochten. Inſofern ſich's nur um Einzelheiten 
handelt, liegt die Antwort nahe. ‘Denn erftens Kann ein Wörter 
buch gearbeitet fein, wie e8 will, fo wird doch immer, zumal bei 
einer jo mafjenhaften Literatur, wie die neuhochdeutſche, nicht fehr 
viel dazu gehören, Nachträge und Verbefferungen zu Tiefern. Zwei⸗ 
tens aber, — und hier treten wir der Hauptſache ſchon näher —, 
iſt es eine ganz verlehrte Anfiht, wenn man meint, Grimm hätte 
zeitlebens auf ein derartiges Werk hingearbeitet, fo daß alle feine 
frügeren Leiftungen getwiffermaßen nur Worbereitungen zu biefem 
legten und größten Lebenswert geweſen wären. Schon bie Ent- 
ſtehungsgeſchichte des deutſchen Wörterbuchs, wie wir fie oben mit 
Grinun s Worten dargelegt haben, lehrt uns das Gegentheil, und 


654 Viertes Bud). Fünftes Kapitel. 


Grimm's ganze Laufbahn bezeugt, daß er fi) als Forſcher weit 
mehr mit den älteren germaniſchen Sprachen beſchäftigt hatte, als 
mit dem Neuhochdeutſchen. Der tiefere Grund aber, warım ge 
abe das Deutſche Wörterbuch auch im Großen und Ganzen weit 
mehr Blößen bieten mußte, als die übrigen Hauptarbeiten Jacob 
Grimm’s, wird ſich aus dem folgenden Abſchnitt von feldft ergeben. 


5. Jacob Grimm. Schluß 


Bir ftehen am Ende des größten Forſcherlebens, das uns bie 
ganze Geſchichte unferer Wiſſenſchaft darbietet. Wir haben geigil- 
dert, wie Jacob Grimm nach allen Seiten hin auf dem Gebiet 
der deutſchen Sprache und Alterthumsforſchung neue Bahnen ge 
broden hat. Die Treue der geſchichtlichen Darftellung fordert, daß 
wir uns aud über die ſchwächeren Seiten des großen Forſchers 
offen ausſprechen. Dieſe ſchwächeren Seiten ſtehen zu feinen großen 
Eigenſchaften in naher Beziehung. Tritt uns vor allem ſeine un⸗ 
vergleichliche Combinationsgabe entgegen, ſo wollen wir andrerſeits 
nicht läugnen, daß dieſe Combinationsgabe bei J. Grimm nicht 
immer das richtige Gegengewicht methodiſch prüfender Kritik gefun⸗ 
den hat. Wir mußten dies namentlich bei der Geſchichte der deut⸗ 
ſchen Sprache und theilweiſe auch bei der deutſchen Mythologie 
zugeben. Auch bei feinen Etymologieen hat J. Grimm in ber 
legten Periode feines Lebens fih öfters wieder einer allzugroßen 
Kühnheit üderlaffen, nachdem er in feiner deutſchen Grammatit 
mehr als irgend ein Anderer dazu beigetragen hatte, die Etymolo⸗ 
gie der Willkür zu entheben und ihr eine wahrhaft wiſſenſchaftliche 
Grundlage zu verſchaffen. 

Aber weit tiefer noch als dieſe bisweilen ungezügelte Combi 
nation greift eine andere Eigenthümlichkeit Grimm’s in das Ganze 
feiner Forſchung ein. Wo es fih um geniale Erfaffung bes Um 
mittelbaren, des unbewußt Naturwüchſigen handelt, da finde 
Grimm in der ganzen Geſchichte unfrer Wiſſenſchaft nicht feines 
leihen. Weit weniger aber ift feine Natur auf bie richtige Be 
urtheilung bes verftandesmäßig Meflectierten angelegt. Dies zeigt 
fich insbefondere an einer ſehr wichtigen Seite feiner Sprodforid- 


Das Leben u. d. Werke ber Brüder Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 655 
v 


ung. Wir Haben gefehen, wie vom Beginn unfver Wiffenfhaft an 
die Grammatiter ſich zur Aufgabe machen, die deutſche Schriftſprache 
feftzuftellen. Wie verhält ih nun Grimm zu diefen Beftrehungen? 
Hat er das Wefen unfrer Schriftiprahe und ihren ſpecifiſchen Un- 
terſchied von den Volksmundarten richtig aufgefaßt? So fehr wir 
Grimm verehren, können wir doch nit umhin, diefe Frage mit 
Nein zu beantworten. Gleich bei feinem Auftreten als Gramma- 
tifer (1819) hatte Grimm erflärt, daß er mit feinem Werk ganz 
aus ber Reihe ber bisherigen deutſchen Grammatiler, als deren 
hauptſächlichſten er Adelung nennt, heraustreten wolle. Inſofern 
nun Grimm hiemit bie Art feiner Forſchung bezeichnet, hat er dieſe 
Verheißung glänzend erfüllt. Wenn er aber dann fofort jede deut- 
ſche Sprachlehre zum praltiſchen Gebrauch für verwerflich, wenn 
er es für eine Thorheit exflärt, die „eigene Landesſprache un- 
ter die Gegenftände des Schulunterricht? zu zählen", jo verkennt 
er das Weſen der deutſchen Schriftiprade. Hätte Grimm neben 
feinen hohen und genialen Gaben etwas mehr nüdternen Sinn 
für die proſaiſche Wirklichkeit bejeffen, jo würden ihn feine eigenen 
Beweisgründe vom Gegentheil deſſen überzeugt Haben, was er zu 
bemeifen denkt. Schulunterricht in der eigenen Landesſprache zu 
ertheilen, nennt ex „eine unfägliche Pebanterei, die es Mühe Toften 
würde, einem wieder auferftandenen Griechen oder Römer nur bes 
greiflih zu machen“, und melde die meiften mitlebenden Völker 
durch den gefunden Blick, den fie vor ung voraus haben, nicht 
kennen ?). So Grimm. In Wirlichkeit aber verhält fih bie 
Sade gerade umgekehrt. Die Griehen und Römer Haben von 


1) Die oft angeführte Stelle aus der Vorrede zu Gramm. I (2) 8.XIX 
ändert an biejen Anſichten durchaus nichts Weſeniliches. Die entſcheidende 
Frage iR: Bedarf auch der Deutfhe zum richtigen Gebrauch ber deuiſchen 
Schriftſprache grammatiſcher Unterweifung ober barf er ſich „eine jelbfeigene, 
Iebendige Grammatif nennen und fühnlih alle Spradmeifterregeln fahren 
laffen“ ? Diefe Frage würde Grimm 1822 ganz fo beantwortet haben, wie 
1819. Denn noch 1854 (Vorr. zu Bd. I des Deutschen Wörterbuchs 
Sp. VII) erlärt er: „Die Grammatik ihrer Natur nad if für Gelehrte”, 
lauguet alfo Moglichteit und Bedürfniß einer Elementargrammatit. 


656 Viertes Buch. Fünftes Kapitel. 


dem Zeitpunkt an, in weldem ſich bei ihnen eine Literaturſprache 
ausgebildet hat, aud ihren Kindern grammatiihen Unterricht in 
der eigenen Landesſprache ertheilen laſſen. Und was „die mit 
lebenden Völter“ betrifft, fo ift der grammatifhe Unterricht in ber 
eigenen Mutterſprache bei den Franzoſen und Engländern ein wer 
ſentlicher Theil der Jugendbildung, und es genügt, darauf hinzu 
weifen, daß die Meinen Schulgrammatifen, die zum Unterricht in 
der Mutterſprache beſtimmt find, bei jenen Völkern eine Unzahl 
von Auflagen erleben 1). Diefer Grundirrthum Grimm’s, nur das 
Naturwüchſige anzuerfennen und alles Weflectierte zu verwerfen, 
greift tief in alfe feine Werfe ein. So lange fid biefe, wie die 
deutfhe Grammatif, weit überwiegend mit den älteren germaniſchen 
Sprachen und nur ganz nebenbei mit ben neueren beichäftigten, 
blieben die Wirkungen jenes Irrthums mehr im SHintergrunde. 
Sobald aber Grimm mit dem Deutſchen Wörterbuch den Boden 
des Neuhochdeutſchen betrat und Hier nicht bloß Sammlungen, fon- 
dern auch Urtheile geben wollte, mußte die Frage thatjächlih zur 
Entjgeidung kommen, ob wirklich jeder Deutſche, ohne allen Unter- 
richt in feiner Mutterfprache, ſich „eine felbfteigene, lebendige Gram- 
matif” nennen darf, wenn es fih um den Gebraud ber Schrift: 
fprage Handelt. Auch im deutſchen Wörterbuh noch Hält Grimm 
an der Anfiht feit, die Grammatik ſei nur fir Gelehrte, das 
Wörterbuch dagegen für alle Leute ?), au „für ben Gebrauch des 
gemeinen Mannes“ %). Dabei aber trägt er Fein Bedenken, fih 
ohne Weiteres ber grammatiſchen Terminologie zu bedienen, ohne 
ſich zu überlegen, daß die grammatiſchen Termini nichts als leere, 


1) So erſchien von bem Abrégé de la grammaire frangaıse par 
No&] et Chapsal 1855 bereits bie ſechounddreißigſte, und von Murrays 
abridged english grammar 1854 bie einhunbertunbdreiundgwangigfle Auflage. 
Der Werth diefer Buqher iſt ums natürlich hier ganz gleichgättig. &6 form 
une einzig darauf an, zu zeigen, baß das, was Grimm für eine fpecifih 
beutfpe Pebanterei Hält, fid bei ben größten und prattiſchſten Kulturvölletn 
ganz ebenfo findet, wie bei und. — 2) Deutsches Wörterbuch I, Sp. VII. 
— 3) Eben. I, Sp. XIV. 


Das Leben u, d. Werke der Brüber Grimm v. 1840 b. zu ihr. Tod. 857 


unverſtändliche Worte für jeden find, ber nicht mwenigftens in den 
Elementen der Grammatik unterrichtet worden ift. Und wo nun 
Grimm fi veranlaft fieht, ſelbſt grammatiſche Entſcheidungen zu 
geben, ba ſehen wir ihn nicht felten den Confequenzen feines Grund⸗ 
irrthums verfallen. Weil er nichts wiflen will von einer neuhochdeut ⸗ 
ſchen Schriftſprache, die in den meiften Punkten bereits grammatiſch 
feftgeftelft ift, glaubt er ſich Befugt, den anerkannten Sprachgebrauch 
durch vermeintlich hiſtoriſche Conftructionen zu meiftern )Y. Wir 
dürfen uns demnach ber Ueberzeugung nicht Länger verfäliehen, 
daß Grimm das Weſen unfrer neuhochdeutſchen Gemeinfprace 
verkannt hat. Trotz mandes fhönen und finnigen Ausſpruchs, 
den er über fie thut, behandelt er fie doch immer wie eine rein 
naturwüchfige Mundart, die jeder fo handhabt, wie es ihm in ben 
Sinn Tommt, ohne daß der Grammatiker Ihm dreinreden darf. 
Das ift aber unfre deutſche Gemeinſprache fo wenig, als irgend 
eine Kulturſprache, zu deren Ausbilbung die Schrift mitgewirkt 
hat. Wir brauchen nur zurüdzubliden auf die Entftehung und 
Entwidelung unfrer Gemeinfprace, um ung zu Überzeugen, welde 
Rolle das Schreiben babei gefpielt und welden Einfluß die Gramma- 
tiler auf bie allmähliche Feſtſtellung derſelben gehabt Haben. Ehen 
deshalb Kat die Schule ihren Antheil an der Erlernung ihres 
fehlerfreien ſchriftlichen und mündlichen Gebrauchs. Wir find auf 
diefe Frage etwas näher eingegangen, weil fie ſowohl in wifjen- 
ſchaftlicher, als in praktiiher Beziehung von entſcheidender Bedeut⸗ 
ung ift. Haben wir uns aber einmal überzeugt, daß Grimm's 
Anfiten hier einer wejentlien Umbilbung bedürfen, und find wir 
gegen feine irrigen Annahmen gefihert, dann werben wir auch das 
viele Schöne und Treffende, das er über unfre jetzige Sprade 
fagt, richtig würdigen. Denn darin hat er volltommen Recht, daß 


1) Bgl. z. B., wie Grimm bie längft zu Recht befichenden Formen der 
Bogen, der Braten u. f. f. durch bie organiſchen Boge und Brate ver 
drängen zu müffen glaubt. (J. Grimm, Von Vortretung männlicher durch 
weibliche Namensformen (1858), in J. Grimm’s Kleineren Schriften III, 
8. 389. Deutsches Wörterbuch II, 309. Ebend. II, 218). 

Ranmer, Seſqh. der germ. Poilelotie. 42 


658 Viertes Bud. Sechfes Kapitel, 


die Mutterſprache nicht aus ber Grammatik entſpringt. Aber wäh 
rend wir bei unſrer Mundart Herren unfrer Sprache find, greift 
beim Gebraud der Schriftſprache Schule und Grammatit regelnd 
ein, und es ift Aufgabe der Säule, die Grammatik fo zu behan- 
deln, daß das ſchriftſprachlich Richtige angeeignet wird, ohne daß 
dur den fhulmäßigen Betrieb der Mutterſprache die Quellen des 
Sprachvermögens geſchädigt werben. 

Haben wir auch fo Manches gegen Grimm einwenden müſſen 
und haben wir ihm namentlih in Bezug auf das Weſen unferer 
Gemeinſprache nicht beiftimmen Tönuen, fo fol ung doch dies Alles 
das Bild des unvergleihlihen Mannes nicht trüben und uns nicht 
hindern, feine unerreichte Größe freudig anzuerkennen. Cine folde 
Verbindung von genialer Combinationsgabe und eifernem Fleiß, 
von lebendiger Phantafie und eindringendem Scharffinn, von ftau- 
nengwerther Gelehrfamfeit und ungetrübter Urſprünglichkeit der Auf- 
faſſung ift in der Geſchichte unfrer Wiſſenſchaft ohne Gleichen. Ein 
echt deutſcher Mann von tiefem, warmen Gemüth und unbeugfa- 
men Charakter, jo fteht fein Bild in unferem Gedächtniß. Unſer 
Wiffen und unfere Anſichten von der Sprade und ber Dichtung, 
von dem Glauben und ben Rechtsanſchauungen unferer Vorfahren 
haben duch Grimm’s Forſchungen eine neue Geftalt gewonnen. 
Grimm hat uns den Sinn für unfer deutſches Alterthum wieder 
geöffnet und dadurch auch für die Betrachtung unfrer Gegenwart 
eine neue Grundlage geſchaffen. - 


Sehfles Kapitel. 
Die Bearbeitung ber deuiſchen Literaturgeſchichte. 


Wir haben in einem früheren Abſchnitt den burchgreifenden 
Einfluß dargeftellt, den die Häupter der romantiſchen Schule auf 
die geſchichtliche und Fünftlerifge Auffaffung unferer Literatur geübt 
haben. Aber eine eingehende Geſchichte der deutſchen Literatur ift 
nicht von ihnen geichrieben worden. Vielmehr blieb diefe Aufgabe 


Die Bearbeitung ber deutſchen Literaturgeſchichte. 660 


noch laugere Zeit im den Händen minder begabter Geiſter, deren 
vorbereitende Thätigleit aber nicht ohne Verdienft war. Ein Mann 
diefer Art war Franz Horn (geb. zu Braunſchweig 1781, 1808 
bis 1805 und dann wieder von 1809 an in Berlin, } 1837). 
Hauptſuchlich angeregt durch die Romantiler wollte er doch nicht 
zu deren Schule gerechnet fein ). Fühlen wir uns auch nicht 
felten durch die ſelbſtgefällige Mebfeligkeit und das verichrobene 
Weſen Horn's zurüdgeftoßen, fo dürfen wir doch bie Verdienſte 
nicht verfennen, die er ſich durch Anregung des literaturgeſchicht⸗ 
lichen Jutereſſes und öfters auch durch treffende Beurtheilung lite⸗ 
rariſcher Erſcheinungen erworben Bat. So war er einer der erften, 
die Uhland's Bedeutung richtig gewürdigt Haben 2). Unter Horn’s 
Arbeiten heben wir hervor bie „Geſchichte und Kritik der beutfchen 
Poefie und Berebfamteit, Berlin 1805", die „Umriſſe zur Geſchichte 
und Kritik der ſchönen Literatur Deutſchlands während ber Jahre 
1790 bis 1818, Berlin 1819”, und „die Poefie und Beredſamkeit 
der Deutſchen, von Luther's Zeit bis zur Gegenwart“, vier Bände, 
Berlin 1822—29. — Nicht, wie Franz Horn, von ber patrioti- 
fen und veligiöfen, fondern von ber philojophifg-aefthetiichen Seite 
Im Friedrich Bouterwek (geb. zu Ocker bei Goslar 1766, 
1797 Prof. der Philoſophie in Göttingen, } 1828) zur Geſchichte 
ber deutſchen Literatur. Für die umfafjende „Geſchichte der Künfte 
und Wiſſenſchaften feit ber Wiederherſtellung berfelben bis an das 
Ende des arhtzehnten Jahrhunderts“, zu welcher Joh. Gottfried 
Eichhorn feine „Allgemeine Geſchichte der Cultur und Fitteratur . 
des neueren Europa” (1796) als Einleitung ſchrieb, übernahm 
Bouterwek die „Geſchichte der Poeſie und Beredſamkeit feit dem 
Ende des breizehnten Jahrhunderts.“ Nachdem er (480110) bie 
italieniſche, ſpauiſche, portugieſiſche, franzöſiſche und engliſche Litera⸗ 
tur in acht Bänden behandelt Hatte, ließ er (1812—19) in drei 
meiteren die deutſche folgen. Tiefe der Auffafjung darf man bei 





1) 5 Hom, Nachträge zu den Umriffen, Berlin 1821, ©. 332. — 

2) $. Horn, Umriffe, 1819, ©. 257 fg. Auch Heinrich von Kleif’s ſchöpfe⸗ 
riſche Begabung erfannte Horn riätig. (Ebend. S. 158 fg.). 
42* 


680 Biertes Bud. Sedfes Rapiid. 


Bouterwel nicht ſuchen. Aber ausgebreitete Beleſenheit, wie man 
fie nur an der Hand der Göttinger Bibliothek erwerben konnte, 
liegt feinem anſprechend umd fließend geſchriebenen Werk zu Grunde, 
freilich mehr noch bei den auswärtigen Literaturen, als bei der 
deutſchen. Einige fleißige Sammler find ar biefer Stelle nod zu 
erwähnen, nämlid Chriſtian Friedrich Raßmann (geb. zu Werni- 
gerode 1772, } 1831) und Karl Heinrich Jördens (geb..1757 zu 
Fienſtedt im Mannsfeldiſchen, 1796 Mector zu Lauban, + 1885). 
Unter den zahlreihen Schriften des Legteren nennen wir nur fein 
Hauptwert: „Lexilon deutſcher Dichter und Proſaiſten“, fehs 
Bände, 1806— 11. 

Mit der wachſenden Kenntniß ‚der deutſchen Literatur werden 
aud deren Darftellungen immer zahlreicher. Wir können hier un⸗ 
terſcheiden zwiſchen folden Schriften, bie dem ganzen Publicum 
eine anfprehende Schilderung ber deutſchen Literatur bieten wollen, 
und folden, bie bem eigentlichen Unterricht Beftimmt find. Natür- 
lich find die Gränzen zwiſchen biefen beiden Arten nicht immer 
ftreng gezogen. Bu ber erſten Art gehören bie „Vorlefungen über 
die Geſchichte der teutſchen Nationallitteratur” von Ludwig Wach⸗ 
ler (1818) 1). Geboren zu Gotha 1767, feit 1815 Profeffor der 
Geſchichte an der Univerfität Breslau 2), wirkte Wachler dort auf 
ein zahlreihes Auditorium in anregender und wohlmeinend patrio- 
tifcher Weile. In diefem Sinn hielt er auch feine eben genannten 
mehr rhetorifcen, als ftreng wiffenfhaftlihen Borlefungen über bie 

. beutfche Literatur, Dem Unterricht ber reiferen Jugend beftimmte 
Friedrich Auguft Piſchon (geb. zu Kottbus 1785, + als Con⸗ 
ſiſtorialrath zu Berlin 1857) feine verdienſtlichen literaturgeſchicht⸗ 
lien Scheiften, fein „Hanbbuch ber deutſchen Profa, in Beifpielen 
von der früheften bis zur jegigen Zeit“, (Exfter Theil 1818), feine 
Dentmäler der deutſchen Sprache (1838 fg.) umd feinen „Leitfaden 
zur Geſchichte der deutſchen Literatur" 1830 3). Ebendahin gehört 
das „Handbuch der deutſchen Sprache und Litteratur" von J. ©. 


1) Zweite Aufl. 1834. — 2) + 1838. — 8) Dreigefnie verm. 
Aufl., bearb. von 8. 3. H. Palm, 1868. 


Die Bearbeitung ber deutſchen Literaturgeſchichte. 661 


Kunifh (in Breslau), drei Theile 1822— 24, und die „Geſchichte 
ber deutſchen National» Literatur” von Karl Herzog (in Jena) 
1831. ud) find hieher zu reinen die Tabellen zur Geſchichte der 
deutj hen Sprade und National - Litteratur von Armin Guben, 
1831, und die fleißigen „Syndroniftifgen Tabellen zur verglei- 
enden Ueberſicht der Geſchichte der deutſchen National » Literatur” 
von Karl Eitner (in Breslau) 1842—56. 

In die Klaffe der Lehrbücher gehörte urfprüngli auch der 
„Grundriß zur Geſchichte der deutſchen National» Litteratır. Zum 
Gebrauch auf gelehrten Schulen entworfen von Auguft Koberftein, 
Leipzig 1827." Aber mit der Zeit erhob fid dies Buch weit über 
feine erfte Anlage. Auguft Koberftein, geb. 1797 zu Rügen⸗ 
walde in Pommern ftubierte Philologie auf der Univerfität Berlin 
und wurde dann 1820 Adjunkt und 1824 Profeſſor an der Lan⸗ 
desſchule zu Pforte. Saft fünfzig Jahre wirkte er an diefer An- 
ftalt als Lehrer der deutſchen Sprache und Literatur in ſegensrei⸗ 
Ger Weife, indem er namentlich aud die ältere deutſche Sprache 
und Literatur auf gründliche Art in den Bereich feines Unterrichts 
zog. Er ftarb am 8. März 1870 zu Köſen. Sein Hauptwerk, 
der eben genannte Grunbriß, hatte bei feinem erften Erſcheinen nur 
299 Seiten, in feiner vierten „durchgängig verbeflerten und zum 
größten Theil völlig umgearbeiteten Ausgabe” (1847—66) aber ift 
er zu brei ftattlihen Bänden von zufammen 3388 Seiten ange 
wachen. Bei weitem den meiften Raum nehmen die reiähaltigen 
Anmerkungen ein, bie in ihren trefflich gewählten Belegitellen ein 
wahres Schaghaus für die Geſchichte der deutſchen Literatur bilden. 
Aber au die Sprade und insbeſondre die Metrik zieht Koberftein 
in den Bereich feiner Darftellung. Koderftein war in jüngeren 
Jahren vorzüglich angeregt worden durch Ludwig Tieck's Schriften. 
Auch fpäterhin bewahrte er dem geiftvollen Dichter, deſſen feſſelnde 
Perfönlichkeit einen unauslöſchlichen Eindruck auf ihn gemadt 
hatte, ein liebevolles Andenken 1). Doch ließ er fi dadurch in der 


1) Bgl. Koberſtein's Brief an Tied vom 14. Nov. 1839 in: Briefe an 
Ludwig Tied, Her. von Holtei, Ob. II, Breslau 1864, ©. 181 fg. 


082 Viertes Bud. Sechſtes Kapitel. 


Folgezeit von einer ftrengen Beurtheilung ber romantiſchen Schule 
nicht abhalten, während er andrerfeits auch bie bebeutenben Geiten 
der Romantiker eingehend würdigte. 

Auf Roberftein’s Grundriß folgte, ber Zeit des Erſcheineus nad, 
ein Wert, das es nicht auf ein Lehrbuch, fondern auf eine Kumfl- 
gerechte Geſchichte ber deutſchen Dichung abgefehen hatte umb zu 
diefem Biele einen in dieſer Weife noch nicht verſuchten Weg ein- 
ſchlug: Die „Geſchichte der poetiſchen National-Literatur ber Deut- 
fen von ©. ©. Gervinus.“ Georg Gottfried Gervinus, 
ge. am 20. Mai 1805 zu Darmftadt, beſuchte das bortige Gym⸗ 
nafium, wurde dann zum Kaufmann beftimmt, verlieh jedoch dieſe 
Laufbahn und bezog 1824 die Univerfität zu Gießen, Oftern 1825 
die zu Heidelberg. Hier wurde er durch Friedr. Chriſtoph Schlofier 
für die hiſtoriſchen Studien gewonnen. 1880 habilitierte er ſich 
an ber Univerfität Heidelberg, 1836 folgte er einem Auf an bie 
Univerfität Göttingen als Ordentlicher Profeſſor der Geſchichte aud 
Literatur. Aber am 14. Dec. 1887 wurde er feiner Stelle entjegt 
und des Landes verwielen, weil er mit ſechs feiner Collegen fih 
muthig und offen gegen ben Verfaſſungsbruch des Königs Eraft 
Auguft von Hannover erflärt hatte. Er lebte ſeitdem wieder in 
Heidelberg, wo er 1844 zum Honorarprofeffor ernannt wurde. 
Nachdem er fih fon’ immer als Schriftfteller im liberalen und 
nationalen Sinn eifrig am ber deutſchen Politik betheiligt Hatte, 
rief ihm das Jahr 1848 nach Frankfurt erſt als Vertraueusmann 
ber Hanfeftäbte beim Bundestag, dann als Mitglied der National⸗ 
verfammlung. Aber ſchon im Auguft 1848 trat er aus dieſer aus, 
gieng im December besfelben Jahres nad Italien und lebie dann 
wieder feinen ſchriftſtelleriſchen Arbeiten in Heidelberg 1). 

Wir Haben es zwar Hier zunächft nur mit Gervinus umfaſſendem 
Wert über die poetiſche Nationalliteratur der Deutſchen zu thuu, deſſen 
fünf Bände in ben Jahren 1835 His 42 erſchienen, und dem er in 
ber „vierten gänzlich umgearbeiteten Ansgabe” 2) (1858) ben Titel 


1) Brochaus, Real-Encykl. (11) VI, 943 fg. — 2) Ich bemerk, ba 





Die Bearbeitung bes deutſchen Literalurgeſchichte. 868 


gab: „Geſchichte der deutſchen Dichtung.“ Aber um dies Wert 
richtig zu würdigen, müffen wir einen Blick werfen auf deſſen 
Stellung in Gervinus ganzer Thätigkeit. Das, was den Sinn 
dieſes bedeutenden Mannes vor allem anzieht, ift der Staat. Dem 
öffentlichen Leben, der politiſchen Entwidelung ber Völler ift fein 
Forſchen und fein Darftellen in erfter Linie gewidmet. Bon ber 
politiſchen Geſchichte Tommt er Her, und zu biefer Zehrt er nach 
Vollendung feiner großen literaturgeſchichtlichen Arbeiten auch wie⸗ 
der zurüd. Aber als ein hochgebildeter Mann und als ein Schü— 
ler und Verehrer Schloſſer's weiß er den Werth, den bie ſchöne 
Literatur ſowohl an fih, als im Leben der Völker hat, wohl zu 
würdigen. Sein hiftorifher Blick fagt ihm zugleih, daß die Ent- 
wieelung der deutſchen Dichtung mit dem Höhepunkt, den fie auf 
der Scheide des 18. und 19. Jahrhunderts in Goethe und Schiller 
erreicht, einen gewiffen Abſchluß gefunden Hat, und fo wählt ex ſich 
die Geſchichte diefer Dichtung als einen würdigen und in fi abge- 
ruudeten Gegenftand zu einer umfafienden und kunſtgerechten hifto- 
riſchen Darftellung. Die deutſche Dichtung ift ihm aber nichts 
Bereinzeltes, fondern fie ift nur ein Abſchnitt der großen Gefanmmt- 
entwidelung, welche das geiftige Leben der Menfchheit genommen 
hat. „Bei den Griechen allein, fagt er, war die Dichtung, wie alle 
Kunft, von Feiner Religion, von keinem Stande und keiner Wifjen- 
ſchaft eingeengt, nur da Tonnte fie ihre ebelften Kräfte im voliften 
Maße entwideln, nur da Sitten, Glauben und Wiffen geftalten 
und für alles echte Beſtreben in der Kunft fpäterer Zeiten und 
Völker gefeggebend werben. Diefer Höhepunkt war erreicht, als 
die homerifchen Gedichte ihre letzte Geftaltung erhalten hatten und 
die früheren Tragiter in Athen die Neinheit der alten Kunft noch 
bewahrten. Als die Pythia den Euripibes für weiſer als den So- 
pholles erfläcte, war bie griechiſche Dichtung anf ber gefährlichſten 
Spige; von ba an gewann ber Gebanle an ben Werken der Ein- 
bildungskraft einen ftets überwiegenberen Einfluß, den die Einwir⸗ 


es nur bei den drei erflen Bänden heißt: „gänzlid) umgearbeitete“, bei ben 
beiden lehten aber „verbefierte Ausgabe." 


664 Biertes Bud. Geiffieh Kapitel. 


fung ber philofophifgen Schulen und bie Berpflanzung ber ſchönen 
Literatur unter die praltiſchen und materiellen Römer nährte und 
fleigerte. Dies geſchah, als das Chriſtenthum geprebigt ward, 
das dem Menſchen eine neue innere Welt bes-Gemüthes erſchloß 
Das Mittelalter fiel dann in einen ſchneidenden Gegenfag gegen 
die Zeiten bes Wltertfums. Die reife und volle Bildung bes 
Geiftes gieng verloren; Gefühle, Einbilbungstraft, Berftand erhiel- 
ten eine getrennte, einfeitige Pflege; dies führte in allen Zweigen 
der geiftigen Thätigfeit, in Meligion, in Wiſſenſchaft und Staat zu 
den feltfamften Verirrungen; die Aufgabe ber neueren Zeit war 
dann, aus dieſen Verirrungen zu einer gefunden und harmoniſchen 
Thätigfeit des Gelftes und feiner einzelnen Kräfte zurüdzuführen“ 1)- 
— „Es ift ein einziger großer Gang zu der Quelle der wahrhaf- 
ten Dichtkunſt zurüd, auf dem alle Nationen von Europa die 
Deutſchen begleiten, oft überholen, am Ende aber eine nad, ber 
andern zurüdbleiben. Staliener, Spanier, Franzoſen und Englän- 
der blieben auf biefem Wege in verſchiedener Weife bei ber grie- 
chiſch⸗römiſchen oder bei der alerandrinifen Bildung haften; die 
Deutſchen allein fegten ben fteileren, aber belohnenderen Weg fort 
und gelangten zur ſchönſten Blütezeit griechiſcher Kunſt umd Weis- 
heit zurüd. Goethe und Schiller führten zu einem Kunſtideal 
zurüd, das feit den Griechen niemand mehr als geahnt Hatte. Se 
weiter fie barin gebiehen, deſto unverholener ward bei zwar ftei- 
gender Selbftänbigfeit ihre Berwunderung für bie alte Kunſt, bei 
fteigendem Selöftgefühl in ihrer Umgebung, ihre ehrfürctige Be 
fcheivenheit den Alten gegenüber. Sie leiteten mit Bewußtſein auf 
bie Vereinigung bes Reichthums ber Neueren an Gefühlen und 
Gedanken mit der Form der Alten, und dies eben war ber Punkt, 
nad) deſſen Erreichung bei den Griechen die Kunſt ausgeartet war"). 
Dies ift die eine Gedankenreihe, die wir nicht aus dem Auge ver ⸗ 
lieren dürfen, wenn wir die Entwidelungen und Urtheile in Ger⸗ 
vinus Gedichte der deutſchen Dichtung richtig verftehen wollen. 


1) Geroinus, Geſch. ber deutſchen Dichtung (4) I, 9 fg. — 2) Ehen. 
S. 10. 


Die Bearbeitung ber deuiſchen Literaturgefchichte. 665 


Dazu aber müffen wir noch eine andere fügen. Im Anſchluß an 
Ariftoteles findet Gervinus in der Dichtkunſt nur die Gattungen 
des Epos und des Dramas zu beachten. Die lyriſche Poeſie iſt 
wie die dibaktifche, nırm eine „Nebengattung.“ „In der Iyrifchen 
Boefte muß jeber, der die Geſchichte der Dichtung kennt, Rhapſodie 
und Romanze als die BHiftorifhen Anfänge und Wurzeln von 
Epos und Drama ausſcheiden. Dann bleibt nichts Weſentliches 
übrig als die muſilaliſche Lyrik, die in allen einfachen ungefünftel- 
ten Zeiten mehr der Muſik zugetheilt wird als der Poeſie, weil 
jene die Hauptſache darin ift“ '). In jenen beiden allein zu beach⸗ 
tenden Gattungen nun haben die Griechen im Epos, die Engländer 
im Drama das Höchſte erreicht. „Homer hat im Gebiete der 
Dichtung die Rolle des prophetiichen Offenbarers gefpielt, und mit 
entſchiednerer Wirkfamteit, als vielleicht ivgend ein anderer Prophet 
im Gebiete der Religion. Wenn man au feine Spuren aus 
Schwãche und Verkehrtheit vielfadh verließ, fo wagte man niemals 
fein geheiligtes Anfehn und die ewige Giltigfeit feiner Geſetze an⸗ 
zutaſten ober zu bezweifeln“ 2). Und Shafefpeare „fieht jeder, ber 
ihn für fi, und neben ihm die Geſchichte der Dichtung in ihrem 
ganzen Umfange kennt, im Mittelpunkte der neueren dramatiſchen 
Kiteratur auf der Stelle ftehen, die Homer in ber Geſchichte ber 
epiſchen Poefie einnimmt, als ben offenbarenden Genius der Gat- 
tung, deſſen Bahn und Weife nie ungeftraft verlaffen werben 
Kann“ ®). Shalefpeare's Verherrligung hat deshalb auch Gervinus 
(1849) fein zweites literaturgeſchichtliches Haupiwerk gewidmet. 
&o Bietet das Höchſte aller Zeiten, mas auf dem Gebiet ber 
Ditung geihaffen worden ift, Gervinus den Maßſtab zur Beur- 
theilung ber einheimiſchen Erzeugniffe. Vor allen find ihm die 
Griechen, wie uns ihr Verftändnis durch Winckelmann und Goethe, 
dich F. A. Wolf v. W. von Humboldt aufgefchloffen worden ift, 
der Kanon der Kunft und Dichtung. Auf diefer Grundlage fhil- 


1) Geroinus, Grundzüge der Hiſtorit, Leipg. 1887, ©. 56. — 2) Ger- 
vinus, Geſch. der deutſchen Dichtung (4) I, 350. — 3) Gervinus, Shafe: 
ſpeare (2) 1, ©. 8. 


2086 Biertes Bud. Sechſtes Kapitel. 


dert er uns mit ftaunenswerther Beleſenheit die Entwidelung der 
deutſchen Literatur von den älteften Zeiten bis in den Anfang un 
jeres Jahrhunderts. 

So fehr ſich übrigens Geroinus bejtrebt, allen Erſcheinungen 
hiſtoriſche Gerechtigkeit widerfahren zu Laffen, fo gelingen ihm doch 
natürlich die Bartieen am beften, die feine ganze Sympathie für fih 
haben. Ich erinnere beifpielöweife an ſo inanche meifterhafte Shil- . 
derung aus der Literatur bes achtzehnten Jahrhunderts. In mars 
Gen anderen Theilen, fo bei ber Literatur des 17. Jahrhunderts, 
weiß er aus einem weitfhichtigen und wüſten Material lehrreiche 
Blide in die Bildung bes Zeitalter zu gewinnen. Sehr eigen 
thümlich ift fein Verhältnis zu unfrer mittelalterlichen Dichtung 
Wir müffen uns hier vor allem erinnern, daß Gervinus (1835) 
einer ber erften war, bie eine wiſſenſchaftliche Darftellung unfrer 
alten Dichtung unternommen haben, und daß er an dieſe Darftel- 
lung nit von Seite germanijcher Sprachſtudien, fondern verfunten 
in Die Welt der alten Griechen herankam. Wir werden es bann 
höchſt anerkennenswerth finden, daß fein hiſtoriſcher Sinn fi den 
Dentnalen unfrer alten Literatur fo weit zu nähern gewußt hat, 
mie wir e8 in feinem Werke ſehen. Auch läßt ihn fein an ben 
Griechen gebildetes Urtheil das Bedeutende und Gefunde ſicher 
herausfinden, wie dies namentlid feine Hervorhebung Walther's 
and der Nibelungen zeigt. Undrerfeits aber gelingt es ihm nict, 
ſich in die Art und Weife unfrer deutſchen Dichtung völlig zu ver- 
fegen und fie von innen Heraus in ihrer eignen Kraft und Schön 
heit zu erfaſſen. Statt fie zu nehmen, wie fie ift, Läßt er fid) üher- 
all zu ſehr von bem Streben beherrſchen, nachzuweiſen, daß unfte 
alte Poefie do bei weitem mit zu der Vollendung gelangt it, 
wie bie ber Griechen. Daran zweifelt aber ohnehin Fein Dam 
von Einfiht; nur daß er das, was Gervinus bier unfrer alt 
deutſchen Poeſie gegenüber fo ſcharf betont, auf die Dichtung aller 
Völler und Zeiten anwenden wird. Denn wo findet ſich dem 
überhaupt eine Dichtung, die fi an innerer Harmonie und Boll: 
endung mit der griechiſchen meffen könnte? 

Auch bei feiner Geſchichte der deutſchen Dichtung ftand Gewi⸗ 


Die Bearbeitung ber deutſchen Literaturgeſchichte. ST 


nus ein politifches Ziel vor Augen. „Unfere Dichtung, fagt er, 
hat ihre Zeit gehabt; und wenn nicht das deutſche Leben ſtill 
ſtehen fol, fo müffen wir die Talente, die num kein Biel haben, 
anf die wirflide Welt und den Staat Ioden, wo in neue Materie 
neuer Geift zu gießen ift. Ich, fo viel an meinen Heinen Kräften 
gelegen ift, ich folge diefer Mahnung ber Zeit. Bon mir wird 
man es nad) diefem Werke glauben, daß Sinn und Siebe für Kumft 
und Dichtung mit meiner ganzen Eriftenz verwachſen tft, und ich 
werde e3 wohl, ohne der Proſa beſchuldigt zu werden, fagen dür⸗ 
fen, daß uns die inneren Nöthigungen unferer Buftände anrathen, 
uns fürderhin mit dem Genuffe unferer alten Poefien zu begnügen, 
die ermattete Probuftionsfraft auf einen anderen Boben zu ver- 
pflanzen, wo fie neue Nahrung findet, und wenn wir das Alt 
erworbene in ber Literatur nicht mit dem Renzuerwerbenden tm 
Staate zugleich verbinden können, lieber jenes aufzugeben, als die 
ſes“ 1). Ans diefen Worten der im Jahr 1840 geſchriebenen Wid⸗ 
mung an Dahlmann tritt ung der tüchtige Mann und der eifrige 
Bolititer entgegen. Zugleich aber zeigen fie uns bie ſchwächere 
Seite des ganzen Werts, das die Poefie viel zu fehr als eine An- 
gelegenheit des ftaatlichen Lebens und viel zu wenig als ein Ber 
dürfnis des inneren Menſchen behandelt. Hiemit aber fteht ein 
anderer Umſtand in naher Beziehung. Wir wollen es durchaus 
nicht tabeln, daß Gervinus bie Poefie, wie bie Muſik und alle 
Künfte anf die Wirkung hin prüft, die fie auf das Staatsleben 
Haben. Wir freuen uns vielmehr des männlichen Tons, in wel- 
dem ex dies in feinem Shalefpeare und in feiner Geſchichte der 
deutſchen Dichtung thut. Aber das Band, das den Staat mit ber 
Voeſie verknüpft, iſt die Volksthümlichleit, wie fie ſich in der ganr 
zen geiftigen Anlage des Volles und vor allem in feiner Sprache 
ausprägt. Diefer Angelpunkt der ganzen Frage tritt bei Gerviaus 
viel zu ſehr in den Hintergrund. — Ich bin bei dem Werk won 
Gervinus, feiner hervorragenden Bedeutung entſprechend, länger 


1) Geroiaus, Neuere Geſchichte ber poetiſchen National ⸗Zit. ber Deutſchen, 
I, Leipz. 1840, ©. VII. 


668 VBiertes Buch. Sechſtes Kapitel, 


verweilt. Eben biefer Bedeutung wegen habe ih nicht unterlafien, 
meine abweichende Ueberzeugung unumwunden auszufpreden. Aber 
ih bin weit entfernt, den hohen Werth dieſes in ſich gefchloffenen 
und nad) den verſchiedenſten Seiten hin fruchtbar anregenden Wer⸗ 
te3 zu verkennen. 

Man Tann fih kaum einen größeren Gegenſatz denen, als 
den zwiſchen Gervinus’ eben befprochenen Werk und Bilmar’s Ge 
ſchichte der deutſchen National - Literatur. Dort eine Strenge der 
Kritik, die und öfters verlegt; hier eine kindlich gläubige Aufnahme 
des dargebotenen Schönen, die uns Bin und wieber das richtige 
Maß der Beurtheilung vermiffen läßt. Auguft Friedrich Chri⸗ 
ftian Bilmar, geb. 1800 zu Solz in Kurheſſen, ftubierte Theo⸗ 
logie zu Marburg und wurde nah mannigfachen anderen Berwen- 
dungen 1888 Director des dortigen Gymnaflums. 1850 wurde er 
als Gonfiftorialrath nach Kaffel berufen, kehrte aber 1855 als or- 
bentliher Profeſſor der Theologie nah Marburg zuräd 1) und ſtarb 
daſelbſt im J. 1868. Mit Vilmar's politiien und kirchlichen Hin- 
deln Haben wir hier nichts zu thun. Wer fie kennt, der wird fih 
um fo mehr über ben umbefangenen und für alles Schöne em- 
pfänglien Sinn freuen, ber in Vilmar's Geſchichte ber deutſchen 
Nattonalliteratur herrſcht. Entſtanden aus Borlefungen, die ber 
Berfaffer im Winter 1843/44 vor einem größeren Kreife in Mar⸗ 
burg hielt, verbindet dies (1845 zuerſt erichienene) 2) Buch gründ- 
liche Sachkenntnis mit einer höchſt anmuthigen Darftellung und 
hat nicht wenig dazu beigetragen, bie Theilnahme an unſrer alten 
Dichtung zu verbreiten. 

In demſelben Jahrzehnd, wie Vilmar, begann (1848) W. 
Wadernagel feine gediegene Geſchichte der deutſchen Literatur, 
von der wir fon in einem früheren Abſchnitt geſprochen haben 
und von der wir bier nur hervorheben wollen, daß fie im meifter- 
Hafter Weife die fortlaufende Erzählung mit den Erforderniffen des 
Lehrbuchs zu vereinigen weiß und nicht bloß bie Poeſie, ſondern 


1) Brochaus, Real-Enchti. (11) XV, 182 fg. — 2) Zwölfte Buflage 
1868. 





Die Bearbeitung ber deuiſchen Literaturgefchichte. 689 


and die Proſa mit der grünbliäften Kenntnis ſowohl der Sprache, 
als der Literatur eingehend behandelt. — Das folgende Jahrzehnd 
brachte uns (1856 fg.) Karl Goebeles „Brumbriß der Geſchichte ber 
deutfen Dichtung aus den Quellen“. Karl Goedeke, geb. zu 
Celle 1814, ftudierte in Göttingen Philologie in jener Zeit, in wels 
der dort bie Brüber Grimm im Verein mit Benede, Otfeieb Mül- 
Ir, Ewald, Dahlmann und Gervims bie philologiſchen und Hifto- 
riſchen Stubien vertraten. Er Iehte dann in Gelle, Hannover und 
feit 1859 in Göttingen ). Nachdem er einzelne Theile der bent- 
fgen Literatur, — Deutſchlands Dieter von 1818 bis 1843 (1844), 
Elf Bücher deutſcher Dichtung von Sebaftian Brant bis auf bie 
Gegenwart (1849), deutſche Dichtung im Mittelalter (1854) —, 
bearbeitet hatte, ließ er (jeit 1856) feinen Grundriß folgen. Die 
Aufgabe, bie er ſich Hier ftelit, bezeichnet er als „weſentlich dieſelbe, 
die Koch 2) ſich geftelft und für feine Zeit in ausgezeichneter Weife 
gelöft Hatte“ >), und, fügen wir Hinzu, es ift Goedeke gelungen, 
dieſe Aufgabe in noch vorzüglicherer Weife für unſre Zeit zu löſen, 
als fie Koch für die feinige gelöft hatte. Die Anorbnung gewährt 
einen ſicheren Weberblid, die gedrungenen Paragraphen faſſen alles 
Hauptfächliche Har zufammen, und bie überaus reichhaltigen literari⸗ 
[gen Nachweiſungen machen das Buch jedem, ber fi mit dem 
Studium der deutſchen Literatur beihäftigt, geradezu unentbehrlich. 
In der Beurtheilung der einzelnen Literaturperioben geht der Ver⸗ 
faffer ſelbſtändig feinen eigenthümlichen Weg. Er ſieht die deutſche 
Literatur fortwährend von fremden Einflüffen irregeleitet. „Der 
Kampf mit diefen fremden Elementen madt das bewegende Leben 
in der Literatur ans.“ Nur einmal tft e8 gelungen, das frembe 
Element fi völlig anzueignen, im Zeitalter ber Reformation. 
„Auch die Meformationszeit ftand unter dem Ginfluffe fremder 
Bildung, aber fie wußte fi} derfelden wie ureigner zu bemädtigen. 
Sie gewährt durch die über das ganze Wolf verbreitete dichteriſche 
Thätigfeit, die durchgängig einen einheitlichen Charakter aufweiſt, 
zum erſten und legten Male das Bild einer vollsmäßigen Dice 

1) Brodgaus, Real-⸗Enchtl. (11). — 2) 1790-98. ©. 0. 6.288. — 
3) Goedeke, Grundrifz Vorw. 8. VII. 


70 Wiertes Buch Sechſtes Kapitel. 


tung, bie nur weil äufere geſchichtliche Hemmungen eintraten, fh 
nicht zur Vollendung durcharbeiten konnte.“ Die Geſchichte der 
lirchlichen Vollsdichtung“ „von der Reformation Bis zum breißige 
führigen Kriege“ bildet deshalb aud den reichhaltigften Abſchnitt 
bes ganzen Werks. Doch ift dem übrigen Theilen dieſelbe gavif 
fenhafte Sorgfalt zugewendet, und namentlich bietet die Darftellung 
Goethe's und Schiller's eine mufterhafte Verbindung literaturge ⸗ 
ſchichtlicher Schilderung und bibliographiſcher Sorgfalt. — 

Einen anderen Weg, als die Bisher Beſprochenen, ſchlug Hein- 
rich Kurz (geb. von deutſchen Eltern zu Paris 1805, feit 1889 
BProfeffor an der Kantonsſchule zu Aarau) 1) ein, um das „größere 
Publicum“ mit der Geſchichte ber deutſchen Literatur bekaunt zu 
machen. Er fügte nämlich in feine Darftellung umfangreiche Bro- 
ben ber gefilverten Schriftfteller ein, fo baf feine „Geſchichte der 
deutſchen Literatur“ (1851 fg.) 2) zugleich eine reichhaltige Auswahl 
aus den Erzeugniſſen der Literatur Bietet. Mit umfafjender Literar 
turkeuntnis verbindet Kurz geſundes Urtheil und eine anziehende 
und lebendige Darſtellung. Sein politiſcher Standpunkt ift ber 
deniolratifche. Unter ben übrigen Geſchichten ber deutſchen Literatur 
errähnen wis noch das Handbuch der deutſchen Literaturgeſchichte · 
von Ludwig Ettmüller (1847), das auch die angelſächſiſchen, alt⸗ 
ſtandinaviſchen und mittelnieberländtihen Schriftwerke umfaßt; die 
„Geſchichte der deutſchen Poefie nach ihren antilen Elementen“ von 
Karl Leo Cholevius, Oberlehrer am Kneiphöftſchen Stadtghunma⸗ 
fium in Königsberg (1854); und die Schriften von Joſeph von 
Eichendorff (1856) 3) und non Wilhelm Lindemann (1865) *), welche 
die Geſchichte der deutſchen Literatur aus dem Tatholifihen Gefihts- 
punkt barfteffenr 5). 

1) Brochaus, Real-Encgft. (11) IX, 187. — 2) Fünfte Aufl. 1869. — 
3) Zweite Aufl. 1861. — 4) Zweite Aufl. 1869. — 5) Es kann Sier nicht 
unfere Aufgabe fein, bie große Menge ber balb fürzeren, bald ausführlicheren 
Geſchichten ber deutſchen Literatur zu verzeichnen. Wir nennen mur mad die 
Säriften von I. W. Schäfer, K. F. Rinne, O. Roqnette, G. H. F. und derd 
Scholl, W. Buchner, W. Puh, Werner Hahn, O. Lange, K. ©. Helbig, Herd. 
Seinede, H. Kluge. 


Die Bearbeitung ber beutfchen Literaturgefhichte. 671 


Dürften wir auch ſolche Werke in unſeren Bereich ziehen, in 
denen die Geſchichte der deutſchen Literatur nur einen Theif eines 
größeren Ganzen bildet, jo müßten wir hier nod die Schriften von 
Nofenkranz, Gräffe, Johannes Schere und Anderen beſprechen. 
Aber wir dürften dann auch die Werke nicht ausſchließen, in denen 
die Darftellung der Literatur in die politiſche Geſchichte verflochten 
wird, wie in F. Chr. Schloſſer's epochemachenden Schriften, und 
ebenfo wenig bie, welche in ſyſtematiſcher Form das Wefen ver 
deutj hen Poefie zu ergründen fuchen, wie dies Solger, Hegel, 
Biſcher, Carriere und Andere in ihren Darftellungen der Aeſthetik 
thun, und bies würde uns weit über bie uns geftedten Gränzen 
hinausführen. 

Gehen wir nun über zu den Schriften, die fi mit einzelnen 
Theilen der deutſchen Literaturgeſchichte befaſſen. Es Tann da na- 
türlich nicht umfere Aufgabe fein, ein vollſtändiges Verzeichnis alf 
der zahliofen größeren und kleineren Arbeiten zu liefern, bie fih 
mit literaturgeſchichtlichen Fragen beihäftigen. Worauf es uns an⸗ 
tommt, wird vielmehr nur fein, einen Einbli in die umfaſſende 
und weitverzweigte Thätigfeit zu geben, die auf biefem Gebiete 
bereit. Beginnen wir mit den Arbeiten, bie ſich auf bie älteren 
Perioden unferer Literatur beziehen, fo haben wir vor allem auf 
das zurückzuverweiſen, was wir in frühern Abſchnitten bereits er⸗ 
wähnt haben. Ein großer Theil der Arbeiten der Brüder Grimm 
und ihrer Genofjen gehört ja ber Erforſchung unfrer alten Litera- 
tur an, und insbeſondere find hier noch einmal die Schriften. Lud⸗ 
wig Uhland's Hervorzuheben. Anderes wieder behalten wir dem 
folgenden Kapitel vor, worin wir einen Weberblic über die neuere 
Entwidelung der germaniſchen Philologie geben werben. Wir ber 
grügen uns deshalb, an diefer Stelle dem anderwärts Gefagten 
nur noch Folgendes hinzuzufügen. In die Alteften Zuftänbe unſe⸗ 
rer Poefie ſucht K. Müllenhoff in feiner Abhandlung de- antiquier 
sima Germanorum poesi chorica (1847) einzubringen. Ueber 
den Urfprung der deutſchen Literatur handelte (1864) W. Scheer: 
Derjelde gab einen gründlichen Beitrag zur Geſchichte der althodh 
deutſchen Literatur in: feinem „Leben Willirams“ (1866) Die 


672 Biertes Bud. Sechſies Kapitel, 


„Geſchichte der deutſchen Poefie im Mittelalter" Hatte fon 1830 
vom Standpunkt der Hegel'ſchen Philofophie K. Roſenkranz ger 
ſchrieben. 

Die Einzelforſchungen zur Geſchichte unſerer mittelalterlichen 
Poeſie lönnen wir eintheilen nach den Gebieten der Epil, der dyril 
und des Dramas. Die Erforſchung unſrer einheimiſchen Helden⸗ 
dichtung behalten wir dem nächſten Kapitel vor. Zur übrigen er⸗ 
zählenden Poeſie erwähnen wir A. 3. €. Vilmar’s Schrift über 
die Weltchronik des Nubolf von Ems (1839), Franz Bfeiffer's 
Nachweis über die romaniſche Duelle von Lamprecht's Alexander 
(1856) und Jul. Zacher's Unterfuhungen über die Aleranderfage 
(1859 fg.), dann K. Bartſch's Unterfuhungen über Karlmeinet 
(1861), Albrecht von Halberſtadt (1861) und Herzog Ernft (1869), 
endlich A. Schulz (San Marte's) mannigfahe Bemühungen um 
Wolfram von Eſchenbach (1836 fg.). — Für die Mrik ift hewor⸗ 
zuheben Ferdinand Wolf’s grünbliches Wert über die Laie, 
Sequenzen und Leiche (1841), dann Franz Pfeiffer’s eindrin- 
gende Unterfuhungen über Walther und Freidank (1855). Außer⸗ 
dem führen wir beifpielsweife noch an bie Arbeiten von Mar 
Rieger (1868), R. Menzel (1865) und K. Lucae (1867) über 
Walther von der Vogelweide, die von R. v. Liliencron über Neib- 
hart (1848), die von K. Meyer über Reinmar von Zweter (1866), 
und die von W. Scherer über Spervogel (1870). — Ueber das 
Drama des Mittelalters und das fi daran anſchließende Bolls- 
ſchauſpiel der neueren Zeit ſchrieben Guft. Freytag, Adolf Pigler, 
8. Hafe, Em. Weller, H. Holland, H. Neidt. — Wir haben mm 
noch einige Schriften anzufüßren, bie fi nicht mit beſtimmten 
Gattungen der Poeſie, fondern mit dem Antheil einzelner Lanbfeafr 
ten an ber altdeutſchen Poeſie beſchäftigen. So der Vortrag 8. 
Weinhold's über den Antheil Steiermarts an ber deutſchen Didt- 
kunſt des 13. Jahrhunderts (1860), die Arbeiten von Ignaz Bin 
gerle über Tirol, und die Geſchichte der altdeutſchen Dichtkunſt in 
Boyern von H. Holland (1862) 1). Schließlich nennen wir hier 


1) Dahin gehört auch das begonnene Werk von Sof. ©. Toecano del 


Die Bearbeitung ber deutſchen Literaturgefchichte. 673 


no ein Wert, das ohne die Poefie zum Gegenftand zu haben, 
doch tiefe Blide in das Wefen und die Entwidelung der altdeut- 
fen Dichtung thun läßt, nämlih K. Weinhold’s ſchönes Buch 
über die deutſchen Frauen im Mittelalter (1851). 

Die Geſchichte der ganzen neuhochdeutſchen Literatur, vom Ausr 
gang des 15. ober vom Beginn bes 16. Jahrhunderts bis zur 
Gegenwart, ift faft nur im der Geſchichte der gefammten deutſchen 
Literatur behandelt worden. Einen gründlichen Anfang zu einer 
ſolchen Arbeit bilden die allgemeinen Einleitungen und die biogra- 
phiſchen Mittgeilungen in K. Goedeke's ſchon erwähnten „EI 
Büchern beutfher Dichtung“ (1849) ). Bon Martin Opig an 
ftelt ©. F. Gruppe (geb. zu Danzig 1804, feit 1825 in Berlin) 
die Geſchichte der beutjchen Poefie in „Leben und Werke deutſcher 
Dichter“ 2) (1864 fg.) mit vielfeitig gebilbetem Geſchmack dar. Ins⸗ 
befondere richtet er fein Augenmerk auf die durch Opig neu ber 
gründete Form der deutſchen Poeſie und die fpätere Erfüllung die⸗ 
fer Form mit einem echt poetifchen Inhalt. 

So Wenige bis jetzt die Geſchichte der ganzen neuhochdeutſchen 
Kiteratur ober auch nur bie ber Poeſie der letzten drei Jahrhun⸗ 
derte zum Gegenftand befonderer Werke gemacht haben, fo zahlreich 
find die Darftelfungen ber deutſchen Literatur des 18. u. 19. Jahr⸗ 
hunderts. Diefe allerdings fehr Iodende Periode unferer Literatur- 
geſchichte ift in den mannigfaltigften Beziehungen und von den ver- 
ſchiedenſten Stanbpuntten aus bearbeitet worben. Aber eben weil 
fih Hier Gegenftand und Verfaffer fo nahe berühren, daß ſich's oft 
weniger um Forfhung, als um Anfihten und Standpunkte han- 
beit, gehören dieſe Arbeiten Häufig mehr der Geſchichte der Litera- 
tur und unferer politifhen Entwidelung, als der Geſchichte der 
wiſſenſchaftlichen Forſchung an. Jedenfalls laſſen fi die Schriften 


Banner über Deftreih (1849) und ber Anfang von A. Kahlert’s Schrift über 
Schleſien's Antheil an ber deutſchen Poeſie (1835). — 1) Einzelne Gat- 
tungen Hat in einer Auswahl mit biographiſch- literariſchen Notizen Bearbeitet 
Janaz Hub. So „bie deutſche komiſche und humoriſtiſche Dichtung feit Ber 
ginn des XVI. 356.“ (1855) u. 9. — 2) &b. I—IV, Münden 1864 — 
1868. 

Raumer, Bei. der nerm. Phlclogie 43 


614 Biertes Bud. Sechſtes Kapitel. 


biefer Art nur dann richtig würdigen, wenn man zugleich die Wand ⸗ 
lungen unter politifgen Verhältniffe eingehend ſchildern lann. So 
Iodend num eine ſolche Aufgabe fein würde, jo müflen wir ihr doch 
an dieſer Stelle entjagen und uns begnügen, bie wichtigften hieher 
gehörigen Erſcheinungen mit wenigen Worten vorzuführen. Gleich 
am Eingang fieht Wolfgang Menzel's (geb. 1798 zu Walde 
burg in Schleſien, feit 1825 als Schriftfteller in Stuttgart lebend) 
viel beſprochene „Deutfhe Literatur“ (1827, gweite vermehrte Auf ⸗ 
lage 1836), die man ebenfo, wie jeine fpäter (1858—59) erſchie⸗ 
nene „Deutſche Dichtung von ber älteften bis auf die neueſte Zeit‘, 
und alle Schriften Menzel's nicht als wiſſenſchaftliche Leiftungen, 
fonbern als Ergüffe einer raſtloſen politiſch⸗ patriotiſchen Agitatlon 
betrachten muß. — Wir überlafen auch bie literaturgeſchichtlichen 
Beftrebungen Heine’, Laube's, Gutzlow's, Theod. Mundt's, Herm. 
Marggraff's u. ſ. w. und ebenſo die Ruge's und Echtermeyer's der 
politiſchen und literariſchen Geſchichte jener Tage und wenden uns 
ſogleich zu einem Werte, das bie Geſchichte ber neueren deutſchen 
Literatur in wiſſenſchaftlichem Zuſammenhang darftellt: Julian 
Schmidt's Geſchichte der deutſchen Literatur ſeit Lefſing's Zob. 
Julian Schmidt, geb. 1818 zu Marienwerder, ſtudierte 
1836—40 auf der Univerſitat Königsberg Philologie und Ge 
ſchichte· Nachdem er ſeit 1842 als Lehrer an ber Lutſenſtädtiſchen 
Realſchule in Berlin gewirkt Hatte, überfiebelte er 1847 nach Leipzig 
als Mitherausgeber der „Grenzboten“, deren Eigenthum ex 1848 
gemeinfam mit feinem Freund Guftan Freytag erwarb. 1861 kehrte 
er wieber nad Berlin zurück 1), — Will man die Leiftungen Julian 
Schmidt's richtig beurtheilen, fo muß man vor allem bie verihie 
denen Zeiten dieſes redlich fortarbeitenden Schriftitellers gehürig 
unterſcheiden. So Bat er fein erſtes größeres Wert: Geſchihte 
ber Romantik im Zeitalter der Meformation und Revolution (1850), 
ſpater ſelbſt preisgegeben 2). Aber auch fein Hauptwerk ift et 


1) Brochaus, Real⸗Encykl. (11) XIII, 298 jg. — 2) ©. ben Brief 
an Freytag vom 31. Dct. 1855 in der Vorr. zum 3. Bb. der Geſchichte ber 
deutſchen Lit. im neungehuten Jahrh. (1855) ©. XI. 





Die Bearbeitung der deutſchen Literaturgefdhichte. 675 


allmählich das geworben, als was es ung jetzt vorliegt. Aus einer 
Neihe kritiſcher Artikel, die er in den Grenzboten veröffentlicht Hatte, 
bildete der Verfaſſer feine „Geſchichte der deutſchen Literatur im 
neunzehnten Jahrhundert” (2 Bände 1853). Schon die zweite 
Auflage (3 Bände 1855) durfte ſich eine „durchaus umgearbeitete" 
nennen. Später griff dann der Verfaſſer bis auf das Jahr 1781 
zurüd und gab der vierten Auflage ben Titel: Geſchichte der deut- 
fen Literatur feit Leſſing's Tod. Auch die fünfte Auflage (1866. 
67) war wieder eine „durchweg umgearbeitete.” So hatte fih das 
Bud) immer weiter von feinem journaliftiihen Urſprung entfernt 
und zu einem hiſtoriſchen Werk umgeftaltet 1). Der Verfafier be- 
folgt hier die ftreng dronologifhe Methode, und wenn aud die 
mehr gruppierende, wie wir fie in ben meiften Geſchichten der Lite- 
ratur finden, ohne Zweifel ihr gutes Recht hat, fo wird man doch 
dem Verfaſſer zugeftehn, daß es ihm gelungen ift, durch bündige 
Schilderung ber gleichzeitig auftretenden Erſcheinungen und geſchickte 
Benutzung der zahlreichen Briefwechſel und biographiſchen Mittheil⸗ 
ungen eine anſchauliche Darſtellung der leiſe fortrückenden geiſtigen 
Zuftände zu geben. Jahresring um Jahresring ſehen wir den 
Baum der deutſchen Literatur vor unferen Augen wachen. Die 
wefentlichite Anregung hat Julian Schmidt von Gervinus erhalten. 
Aber bei aller Verwandtſchaft der Anfichten geht er doch feinen 
felöftändig eigenthümlichen Weg. Er beſchränkt fih nit auf die 
Dichtung, fondern er zieht auch die Geſchichte der Speculation und 
der gefammten Wiſſenſchaft, infofern fie in das Leben der Nation 
eingreift, in feinen Bereih. An dem Gang der Literatur zeigt er, 
wie die Dichtung in Goethes und Schillers Blütezeit an der 
Spike des deutſchen Lebens ftand, wie fie aber ſeitdem anderen 
Beftrebungen, vor allem den politiſchen ben erften Platz hat räu- 
men müffen, fo daß fie jegt micht mehr im Vordergrund unjrer 


1) 3% brauche wohl nicht erft zu bemerfen, daß in bem Journaliſtiſchen 
des Journaliſten an ſich fein Tadel liegt, fo wenig als in dem Redneriſchen 
bes Redners. Uber ein Hiftorifches Werk Hat fi von Beidem zu unter: 


fgeiben. 
—. 
ass —* 
Tavı EN 
© won) 


* 
OXFORD 







43° 





676 Biertes Bud. Sechſtes Kapitel. 


Intereſſen feht. Als politiſches Ziel erſcheint ihm die Einigung 
Deutſchlands durch Preußen. Wäre hier der Ort, fo würden wir 
allerdings gegen mande Seiten des geiftvollen Werts. unfre Ein- 
wendungen machen. Aber dies follte uns nicht Kindern, ung der 
ſittlichen Tüctigfeit zu freuen, die das ganze Werk durchdringt. 
In einer fpäteren Arbeit (1860 — 64) Hat dann Schmidt auch bie 
Geſchichte des geiftigen Lebens in Deutſchland von Leibniz bis auf 
Leſſing's Tod dargeftellt, und in feinen „Bildern aus dem geiftigen 
Leben unferer Zeit“ (1870) gibt er in einzelnen Bügen fortfegende 
Erzänzungen zu feinem Hauptwerk. 

Unter den übrigen Bearbeitungen ber neueren deutſchen Liter 
raturgeſchichte führen wir an das Werk von Joſeph Hille 
brand: „Die beutfhe Nationalliteratur feit dem Anfange des 
achtzehnten Jahrhunderts, beſonders feit Leſſing, Bis anf die Ge 
genwart, hiſtoriſch und äſthetiſch-kritiſch dargeftellt“ (8 Bde, 1850 
51) 1). Dann bie fehr forgfältige „Entwidelung der deutſchen 
Poeſie von Klopftod’s erftem Auftreten ‚His zu Goethe's Tode“ 
(1856 fg.) von Joh. Wilhelm Loebell, vor deren Vollendung 
der Verfaſſer leider (1863) durch den Tod abgerufen wurde ?). 
Im Anſchluß an die englifge und franzöfiſche Literatur behandelt 
Hermann Hettner die „Geſchichte der deutſchen Literatur im 
achtzehnten Jahrhundert“ (1862 fg.) auf der Grundlage umfaflen- 
der Studien und mit fein gebilbetem Urtheil als Ausbrud des fih 
frei machenden @eiftes. Das „goldne Alter der deutſchen Boefie“ 
ſchildert (1861) in einem originellen Buh Mori; Rapp. — 
„Im volltommenften Widerſpruch“ gegen die Anſicht von Geri- 
nus, „unfere deutſche Nationalliteratur jei im Verfall begriffen 
ober habe mit Schiller, Goethe und den Klaffitern den geiftigen 
Boden fo erſchöpft, daß er, um fich zu erholen, einige Zeit brach 
liegen müfje“, fuht Rudolf Gottſchall's Bud: „Die beutige 
Nationalliteratur in der erften Hälfte des neunzehnten Jahrhun⸗ 


1) Zweite verb. und mehrfach umgearb. Ausg. 1850. 51. — 2) Der 
dritte (leßte) Band, nad Löbell's Tob durch A. Koberftein herausgegeben, 
umfaßt Leffing. 


Die Bearbeitung der deutſchen Kiteraturgefchichte. 677 


derts“ (1855) 1), den Wert und die Wichtigleit der „Modernen“ 
(feit 1830) darzuthun. Die deutſche Literatur der Gegenwart bes 
gleitet Rob. Prutz mit orientierenden geſchichtlichen Darftellungen. 
(1847. 1859). — Bom religiös + ethiſchen Geſichtspunkt behandelt 
Heinrih Gelzer die deutſche poetiſche Literatur. feit Klopftod 
und Leffing (1841) 2), und K. Barthel (1850) „die deutſche Na- 
tionalfiteratur ber Neuzeit”, b. h. feit 1813 9). 

Die Schriften über einzelne Theile der neuhochdeutſchen Litera⸗ 
tur bilden bereits eine ſtattliche Bibliothek. Es Tann natürlich hier 
nicht unfre Aufgabe fein, die Taufende von größeren und Mleineren 
dahin gehörenden Schriften zu regiſtrieren. Wir müffen vielmehr 
deren Verzeichnung den bibliographifchen Werken über die Geſchichte 
ber deutſchen Literatur überlaſſen). Uns Tiegt nur ob, einen 
Ueberblit über diefe ganze jo umfangreiche und fo bedeutende Thä- 
tigfeit zu geben. Obwohl natürlich hier, wie überall, auch Spreu 
unter den Waizen gemiſcht ift, fo fanın man doch auch auf biefem 
Gebiet mit Genugthuung wahrnehmen, welche Früchte für die 
gründliche Erkenntniß eine vernünftige Theilung der Arbeit trägt. 
Die einzelnen Forſcher Haben ſich ihr Arbeitsfeld auf die verſchie⸗ 
benfte Weile abgegränzt. Bald find es gewiſſe Seiten der Litera- 
tur, die eine gefonberte Behandlung erfahren; bald beſchränkt ſich 
die Unterfuhung auf eine beftimmte Landſchaft; am häufigſten aber 
find e8 einzelne hervorragende Geftalten der Literatur, denen ſich 
bie Forſchung und Darftellung zuwendet. In der erften Beziehung 
erinnern wir an bie ſchon beſprochenen ausgezeichneten Arbeiten 
Uhland's über das Vollslied. Für das deutſche Kirchenlied des 
16. Jahrhunderts Vieferte Philipp Wadernagel (1855) eine 
mufterhafte Bibliographie 9), und Eduard Emil Koch verfaßte 
(1847) eine in ihren verichiebenen Auflagen fi fortſchreitend er⸗ 
weiternde und verbeffernde Geſchichte des Kirchenlieds und Kirchenge⸗ 


1) Zweite Aufl. 1861. — 2) Zweite umgearb. Aufl. 1847 fg. — 
3) Achte Aufl. 1870. — 4) Insbejondere ift Hier auf die bibliographiſchen 
Abſchnitte in Goedele's Grundriß zu verweilen. — 5) Die Herausgabe 
neuhochdeutſcher Texte beſprechen wir in einem fpäteren Abſchnitt. 


678 Viertes Bud. Sechſtes Kapitel. 


ſangs '). Obwohl verzugäweife auf bie Muſik gerichtet, müſſen 
bier auch die grundlegenden Arbeiten Karl von Winterfelb’s 
(1843 fg.) erwähnt werben 2), Um die Bibliographie der älteren 
neuhochdeutſchen Literatur machte fih Emil Weller verbient. 

Die dramatiſche Poeſie gehört vorzugsweiſe der neuhochdeut⸗ 
ſchen Zeit an, obwohl ſie mit ihren Anfängen in das Mittelalter 
zurückreicht. Das wichtigſte für dieſen Zweig der Literatur hat 
man in den Werken über die Geſchichte unſrer geſammten Dichtung 
zu ſuchen. So namentlich bei Gervinus und Goedeke. Bon Ein⸗ 
zelnſchriften nenne ich noch die Vorleſungen über die Geſchichte des 
deutſchen Theaters von Rob. Prutz (1847), die Geſchichte der deut 
ſchen Schauſpielkunſt von Ed. Devrient (1848 fg.), und die Schrif⸗ 
ten von Joſ. von Eichendorff, Joſ. Bayer u. A. über die Ger 
ſchichte des deuten Dramas 3). 

Einen ſehr einflußreihen Zweig der neuhochdeutſchen Literatur 
bilden die Zeitſchriften. Eine leider nit zu Ende geführte Ge- 
ſchichte des deutſchen Journalismus begann (1845) Mob. Prutz 
Ueber die Göttinger gelehrten Anzeigen während einer hundertjäh- 
rigen Wirffamteit ſchrieb (1844) Alb. Oppermann; über Nicolas 
Allgemeine deutſche Bibliothel gab Guſtav Parthey (1842) wichtige 
Aufſchlüſſe. 

Aus dem 17. Jahrhundert wählte ſich O. Schulz die Sprad- 
geſellſchaften (1824), F. W. Barthold (1848) und &. Kraufe 
(1855) die fruchtbringende Geſellſchaft, Julius Tittmann die Rürm- 
berger Dichterſchule (1847), L. Cholevius „bie bebeutendften bent 
ſchen Romane des fiebzehnten Jahrhunderts” zum Gegenftand einer 
beſondern Darſtellung. — Für das 18. Jahrhundert heben wir 
hervor die Geſchichte des Göttinger Dichterbunds von Rob. Prut 


1) Dritte Aufl. 1866 fg. — 2) Ohne uns tiefer auf bie Geſchichte 
der Muſik einzulaffen, erwähnen wir hier nur noch bie Arbeiten Gottl. von 
Tucher's über den kirchlichen Geſang. — 3) Die Gedichte ber eingeluen 
Theater müfjen wir Hier übergehen und führen nur beifpielaweife an die 
Säriften von I. Val. Teihmann Über das Theatet in Berlin (1863), von 
K. Dunder über Iffland (1859), H. Lanbe über das Burgtheater in Wien 
(1868), und von €, Pasqus Aber Goethe's Theaterleitung im Weimar (1869). 


Die Bearbeitung ber beutjchen Literaturgeſchichte. 679 


(1841), J. C. Mörikofer’s Schweizeriſche Literatur bes achtzehnten 
Jahrhunderts (1861), Braunſchweigs ſchöne Literatur in den J. 
1745—1800 von 8 &. W. Schiller (1845), „Weimars Mufen- 
hof in ben J. 1772 His 1807“ von W. Wacsmuth (1844), und 
Herm. Hettner, die romantiſche Schule in ihrem inneren Zufam- 
menhange mit Goethe und Schiller (1860). 

Wenn wir die Schriften, bie fih die Darftellung einzelner be- 
beutender Dichter oder Profailer zur Aufgabe maden, mit dem 
Reformationszeitalter beginnen, fo müſſen wir zunörberft vom ben 
Lebensbeſchreibern Luther's abfehen, da dieſe weniger der Literatur 
geſchichte, als der Geſchichte der Kirche und des Staats angehören 
und ähnlich verhält es fi mit den Biographen Hutten's. Hans 
Sachs hat bis jet noch feine ausführlie und umfafiende Dar- 
ftellung gefunden *). Ueber Fiſchart fügen wir bem ſchon ermähn- 
ten Buch W. Wackernagel's (1870) Hinzu A. F. © Bilmar’s 
Artitel ,Fiſchart· in Erſch's und Gruber's Eucyllopädie?) (1860). 
Auch von den übrigen deutſchen Schriftitellern des 16. und begin- 
nenden 17. Syahrhunderts fanden bereits nicht wenige ihre beſon⸗ 
dere Darftellung. So ſchrieb K. Goebele über Burkhard Walbis 
(1852), 8. Grüneifen über NiN, Manuel (1837), Dav. F. Strauß 
über Nitod. Friſchlin (1856) 9. — Noch zahlreicher find die Bio- 
graphieen deutſcher Schriftfteller aus dem 17. und beginnenden 
18. Jahrhundert. Wir führen beiſpielsweiſe die Arbeiten über 
Opitz von Hoffmann von Fallersleben, von Fr. Strehlle (1856), 
8. Weinhold (1862) und Herm. Palm (1862), die über Fleming 


1) Die für ihre Zeit verdienſtliche „Lebensbejhreibung Hans Saqhſens“ 
(1765) von Salomon Raniſch genügt natürtich ben jebigen Anforderungen 
nicht mehr. Unter ben neueren Arbeiten über Hans Sachs erwähnen wir bie 
Särift von J. 2. Hoffmann (Nürnberg 1847), bie Bibliographie von Emil 
Weller (1868) und 3. ©. W. Hertel’ Mittheilung über die in Zwidau aufs 
gefundenen Handſchriften bes Hans Sachs (1854). — 2) 1,51, ©. 169191. 
— 3) Wir fügen noch Hinzu bie Arbeiten von K. G. Helbig (1847 fg.) und 
von R. Paſſow (1852) über Ayrer, von O. Zaubert über Paul Schede 
1859. 1864), von W. Thilo Über 2. Helmbold (1851). 


680 Biertes Bud. Sechſtes Kapitel. 


von Guft. Schwab (1820), Barnhagen (1826) und J. M. Lappen- 
berg (1853. 1865), über Paul Gerhardt von E. C. ©. Langbeifer 
(1841), über Leibniz von G. E. Guhrauer (1846) und über 
Abraham a Sancta Clara von Th. von Karajan (1867) an N). 
Die weit überwiegende Thätigfeit aber wandte fih ber großen 
Zeit unfrer neueren Siteratur feit der Mitte des 18. Jahrhunderts 
zu. Schon die ſchwächeren Vorboten berjelben fanden eine ein- 
gehende Bearbeitung. So insbeſondere Gottſched durch TH. W. 
Danzel (1848) 2). Das Hauptjählicfte Intereſſe aber vereinigte 
fi, wie Billig, auf unfre drei größten Klaſſiker: Leffing, Goethe 
und Schiller. Weber Lejling’s Leben und Werte begann (1850) 
Theodor Wild. Danzel (geb. 1818 zu Hamburg, 1845 Pri- 
vatdocent an ber Univerfität Leipzig, geft. daſelbſt 1850) 3) ein 
grünbliches Wert, das nad) feinem frühgeitigen Tode Gottſchalk 
Eduard Guhrauer (geb. 1809 zu Bojanowo im Poſenſchen, 
1843 Prof. an der Univerfität Breslau, geft. daſelbſt 1854)°) mit 
ähnlicher Sorgfalt vollendete (1853. 54). Zu einer geſchicten Ten- 
denzſchrift verarbeitete (1859) Adolf Stahr Leffing’s Leben. Eine 
befondere Meine, zum Theil fehr werthvolle Literatur, wie wir hier 
nur andeuten bürfen, fammelte fi um Leffing’s Nathan und um 
feine philoſophiſchen und theologiſchen Schriften. Wir nennen un 
ter den Schriften über den Nathan nur die von W. Wadernagel 


1) Um einen Begriff zu geben von bem Reichthum biefer Literatur, 
wollen wir in ber Anmerkung noch einiges Weitere zufammenftellen. Ueber 
Joh. Scheffler ſchrieben A. Kahlert (1858) und Franz Kern (1866), über 
Wecherlin €. Höpfner (1865). Balthaſar Schuppius fand feine Lebeneber 
ſchreibet in Alex. Bial (1857) und €. W. Grebe (1860). Weber Andr. 
Gryphius Handelten Zul. Herrmann (1851) und Onno Klopp (1852); über 
Lohenſtein W. Paſſow (1852); über Chriſtian Weiſe Herm. Palm (1854) 
und E. W. Hormemann (1853); über Günther Hoffmann von Fallereleben 
(1832) und O. Roquette (1860); über Liscom Schmidt von Lübel (1827), 
8. Guſt. Helbig (1844), ©. C. 3. Liſch (1845) und J. Claſſen (1846). — 
2) Früher fon (1833) Gellert durch H. Döring, ber außerdem eine große 
Menge von Biographien unfrer Klaſſiler verfahte. — 3) ©. bie beireffen- 
ben Artikel in Brodhaus Meal-Encpfl. (11). 


Die Bearbeitung der deutſchen Literaturgeſchichte. 681 


(1855), David Strauß (1864) und Kuno Fiſcher (1864), über Leſ⸗ 
ſing's philoſophiſche Anfihten die von Heinr. Nitter (1847) und 
Robert Zimmermann (1855), über Leſſing's theologiſche Beſtrebun⸗ 
gen die von 8. Schwarz (1854), ©. N. Röpe (1860) und Aug. 
Boden (1862), endlich über Lefjing in alle den angegebenen Ber 
siehungen die von C. Hebler (1862). — Durch das Meijterwert 
feiner Selbſtbiographie (1811 fg.) Hatte Goethe feinen Lebenshe- 
ſchreibern die Arbeit ebenfo ſehr erſchwert, als erleichtert. An eine 
volfftändige Biographie des großen Dichters und Forſchers haben 
ſich gewagt H. Döring (1838. 1840-41) J. W. Schäfer (1851), 
H. Biehoff (1847-53) !) und Ernſt Julius Saupe, ber (1854) 
Goethe's Leben und Werte in chronologiſchen Tafeln“ darſtellte 2). 
Weit größer aber ift die Zahl derer, bie einzelne Seiten von 
Goethe's Leben und Thätigfeit gefhilbert Haben. Die vollſtändige 
Aufzählung diefer Schriften, wie auch die der vielen über einzelne 
Goetheſche Dichtungen, namentlih über den Fauſt erſchienenen, 
müffen wir ber deutſchen Literaturgeſchichte überlafien ). Wir 
möüffen dies um fo mehr, als treffliche Beiträge zum Verſtändniß 
Goethe's nicht Bloß in den Schriften zu ſuchen find, bie ſich aus- 
ſchließlich mit ihm beſchäftigen, fondern in einem großen Theil der 
ganzen gleichzeitigen und nachfolgenden Literatur. — Wie um 
Goethe, fo ſammelt fi um Schiller eine große und vielfach ver- 
diente Schaar von Biograpfen und Erfärern. Aus eigener un 


1) Dritte verb. Aufl. 1858. — 2) Das Werk des Englänbere Lewes 
gehört natürlich nicht in eine Darftellung befien, was bie Deutfhen auf 
dem Gebiet ber Literaturgeſchichte geleiftet Haben. — 3) Nur um einen 
Begriff von dem Reichthum biefer Literatur zu geben, wollen wir einige ber 
hiehergehörigen Namen verzeichnen. Theils durch Mittheilung biographiſchen 
und literariſchen Materials, theils durch erläuternbe Darfiellungen machten 
fich um das Verflänbniß Goethe's verdient: F. W. Riemer, J. P. Edermann, 
F. v. Müller, C. Vogel, Adf. Schöll, O. Jahn, H. Dünper, Chr. Schuchardt, 
H- Beilsmann, 8. Zügel, €. G. Carus, A. Nicolovius, B. R. Abelen, ©. 
©. Gervinus, €. F. Göſchel, K. Rofenkranz, W. Danzel, R. Virchow, ©. 
Hirzel, K. E. Schubarth, I. 9. D. Lehmann, Berth. Auerbach, K. Gutlow, 
Adf. Stahr, R. Springer, O. Vilmar, J. W. Appell u. A. 


682 Biertes Bud. Sechfes Kapitel. 


mittelbarer Erinnerung ſchrieben Schillers naher Freund Gottfried 
Körner (1812) und feine Schwägerin Karoline von Wolzogen 
(1880) Schillers Leben. E. Hoffmeifter ftellte (183842) „Sail 
ler's Leben, Geiftesentwiklung und Werke im Zufanmenhang“ dat, 
ein Bud, das dann fpäter (1846) von H. Biehoff mit Ergänun 
gen herausgegeben wurde. Guſtav Schwab erzählte (1840) Schi 
Vers eben mit feinem Verftänbnig. Mit Bergung bes inzwiſchen 
veröffentlichen werthvollen Materials verfaßte ba Emil Pallesle 
(1858 fg.) eine ausführliche Biographie des Dichters. Die Ber 
zeichnung der überaus zahlveichen und zum Theil ſehr verbienft 
lichen Schriften, die fi mit einzelnen Seiten von Schiller's Leben 
ober Werten beicäftigen, müffen wir der Literaturgeſchichte über 
laſſen '). 

Faſſen wir die übrigen Vertreter der deutſchen Literatur bes 
18. und 19. Jahrhunderts in's Auge, jo finden wir zwar einet- 
feits, daß die heroorragendften unter ihnen am häufigften und zum 
Theil auch vortrefflich beſprochen werben, aber andrerſeits, daß der 
Werth der biographiſchen Leiſtung nicht immer mit ihrem Gegen⸗ 
ſtand in geradem Verhältniß ſieht. Ginen vorzüglichen Biogra-⸗ 
phen hat Windelmann (1866) an Karl Juſti gefunden. Das 
Leben Wieland's wurde von J. G. Gruber (1827—28), das Her 


1) Wir heben nur beifpiefeweife hervor: Schiller's Flucht von Stun 
gart von Andr. Streicher (1836), Schiller's Jugendjahre von E. Bons (1856), 
beffelben Verſaſſers Bud über den Zenienfampf (1851), KR. Tomafhel 
(1862) und €. Tweſten (1863) über Schillers Verpältnig zur Wiffenfhaft 
und 3 Zanffen über Schiller ale Hiſtorilet (1863), Wurzbad’s Sqhilerbuch 
(1859) und Paul Trömel’s Schillerbibliothek (1865), Adelb. von Kellere 
Beiträge (1859) und Nachleſe (1860) zur Schillerliteratur. Wir Annen pier 
um fo weniger an eine eigentliche Darſtellung ber Schillerluetatur benien, 
als wir bei Schiller, wie bei Goethe, neben den vielen Schriften über Silke 
auch bie höchſt verbienfllichen Bemühungen um bie Herausgabe Schilierſcher 
oder mit Schiller in Beziehung flehender Briefe anführen müßten. Damit 
aber würden wir aus ber Geſchichte ber Wiſſenſchaft in bie Geſchichte der 
Literatur ſelbſt geraihen, was uns weber unfte Aufgabe, noch ber uns zu 
Gebote ſtehende Raum geflatiet. 


Die Bearbeitung der deutſchen Literaturgeſchichte. 683 


der's von feiner Wittwe Carolina (her. durch J. &. Müller 1820) 
mit liebevoller Hingebung dargeftellt. Herder's Lebensbild von 
feinem Sohn Emil Gottfr. von Herder (1846) blieb unvollendet. 
Unter ben übrigen Herber betreffenden Schriften erwähnen wir 
bier nur noch Reinhold Köhler's Unterſuchungen über Herber’s Cid 
(1867). Klopſtod's Leben behandelte J. G. Gruber (1832). Außer⸗ 
dem beſitzen wir über ihn eine große Anzahl von zum Theil vor⸗ 
züglichen Einzelardeiten von F. ©. Mörikofer, Koberftein, David 
Strauß und Anderen. Hamann wurde (1857 fg.) von €. 9. 
Gildemeifter zum @egenftand eines umfaffenden Werkes gewählt. 
Schubart erhielt (1849) an David Strauß einen anziehenden Biogra- 
phen. Bürger wurde von H. Pröhle (1856), Claudius von W. Herbit 
(1857) !), Boie von K. Weinhold (1868), Leopold Stolberg von 
Th. Menge (1862) eingehend behandelt. Außerdem erwähnen wir 
nod die Schriften von G. G. Gervinus über G. Forſter (1848), 
von F. Kreyßig über Möfer (1857), von M. Kayferling über 
Moſes Mendelsjohn (1862), von A. Stöber (1842) und von O. 
3. Gruppe (1861) über Lenz, von Mor. Müller über Mujäns 
(1867), von Henriette Feuerbach über Uz (1866). Weber Sean 
Banl Hefigen wir die Schriften von €. Förfter (1868) und von R. 
D. Spagier (1883 fg.); über Hebel bie von Berth. Auerbach 
(1846) und F. Becker (1860). Hölderlin's Leben beſchrieb (1846) 
Chph. Th. Schwab. — Unter den Romantikern fanden Tieck an 
R. Köpfe (1855), Kleiſt an A. Wilbrandt (1863) verbiente Bio- 
graphen. Aus der darauf folgenden Periode befigen wir über 
Schenkendorf das Buch von A. Hagen (1863), über Uhland bie ge- 
diegenen Mittheilungen feiner Wittwe (1865) und außerdem die 
Schriften von 8. Mayer (1867), F. Notter (1863) und A.; über 
Nüdert das „biographifce Denkmal” von K. Beyer (1868) umd bie 
Schriften von C. Kühner (1870) und C. Fortlage (1867), über Guſt. 
Schwab die Biographie von K. Mlüpfel (1858), über Platen außer 
feinem eigenen Tagebuch; (1860) die Schrift von J. Mindwig 


1) 3. Ausg. 1863. Außerdem wurde Claudius von I. H. Deinhardt 
(1864) und von €. Mondeberg (1869) beſprochen. 


684 Vieries Bud. Siebentes Kapitel. 


(1838) und die Biographie von K. Goedele (1846), über Lenau die 
Biographie von Schurz (1855), über Heine das Buch von A. 
Strobtmann (1867). Endlich für die neuefte Zeit fügen wir noch 
Hinzu K. Goedeke's Schrift über Geibel (1869). 

Obwohl wir bie Geſchichte der Wiſſenſchaft Hier nicht zur &i- 
teraturgefhichte ziehen dürfen, Tönnen wir doch die biographiſche 
Behandlung unfrer großen Denker von unfrer Darftellung nicht 
ausſchließen. Wir ermähnen deshalb hier noch das Leben Kant's 
von F. W. Schubert (1842), Fihte'3 von feinem Sohn J. H. 
Fichte (1830), Schelling's von F. Schelling und &. 2. Plitt (1869), 
Hegel’3 von K. Roſenkranz (1844), fowie die Darftellung Hegels 
(1857) und Wilhelm von Humboldt's (1856) von R. Hayın, 
endlich die Schriften von J. Kuhn (1884), Ferd. Deyds (1849) 
und Eberh. Birngiebl (1867) über F. H. Jacobi, und das Leben 
Schleiermacher's von W. Dilthey (1870). 

Wie wir gleih am Beginn dieſes Ueberblids gefagt Haben, 
war unfre Abſicht durchaus nicht, ein Mepertorium der biograpfir 
ſchen Literatur zu geben. Wir wollten vielmehr nur einen Einblid 
in den Reichthum diefer Literatur gewähren. Dies aber konnten 
wir nur dadurch erreihen, daß wir möglichſt viele Thatſachen in 
den engen uns zu Gebote ftehenden Raum zufammenbrängten. 


Siebentes Kapitel. 


Der Foribau der germanifhen Philologie in ben neuſten 
Jahrzehnden. 


Wir haben in früheren Abſchnitten die Gründer der neueren 
germaniſchen Philologie und ihre älteren Genoffen gejchilbert. 
Ihnen ſchließt ſich in den letzten Jahrzehnden eine neue Generation 
von Schülern an, deren Geſchichte gegenwärtig noch nicht gefhrier 
ben werben kann. Wir begnügen uns deshalb, die hauptſächlichſten 
Erſcheinungen dieſes Zeitabſchnitts nur in einem gebrängten Ueber 
blick vorzuführen 1). Die Stellung der Einzelnen zur Wiſſenſchaft 


1) Bi führen unfee Darflelung bis zum Sqhlußz bes Jahres 1869 mb 


Der Fortbau ber germ. Philologie in den neuften Jahrzehnden. 685 


hat fi im Lauf der Jahre weſentlich geändert. Bis zum Erſchei⸗ 
nen von Grimm's Grammatit (1819) war, mit wenigen Ausnah- 
men, das Stubium bes Altdeutſchen in Deutſchland eine unwiſſen⸗ 
ſchaftliche Liebhaberei. Durch Grimm's Grammatit, im Verein mit 
Lahmann’s und Bopp's Arbeiten, wurde es zur Wiſſenſchaft er- 
hoben. Es faßte num Fuß auf unfren Univerfitäten. Die einzelnen 
Meifter bildeten Schüler. Hier tritt als Univerfitätslehrer Lach 
mann vor allen hervor. Als klaſſiſcher Philolog von Fach wendet 
er bie dort geübte ftrenge Methode auch auf die Behandlung bes 
Altdeutſchen an und ftellt mit unerbittliher Schärfe an feine Schü- 
ler ganz beftimmte und Teineswegs leicht zu erfüllende Forderungen. 
Aber auch auf anderen Univerfitäten gibt es Meifter, bie ihre 
Schüler finden. So vor allen in Göttingen Jacob Grimm, und 
neben ihm fein Bruder Wilhelm und Benede; in Münden Schmel- 
ler und Maßmann; in Tübingen Uhland; in Breslau Hoffmann 
von Fallersleben. Noch aber bleibt Tängere Zeit das Studium 
des Altdeutſchen eine Sache freier Neigung. In das Ganze unfrer 
höheren Schulbildung ift e8 noch nicht eingefügt. Der erfte Schritt 
hiezu geſchah, als (1831) im Königreich Hannover von den Candi- 
daten des Gymmafiallehramts geſchichtliche Kenntniß ber deutſchen 
Sprade verlangt wurde. Auch dürfen wir Hier für bie Anerken⸗ 
nung der germaniſchen Philologie als eines weſentlichen Theiles 
der philologifgen Wiſſenſchaft die 1861 zu Frankfurt geplante, 
1862 in Augsburg zur Ausführung gebrachte Gründung einer 
germaniſtiſchen Section in der Berfammlung deutſcher Philologen 
und Schulmänner erwähnen. Bon befonderer Bebeutung aber war 
das preußiſche Neglement vom 12. Dec. 1866, welches von den 
Lehrern des Deutſchen an den oberen Klaſſen der Gymnafien 
Kenntniß der hiſtoriſchen Entwidelung der deutſchen Sprache for- 
dert ). Hiemit ift die allmähliche Aufnahme der deutſchen Philo⸗ 


törmen nur nod) einzelne in den erfien Monaten bes 3. 1870 erſchienene Schriften 
erwähnen. — 1) Reglement für bie Prüf. d. Ganbidaten bes Höheren Schulamts, 
Berlin 1867, ©. 16, Die eigenthumliche dort gefellte Alternative wird ſich 
von felbft umgeflalten, wenn die deutſche Philologie ihre Aufgabe richtig er⸗ 


686 Viertes Bud. Siebentes Kapitel, 


Togie in deu Kreis ber Höheren Schulbildung angebahnt, und es wird 
nun, was das Altdeutſche betrifft, nur darauf anlommen, daß wir 
nit etwa, wie man früherhin den Zweck ohne die Mittel wollte, 
fortan über den Mitteln den Zweck vergefien. Bon entſcheidender 
Pedeutung aber wird fein, daß man aufhört, die deutſche Pfilolo- 
gie auf das Altdeutſche zu beſchränken, während doch gerabe eine 
ihrer wefentlicften Aufgaben die richtige Auffaffung und bie ange 
meſſene Behandlung des Neuhochdeutſchen ift. 

Der allmahlichen Ausbreitung der alideutſchen Studien ent- 
ſprach eine Weihe größerer Unternehmungen auf dieſem Gebiete. 
Bor allem greifen Hier mehrere dem Fach ausſchließlich gewidmete 
Beitihriften fördernd ein. So zuerft die von Haupt herausgege⸗ 
dene gehaltvolle „Zeitihrift für deutſches Alterthum“ (1841 $g.). 
Ihr ftellt fih gegemüber mit ber Abficht, einem größeren Publicum 
au dienen und bie Ausſchließlichteit der Lachmann'ſchen Schule zu 
befämpfen, bie 1856 von Franz Pfeiffer ) gegründete, gleid- 
falls ſehr veihhaltige „Germania. Dazu kommt dann (1869) 
als dritte die „Beitjcgrift für deutſche Philologie Herausgegeben von 
Eruſt Höpfner in Breslau und Julius Bader in Halle”, 
bie ſich an folde Lejer wendet, bie bereits einen Grund in dieſen 
Stubien gelegt Haben ). Wie bie Zeitſchriften, fo kamen in den 


fannt gaben wird. Daum aber wird man fich aud überzeugen, daß beutid: 
philologiſche Kenminifje, — ſelbſtoerſtändlich innerhalb der Grängen bes Gr 
reichbaren, — allen philologiſchen Lehrern der Mittelſchule unentbehrlich find. 
— 1) Bom 14. Jahrgang (1869) an übernahm X. Bariſch die Rebartion. — 
2) Bon anderen Zeitfepriften, welde Beiträge zur germanifhen Philologie 
Bringen, haben wir bereits erwähnt Kuhn's Zeitſchrift für vergleichende Sprach 
forſchung und Benfey’s Orient und Decident. Wir nennen hier mod ben 
vom Germaniſchen Muſenm herausgegebenen Anzeiger für Kunde ber beutigen 
Derzeit (1858 fg.), bas Jahrbuch für romaniſche und engliſche Literatur von 
adf. Ebert (1858 fg.), die Zeitſchrift für Wölferpfpologie und Sprochwiſſen- 
ſchaſt von M. Lazarus und H. Steinthal (1860 fg.), das Auhio für des 
Stubium ber neueren Sprachen von 2. Herrig (1846 fg.), bie Zeitſchrift für 
Stenograppie und Orthographie von G. Michaelis (1853 fg.), den Deutfen 
Sprachwart von M. Moltfe (1855 fg.). Schr viele andere Zeitfhriften von 


Der Fortbau ber germ. Philologie in ben neuen Jahrzehnden. 887 


neneren Jahrzehnden mehrere große Sammelwerke unſrer Wiſſen⸗ 
ſchaft zu Statten. Um Veröffentlichung altdeutſcher Texte erwarb 
ſich die Baſſe ſche Buchhandlung in Quedlinburg durch ihre „Bib⸗ 
liothel der geſammten deutſchen National ⸗Literatur“ (1835 fg.), bie 
Göſchen ſche (Cotta, 2. Roth) durch bie „Dichtungen des deutſchen 
Mittelalters“ (1843 fg.) und der literariſche Verein in Stuttgart 
durch feine „Bibliothek“ (1843 fg.) namhafte Verdieuſte. Mit 
„Wort- und Sacherklärungen“ für gänzlich Umwvorbereitete verfehen 
die Deutſchen Claffiter des Mittelalters" von Franz Pfeiffer 
(1864 fg.) die Hauptfägliäften mittelhochdeutſchen Dichtungen, wäh⸗ 
rend Jul. Zacher's „germaniftiihe Handbibliothek“ (1869) folde 
Ausgaben derſelben beabfihtigt, welche bem ſchon Worbereiteten ein 
gründliches Verftänbnig bes Dichters erleichtern follen. Pfeiffer's 
Deutſchen Claſſilern des Mittelalters” folgten dann in demfelben 
Verlag (&. 9. Brochaus in Leipzig) Deutſche Dichter des 16. Jahr⸗ 
hunderts und Deutſche Dieter des 17. Jahrhunderts, mit Ein- 
leitungen und Anmerkungen, herausgegeben von K. Goedele und 
Julius Tittmann, und eine Bibliothek der deutſchen National» 
literatur bes 18. und 19. Jahrkunderts, mit Ginleitungen und 
Erläuterungen von Weinhold Kühler, Herm. Hetiner, Julian 
Schmidt, Moriz Earriere u. A. 

Bevor wir zur Darſtellung der beſonderen Gebiete übergehen, 
mũſſen wir Ciniges ſagen über bie Fortbildung ber geſammten 
germaniſchen Sprachforſchung. Obwohl hier Grimm's Grammatil 
fortdauernd die Grundlage aller Studien bleibt, iſt man doch im 
legten Menſchenalter nach zwei Seiten hin über Grimm hinaus⸗ 
geſchritten. Erſtens nämlich im Anſchluß an Bopp durch die tie- 
feren Einblicke, welche die vergleichende indogermaniſche Grammatik 
und insbeſondere das Sanskrit auch in den Bau der germaniſchen 
Sprachen gewährt. Wir haben dieſe Seite bereits in einem frü- 


algemeinerem Inhalt, bie wir nicht ale aufzäglen können, Tiefen bisweilen 
auch werthvolle Beiträge zur germanifchen Philologie. Wir wollen hier nur 
ned, bie fortgefegte und kundige Berüdfidtigung erwähnen, bie Zurnde's Liter 
rariſches Gentralblatt den Erſcheinungen ber germaniſchen Philologie wähmet, 


688 Biertes Bud. Siebentes Kapitel. 


deren Abſchnitt zuſammenfaſſend dargeſtellt 1). Zweitens aber 
ſuchte man, in das Weſen der Laute und die Vorgänge der laut⸗ 
lien und amberweitigen ſprachlichen Umwandlungen ſelbſt tiefer 
einzubringen, wodurch zugleich eine ftrengere Scheidung der münds 
lichen und ſchriftlichen Fortpflanzung der Sprache bedingt wurde. 
Hieher gehören die Arbeiten Theodor Jacobi's (1848) und 9. 
B. Rumpelt’s ?) (1860 fg.), fowie Adf. Holgmann’s Abhand⸗ 
Kung über den Umlaut (1841), Wilh. Scherers ſcharfſumige 
und einem hohen Ziele zuſtrebende Unterfuhungen „Zur Geſchichte 
ber deutſchen Sprache“ (1868) gehören theils diefer, theils der zuerft 
genannten Seite der Forſchung an.’ 

Wir erwähnen hier, bevor wir zur Darftellung der einzelnen 
Gebiete übergehen, noch einige Schriften, bie mehrere germaniſche 
Spraden zufammenfaflen; die Schriften von Schleier und von 
Kelle Haben wir ſchon früher angeführt 9. Ahnen find hier noch 
beizufügen bie Grammatik der altgermanifhen Sprachſtämme von 
Morig Heyne (1862), die philoſophiſch- hiſtoriſche Grammatil 
ver deutſchen Sprage von R. Weftphal (1869), die „Altdeutſche 
Grammatik, umfaſſend die gothiſche, altnordiſche, altſächſiſche, angel 
ſachſiſche und althochdeutſche Sprache“ von Adolf Holtzmann 
deren erſte (1870) erſchienene Abtheilung die ſpecielle Lautlehre 
umfaßt, und Oskar Schade's „Altdeutſches Wörterbuch“ (1866). 
Auch dürfen wir K. G. Andreſen's Regiſter zu Grimm's Gram- 
matil (1865) in ber Reihe dieſer Schriften anführen. 


Das sothiſche. 

Das Gothiſche, die Grundlage der ganzen germaniſchen Sprach- 
forſchung, hat im legten Menſchenalter eine Reihe vorzüglicer Ar⸗ 
beiten aufzumeifen. Gleich am Eingang ſteht die umfaſſende Aus 
gabe aller gothiſchen Spradrefte von H. €. von der Gabelent 
und J. Löbe (1843—47) mit trefflihem Gloffar und volfftän- 
diger gothifcer Grammatil. Eine neue und geſicherte Grundlage 


1) 6.0.6. 621fg. — 2) Deutsche Grammatik, I. Lautlehre 1860. - 
Das natürliche System der Sprachlaute — mit bes. Rücksicht auf 
deutsche Gramm, 1869. — 3) &. 0. ©. 628, 


Der Fortbau ber germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 689 


für die Textkritik gab (1854. 1857) der genaue Abdruck des Coder 
argenteus durch den Schweden Andreas Uppftröm (f 1865), 
der dann (1861 fg.) auch die in Palimpfeften erhaltenen gothiſchen 
Texte einer ebenfo forgfältigen Vergleichung unterzog. Bon Maß—⸗ 
mann’3 Ulfilas (1857) haben wir ſchon geſprochen 1); Handaus- 
gaben Tieferten Ign. Gaugengigl (1848) und F. W. Stamm 
(1858), welcher Iegteren in den neuen Auflagen?) Morig Heyne 
die Fortſchritte der Wiffenfhaft zu gute Tommen Tief. Eine Se 
paratausgabe ber Skeireins beforgte (1862) Aler. Vollmer. Go- 
thiſche Wörterbücher verfaßten Ernft Schulze (1848. 1867) und 
mit außgebreiteter Sprachvergleihung Lorenz Diefenbad (1851). 
Ein umfaffendes Wert über die Lautgeftaltung der gothifhen Sprache 
veröffentlichte (1869) Leo Meyer. Ueber die Ausſprache des 
Gothiſchen Hatte W. Weingärtner (1858), Franz Dietrih (1862) 
geſchrieben. Das Verhältniß der gothiſchen Bibelüberfegung zum 
Grundtert unterſuchte mit kritiſcher Schärfe Ernft Bernhard (1864 fg.). 
Sehr wichtige neue Aufſchlüſſe über das Leben und die Lehre des 
Ufilas gab (1840) Georg Waitz, und W. Beſſell gelangte 
(1860) zu einer von der bisherigen abweichenden Anficht über das 
Geburtsjahr des Ulfilas. 


Athoddentfd. 


Wir haben in früheren Abſchnitten die Arbeiten von Graff, 
Jac. und W. Grimm, Lahmann, Schmeller, H. Hoffmann und 
Maßmann auf dem Gebiet des Althochdeutſchen erwähnt. Diefen 
haben wir hier vor allem drei größere Werke hinzuzufügen, nämlich 
„St. Gallens altteutſche Sprachſchätze“ (1844—46) von Heinr. 
Hattemer (f 1849), die „Denkmäler deutfcher Poefte und Profa 
aus dem VIIL— XII. Jahrh. (1864) von Karl Müllenhoff?) 





1) ©. o, 6. 592. — 2) Vierte Aufl. 1869. — 3) Geb. 1818 zu 
Marne in Süderdithmarſchen, ftub. feit 1837 zu Kiel, Leipzig und Berlin 
Pphilologie, ſchließt fich vorzugeweiſe an Lachmann an; wirb 1843 Privat- 
docent, 1854 ord. Prof. ber deutſchen Sprache, Literatur und Alterthums- 
kunde in Kiel, 1858 an Hagen's Stelle nach Berlin berufen (Brochaus Real⸗ 
Encyti. (11) X, 450). 

Raumer, Geſch. der germ. Phllologie. 4 


60 Viertes Buch. Siebentes Kapitel. 


und W. Scherer, bie einen weſentlichen Fortſchritt in der Kritil 
und Erklärung diefer Heinen, aber für Sprache und Geiſtesgeſchichte 
äußerft wichtigen Ueberrefte bezeichnen, und Joh. Kelle's Aus 
gabe bes Otfrid (I. 1856), die in ihrem zweiten Band (1869) 
eine forgfältige Darftellung von Otfrid's Sprache beginnt. Neuen 
Zuwachs erhielten die althochdeutſchen Quellen durch zwei von 
Th. von Karajan (1857) herausgegebene Segens- und Beſchwör⸗ 
ungsfprühe und Kranz Pfeiffer's Bienenfegen (1866). Das ſ. 9. 
althochdeutſche Schlummerlied dagegen, das G. Bappert (1858) 
veröffentlichte, erwies fih als ein Machwerk des 19. Jahrhun⸗ 
derts. — Unter den übrigen Arbeiten auf althochdeutſchem Gebiet 
führen wir nod an Abf. Holgmann’s Ausgabe des Iſidor (1836), 
dann was K. Müllenhoff (1861), Konr. Hofmann (1863), 
€. W. Grein (1865) für das Weſſobrunner Gebet, W. Müller 
(1843), 8. Müllenhoff (1858), K. Barti (1858), Jul Fei⸗ 
falit (1858) und Fr. Zarnde (1866) für Muspilli, W. Müller 
(1843), Chr. Wilbrandt (1846), Al. Vollmer und Konr. Hofmann 
(1850), €. W. Grein (1858), Adf. Holgmann (1864) und Mar 
Nieger (1864) für das Hilbebrandalied gethan Haben, und ermäh- 
nen noch K. Roth's Denkmäler der deutſchen Sprade vom 8.—14, 
Jahrh. (1840) und Feußner's alliterierende Dichtungsrefte der had: 
deutſchen Sprache (1845). Für Veröffentlihung und Sichtung alt- 
hochdeutſcher Gloffen waren (neben H. Hoffmann, Graff, W. Grimm, 
BD. Wadernagel, Mafmann) ©. Waig, 8. C. Bethmann, Mi. 
Holgmann, Konr. Hofmann, Franz Dietrich, Ant. Birlinger, Mar 
Rieger, M. U. Walz und Andere thätig — Um die Literatur ber 
Uebergangszeit vom Althochdeutſchen zum Mittelhochdeutſchen machte 
ſich (neben Maßmann) beſonders of. Diemer !) verdient durch 
feine Ausgabe der Kaiſerchronik (1849), der deutſchen Gedichte des 
XI. und XII. Jahrhunderts (1849) und der deutſchen Umdichtung 
von Genefis und Exodus (1862). Ebendahin gehören mehrere 
Arbeiten Dslar Schade's (Crescentia 1858; monumentorum de 
1) &eb. 1807 zu Stainz in Steiermart, 1850 Borfland der Unider 
fuätebibliothet in Wien, gef. 1869. (S. über ihn W. Scherer's ſchönen 
Nekrolog in ber Wiener Preffe vom 22, Juni 1869). 





Der Zortbau der germ. Philologie in ben ncußen Jahrzehnden. GBA 


cas 1860; fragmenta 1866), Ric. Heinzel’3 Heinrih von Met 
(1867) und Karl Roth's (1847), H. E Bezzenberger's (1848) 
und Joſ. Kehrein's (1865) Ausgaben des Annoliebes. — Einen 
wichtigen Beitrag zur Lehre von den althochdeutſchen Flexionen gab 
Franz Dietrich in feiner Abhandlung über die ftarke Declination (1859). 
Scliegli erwähnen wir nod die althochdeutſche Grammatik non 
8. A. Hahn (1852, neu bearbeitet vom Adalb. Jeitteles 1866) 1) 
und 2. Frauer's Lehrbuch ber althochdeutſchen Sprache und Lite 
ratur (1859. 1869). 
Altfähfifh, Angelfähffh, Frieſiſch, Alinordiſch. Aunen. 

Um das Altſächſiſche machte ſich (nad Schmeller) befon- 
ders verdient Morig Heyne durch feine Altniederdeutſchen Dent- 
mäler, deren erfter Theil ben Heliand (1866) und deren zweiter 
(1867) die leineren altnieberbeutfhen Dentmäler enthält. Eine 
Ausgabe bes Heltand Hatte au (1855) J. R. Köne beforgt. Die 
deutſchen Alterthumer im Heliand behandelte (1845. 1862) A. 3. €. 
Bilmar. Die Quellen des Heliand unterfuhte E. Windiſch 
(1868). Beiträge zum Berftändnis des Heliand Tieferten außerdem 
Konr. Hofmann (1863), E Behringer (1863),C.W. M. Grein (1869). 

Die angelfähfifgen Quellen machten durch kritiſche Aus- 
gaben zugänglid C. W. M. Grein Gibliothek der angelſächſiſchen 
Poeſie (1857 fg.), Mor. Heyne (Beovulf 1863. 1868), Rein— 
Hold Schmid (Gefeke der Angelſachſen 1832. 1858). Außerdem 

- nennen wir noch als Herausgeber 8. W. Bouterwek (f 1868. 
Caedmon 1849 fg., altnorfumbr. Evang. 1857, Sereadunga 
1858) und als Verfaſſer angelſächſiſcher Lefebücher 2. Ettmülfer 
(1850) und Mar Rieger (1861). Eine an Umfang Meine, aber 
für die deutſche Heldenfage äußerſt werthvolle Bereicherung erhiel- 
ten die angeljäcftfden Quellen durch das von dem Engländer 
G. Stephens (1860) veröffentlichte Bruchſtück einer angelſächſiſchen 
Dichtung von Walter ımd Hildgund, das K. Müllenhoff in Ver⸗ 
bindung mit Franz Dietrich (1865) verbeſſert und erläutert her⸗ 
ausgab ?). Für die lexikaliſche Bearbeitung bes Angelſachfiſchen 

1) Dritte Aufl. 1870. — 2) In Haupt's Zeitschrift XII, 264 fg. 
44° 


692 Biertes Buch. Siebentes Kapitel. 


iſt an erfter Stelle zu nennen €. W. M. Grein’s Sprachſchatz 
der angelſächſiſchen Dichter (1861-64), dann 2. Ettmüller'3 Lexi- 
con Anglosaxonicum (1851) und Mar Rieger's Wörterbuch zu 
feinem Leſebuch (1861). — Griümdliche Unterfuchungen über ein- 
zelne Fragen der angelſächſiſchen Literatur und Grammatik Kieferte 
Franz Dietrid, und K. Müllen hoff begann die kritiſche 
Siätung der angelſächſiſchen Poeſie. Unter den Hiftoritern, die 
fich um das Angelſächſiſche verdient machten, ift neben J. M. Lap⸗ 
penberg und H. Leo, bie wir ſchon früher erwähnten, Reinhold 
Pauli hervorzuheben. 

Eine treffliche Bearbeitung fand das Frieſiſche in K. von 
Richthofen's Ausgabe der Frieſiſchen Rechtsquellen und dem 
dazu gehörigen Wörterbuch (1840). Außerdem erwähnen wir noch 
A. L. J. Micelfen’s Beihülfe für die nordfrieſiſchen Gefege und 
bie Bearbeitung der friefiigen Laut» und Flexionslehre in Mor. 
Heyne's Grammatif der altgermanifhen Sprachſtämme (1862). 

Auf dem Gebiet des Altnordifchen mußten fich einige 
deutſche Gelehrte duch die Gründlichkeit ihrer Arbeiten aud bie 

Anerkennung ber Skandinavier zu erwerben. Wir nennen Bier 
vor allen Theodor Möbius und Konrad Maurer. Mi 
bius gab heraus die Blömstrvalla Saga (1855), Analeota Nor- 
roena (1859), die ältere Edda (1860), Fornsögur (in Verbind⸗ 
ung mit Gubbr. Vigfusſon 1860), Ares Isländerbuch (1869), 
ein Altnordiſches Gloffar zu einer Auswahl von Profaterten (1866) 
umb verzeichnete in feinem Catalogus librorum Islandicorum et 
Norvegicorum (1856) auf das forgfältigfte den ganzen altnor⸗ 
diſchen Quellenſchatz. Maurer fhrieh die Gefchichte der Belehrung 
des norwegiigen Stammes (1855 fg.) und erläuterte in einer 
Reihe gelehrter Abhandlungen alte isländiſche und norwegiſche Ber- 
Hhältniffe mit unübertroffener Gründlichkeit; auch veröffentligte er 
bie Gull-Thöris Saga (1858) zum erftenmal und isländiſche 
Vollsſagen der Gegenwart verdeutſcht (1860). Eine anſchauliche 
Darftelfung des altnorbifhen Lebens gab (1856) K. Weinhold. 
Franz Dietrich machte ſich durd fein Alnordiſches Leſebuch 
(1848. 1864) und eindringende Unterſuchungen über einzelne Fra⸗ 





Der Fortbau der germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 698 


gen um das Studium bes Altnorbifchen verdient. Außerdem nen» 
nen wir noch 2. Eitmüller (Altnord. Leſebuch 1861), Herm. Lu⸗ 
ning (Edda 1859), Friedr. Pfeiffer (Altnord. Leſebuch 1860), 
K. F. Köppen, R. von Lilieneron, E. Roffelet, Ferd. Juftt, Theo⸗ 
phil Rupp. Unter ben Hiftorifern, deren Forſchungen fi dem nor- 
difchen Alterthum zumanbten, Haben wir ſchon früher Dahlmann 
hervorgehoben; unter den Juriſten ift Bier (außer Konr. Maurer) 
noch W. Ed. Wilda zu nennen. 

Wir fließen hier die Arbeiten an, bie ſich mit ben älteften 
Schriftarten der germanischen Völfer befhäftigen. Nah W. Grimm's 
ſchon beſprochenen grundlegenden Leiftungen über die Runen (1821. 
1828) find zunädft zu erwähnen bie Unterfuhungen von Mund 
und J. Grimm) (1848), fo wie bie von 8. Mällenhoff?) 
(1849), über bie Inſchrift bes 1734 hei Gallehuus gefundenen 
goldenen Horns. Durch biefe Arbeiten wurde feitgeftellt, daß jene 
Runeninſchrift nit Skandinavien, ſondern einem Volle des füd- 
lichen Hanptaftes der Germanen angehört. Daß aud bie fühger- 
maniſchen Völker ihre Sprachen durch Runen ausgebrüdt Haben, 
wurde durch weitere Entdeckungen glänzend beftätigt. Insbeſondere 
dur die bei Charnay an der Saone ausgegrabene burgundiſche 
Silderfpange aus dem 5. Jahrhundert, fo wie durch den (1838) 
bei Pietraoffa in der Walachei gefundenen Ming 3) und bie bei 
Norbenborf in ber Nähe von Augsburg (1848) entdeckten Gegen- 
fände mit Runeninſchriften. Um ihre Entzifferung, fo wie um 
die der germaniſchen Golbbracteaten erwarb fih Franz Dietrich 
(1865 fg.) wefentfice Verbienfte‘). — Ueber bie Runen in ihrem 
Verhaältniß zum mahrjagenden Loofen ſchrieben (1852) R. von Li- 
Hencron und K. Müllenhoff. Das ganze Syſtem ber Runen be 


1) Bericht der Akad. der Wiss. zu Berlin. 1848. 8. 39—58. — 
2) Vierzehnter Bericht der Schleswig-Holſt. Geſellſchaft x. im Januar 1849 
erftattet von K. Müllenhoff, S. 16 fg. — 3) Bl. u. A. 3. Zader, das 
gothiſche Alphabet (1855) ©. 44 fg. — 4) Pfeiffer's Germ. X. (1865) 
8. 257—305. XI. (1866) 8.177— 209. Haupt's Zeitschr. XIII. (1867) 
8. 1128. Ebend. XIV. (1869) 8. 73-104. Bgl. au Frz. Dietrich, 
Die Blekinger Inschriften, Marb. 1868, 


[73 BVieries Bud. Siebentes Kapitel 


handelte (1857) Franz Joſ. Lauth. Das Verhältniß von Bulfilo's 
Schriftzeichen einerjelts zu den Runen und andrerſeits zu den an- 
‚tilen Alphabeten unterſuchten A. Kirchhoff (1851. 1854) und Zur 
lius Zacher (1855). 


Mittelniederdeutfg. aitieluiedetlãudiſch. Ea⸗liſch. 


Wir haben früßer geſehen, wie das Niederdeutſche im Lauf 
des 17. Jahrh. die Natur einer Schriftſprache einbüßt, wie es dam 
aber als Vollsmundart auch zu ſchriftſtelleriſchem Gebrauch von 
nemem verwendet wird. Auf das Niederdeutſche als Volksmundart 
lommen wir fpäter zurück; Bier befpredgen wir nur die Bemuhun⸗ 
gen um das Mittelniederdeutſche in feinen mannigfachen Mund ⸗ 
arten und mit feinen Ausläufern bis um bie Mitte des 17. Jahrh 
Um bie Herausgabe und Erläuterung niederdeutſcher Quellen mach⸗ 
tem ſich (neben Hoffmann von Fallersleben und Maßmann) ver- 
dient Adelb. von Keller (Karlmeinet 1858), 8. Bartſch 
(Berthold von Holle 1858), Alb. Höfer (Denkm. 1850 fg.), 
A. Lübben (Reinle de Vos 1867. Beno 1869), 3. M. La 
penderg (Lauremderg 1861), 2. Eitmüller, F. Satendorf, Friedr 
Pfeiffer, 8. Ph. Ch. Schönemann, K. Regel, Phil. Ed. Wadernagel, 
J. Geffken, C. Möndeberg, K. Schröder. Die Natur der nieder⸗ 
deutſchen Sprachquellen bringt es mit ſich, daß hier bie verſchie⸗ 
denartigften vorzugsweiſe dem Inhalt gewidmeten Beſtrebungen 
auch für bie Sprachforſchung von Wichtigkeit find. So haben wir 
auf dem Gebiet der Rechtsbucher Homeyer's klaffiſche Ausgabe des 
Sachſenſpiegels fon angeführt. Ebenſo bieten geſchichtliche Werte 
und Urkunden der Sprachforſchung reichen Stoff. Wir führen in 
erſterer Hinficht nur das großartige, von K. Hegel geleitete Um 
ternehmen der Herausgabe der deutſchen Stäbtehroniten an, be 
welchem bie ſprachliche Seite für Magdeburg von Janicke und 
Wiggert, für Braunſchweig von 2. Hänfelmann ımd 8. Schil 
Ier Beforgt wird. In Bezug auf bie Urkunden erwähnen wir nun 
beiſpielsweiſe J. M. Lappenberg's vielfache Leiftungen. Züde 
tige Beiträge zu einem niederdeutſchen Wörterbuch lieferte K. Schil⸗ 
ler. Eine voliftänbige lerikaliſche Bearbeitung bes Niederdeutſche⸗ 


Der Fortbau ber germ. Philologie in den neuſten Jahrzehnden. 695 


aber hat bis jett noch nicht zu Stande kommen wollen. Das 
angefangene Wörterbuch der niederdeutſchen Sprache von J. G. 8. 
Kofegarten (1856 fg.) gerieth ſchon nach den erften Lieferungen 
in’3 Stoden. Neuerdings haben A. Lübben in Oldenburg und 
8. Schiller in Schwerin ein mittelnicberbeutjches Wörterbuch 
gemeinfam unternommen, von dem wir uns etwas Tüchtiges ver- 
ſprechen dürfen, Schließlich erwähnen wir noch den Anfang einer 
niederdeutſchen Bibliographie, den [nach K. F. A. Scheller's (1826) 
mißrathenem. Buch] C. M. Wiechmann in „Meflenburgs altnie⸗ 
derſächſiſcher Literatur“ (1864) gemacht hat. 

Für das Mittelniederländiſche war (neben Hoffmann 
von Fallersleben, J. Grimm und Mone) beſonders Ed. von 
Kausler thätig, deſſen Denkmäler altniederländiſcher Sprache 
und Literatur (1840 — 66) die noch nicht herausgegebenen Theile 
der Comburger Handſchrift veröffentlichten. Außerdem lieferten 
Beiträge zur mittelniederländiſchen und älteren neuniederländiſchen 
viteratur Sul. Zacher, K. Regel, E. Martin, K. Bartſch, Ferd. 
Wolf, Ph. Ed. Wadernagel u. A. 

Was das Englifche betrifft, jo kann Bier natürlih nur von 
der wiſſenſchaftlichen Erforſchung desſelben die Rede fein, nicht von 
den unzähligen praktiſchen Hilfsmitteln zu deſſen Erlernung. An 
erſter Stelle müfjen wir hier nennen die „Hiftorifche Grammatit 
der englifhen Sprade" von C. Frieder. Koch (1863 fg.) und 
neben ihr die Arbeiten von Ed. Mätzner (Engl. Gramm. 1860fg.; 
Mtengl. Sprahproben 1867 fg., in Verbindung mit 8. Goldbech). 
Außerdem führen wir an F. 9. Stratmann’s Dietionary of the 
engl. langu. of the 13. 14. and 15. oenturies 1864 fg. Unter 
den übrigen lexikographiſchen Arbeiten heben wir hervor bie eng- 
liſchen Wörterbüger von J. ©. Flügel (1830 fg.) und von N. J. 
Lucas (1854 fg.) und das etymologifhe Wörterbuch ber engliſchen 
Sprache von Ed. Müller (1865 fg.). Außerdem machten fih um 
die Erforſchung des Engliſchen verdient Nic. Delius, Tyho Momm- 
fen, Adf. Ebert, Benno Tſchiſchwitz, K. Elze, W. Herkberg, 
8. Lemde, 8. Herrig, Bernd. ten Brink, ©. Nagel, ©. Helms u. A. 


696 Viertes Bud. Siebentes Kapitel. 


Aittethochdentſch. 

Auf dem Gebiet des Mittelhochdeutſchen haben wir die Brüder 
Grimm und alle ihre Genoſſen thätig geſehen. Der Meiſter des 
Faches über war Lachmaun. Bon ihm haben Freund und Feind 
gelernt 1). Die Anerkennung dieſer Meifterihaft bedingt aber 
durchaus nit, daß wir Lachmann's Anfihten überall beiftimmen. 
Vielmehr fordert die fortſchreitende Wiffenfhaft, daß wir biefe 
Anfihten mit Freiheit und Unbefangenheit prüfen und nur das 
fefthalten, was ſich bewährt. 

Das dringendfte Bedürfnig auf dem Gebiet des Mittelhod- 
deutſchen war die Herftellung eines volfftändigen Wörterbuds. 
Benede, W. Wadernagel und Heinr. Hoffmann Hatten treffliche 
Vorarbeiten geliefert. Ein Gloffarium zu Walther von der Vogel⸗ 
weibe verfaßte (1844) C. A. Hornig. Aber der Verſuch eines Gefammt- 
wörterbuchs von Adf. Ziemann (1838) war noch ſehr ſchwach. 
Das Verdienft, zuerft ein umfaffendes und wiſſenſchaftliches Wör- 
terbuc des Mittelhochdeutſchen Hergeftellt zu haben, erwarben ſich 
(1854— 1866) Wilhelm Müller 2) und Friedr. Zarnde?). 
Im Anſchluß an fie, zugleich aber geftägt auf ſelbſtändige grünb- 
lie Studien arbeitet Matthias Lerer (1869 fg.) am einem 
mittelhochdeutſchen Handwörterbuch. — Eine mittelhochdeutſche 
Grammatik ſchrieb K. A. Hahn (1842, neu ausgearbeitet von 
Friedr. Pfeiffer 1865) ©). 

1) Bgl. Franz Pfeiffer in den Münchener Gel. Anzeigen 1851, I. Ep. 
701. — 2) Geb. 1812 zu Holgminben, ſtud. feit 1882 in Göttingen als 
Schüler Otfr. Müller’s, 3. Grimm’s und Benede's Philologie, wird 1841 
Privatbocent, 1856 ord. Prof. ber deutſchen Sprache und Lit. in Göttingen 
(Brodgaus Real-Encyf. (11) X, 461). — 3) Geb. 1825 zu Zahrenflorf 
in Meflenburg, find. feit 1844 in Roſtock, Leipzig und Berlin Philologie, 
wird 1852 Privatdocent, 1858 orb. Prof. ber deutſchen Sprache u. Sit. in 
Leipzig. (Brodhaus, Real-Encytl. (11) XV, 658). 4) Die Verbreitung 
bes Unterrichts in ben Älteren deutſchen Sprachen rief eine Reihe kleinerer, zum 
Theil ſehr tüchtiger grammatiſcher Hülfemittel Yervor. Ich nenne hier nur 
bie Hicher gehörigen Schriften don A. F. €. Vilmar, 8. Müllenhofj, Oster 
Schade, U. Koberfiein, Gotil. Stier, E. Martin, Jul, Zupiha. Ueber bie 
Ausfprache bes Mitielhochdeutſchen ſchrieb (1858) Reinhold Bechftein. 


Der Fortban ber germ. Philologie in den neuſten Jahrzehnden. 697 


Gehen wir num über zur Herausgabe mittelhochdeutſcher Werke, 
fo müſſen wir vor allem ausſprechen, daß auf biefene Gebiet in 
den legten Jahrzehnden ungemein viel geleiftet worden iſt. Wir 
beginnen mit ber deutſchen Heldendichtung. Den Mittelpunft der 
Forſchung bildet hier das großartigfte Werk der ganzen altveut- 
ſchen Poeſie: Das Nibelungenlid. Die Unterfuhung dieſer 
Dichtung greift tief ein in die Geſchichte unfrer Wiſſenſchaft, und 
wir wollen deshalb etwas näher darauf eingehen. . Wir haben in 
einem früheren Abſchnitt gefehen, wie Lahmann aus dem überlie- 
ferten Text zwanzig einzelne Lieber ausfonderte, aus deren Zu- 
fommenfügung das Ganze entftanden fein ſollte. "Er ließ babei 
von ben 2316 Strophen ber kürzeſten Handſchrift (A) nur 1437 
als echt gelten, während er 879 als eingejchoben bezeichnete. Seine 
Ausſcheidungen ftüßte er auf Gründe, die er theils aus dem In⸗ 
halt, teils aus ber Form der verworfenen Strophen entnahm. 
Bald nad; Lachmann's Tode kam nun aber ein weiterer eigenthüm⸗ 
Her Umftand zum Vorſchein. J. Grimm wies nämlich (Nov. 
1851) in einer Beurtheilung der britten Ausgabe von Lachmann's 
Nibelungen Noth ) nad, daß die Strophenzahl in jedem ber 
zwanzig Lachmann'ſchen Lieder (mit einer einzigen Ausnahme) duch 
die Zahl Sieben theilbar fei. Da nun Lachmann fon in feiner 
erften Ausgabe der Nibelungen (1826) durch das ganze Werk je 
die fiebente Strophe mit einem größeren Anfangsbuchftaben ber 
zeichnet Hatte und da er überdies auch in feinen Unterfuhungen 
über antike Metrik ber Siebenzahl eine befondere Bedeutung bei- 
maß, jo konnte e8 feinem Zweifel unterliegen, daß er auch für 
feine Vollslieder Heptaben zu Grunde gelegt Hatte J. Grimm, 
ber ſich ſchon im feiner Rede auf Lachmann (Juli 1851), bei aller 
Anerkennung feines Scharffinns, aus fachlichen Gründen gegen 
feine Behandlung der Nibelungen ausgefprohen Hatte ?), erflärte 
in ber obigen Beurtheilung 9): „Sicher hat bei Lachmann, als er 
feine zwanzig Lieber ordnete und den Athetefen nachſpürte, Rück⸗ 
ficht auf Inhalt, zuweilen auf Versbau und Grammatit überwo⸗ 

1) @öttingifge gel. Anzeigen 1851, ©. 17479. — 2) Kleinere 
Schriften von J. Grimm, Bd. I. (1864) 8. 156 fg. — 3) ©. 1752. 





698 Viertes Bud. Siebentes Kapitel. 


gen; zugleich aber müffen, es läßt ſich nicht anders denken, bie 
Heptaden ihm eine Richtſchnur gewefen fein, wider die man fih 
fträubt. Dem freien ungehemmten Athemzug bes Epos ſcheinen 
folde gleihförmige, halbnaturwüchſige Zahlen entgegen, und die 
Kritik des Inhalts wird für ihre aften Zweifel aus neuen von der 
Form dargereichten Beftätigung ziehen dürfen.” Dieſe Angriffe 
J. Grimm’s auf Lachmann's Zerlegung der Nibelungen mußten 
um fo ſchwerer in’3 Gewidt fallen, als vachmann fi „unbegreif- 
licher Weife gar nicht, weder in Schriften, noch mündlich“ i) über 
feine Heptaben erflärt hatte. Einige Jahre nachher (im Januar 
1854) griff Adolf Holtzmann?) die Anſichten Lachmann's 
aud von Seite der Hanbfäriftenfrage an, indem er nachzuweiſen 
ſuchte, daß bie Hohenems» Mindener Handſchrift (A) keines- 
wegs den älteften Text biete, ber bann, wie Lachmann meinte, in 
der St. Galler Handſchrift (B) eine erfte und in der Hohenems- 
Laßberg'ſchen (C) eine zweite erweiternde Ueberarbeitung erfahren 
habe, daß vielmehr der ausfürlihe Tert von C dem urfprünglid- 
ften am nädften ftehe, und A nur eine willfürliche Verſtümmelung 
bes älteften Textes fei?). Man fieht leicht, daß diefer Nachweis 
Lachmann's Kritik, infofern fie fih auf bie Handſchriften ftägte, 

1) Ebend. ©. 1749. gl. I. Grimm's Erflärung in Zarnde's Gentrel- 
Blatt 1858, Sp. 275. 276. — 2) Geb. 1810 in Rarlsruge, 1852 Profe 
for ber beutfehen Sprache und Literatur in Heidelberg, gef. 1870. — 3) Der 
Nachweis, da C den älteſten ums zugänglichen Zert biete, A von den brei 
Haupthandſchriften den jüngften, |. bei Holgmann &. 5—54. Das Bar 
haͤliniß der Handſchriften ſtellt Holbmann (S. 58 fg.) je dar: An der Erik 
fteht ein uns verlorener Tert Z. Bon dieſem ſtammt einerſeits C, anbrer: 
ſeits ber Zert, deffen abkürgende Ueberarbeitung B ift, und A ift dann mie: 
der eine Verftümmelung von B. Alſo nad) dem Schema: 





Der dortbau ber germ. Philologie in den neuften Jahrzehnden. 699 


den Boden entziehen mußte. Denn wo Lachmann in den Sprüngen 
und ſchroffen Webergängen ber Handſchrift A Spuren der noch 
nicht vollendeten Zufammenarbeitung ber urſprünglichen Lieber zu 
ſehen glaubte, da Haben wir es nad Holgmann mit den Nahe 
Täffigteiten eines Abſchreibers zu thun, der durch willkürliche Aus⸗ 
Taffungen den Zufammenhang, den ihm feine Vorlage bot, zerftörte, 
Diefer Punkt war es deshalb auf, um den fortan der Streit fid 
drehte, während man Holgmann’s eigene Hupothefe, daß Konrad, 
der Schreiber Biſchof Pilgrim's von Paſſau, um 970—9841) bie 
Grundlage unfres Nibelungenliebes verfaßt Habe, mehr zur Seite 
liegen Tieß. — Durch felbftändige Unterfuhungen war Friedrich 
Zarnde zu ganz ähnlichen Ergebniffen über die Handferiften der 
Nibelungen gelangt, wie Holgmann. (Er veröffentlichte dieſelben 
in einem Vortrag, ben er am 28. Juli 1854 in ber Aula zu Leip- 
sig hielt. „Mein Urtheil über A, fagt er bort, Hatte ih fo zu- 
fammengefaßt: A iſt bie gewiffenlofe ftümperhafte und naſeweiſe 
Abſchrift einer Vorlage, die B an Werth übertraf” ?). „In ber 
Handfhriftenfrage" ſchließt ſich Zarncke „vollftändig dem von Holk- 
mann gewonnenen Refultate an”, keineswegs aber deſſen Anſichten 
über die Entftehung bes Gedichts >). 

Gegen Holgmann und Zarnde trat no in bemfelben Jahr 
Karl MällenHoff in die Schranten. In feiner Abhandlung: 
„Zur Geſchichte der Nibelunge Not”, (Dec. 1854) +) fuchte er 
Lachmann's Anfihten nach allen Selten Hin zu vertheibigen. Die 

" von J. Grimm angegriffenen Heptaden erklärt er im Anſchluß an 
Moriz Haupt daher, daß bei dem muſikaliſchen Vortrag der epl- 
fen Lieder immer je fieben Strophen fih in ähnlicher Weife ger 
gliedert Hätten, wie in ber lyriſchen Strophe die beiden Stollen 
und der Abgefang, fo da immer 2+2 Strophen biefelde Melodie 
und bie drei darauf folgenden eine andere gehabt hätten ). In 


1) Holtsmann, Untersuchungen über das Nibelnngenlied, 1854, 
8. 190. — 2) Zur Nibelungenfrage. Ein Vortrag von F. Zarncke, 
Leipz. 1854, 8. 20. — 3) Gbend. 6. 91. — 4) Im der Allgem. Mo- 
nateschrift für Wissenschaft und Literatur, Braunschweig 1854, Dec. 
8. 877-979. — 5) Ebend. S. 885. 886, 


700 Biertes Buch. Giebentes Kapitel, 


Betreff der Handſchriften Hält er bie Priorität von A aufrecht. Am 
eingehendften erläutert er die Entwickelung der deutſchen Helben- 
dihtung von ihrer Entftehung in der Zeit der Völkerwanderung 
bis in's 18. Jahrhundert. Beſonders müſſen wir hier hervor 
Heben, wie Müflenhoff ſich die Entftehung folder Werke wie unfre 
Nibelungen aus den alten Heldenlievern denkt. „Ift nun das 
Epos, fagt er, die directe, bie neue höfiſche Kunft aber eine in- 
birecte Fortſetzung ber alten Poeſie, fo müffen Gedichte wie bie 
Nibelungen und Kubrun in denſelben Kreifen entftanden fein, wie 
mein und Parzival“ 1), „Die Nibelungen können ihrer Sprache 
wegen nur in ben ebelften Kreifen des Landes entftanden fein“ 2. 
Als Zwiſchenſtufe zwiſchen den einzelnen nur münblic fortgepflang- 
ten Helbenliebern und dem großen epiſchen Ganzen nimmt Müllen⸗ 
hoff die Aufzeichnumg einzelner Lieder und daraus hervorgehenb die 
Eniſtehung epifcher Lieberbücher an). Aus folgen „Liebergruppen“, 
wie fie diefe „Liederbücher“ enthielten, find dann durch die Hand 
eines „Ordners“ unfre Nibelungen zufammengefügt worden ) 
Trotz dieſer eigenthümlichen Anfichten über die Entſtehung des Ger 
dichtz ſchüeßt ſich jedoch Müllenhoff in Bezug auf deſſen Zerlegung 
genau an Lachmann an d). 

Eine Widerlegung Holgmann’s umd Zarnde's in Bezug auf 
die Handiäriftenfrage verfuhten Mar Mieger:) (1855) um 
NR. von Liliencron”) (1856). Rieger gelangt zu bem Er- 
gebniß, „daß jeder andre Tert ſchlechter ift als A, mb C ber 
ſchlechteſte von allen“ 9). Nichtsdeſtoweniger räumt ex ein, „daß 
Lachmann den Werth ber übrigen Handſchriften gegen A unter 
{hät Habe“ 9) und meint, „eine Ausgabe, die in umfaſſender Weile 
mit feinem Sinn A aus den übrigen Handſchriften zu ergänzen, 
zu reinigen und zu beffern unternähme, wäre gewiß eine ſehr in 


1) @bend. 6. 898. — 2) Ebend. ©. 894. — 3) Ebend. ©. 895 
1. — 4) Ebend. ©. 942. — 5) Ebend. ©. 884. — 6) Zar Kritik 
der Nibelunge von Max Rieger. Giefsen 1855. — 7) Ueber die 
Nibelungenhandschrift_C. Sendschreiben an — Goettling vonR. v.Li- 
lieneron. Weimar 1856. — 8) Rieger a. a. ©. S. 30. — 9) Gb. 
©. 118. gl. 6. 108, 


Der Zortbau ber germ. Philologie in den neuften Jahrzehnden. 701 


tereffante Arbeit und wenn bie Nibelungen ber jegigen deutſchen 
Bildung fo nahe ftünden, wie fie follten, eine naturgemäße und 
dankbare* 1). Lilieneron fuchte, durch eine ausführliche Vergleihung 
darzuthun, daß O nur durch eine abjihtliche Umarbeitung von A 
entftanden fein könne, ſowohl was den Snhalt 2), als was bie 
Form betreffe?), wobei er im letzterer Beziehung namentlich die 
Ausfülung ber in A noch fo häufig fehlenden Senkungen hervor 
bob 4). Aber dich alle diefe Bemühungen liefen ſich Holtzmann 
und Zarnde nicht überzeugen, wie fie dies theils in erneuten Ent⸗ 
gegnungen 5), theils dadurch kund thaten, daß fie num ſelbſt Aus⸗ 
gaben des Nibelungenliebes auf Grundlage der Hohenems ⸗Laßberg'⸗ 
ſchen Handſchrift (C) beforgten, Zarnde 1856 9), Holgmann 1857.— 
Wir haben Hier no zwei Männer zu erwähnen, bie Lachmann's 
Anfichten und ihrer Vertheidigung entgegentraten, nämlich Wilh. 
Müller und Heinrich Fiſcher. Der Exftere hatte ſchon 1845 7) 
eine Vermittlung zwifchen der Anfiht, daß unfre Nibelungen das 
Wert Eines Berfaffers feien, und Lachmann's Liedertheorie zu ber 
gründen gefuht, indem er annahın, daß „die Ditung von Rhapfo- 
dieen* den Mebergang vom eigentlichen Volkslied „zu den größeren 
ganz zufammenhängenden Epen machte). Im Anſchluß daran be⸗ 
Mämpfte er jeht (1855) Lachmann's und Müllenhoff's Anſichten 9). 


1) Ebend. ©. 118 fg. — 2) Lilieneron a. a. O. S. 10 fg. — 
3) Ebend. S. 122 fg. — 4) Eben. ©. 175 fg. Dgl. dagegen Zarnde im 
Gentralblatt 1856, S. 641, und Bartsch, Untersuch, üb. das Nib. 1865, 
8. 281. — 5) Holgmann, Kampf um ber Nibelunge Hort, Stuttgart 1855, 
und deſſen Kritifen in den Heibelberger Jahrbüchern (namentlich 1859, 
Nr. 31. — Zarnde, Beiträge zur Erklärung und Geſchichte bes Nibelungens 
liedes, Leipzig 1857, und deſſen Kritiken im Literariſchen Gentralblatt (1854, 
Sp. 115, Zuftimmung zu Holgmann; 1855, Sp. 128 und 398 gegen Müllen- 
hoff; 1858, Sp. 59 gegen Rieger; 1856. Ep. 639 gegen Lilieneron). — 
6) Dritte Aufl. 1868. — 7) W. Müller, Ueber die Lieder von den 
Nibelungen, in ben Göttinger Studien 1845, Abthlg. II, 8. 275—836. 
(Schon früher (1841) hatte W. Müller eine mythologiſche Erklärung ber 
Nibelungenfage verſucht.) — 8) Ebenb. ©. 310. Vgl. S. 276. — 9) Vgl. 
beſonders W. Müller's Beleuchtung von Lachmann's Kriterien unechter Stro: 
phen, @ötting. gel. Anz. 1855, ©. 700 fg. 





702 Bierted Bud. Siebentes Kapitel. 


Doch ‚nur die Unhaltharkeit der Lachmanu'ſchen Hypotheſe“, ale 
nur, daß das Gedicht von der Nibelungen Noth feine Sammlung 
von Liedern fein kann, wollte er zeigen, nicht aber, daß es, fo wie 
es vorliegt, Einen Verfaſſer habe“ ?). Dagegen gelangte Heinrich 
Fiſcher (1859) zu dem Ergebnis: „Das Nibelungenlied ift das 
Wert Eines Dicters, und die Handſchrift O enthält, von einzelnen 
BVerderbniffen abgefehen, den urfprünglichen Text“ ?). 

Eine neue Wendung nahm der Streit über bie GEntftehung 
des Nibelungenliedes, als Franz Pfeiffer in einem Vortrag 
ben er am 30. Mai 1862 in der Zaiferlihen Afabemie zu Wien 
hielt 3), die Anſicht durchzuführen ſuchte, der von Kürenberg, von 
dem wir eine Anzahl lyriſcher Strophen befigen, habe etwa in 
den Jahren 1120 His 1140 das Nibelungenlied gebichtet ). Er 
ftügt diefe Annahme auf folgenden Schluß: Unter ben beutfcen 
Dichtern des 12. und 13. Jahrhunderts galt das Gebot, daß der 
Erfinder einer Weife zugleich deren Eigenthümer war. Ein Anderer 
durfte fie wohl umgeftalten, aber nicht unverändert zu eigenen 
Diätungen verwenden. Nun ift. die Nibelungenftrophe keineswegs, 
wie man bisher angenommen hat, ein allgemeiner vollsmäßig gi 
iger Vers, fondern, da fie vor ber Mitte des 18, Zahrhunderts 
kein erzählendes Gebicht zeigt aufer den Nibelungen, das Kunftwert 


1) ®. Müller in den Götting. gel. Anzeigen 1855, ©. 699. — 
2) Nibelungenlied oder Nibelungenlieder? Eine Streitschrift von 
Heinrich Fischer. Hannover 1859, 8. 149. — 34 führe hier noch bie 
Abhandlung von Ed. Paſch an (zuerſt als Programm ber Realſchule zu Perle: 
berg erſchienen, dann wieber abgebrudt in der Berliner Zeitschr. für das 
Gymnasialwesen 1864, I, 8. 81 fg.). Das Ergebnis bes Verfafjers iR: 
„Weder A ift Grundtert von C, noch C Grundtert von A, fonbern beiten 
liegt ein gemeinſchaftlicher Tert zu Grunde; und zwar ſieht ſowohl C als 
aud A zu bemfelben in dem Verhältniß einer Ueberarbeitung“ (8. 106 fg.)- 
— 3) Almanach der kais. Akademie der Wissenschaften 1862, 
8. 171-218. — 4) Ebend. 8, 187. 208. — Einen anderen Verſuch, das 
Niselungenlied einem genannten Dichter zuzufgreiben, Hatte (1839) R. Roib 
gemacht, indem er Rudolf von Ems für deſſen Verfaſſer erklärte (S. Deutjche 
Predigten bes XIT. u. XIII. Ihs. Herausgegeben von K. Rath, Quedlinburg 
und Leipz. 1839, ©. 6). 


Der Fortbau ber germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 708 


eines Einzelnen. Wer ihr Erfinder war, Tann nicht zweifelhaft 
fein. Es muß ber Kürenberger gewejen fein. Denn bie Strophen, 
die wir von biefem befigen zeigen vollftändig dieſelbe Form, wie 
die des Nibelungenliedes. Diefe Form gehörte alfo dem Küren- 
berger als ihrem Erfinder, und da fi nad) dem oben angeführten 
Grundſatz fein Anderer diefer Form bedienen durfte, fo muß er 
auch Verfaſſer des Nibelungenliedes fein. Unfer Nibelungenlieb, 
wie wir e8 noch befigen, ift jedoch nicht das Originalwerk des Kür 
renberger's, ſondern eine Umdichtung feines Werkes, die nicht vor 
dem Jahr 1190 gemadt worben ift. 

Drei Jahre nad Pfeiffer's Vortrag erfienen (1865) bie 
umfaffenden „Unterfugungen über das Nibelungenlied” von Karl 
Bartſch, von welchen derſelbe fon im September 1862 auf ber 
Bhilologenverfammlung zu Augsburg vorläufige Mittheilungen ge 
geben Hatte. Vorbereitet durch feine Forſchungen über die Um« 
arbeitungen ber beutjhen Dichtungen aus dem kerlingiſchen Sagen- 
kreiſe unterfucht Bartſch, ob nicht den überlieferten Texten unferer 
Nibelungen ein älteres Werk zu Grunde liege Er richtet dabei 
fein Augenmert Hauptfählig auf die Reime und den Versbau. 
Aus der Vergleichung der verfdiedenen Texte ergibt fi ihm, daß 
deren Abweihungen in den gemeinfamen Strophen fehr häufig da- 
duch entjtanden find, daß man einen älteren ungenauen Reim 
durch einen genaueren zu exfegen fuchte, wobei dann der eine Ueber⸗ 
arbeiter diefen, der andere jenen Weg einſchlug. Indem nun 
Bartſch die freieren Neime, die fih aus den ums überlieferten 
jüngeren Texten noch gewinnen laſſen, an' der Entwidelungsgefdichte 
des Neimes prüft, wie fie uns im zahlreichen Dichtungen bes 
12. Jahrhunderts vorliegt, gelangt er zu folgendem Ergebnis: Die 
Abfaſſung des Nibelungenliedes in feiner urfprünglichen Geftalt 
haben wir um 1140—1150 zu fegen. Gewiß hat es im ber erften 
Hälfte des 12. Jahrhunderts Volfslieber aus dem Kreiſe der bur- 
gundiſchen Sage gegeben, daneben aber au eine mündlich fort- 
gepflanzte Erzählung derjelben Begebenheiten. Auf Grundlage bei- 
der dichtete der Kürenberger um 1140 das Nibelungenlied. Hierin 
ſchließt fih Bartſch den Gründen Franz Pfeiffers an, indem er 


704 Biertes Bud. Siebentes Kapitel. 


biefelden noch mehr zu befeftigen ſucht. Das um 1140 entftanbene 
Original erfuhr etwa 1170— 1180 eine erſte Ueberarbeitung, und 
diefe Weberarbeitung wurde dann zwiſchen 1190 und 1200 von 
neuem umgeftaltet und zwar ziemlich gleichzeitig durch zwei Dichter, 
die unabhängig von einander arbeiteten. Die eine Umgeftaltung 
liegt ung vor in ber St. Galler Handſchrift (B) und der mit ihr 
verwandten Gruppe, zu welcher aud die Hohenems - Mürndener 
Handſchrift (A) gehört. Denn die in Handſchrift A fehlenden 
Strophen find nur aus Nacläffigteit vom Schreiber ausgelafien. 
Die andere Umgejtaltung Bietet die Hohenems -Laßberg'ſche Hand- 
ſchriſt (0) und ihre Verwandten. Ihr Urheber arbeitet mit mehr 
Eonfequenz, als der der eriteren Umgeftaltung, hat aud eine be 
deutende Anzahl neuer Strophen hinzugedichtet, welche der gemein 
famen Grundlage beider Umgeftaltungen fehlten; aber bie erftere 
Umgeftaltung (B u. f.f.) ift der Vorlage treuer geblieben. Auch 
beweift die große Anzahl von Handſchriften, in denen fie fi er 
halten Hat, daß fie bie verbreitetfte und beliebtefte war. „Höchftes 
Biel der Kritit wäre nun allerdings, den verlorenen Driginaltert 
beider Bearbeitungen wieberzugemwinnen.“ Aber dies Biel zu er- 
zeichen, müffen wir verzichten, weil die Bearbeiter zu weit ausein⸗ 
andergehen. Wir müſſen uns deshalb an bie beiden gleichberechtig⸗ 
ten Bearbeitungen halten, in denen das Werk vorliegt. „Ausgaben 
beiber Texte werben daher Tünftig neben einander beftehen Können.“ 
Auf Grundlage der St. Galler Handſchrift (B) Hat dann Bartſch 
(1866) !) feine Ausgabe des Nibelungenliebes veranftaltet, deren 
einmal populär gewordenen Titel (Nibelungenlied) er jedoch dem 
Schluß der Handſchrift O entlehnte Vier Jahre darauf lich 
Bartſch feine große Ausgabe des Gebichtes folgen: Der Nibelunge 
Nöt mit den Abweichungen von der Nibelunge Liet den 
Lesarten sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuch. 
Erster Theil, Text. 1870 2). 


1) 2. Aufl. 1869. — 2) Unfere Mufgabe war Hier, eine überfigtlide 
Darſtellung des Ganges zu geben, ben ber Streit über bie Entſtehung dee 
Nibelungenliebes genommen hat. Cine volfländige Bibliographie Hätte natür⸗ 


Der Fortbau ber germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 706 


Ueberbliden wir bie Thätigteit ber Ieten zwanzig Jahre auf 
dem Gebiet der Nibelungenkritik, fo ſehen wir, daß ein jehr großer 
Theil der Forſcher Lachmann's Herftellung der angeblichen zwanzig 
Lieder, aus denen das Gedicht zuſammengeſetzt fein foll, verwirft. 
Fragen wir aber ambererjeits, ob es irgend einem ber anderen 
Forſcher gelungen fei, die Gegner von feiner Anſicht über die Ent- 
ftefung des Nibelungenlieds zu überzeugen, fo müflen wir auch 
dies verneinen. Auch nah dem Erfdeinen von Holtzmann's und 
Zarndes, Pfeiffer's und Bartſch's Unterſuchungen Hält ein bebeu- 
tender Theil der Forſcher im Wefentlihen an Lachmann's Aufftel- 
lungen feft. Die kleine Schrift von Julius Zupiga gegen Pfeiffer 
(1867), die Abhandlung von K. Meyer „Zur deutfhen Helden- 
ſage“ ') legen hievon nicht Bloß für ihre Verfafler, fondern auch 
für deren Meifter Zeugniß ab. Wir erkennen bies um fo fidherer, 
wenn wir auch 1866 noch W. Wadernagel, obwohl er bei Beur- 
theilung der einzelnen Lieber dem höfiſchen Element einen meiter 
gehenden Einfluß zuſpricht als Lachmann, doc weſentlich deſſen 
Standpunkt vertreten fehen ?). Wir find num weit entfernt, dieſes 
durchgreifenden Zwieſpalts wegen die Bedeutung ber Unterfuchungen 
über den Urfprung bes Epos zu verfennen. Wir ehren den darauf 
verwandten Scharffinn und hoffen, daß wir der Löſung des über 
aus ſchwierigen Problems immer näher rüden werben. Aber für 
die Praxis ergibt fi uns aus dem Verlauf der Unterſuchungen 
lich auch auf alle Einzelftagen Rüdficht zu nehmen. So auf bie Unterfuchuns 
gen ber Hiflorifer Über das Geſchichtliche, wie bie von €. 2. Dümmier über 
Pilgrim von Paffau (1854), von ©. Waiß über ben Kampf ber Burgunder 
und Hunen (1860). Ebenſo können wir bie Schriften über ben dichteriſchen 
Werth des Nibelungenliebes, wie bie von 2. Bauer (1830), von Dr. Timm 
(1852), von Hugo Wislicenus (1867) Hier nur berügren. Dgl. bie Biblio: 
graphiſche Zufammenflelung in Zarnde's Ausgabe bes Nibelumgenliede, 
3. Aufl, 1868, Einleitung S. XXI— LI. — 1) Deuthche Biertetjaprefgrift 
1869, ©. 26-49. Bgl. bei, ©. 35. — Bol. auf W. Scherer's Abhanb: 
kung „Weber das Nibelungenlieb“ in ben Preuß. Jahrbilchern, Bb. XVI 
(1865), ©. 253 fg., beſ. ©. 253. 263, und besfelben Schrift über Sper- 
vogel (Wien 1870) ©. 22 fg. — 2) Sechs Bruchstücke einer Nibelun- 
genhandschrift, her. von W. Wackernagel. Basel 1866. 

Raumer, Geiö. der germ. Philologie, 45 


706 Biertes Bud. Giebentes Kapitel. 


Über die Entftehung bes Nibelungenlieds bie Lehre, daß wir das 
Wert vor allen Dingen fo Iefen müflen, wie es im der Blütezeit 
der mittelhochdeutſchen Dichtung, in der erften Hälfte bes 13. Jahr⸗ 
hunderts gelefen worden if Mögen wir uns dann immerhin, ein 
Jever in feiner Weiſe, ben ums unzugänglicen Zuſtand unfrer 
Heldendichtung fo vollkommen denken, als es uns gefällt. Ber 
derben wir ums aber die Freude an dem, was wir wirklich haben, 
dadurch, daß wir es herabwürdigen gegenüber dem, was wir nicht 
mehr haben, fo gleichen wir dem Hund in der Fabel, der das 
Stüd Fleiſch, das er im Maule trug In den Fluß fallen ließ, um 
nad} dem zu ſchnappen, das er im Wafferfpiegel erblidte. 

Gehen wir zu den anderen Theilen unfrer Heldendichtung 
über 1), fo find vor allen der Gudrun vielfache Bemühungen zu- 
gewandt worden. Ausgaben bes Tertes veranftalteten Adolf Bier 
mann (1835), J. Vollmer (1845), Karl Bartih (1865), L. Ett⸗ 
mülfer (1841), Karl Müllenhoff (1845) und W. von Ploennies 
(1858), die drei legten mit dem Verſuch, echte und unechte Theile 
nachzuweiſen. Kritiſche und erläuternde Bemerkungen zur Gudrun 
Hieferten außer ben eben genannten Serausgebern Konrad Hofmann 
(1867) und Ernft Martin (1867). Um die übrigen Dichtungen 
der deutſchen Heldenſage machten ſich verdient Moriz Haupt 2), 
Karl Mulllenhoff ), Ernſt Martin‘), Oskar Janicke 5), Adoif 
Holtzmann %), Th. von Karajan 7), K. Goedele ©), Adelbert von 
Keller 9, K. Frommann 10), Fr. Zarnde!t), Franz Stark !2), Oslar 


1) Auch Hier iſt zurädguverweifen auf das, was oben über W. Grimm, 
F. 9. von ber Hagen, Uhlanb m. A. gefagt worden if. — 2) Verdffent 
lichungen und Bemerkungen in Haupt’s Zeitfchrift für deutſches Alterthum. — 
3) @bend., und Antheil am Martin’s, Zänide's und Zupiha's Heldenbuch. — 
4) Deutsches Heldenbuch II (Alpharts tod u. A.) Berlin 1866. — 
5) Deutsches Heldenbuch I (Biterolf u. A.). Berlin 1866. — 6) Der 
grosse Wolfdieterich. Heidelberg 1866. — 7) Frühlingsgabe, Wien 
1839 (Bruchstücke des Walther von Spanien). — 8) Konine Ermen- 
rikes döt, Hanov. 1851. — 9) Daa deutsche Heldenbuch nach dem 
muthmasslich ältesten Drucke. Stuttgart 1867. — 10) Haugäie- 
terich und Wolfdieterich. (In Haupt's Zeitschr. IV, 1844, 8, 401-469). 


Der dortbau der germ. Philologie in ben neuſten Jahrzehnden. 707 


Schade 1), Julius Zupiga ?). Beiträge zur Unterjuhung ber 
deutfchen ‚Heldenfage gaben K. Mültenhoff ?), W. Müller, Emil 
Sommer, Mar Rieger, A. Raßmann, K. Meyer u. 9. 

Wir haben abſichtlich die deutſche Heldendichtung etwas ein- 
gehender behandelt. Die übrigen Gebiete faffen wir kürzer zu⸗ 
ſammen. Unter ben Herausgebern mittelhochdeutſcher Werle, — 
wir nehmen den Ausdrucdk mittelhochdeutſch Hier noch im weiteſten 
Sinn — ift vor allen zu nennen Franz Pfeiffer‘. Talent 
und Zleiß vereinigten fi, um ihn zu einem mufterhaften Heraus» 
geber zu machen. Wir können hier bloß feine Hauptarbeiten an- 
führen: Barlaam und Joſaphat 1843, Boner’3 Edelſtein 1844, 
Marienlegenden 1846, Wigalois 1847, Mai und Beaflor 1848, 
Heingelein von Konftanz 1852, Jeroſchin 1854, Walther dom der 
Vogelweide 1864. Zu diefen kritiſch und zum Theil auch eregetiſch 
behandelten Werken kommt dann noch ber forgfältige Abdruck ber 
Weingartner (1843) und Heidelberger (1844) viederhandſchrift. 
Aber trotz diefer Höchft bedeutenden Thätigfeit für die Dichter liegt 
doch das größte und eigenthümlichfte Verdienſt Pfeiffer's darin, 
daß er fih mit gleichem Erfolg auch den Profailern zumenbete. 
Seine deutſchen Meyftifer des. 14. Jahrhunderts (I. 1845. II. Meis 
fter Echart 1857), feine Ausgabe der „Theologia deutſch“ 1851, 
des Berthold von Negensburg 1862, des Konrad von Megenberg 
1861, brechen für bie deutſche Proſa des 13. und 14. Jahrhunderts 


— 11) Kaspar von der Roen (in Pfeiffer's Germania I, 1856, 
8.58 fg.). — 12) Dietrichs erste Ausfahrt. Stuttgart 1860. — 
1) Sigenot, Hanov. 1854. Laurin, Leipz. 1854. — 2) Deutsches 
Heldenbuch. Fünfter Teil. Dietrichs Abenteuer von Albr. v. Ke- 
menaten u.s.w. Berl. 1870. — 3) Haupt's Zeitschr. X, 146 fg. XII, 
253 fg. 413 fg. — 4) Geb. 1815 zu Betilach bei Solothurn, beginnt 
1834 zu Münden das Stubium ber Mebicin, vertauſcht bie aber unter 
Mofmann’s Leitung mit dem ber deutſchen Philologie; dann laͤngere Zeit 
auf Reifen mit der Sammlung handſchriftlichen Materials unermübli bes 
ſchaftigt; 1846 Bibliothekar in Stuttgart; 1857 Prof. der deutſchen Sprache 
und Sit. an der Univerf. Wien; gefl. 29. Mai 1868. (Pfeiffer's Biographie 
von X. Bartſch, vor bem Briefwechfel zwiſchen Laßberg und Upland. Wien 1870.) 
45* 


708 Viertes Bug. Giebentes Kapitel. 


eine neue Bahn. — Nächſt Pfeiffer nennen wir Karl Bartid 1) 
als einen der gemandteften und Beftausgeräfteten Herausgeber 
mittelhochdeutſcher Werke. Unter feinen hierhergehörigen Arbeiten 
erwähnen wir feine Ausgaben von des Strider’s Karl (1857) der 
Erlöfung (1858), der mitteldeutſchen Gebihte (1860), bes Mele- 
ranz (1861), des Albrecht von Halberftabt (1861), ber Liederdichter 
des XI. bis XIV. Jahrhunderts (1864), des Herzog Ernſt (1869). 
Weiter find als Herausgeber mittelhochdeutſcher (und mitteldeutfcher) 
Werke zu nennen K. Frommann (Herbort 1837), Adelb. von Kel- 
ler (Walther von Rheinau 1855. Martina 1856. Konrad's von 
Wurzb. Troj. Krieg 1858); Theod. von Karajan ?2) (Ulx. von 
Lichtenſt. 1841. Helbling 1844 u.%.); K. A. Hahn) (Rangelet. "Otte 
mit beim Barte. Kleinere Gedichte des Strider. Gedichte des 12. u. 
18. Jahrhunderts. Baffional. Jüngere Titurel), 8. Köpke (Paſſional), 
Emil Sommer‘) (Gute rau 1842. Flore 1846), H. Rüdert 
(Wälfe Gaſt 1852. Philipp's Marienleben 1853. Lohengrin 
1858), Fedor Beh (Hartmann von Aue 1867 fg.), 2. Ettmüller 
(Hadlaub 1840. Frauenlob 1843), F. Keinz (Meier Helmbrecht 
1865), W. Wilmanns (Walther 1869), G. H. F. Scholl (Türkn, 
Erone), Fr. Liſch, Yof. Bergmann, Franz Roth, K. Roth, H. Weis 
mann, J. Seifalit, W. Müller, Mar Rieger, Ernft Strehlke, Ian. 


1) Geb. 1832 zu-Sprotteu, ſtud. zu Breslau und Berlin Philologie, 
insbefonbere german. und roman. Sprachen; 1855 au german. Mufeum in 
Nürnberg angeſiellt; 1858 ord. Prof. der deutſchen und roman. Philologie in 
Roſtock; ebenfo thätig auf dem Gebiet der romaniſchen, namentlid) provenzeli- 
ſchen und altfeanzdf. Philologie, wie auf dem ber germaniſchen [Brodhaus (11). 
— 2) Geb. 1810 zu Wien, 1850 Prof. ber deutſchen Sprache und Lit. an 
der Univ. Wien, 1848 Mitglied, 1866 Präfibent ber Afabemie ber Wiſſen⸗ 
ſchaften zu Wien (Brodhaus, Real-Encyhkl. (11) VIII, 636). — 8) @eb. zu 
‚Heidelberg 1807, ſtud. daſelbſt, 1839 Privatdocent, 1847 außerord. Profeffor 
an ber bortigen Univerfität, 1848 Prof. in Prag, 1852 in Wien, + 1857 
(Eonftant von Wurzbach, Biogr. Lerikon bes Kaiſerthums Defterreidh, Thl. VII 
Gien 1861), &. 201). — 4) Geb. zu Oppeln 1819, ſtud. in Breslau 
und Berlin deutſche Philologie, 1844 Privatdoc. in Halle. + 1846 (Reuer 
Nekrol. der Deutfhen, Jahrg. 1846, I, 456 fg.) 


Der Fortbau ber germ. Philologie in den neuften Jahrzehnden. 709 


Bingerle, Weinhold Bechſtein, Elard Hugo Meyer, Jul. Zupita, 
8. Schädel u. A 

Die Erforf gung ber Sprache bes 12.—15. Jahrhunderts warf 
ſich mehr und mehr auf bie Unterjugung der einzelnen Mundarten. 
Namentlih war Franz Pfeiffer in biefer Richtung thätig. 
Dies führte ihn nicht nur (1862) zur erneuten Anregung der noch 
nicht abgefähloffenen Frage nach der Entftehung ber höfiſchen Sprache, 
fondern es veranlaßte ihn auch (1845) zur Nachweiſung der vom 
Mittelhochdeutſchen unterſchiedenen mitteldeutichen Mundart, welcher 
eine Reihe von Werken des 12.— 14. Jahrhunderts, wie bie bes 
Herbort von Fritslar, bes Frauenlob und anderer Schriftfteller 
des mittleren Deutſchlands angehören. Diefer Nachweis war um 
fo wichtiger, als mit jener mitteldeutſchen Mundart das Neuhoch⸗ 
deutſche in naher Beziehung fteht. Weberhaupt aber war die Uns 
terfuhung der alten Mundarten von befonderem Werth für die 
Uebergangszeit des 14. und 15. Jahrhunderts. Zur Kenntniß der 
Sprache des 14. Jahrhunderts Hatte ſchon früher (1829 fg.) Auguft 
KRoberftein einen gründlichen Beitrag geliefert in feinen Unterſuchun⸗ 
gen über bie Sprade des Sudenwirt. Für die Literatur jener 
Jahrhunderte ift im neuerer Zeit ſehr viel geſchehen. Es treten 
darin hervor das weltliche und geiftlihe Lied, das Drama, bie 
Didaktik und vor allen die Profa. Die bebeutendften Leiftungen 
für das Lieb greifen wefentlih in bie entſchieden neuhochdeutſche 
Zeit hinüber, and wir wollen fie deswegen dort anführen. Für 
das Drama find bei weiten bie wictigfte Veröffentlihung Adel- 
bert von Keller’31) Faftnachtsipiele aus dem 15. Jahrhundert 
(1853 fg). Außerdem waren auf biefem Gebiet (neben Mone) 
tätig F. Stephan, 2. und Reinhold Bechſtein, Adf. Pichler, K. Bartſch, 
A. F. C. Bilmar, Mar Rieger, H. Werner, Ben. Greiff u. A. Für 


1) Geb. 1812 zu Pleidelsheim in Würtemberg, ſtud. 1830 — 34 in 
Tübingen Theologie, wibmet ſich zugleich unter Uhland's Leitung dem Stu 
bium ber miitelalterl. Ziter., 1835 Privatbocent, 1844 orb. Prof. ber deut⸗ 
ſchen Lit. in Tübingen, ſehr thätig für Herausgabe alideutſcher und altromas 
niſcher Dichtungen (Brodjaus (11) WIN, 754 fg.). 


710 Viertes Bud. Siebentes Kapitel. 


bie didaltiſche und erzählende Poefie des 14. Jahrh. erwähnen wir 
Theod. v. Karajan's Abhandlung über den Zeichner (1854) und 
8. J. Schröer's über Heinrih von Mügeln (1867), für bie bes 
15. Jahrh. U. W. Strobel's (1839) und vor allem Friedrich 
Barnde’s in ſprachlicher und fachlicher Hinſicht gleich wichtige 
Ausgabe von Brant's Narrenſchiff (1854). Außerdem machten 
ſich um Herausgabe hieher gehöriger Dichtungen verbient Abelb. 
von Keller, W. Holland, 8. U. Barad, TH. Merzdorf u. A. 
Was die Profa betrifft, fo Haben wir Pfeiffer’ Verdienſte 
ſchon erwähnt. Wir nennen hier noch als Herausgeber beut- 
fer Predigten und anderer geiftliher Schriften des 12.— 
15. Jahrhunderts K. Roth (1839), Herm. Leyfer (1838), Frz. 
8. Grieshaber (1842 fg), Joh. Kelle, Karl Schmidt, Herm. 
Palm, W. Preger, Reinhold Bechſtein (Beheim's Eoangelienbuch 
1867), Joſeph Haupt (1864). Um die weltliche didaktiſche und 
erzählende Profa machten fi) verdient Abelb. von Keller (Geste 
Rom. deutſch 1841. Niclas von Wyle 1860. Steinhöwel 1860) 
und W. 2. Holland (Buch der Beiſpiele 1860), 8. D. Haßler 
u. A. Bon bejonderer Wichtigkeit war im 13.—15. Jahrh. die 
Nehtsprofa, zuerft noch mittelhochdeutſch im Schwabenfpiegel, ben 
W. Wadernagel (1840), 3. 2. A. von Lafderg, ein Sohn Joſephs 
von Laßberg (1840) und H. ©. Gengler (1851) herausgaben; 
dann immer mehr munbartlih auseinandergehend. In letzterer 
Hinficht find auch für die Sprachforſchung namentlich die zahlreichen 
Weisthümer fehr wichtig, für deren Sammlung und Herausgabe 
J. Grimm's großes Werk eine weit verbreitete Thätigfeit anregte. 
Ebenfo die feit dem 13. und 14. Jahrh. immer überwiegender 
deutſch abgefaßten und in neuerer Zeit mit großem Fleiß heraus⸗ 
gegebenen Urkunden und Staatsakten. Wir dürfen auf alle dieſe 
Schriften, deren Inhalt einem anderen Gebiet angehört, nicht näher 
eingehen und erwähnen nur beifpielsweile 2. Frz. Höfer's Auswahl 
der älteften Urkunden deutſcher Sprache im Archiv zu Berlin 
(1835), indem wir zugleich auf die ungemeine Wichtigkeit hinweiſen, 
welche die durch Jul. Weizſäcker (1867) begonnene urkundlich treue 
Herausgabe der Reichstagsalten auf für die Sprachforfhung hat. 


Der Fortbau der germ. Philologie in ben neuſten Jahrzehnden. 711 


Ebenſo müffen wir die nähere Darftellung deffen, was für bie 
Herausgabe der deutſchen Geſchichtsquellen gethan worben iſt, ber. 
Geſchichte der Geſchichtsforſchung überlaffen und uns begnügen, 
das bebeutendfte Hierher gehörige Unternehmen zu erwähnen: Die 
Sammlung der deutſchen Städtechronilen durch K. Hegel (1862 fg.), 
wobei für bie ſprachliche Seite auf hochdeutſchem Gebiet Matthias 
Lerer thätig war. 
Aenhochdentſch. 

Wir knüpfen hier an das an, was wir bei Gelegenheit des 
Grimm'ſchen Wörterbuchs geſagt haben, und erwähnen zuerſt, daß 
jenes großartige Unternehmen nach dem Tode ſeiner berühmten 
Grimder an Karl Weigand, Rudolf Hildebrand und 
Moriz Heyne Fortſetzer gefunden Hat, die es mit deutſchem 
Fleiß und deutſcher Grünblichteit im Geifte feiner Urheber weiter⸗ 
führen. Unter ben Heineren Wörterbüchern der neuhochdeutſchen 
Sprade zeichnet fi das von Karl Weigand (1857 fg.) durch 
wiſſenſchaftliche Zuverläffigkeit aus). Won den zahlreichen für 
praltiſche Zwede beftimmten Wörterbüchern nennen wir nur bei 
fpielsweife die von Daniel Sanders (1860 fg.), I. H. Kaltſchmidt, 
F. A. Weber u. ſ. w. In Betreff der Synonymik betrat 8. Weis 
gand in gründlicher Weiſe (1840, 1852) den geſchichtlichen Leg. 
Ein praktifes Hülfsmittel Bietet Chriſt. F. Meyer's Handwörter- 
buch deutſcher ſinnverwandter Ausdrücke (1849). Reiches Material 
für die Anfänge des Neuhochdeutſchen gewähren die Arbeiten von 
Lorenz Diefenbach (1857. 1867) 9). 

Die Grammatit des Neuhochdeiltſchen wurde weniger zu 
wiſſenſchaftlichen als zu praltiſchen Zweden bearbeitet. In wiſſen⸗ 
ſchaftlicher Beziehung haben wir hier zu nennen außer der ganz 
ungenügenden Grammatik der deutſchen Sprache bes 15. bis 
17. Jahrh. von Joſ. Kehrein (1854 fg.) bie Neuhochdentſche Gram- 
matif (Buchftaben und Endingen) von K. A. Hahn (1848), die 


D) Der Heyſe ſchen Wörterbücher haben wir [on früher (S. 629) Er⸗ 
wähnung gethan. — 2) Glossarium Latino - Germ. modine & infimas 
aetatis 1857, und Novum Glossar. 1867. 


712 Viertes Bud. Siebentes Kapitel. 


deutſche Syntax von Theodor Vernaleken (1861 fg.), F. Zinnom, 
die abgeftorbenen Wortformen- der deutſchen Sprache (1843), Adalb. 
Syeitteles über bie neuhochdeutſche Wortbildung (1865) und Aehn⸗ 
lies. Doc gehören die meiften derartigen Schriften nicht ſowohl 
der Wiſſenſchaft ausſchließlich, als vielmehr einer gewiſſen Vermit⸗ 
telung zwiſchen Wiffenfhaft und Praxis an!). (Die Arbeiten über 
die Sprache einzelner deutſcher Schriftfteller erwähnen wir zum 
Theil an anderen Orten. Hier führen wir nur an die Schrift von 
ZU O. 8. Lehmann über Goethe's Sprache (1852) und die von 
R. Guſtaf Andreſen über die Sprade J. Grimm's (1869)). Um 
fo zahlreicher find bie ganz ber Praris beftinmten Bearbeitungen 
der neuhochdeutſchen Sprache: die bald größeren, balb Heineren 
und Meinften deutſchen Schulgrammatiten. Wir haben natürlich 
in einer Geſchichte der Wiſſenſchaft nicht die Aufgabe, diefe zum 
Theil recht verdienftlien Bücher vollftändig aufzuzählen, da es in 
ber Regel nicht in ihrer Abſicht liegt, bie Wiſſenſchaft zu bereichern. 
Wir benügen uns, nur einige davon beifpielsweife anzuführen. 
So die von Otto Schul, K. A. Jul. Hoffmann, F. Ko, 
F. Bauer, U. Engelien, Lor. Englmann, O. Lange, 9. Bohm und 
W. Steinert, u. f.w. Ich Habe abſichtlich auch einige ber Hleinften, 
für den allgemeinften Elementarunterrict beftimmten Grammatilen 
mitgenannt, ohne doch in das weite Gebiet der eigentlich päbago- 
giſchen Literatur Kinüberzugreifen. Der Werth der einzelnen Bücher 
ift natürlich Hier, wie überall, ein fehr verſchiedener. Aber bie 
ganze Erſcheinung, daß trog Grimm’s Verdammungsurtheil ſich 
nicht nur die älteren Schulgrammatiken, wie bie von Heyfe, im 
ausgebehnteften Gebrauch erhalten haben, fonbern auch nod eine 
große Menge neuer und ſtark begehrter „Grammatilen der ein 
heimiſchen Sprache für Schulen und Hausbebarf* Kinzugelommen 
tft, beweiſt zur Genüge, daß ber große Forſcher ſich in ber Auf 
faffung unfrer neuhochdeutſchen Schriftſprache geirrt hat. Er hat 
ganz Recht gegenüber bem thörichten Gedanken, als könne die Gram- 


1) In biefe Gattung gehört aud das Buch von 2. Edler: Die deutige 
Sprachbildung (I. 1847, IL. 1849). - 


Der Fortbau ber germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 718 


matif die Sprache erzeugen, über bie Aufgabe der praktiſchen Gram⸗ 
matik, vegelnd in die Sprache des Schülers einzugreifen, wird von 
ihm verlannt, weil er das Weſen der feit vielen Menſchenaltern 
ſchulmäßig behandelten Schriftſprache umd das der rein naturwid- 
figen Vollsmundart nit unterſcheidet. Zu diefer Verirrung kam 
dann die weitere, in den lautlihen Veränderungen ber Sprade 
nur das phyſiologiſch gefegmäßige, nit aber das Hiftörifh freie 
Element in Anfchlag zu bringen, fo daß man zulegt bei dem con- 
ſtruierenden Umfturz unfrer zu Recht beftehenden Schriftſprache an⸗ 
Iangte, ber fi in ber fogenannten hiftorifhen Schreibweiſe geltend 
machen wollte. Einer unfrer vorzüglichſten Sprachforſcher, 8. Wein- 
hold, führte die Hei Grimm zu Teiner völligen Klarheit gebiehene 
Anſicht confequent dur (1852) i), umd gab fo den Anlaß, bie 
Grundlagen derjelden zu unterfuchen und ihre Unhaltbarkeit ſowohl 
aus bem Wefen ber fpradlichen Ueberlieferung überhaupt, als aus 
der Geſchichte unfrer Schriftiprage zu erweiſen. Wir birfen ung 
bier in die Einzelnheiten dieſes Streites nit näher einlaffen und 
begnügen ung, einige der bedeutenderen auf ihn bezüglichen Schrif- 
ten und Abhandlungen in der Anmerkung 2) anzuführen. 


1) Weinhold ſelbſt ift übrigens fpäter von feiner damaligen Anſicht 
qurüdgefommen. &. die Verhandlungen der fünfundzwanzigsten Ver- 
sammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Halle 1867, 
Leipzig 1868, 8. 135. — 2) Wir nennen hier bie Schriften und Abs 
Handlungen von ©. Michaelis (1854 fg.), G. Anbreien (1855 fg.), F. ©. 
deldbauſch (1856), 2. Ruprecht (1854 fg), K. 9. J. Hoffmann (1855 fg.), 
Gottl. Stier (1856 fg), K. Klaunig (1857), W. Sqherer (1866), 8. J. 
Söärder (1868 fg.), Jul. Zacher (1861 fg.), H- Rrak (1858 fg.), H. B. Rum- 
pelt (1869), Franz Linnig (1869), W. Wilmanns (1869), A. Egger (1869), 
Ich mußte mi bei meinen Angaben nothwenbig befcränfen und verweiſe 
deshalb auf die zufegt angeführten Abhandlungen von W. Wilmanns in ber 
Berliner Zeitfehr. für das Gymnaſialweſen XXIII, 1, und von A. Egger in der 
Zeitſcht. für bie öfter. Gymn. 1869, IX u. X. Natürlich babe ih nur 
folge Schriften angeführt, welche die orthographifche Frage zum Gegenftand 
ihrer Erörterung machen, nicht aber die Anleitungen zur deutſchen Orthograppie, 
wie bie von ©. H. Högg, Ferd. Scholl, Lor. Englmann, M. U. Beder, 
gar 





714 Biertes Bud. Siebentes Kapitel, 


Für bie Geransgabe meufogbeuticer Terte find vortrefflice 
Leiftungen zu verzeichnen, fo ungemein viel auch andrerjeits noch 
zu thun übrig bleibt. Wir Beginnen mit der Lieberbichtung, welde 
ben Ausgang des Mittelalters und ben Beginn der neueren Zeit 
miteinander verknüpft. Für das weltliche Volkslied find Hier (neben 
Upland) 1) vor alfen Hervorzuheben „Die hiſtoriſchen Vollslieder 
ber Deutigen vom 13. bis 16. Jahrh. gefammelt und erläutert 
von R. v. Liliencron“ (1865—69). Unter den Anderen, bie 
ſich um das Voltslied verbient gemacht haben, nennen wir F. Leon. 
von Soltau (1836), R. Hildebrand (1856), Ph. Mar Körner 
‚ (1840), 2, Erk (1856), F. 8. Mittler (1855), ©. Scherer (1854 fg.), 
Em. Weller (Lieder des 30jähr. Krieg 1855), Jul. Opel und Abf. 
Cohn (dev breißigjäßr. Krieg, 1862), U. F. €. Vilmar (1867), 
N". Goebele und Jul. Tittmann (1867) 2), und als Herausgeber 
älterer Liederbücher K. Haltaus (Häpferin 1840), Jof. Bergmann 
(Ambrafer Liederbuch 1845), Oskar Schade (Bergreien 1854). Wie 
zeitlich, fo ſcheiden ſich auch räumlich die Volkslieder in verſchiedene 
Gruppen, und bier berüßrt fi ihre Sammlung öfters mit der 
mundartligen Forſchung, obwohl der größte Theil der Vollslieder 
fi der deutſchen Gemeinſprache bedient 3). Wie Hoffmann von 
Fallersleben bie ſchleſiſchen, ſo ſammelte Franz W. von Ditfurth 
franliſche (1855), E. Meier ſchwäbiſche (1855), Ed. Fiedler anhalt- 
deſſauiſche (1847), Frang Tſchiſchta und Jul. Mag Schottth (1844), 
Ant. von Spaun (1845) öſtreichiſche Volkslieder u. f. f. . Eine 
befondere Gattung bes Voltsliebs bildet das Kinderlied. Wir füh- 
ven bier vor allen an €. L. Rochholz alemanniſches Kinberlied 
und Kinderfpiel (1857), dann €. Maier's deutſche Kinberreime 
(A851) u. 4. 


2) S. 0. S. 577 fg. Bgl. auch Hoffmann von Fallersleben 
S. 589 fg. — 2) Der Zeit vor 1840 gehören an die Gamlunges 
von D. 2. B. Wolff (1830), F. K. von Erlach (1834 fg), A. Kregfhmer, 
Maßwann und Zuccalmaglio (1838 fg.), 2. Ext und W. Irmer (1838). — 
3) Bol. Schleſiſche Voltelieder, her. von Hoffuann von Fallerslehen, ©. IV. 
— 4) Son 1817 hatte Joſ. ©. Meinert Volkeliedet in bes Mundart bes 
Kuhländihens (im oberen Obertgaf) herausgegeben. ö 


Der dortbau ber germ. Philologie in ben meuften Jahrzehnden. 715 


Für das geiftli—he Lied ift ein mufterhaft grundlegendes Wert 
„Das deutſche Kirchenlied von der älteften Zeit bis zu Anfang des 
17. Jahrhunderts von Philipp Wadernagel (1864 fg.), eine 
Lebensarbeit, die der Verfaſſer feinem Heineren Werl vom 3.1841 
folgen ließ. Katholiſche Kircenlieder gab gefammelt heraus of. 
Kehrein (1859 fg.).— Mit dem geiftlihen Lied in naher Beziehung 
ſteht das geiſtliche Schaufpiel. Wir erwähnen Hier die Weihnadt- 
fpiele, die 8. Weinhold (1858), K. J. Schröer (1858) heraus⸗ 
gegeben Haben, und das von P. Gall Morel (1863) veröffentlichte 
Spiel von ©. Meinrab?). 

Bon einer anderen Seite fteht mit dem Vollslied das Sprid- 
wort in Verwandtſchaft. Die Unterfuhung besfelben greift einer- 
feits tief in die früheren Perioden unferer Sprache und Literatur 
zurück, andrerſeits verzweigt fie fi in die mundartliche Forſchung. 
In erfterer Beziehung erinnern wir an W. Grimm’s Ausgabe 
bes Freidank und erwähnen zugleih Jgn. Zingerles Schrift 
über die deutſchen Sprißmörter im Mittelalter (1864). In leg 
terer verweilen wir auf unferen fpäteren Abfchnitt über die Er- 
forſchung der Mundarten, indem ein großer Theil der dort auf 
geführten Schriften auch munbartlihe Sprichwörter mitzutheilen 
pflegt. Wir wollen hier nur beifpielsweife G. Schambach's platt- 
deutſche Sprichwörter der Fürſtenthümer Göttingen und Gruben- 
Hagen (1851. 1868) und H. Friſchbier's preußiihe Sprichwörter 
(1865) anführen. Sammlungen, die fih über den ganzen deutſchen 
Sprihmwörterigag verbreiten, unternahmen W. Körte (1837), Sof. 
Eifelein (1840), 8. Simrod, 8. F. W. Wander (1836. 1867), 
Zur Erforſchung der älteren deuten Sprihmwörterfammlungen 
lieferten (neben Hoffmann von Fallersleben) Beiträge Jul. Zacher, 
3. Latendorf, J. Frand u. A. Die bibliſchen Sprichwörter der 
deutſchen Sprache behandelte (1860) K. Schulze, die beutichen 
Rechtsſprichwörter J. H. Hillebrand (1858), Ed. Graf und Ma- 
thias Dietherr (1864). An das Sprichwort fließt fih an bie 


1) gl. o. S. 672 u. S. 709. Die Grängen ber Älteren und neueren Zeit 
laufen Hier oft ſehr in einander. 


716 Viertes Yud. Siebentes Kapitel 


ſprichwörtliche Redensart, wie fie viele Sprihwörterfammlungen 
mitbehandeln 1). Dem Sprichwort verwandt find die zum de 
meingut geworbenen Ausſprüche befannter Urheber, wie fie G. Büd- 
mann in feiner Schrift „Geflügelte Worte, der Citatenſchatz des 
deutſchen Volkes“ (1864 fg.) zufammenftellt. 

Eine eigenthümliche Stellung nimmt das Meifterlied ein. 
Unfre Kenntnis besfelben vermehrten K. Bartſch (Kolmarer Hand- 
ſchrift 1862), Adelb. von Keller (Spangenberg 1861), Ign. Zins 
gerle, Adf. Holgmann u. U. 

Unter den Ausgaben neuhochdeutſcher Schriftfteller fallen na- 
türlich nur ſolche in unferen Bereich, an denen fih die philolo- 
giſche Behandlungsweife bethätigt hat.  Dahin gehören aus ber 
Literatur des 16. Jahrhunderts bie von H. E. Bindſeil kriitiſch 
bearbeitete Ausgabe von Luthers Bibelüberfegung (1850) und 
8. Frommann's auf den gründliäften Studien ruhende Bolls 
ausgabe besjelben Buches (1867 fg). Unter ben Schriften über 
Luther's Sprache Heben wir hervor nächſt ben einzelnen Mittheil- 
ungen Frommann's (1862) das Wörterbuch zu Luther's Schriften 
von Ph. Dietz (1870), und bie Schrift von E. Opig über die 
Sprade Luthers (1869) 9. Demnächſt nennen wir E Bödings 
teefflihe Ausgabe von Hutten’s Werten (1859 fg.). Außerdem 
machten ſich um bie Literatur des 16. und beginnenden 17. Jahr⸗ 

haunderts verdient K. Goedele (Gengenbach 1856, Hans Sachs 
1870), Heinr. Kurz (Murner 1848, Waldis 1862, Widram 1865, 
Fiſchart 1866 u. A.), Ost. Schade (Sativen und Pasquille 1856 fg.), 
H- M. Rottinger (Ruff 1847 fg), K. Haltaus (Teuerdant 1836), 


1) Die fliegende Gränze zwiſchen beiden erkennt man in Ebmumb Hi 
fers „Wie bas Volt ſpricht— (1855 fg.). An die ſprichwörtlichen Redensarten 
grängen dann wieber gewiſſe ftehenbe Ausbrudsweifen wie fie z. B. D. von 
Reinsberg-Düringsfelb unb C. von Wurzbach gefammelt haben. — 2) Eine 
den philologiſchen Forderungen entſprechende Ausgabe von Luthers Werken 
Befigen wir noch nicht. Die Erlanger Ausgabe (1826 fg.) Hat fid im weile: 
ten Verlauf immer mehr verbeffert. Insbeſondere unterſcheidet ſich die don 
€. 2. Enders bejorgte zweite Ausgabe ber erfien Abtgeilung (1862 fg.) zu 
iprem Vortheil von ber erfien. 





Der dortbau ber germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 717 


Herm. Palm (Rebhun 1859), Herm. Oeſterley (Schimpf und 
Ernft 1866. Wendunmuth 1869), Dav. Strauß (Frifhlin 1857), 
Adelb. v. Keller (Anabis 1857. Ayrer 1865). 2. Holland (Heinr. 
Jul. von Braunſchweig 1855), J. M. Lappenberg (Murner's 
Ulenfpiegel 1854), Reinhold Kühler (Hans Sachs 1858), U. F. C. 
Bilmar (Fiſchart 1846. 65), ©. v. Below und Jul. Zacher (Fiſchart 
1849), Emil Weller (Fiſchart 1854), Aug. Kühne (Fauſtbuch 1868), 
Jul. Tittmann (Schaufpiele 1868), W. Hopf (Hans Sachs 1856) 
u. A. Schließlich wollen wir hier noch des Buchhändler J. Scheible 
gebenten, deſſen zahlreiche Veröffentlichungen (Fauſtbücher, Fiſchart, 
Fliegende Blätter u. ſ. w.) zwar den Anforderungen der Wiſſen⸗ 
ſchaft nicht genügen, aber doch ſo manches ſeltene Buch vorläufig 
wieder zugãnglich machten. 

Als Herausgeber von Werken des 17. und beginnenden 18. 
Jahrh. nennen wir J. DM. Lappenberg (Fleming 1863 fg.), Adelb. 
v. Keller (Simpliciſſimus 1854 fg.), Herm. Palm (Gryphius, 
Dornroſe 1855), Heinr. Kurz (Simpliciſſimus 1862 fg), ©. €. 
Guhrauer (Leibniz deutſche Schriften 1838), Reinhold Köhler 
(Kunft über alle Künfte 1864), €. ©. ©. Langbeder (Paul Ger- 
hardt 1841), Phil. Wadernagel (Paul Gerhardt 1855. oh. Heer- 
mann 1856), J. F. Bachmann (Paul Gerhardt 1866). Der Iek- 
ten großen Periobe unferer Literatur im 18. und 19. Jahrh. ift 
erft feit Lachmann's Leffing (1838) eine ſtreng philologiſche 
Behandlung zu Theil geworden. Eine mufterhafte Arbeit der Art 
ift die von Karl Goedeke im Verein mit A. Elliſſen, R. Köh— 
ler, W. Müldener, H. Oefterley, H. Sauppe und W. Vollmer 
unternommene biftorifch »Tritiihe Ausgabe von Schillers Werken 
(1867 fg.). Sehr verdienftlige Beiträge zur Kritik des Schiller'- 
fen Textes Hatte (1855 fg.) Joachim Meyer 1) geliefert. Für 
Goethe's Tert gibt es einige fehr gute Ginzelarbeiten, fo bie 
über Kritit und Geſchichte des Goetheichen Tertes von Mic. Ber- 
nays (1866) und Herm. Sauppe'3 Goethiana (1870). Bon Lad 

1) Geb. zu Nürnberg 1808, ſtud. 1820 bis 1824 zu Erlangen Tpeofogie 


unb Philologie, von 1824 bie 1859 Lehrer am Cymnaflum zu Rürnberg, 
gef. bafelöft am 28. Jan. 1865. 


718 Viertes Bud. Siebentes Kapitel. 


mann's Leffing beſorgte (1853 fg.) W. v. Maltzahr eine neue ber 
veidjerte Ausgabe. Unter ben übrigen kritiſch-philologiſchen Tert⸗ 
behandlumgen führen wir noch an Ed. Böding’s Ausgabe von 
A. W. von Schlegel's Werken (1846 fg.), Reinhold Köhler's Les 
arten zu H. von Kleiſt (1862), und Karl Halm's Ausgabe von 
Hölty’s Gedichten (1869). 

Die germanifgen Eigennamen. 

Wir haben gefehen, wie bie deutſchen Eigennamen glei von 
den erften Anfängen unfrer Wifjenfhaft an das Intereſſe der 
Menſchen auf fi gezogen haben. Aber ebenfo zeigte fi), daß es 
ein Irrthum war, wenn man glaubte, in dies dunkle und ſchwierige 
Gebiet eindringen zu können, ohne vorher fefte Grundlagen für 
die gefammte germanifhe Sprachforſchung gelegt zu haben. Dieſer 
Irrthum hat fi bis in die neuere Zeit fortgepflanzt und findet 
ſich ſelbſt Heute noch bisweilen hei kenntnißloſen Dilettanten. Eine 
neue Epoche begründet auch in biefer Beziehung das Erfcheinen 
von Grimm’s Grammatil. Außer J. Grimm ſelbſt machte fih 
unter dem älteren Geſchlecht namentih W. Wadernagel 
(1837 fg.) um die Erforſchung der germanifhen Eigennamen ver- 
dient. Zur Erflärung der altgermaniihen Völfernamen lieferte 
Kaſp. Zeuß (1837 fg.) trefflie Beiträge. Worauf e8 nad) gründ- 
licher grammatiih- und lerikaliſch- hiſtoriſcher Durchforſchung 
des ganzen germaniſchen Sprachgebiets vor allem ankam, war die 
Sammlung der Eigennamen in ihren älteſten ums zugänglichen 
Formen aus den Quellen. Die Berliner Alademie der Wiffen- 
ſchaften ftellte deshalb, auf J. Grimm's Anregung, im J. 1846 
die Preisaufgabe, die 5i8 zum J. 1100 vorkommenden germa- 
niſchen Eigennamen zu fammeln, jedoch mit Ausihluß ber angel 
ſächſiſchen und altnordiſchen. E. Förſtemann, ber feine Thä- 
tigfeit ſchon feit längerer Zeit dem Studium der Eigennamen ger 
wibmet Hatte, bewarb ſich um diefen Preis, und aus der von ihm 
eingereichten und von ber Akademie belobten Arbeit erwuchs dann 
(1856. 1859) fein Altdeutſches Namenbud;, deſſen erſter Band die 
Perfonennamen und beffen zweiter die Ortsnamen in dem vom 
ber Berliner Akademie verlangten Umfang, jedoch mit einigen 


Der Fortbau der germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 719 


erweiternden Zugaben enthält. Cine vorzügliche Behandlung erfuß- 
ren (1866. 1868) die Kofenamen der Germanen buch Franz 
Stark. Zunächſt erwähnen wir dann noch K. Müllenhoff's 
ſcharfe Bemerkungen über germaniſche Eigennamen. Außerdem 
haben Beiträge zur Erforſchung der germanifcen Eigennamen ge 
Hefert Mor. Heyne (altnieverd. Eigennamen 1867), W. Erecelins 
(altſächſ. und altfrief. Eigennamen 1864), XTheod. v. Raraian 
(1852) u. 9.2); zu ben Ortsnamen F. 2. ©. Weigand (Ober⸗ 
heſſen 1852), Paul. Caffel (Thüringen 1854 fg.), J. Petters 
(Deuti Böhmen 1868), U. Gatſchet (Schweiz 1865 fg.), Joſ. 
Bender (1846), K. Roth (1850 fg.), Adolf Bacmeifter (1867) 
u. A.; zu ben deutſchen Familiennamen Hoffmann von Fallers⸗ 
leben (1843 9.), A. F. C. Vilmar (1855 fg.), K. G. Andreſen (1862), 
L. Ruprecht (1864), 2. Steub (1869. 1870)2). Schließlich erwäh⸗ 
nen wir noch A. F. Pott's umfaſſendes Werk über die Perſonen⸗ 
namen (1858), inſofern es ſich auch auf die germaniſchen Eigen⸗ 
namen bezieht. 
Die deutſche Aetrik. 


Die alt» und mittelhochdeutſche Metrik gründet ſich auf die 
Arbeiten Lachmann's 3). Es kam deshalb vor allem darauf an, 
daß die Anfichten Lachmann's in weiteren Kreifen belannt wurden. 
Dies geſchah einerfeits, indem Mag Rieger (1858) +) und Oster 
Schade (1854) 9) bie bereits gebrudten, aber in verſchiedenen 
Werten zerftreuten Beobachtungen Lachmann's überſichtlich zuſam⸗ 


1) Auch einige populäre, für ein größeres Publicum beftimmte Schriften 
über die Eigennamen haben bie Ergebnifje ber Wiſſenſchaft in verdienſtlicher 
Weiſe verwertet. So Dtto Abel, bie beutj hen Perjonen-Ramen (1853); 
G. Michaelis, Wörter. ber gebräuchlichſten Taufnamen (1856) u. A. — 
2) Was 2. Steub als geifivoller Schriftſteller für unfre Wiſſenſchaft geleiftet 
hat, bürfen wir Hier nur andeuten. Männer von Geift und Wiſſen, wie 
Steub, Freytag, Riehl, Bacmeifter, bilden ein wichtiges Bindeglied zwiſchen 
der Literatur und der Wiffenfhaft. — 3) ©. o. ©. 5479. — 4) In ®. 
von Plönnies Ausg. ber Kubrun, Leipz. 1853, ©.242—303. — 5) Wei- 
mar. Jahrb. für deutsche Sprache von Hoffmann v. Fallersleben und 
Osk. Schade I. (Hannover 1854) 8. 1—57. 


720 Viertes Bud. Siehentes Kapitel 


menftellten, andrerſeits durch die Veröffentlichung eines Lahmann- 
fen Manuftripts über altdeutſche Metrik in Pfeiffers Germania 
(1857) 1). Auch die Darftellungen der mittelhochdeutſchen Metrit 
von F. Zarnde (1856) 2) und Franz Pfeiffer (1864) °) ſchließen 
ſich in den Hauptſachen an Lachmann an, indem fie zugleich defien 
Lehre weiter zu bilden ſuchen. Zur althochdeutſchen Metrik lieferte 
einen Beitrag Rich. Hügel's Abhandlung über Otfrid's Bers- 
Betonung (1869). Zu neuen Beobachtungen auf dem Gebiet der 
mittelhochdeutſchen Metrik gab insbefondere die Herausgabe mittel- 
hochdeutſcher Dichtungen Anlaß. — m die ältefte Metrik ber 
indogermaniſchen Völker ſucht R. Weftphal („Bur vergleichenden 
Metrik der indogermaniſchen Völker“ 1860) 4) einzubringen. Den 
faturnifhen Vers und die altdeutſche Langzeile unterſucht (1867) 
K. Bartſch. Beiträge zur alliterierenden germanifhen Metrik lie⸗ 
ferten Franz Dietrih u. 4. — Die neuhochdeutſche Metrit hat 
zahlreiche Behandlungen erfahren, ohne doc bis jegt zu einer all- 
gemein anerkannten wiſſenſchaftlichen Grundlage zu gelangen. Un- 
ter den antififierenden Darftellungen nennen wir das Lehrbuch ber 
deutſchen Verskunſt von Joh. Mindwig (1848 fg.). Worauf es 
vor allem ankam, war die Unterfuhung bes wirflih vorhandenen 
neuhochdeutſchen Versbaus und feiner geſchichtlichen Entftehung. 
Werthvolle Beiträge hiezu lieferten DO. F. Gruppe (1858 fg.) 9) 
und Ernſt Höpfner (1866) 6). Zur genauen inductiven Untere 
fugung “des Versbaus umfrer größten Dichter macht F. Zarnde's 


1) Germania, her. von Pfeiffer 1857, 8. 105—108. — 2) Das 
Nibelungenlied her. v, F. Zarncke, Leipz. 1856, Einl. 8, XLI fg. — 
3) Walther von der Vogelweide, her. v. Franz Pfeiffer, Leipz. 1864, 
8. XXXVI fg. — 4) In Kuhn's Zeitschr. IX. (1860) 8. 437 fg. — 
5) Deutſche Ueberſeherkunſt. Mit befonberer Rückſicht auf bie Nacbilbuig 
antiler Maaße, nebft einer hiſtoriſch begründelen Lehre von deutſcher Silben: 
meffung. Hann. 1859. 2. Ausg. 1866. — 6) Reformbestrebungen auf 
dem Gebiete der deutschen Dichtung des XVI. und XVII. Jahrh., 
Berlin 1866, Göpfner weit insbeſondere auch mad), wie unter den deut: 
ſchen Grammatifern des 16. Jahrh. Laurentius Albertus unb weit mehr 
noch Johannes Cajus bie Lehre bes Martin Opig vorweggenommen haben. 


Der dortbau ber germ. Philologie in den neuften Jahrzehnden. 721 


Schrift „über den fünffüßigen Jambus "mit befonderer Rüdficht 
auf feine Behandlung durch Leffing, Schiller und Goethe" (1865) 
einen trefflihen Anfang. Auch Rudolf Weftphal’s „Theorie der 
neuhochdeutſchen Metrik“ (1870) gründet ſich, bei einbringender 
Kenntniß der griechiſchen Metrit, auf die Erforſchung bes eigent- 
lich deutſchen Versbaues, wie er fi vor allen bei Goethe und 
Schiller findet. Einen Verſuch, die deutſche Verskunft ſyſtematiſch 
und geſchichtlich darzuftellen, madte (1861) J. Imm. Schneider. 
„Die deutſche Verskunft nad) ihrer geſchichtlichen Entwidelung“ der 
arbeitete mit Benugung von A. F. €. Vilmar's Nahla €. W. M. 
Grein (1870). 


Die Erforſchung der deutſchen Yolksmandarten. 


Wir haben früher das Intereſſe für die Vollsmundarten 
Schritt Halten fehen mit der Ausbildung und Feſtſetzung ber deut⸗ 
ſchen Schriftſprache i)Y. Dieſelbe Erſcheinung ſetzt fi fort im 
19. Jahrhundert. Auf die großartige Entfaltung unſrer Literatur 
am Ende des 18. und im Beginn bes 19. Jahrh. folgen neben 
der Fortbildung ber ſchriftſprachlichen Dichtung unzählige Verſuche, 
die Vollsmundart in die Literatur einzuführen. Darunter einige, 
wie Hebel's allemanniſche Gedichte und Fritz Reuter's plattdeutſche 
Erzählungen, von folder Vortrefflichleit, daß man an ben alte 
griechiſchen Gebrauch beftimmter Mundarten für gewilje Zweige 
der Dichtung denken könnte, wenn nicht unſre mundartliche Dicht⸗ 
ung der alten Wurzeln, aus denen die griechiſche erwuchs, ent⸗ 
behrte, und wenn nicht ihre Vertreter durchweg ſchriftſprachlich 
gebildete Männer wären ?). Wie die literariſche Verwendung, fo 
gewinnt bie wiſſenſchaftliche Erforſchung der Vollsmundarten in 
unfrem Jahrhundert einen Umfang und eine Tiefe, wie nie zuvor. 
Als das Mufter diefer mundartligen Forſchung Haben wir Shmel- 
ler kennen Iernen®). An Schmeller’s Vorgang fliegt fih an, 
was die neuere Zeit auf dem Felde ber wiſſenſchaftlichen Erforſch⸗ 

1) S. 0. ©. 242 fg. — 2) Am erfien könnte man noch an Theofrit 
und ähnliche Dichter des aleranbrinif—hen Zeitaltere denfen, und doch wide 
aud hier bie Vergleichung nur fehr theilweife zutreffen. — 3) ©. o. &.555fg. 

Raumer, Geld. der germ. Phllelogle, 46 


122 VBierted Buch. Siebentes Kapitel. 


ang ber deutſchen Vollsmundarten geleiftet hat. Bor allen find 
hier zwei Gelehrte zu nermen: &. Karl Srommann!) und 
Karl Weinhold. Der erftere machte ſich vorzüglich verdient 
durch feine Zeitſchrift: „Die deutſchen Mundarten“ (1854—1859), 
worin er die Forſcher und Freunde dieſes Gebiets unter trefflicher 
Leitung vereinigte 2), und duch feine neue Ausgabe von Schmel- 
ler's Bayeriſchem Wörterbuch (1869 fg.). Karl Weinhold?) 
legte die Grunbfäge feiner mundartlichen Forſchung zuerſt (1868) 
dar in ſeiner Schrift „Ueber deutſche Dialectforſchung. Die Laut⸗ 
und Wortbildung und die Formen der ſchleſiſchen Mundart“, wel- 
cher er (1855) „Beiträge zu einem fölefifhen Wörterbuch“ und 
(1863) feine „Grammatik der deutſchen Mundarten“ folgen ließ. 
Der erfte ber beider bis jetzt erfchienenen Theile diefes grund- 
legenden Werts umfaßt das alemanniſche (1868), der zweite (1867) 
das bayriſche Gebiet. Was bie neuere mundartliche Forſchung 
(ſeit Schmeller's Auftreten) vor ber früheren auszeichnet, ift die 
wiſſenſchaftliche Verknüpfung des Mundartlichen mit der geihiät 
lichen Gntwidelung ber deutſchen Sprache. Für diefe Art ber 
Forſchung find deshalb Unterſuchungen über den früheren Zuftand 
ber deutſchen Dialekte, wie fie namentlich Franz Pfeiffer ge 
pflegt hat, von befonderem Werth. Unter dem neueren dahin ein⸗ 
ſchlagenden Arbeiten nennen wir als Beiſpiel Heinrich Rückert's 


1) Geb. 1814 zu Koburg, ſtud. 1835 fg. zu Heidelberg und Göttingen 
Philologie, bereift 1840 —42 Deutfchland, Italien und die Schweiz zu wil: 
ſenſchaſtlichen Sweden, wird 1853 Wibfiothefar, 1865 jiweiter Borland de 
Germanifgen Mufeumd zu Nürnberg. — 2) Gegründet wurde biefe Zeit: 
ſchrift durch Joh. Anſelm Pangtofer, aber ſchon nad) Erfceinen bes erften 
Doppeieftes flach biefer (1854), und nun übernahm Frommann die Zeit: 
fgrift und gab ihr durch feine treffliche Leitung und feine fortlaufenden Zu 
gaben bie hervorragende wiſſenſchaftliche Bedeutung. (Wgl. die deutſchen 
Mundarten. Erf. Jahrg. S. 99 fg. u. ©. 93fg.). — 3) Geb. 1823 zu 
Reichenbach in Schleſien, Hub. 1842 —46 zu Breslau und Berlin Philo— 
logie, Habilitiert fi) 1847 in Halle für deutſche Sprache u. Lit., wird 1849 
anßerord. Prof. in Berlin, 1850 ord. Prof. in Krafau, 1851 in Graz, 1861 
in Riel (Brochaus, Real-Entyft. (11) XV, 358). 





Der Fortbau der germ. Philologie in ben meuften Jahrzehnden. 728 


eindringende Darftellung der ſchleſiſchen Mundart im, Mittelalter 
(1866 fg.) ). Ebendahin gehören mande von ben Gloffaren zu 
älteren deutſchen Texten, fo namentlich die ſchon früher erwähnten 
zu den Chroniken der deutſchen Städte 2). Es Liegt in der Natur 
ber Sache, daß ſich Hier die Forſchungen über bie älteren gefchriebenen 
Sprachen und die neueren Vollsmundarten berühren. Zaft in 
alten wiſſenſchaftlichen Leiftungen über Vollsmundarten ift dies ber 
Fall. So in den trefflihen lexilaliſchen Arbeiten von A. F. C 
Vilmar über die kurheſſiſchen (1868) und von Matthias 
Lerer über die kärntiſchen Mundarten (1862). Bor allem kann 
die wiſſenſchaftliche Darftellung ber mundartlichen Grammatik 
des Zurückgehens auf die ältere, ſchriftlich überlieferte Sprache 
nicht entbehren. Wie in Weinhold’s umfafjendem Werk, fo ſehen 
mir daher au in den wahrhaft wiſſenſchaftlichen Arbeiten über 
die Grammatik einzelner Mundarten diefen Weg eingefchlagen. 
So in R. Nerger's Grammatit des mellenburgiſchen Dialeftes 
(1869). — Neben der wilfenfhaftlihen Erforſchung der Mund» 
arten fett ſich auch in neuerer Zeit die bloße Aufzeichnung mund⸗ 
artliher Proben mit Hinzufügung populärer GErflärungen fort. 
Ein umfangreiches und als Stoffjammlung danfenswerthes Unter» 
nehmen ber Art find „Germaniens Völferftimmen" von J. Mat- 
thias Firmenich (1843fg.). Wir dürfen hier natürlich keine 
Aufzählung der überreichen mundartlichen Literatur geben, verwei- 
fen vielmehr in biefer Beziehung auf die bibliographiſchen Zuſam⸗ 
menftellungen Hoffmann’s von Fallersleben (1836) 3) und Paul 
Trömel's (1854) *), fowie auf deren Fortfegungen von Frommann d), 
Joſ. Mar. Wagner 6), Bari) u. A. e). Wir erwähnen nur 


1) Zeitſcht. des Vereins für Geſch. Schleſiens Bd. VII fg. Vgl. auch 
H. Rüdert in der Zeitschr. f. deutsche Philol. I. (1869), 199 fg. — 
2) ©. o. 6.694. 711. — 3) Die deutsche Philol., 1836, 8. 171 fg. — 
4) Anzeiger für Bibliographie — her. von Jul. Petzholdt, Jahrg. 
1854. — 5) In Frommann’s Deutschen Mundarten 1854 fg. — 
6) Ebend. 1859, 380 fg. — 7) In Pfeiffer's Germania Bd. VIII. 
(1863) fg. — 8) Um einen Begriff von ber ausgebreitelen Thätigfeit auf 
diefem Gebiet zu geben, wollen wir außer ben bereits früher erwähn- 

46* 


724 Biertes Bud. Siebentes Kapitel. 


noch die Verſuche, die Verbreitung der deutſchen Mundarten char⸗ 
tographiſch darzuftellen von K. Bernhardi (1844), W. Strider 


ten wenigfiens noch einige ber Männer nambaft machen, bie unfre Kennt: 
niß deulſcher Munbarten vermehrt haben. Um bie nieberbeutigen Munbarten 
machten fid) verdient G. Schambach (Göttingen und Grubenfagen 1858), 
X. Miltenoff (Holfein 1854), I. Fr. Danneil (Altmark 1859); für Mel 
lenbutg I. Muffäus (1829), 3. ©. C. Ritter (1892), Zul. Wiggers (1856. 
1858), R. Schiller (1862 fg.); ferner Ed. Krüger (Emden 1848), Alb. H 
fer (Pommern), J. U. Lehmann (Provinz Preußen), 3. Woefte (Weftfalen), 
3. ©. Honcamp (Meftfalen), Joh. Müller (Hildespeim 1855), Tiling und A 
Gremifgenieberfähf. Wörterb., VI. Theil 1868 fg.); um das Nieberrei: 
niſche Joh. Müller und W. Weib (Hagen 1836. 38), 3. Gerling (Kiene 
1843). Fur die friefifgen Mundarten waren thätig Eirt. H. Stürenburg 
(Offrief. 1857), Enno Heltor (Dfifrief.), Chriſt. Johauſen (Nordfrief. 1862). 
Beiträge zur Kenntniß ber ſchwäbiſchen und alemannifchen Mundarten Tiefer: 
ten 3. Chph. Schmidt (Shwäb. 1831), Abelb. von Keller (Schwäb. 1855), 
Mor. Rapp (Sqhwab. 1855), Ant. Virlinger, (Augsburg 1862 fg., Alemann. 
1868), Aug. Stöber (Eiſaß), Vonbun (Borariberg), Alb. Schott (Monte Rofa 
1840. 42). Insbeſondere find hier noch hervorzuheben bie WVerbienfte der 
Schweizer um bie Erforſchung ihrer Mumbarten. Wir erwähnen vor allen 
Til, Tobler (Appenzell 1837), dann Z. Zyro (Bern) 3. €. Möritofer (1864), 
2. Tobler (Saanen) u. 9. Eine Über das ganze Land verbreitete Geſellſchafi 
fammelt bort ſyſtematiſch für die Darftellung ber Munbarten und hat (durch 
Fritz Staub) eine anziehende Probe ihrer Thätigfeit gegeben in ber Echrift: 
Das Brot im Spiegel ſchweigerdeutſcher Volteſprache und Gitte (1868). Im 
Mebrigen verweiſen wir auf den „Necdenfchaftsbericht des Schweizeriſchen Idio— 
titons an bie Mitarbeiter abgeftattet von der Gentral:Commilfion im Herbſi 
1868.° Sie die Bayerifh-öftreihijdren Mundarten waren tätig 3.8. Chäpf 
und Ant, 3. Hofer (Tirol 1862— 66), K. Loria (Wien 1847), Ign. u. 
Caſtelli (nieberöfit. 1847), Hugo Mareta (öftt. 1861 fg), Ign. Petiers 
(Deuti Böhmen), 3. dv. Schönwerth (Oberpfalz 1869). Beiträge zur Kennt: 
miß der Munderten des mittleren Deutfeplands lieferten R. Regel (Rufla 
1868), G. Brüdner (Henneberg 1843), F. Sterhing (Henneberg), U. Sqhlei— 
ger (Sonneberg 1858), ©. K. Frommann (Nürnberg 1857), P. Klein (uw 
semburg 1855), Gangeler (Zuremburg), X. Gottl. Anton (Laufig 1825 — 
89), Goull. Stier (Sachſ. Kurkreis 1862), I. B. Sartorius (Würzburg 1862), 
Iof. Kehrein (Mafjau 1862), Schwalb (Saar 1833 fg.), I. Wegeler (Coblen 
1869), . Wulder (zum Heſſ. u. Tpüring. 1868). — Die Mundarten ber 





Der dortibau der germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 725 


(1849), Berghaus (1847 fg.) umb Kiepert (1848 fg.) umb Nic. 
Böcdh's treffliche Unterfuhungen über „der Deutſchen Vollszahl 
und Sprachgebiet in ben europäiſchen Staaten“ (1869). 


Die dentfhe Aythologie. 


Wir haben gefehen, wie buch Grimm's deutſche Mythologie 
dieje Wiſſenſchaft eigentlich erft gefhaffen wurde, und wie bann 
Simrock auf der Grundlage von Grimm's Forſchungen die deutſche 
Mythologie in Verbindung mit der nordiſchen barftellte. Durch 
Grimm's Schriften wurde eine ausgebreitete Thätiglelt auf dem 
Gebiet der germanifhen Mythologie hervorgerufen, indem man 
einerfeitS der Mythologie felbft erneute Unterfuhungen widmete, 
andrerfeit8 die Sagen und Märden des deutſchen Volkes fammelte. 
— Bon unberehenbarem Einfluß auf bie Erforſchung der germa- 
niſchen Mythologie war der wichtigſte Fortſchritt, den die indiſche 
Philologie im legten Menfchenalter gemaht hat. Während dieſe 
ſich früherhin faft nur mit den epiſchen ober noch jüngeren Dich 
tungen beſchäftigte, wandte fie nun ihre Thätigleit ber Herausgabe 
und Unterfuhung der Vedas zu. Durh Mar Müller, Albrecht 
Weber, Theod. Aufrecht, Theod. Benfey, A. Roth u. A. wurde ein 
großer Theil jener urfprünglichften Religionsurkunden des indiſchen 
Volles veröffentlicht. In ihnen lagen nun die älteften Schöpfungen 
des indogermanifchen Geiftes vor, und wenn fie au zunädft nur 
dem indiſchen Volle angehören, fo ftehen fie doch ber Urzeit des 
noch vereinigten indogermanifchen Stammes bebeutend näher, als 
die Aufzeichnungen irgend eines anderen Volles 1). Auf fie geftügt 


Deutſchen in Ungarn behandelte K. F. Schröer (1858 fg.); die ber fiebens 
bürgifpen I. 2. Schuller (1840 fg), Joſ. Haltrih, J. Mäg, die ber Sette 
Commune (außer Schmeller) ; Joſ. Bergmann (1848 fg.); bie ber Gottſcheewer, 
R. 3. Schröer (1868); die ber Luſerner Ign. Zingerle (1869); das Deutjäe 
im Großherzogthum Poſen Theobor Bernd (1820); das Deutſche in Livland 
DB. von Gutzeit (1864). — 1) Welde Bebeutung bie religidfen Schrife 
ten der alten Eranier, wie fie uns durch bie Arbeiten Burnouf's, Juſtus 
Olehauſen s, Spiege’s, Zof. Müllers, Weſtergaard's, Theod. Benfey's, 


126 Vieries Buch. Siebentes Kapitel. 


Tonnte man daher den Berjud einer vergleihenden Mythologie 
der indogermanifchen Völler wagen, und zwar mit günftigeren 
Ausfihten, als dies früherhin von William Jones und Anderen 
bei noch ganz unzureichenden Mitteln geſchehen war. Die haupt ⸗ 
fäglicften Vertreter diefer Wiſſenſchaft find Adalbert Kuhn 
in Berlin und Max Müller in Oxford. Nachdem der erftere 
in einer Reife von Abhandlungen, bie theils in feiner eigenen, 
theils in Haupt's Zeitſchrift erihienen, einzelne indogermaniſche 
Mythen vergleihend beſprochen Hatte, veröffentlichte er 1859 feine 
ſcharfſinnige Schrift über die Herablunft des Feuers und des 
Göttertrang. Mar Mülfer legte feine geiftvolfen und aus ber 
umfafjendften Kenntniß der Vedas geſchöpften Anfichten theils in 
einer Reihe fpäter (1867) gefammelter Abhandlungen, theils (1864) 
in ber zweiten Folge feiner Vorlefungen über die Wifjenfchaft der 
Sprade nieder. 

Eine ausgebreitete und fehr verdienſtliche Thätigfeit wandte 
fi dem Sammeln der Sagen und Märden des Volles zu. Nah 
dem Vorbild der Brüder Grimm ſuchte man, mit möglichfter Treue 
und mit Ausfhluß jeder eigenmädhtigen Zuthat in den verſchiedenen 
Gegenden Deutſchlands zu ſammeln, was fih an Sagen, Märden 
und alten Gebräuden unter dem Volke erhalten Hat. Man konnte 
aber babei, je nad) ber Abſicht des Sammlers, einen doppelten Zwed 
im Auge haben, erftens nämlich den, durch diefe einfache und echte 
Poeſie alle die zu erfreuen, die fi den Sinn dafür bewahrt haben, 
und zweitens den, Material für die mythologiige Forſchung zu 
bieten. Wird nur das erfte Erforderniß: Treue der Wiedergabe, 
gewahrt, jo werben fi zwar beide Abfichten immer in die Hände 
arbeiten. ber doch wird es nicht gleichgültig fein, von welcher 
Anſchauung mar ausgeht. ALS ein Mufter der Gattung, welde 
im Geift der Brüder Grimm Poeſie des Vollkes ſucht und zugleid 
reichen Stoff für die Mythologie findet, nennen wir die „Sagen, 
Gerd. Zuftr’s, M. Haug’s u. A. aufgeflofien worden find, mittelbar oder 
unmittelbar für die Religion der Germanen haben, wird die weitere Fotſch 
ung lehren. 





Der Zortbau der gern. Philologie in den neuflen Jahrzehuden. 727 


Märchen und Lieber der Herzogthümer Schleswig- Holftein und 
Lauenburg“ von Karl Müllenhoff (1845). Dagegen gehen 
Adalbert Kuhn in den „Märkiſchen Sagen und Märchen“ 
(1848) und in ben „Weſtfäliſchen Sagen, Gebräuden und Märchen“ 
(1859) und Kuhn und W. Schwarg in den „Norddeutſchen 
Sagen, Märden und Gebräuchen“ (1848) vorzugsweile darauf 
aus, Spuren des alten Glaubens in den Ueberlieferungen bes 
Bolfes zu finden. — Um die Verbreitung und die verſchiedenen Spiel- 
arten eines Bolfsglaubens kennen zu lernen, iſt die möglichſte Boll- 
ftändigleit der Sammlungen von großem Werth. Einen ſehr ver 
dienftlihen Berfuh der Art macht W. Mannharbt in feinem 
Roggenwolf (1866) 1). 

Wenn Märden und Sagen für die Erforſchung bes vorchriſt⸗ 
lichen Vollksglaubens verwendet werben follen, jo ift natürlich die 
erfte Borfrage, ob diefelben wirklich uraltes Eigentfum bes Volles 
oder ob fie nicht etwa erft in fpäterer Beit aus ber Fremde ein- 
geführt find. Im letzteren Fall ift die Annahme, daß fie Reſte 
der einheimiſchen Mythe feien, ſelbſtverſtändlich ausgeſchloſſen. Von 


H In Bezug auf die Riteratur der deutſchen Sagen und Märdien ver: 
weife ih auf Simrod's Handbuch der deutſchen Mythol. (3) Bonn 1869, 
S. 8 fg. Um einen Begriff von der ausgebreiteten Thätigkeit auf diefem 
Gebiet zu geben, füge ih aus Simrod zu ben ſchon oben genannten aud bie 
Namen ber Übrigen Männer bei, bie fi) um bies Gebiet verbient gemacht 
Haben: 3. W. Wolf (niederländ. Sagen 1843 u X.), Bernh. Baader (Baden), 
3- Panzer (Bayern), K. dv. Leoprechting (Ledrain), F. Schönwerth (Ober: 
platz), W. Börner (Drlagau), Reuſch (preuß. Samland), I. F. 2. Woeſte 
(Graf. Mark), Herrm. Harrys (Niederfahf.), I. F. Vonbun (Vorarlberg), 
Emit Sommer (Thüringen), 2. Bechſtein (Thüringen, Franken, Deftr.), 
Abalb. v. Herrlein (Speffart), Ign. Zingerle (Tirol), 3. N. v. Alpenburg 
(Tirol), Th. Vernalelen (Alpen. Deftr.), €. 2. Rochholz (Schweiz), 2. Eurke 
Balder), I. H. SHmig (Eifel), Iof. Haltrich (Siebenbiirgen), €. Meier 
¶Sqwaben), $. Müher (Siebenbürgen), Ant. Birlinger (Schtwaben), 9. Prohle 
(Harz), €. Deede (übel), A. Stöber (Eifah), I. B. Grohmann (Böhmen 
und Mäfren), K. Haupt (Laufig), A. Wibſchel CThüringen), A. Lutolf 
(Schweiz). 


7128 Vierte Bud. Siebentes Kapitel, 


epochemachender Bebeutung waren in diefer Beziehung Theodor 
Benfey's Unterfuhungen über die Verbreitung der indifchen Mär- 
chen, die er in ben Zugaben zu feiner Ueberſetzung des Pantſcha⸗ 
tantra (1859) nieberlegte und in denen er nachwies, daß ein ſehr 
großer Theil unfrer Märchen und Novellen erſt während des Mit 
telalter8 durch Uebertragung aus Indien nad Europa gelangt ift. 
Seitdem ift die Frage nad dem Urfprung umb der geſchichtlichen 
Verbreitung diefer Erzählungen in den Vordergrund getreten und 
die größte Vorſicht bei Benugung derſelben für mythologiſche Zwede 
als oberftes Gebot anerkannt worden. Doc wird babei zweierlei 
nicht außer Acht zu laſſen fein. Erſtens, daß neben jenem fremd- 
ländifhen Zufluß ſich die einheimiſche Sage aus uralter Zeit er- 
halten Hat; und zweitens, daß zwar nit für die Mythenforfhung, 
wohl aber für die Geſchichte der Poefie eine ſehr weientliche Frage 
die ift, in wie welt aud jene aus ber Fremde eingeführten Er- 
zaͤhlungen durch die dichtende Kraft bes deutſchen Volkes zu deut- 
fen Erzeugnifen umgebildet worden find t). 

Wir fehen, das Gebiet der deutſchen Mythenforſchung ift ein 
nad den verſchiedenſten Seiten hin no lange nicht erfchöpftes. 
Tragen von unabjehbarer Tragweite harren noch ihrer Löfung. 
Uber dies hindert nicht, die fehr verdienſtlichen Leiftungen, die wir 
auf dieſem Gebiet bereits befigen, gebührend anzuertennen. Wir 
heben hier nur die Arbeiten von K. Weinhold, K. Müllenhoff, 
W. Müller, W. Schwark, W. Mannhardt 2) hervor. 


1) Hier ſchliehen ſich die Unterfugungen über bie Literatur der No— 
vellen u.f.f. am die über die Märden und Sagen an. Ein Gebiet, um 
deſſen Erforfhung fi die Brüder Grimm, Uhland, F. H. von der Hagen, 
Valentin Schmidt, K. Simrod, Maßmann, Fel. Liebreht, Reinhold Köhler 
und Andere verbient gemacht haben. — 2) Die Zahl der Männer , bie fih 
auf Grimm’s Spur in ber germanifhen Mythenforſchung verſucht haben, 
iR cine fehr große. Nicht wenige von ben Sammlern deutſcher Sagen 
und Märden, die in einer frägeren Anmertung (6. 727) aufgeführt 
worden find, Haben es zugleich auf Beiträge zur deutſchen Mythologie 
abgefegen, und meben ihnen Haben fo mande Andere dies Gebiet am 





Der Foribau ber germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 729 


Die germanifhe Philologie in den Hiederlanden, in England und in 
Ikandinavien. 


Wir müffen uns hier vor allem deffen erinnern, was wir 
glei am Beginn unfres Werkes gefagt haben, daß wir nämlich 
nit die Geſchichte der germaniſchen Philologie bei den Nieber- 
ländern, Engländern und Standinaviern ſchreiben wollen, ſondern 
daß wir jene Völfer nur infofern in unferen Bereich ziehen, als 
ihre Leiftungen einen wejentligen Einfluß auf die Entwidelung 
unfrer Wiſſenſchaft in Deutſchland gehabt haben. Wir haben ger 
fehen, in welchem Maß die deutihe Wiſſenſchaft im 17. und 18, 
Jahrhundert, ja bis in den Beginn unfres Jahrhunderts hinein von 
den Arbeiten der niederländiſchen, englifhen und ſtandinaviſchen 
Forſcher Beftimmt worden ift. Trotz der fehr verbienftlichen Leift- 
ungen unfrer Gelehrten und ihres theilweifen Einfluffes auf bie 
außerdeutf hen Arbeiten Tonnten wir doch nicht verfennen, daß bald 
Niederländer oder Engländer, bald Schweden oder Dänen uns in 
der Erforfhung ber altgermanifhen Sprachen voraus waren. In 
unferem Jahrhundert hat fi dies Verhältniß umgekehrt. Durch 
J. Grimm's bahnbrechende Arbeiten iſt Deutſchland auf dem Ge 
biet unfrer Wiſſenſchaft an die Spitze getreten. Nicht als wenn 
die anderen Völfer nicht gleichfalls ſehr bedeutende Leiſtungen auf 
zuweilen hätten. Im Gegentheil, gerabe das ift das Erfreuliche 
an bem gegenwärtigen Zuftand unfrer Wiſſenſchaft, daß bie ver- 
ſchiedenen germaniſchen Völker in ebelem Wetteifer an dem gemein. 
famen Ausbau derſelben arbeiten. Aber fo wertvoll aud bie 
Bereierungen find, die wir von den Stanbinaviern, Engländern 
und Nieberländern erhalten, jo werben wir doch ohne Selbſt⸗ 
täuſchung fagen können, daß der Einfluß, den die deutſche Wiſſen⸗ 


gebaut. Wir nennen nur beifpielsweile FJ. Panzer, ©. ® Rode 
holz, Hugo Wislicenus, Wolfg. Menzel, Theophil Rupp, Anton Ouike 
mann. 


730 Viertes Bud. Siebenles Kapitel. 


ſchaft gegenwärtig auf die übrigen Völker übt, größer ift, als ber 
entgegengejegte. 

In ben Niederlanden erhielt die Erforſchung der alten ein- 
heimiſchen Sprade und Literatur durch bie deutſche Wiſſenſchaft 
einen neuen Aufſchwung. Hier, wie überall, waren e8 vor allem 
J. Grimm's Arbeiten, die für die neue Forſchung die Grundlage 
boten. Außer feiner Grammatik regte noch insbeſondere feine 
Ausgabe des Reinaert (1834) den Eifer für die mittelnieder⸗ 
ländiſche Dichtung an. Neben Grimm hatten vorzüglich zwei 
deutſche Gelehrte einen unmittelbaren Einfluß auf die nieder 
ländifge Forſchung: Hoffmann von Fallersleben und Mone !). 
In den fühlichen Niederlanden, wo die Theilnahme an der 
einheimiſchen Forſchung feit lange gefhlummert Hatte, verband 
ſich jet das Intereſſe an der älteren mieberländifchen Dich— 
tung mit dem Kampf für die lebende vlaemiſche Boltsfprace. 
Diefelden Männer, welche in Flandern und Brabant das Recht 
der einheimiſchen vlaemifchen Sprache gegen die Uebergriffe des 
Franzöſiſchen vertheidigten, fürberten auch die Herausgabe und das 
Berftändni der alten mittelniederländifgen Dichtungen. An ihrer 
Spige ftand der trefflihe J. F. Willems (} 1846), neben mel- 
Gem Ph. Blommaert, €. P. Serrure, J. H. Bormans, F. 4. 
Snellaert, J. David (f 1866) u. U. für die Herausgabe mittel 
nieberländifcer Quellen thätig waren. — Wie in den ſüdlichen 
Niederlanden, fo erwachte auch in den nördlichen ein neuer Eifer 
für das Studium ber einheimifhen Sprache und Literatur, umd 
zwar hier in ftreng wiſſenſchaftlicher Weife und im ausgeſprochenen 
Anflug an die deutſche Forſchung 2). Bor allen ift hier zu nen 
nen M. de Bries. Durch feine gelehrten Arbeiten und als 
Lehrer der nieberländiihen Sprache und Literatur an der Univerfität 
Leiden gründete er eine neue Epoche ber einheimiſchen Wiſſenſchaft. 
Unter ben erfteren nennen wir feine Ausgabe von Jacob's van 


1) Bgl. die Inleiding zu Jacob van Maerlant’s Spiegel historiael, 
uitg. door M. de Vries en E. Verwijs, 8.1. — 2) Bpl. &. Marlin 
in ber Zeitschr. f. deutsche Philol. 1, 158. 


Der Fortbau der germ. Philologie in den neuſten Jahrzehnden. 731 


Maerlant Spiegel historiael, die er (1863) in Verbindung mit 
€. Verwijs bejorgte, fein mittelniederländiſches Wörterbuch 
(1864 fg.) und das von ihm und 8. . te Winkel (+ 1868) 
herausgegebene (neu) niederländiſche Würterbud (1864) fg. Neben 
be Bries nimmt W. J. 4. Jonckbloet, namentlich auf dem 
Gebiet der mittelnieberländifhen Literaturgefhichte eine hervor⸗ 
ragende Stelle ein. Außer ihnen könnten wir nod eine Reihe 
anderer Mitarbeiter nennen, wie A. €. Oudemans, P. J. 
Harrebomde, den trefflihen Sammler der niederländiſchen Sprid« 
wörter, u. A. Zugleich erwähnen wir hier die fortdauernde Thätig- 
teit ber Sriefen auf dem Felde ihrer Sprache und Geſchichte. 

In England mad fi auf dem Gebiet der germanifchen Philologie 
ein doppelter Einfluß geltend: der ſtandinaviſche und der deutſche. 
Der ſtandinaviſche durch Raſt, der deutſche durch Grimm. Im 
J. 1830 überſetzt Benj. Thorpe Raſk's angelſächſiſche Gram- 
matik in's Engliſche, und noch im J. 1865 läßt er eine verbeſſerte 
Ausgabe dieſes Werks erſcheinen. Ebenſo findet Raff’s isländiſche 
Grammatik (1843) einen Ueberſetzer in G. Webbe Daſent, und 
noch mehrere andere engliſche Arbeiten ſchließen ſich unmittelbar an 
Raſk an. Andrerſeits iſt der bedeutendſte engliſche Forſcher auf 
dieſem Gebiet, J. Mitchell Kemble (+ 1857) nicht nur ein 
Verehrer, fondern aud ein perſönlicher Schüler J. Grimm’s, und 
Kemble'3 Ausgaben des Beovulf (1833. 1835) find für die ger- 
manifhe Philologie in England epochemachend. Jedenfalls ift es 
erfrenlig, daß die don Skandinavien und von Deutſchland aus- 
gegangene Anregung in Verbindung mit dem alten Trieb, fih mit 
dem einheimiſchen Alterthum antiquarifh zu beihäftigen, umfrer 
Wiſſenſchaft bereits reihe Früchte getragen Hat. Eine Reihe von 
angelfähfiigen Denkmälern ift von J. Mitchell Kemble, Beni. 
Thorpe, J. ©. Cardale und Anderen theils zum erftenmal, theils 
in verbefferter Geftalt herausgegeben worden. Was die gram⸗ 
matiſche und lexilaliſche Bearbeitung der angelſächfiſchen Sprache 
betrifft, fo können J. Bosworth's Leiftungen jetzt nicht mehr ge- 
nügen. — Mit befonderem Eifer hat fi die Thätigfeit der eng- 
liſchen Gelehrten den mittleren Beiträumen ihrer Sprade und 


132 Viertes Buch. Siebentes Kapitel. 


Literatur zugewendet, und es wären hier bie Arbeiten von J. O. 
Halliwell, Thomas Wright, A. J. Ellis und Anderen zu erwäß- 
nen. Eine Entwicdelungsgeſchichte der engliichen Sprache auf Grund- 
Tage der neueren Forſchungen ſchrieb (1841) Rob. Gordon Latham. 
— Neben der einheimifgen Sprache und Literatur Hat fi bie 
engliſche Forſchung mit Vorliebe dem Skandinaviſchen zugewandt 
und auf dieſem Gebiet Bebeutendes geleifte. Wir Heben hervor 
die Schriften von &. Webbe Dafent, ©. Stephens und ind 
befondere Rihard Cleasby's (+ 1847) umfaffende Vorarbeiten 
zu einem Wörterbuch der altnordiſchen Profafprade. 

Unter den Standinaviern treten in unfrer Periode neben den 
Ssländern, Dänen und Schmweben die Norweger mit trefflicen 
Leiftungen auf dem Gebiet unfrer Wiffenfhaft hervor. Nach ber 
Lostrennung Norwegens von Dänemart (1814) entwickelt ſich dort 
ein ſtarkes und edles Nationalgefühl und in deſſen Gefolge ein 
Hoher Aufſchwung der einheimifhen Sprach- und Alterthums ⸗ 
forfhung. An der Spike ftand P. Andr. Mund (} 1863); 
vereint mit ihm find Rudolf Keyfer und K. Unger thätig, 
denen fi in neuerer Zeit Sophus Bugge würdig anfchliekt. 
Einerfeits dur gründliche Erforſchung der nordiſchen Sprade, 
Literatur und Geſchichte, andrerſeits durch vorzügliche Ausgaben 
altnordiſcher Quellen ftehen diefe norwegiſchen Gelehrten unter ben 
Germaniften unfrer Zeit mit in erfter Reihe. Ohne Vorurtheil 
nehmen fie an, was ihnen die deutſche Forſchung, namentlich 
J. Grimm bietet. Dabei aber gehen fie ihren felöftändigen Weg. 
Insbeſondere bringt Mund ein helleres Licht in bie alten ſtandi⸗ 
naviſchen Sprachzuſtände, indem er nachweiſt, daß das f. g. Alt 
nordifhe (die Sprache der Edben u. ſ. mw.) nit die gemeinfame 
Stammſprache des ganzen ſtandinaviſchen Norbens, fondern nur 
die Sprache der Norweger und Isländer war, während das Alt 
ſchwediſche und Altdäniſche zwar jenem Altnorwegifhen nah ver 
wandt, aber doch davon verſchieden war 1). — Ein fehr brands 


1) Bei der nahen Verwandiſchaft ber altſtandinaviſchen Sprachen hatte 
tropdem das Jslandiſche den daniſchen Spracjforfhern einen Apnlichen Dienf 


Der Fortbau ber germ. Philologie in den neuften Jahrzehnden. 738 


bares Wörterbuch des Altnordiſchen Lieferte oh. Fritzner. Um 
die Unterfugung der wichtigen norwegiſchen Vollsmundarten machte 
fih JIvar Hafen verdient 1). 

Die tsländifhen Gelehrten ftehen aud in unfrer Periode, 
wie von Anbeginn, in nächſter Beziehung zu den däniſchen. Kopen⸗ 
hagen bildet den Mittelpunkt für Beide. Man Hält Hier, ben 
Fortſchritten der anderen Völker gegenüber, noch lange an Raſt 
feft. Aber auf der von Raſt gelegten Grundlage entwidelt fi 
eine höchſt verbienftliche Thätigfeit für Erforſchung der altnordiſchen 
und älteren däniſchen Sprade und Literatur. Wir nennen hier 
nur als Herausgeber altnorbifger und älterer däniſcher Quellen 
die länder Zinn Magnusfon (f 1847), Yon Sigurds— 
fon, Speinbjörn Egilsfon (f 1852), Konr. Gislafon 
und Gudbrandr Bigfusfon, und die Dänen C. €. Rafn, 
Svend Grundtvig und P. G. Thorfen. Um genaue Er- 
forſchung der altnordiſchen Grammatik, namentlih der Lautlehre 
machte ſich unter den ſchon genannten Konr. Gislaſon, und 
neben ihm K. J. Lyngby, verdient. Epochemachend für den Sprach⸗ 
ſchatz der Dichter waren die Leiſtungen Sveinbjörn Egilsſon's, 
für den der Proſa die Gudbrandr Vigfusſon's. Sowohl bie 
ſprachliche als die ſachliche Seite des ſtandinaviſchen Alterthums 
machte der Düne Niels Matth. Peterfen zum Gegenftand 
feiner Forſchung. Der daniſchen Sprache widmete Chriſtian 
Molbech feine Bemühungen. 

In Schweden ift es weniger das Altnordiſche Cim engeren 
Sinne), als das Altſchwediſche und die Runeninſchriften, was die 
Gelehrten beſchäftigt. Als höchſt verbienftlih find hier in erfterer 
Beziehung zu nennen bie Leiftungen von J. Er. Rydquiſt, 
K. Säve, Sälyter und Guft. Edv. Klemming; in le 


gefeiftet, als wenn fie in ihm eine ältere Nieberfegung ihrer eigenen Sprache 


befägen. ©. o. ©. 101. — 1) Ueber die irrige Auffaffung des treffligen 


Keyfer, als gehöre bie alinordiſche Literatur mehr den Norwegern als ben J8- 
ländern an, vgl. Konr. Maurer in ber Zeitschr. für deutsche Philol. I, 
3 fg. 


734 Vierted Bud. Siebentes Kapitel. 


terer die von J. ©. Liljegren, Ri. Dybed, 8. Säve und 
Andre. Uppſtröm ). Die grundlegenden Arbeiten des zuletzt 
genannten auf dem Gebiet der gothifchen Tertkritit haben wir ſchon 
in einem früheren Abſchnitt rühmend erwähnt. 


SHhlunf 


Werfen wir noch einen Blick auf die Stellung, welde die 
germanifhe Philologie gegenwärtig im reife der verwandten Wif- 
ſenſchaften und im Leben einnimmt. Ws Theil der gefammten 
Sprach⸗ und Literaturforihung fteht fie in veger Wechſelwirkung 
mit allen philologifhen Studien. Bor allen ift e8 die ihr ver» 
ſchwiſterte romaniſche Philologie, welde die bebeutendften Anveguns 
gungen von der germaniſchen empfangen und ihrerſeits wieder 
manigfach fürdernd auf die germanifce zurückgewirkt hat. Aber auch 
mit den anderen Zweigen der indogermanifgen Philologie fteht 
die germaniſche in engfter Beziehung. Wie alle philologiige Wif- 
ſenſchaft, Hat fie fi geſchult an ber ftrengen und ausgebildeten 
Methode der Haffiigen Philologie. Die Erforfhung des Sanskrit 
und des Zend ift ihr, wie allen indoeuropäiſchen Studien, gewinn- 
Dringend gewejen. Die wiſſenſchaftliche Unterfuhung einerjeits des 
Litauiſchen und der ſlaviſchen Sprachen, anbdrerfeits des Keltiſchen 
bat aud der germanifchen Philologie gedient. Anbrerjeits haben 
alle diefe Wiffensgebiete die unverfennbarften Einwirkungen von 
Seite der germaniſchen Philologie erfahren. 

Aber nicht darin allein liegt der Wert der germanischen Philologie, 
daß fie ein Glied bildet in ber Kette der gefammten Sprad- und 
Literaturforſchung. Ihre weſentlichſte Bedeutung in unferem Bater- 


1) ®gl. Thd, Möbius, Ueber die altnord. Philologie im skan- 
dinav. Norden. Lpz. 1864. 


Sqhluß· 785 


land gibt ihr die Stellung, welche fie im Kreife ver Wiſſenſchaften 
einnimmt, deren Gegenftand das deutſche Volk ift. Sie fteht in 
der engften Beziehung zu dem großartigen Aufſchwung, ben die 
Erforſchung der deutſchen Geſchichte nach allen Seiten Hin genommen 
hat. Die Thaten und Schidfale des deutſchen Volkes, fein Recht, 
feine Kunft, feine gefammte Kultur werden in unfrer Zeit mit 
einer Grünblicfeit erforſcht, einer Wärme und Lebendigkeit darge⸗ 
ftellt, von der frühere Jahrhunderte kaum eine Ahnung hatten. 
In dieſem reife nimmt die Erforſchung der deutſchen Sprade und 
Literatur eine der wictigften Stellen ein. Nad) langen Wander 
ungen in ber Fremde find wir endlich wieber in unfrer eignen 
Heimath eingefehrt. Nicht als ſollten wir uns abſchließen gegen 
alfe übrigen Völter. Ein ſolches Verfahren könnte nur zu Ver- 
Kimmerung und Barbarei führen, und Nichts würde fo fehr dem 
Geift und Bildungsgang unferes Volkes widerſprechen. Ein Kultur. 
volk fteht im lebendigen Zufammenhang mit den Völkern der Ver- 
gangenheit und Gegenwart, auf denen die Entwidelung der Menſch⸗ 
heit ruht. Es lernt von ihnen allen und nimmt die überflommenen 
Elemente in feine Bildung auf. 

Bei alle dem aber behauptet ein ebles und Iebensfähiges 
Bolt feine Eigenart. Auch ihm ift feine Aufgabe in der Geſchichte 
ber Menſchheit zugewieſen, und um fie zu löſen, muß es bie auf 
genommenen Bildungselemente in feiner eigenen Weife verarbeiten 
und mit den ihm eingepflangten Kräften verſchmelzen. Nirgends 
zeigt fih jene Aufrechthaltung der eigenen Art troß ber manig- 
faltigften und tieften Einwirkung des Fremden fo entſcheidend, wie 
in der Sprade. Auf ihr ruht die Erhaltung des Volfes, und dies 
um ſo vormwiegender, wo nicht mehr phyſiſche Verwandtſchaft und 
nationale Religion die Gränzen eines Volles umſchreiben. So 
aber ift es mit ben Kulturvölkern unferes Beitalters. In dem 
unfhägbaren Werth unfrer Sprade liegt zugleich die hohe Bedeu⸗ 
tung, welde die Wiſſenſchaft von diefer Sprahe und ihrer Literatur 
bat. Bon den höchſten Spigen bes geiftigen Lebens bis in bie 
weiteften Kreiſe der allgemeinen Volksbildung erftredt fie ihre 
Wirkſamleit. 


736 Schluß. 


Ber möchte bie Wiffenfgaften, bie ums das Weſen und bie 
Entwidelung unferes Volles auffäließen, gegen einander abwägen, 
ober der einen ben Vorzug vor der anderen ertheilen? Aber wie 
die Sprache der tieffte Ausdruck unferes Volkes ift, fo ift die Wif- 
ſenſchaft von dieſer Sprache und den in ihr niedergelegten Geiftes- 
werfen gleichfam bas Herz der Wiſſenſchaften, bie fih bie Exfor- 
{hung unferes Volfes zur Aufgabe gejegt haben. 





Regiſter. 


Die fehe zablreien Namen der belden Iepten Kuptiel, bie fich leicht an Ort und Sielle 
auffinden Tafien, find mar tfellwelfe in daS afphabetifge Regifter aufgmommen. 


Adelung, Friebr. 263. Bergmann 246. 
Abelung, Joh. Chriſtoph 210. 487. Bernd 487. 

Afzelius 469. Bernhard 689. 
Albertus 65. Veſold 75. 

Amman 185. Beſſell 689. 

Anbrene 108. 148. Befleldt 498. 

Andreſen 712. Biefler 231. 

Ambt 814. 315. Bilderdijt 468. 

Atnim 372. Binder 246. 

Arntiel 182. Binbfeil 716, 

Arr 830. Bidrner 154. 

Aufreht 624. Bod 248. 

Auffep 588. Dich, 285. 

Aventinus 19, 61. Böding 716. 
Barrington 195. Vöbifer, 3. 186, 
Barthel 677, Bobmer 254. 266. 
Bartholin, Alb. 149. Boie 273. 

Bartholin, Rasmus 149. Boifferde 494. 
Bartholin, Thom. d. &. 149. Bopp 606. 687. 
Bartgolin, Thom. d. j. 19. - Botin 480. 

Bartſch 672. 694. 703. 708. Bouterwel, Friedr. 659. 
Bauer 491. Bouterwel, 8. W. 691. 
Bäumlein 605. Borhorn 9. 

Bebel 12. Breitinger 254. 266. 
Becanus 89. Brentano 372. 

Beder, K. Gerd. 625. Brower 59, 

Beder, Theo. 626. Bruns 380. 

Benede 455. 540. Bureus 105. 

Benfey 624. 728. Bürger 282. 

Benfon 189. VBüfsing, Ant. F. 252. 


Benzel 202. Büpging, I. Guſt. 332. 401, 


738 Regifer. 


Gamben 98. Fabricius 258. 
Campe 487. dichie 314. 
Cafaubonus 99. Finsfon 198. 
Caſparſon 263. Firmenich 728. 
Caſiricomins 98. Fifher 701. 
Geitis 18, Flacius 88. 
Chyiraeus 245. Flögel 288, 
Cholevius 670. dorſtemann 718. 

- &lajus 68. ger 9. 
Clauberg 87. Frand, Bernh. 180. 
Glensby 732. Frangt, Fabian 62. 
Clignett 194. 467. Freher 50. 
Gonring 49. Freytag 672. 
Conybeare 468, Feid 178, 
Granmer 96. driſch 189, 244. 
Eurtius 622. Frommann 716. 722. 
Dahlmann 605. Fulda 209. 216. 246. 247. 249. 330, 
Däpnert 244. Gabeleng 688, 
Danzel 680. Garbie, be Ia 151. 
Daſypodius 84. Gaſſat 38, 
Delbrüd 622. Gatterer 49. 
Denis 273. Gebauer 605. 
Diecmann 176. Geier 469. 
Diefenbach 689, TIL. Geliert 268. 
Diemer 690. Gelger 677. 
Dietrich 691. 692. 693. Gerbert 258. 
Docen 343, 351. 395. 498. 486. @erfienberg 272. 
Eberhard 488. Gervinus 682. 
Chart 168. Geöner Cont. 97. 
Egilefon 738. Gesner, Joh. Math. 205. 
Eichendorff 670. Giefebreht 605 
Eichhorn, 3. Gottfr. 659. Girbert 72. 
Eichhorn, Karl Friede. 494. Giſeke 289. 
Einarfon 198, Gleim 269. 
Eitner 661. Gley 253. 
Elichmann 9. Gebete 669. 673. 717. 
Ellis 468, Golbaft 52, 
Elſtob 195. Golbmann 330. 
Elwert 287. Gbraneſon 199. 
Erichſen 197, Görres 365. 
Erichſon 258. Goethe 283. 290. 298. 321, 49%. 
Eigenburg 268. Gotihold 493. 


&ttmäller 605. 670. 691. 698. 698. Gättling 498. 
uers 498. Goitſchau 676. 





Regißer. 439 


Gottfejeb 204. 266. Heynag 209. 
Gößinger, €. 632. ‚Heyne 688. 689. 691. 711. 
Gößinger, Mar W. 632. ‚Heyfe, 3. Ch. A. 491. 69. 
Gdz 605. Heyſe, Karl 625. 629. 
Grau 205. Hides 129. 
Staff 598. Hildebrand TIL, 
Gräter 284. 329, 435. 496. Hillebrand 676. 
Grein 622. 691. 692. ‚Höfer, Albert 624. 694. 
Grimm, Brüder 378, 494. 495. 632. Höfer, Matthi. 491. 

648. ‚Hoffmann von Fallersleben 581. 585. 
Grimm, Jacob 879. 499. 585. 609. 598. 602. 

635. 654, 693. 697. Hofftenius 60. 
Grimm, W. 380. 534. 645. ‚Holymann 622. 688. 698. . 
Groote, 605. Homeyer 605. 
Grotefend 491. Höpfner 686. 720. 
Gxotius 95. ‚Horn 659. 
Grundtoig 469. Hottinger 187. 
Gruppe 673. 720. Sumbofbt 626. 628. 630. 
Gryphiander 75. Hunger 48, 
Guben 661. Hupel 246. 
Gueing 72. Hutten 81. 
Guhrauer 680. Huydecoper 193. 
‚Hageborn 268. ‚Hwitfelb 101. 
‚Hagen 381. 400. 413. 414, 579, Jacobi 688. 
‚Halborsfon 198. 471. Jahn 314. 317. 
Haltaus 248. Jamiefon 468. 
Hamann 276. Jariſamer 64. 
Sarnif 419. Ihre 200. 
Harsbörffer 71. Ingram 468. 
‚Safe 672. Joscelin 97. 183. 
‚Hielein 246. 605. Jehnſon 195. 
‚Hattemer 689. Jondbloet 781. 
Haupt 589. 601. 686. Joneſon, Arngr. 103. 
Heinfius 488. 490. Zonsfon, Finne 198. 
‚Heinze 209. Zonsfon, Run. 103. 
Helwig 87. Jordens 660. 
deniſch 86. Zunius 106, 
Hennig 246. Kanne 862. 
‚Herder 216. 276. 290. Karajan 554. 690. 
‚Herling 632. Rausler 695. 
er 47. Rate, ten 199. 
derzog 661. Kelle 623. 690. 
Hettner 676. Keller 694. 709. 


Heupel 182. Relpius 243. 


440 Regifter. 


Remble 731. zübben 694. 695. 
Keyßler 182. Lucae 672. 

Kilianus 90. Züning 698. 
Kinderling 258. Qutger 31. 32. 

Kling 605. &ye 194. 

Kiopfod 234. 270. 272. Modler 85. 

Anittel 252. Maaß 489. 

Koberftein 661. 709, Magnus, Joh. 105. 
Rob, Ed. Em. 671. Magnus, DL. 105. 
Koch, Erduin Jul. 288. Magnusfon, Ami 149. 197. 
Ko, Frieder. 695, Magnusfon, Zinn 733. 
Köffinger 330. Magnusion, Gubhm. 198. 
Köhler 182. 183. Mailsth 330, 

Kolbe 489. Mallet 272. 

Koltop 64. Mannhardt 727. 
Köppen 605, Manning 195. 
arachenberger 62. Mafmann 590. 595. 
Kromayer 72. Mätner 695. 

Kuhn 624. 727. Maurer 692. 

Auniſch 661. Meier 248. 

Rurz 670. Meisner 243. 
LSachmann 457. 540. 595. 602. 696. Meifter 252. 

697. Menzel, R. 672. 
Lacomblet 605- Menzel, Wolfgang 674. 
Lambarde 97. Mercator 92. 

Lambed 165. Merula 93. 

Zange 605. Meufeba 596. 

Langebet 198, Meyer, Joachim 717. 
Zappenberg 605. 694. Meyer, X. 672. 705. 

Laßberg 584. Meyer, Leo 623. 689. 

2zlus 25. Michaeler 252. 263. 

Leibniz 155. 159, 248. Milius 98. 

Leichtlen 605. Möbius 692. 

Leo 605. Moller 182.” 

Leſſing 273. Mone 500. 588. 

Lerer 696, 723. Mohnike 605. 

gilieneron 672. 700. 714. Morhof 155. 

Limmaeus 75. Moriz 242. 

Lindemann 670. , Mortenfen 101. 

Lindenbrog 49. Möfer 284. 

Kipfins 98. 95. Müllenhoff 639. 642. 671. 689. 691. 
CJele 98. 692. 693. 699. 727. 

Löche 688, Müller, Chriſtoph Heint. 258. 


Lochell 876. Mälter, Joh. 289. 331. 


Regifter. 


Müller, Pet. Erasm. 469. 

Müller, Wilh. 696. 701. 

Mund 732. 

Münfter 28. 

Murro 11, 

Myller, Chriſtoph Heint. 258. 

Naft 209. 250. 

Nicolai 246. 282. 

Nowel 97. 

Nyerup 196. 

Oberlin 263. 

Dechele 604. 

Dlafeſon, Jon 198. 

Olafsſon, Magn. 103. 148. 

Dlafsfon, Of. 198. 

Dlafefon, Steph. 148. 

Dlearius 72. 

Delinger 64. 

Opig 60. 70. 

Detter 330. 

Palthen 176, 

Banzer 287. 830. 

Parker 96, 

Paſch 702. 

Pauli 692. 

Pauli, ©. 60. 

Paus 198. 

Vercy 195. 

Peringſtidld 154. 

Very 494. 

Peterſen 252, 

Peutinger 17. 

Be, Vernh. 181. 

Pez, Hier. 181. 

Pfaff 500. 

Pfeiffer, gram 672. 686. 687. 702. 
707. 709. 722, 

Pfeiffer, Friedr. 698. 

Pigler 672. 

Piſchon 660. 

Pontanus 94. 

Popowitſch 209. 246. 

Bott 628. 

Prof) 248. 


441 


Primiſſer 581. 605. 

Brup 677. 678, 

Mablof 487. 490. 492. 632. 

Rafn 738. 

Raphelengius 95. 

Rapp 676, 

Raſt 469. 470. 507. 

Raßmann 660. 

Ratihius 71. 

Rawlinſon, Chriſtoph 139. 

Rawlinſon, Richard 195. 

Reinbed 491, 

Reinwald 330. 435. 

Rejenius 146, 

Rhenanus 23, 

Richey 244. 

Richthofen 692. 

Rieger 672. 691. 700. 

Ritfon 468. 

Roſenkranz 672. 

Rofigaard 150, 

Roth, Georg Mic, 490. 

Roth, R. 702. 

Rüdert 722. 

Rubbed 153. 

Rüdiger 242. 

Rugman 152. 

Rumpelt 688. 

Rydquiſt 738, 

Sandvig 196. 

Scaliger 95. 

Schade 589. 688. 690. 

Sqede 182. 

Scheffer 158. 

Scherer 622. 671. 672. 688. 690. 

Säe 178. 

Sqiller 695. 

Schilter 176. 

Schimmelmann 286. 

Schlegel, Aug. Wild. 304. 322. 326, 
851. 452. 607. 622, 

Sälegel, Feier. 804, 822. 325. 354. 

Söleider 628. 

Sälöger 286, 


442 


Sämeller 555. 

Schmid, Joh. Caſp. 245. 
Sqhmid, Joh. Phil. 179. 
Schmid, Reinhold 691. 
Schmidt, Julian 674. 
Sqhmitthenner 632. 
Sqhobinger 52. 
Shöngurh 604. 
Shöning 197. 
Schottelius 72. 

Säubert 493. 

Sulz 672. 

Säulge 689. 

Schuppius 205. 

Shüge, Joh. Friedr. 491. 


Schüge, Gottfr. 263. 271. 


Sqhwarb 727. 
Scott 468. 

Seyvert 246. 
Sichard 47. 
Simrod 602. 
Stinner 189. 
Stulaſon 103, 
Smith 139. 
Somner 100. 
Sotberg 202. 
Spangenberg 55. 
Speibel 75. 
Spelman, Henry 99. 
Spelman, John 99. 
Stade 173. 

Stalder 491. 

Start 719. 

Stein 494. 
Steinbach 187. 
Steinheil 491. 500, 
Steppanius 102. 
Stevin 95. 

Stieler 187. 
Stjernhjelm 151. 
Stoſch 241. 
Gtrobtmann 244. 
Stubad; 605. 
Stumpf 30. 


Regifier. 


Suhm 195. 

Soeinsion 103. 197. 
Thomaſius 205. 
Thortelin 469. 
Toorlacius, Börge 469. 
Thorlacius, Stuli 197. 
THorlacius, TH. 149. 
Thorpe 731. 

Thwailes 138. 139. 

Tied 296. 322. 323. 
Torfafon 148. 149. 
Trithemius 15. 

Troil 204. 

Tichudi 30. 

Zurmair 19, 61. 

Tumer 468. 

Ugland 568. 671. 
Uppfiräm 689. 

Badianus 29. 

Vater 492. 

Bebel 101. 

Veeſenmeyer 330. 
Verelius 152. 

Bernalefen 712. 

Bibalin 149. 

Bigfusfon 738. 

Bilmar 668. 672. 691. 728. 
Vorſt 183. 

Voß 488. 

Boffins, Ger. 108. 111. 
Voſſius, Iſaak 117. 
Bries 780. 

Vulcanius 92. 

Wadhler 660. 

Wachter, Ferd. 605. 
Wachter, Joh. Georg 188. 
Wadentober 296, 
Badernagel, Phil. 671. 715. 
Badernagel, With. 597. 668. 705. 
Wagenſeil 183. 

Bagner 205. 

Wait 639. 644. 689. 
Wanley 133. 

Weber 468. 


Regifler. 


Wehner 75. Windiſch 691. 

Weigand 711. Binterfeld 678. 

Weinhold 672. 678. 692. 722. Wiemayr 490. 

Weller 672. 678. Wolf, derd. 672, 

Werlauff 469. Wolf, Friedt. Aug. 290. 
Weftpfal 622. 688. 721. Bolte 489. 

Wielod 9. Worm 102. 147. 

Wiarda 248. Bader 672. 686. 687., 
Wiedeburg 257. Zahn 830. 

Bieland 231. 269. Zarnde 696. 699. 710. 720. " 
Biggert 605. Zaupfer 245. 

Bilde 698. Zeune 320, 

wiltins 189. Ziemann 605. 696, . 
Billems 730. Zingerle 672, 

Billenbüger 252. Zupiba 705. 


Wimpheling 10. 16. 


Dont von @. 19. Jacob in Erlangen. 


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