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8
Geſchichte
der
Wiſſenſchaften in Deutſchland.
Henere Zeit,
Neunter Band.
Geſchichte der germanifchen Philologie.
AUF VERANLASSUNG HERAUSGEGEBEN
UND MIT DURCH DIE
UNTERSTÜTZUNG HISTORISCHE COMMISSION
BEINER MAJESTÄT BEI DER
DES KÖNIGS VON BAYERN KÖNIGL. ACADEMIE DER
MAXIMILIAN II. WISSENSCHAFTEN.
Münden, 1870.
R Oldenbourg.
Geſchichte
Germaniſchen Philologie
vorzugaweiſe in Bentfchland
von
Rudolf von Raumer.
AUF VERANLASSUNG HERAUSGEGEBEN
UND» MIT DURCH DIE
UNTERSTÜTZUNG HISTORISCHE COMMISSION
SEINER MAJESTÄT BEI DER
DES KÖNIGS VON BAYERN KÖNIGL. ACADEMIE DER
MAXIMILIAN II. WISSENSCHAFTEN.
Aünchen, 1870.
R Oldenbourg.
Danzeov, Google
8
Yorwort.
Eine Geſchichte der germaniſchen Philologie kann nicht beab-
fihtigen, nad) Art eines Repertoriums alle auf diefem Gebiet erſchie—
nenen Schriften zu verzeichnen. Ihre Aufgabe wird vielmehr fein,
aus der Maſſe des Vorhandenen die Erſcheinungen hervorzuheben,
welde den Entwillmgsgang der Wiffenfhaft erfennen Laflen. Fir
die bibliographiſche Seite hat Heinrich Hoffmann's Deutſche Philos
Iogie (1836) einen guten Anfang gemacht, für bie eigentlich hiftorifche
Darſtellung unfrer ganzen Wiſſenſchaft aber ift noch wenig gefchehen.
Bährend ich mit der Ausarbeitung meines Werts beihäftigt war,
erſchien (1865) W. Scherer's Schrift über Jac. Grimm, und id
frene mic}, mit biefem geiftvollen Forſcher in vielen Punkten über-
einzuſtimmen.
Die Gränze, bis zu welcher ich meine Geſchichte fortführe,
bilden die älteren Schüler Lachmann's. Das legte Kapitel, fo wie
Alles, was in den früheren über jene Gränze hinausgreift, bitte ich
deshalb nur als eine unvermeidliche Dreingabe zu betrachten.
Ich wilrde außer Stande gewejen fein, dies Buch zu fchreiben,
wenn ich nicht von ben Vorftehern einiger ber größten Bibliothelen
in freumblicfter Weiſe unterftägt worden wäre. Ich fage hier vor
allen meinen wärmften Dank dem Herrn Director Halm, der mir
in Tiberalfter Weife die Benügung der Königlichen Hof- und Staats⸗
bibliothek in Münden ermöglichte. Ebenſo bin ih den Herren Hof-
rath Hoed und Profeſſor Schweiger für die zuvorkommende Weife,
in der fie mir den Gebrauch der Göttinger Bibliothek geftatteten,
und dem Herm Geh. Rath Pers für die freundlichen Mittheilungen
aus der königlichen Bibliothek zu Berlin dankbar verpflichtet. Die
vI Vorwort.
Bibliothek des unter Effenwein’8 nnd Frommann's Leitung ſich kräftig
entwidelnden Germaniſchen Muſeums fand mir dur Frommann's
befannte Gefälligfeit zu Gebote.
Der Drud meines Werkes nahte feiner Vollendung, als plög-
lich unfrem Vaterland von Frankreich der Krieg aufgebrungen wurde.
Die herrlichen deutſchen Siege, durch deutſche Einigkeit, Tapferkeit
und Einfit unter Gottes Beiſtand errungen, zeugen bafir, daß
unſer Bolt nod in voller Kraft ſteht. Gott wolle unfre Waffen
ferner feguen! Und möge dann in einem Friedensſchluß, ber ben
glänzenden Thaten unſres Heeres entfpriht, das nachgeholt werden,
wos man 1814 und 1815 verfäumt hat!
Erlangen am 22. Auguſt 1870,
Rudolf von Raumer.
Inbalt.
Etſtes Buch. Die Anfänge der germaniſchen Philologie bis zum
Jahre 1665. ©. 1.
Erſtes Kapitel. Ginleitung ©. 1.
Zweites Kapitel. Die Anfänge ber deutſchen Alterthumsforſchung im Re
formationggeitalter ©. 4.
Die Wieberbelebung bes klaſſiſchen Alterthums und die deutſche Alter-
thumsforſchung &. 5. — Die Reformation ber Kirche unb bie deutſche
Philologie. Erfte Ausgabe des Otfrid S. 31. — Die Anfänge ber
vergleichenden Sprachforſchung und bie germaniſche Philologie S. 87. —
Die deutſchen Juriſten und die germaniſche Philologie S. 46.
Drittes Kapitel. Die Thaͤtigkeit auf dem Gebiete ber älteren germaniſchen
Spraden vom Ausgang bes 16. Jahrhunderts bis zum J. 1665 ©. 48,
Biertes Kapitel. Die grammatiſche Behandlung ber deutſchen Sprache bis
zum 3. 1665 ©. 61. .
Die deutfhe Grammatik im fehzehnten Jahthundert ©. 61. — Die
deuiſche Grammatik im fiebzehnten Jahrhundert Bis zum J. 1665 ©. 70,
Fünfte Kapitel. Die lexilaliſche Bearbeitung ber deutſchen Sprache bis
zum 3. 1665 ©. 83,
Sehfied Kapitel. Die Anfänge der germaniſchen Philologie in den Nieder:
fanden, in Englanb und in Skandinavien S. 88.
1. Die Anfänge der germanifhen Philologie in ben Niederlanden Bis
auf Franciscus Junius &. 88.
2. Die Anfänge ber germanifden Philologie in England bis auf Fran—
ciscus Junius ©. 96.
3, Die Anfänge ber germanifgen Philologie bei ben ffaubinavifgen
Bölfern bis zum 3. 1665 ©. 100.
weites Buch. Die germaniſche Philologie von der Herausgabe des
Eoder argentens bis zum Auftreten der Romantifer 1665 bis
1797 ©. 106.
Erfes Rayitel. Die germanifhe Philologie in den Niederlanden, in Eng⸗
land und in Sfanbinavien von 1665 bis 1748 ©. 106.
vm Inhalt.
1. Die germaniſche Ppilelogie in den Niederlanden und in England von
1665 bis 1748. Franciscus Junius. George Hides. Lambert ten
Kate 6. 106,
Franciscus Junius. Das Leben des Franciseus Junius
©. 107. — Die Leiftungen des Franciscus Junius S. 121. —
George Hiees. Das Leben des ©. Hides ©. 129. — Die Lei⸗
ſtungen des ©. Hides S. 131. — Lambert ten Kate ©. 139.
2. Die germanifhe Philologie bei den ſtandinaviſchen Wölfen vom
3. 1665 bis zum 3. 1748 ©, 146,
Zweite Kapitel. Die germanifche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748.
©. 154. J
1. Anregungen durch Morhof und Leibniz ©. 154.
2. Die Thätigkeit auf dem Gebiete der altgermaniſchen Sprachen in
Deuiſchland vom 3. 1665 bis zum J. 1748 ©. 165.
3. Grammatiſche und Ierifalifhe Bearbeitung ber neuhochdeutſchen Sprache
vom 3. 1665 bis zum 9. 1748 ©. 185.
Drittes Kapitel. Die germanifhe Philologie in ben Niederlanden, in Eng:
land und in Sfanbinavien von 1743 bis 1797 ©. 198.
Viertes Lapitel. Die germanifge Philologie in Deutfland von 1748 Bis
1797 ©. 204.
1. Grammatiſche und lerifalifcpe Bearbeitung der neuhochdeutſchen Sprache
vom J. 1748 bis zum 3. 1797 ©. 204.
2. Die Bearbeitung der deutſchen Vollsmundarten bis zum J. 1797
©. 242.
3. Die älteren germanifgen Sprachen unb Piteraturen in Deutſchland
und die Einwirkung ber deutſchen Klaſſiker auf die germanifde Phi-
Tologie in den Jahren 1748 bis 1797 ©. MT.
Die linguiſtiſch-antiquariſche Behandlung ber älteren germani-
ſchen Sprachen von 1748 bis 1797 ©. 248. — Die Herausgabe
mittefpogbeutfcper Dichtungen. Oberlin's Gloffar ©. 254. —
Die Einwirkung ber deutfhen Klaſſiker auf die germaniſche Ppilo-
logie in ben Jahren 1748 bis 1797 ©. 266.
Drittes Sud. Vom Auftreten der Romantifer bis zum Erfcheinen
von Grimm's Grammatik. 1797 bis 1819 ©. 292.
Erſtes Kapitel. Die Romantifer ©. 292.
Die Romantifer von 1797 bis 1806 ©. 292.
2. Lied. Wagenroder ©. 296. — 9. W. Sälegel. F. Schlegel
©. 304.
Die Nieberwerfung Deutſchlande durch bie Franzoſen in den Jahren
1805 und 1806 und das Grivadjen ber deuiſchen Geflnnung. Fichte.
Arndt. Jahn ©. 313.
Inhalt. I
Die Häupter der romantiſchen Schule und deren Thätigfeit auf dem
Gebiet ber germanifhen Philologie in den Jahren 1806 bis 1819
©. 321.
Zweites apitel. Die altbeutihen Gtubien zur Zeit bes Auftretens der
Brhder Grimm ©. 338. .
$. 5. vom der Hagen S. 831. — Docen ©. 348. — Die Auf:
findung des älteren Citurel durch Docen. Docen’s und A. |. Ele
gels Anfihten über denſelben S. 851. — Die Einführung des Gans:
frit in ben’Kteis ber beutfchen Forſchung durch Friedrich Schlegel &. 354.
— Wınolb Kanne ©. 362. — Fol. Gorres ©. 365. — Memim und
Brentano ©. 372.
Drittes Aapitel. Das Leben umb bie Arbeiten ber Brüber Grimm bis
zum J. 1819 ©. 378.
1. Das Leben ber Brüber Grimm bis zum 3. 1819 S. 878,
2. Die Arbeiten ber Brüder Grimm in ber erfien Periode ihrer Tätige
feit 1807 bis 1819 ©. 390.
Jac. Grimm’s Arbeiten von 1807 bis 1811 6. 392,
Jac. Grimm's Streit mit Docen und F. H. von ber Hagen
über bie Minnefänger und Meifterfänger S. 895. — Jac.
Grimm: Ueber ben alideutſchen Meiſtergeſang. Unterſcheidung
vom Natur» und Kunſtpoefie S. 402. — Jac. Grimm über bie
Sage und ihr Verhäliniß zur epiſchen Porfie und Geffichte
©. 408.
®. Grimm's Arbeiten von 1807 is 1811 ©, 411.
®. Srimm’s erfle Arbeiten 1807 bis 1810 ©. 411. —
®. Grimm’s Altdäniſche Helbenlieber 1811 ©. 419,
Die gemeinfamen Arbeiten ber Brüder Grimm 1812 bis 1816
©. 422.
Die Kinder» und Hausmärden ©. 423. — Die beutfchen
Sagen ©. 428. — Die Altbentihen Wälder ©. 482, — Die
Ausgabe bes Oildebrandeliebs S. 435. — Die Ebddalieder
©. 436. — Der Arme Heinrich ©. 488,
Die gefonderten Arbeiten Zac. Grimm's und W. Grimm’s 1811
bis 1817 ©. 489.
Jar. Grimm „über Mythos, Epos und Geſchichte“ 1813
©. 489. — ac. Grimm’s Jrmenftrage und Zrmenfäule 1815
©. 441. — ac. Grimm’s Wlfpanifge Romanen S. 443. —
Jar. Geimm’s Beiträge zur Zeitfgrift für geicichtliche Reis:
wiſſenſchaft 1815 bis 1817 ©. 449. — leinere Urbeiten Jac.
und W. Grimm's 1811 bis 1816 ©. 445,
Rüdblit auf I. Grimm's Anſichten und Leiftungen während
ber erften Periode feiner Tpätigfeit 1807 bis 1819 6. 446,
x Inhalt.
Biertes Kapitel, Die Wendung zu firengerer Wiſſenſchafilichteit 1815 bie
1818 ©. 452.
U W. Schlegel's Beurteilung ber Altdeutſchen Wälder S. 452.
©. 3. Benede's frühere Arbeiten S. 455.
K. Lachmann's Anfänge S. 457.
Franz Bopp's erfles Auftreten ©. 462.
Fünftes Kapitel. Die germaniſche Philologie in den Niederlanden, England,
Schottland und Skandinavien 1797 Bis 1819 ©. 467.
Rofınus Kriftian Raft S. 470. — Raffs Leben S. 479. — Raſt's
Leiftungen S. 475. — Raſt's Forſchungen auf dem Gebiet ber germa-
nifgen Sprachen bis zum J. 1822 ©. 477. — Raſt's Arbeiten auf
bem Gebiet ber germaniſchen Sprachen feit bem J. 1822 ©. 485.
Sechſtes Kapitel. Die Bearbeitung ber neuhochdeutſchen Schriftſprache und
ber deutſchen Vollsmundarten in ben Jahren 1797 bis 1819 ©. 487.
Siebentes Kapitel, Rüdblid S. 492.
Viertes Buch. Die germanifche Philologie dom Erſcheinen von
Grimm's Grammatit bis zur Gegenwart. 1819 bis 1869
©. 495.
Erſtes Kapitel, Die Brüber Grimm 1819 bis 1840 ©. 495.
1. Leben ber Brüber Grimm 1819 Bis 1840 ©. 495.
2. ac. Grimm’s Arbeiten von 1819 bis 1840 ©. 499,
Die deutſche Grammatik ©. 499.
Die deutſchen Rechtsaltertfümer S. 523.
Die deutſche Mythologie S. 525.
I. Grimm’s Reinhart Fuchs und übrige Arbeiten von 1819
bis 1840 ©. 531.
3. W. Grimm’s Arbeiten von 1819 bis 1840. BVerfdiebenheit Jac.
Srimm’s und W. Grimm’s S. 534.
Zweites Kapitel. Die Mitforſcher ber Brüder Grimm S. 540.
1. R. Lachmann (1819—1851). ©. F. Benede (1819—1844) ©. 540.
2. Joh. Andr. Schmeller ©. 555.
3. Ludwig Uhland S. 566.
4. Die anderen Mitforfjer ber VBrüber Grimm ©. 579,
F. H. von ber Hagen ©. 580. — Mone. Lapberg S. 583. —
Hoffmann von Fallersieben ©. 585. — Maßmann S. 5%. —
Staff ©. 598. — Meuſebach S. 596. — Wilhelm Wadernagel
©. 597. — Moriz Haupt S. 601. — R. Simeod ©. 602.
Drittes Kapitel, Das Sanskrit und beffen Einwirkung auf bie Erforſchung
der germaniſchen Sprachen &. 606.
1. Franz Bopp ©. 606.
Inhalt. xi
2. Der fortbauerude Einfluß des Sauskrit auf die Erforſchung ber ger:
manifen Spraden S. 621.
Bierted Kapitel. Die ſchulmaͤßige Behandlung bes Neuhochdeutſchen in ben
Jahren 1819 bis 1840 ©. 624.
Fünfte Kapitel. Das Leben und die Werke ber Brüder Grimm vom
3 1840 bis zu ihrem Tob ©. 632.
1. Das Leben ber Brüder Grimm vom 3. 1840 bis zu ihrem Tod
©. 632.
2. 3. Grimm’s Arbeiten vom 3. 1840 bis zum J. 1863 ©. 635.
Weisthümer S. 635.
Geſchichte der deutſchen Sprache S. 637.
Kleinere Arbeiten S. 641.
3. W. Grimm's Arbeiten vom J. 1840 bis zum 3. 1859 ©. 645.
4. Das deutſche Wörterbud der Brüber Grimm Sr 648.
5. Jacob Grimm. Schluß S. 654.
Cehfied Kapitel. Die Bearbeitung der deutſchen Literaturgeſchichte S. 658.
Sitbentes Kapitel, Der Zoribau ber germaniſchen Philologie in den neuflen
Jahrehnden ©. 684.
Gothiſch S. 688. — Althochdeutſch S. 689. — Altfähf., Angelfächl.,
Frieſiſch, Altnordiſch, Runen S. 691. — Mittelniederdeutſch, Mittel
niederlã ndiſch Englifh ©. 694. — Mittelhochdeuiſch ©. 696. —
Neuhochdeutſch S. 711. — Die germanifgen Eigennamen &. 718. —
Die deutfche Metrit S. 719. — Die Erforſchung ber deutſchen Volts—
mumbarten ©. 721. — Die beutfe Mythologie &. 725. — Die
germaniſche Philologie in den Niederlanden, in England und in Sfanbina-
vien S. 729. — Schluß ©. 734.
Berbefjjerungen
©. 32, 3. 10 Ties ſah fi. — ©. 183, 3.30 1. Joscelin —
S. 215, 3. 181. Im 3. 1659 erigien biefer Nomenelator zum feßten
mal. (Vgl. Liſch in den Jahrbb. des Vereins für meklenb. Geſch. 23, 139).
— & 3.30 1. Johann. — ©.38, 3. 10 1. 1815, — ©. 827,
3. 26 1. das Nibelungenlid. — S. 334 if die Anm. zu ſtreichen. —
©. 48, 3. 8 1. felbR unfern. — ©. 589, 3. 26 1, bibllographiſchen.
Erſtes Bud.
Die Anfänge der germanifhen Philologie bis zum
Jahre 1665.
Erfies Aapitel,
‚Einleitung.
Ber Gegenftand diefes Wertes iſt bie Geſchichte der germani-
ſchen Philologie. Das Wort Philologie wird aber in einer dop-
pelten Bedeutung gebraucht, einer weiteren und einer engeren. Im
weiteren Sinn ift die Philologie die Wiffenfgaft von den gefamm-
ten Sebensäußerungen eines Volles; im engeren beſchränkt fie ſich
auf die Erforſchung der Sprache und Literatur. In diefem zweiten
Simm nehmen wir das Wort in unferer Geſchichte ber germanifchen
Philologie. Nicht als wollten wir den Philologen von ber Kennt
niß deſſen ausſchließen, was ein Volt auf allen übrigen Gebieten
geleiftet Hat. Vielmehr fordert ein gründliches Studium der Sprache
und der Literatur, daß ber Philolog fih auch mit ber politifchen
Geſchichte, mit der Entwidlung der bildenden Künfte und der Mufil,
mit der ganzen Kulturgeſchichte bes Volkes nad) Kräften bekannt
made. Auch wir werben Hin umb wieber einen Blick auf biefe
benachbarten Gebiete werfen. Aber unfere eigentliche Aufgabe ift
die Geſchichte defien, was die Dentihen für die Erforſchung ber
germaniſchen Sprachen und Literaturen geleiftet haben
Raumer, Geſqh. ber germ. Philologie.
2 Erfies Kapitel.
Bei dem engen Zuſammenhang der ganzen europäiſchen Bild-
ung und der ununterbrodenen Wechſelwirkung, welche die wifien«
ſchaftlichen Leiftungen des einen Voltes auf bie des anderen aus-
üben, läßt fi die Entwicklung der Wiſſenſchaft bei einem einzelnen
Volke nicht barftellen, ohne auf das Nüdficht zu nehmen, was
andere Völlker auf demſelben Gebiet hervorgebracht haben. Wir
werben deshalb au die Entwidlung der germanifchen Philologie
bei den Nieberländern, Engländern und Sfandinaviern in unjeren
Bereich ziehen, jebod nicht, um eine volfftändige Geſchichte unferer
Wiſſenſchaft bei jenen Völkern zu geben, fondern nur zu dem Zweck,
um barzuftellen, welden Einfluß die dort gewonnenen Ergebnifie
auf den Gang der Wiſſenſchaft in Deutſchland gehabt haben.
Die Geſchichte der germanifcen Philologie in Deutſchland fheidet
fi) in vier Perioden. Die erfte beginnt mit dem Wiederauffeben
der altllaſſiſchen Stubien und erftredt ſich vom Ende des 15. bis
in die zweite Hälfte des 17, Jahrhunderts. Der Anfang der zwei-
ten Periode ift bezeichnet durch die Herausgabe des Coder
argentens und die hiemit angebahnte Einführung des Gothiſchen
in den Kreis der germaniftiihen Forſchung. Die dritte Periode
bildet die Hinwendung der Romantiler zur deutſchen Vorzeit und
die Umgeftaltung der romantiſchen Beftrebungen durch die früheren
Arbeiten der Brüder Grimm. Endli die vierte Periode wird
begründet durch das Erſcheinen von Jakob Grimm's deutſcher
Grammatik und erſtreckt ſich bis auf die Gegenwart.
Die erſte Periode, vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zum
Jahr 1665, iſt eine Zeit der Anfänge, Vorbereitungen und Ber
füche. Ohne daß fon ein beftimmtes Ziel mit vollem Bewußtſein
und klarer Einfiht in die Mittel verfolgt wird, jehen wir allmäh-
lich die deutſche Sprad-" und Alterthumsforſchung fih aus den
älteren Zweigen der Wiſſenſchaft herausbilden. Von ſehr verſchie⸗
denen Punkten aus entipinnen fi die Anfänge der neuen Wiſſen⸗
haft. Das Studium des klaſſiſchen Alterthums eröffnet zugleich
den Blick in die urfprünglicen Zuftände der germanifhen Völker,
wie fie den Römern zur Zeit des Cäfar und Tacitus entgegen.
traten. Von einer ganz anderen Seite Her bahnt ſich die Betrach⸗
Einleitung. 3
tung der deutichen Sprade an. Die allmähliche Entſtehung und
Ausbildung der neuhochdeutſchen Schriftſprache ruft das Bedürfniß
grammatiiher Feſtſetzungen hervor. Es entiteht eine Meihe prafti-
Wer Grammatiken der deutſchen Sprade zum Gebraud der Schu-
{m und aller derer, die fi eines regelrechten deutſchen Ausdrucs
betienen wollen. Schon früher treten wörterbuchartige Sammlungen
hervor, zu fehr verſchiedenen Zweden unternommen. Auch auf die
alten Quellen der deutſchen Sprache richtet ſich jehr bald das Au—
genmert ber Gelehrten. Mandes davon wird bereits im 16. Jahr⸗
hundert durch den Drud veröffentliht. Anfänglih find es nicht
deutſch⸗ philologiſche Zwecke, die man dabei verfolgt, fondern über-
wiegend theologifhe. Aber ſchon vor dem Ablauf diefer erften
Periode werben wir aud die linguiſtiſch⸗philologiſche Seite bei
der Beröffentlihung altveutfcher Sprachdenkmäler hervortreten fehen.
Endlich begegnen uns aud ſchon fehr früh Verſuche, in die älteften
Sprachzuſtãnde der germanischen Völfer einzubringen, anfangs frei-
lich mit der Verwegenheit unternommen, die fih überall da findet,
wo man noch feine Ahnung von der Schwierigfeit der Probleme
hat und deswegen fein hoch geftedtes Ziel fat immer verfehlt.
Aber je mehr fich die Kenntniffe vertiefen, um fo richtiger lernt
man jeine Kräfte ſchätzen, und fo werben wir aud in dieſer erften
Beriode ſchon manden achtungswerthen Verſuch kennen lernen, in
den geſchichtlichen Zuſammenhang der ſprachlichen Erſcheinungen ein-
zudringen. Aber ſo ſehr wir dem redlichen Streben ſeine Ehre
laſſen wollen, ſo bleibt doch in dieſer erſten Periode Alles nur
taftender Verſuch. Als Vorbereitung für die künftige Wiſſenſchaft,
als Ahnungen deſſen, was ſpäter entdeckt und bewieſen werden
jolfte, find die Arbeiten jener Zeit nicht ohne Intereſſe. Aber von
einer ſicheren Grundlage, auf welder die Wiſſenſchaft ftätig hätte
fortbauen Können, ift noch kaum die Rede.
1°
4 Zweiteb Kapitel.
Zweites Kapitel.
Die Mnfünge der dentſchen Witeriiumsferihung im Refsrmations-
yeitalter.
Unter den Ereigniffen, welde den Beginn der neueren Zeit
bezeichnen, find es vorzugsweile drei, die in nächſter Beziehung zu
den Anfängen der germanifchen Philologie ftehen: Die Wiederbe-
lebung des klaſſiſchen Alterthums, die Reformation der Kirche und
die Erfindung der VBuchdruderkunft. Bei der großen Umwandlung,
melde die deutſche Literatur am Ausgang des Mittelalter und im
Beginn der neueren Zeit erfährt, ergreift die neu erfundene Kunft
des Büderdruds auch noch einen Theil umferer mittelalterlichen
deutihen Poeſie. Wolfram's Parzival wird im Yahr- 1477 ger
drudt und um biefelbe Zeit auch der jüngere Titurel und das Hel-
denbuch. Aber Barzival und Titurel werden vergeffen, und nur
das deutſche Heldenbuch erhält ſich und erlebt bis gegen Ende bes
16. Jahrhunderts noch fünf Ausgaben !). Und auch bier wieder
ift es gewiß nicht zufällig, daß nicht die bei weitem ebeljten umd
ſchönſten Dichtungen des deutſchen Sagenkreiſes: Nibelungen und
Gudrun, durch den Druck veröffentlicht und in der Gunſt des
Volles erhalten werden, ſondern der Wolfdietrich und die anderen
Dichtungen des Heldenbuchs. Gerade die derbere, von ritterlicher
Weife weniger berührte Art diefer Dichtungen jtimmte mehr zu dem
Ton des Voltslieds jener Zeit. Fragen wir, was fi außerdem
von der mittelalterlihen Dichtung unmittelbar in die neuere Zeit
hinübergerettet hat, jo ift e8 das Spruchgedicht des Freidank und
vor allen der. Reinele Fuchs. Das erftere erlebt im Lauf des 16.
Jahrhunderts acht Ausgaben 2), der Iegtere wird vom Jahr 1498
bis zum Jahr 1666 mehr als fiehzehnmal in niederdeutſcher 3),
1) Goedeke, Grunbriß zur Geſchichte der deutſchen Dichtung 1850,
©. 83. — 2) Goedete a. 0. O. ©. 142 fg. — 3) Ebend. ©. 107.
Die Anfänge ber deutſchen Altertgumsforfgung im NReformationsgeitälter. 5
iehzehunmal in hochdeutſcher Sprache !) gedruckt. Alfe diefe Angaben
begeugen uns, daß ein Theil der mittelalterlihen deutſchen Dich-
tung fi auch in die neuere Zeit fortpflanzte. Aber man würde
irren, wenn man in dieſen Ausgaben altveuticher Dichtungen ben
Anfang der deutſchen Philologie fehen wollte. Sie beweiſen viel-
mehr nichts, als daß jene Dichtungen wirklich bis in die neuere
Zeit hinein noch fortlebten. Denn nur das, was in ben Kreis
der damaligen Borftellungen und Empfindungen noch paßte, eignete
man fi auf diefe Weife an, und weit entfernt, die alten Dicht-
ungen als Beugniffe einer vergangenen Zeit in ihrer urfprünglichen
Form aufzubewahren, näherte man fie vielmehr möglichſt der
Sprache der Gegenwart an, fo daß fie einen Theil der noch Teben-
den Literatur bilden. Die Anfänge der germaniſchen Philologie
dagegen werben wir auf anderen Gebieten zu fuchen haben.
Die Wiederbelebung des klafifhen Alterthuns und die dentfge Alter-
thumsforfdung.
Schon oft hat man auf eine wefentliche Verſchiedenheit zwiſchen
der Wiederbelebung des Haffiihen Altertfums in Italien und in
Deutſchland Hingewiefen. Man fand diefe Verſchiedenheit mit Recht
darin, daß ſich in Deutſchland mit der Wiederbelebung bes flafft-
ſchen Alterthums die Richtung auf das vollere Verſtändniß und die
unmittelbare Aneignung der Bibel und auf die Erneuerung der
Kirche verband, während in Italien dies bibliſch chriſtliche Element
den meiften Vertretern bes Humanismus fehr fern Liegt und nur
in ganz vereinzelten Erfheinungen zu Tage tritt. Neben biefem
ſchon oft beſprochenen Unterjchied aber gibt es einen zweiten, ber
bisher noch nicht genug hervorgehoben worben ift. Als bie antifen
Maffiter im 14. und 15. Jahrhundert in Italien ihre Auferftehung
feierten, betrachteten ſich die Italiener als die geraden Nachkommen
der alten Römer. Sie fahen die Werke der großen Alten als einen
Theil ihrer eigenen Literatur an, der nur durch die Ungunft der
Zeiten in Bergefienheit gerathen war, und behandelten bie Thaten
1) Eben. ©. 292.
6 Zweites Kapitel.
der antiken Römer als die ruhmreichſte Seite ihrer eigenen &e-
ſchichte. Italien mit feiner antiten vömifhen und feiner neuen
humaniſtiſchen Bildung ftand ihnen im Mittelpunft der Welt; die
anderen Bölfer, zumal die germaniſchen, galten fir Barbaren.
Seldft die Verehrung gegen die neu erwachten Griechen änderte an
biefer Grundftimmung nichts. Hatte doch die Periode des alten
Nömerthums, an die man fid zunächſt anſchloß, die Zeit des
Cicero und Cäfar, des Vergil und Horaz, bereits die griechiſchen
Vorbilder in Saft und Blut aufgenommen. So eridienen fie als
ein Beitandtheil der altrömiſchen Bildung und mußten mit dieſer
zugleich ihre Auferftehung feiern.
Gleih der erfte und größte unter ben Wiedererwedern des
Hafftichen Alterthums in Stalien, Francesco Petrarca, Liefert uns
die Züge zu diefem Bilde des italienifhen Humanismus. Rom
und Stalien füllen fein ganzes Sinnen und Denfen. Nicht fremde
Borbilder find ihm die Alten, fondern die Größten unter feinen
eigenen Landsleuten. Seine Begeifterung für die antifen Klaffifer
und fein italienifher Patrivtismus fallen in Eins zufammen. Wie
den alten Nömern, fo ftehen aud den neuen bie Barbaren als
unwürbige Feinde gegenüber; und wo bie Italiener feines Beitalters
hinter ihren Vätern, den Marius und Cäfar, zurückbleiben, da ift
das eben nur beflagenswerthe Entartung. Daß dies Zufammen-
werfen der neueren Italiener mit den antifen Römern zum guten
Theil auf Irrthum beruft, haben wir hier nicht weiter auseinan⸗
berzufegen. Genug, daß Petrarca und mit ihm die übrigen Häup-
ter des italieniihen Humanismus in ben alten Römern ihre eigenen
Väter und in deren Siegen und Grofthaten den Ruhm ihres
eigenen Volles erblidten.
Ganz anders ftehen die deutſchen Humaniften dem antiken
Nömerthum gegenüber. Auch fie verehren in Cicero und Virgil, in
Living und Horaz die Mufter des guten Geſchmacs, aud ihnen iſt
die Kenntniß des vateiniſchen und Griechiſchen die unerläßlihe Grund-
lage der höheren Bildung; aber fo fehr fie aud in die Bewunder⸗
ung bes klaſſiſchen Altertfums verfunten find, fo kann ihnen doc
nicht entgehen, daß fie ſelbſt feine Römer find. Und alle Vorfpiegel-
Tie Anfänge ber beutfchen Altertgumeforkhung im Reformationggeitalter. 7
angen vom Römiſchen Reich Deutiher Nation, von den Iateinifchen
Rufen, die über die Alpen gewandert find, halfen nicht über bie
Mare Wirklichkeit hinweg, daß man nicht dem alten Römervolfe,
iondern vielmehr einem VBolte angehörte, das einft der erhittertfte
und gefährlichfte Feind der alten Römer war, ja deſſen Angriffen
zuletzt das römiſche Reich und fcheinbar die ganze alte Kultur er-
legen ift. Wir möüffen den beutfhen Humaniften zu ihrer Ehre
nachſagen, daß nicht wenige von ihnen ihre vaterländiſch deutſche
Stellung dem Römerthum gegenüber richtig würdigten. So fehr
fie aud mit Recht den hohen Geift und edlen Geſchmack der Alten
bemumdern, fo eifrig fie traten, das Studium der Griechen und
Römer nad; Deutſchland zu verpflanzen, fo wenig find fie geneigt,
Ne Ehre des eigenen Volles den Nömern gegenüber Preis zu geben.
Und obwohl ihre Anfichten noch öfters verworren, ihre Schritte un-
fiber und ſchwankend find, jo nehmen fie do den wechſelſeitigen
Beziehungen der Römer und Germanen gegenüber eine ganz andere
Stellung ein, als ihre italienischen Fachgenoſſen. Wo diefe nur
Stoff zu Klagen über die Niederlagen der Römer oder Schmähungen
über die germanifchen Barbaren finden, da ergreift den deutſchen
Humaniften der Stolz auf die Großthaten der eigenen Landsleute.
Es gehört aber zu den großartigften Seiten der Maffifhen Studien,
daß diefe ſelbſt den Stoff zu jener Verherrlihung des deutſchen
Volles Viefern. Nicht nur wird die Vaterlandsliebe durch das
Studium der durch und buch patriotifhen antiken Literatur ge⸗
näßet, fondern gerabe die Erinnerung an die ruhmvolle Urzeit des
deuten Bolfes, an feine Sitten und Einrigtungen, feine Helden
und Großthaten verdankt man den Aufzeichnungen der Römer. Die
Wiedererwedung ber antifen Klaſſiker eröffnete dem deutſchen Volle
ten Blid in eine Vergangenheit, die feit einer Meihe von Jahr⸗
hunderten jo gut wie vergeffen war. In Deutſchland ſelbſt hatte
die Bölferwanderung bes vierten bis fehlten Jahrhunderts "bie
jagenhafte Erinnerung an die älteren Buftände und Thaten ausge
löfht. Ihr Andenken blieb nur dur die Verichte der römifchen
Gegner erhalten. Aber auch von diefen Berichten waren bie wich⸗
tigften feit mehr als einen halben Jahrtauſend verſchollen, als bie
8 j Zweites Kapitel.
antifen Stubien im 15. und 16. Jahrhundert in Deutihland auf-
blühten i). Es war vor allem Tacitus, an welchem ſich die Kennt-
niß der alten Germanen entwidelte und die Bewunderung ihrer
Sitten und Thaten entzünbete. Und was wußte man am Beginn
des 15. Jahrhunderts von Tacitus? Nicht eines feiner Werle war
irgend einem der damaligen Gelehrten befannt. Er konnte für voll-
ftändig verloren gelten. Da tauchte zuerft die Handſchrift auf,
welche in der erften Hälfte des 15. Jahrhunderts Poggius feinem
Freunde Niccolo Niccoli nad Florenz heimbrachte. Sie hat uns
das 11. bis 16. Buch der Annalen und nicht vollftändig die fünf
erften Bücher der Hiftorien erhalten. Erſt nad der Mitte des 15.
Jahrhunderts wird die Germania wieder entdeckt. Wahrſcheinlich
iſt auch fie nur in einer einzigen Handſchrift erhalten worden, die
jegt nicht mehr vorhanden ift, aus welcher aber alle Handſchriften
und Drude der Germania mittelbar oder unmittelbar ftammen.
Kaum ift fie wieder entdedt, fo wird eine große Menge Abſchriften
von ihr genommen, und bie neu erfundene Kunſt des Bücherdrucks
wird nit mübe, diefen libellus aureus, wie ihn die alten Druder
nennen, duch immer neue Ausgaben zu verbreiten. Um das Jahr
1470 erſcheint die erfte Ausgabe zu Venedig, durch den deutſchen
Buchdrucker Vindelinus be Spira beforgt, und bald darauf im Jahr
1473 zwei Ausgaben zu Nürnberg, die erften diefes für unſre
deutſche Alterthumsforſchung unſchätzbaren Buches in Deutihland 2).
Noch fehlten von dem, was wir jetzt von Tacitus beſitzen, die ſechs
erſten Bücher der Annalen und mit ihnen das herrlichſte Zeugniß
über den größten Helden unſrer Urzeit, Arminius. Eine einzige
Handſchrift im deutſchen Kloſter Corvey hat fie erhalten. Sie ge-
1) Bgl. insbefondere über das Verfcollenfein von Tacitus Germania bie
weiter unten angeführte Ausgabe Maßmann's ©. 163 fg., und im allgemeinen
Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, Berlin
1858, 8.1. — 2) Ueber bie Handſchtiften und Musgaben der Germanfa vgl.
Germania des C. Corn. Tacitus. Mit ben Lesarten ſämmtlicher Handſchriften
und geſchichtlichen Unterfuhungen über biefe und das Buch feldft. Bon H.
3. Maßmann. Queblinburg und Leipzig 1847,
Tee Anfänge ber deutſchen Altertyumsforihung im Reformationszeitalter. 9
langte unter Pabſt Leo X nad Rom!) und wurde durch Philipp
Beroaldus im Jahr 1515 zu Rom zum erftenmal herausgegeben.
Die Schriften des Tacitus bilden den Mittelpuntt fir das
Studium, weldes die Gründer des Humanismus in Deutſchland
unfrer Urzeit zuwenden. Daneben ift es befanntlid eine ganze
Reihe antiker Schriftfteller, die uns Kunde von den älteften Zu-
ftänden und Thaten unfrer Vorfahren gibt. Wir können die
Wieverauffindung und Veröffentlihung aller diefer Schriftſteller
natürlich hier nit im Einzelnen verfolgen. Aber verfegen wir
uns einmal in die Zeit, in der jene Zeugniffe noch unbelannt
waren, und wir werben leicht ermefien, melde Umgeftaltung die
. Kenntniß von dem Urzuftand bes deutſchen Volles erfahren mußte,
als im 15. und 16. Jahrhundert jener Reichthum geſchichtlicher
Werle zu Tage kam. Bon biefer Seite wurde ein Theil. unfrer
erften Humaniften zu Studien über das deutſche Alterthum ange
vegt, und dieſe Studien bilden bie eine von den Wurzeln, aus denen
mit der Zeit die Wiſſenſchaft der deutſchen Philologie erwachfen.ift.
In den folgenden Abfchnitten werden wir das Gefagte an einer
Reihe deutfher Humaniſten und ihrer hierher gehörigen Schriften
nachweiſen.
Als die erſten Regungen einer Wiederbelebung des klaſſiſchen
Alterthums in Deutſchland ſich zeigten, ſtand an der Spitze des
Reis ein Fürſt, der für den Aufſchwung neuer wiſſenſchaftlicher
Beſtrebungen nur wenig Sinn hatte. Denn wenn fih aud Kaiſer
Friedrich III. Hin und wieder zu einiger Berüdjichtigung wiſſen⸗
ſchaftlicher Verbienfte beftimmen Tieß 2), fo Tag ihm doch ein wahrer
Anteil an dem neu erwachten geiftigen Leben fern®). Ganz anders
geftalteten fi die Dinge unter feinem Nachfolger Maximilian I.
1) Bgl. das Schreiben Leo's X vom 1. Dec. 1517, das Pottgaft im
Anzeiger für Runde der beutfchen Vorzeit 1863, Oct., befannt gemacht hat, —
2) So wurde er zur Dichterkrönung bes Conrad Eeltis durch Kurfürft Fried:
tich von Sachſen beftimmt. S. bie Belege bei Engelbert Klüpfel, De vita
et scriptis Conredi Celtis, P. I, p. 85. — 3) gl. Georg Voigt, bie
Viederbelebung bes klaſſiſchen Alterijums, Berlin 1859, ©. 377.
10 Zweites Kapitel.
(1498— 1519). Obſchon diefer keine fehr forgfältige Erziehung ge⸗
noſſen hatte, machten ihm doch Talent und Neigung zum warmen
Freund der Künfte und Wiſſenſchaften; und zwar fehen wir ihn
einerfeits das Aufslühen der klaſſiſchen Studien fürdern, während
ex andrerſeits der vaterländiſchen Gedichte mit Liebe zugethan ift.
&o find es namentlich die Gelehrten, melde diefe beiden Richtungen
in ihren Studien verbinden, denen Marimilian feine Neigung und
fein Vertrauen ſchenkt, Männer wie Conrad Celtis, Conrad Peu-
tinger, Wilibald Pirkheimer. Auf der Grenzſcheide zweier Zeitalter
fördert Marimilian das neu erwachte Studium der antiten Klaſſiker
und fühlt fi zugleih Hingezogen zu den ritterlihen Thaten des
Mittelalters. Er ftiftet an der Univerfität Wien ein Collegium .
poeticum ganz im Sinn des neuen Humanismus. Horaz und
Eicero, Terenz und Living werden nun an der Wiener Hochſchule
behandelt wie früher bort noch nie. Derjelbe Kaifer aber ließ mit
großem Eifer die Denkmale der deutſchen Geſchichte, Sprade und
Literatur 1) aufſuchen. Für ihm wurde in den Jahren 1504 bis
1517 2) die unſchätzbare Handſchrift gefhrieben, die uns unter
Anderem eine der jhönften Perlen mittelhochdeutſcher Dichtung: die
Gudrun, erhalten hat.
Die deutſchen Humaniften zeigen uns gleih von Anfang an
die antik klaſſiſchen Studien in Verbindung mit der wärmften Be-
geifterung für das eigene vaterländiihe Altertfum. Wir nennen
bier zunäcift zwei @elehrte, die fi nicht ſowohl durch bedeutende
wiſſenſchaftliche Leitungen, als durch ihren vaftlofen Gifer für die
Ausbreitung der Haffti hen Studien hervorgethan haben: Jakob
Wimpheling und Heinrich Bebel. Jakob Wimpheling, geboren
zu Schlettſtadt im 3. 1450, geftorben ebendafeldft 1528, war wäh-
rend feines langen Lebens in den Stäbten des Elſaß und ber be
nachbarten Gebiete durch Lehre und Schriften für die Förderung
1) 2gl. u. 9. Beatus Rhenanur, Rerum Germanicarum libri tres,
Basil. 1531, p. 107.— 2) ®gl. Pfeiffer's Germania IX (1864) ©. 381—
384.
Die Anfänge ber beutfchen Alterthumsforſchung im Reformationegeitalter. 11
ter klaſſiſchen Studien thätig '). Zugleih aber war er erfüllt von
dem regſten Eifer für bie Ehre des deutſchen Vaterlands. In
diefem Sinn bewog er den Sebaftian Murro, eine hırze Ge-
idichte der deutſchen Großthaten zu fchreiben, und als Murro über
diefer Arbeit ftarb, nahm Wimpheling fie ſelbſt in die Hand und
vollendete fie (1502) ?) in feiner Epitoma Germanicarım rerum.
Er faßt darin Alles zufammen, was an friegeriihen Großthaten,
an Tüchtigfeit der Sitte, an Leiftungen auf dem Gebiet der Künfte
und Wifſenſchaften zum Ruhm des deutichen Voltes gereiäht, und ges
langt zu dem Ergebniß, daß fein Volt der Erde ſich mit dem deut-
ſchen meſſen könne. Hier bieten ihm nun die neu aufgeichloffenen
antifen Quellen für die ältefte deutſche Geſchichte die trefflichſte
Hülfe. Namentlih dient ihm die Germania des Tacitus 3), um
die unũberwindliche Tapferkeit und die reine Sitte unfrer Bor-
fahren zu erweifen. Zugleih aber ſehen wir an Wimpheling’s
Schrift, wie die Kenntniß unferer älteften Geſchichte an das allmäh-
liche Belanntwerben ber antiten Schriftfteller gebunden ift. Mehr-
mals fommt nämlich Wimpheling mit Bewunderung auf den glän-
senden Sieg ber Germanen über Barus zurüd, aber ohne dabei
den Namen des Arminius zu nennen 4). Sicerlih würde er dies
nit unterlaffen Haben, wenn ihm ſchon die berühmte Stelle in den
Annalen des Tacitus über die Größe des Arminius 5) belannt ge
weien wäre. Aber diefe Stelle findet ſich im fehlten Bud der
Annalen und wurde mithin erft im Jahre 1515 durch ben Drud
zugänglich gemadt 6). Wie bie ältefte, jo behandelt dann Wimphe-
1) gl. Melch. Adam. Vitae Theologorum (3) 1706, p. 11. &.
Hagen, Teutſchlande literar. und relig. Verhältniſſe im Reformationszeitalter,
&.L, 1841, ©. 2449 fg. — 2) ©. bie Witinung an Thomas Wolf vom 24.
Sept. 1502 in Wimpheling's Epitoma bei Schard (1574) p. 350. —
3) Bgl. Wimpheling's Epitoma c. 4 (p. 353 bei Sqhard), c. 7I (p. 399
bei Eqhard). — 4) Bol. ebenb. 0.4 (p. 358 Schard), c. 69 Ip. 398
&erb). — 5) Annal. 11.88. 6) Die erften ſechs Bücher von Tacitus Annalen
zuerſi herausgegeben won Phil. Beroalbus 1515. Dieſelbe Beobachtung Täpt
fi an den weiter unten beſprochenen Schriften des Heine, Bebel vom I. 1501
12 Zweiles Kapitel.
ling aud) die folgende Zeit als einen Spiegel deutſchen Ruhmes,
und nicht ohne Wehmuth Iefen wir, wie er vor allen die Vorzüge
feines gefegneten Elſaß preift ') und beifen echte und uralte Deutfch-
heit Frankreich gegenüber hervorhebt 2). Was Wimpheling für den
Elſaß, das war für das württembergiſche Schwaben Heinrich
Bebel. Geboren zu Yuftingen auf der raufen Alb um 1472
wurde er 1497 Lehrer der Beredſamleit und Pocfie zu Tübingen
und wirkte dort bis zu feinem Tod (1516) mit großem Beifall für
die Ausbreitung der Haffiihen Studien 3). ber fo fehr er Die
Alten und ihren Geſchmad als Mufter pries, fo innig hieng er an
feinem deutſchen und befonber3 wieder an feinem ſchwäbiſchen Bater-
land. Das Erftere zeigt er in feiner 1501 gehaltenen Oratio ad
regem Maximilianum de ejus atque Germanise laudibus +),
das Zweite in feiner 1504 geicriebenen Epitoma laudum Bue-
vorum 5). Auch er gründet fein Lob der alten Germanen auf die
Zeugniffe der antifen Schriftfteller ©), meint jedoch, wenn wir die
Thaten unferer Vorfahren aus deutſchen Berichten erfahren könnten,
fo würden fie noch weit glänzender erſcheinen ). Hätten die
Deutſchen in den Jahrhunderten feit Karl dem Großen folde Ge—
und 1504 maden. Auch hier wird bie Nieberlage bes Varus mehrfach her—
vorgehoben, aber immer ohne Nennung bes Arminius. Dagegen erfüllt der
Name des Mrminius bald nad dem 3. 1515 die Schriften der deutſchen Pa:
trioten. ©. Ulrich) von Hutten: In ducem Wirtenpergensem oratio tertia
8. 19 (Opera ed. Böcking V, 45) vom 3. 1517, verglichen mit Tac. ann.
1, 88, und guten’ Arminius (Böcking IV, 407 sq.) vom 9. 1520,
— 1). 0.72 (p. 399 sq. Schard.) Auch den Straßburger Münfter (c. 67,
p- 397) und Martin Schön's Gemälde (c. 68, p. 397) erhebt Wimpheling
mit gerechtem Stolze. — 2) ©. 349 fg. bei Schar. — 8) Bol. ben Artikel
Bebel von Eonz in der Allgem. Encyelop. von Erf und Gruber Thl. 8 (1822)
©. 274 fg. — 4) Gebrudt mit mehreren anderen Schriften Bebel's Phorce
1504. — 5) In Gofbaf’s Suericarım rerum scriptores aliquot, Francof.
1605, p. 28 sq. — 6) Bergl. Laudum Suer. Epit. p. 29 (bei Golbaft
1605). Oratio de laud. Germ, 8I, 8b. — 7) Laudum Suer. Epit.
p 9.
Die Anfänge ber deutſchen Alterthumsforſchung im Reformationsgeitalter. 18
ſcichtſchteiber gehabt, wie bie Griehen und Nömer, fo würden die
großen Männer unferer eigenen Vorzeit ben gerühmten Griechen
md Römern noch voranftehen‘). Bor allen aber preift Bebel
feine großen ſchwäbiſchen Kaiſer, die Staufer Friedrich ben Erſten
und Friedrich ben Zweiten 2).
Die Verbindung, welche die klaſſiſchen Studien in Deutſchland
mit der Erforſchung bes deutſchen Alterthums eingiengen, tritt uns
beſonders deutlich entgegen an einigen der Gelehrten, welche zu
Kaijer Maximilian I. in näherer Beziehung ftanden?). Conrad
Geltis, geboren zu Wipfeld unmeit Schweinfurt in Franken am
1. Februar 1459, als Sohn eines unbemittelten Weinbauern, machte
jine Studien zu Köln, Leipzig, Erfurt und Heidelberg. Einer der
thätigften Begründer der klaſſiſchen Studien in Deutſchland zeih-
nete ſich Celtis beſonders durch feine Geſchicklichleit in Verfertig-
ung lateiniſcher Verſe aus, und dieſe Eigenſchaft brachte ihm die
hohe Ehre, daß ihn Kaiſer Friedrich I. im Jahr 1487 auf der
Burg zu Nürnberg feierlich zum Dichter krönte. Celtis gehörte
zu ben Gelehrten, die auch, nachdem fte bie Jahre der Jugend Hin:
ter fih haben, es nicht lange an einem und demſelben Orte aus-
halten. Bald nad; jeiner Dichterkrönung tritt er eine Reife nad
alien an. Er lernt die dortigen Humaniften kennen, beſucht zu
Rom die Alademie des Pomponius Laetus, findet fi aber in Ita
lien wenig befriebigt, da ihn der Hochmuth verlegt, mit welchem
die Italiener auf die beutihen Gelehrten herabbliden. Aus Ita
lien zurüctgefehrt, hält er ſich bald in Nürnberg, bald in Ingol⸗
ftabt, Bald im Heidelberg und Mainz auf. Hier ftiftet er bie
rheiniſche Gelehrten Gefelliaft für die Veförberung ber Naffifhen
Kiteratur und die Erforihung vaterländifher Geſchichte. Endlich
folgt er einem Auf an die Univerfität Wien, den Kaiſer Marimi-
lian im Jahr 1497 an ihn ergehen läßt. Aber auch fein bortiger
4) Or. de laud. Germ. 8. 5. — 5) Or. de land. Germ.
U. 13b fg. Laudum Suev. Epit. p. 38 6q. — 6) Auch Wimppeling
und Bebel Tafjen Marimitian’s Lob ertönen, und ber Leblere dankte ihm ein
Bappergeichen (Gom a. a. O. 278),
14 . Zweites Kapitel.
Aufenthalt ift unterbrochen durch mannigfahe Reifen, namentlich
durch eine im Jahr 1498 und 99 unternommene, die fih bis in
den flanbinavifcen Norden und nad Lappland und Livland er-
firedte. Alle diefe Reifen ftehen in näcfter Beziehung zu dem Le-
bensplan des Geltis. Mit feinen eifrigen Bemühungen für die
Förderung der Haffiigen Studien verband nämlich Celtis den Plan,
ein großes Wert über Deutjhland und die Deutſchen zu fchreiben,
dem er den Titel Germania illustrata geben wollte. Auf feinen
Neifen fpürte er den Quellen des deutſchen Altertfums nad) und
ſuchte Land und Leute aus eigener Anſchauung Tennen zu Ternen.
Auf der Univerfität zu Wien las er nicht mur über Horaz,
Terenz und andere Gegenftände der ausſchließlich klaſſiſchen
Philologie, fondern aud über allgemeine Geſchichte, über Geo⸗
graphie nah Ptolemaeus und über die Urgeſchichte Deutſch⸗
lands mit Bugrunbelegung bes Tacitus, Cr veranftaltete eine
Ausgabe von Tacitus Germania, entbete die antite Land-
tarte, die umter dem Namen der Tabula Peutingeriana be-
Tannt ift, und war ber erfte, der die Stüde der Ganbersheimer
Nonne Hrofwitha veröffentlichte. Das Heldengedicht Ligurinus,
das die Thaten des Kaifers Friedrich Barbaroſſa feiert, wollte
Celtis im Kloſter Eberach gefunden Haben: Er übergab e8 feinem
Freund Conrad Pentinger, der es 1507 zu Augsburg herausgab.
Die neuere Kritit hat die Unechtheit dieſes Werkes erwieſen. Iſt
es von Conrad Celtis felbft gemadt, fo beweift es, „wie gut es
ihm gelungen war, eine lebendige Anſchauung ber mittelalterlichen
Zuftände fi zu erwerben“ 1). Das große Lebenswerk, das Celtis
ſich vorgefeßt, die Germania illustrate, fam nit zur Ausführung.
Mitten in feinen Sammlungen und Vorarbeiten traf ihn am
4. Februar 1508 der Tod. Das Gedicht de situ et moribus
Germaniae, das fih unter ben Schriften des Celtis findet, gibt
zwar feine Vorftellung von dem, was er in jenem umfaffenden
Wert zu leiften vorhatte 2), aber dod läßt es ebenfo, wie die an⸗
1) Worte Wattenbach's, Deutſchlande Geſchichtoquellen, Berlin 1858,
©. 3. Bol. aber auch die zweite Aufl, 1866, ©. 3. — 2) Ueber Conrad
Die Anfänge der deutſchen Altertgumsforfung im Reformationszeitalter. 18
deren Eihriften des Geltis fehr zweifelhaft erſcheinen, ob die großen
Erwartungen, bie man von feinem Werke hegte, in Erfüllung ge
gangen fein würden.
Eine der eigenthũmlichſten Erſcheinungen in der Gedichte des
deutigen Humanismus ift der Abt Johannes Trithemins.
Geboren im J. 1462 in dem Dorfe Trittenheim bei Trier, warf
er fih nach harten Jugendſchichſalen zu Heidelberg auf das Stur
dinm der lateiniſchen, griechiſchen und hebräiſchen Sprade. Conrad
Geltis war fein Lehrer im Griehifhen. Später wurde er durch
Johann Reuchlin im Griechiſchen und Hebräiihen weiter gefürbert.
Im J 1482 in das Benedictiner Klofter zu Sponheim an ber
Nahe eingetreten, wurde er 1483 Abt dieſes Kloſters. Als ſolcher
förderte er mit größtem Eifer gelehrte Studien und ſammelte eine
Bibliothek, die zu den berühmteften jener Zeit gehörte. Im J.
1506 wurde er Abt des Schottenklofters St. Jakob in Würzburg.
Hier ſiarb er am 13. December 1516 '). Trithemius galt feinen
Zeitgenoſſen für ein Wunder der Gelehrſamleit. Er war nit nur
mit den drei alten Spraden: dem Lateiniichen, Griechiſchen und
Hebräiichen, befannt, ſondern er hatte ſich zugleich umfafjende
Kenntniſſe auf dem Gebiet der Theologie und Geſchichte erworben;
und jeine Beſchäftigung mit der Geheimfhrift, die er in wunder⸗
fie fabbaliftiiche Formen kleidete, brachte ihn fogar in den Auf ber
Zauberei. Als Geſchichtſchreiber hat Trithemius lange Zeit in
hohem Anſehen geſtanden. Je mehr aber die genauere Kenntniß
der Geſchichte wuchs, um fo tiefer ift die Achtung vor den Angaben
des Trithemins gefunten. Insbeſondere ift dies der Fall mit ber
älteren deutſchen Geſchichte, auf deren Darftellung ſich Trithemius
in mehreren feiner Werte eingelafjen Hat. Hier nämlich ſchöpft er
Geltis vgl. De vita et scriptis Conradi Celtis Protucii — opus pos-
thumam B, Engelberti Klüpfelii, Friburgi Brisgoviae 1827. — Artitel
Geltes in der Algem. Encyclop. von Erſch und Gruber, Theil 21,
6. 135 — 140. — Siephan Endlicher in Hormayı's Archiv für Geſchichte,
Satißit m f. f. 1821. 1825. — 1) Die obigen Angaben find entnommen
aus Dr. Silbernagel, Johannes Trithemius, Landehut 1868.
16 Zweites Kapitel.
aus Quellen, von deren Dafein fonft niemand etwas weiß. So
aus einem alten fränkiſchen Chronographen Hunibald, der zur Zeit
des Chlodwig gelebt Haben und feinerfeits wieder den Sicamber
Wafthald benugt haben ſoll i). Daß bier eine Fälſchung vorfiege,
vermutheten ſchon ſchärfer blickende Zeitgenofien des Trithemius,
die Folgezeit aber hat nicht nur dieſen groben Betrug vollſtändig
nachgewieſen, ſondern auch zu einem hohen Grab von Wahrſchein⸗
lichkeit gebracht, daß Trithemius feldft der Fälſcher war 2). Unter
folgen Umftänden könnte es feinen, als wenn Trithemius kaum
der Berüdfichtigung werth fei. Aber jo fehr auch Trithemius durch
feine Fälſchungen feinem Ruf geſchadet Hat, fo war er doch nach
manden Seiten hin ein fehr verbienter Gelehrter. Namentlich tru-
gen feine literargeſchichtlichen Arbeiten zur Ausbreitung mannige
facher Kenntniſſe bei, und dieſe find es, welche auch uns Bier zu-
nächft angehen. Im J. 1494 vollendete Trithemius ein Wer! De
seriptoribus ecclesiasticis ?). Aufgeforbert von Jakob Wimphe-
ling *), dem patriotifden Humaniften zu Schlettftabt, Tieß er im
J. 1495 darauf folgen einen Catalogus illustrium virorum Ger-
maniam suis ingeniis et lucubrationibus omnifariam exornan-
tium 5). In diefen Heiden Werken findet fi die erfte Erwähnung
des Otfried von Weißenburg und feines Evangelienbuchs ©), als
deſſen Titel Tritfemius Gratis theotisce ’) bezeichnet. Die ver-
worrenen Angaben des Trithemius zeigen ebenſo deutlich, daß ihm
wirklich eine Handſchrift von Otfried's Evangelienbuch vorgelegen
hat, wie daß er dieſelbe nur obenhin durchblättert haben kann 8).
NE. bes Trithemius De origine gentis Francorum compendium
in (Scharb’e) Historicum opus, Tom. I., Basileae (1574) p. 301 6q. —
2) ©. das oben angeführte Werf von Silbernagel &.189—195. — }B) Ueber
eine frühere und eine fpätere Bearbeitung ſ. Silbernagel a. a, DO. S. 66. —
4) Bgl. die Epistola des Trügemius an Wimpheling vor dem Catalogus, —
5) Aud Hier eine doppelte Ausarbeitung. Gilbernagel S. 66. — 6) De
seriptoribus ecelesiasticis, Paris. 1512, fol. 68b. Cathalogus (sic) etc.
8.1. et a fol. 7b. — 7) Cathal. fol. 8. — 8) Vgl. Otfribs Evangelien-
Bud, von Joh. Kelle, Einl. ©. 24.
Die Anfänge der deutſchen Alterigumsforfgung im Reformationgzeitalter. 17
Bern ex übrigens von Otfrid's Dichtungen fagt: „Quae nemo
facile nostra aetate legere et intelligere potest, quantumcun-
que sermonis nostri peritus® !), fo zeigt er ſich hierin einſichts⸗
voller, al mande Spätere. Freilich follte er nicht in feiner über-
treibenden Weife hinzufügen: „quippe cum sermo ille regulatus
nostro plus differat quam ethruscus a latino“ ?). Wobei nicht
mr in dem etruscus a Iatino eine ftarle Webertreibung, fondern
and) noch in dem regulatus die irrige Meinung liegt, als famen
Oiftid's volle und dem 15. Jahrhundert umerftänblihe Formen
daher, daß Otfrid feine deutſche Sprache geregelt habe, und zwar,
wie Trithemius ammimmt, nad) der Grammatik, die Karl der Große
gemacht Habe >). Mit biefer Grammatik ſetzt Trithemius den Ot⸗
frid auch nod in einem anderen Werk in Beziehung, nämlid in
feiner 1508 4) vollendeten und 1518 im Drud erfdienenen Poly-
graphia 5). Dieſe, fowie bie übrigen Nachrichten, die Trithemius
über Otfrid gibt, würden natürlich einen bedeutend Höheren Werth
haben, wenn ihr Verfafler ein zuverläffigerer Mann wäre. In
eben jener Polygraphia findet fi übrigens noch eine andere
unſrem Gebiet angehörende Merkwürdigkeit, nämlich bie Mittheil-
ung eines von Trithemius ben franzöſiſchen Normannen zugeſchrie⸗
benen Runenalphabets 6).
Wie Conrad Celtis, fo verband fein Freund Conrad Beu-
tinger das Studium des llaſſiſchen mit dem des deutſchen Alter-
thıms. Einer angefehenen Familie Augsburgs entfprofien, wurde
Conrad Pentinger am 15. Oftober 1465 in diefer Stabt geboren.
Seine humaniſtiſche, fo wie feine juriftifhe Bildung erwarb er ſich
durch einen mehrjährigen Aufenthalt in Italien, wo er in Pabua,
Bologna, Florenz und Rom bie angefehenften Vertreter des italie-
niſchen Humanismus perſönlich kennen lernte. In feine Vaterſtadt
zurüdgelehrt, trat er im Jahr 1490 in deren Dienſt, wurde 1497
1) Cathal. 1.1. — 2) Cathal. .1.— 8) Eben. — 4) ©. bie
Polygraphiae libri sex, 1518, ®[. 11. — 5) Ebend. 1. VL, 8.4. —
6) Wuf dem zweiten BI. des 6. Buche der Polhgraphia (1518). Bol. ®.
Grimm, Ueber deuiſche Runen, 1821. ©. 161g.
Raumer, Geh. der germ. Philologie. 2
18 Zweites Kapitel.
Stadtſchreiber auf Lebenszeit und vertrat die Intereſſen Augsburgs
bei den wichtigften Angelegenheiten. Diefe Thätigleit brachte Peu⸗
tinger in nahe Berührung mit Kaifer Marimilian L, der ihm den
Titel eines Taiferlihen Rathes verlieh und ihn nicht nur als
Staatsmann und Mechtskundigen, fondern eben fo fehr als Ge—
lehrten und Runftverftänbigen Hodfhäßte. Die Iegten Jahre feines
Lebens brachte Peutinger in ftiller Zurüdgezogenheit zu, nachdem
ex im Jahr 1534 feinen Abſchied aus den Dienften der Stadt ge-
nommen hatte, weil er bie entſchiedene Durchführung der Firchlicden
Reformation nicht billige. In hohem Alter und in den glüdlich-
ften Familienverhältniſſen farb er am 28. December 1547. Peu⸗
tinger ftand in Verbindung mit den angefehenften Humaniſten fei-
ner Zeit. Sein ftattlihes Haus Bilbete einen Mittelpunkt der
Gaftfreigeit für ihren Verkehr. Die reichſten Sammlungen von
Büchern, Inſchriften und Münzen ftanden ihnen dort in liberalſter
Weiſe zur VBenugung offen. Wie bedeutend diefe wiſſenſchaftlichen
Schätze waren, erfieht man aus den bewunbernden Beugnifjen der
Zeitgenoffen °). Knupft fih doch bis auf den heutigen Tag. Peu-
tinger's Name an einen der merhvürbigften Mefte des römiſchen
Alterthums, an jene mittelalterliche Copie einer Reichscharte aus
der römifchen Kaiferzeit, die Conrad Celtis auffand und feinem
Freund Peutinger vermacte, und die dann nad mannigfachen
Shidfalen in die Bibliothek des Prinzen Eugen und mit dieſer in
die laiſerliche Bibliothel in Wien kam. Für Peutinger felbft bildete
die eigenthümlihe Stellung, welche das uralte Augsburg fon in
der Römerzeit einnimmt, gewilfermaßen das Bindeglied für bie
llaſſiſchantile und bie deutjch⸗geſchichtliche Forſchung. Die römiſchen
Inſchriften, welche der Boden Augsburgs und ſeiner Umgebung in
reicher Anzahl liefert, veranlaßten Peutinger im Jahr 1508 zur
Herausgabe feiner Romanae vetustatis fragmenta in Augusta
Vindelicorum et eius dioecesi. Zugleich aber gaben ihm bie
1) ©. d. Epistola nuncupatoria des Beatus Rhenanus vor ber (far
teinifpen) Ausg. des Procop. de rebus Gothorum etc. Basil. 1531. —
Lotter-Veith p. 54 2q. — Herberge ©. 37 fg.
Die Anfänge ber deutſchen Alterthumeforſchung im Neformationszeitalter. 19
alten Zuftänbe. des linken Rheinufers Gelegenheit, mit dem Anfger
bot einer feltenen Belefenheit in den antilen Autoren ben Beweis
zu führen, daß jene Gegenben ſchon in und vor ber Zeit des Julius
Cäfar von Germanen befet worden find. Er that bies im der
Schrift, die im Jahr 1506 zu Straßburg unter dem Titel erſchien
Sermones convivales, in quibus multa de mirandis Germaniae
antiquitatibus referuntur. Peutinger's XThätigfeit beſchränkte fi
aber nicht auf jene älteften germaniſch⸗römiſchen Verhältniffe. Er
erwarb fich vielmehr auf um bie Gedichte der Völkerwanderung
und der mittelalterlihen Zeit große Verdienſte dur Herausgabe
widtiger Quellen. Den Jornandes De rebus Getieis veröffent-
fihte er, Augsburg 1515, zuerft, und den ihm vorangeſchickten
Paulus Warnefridi zwar nicht, wie er glaubte, zuerft, aber doc
weit befier als im vorangehenden Jahre Afcenfius zu Paris ).
In demſelben Jahr 1515 ebierte Pentinger dic Chronik des Abtes
von Ursperg, eine der wichtigſten Quellen der Stauferzeit; und
wenn ex, gleichfalls im Jahr 1515, die Fabeleien feines Freundes
Trithemius über die Urgeſchichte der Franken zum Drud beförderte,
jo durchſchaute fein kritiſcher Blid doch ganz Har die Unwahrheit
dieſes Machwerks 2).
Was Conrad Celtis im Sinne gehabt, eine Germania illu-
strata, das fuchte fein Schüler Johann Turmair zur Ausführ-
ung zu bringen. Geboren im Jahr 1477 zu Abensberg in Nie
derbayern, nannte er fi von dieſem feinem Geburtsort Aventi⸗
uns. Auf der Univerfität Ingolſtadt widmete er fih vom Jahr
1495 His 99 dem Studium der antilen Literatur. Unter feinen
Lehrern war Conrad Eeltis, und als diefer im 3.1497 nad Wien
1) Bgl. Wattenbach, Deutſchlands Gefchictsquellen im Mittelalter
&. 3. — 2) 6. bie handſchrifiliche Randbemerfung Peutinger's in Historia
vitae atque meritorum Conradi Peutingeri. Post Jo. Ge. Lotterum
&d. Franc. Anton, Veith, Augustae Vindel. 1788, p. 87. — Außer dem
hen angeführten Werk vgl. Über Peutinger: Gonrad Peutinger in feinem
Verhältniffe zum Kaifer Marimilien I. Bon Theodor Herberger, Augsburg
1851.
ge
20 Zweites Kapitel.
überftebelte, folgte ihm 1499 Aventinus nad und lebte bort im
vertrauten Umgang mit feinem berühmten Lehrer 1). Nah man-
nigfachen Wanderungen Tehrte Aventin (1507) in fein Vaterland
zurüd und wurde im darauf folgenden Jahre von Herzog Wil-
heim IV. von Bayern zum Erzieher von beffen jüngeren Brüdern
Ludwig und Ernſt berufen. Bu diefem Poften war Aventin wie
gefhaffen. Denn mit einem tüchtigen Charakter vereinigte er nicht
Bloß eine gründliche Maffifhe Bildung, fondern auch bie wärmfte
Liebe zur vaterländiſchen Geſchichte, und auf den Unterricht in bie-
fer legteren wurde von dem bayeriſchen Fürſten ein Befonberes
Gewicht gelegt. Als Aventin im J. 1517 feine Aufgabe als Er⸗
zieher der beiden Prinzen gelöft hatte, zog er fi in das Privat-
leben zurüd und wibmete fih nun mit Unterftügung der bayerifchen
Herzoge ganz der Erforſchung und Darftellung ber deutſchen und
insbefondere ber bayeriſchen Geſchichte. Seinen Aufenthalt nahm
ex zuerft in feiner Vaterſtadt Abensberg, fpäter in Regensburg und
Ingolſtadt. Aber einen großen Theil feines Lebens bradte er auf
Neifen zu in unermüdlicher Durchforſchung ber Bayeriihen öfter
lichen und ftäbtifen Archive und Bibliotheken. Am 9. Januar
1534 ift er zu Regensburg geftorben ?). Unter den Schriften bes
Aventin kommen außer einigen grammatifchen,.von denen in einem
fpäteren Abſchnitt die Rede fein wird, insbefondere feine drei vor-
züglichſten Werke für unferen Zwed in Betracht: Seine Chronik
der alten Deutfhen, feine Annales und feine bayerifhe Chronik.
Seine „Chronica von vriprung, herkomen, vnd thaten ber vhr⸗
alten Teutſchen,“ die erft im I. 1541 zu Nürnberg im Drud er-
f&ien, war der Anfang einer Germania illustrata, zu welder
Agentin im Anhang zu feinem Abacus (1532) den Entwurf mit
1) Wiedemann (f. u.) ©. 9, nad Aventin's Hauskalender (Berhand-
ungen bes Giflor. Vereins für den Megenfreis, Jahrgang II.) ©. 10.
Pol. auch (Bayer.) Chronica 1566 BI. 5a. — 2) Die obigen Angaben
über Aventin’s Leben find entnommen aus Theodor Wiebemann, Johann
Turmair, genannt Aventinus, Geſchichtſchreiber des bayerifhen Volkes, reis
fing 1858,
Die Anfänge der beutfehen Alterthumoforſchung im Reformationsgeitalter. 21
getheilt Hatte 1). Bunächft mit Bayern, zugleich aber auch mit ber
deutſchen Geſchichte überhaupt befhäftigen fich Aventin’s Annalium
Boioram libri septem (verftümmelt gebruct zu Ingolſtadt 1554
und vollftändig zu Bafel 1580) 2) und deren deutihe Umarbeitung.
Diele letztere, Aventin's Hauptwerk, ſchrieb er in ben Jahren 1526
bis 1538, aber erft lange nad; Aventin's Tobe im J. 1566 erſchien
fie zu Frankfurt im Drud. Aventin ift ein Geſchichtſchreiber von
fittlich tüchtigem Charakter und edit deutſcher Gefinnung. Seine
deutſchen Schriften find in Sprade und Darftellung vorzüglid.
Er ſucht, die Geſchichte auf Urkunden und Denkmäler zu gründen.
Auch fehlt es ihm nicht an gefunden kritiſchen Bliden. Im Gan-
zen aber überwiegt bei ihm bie Bhantafie das kritiſche Urtheil, und
fo begegnet es ihm 3. B., den untergeſchobenen Berofus des An-
nins von BViterbo als eine echte Quelle zu benützen ®). Aber eben
diefe an einem Hiftorifer leineswegs lobenswerthe Eigenſchaft kommt
ifm gerade auf unſerem befonderen Gebiet zu ftatten, indem er nicht
aur die Urkunden und Hiftorifer, fondern auch die Lieber und Sagen
bes beutfchen Volles unter feine Quellen aufnimmt *). Aud Cornelius
Tacitus, fagt er, „brauche ſich difer vorgebachten alten lieder ger
zeugnus.“ „Darumb will id aud; in diſem werd vnſerer alten
vorfordern gefang, lieber vnd geſchicht ſchreiber zimlicher weis vnd
mit höchſtem vrtheil vnd vnterſcheid gebrauchen.“ Danach verfährt
Aventin auch in feinen anderen geſchichtlichen Werken. Ex kennt
und benutzt bie deutſche Heldenpoeſie und die noch fortlebende
Vollsdichtung. „Bon diefen dingen und ſachen allen”, fagt er ein-
mal in feiner Bayeriſchen Chronik, „feind noch viel alte Teutſche
Neimen und Meiftergefeng vorhanden in vnſern Stifften ond Klö—
ftern, denn ſolche Lieder allein feind die alte Teutſche Chronica, wie
denn bey vns noch ber Landsknecht brauch ift, die allweg von ihren
Schlachten ein Lied machen.“ 5) Aventin beruft fi) dann auch aus-
drüclich auf einzelne Theile unferer alten Heldendichtung. So fagt
1) Biebemann a. a O. ©. 248 fg. — 2) Ebend. ©. 276. —
3) Bol. Gayer.) Chronica 1580 BI. 3a. 4a. — 4) Chronica von vr⸗
ſprung, Herfomen vnd thaten ber vhralten Teutſchen, BL. 20b. — D Johan⸗
nis Aventini Chronica, Frandfurt 1566, BI. 802 b.
22 Zweites Kapitel.
er in der bayerifchen Chronik: „König Lareyn, von weldem wir noch
viel fingen vnd fagen, feyn alte Reimen ein gang Buch voll von
jm noch vorhanden, doch auff Poetiſch art gefegt.“ *) „Vnſer Leut”,
beißt es am einer anderen Stelle von Dietrih von Bern, „fingen
vnd fagen noch viel von jm, man findet nit bald ein alten König,
der dem gemeinen Mann bey uns fo bekannt ſey, von bem fie fo
viel wiſſen zu ſagen.“ 2) Aventin kennt den lateiniſchen Waltharius 3)
und benugt bie altdeutſchen Dichtungen über Karl den Großen. 4)
Aber Aventin zieht nicht bloß bie deutſche Sage, fondern auch die
deutſche Sprache in ben Vereich feiner geſchichtlichen Forſchung. Im
Anſchluß an Johann von Dalburg, Trittenheim und Conrad Celtis,
„etwan“ feinen „Lehrmeifter“,5) ſammelt er Wörter, „fo den Grie⸗
hen vnd Teutſchen ein Ding heiſſen“, e) wollte au ein „Büchel“
darüber herausgeben.®) Denn „fürwar” jagt er, „die Teuti Sprach,
vnd vorauß die Sächſiſch vnd Niderländiſch, vergleicht ſich faft in
alfen dingen Griechiſcher zungen, gehet faft auff die Griechiſchen
art." 6) Beſonders aber hat Aventin fein Abſehen gerichtet auf die
etymologiſche Erflärung der deutfhen Namen. Denn auf die Nas
men hätten unfere Vorfahren einen großen Werth gelegt.”) Daß
Aventin bei dem bamaligen Stand der Kenntniſſe noch nichts Halt-
bares für die Erflärung der beutihen Eigennamen leiften Tonnte,
verſteht fih von ſelbſt. Merhwürdig aber ift e8, wie er trog aller
Mißgriffe doch bereit in manden Dingen die richtigen Wege ahnt.
So fieht er, daß die Römer und Griechen die deutfhen Namen
öfters verändert haben, weil ihre Ausſprache von der deutſchen ver-
ſchieden war. 2) Bon befonderem Werth aber ift für unferen Zwei,
was Aventin bei dieſer Gelegenheit über die Verſchiedenheiten der
1) Gayeriſche) Chronica 1580, BI. 360. — 2) Ebend. BI. 259 a. —
3) Annal. Boj. 1580, p. 165. Bgl. W. Grimm, Deutſche Heldenfage (2)
&.805. — 4) Aventini Annalium Boiorum libri VI, Basil 1580, p. 217.
238. — 5) (Baperifje) Chronica 1566 BI. 5a. — 6) Ehend. BL. 25a. Bgl.
Aventin’s Chronica von vrfprung ber vhralten Teutſchen, Nürnberg 1541,
Bl. 35. — 7) Bayer. Ehron. 1566, BI. 5a. (Bgl. Ehronica von vrſprung —
der vhralten Teutſchen, 1541, BL 40 fg.) — 8) Ebend.
Die Anfänge ber deutſchen Altertfumsforihung im Reformationszeitalter. 23
deutſchen Munbarten beibringt. So fagt er ımter Anderem: „Ph
fpregen die Hochteutſchen grob auß, als wers pf. Die Sachſen
wie die Griechen recht, als denn feyn fol. Niderländer brauchens
d allein, wo das Oberland pf hat, Balk, Pfalk, Pferdt, Perdt,
Baff, Baff.“ *) Und ferner: „T haben die Sachſen wo die andern
Teutſchen | Haben, nad dem Griechiſchen brauch, Wittenberg,
Weiſſenberg, Watter, Waffer.” 2)
Eine ber bebeutenbften Stellen unter ben deutſchen Humaniften,
melde ihre klaſſiſche Gelehrſamleit der Erforſchung des germanifden
Alterthums zu gute kommen Tießen, nimmt Beatus Rhenanus
en. Sein eigentliher Familienname war Bilde, aber ſchon fein
Vater hatte, als er von Rheinau nah Schlettſtadt zog, Hier den
Ramen Rhenanus erhalten... In Schlettftabt wurbe im J. 1485
Beatus Rhenanus geboren. Auf der dortigen Schule vorgebildet,
ging er nad) Paris und wibmete fih dem Studium der griechiſchen
und römiſchen Literatur. Nah Deutſchland zurückgekehrt, lebte er
zu Straßburg, Bafel und Schlettftabt ein fleißiges, ftilles Gelehr-
tenleben. Allem Streit in religiöfen wie in wiſſenſchaftlichen Din-
gen abgeneigt, wirb er vorzüglich wegen feiner Friedensliebe ge-
priefen. Mit vielen namhaften Humaniften feiner Zeit ftand er in
perſönlichem und brieflihem Verkehr. So mit Conrad Bentinger,
in defien gaftfreiem Haufe er fi während des Reichstags zu Augs-
burg im Jahr 1530 aufhielt. Nach einer vieljährigen geräufchlofen,
aber ununterbrochenen und ſehr verdienten gelehrten Thätigfeit ſtarb
er im Jahr 1547 zu Etrafburg 3). Unter den klaſſiſch-philologi⸗
ſchen Leiftungen des Beatus Rhenanus ftehen die namhafteften in
Beziehung zum deutſchen Atertfum. Er war es, der den römiſchen
Geſchichtſchreiber Vellejus Paterculus, den Hauptzeugen über die
Larusfhlacht, entdeckte und aus ber einzigen damals noch vorhan-
denen und ſeitdem verlorenen Handſchrift zuerft herausgab. Ihm
1) Ebend. BI. 8b. — 2) Ebend. — 3) Ueber das Leben bes Bentus
Nenanus ſ. bie Vita Beati Rhenani a Joanne Sturmio eleganter con-
weripta vor ber zweiten Ausgabe von Beati Rhenani rerum Germani-
carım libri tres, Basileae 1551.
24 Zweites Kapitel.
verdankt man eine Ausgabe des Tacitus, in welcher namentlid die
Textbehandlung der Germania epodemadend war.!) Denn wenn
auch fpäter eine grünbli—ere Kenntniß fo mande Emendation bes
Rhenanus wieder über Borb geworfen hat, fo bleibt ihm dod das .
Berbienft, tiefer in den Sinn der Germania eingebrungen zu fein,
als irgend einer feiner Zeitgenoffen 2). Weit wichtiger nod war das
eigentlie Hauptwerk des Beatus Rhenanus, nämlich feine Rerum
Germanicarum libri tres, die im jahr 1531 zu Bafel erſchienen.
Es find eingehende, auf umfaflendes uellenftubium gegründete
Unterfuungen über die Geographie und Ethnographie des alten
Germaniens. Cine Menge bis dahin noch Iandläufiger Irrtümer
wird bier befeitigt und der Grund zu einer wiſſenſchaftlichen Be⸗
handlung des Gegenſtandes gelegt, fo weit er aus ben Iateinifchen
und griechiſchen Quellen zu gewinnen ift. Ja au von der Ber
nugung des Elements, das erft in der neueren Wiſſenſchaft zu feiner
vollen Bedeutung gelangt ift, nämlich der alten Sprade, findet ſich
in biefem Wert des Beatus Rhenanus bereits ein, wenn aud noch
geringer Anfang. So fagt er, wo er von ber Volksthümlichkeit
der Franken redet, daß bie Sprade ber Franken bie deutſche ge⸗
weſen jei, ergebe ſich aus unzähligen Beweisgründen, vor allem aber
bezeuge es daS ausgezeichnete in’s Fränkiſche, das Heißt, Deutſche
übertragene Evangelienbud. Während des Augsburger Reichstags
im Jahr 1530, erzählt er, habe er einen Abſtecher nad) Freifing
gemacht, um dort in der Bibliothef des Heiligen Eorbinian nad den
Deladen des Livius zu ſuchen. Da fei er auf eine Handſchrift ge
ftoßen, die den Titel führe: Liber Euangeliorum in Teodiscam
linguam uersus. Das Wert beftehe ganz aus Rhythmen, und
fein Hohes Alter ergebe fi daraus, daß am Ende ftehe: Waldo
me fieri iussit. Die Handſchrift ſei alfo ungefähr ſechshundert
1) Die erſie Ausgabe erſchien zu Bafel 1519, Die zweite eigentlich) epochemachende
ebend. 1533. — 2) Bier Jahre nach dem Tode des Beatus Rhenanus erjchien
eine zweite verbefferie Ausgabe: Beati Rhenani Belestadiensis rerum Ger-
manicarum libri tres, ab ipso antore diligenter reuisi et emendati,
Basileae 1551.
Die Anfänge der deutſchen Alierthumoſotſchung im Reformationsjeitalter. 25
Sabre alt. Und nun theilt er einige Proben aus dem Buch mit,
in denen wir die erſten gebrudten Zeilen aus der Dichtung bes
Otfrid von Weißenburg vor uns haben. Beatus Rhenanus hat
aber noch feine Ahnımg von dem Uriprung umd dem Verfaſſer bes
Berls. Gr glaubt, es ſtamme aus der Zeit, als die Franken ſich
zum Ghriftentfum befehrten; das wäre alfo etwa aus dem Ende
des fünften Jahrhunderts. Mit der von Trithemius gegebenen
Rotiz über Otfrid bringt er es in Feine Beziehung. !)
Die gelebrte Erforihung bes deutſchen Wltertfums war dem
Beatus Rhenanus nicht Bloß ein zufällig ergriffener Theil der
Erudition. Vielmehr geht durch alle feine Arbeiten ein Bug vater-
ländifher Freude an der Größe bes deutſchen Volles. Wir follten
uns nicht immer bloß mit den Geſchichten fremder Völler beſchäf⸗
tigen, fagt er in feiner Ausgabe des Profop, während wir doch zu
Haufe haben, was unfre Bewunderung verdient, und was nicht
bloß der Kenntniß, fondern auch der Nachahmung werth feinen
Eönnte. Denn unfer, fagt er, find die Triumphe der Gothen, Van⸗
dalen und Franken. Uns gehört der Ruhm der Reiche, welche jene
in den herrlichſten Provinzen der Römer, ja in Stalien und in
Rom felbft, der Königin aller Städte, gegrünbet haben. 2)
Die von Beatus Rhenanus begonnene Unterſuchung der alten
Bölternerhältniffe ſetzte einige Jahrzehnte fpäter Wolfgang La-
sinus fort. Geboren zu Wien im Jahr 1514 machte Wolfgang
Lazius feine Studien auf der dortigen Univerfität. Seinen Lebens»
beruf fand er in der Arzneikunde, zugleich aber widmete er ſich mit
Vorliebe philologiſchen und Hiftoriigen Studien. Er wurde ein
angefehener Arzt in feiner Vaterſtadt, daneben aber übernahm er
an der Univerfität erft eine Profeffur der artes liberales, fpäter
eine der Mebicin. König Ferdinand ernannte ihn zu feinem Rath
und Geſchichtſchreiber. Hochgeehrt ftarb Lazius im Jahr 1565 zu
Bin.) Lazins war ein ungemein thätiger und fruchtbarer Ger
1) Im ber erflen Ausgabe (1581) p. 107. — 2) Hinter der Ausgabe
iss Procop. Basil. 1531, p. 513. — 3) Melchior Adam, vitae Germa-
26 Zweites Kapitel.
lehrter auf verfdiebenen Gebieten. Das Wert, bas uns hier zu-
nãchſt angeht, find feine im Jahre 1557 zu Bafel erſchienenen De
gentium aliquot migrationibus, sedibus fixis, reliquiis lingua-
rumque initiis et immutationibus ac dialectis libri XII. Als
feine Vorgänger betraditet er den Aventinus und den Beatus
Nhenanus, 1) indem cr, wie diefe, die germaniſchen Völker in ihren
Wanderungen und Neihsgründungen verfolgt. Ex hat es dabei,
wie ſchon der Titel feines Werks beſagt, neben ben politiihen ganz
beſonders auch auf die ſprachlichen Verhältniffe der Völker abge-
fehen. Aus den Wanderungen und Miſchungen der Völfer follen
wir ertennen, woher fo viele und fo mannigfaltige Dialekte der
deutſchen Sprade entftanden find, 2) und wie es andrerjeits zuge-
gangen ift, daß fo manche Völter, die jet Feine deutſche Sprache
ſprechen, 3. B. die Spanier, die Franzofen, die Italiener, dennoch
deutſchen Urfprungs find. 3) Wir müſſen ben eigentlich geſchicht-
lichen Inhalt des umfangreichen und gelehrten Werts Hier bei Seite
laffen und uns auf beffen Beziehungen zur deutſchen Sprache und
Literatur beſchränken. Hier ift ohne Frage das Wert des Lazius
eins der interefjanteften des ganzen 16. Jahrhunderts. So macht
3 B. Lazius den Verſuch, ben Unterfhied der Deftreiher und der
Schwaben aud an ihren Mundarten nachzuweiſen. Wo die Schwa-
ben den Vocal u Haben, bemerkt er, da ſetzen die Deftreiher und
„die übrigen von den Marcomanen und Bojen abftammenden Völ⸗
ter” den Diphthong au, 3.8. „mul, buch, maul, bauch.“ Außer
einigen anderen lautlichen Unterſchieden führt Lazins eine Reihe von
Begriffen auf, welche der Deftreicher mit einem anderen Wort be-
zeichnet, als der Schwabe. Wo der Schwabe jagt Gelten, da fagt
der Deftreicher Schaff, den judex nennt ber Oeſtreicher Richter,
der Schwabe Schulthays u. ſ. w.) Nah Anführung einer An⸗
zahl eigenthümliher Ausdrücke der öſtreichiſchen Mundart bemerkt
norum medicorum (3) 1706, p. 60 sq. Ejusd. vitae philosophorum
(8) 1706, p. Al sg. Lambecii comment. de bibl. Vindobonensi I,
1665, p. 37 eq. — 1) Praef. p. 1. — 2) Ebend. p. 5. 10. — 3) Ebend.
p- 4 sg. p. 7 sq. — 4) Lasius de gentium migrationibus p. 627.
Die Anfänge ber beutfchen Alterthumeforſchung im Reformationsgeitalter. 27
dann Lazius, daß in neuerer Zeit ber große Verkehr und der zahl-
reihe Zuzug aus Schwaben und Franken die Eigenthümlicfeiten
der öftreichifchen Mundart in Wien und ben anderen größeren
Städten mehr und mehr verwiſche. Auf dem Lande dagegen und
in den Heineren Städten habe ſich jene alte, von ben ührigen
Deutfehen ſehr verſchiedene Mundart noch erhalten.‘) An einer
andern Stelle beruft fi Lazius auf bie Mundart der Gotſcheer in
Lrain als einen Meft des alten Schwäbiſchen, und macht bei biefer
Gelegenheit einige merkwürdige Mittheilungen aus dieſer Mundart.?)
Wer Lagius begnügt fih nicht mit der Beobachtung der Sprade
der Gegenwart, fonbern er ſucht in den Bibliothefen der Klöſter,
die er für feine Fwede unermüdlich durchforſcht, nad Denkmälern
der alten deutſchen Sprache. So theilt er zuerft bie althochdeutſche
gereimte Bearbeitung des 138 (139) Pfalms 3) mit, und ebenfo
ein Stud aus dem althochdeutſchen Phyfiologus ). An einer
andern Stelle gibt er Proben althochdeutſcher Gloſſen aus einer
Handſchrift der Canones 9). Das Meifte, was er mittfeilt, ift frei-
lich fo fehlerhaft, daß man fieht, er hat nur wenig davon verftan-
den. Aber ſchon die Veröffentlichung feldft gehört zu den bemer⸗
Ienswertheften Anfängen unfrer Wiſſenſchaft. Ebenſo die Mittheil-
ung marcomannifher Runen aus einer „uralten Membrane.“ 6)
Aber bei weitem das Wichtigſte, deffen erſte Veröffentlichung Lazius
vergönnt war, find die Brucdftüde aus unferen Nibelungen. Er
führt fie an als geſchichtliche Zeugniffe ”), von ihrem dichteriſchen
Werth hat er keine Ahnung, bezeichnet vielmehr ihren Verfaſſer ge-
legentlich als „poetaster ille Gothicus.* 8) Aber bei dem allen
1) Eend. ©. 628. — 2) Ebend. S. 451. — 3) Ebend. S. 81. (Aus
der jebigen Sf. 1609 der Hofbibliothek zu Bien. Nr. XII in Mütlenhoff's
nd Scherer's Denkmälern.) — 4) Ebend. &. 81. (Mus ber jebigen Hf.
Kr. 223 der Hofbibfiotget zu Wien. Nr. LXXXI bei Müllenhoff und
Scherer.) — 5) Ebend. ©. 71 fg. (Mus der Hſ. 40 jur. can. ber Wiener
doſbibliechel. Gebrudt in Graffs Dintisfa IT, 34-337). — 6) Ebend.
6.644 fg. (Bgl. W. Grimm, Ueber beutfe Runen, 1821, ©. 79. 80.) —
7) Ehend. S. 353. 680. 683. 707. 757. — 8) Ebend. ©. 682.
28 Zweites Kapitel.
find dieſe Anführungen des Lazius (im J. 1557) eben doch bie
erften gebrudten Zeilen aus unfrem größten deutſchen Epos !).
Endlich will ich noch bemerken, daß Lazius auch darin auf dem
richtigen Wege war, daß er einen Theil der franzöſiſchen Wörter
aus dem Deutſchen ableitet, wenn er fih aud im Einzelnen ſtark
vergreift 2). Eine Bufammenftellung der Wörter, welde die Deutſchen
theils aus dem Griechiſchen, theils aus dem Lateiniſchen entlehnt haben
folfen, mifht, wie fid erwarten läßt, Entlehntes und Umerwandtes
* bunt burdeinander 3). Wie fern überhaupt dem Lazius noch eine
wiſſenſchaftliche Kenntniß ber älteren deutſchen Sprache Tag, zeigt
ſich fon darin, daß er die vollen Endungen des Althochdeutſchen
für Nachahmungen des Lateinifhen Hält +). Bon dem Zuftand der
damaligen Etymologie aber wird man fih einen Begriff machen,
wenn man hört, daß Lazius meint, die deutſche Betheurung: „auff
mein trat“, fomme „forte a Druidibus, sacerdotibus ac vati-
bus Germanorum“ 5). In dem allen aber fteht Lazius nur auf
ber Entwilungsftufe feiner Zeit, und wir dürfen uns dadurch
nit hindern laſſen, den der Wiſſenſchaft höchſt fürderlichen Eifer,
die umfafjende Gelehrfamteit und ben lebendigen Sinn, den Lazius
als Forſcher zeigt, rühmend anzuerkennen.
Wir Können nicht alle Humaniften, die mit dem deutſchen Al-
tertfum in Berührung Tamen, im Einzelnen beſprechen, fondern
müſſen uns auf die bebeutendften derartigen Erſcheinungen beſchrän⸗
ten. ber noch einige von den Männern, die das Studium des
Haffifgen und bes vaterländifcen Altertfums mit einander verban«
den, wollen wir ſchließlich kurz berühren. Zuvörderſt bemerken wir
hier, daß auch der bedeutendfte deutſche Geograph jener Zeit, Ser
Baftian Münfter, einen Beitrag zur Kenntniß des Altdeutſchen lie⸗
fert. Sebaftian Münfter, geboren zu Ingelheim im J. 1489,
1) Son 1553 findet ſich zwar bei Gafp. Bruſch (de Laureaco, Basil.
1558, p. 119) die Anbeutung einer Nibelungenhanbfgrift, aber ohne Mit-
theilung einer Stelle. — 2) Lazius de gentium migr. p. 57. 76 fg. —
3) Ebend. ©. 25 fg. — 4) Ebend. S. 72, — 5) Ebend. ©. 78,
Die Anfänge der beutfehen Alierihumefotſchung im Reformationszeitafter. 29
unde 1529 Profeffor der hebraiſchen Sprache an ber Univerfität
Bafel und ſtarb daſelbſt im J. 1552 1). Seine Eosmographei ift
das angefehenfte geographifce Wert, das während des 16. Jahr
handerts in deutſchet Sprache geſchrieben worden ift. Obwohl
Sprodforiger von Beruf, — er war befanntlich einer ber erften
Semitiften feiner Beit —, nimmt Mänfter in feiner Cosmographei
im Ganzen doch auffallend wenig Rüdfiht auf die Sprachen der
Völler. Aber gerade bei dem Deutſchen fühlt er fi bemogen, aus
äiner alten Handſchrift eine „Offne Altfrendife Veit‘, ein alt-
hohdeutihes Denkmal aus dem Ende des 10. Jahrhunderts, mit
ntheilen ). Ueberhaupt finden wir in ber Schweiz fon in jener
deit eine vorzüglie Neigung, ben Dentmälern der altdeutſchen
Sprade feine Aufmerkſamleit zuzuwenden. So bei Joachim von
Batt (Babianus). Geboren im J. 1484 zu St. Gallen, macht
badianus feine Studien zu Wien, wird bort 1518 Doctor der
Redicin und in feine Vaterſtadt zurüdgelehrt 1526 deren Bürger-
meifter. Als folder fördert er mit aller Kraft die Reformation
der Sirhe. Ex ſtarb im J. 1561). Unter feinen zahlreichen Schrif-
ten findet fi aud eine de collegiis et monasteriis Germaniae
veteribus, und Bier gibt er bie erfte Kunde von Notker's althoch⸗
deutiher Ueberfegung der Pialmen. Ex irrt zwar no im Ver⸗
fer, indem er dem Notker Balbulus das Werk zuſchreibt. Aber
keine Mittheilung war um fo wertfvolfer, als er zur Probe das
Later unfer und das apoſioliſche Glaubensbekenntniß in althoch-
deutſhet Sprache aus derſelben Hanbigrift aushob. Zum Drud
fördert wurde zwar bies Merk erft (1606) durch Golbaft *).
1) Berg. Melch. Adam. Vitae Germanorum philosophorum (8)
p 66 24. — 2) Seh. Münfter’s Eosmographei, in ber Ausgabe von 1578,
6.465. Berbeffert gebruit in Maßmann's Deutſchen Abfhrwörungsfermen
1899, 6. 181 fg. unb in ben Denkm. von Müllenhoff u. Scherer 1864,
8.187. WgL. eb. ©. 492. — 8) Bgl. Alamannicarım reram soriptores,
Tom. IIL, ex bibliotheca Goldasti, 1780, p. 1 ng. — 4) Im britten
Til der Alamannicarum reruan scriptores 1606. Die obige Stelle über
Rotter findet fih in biefer Ausg. ©. 47 (in der Gendenberg’ien ©. 37).
Tab Pater Unfer zulebt bei Müllenhoff und Scherer Nr. LXXVIII.
80 Zweites Kapitel.
Aber ſchon viel früher erhielt jenes altbeutihe Vaterunfer Joha n⸗
nes Stumpf von Babianus. Diefer (geboren zu Bruchſal im
J. 1500, 1522 Pfarrer zu Bubilon im Bürder Gebiet und Au⸗
Hänger Zwingf’s, geftorben 1566 zu Bürih)) theilte es 1547 im
feiner Schweizer Chronik mit, und von ihm wieder entnahm es
Conrad Geßner für feinen Mithribates 2). Wie Stumpf, fo war
auch fein berũhmterer Zeitgenoſſe Aegidius Tſchudi, der größte
Schweizeriſche Geſchichtsforſcher des 16. Jahrhunderts, der Be-
ſchäftigung mit den Dentmälern der altdeutſchen Sprache zugethan.
Geboren 1505 in der Kirchmatt wibmete ex fi zu Baſel unter ber
Leitung bes Heinrich Glareanus llaſſiſchen und hiſtoriſchen Studien.
Er blieb zeitlebens der römischen Kiche anhänglich, aber von maß-
voller Dentungsart. 1558 wurde er Landammann von Glarus
und ſtarb im J. 15729. Mit unermũdlichem Fleiß durchforſchte
er die Urkunden und Geſchichtſchreiber der Schweiz, und dies führte
ihn auch zu den Denkmälern unſrer alten Sprache. Er erwähnt
„ein alt bermentin Euangelibuch“ „vor ſechßhundert jaren geſchri⸗
ben”, das ſich in dem Kloſter St. Gallen befinde, „aber“, ſagt er,
„onder fünff worten merdt einer kum einß, wo nit das latin dar—⸗
nebend find" 5). Es iſt die althochdeutſche Ueberfegung von der
Evangelienharmonie des Ammonius, die bier zum erſtenmal er-
mwähnt wird. Tſchudi felbft war im Beſitz einer ausgezeichneten
Bibliothek. Aus feinem Nachlaß ift die berühmte Handſchrift der
Nibelungen in die Bibliothek zu St. Gallen gekommen 9).
1) Bet. 9. 3. Leu, Allgemeines Sqhweiberiſches Sericon, Thl. XVIL,
Züri) 1762, ©. 717 fg. — 2) Bol. Bartholomäus Sqhobinger's Additio-
nes zu ber obigen Schrift bes Babiamıs in Sendenberg’6 Ausgabe von
Golbaf’s Rerum Alamannicarum Scriptores, III, p. 107 sq. — 3) Bgl.
die Vorrebe Joh. Rudolf Iſelin's zu feiner Ausgabe von Tſchudi's Chronit,
Erſtet Thl, Bafel 1734. — 4) Bol. die vralt warhafftig Aupiſch RKhetia —
durch — Gilg Tſchudi, Bafel 1538, P. ij. — 5) Ebend. — 6) 3. 9. v.
ber Hagen, Literar. Grundriß 1812, 6. 80.
Die Anfänge ber deutſchen Altertgumsforihung im Neformationszeitalter. 81
Die Reformation der Airche und die deutſche Philologie. Erhe Ausgabe
des Oifrid.
Die kirchliche Neformation mußte in den mannigfaltigften Be-
Aehungen einen höchſt bebeutenden Einfluß auf die Gründung und
Entwidlung der deutſchen Philologie üben Der Kampf gegen
Rom wecte in den Deutſchen zugleich das Gefühl von dem Werth
des eigenen Volles umd erinnerte an die alten Kämpfe, in denen
mfere Borfahren das römiſche Joch abgeſchüttelt und die römiſche
Weltherrſchaft geftürzt Hatten. In diefem Sinn faßte vor allen
Urih von Hutten bie Befreiung des deutſchen Volkes vom
pähftfihen Joche auf. Der Kampf gegen Mom geht bei ihm Hand
in Hand mit der begeifterten Verberrlihung des alten Arminius.
Die Knechtſchaft Deutſchlands abzuſchütteln, ift fein hauptſächlichſtes
Ziel). Auch bei Luther klingt dieſe Saite bisweilen an. So
in der gewaltigen Schrift an ben Chriftlichen Adel Deutſcher Nation
(1520). Aber es würde wenig Verftändniß von Luthers Weſen
verraten, wollte man hierin fein eigentliches und hauptſachlichſies
Streben ſuchen. Sein Biel war vielmehr ein ftreng Teligiöfes.
Den reinen chriſtlichen Glauben wieder herzuftellen, dazu fühlte er
fih von Gott berufen. Aber gerade dies Beftreben, getragen von
einer fo grunddeutſchen Natur, Tam auch in hohem Maß ber För⸗
derung des deutſchen Weſens zu gute. Indem Luther die Scheide-
wand zwiſchen Klerus und Laien niederriß und alle Chriften durch
die Taufe zu Prieftern berufen erflärte, mußte er zugleich darauf
bedacht fein, Der ganzen Gemeinde das Wort Gottes als bie Richt-
fOmur ihres Glaubens und Wandels zugänglich zu machen. So
entftand (1522 — 1584) Luther's Bibelüberſetzung. Sie vor allem
wurde neben ben anberen deutſchen Schriften Luther's die Grund⸗
Inge unferer neueren ſchriftſprachlichen Entwidlung, und wir werben
1) Bel. 3 8. Hutten’s umvollendeten Dialog Arminius in Böding’e
Antgabe von Huiten’6 Werten Vd. IV., ©. 407 fg., und Ranke's Schilderung
Sutten'6 in ber Deutſchen Geſchichte im Zeitalter ber Reformation Wh. I.
(1839), ©. 415 fg.
32 Zweites Kapitel.
in einem fpäteren Abſchnitt ſehen, wie hieran wieder vorzugsweife
die Entftefung und Ausbildung der deutſchen Grammatik fih an⸗
genüpft hat. Aber auch der älteren deutſchen Sprade und Litera-
tur gegenüber enthielt die kirchliche Reformation neue Antriebe ber
Forſchung '). Zwar mußte unläugbar der Sinn für die romantiſche
Dichtung des Mittelalters durch bie Reformation ebenfo, wie
andrerſeits buch das Wiederaufleben des Maffifhen Alterthums,
zunãchſt beeinträchtigt werden. Aber nad einer anderen Seite hin
wurde gerade die lirchliche Meformation Anlaß zu tieferer Erforſch⸗
ung unferer älteren Literatur. Die kirchliche Reformation hat fich
1) Nicht wegen einer befondern Beziehung auf die Reformation, ſondern
wegen bes Zufanmenhangs, in ben man es mit bem Namen bes großen Re—
formators gebracht Hat, wollen wir hier eines Buchleins gedenken, das den
Eiteratoren nicht wenig zu ſchaffen gemadt Ha. Im J. 1537 erfhien zu
Wittenberg ohne Nennung des Verſaſſers: Aliguot nomina propria Ger-
manorum ad priscam etymologiam restituta. Cine fpätere Ausgabe
vom 3. 1554 (fie befindet fih auf der Erlanger Univerfltätsbisliothet) fügt
hinzu: Autore reverendo D. Martino Luthero, und unter diefem Namen
iR die Sqhriſt dann im 16. bis 18, Jahrhundert noch oftmals gebrudt wor:
ben. Ob Luther wirklich der Werfaffer fei, if Rreitig. (Bel. u. A. V. E.
Loescheri Literator Celta, onrante J. A. Egenolf, wo ber S. 104 mit:
getheilte Brief des Erasmus den Streit für Luther's Autorſchaft entfcheiden
würbe, wenn nicht gerabe bie auf unfer Büchlein bezüglichen Worte in dem
Ausgaben ber Briefe des Erasmus, — in ber Londoner von 1642, Sp.
1515 —, fehlten. — S. au J. G. Eocard, Hist. studii etymologiei
linguae Germanicae, 1711, p. 4isq. F. J. Beyschlag, Bylloge va-
riorum opusculorum, Tom. I., Halae Svevorum' 1729, p. 455 sg. @.
€, Reiharb, Verſuch einer Hiſtorie der deutſchen Sprachtunſt, Hanıburg 1747,
S. 17 fg). Der innere Werth des Büchleins lohnt die viele Mühe nicht.
Es iſt nicht ſchlechter, aber auch nicht beſſer, als bie anderen mißglüdien
Berfuche jener Zeit, mit gänzlich ungenügenden Mitteln bie deutſchen Namen
eiymologifd erklären zu wollen. Deutungen, wie „Ofwalt, rectius Hufwalt,
gubernator domus“, „Larpold, Hoc proprie dici debet, Liebholt, no-
mine composito, siont Ratgülff ete. Quasi dicas, Sieb und hold, ama-
bilis et dileotus“ und viele andere der Urt zeigen uns, wie jene Zeit von
deutſcher Eihmologie noch feine Ahnung hatte.
Die Anfänge ber deutſchen Alterifumsforfhung im Reformationszeitalter. 88
nömlih darauf hingewieſen, durch eine eimbringende Unterfuchung
der gefchichtlicden Vergangenheit ihre Stellung zu rechtfertigen.
Die Anhänger der proteftantifen Lehre thaten dies mit einen
Eifer und einem Erfolg, der nit nur in ihrem eigenen Lager,
ſondern auch in bem ihrer Gegner eine neue Epoche der Kirchen⸗
geſchichte begründet hat. Der bebeutendfte Vertreter diefer kirchen⸗
geihihtlihen Forſchung war auf Lutheriſcher Seite Matthias
Flacius Illyricus. Geboren im J. 1520 zu Albona auf
der iſtriſchen Halbinfel, ging Matthias Vlacich als neunzehnjähri-
ger Jüngling über die Alpen in bie Länder der deutſchen Proteftan- -
ten, machte feine Studien in Bafel, Tübingen und Wittenberg und
wurde einer ber eifrigften und ftreitbarften Theologen der Iutheri-
ſchen Kirche. Wir können feinem fehr unruhigen Lebensgang hier
nicht weiter folgen und bemerken nur, daß er zu Frankfurt am
Rein am 11. März 1575 geftorben ift. Unter feinen Arbeiten
nehmen die lirchengeſchichtlichen die erfte Stelle ein. Das Streben,
die Ueberzeugungen der Reformation auch in früheren Jahrhunderten
nachzuweiſen, veranlaßte ihn zur Sammlung und Herausgabe feines
Catalogus testium veritatis. Einen folden Zeugen ber Wahrheit
mm glaubte Flacius auch in Otfrid von Weißenburg und feinem
Gvangelienbud gefunden zu Haben. In der erften Ausgabe feines
Catalogus, die im Jahr 1556 zu Bafel erſchien, erwähnt er ihn
nod nicht, aber in der zweiten, die er am 1. Februar 1562 her⸗
ausgab, führt er ihn auf. Ex betrieb num mit dem ihm eigenthüm«
lien Eifer die Herausgabe des Werks. In dieſem Streben kam ihm
der angeſehne Augsburger Arzt Achilles Pirminius Gaffar
entgegen. Diefer -(geboren zu Lindau im J. 1505, + 1577)
war ein ſehr vielfeitig gebilbeter Mann, wie das Verzeihniß feiner
Schriften darthut, unter denen fi meben ben mebicinifhen auch
mannigfache Hiftorifche finden. Mit Flacius führte ihn ;die gleiche
teligiöfe Ueberzeugung zufammen!). In welcher Weiſe bie Hand⸗
ichrift, nach welcher die erſte Ausgabe von Otfrid's Evangelienbuch
1) Bgl. Brucker de vita et scriptis A. P. Gasseri in ( Sqhelhorn's)
Amoenitates literariae Tom. X., Francof, et Lips. 1729, p. 1007 sq.
Raumer, GSeſch. der germ. Philologie. 8
84 Zweites Kapitel.
gemacht wurde, aufgefunden worben ift, wird ums nicht berichtet.
Es war, wie ſich aus ber Vergleihung der Texte ergibt, die Hand»
ſchrift, die fich jegt auf der Heidelberger Bibliothek befindet. Dort-
Hin iſt fie mit den übrigen Schägen ber Bücherſammlung bes Ul-
rich Fugger durch deſſen Vermächtniß gefommen. In Fugger's
Bibliothek zu Augsburg wurde fie aufgefunden und im Jahr 1560
von Gaſſar abgefärieben 1), ber eifrigen Antheil nahm an ber
Förderung des großen kirchengeſchichtlichen Werls der Magdeburger
Centurien, daß unter der Leitung feines Freundes Flacius erſchien.
Gaſſar ſuchte nun einen Verleger für die Herausgabe des Otfrid und
briefwechſelte darüber mit Conrad Geßner in Züri 2). Aber feine
Bemühungen waren vergeblig. Da nahm Flacius die Sache ſelbſt
in die Hand und erreichte im Jahr 1571 fein Ziel®). In diefem
Jahr erihien zu Baſel die erfte Ausgabe von Otfrid's Evangelien-
bud unter dem Titel: „Otfridi evangeliorum liber: ueterum
Germanorum grammaticae, poeseos, theologise, praeclarum
monimentum. Euangelien Buch, in altfrendijhen reimen, duch
Dtfriden von Weiffenburg, Münd zu S. Gallen, vor ſibenhundert
jaren beſchriben: Jetz aber mit gunft dei geftrengen ehremueften
herrn Adolphen Herman Niedefel, Erbmarihald zu Heſſen, der
alten Teutſchen ſpraach vnd gottsfordt zuerlernen, in trud ver⸗
fertiget. Basileae MDLXXI.“ Flacius ſchidt dem Gedicht eine
lateiniſche und deutſche Vorrede voraus, in denen er die Gründe,
bie ihm zu feinem Unternehmen bewogen, darlegt. Seine erften
und hauptſãchlichſten Gründe find, wie fi denken läßt, veligiöfe,
Was Otfrid felbft als den Beweggrund feiner Dichtung angibt,
die Menfchen vom Singen und Leſen unnüger oder ſchädlicher Lies
ber und Schriften zum heilſamen Leſen und Singen bes Evange-
1) Gaſſar's Abſchrift iſt noch vorhanden im Schottenkfofter zu Wien.
©. Kelle's Einleitung zum Oiftid, &. 124. — 2) Epistolarum medici-
nalium Conradi Gesneri libri III, Tiguri 1577, 81. 23b, 24. 26b. 28.
— 3) Bgl. über dieſe erfle Ausgabe bie Einleitung Kelle's zu feiner Ausgabe
bes Otfrib, Bb. I. (Regensburg 1856) ©. 100 fg., und dazu, was Preger,
dlacius Zügrieus II., 470 fg. fagt.
Die Anfänge der deutſchen Altertgumsforihung im Reſormationszeitalier. 35
Inms einzuladen, das wolle auch er. Wenn man alles Alter
thũmliche ſchon um feines Altertfums willen bemwundere, wie viel
mehr müßten Alle dies uralte Denkmal hochhalten, das überdies die
heifige Lehre darbiete. Hier habe man für ben jetzt Heftig entbrann⸗
ten Streit, ob bie Menge die Heilige Schrift in ber Vollsſprache
leſen dürfe, eine leuchtende Entſcheidung, daß in der Zeit der Karo
linger es nit nur für recht und der Meligion entſprechend gegolten
habe, daß das Bolt die heilige Schrift in Händen habe, fonbern
au, daß es dieſelbe in vollsthümlichen Weifen überall finge und
feiere.
In dem Inhalt des Otfrid'ſchen Evangelienbuchs glaubt
Flacius den Beweis zu finden, daß der Verfaffer die proteſtantiſche
Lehre von der Gnabe gehabt habe. Der eine von feinen Beweis⸗
gründen ift freilich fonderbar genug. Flacius mißverftcht nämlich
die Ueberſchrift bes Erſten Buchs: „Jncipit liber evangeliorum
domini gratia Theotisce conscriptus“, dahin, daß er domini
gratia für den Nominativ und den Titel des Werks nimmt. Das
Bud ſei „Gratia dei, die gnad Gottes genant worden." Mehr
Gewicht läßt fih auf feinen anderen Beweisgrund, auf die von ihm
angeführte Stelle aus dem erften Buch!) Iegen. Aber wenn auch
für Flacius die religiöfen Gründe obenan ftehen, fo entgehen ihm
doch auch die übrigen nicht. „Wiewol wann glei Fein andere
vrſach were,“ fagt er in der zweiten Vorrede, „warumb bie freie und
ehrliebende Teutſchen folten diß Buch lieb haben und hochachten, fo
ift diefe wichtig und groß genug, das nad dem alle menſchen gern
von jhren eltern und vorfarn viel wiffen wöllen, aud) alles fo bei
jnen gewonlich vnd gebreuhlih, hochhalten, weil auch alle menſchen
gern etwas beides von den vralten, vnd von frembden ſpraachen
wiſſen: ſo muß jhe gar ein ſtock, vnd ſo zureden, kein rechter Teut⸗
ſcher ſein, der nit auch gern etwas wiſſen wolt von der alten ſpraach
ſeiner vorfarn vnd eltern, welches man dann auffs beſt vnd leichteſt
auß dieſem Buch haben vnd vernemmen kan.“ Und was er hier
1) I, 2, 4346. Bol. jebo Kelle in der Einleitung zu feiner Aus:
gabe des Oifrib. ©. 107.
3*
36 Zweites Kapitel.
in derben Worten ben ehrlichenden Deutſchen an's Herz legt, das
führt ex in der lateiniſchen Vorrede in mehr wiſſenſchaftlicher Weife
aus. Die Kenntnig diefes Buches und feiner Sprade werde fehr
viel beitragen zur Erforſchung der Etymologieen und Urfprünge der
deutf hen Wörter und überhaupt zur volleren Erkenntniß dieſer
Sprade. Denn die Berzweigungen ber verfciebenen Wörter wür⸗
den aus jenen erften Thematibus oder (wie die hebräiſchen Gram⸗
matiler fi ausdrüdten) Wurzeln abgeleitet, und aus jenem alten
Gebrauch der Wörter könne ihre gegenwärtige Bebeutung und ihr
Gebrauch und Mißbrauch gründlicher erfannt werben. Kurz, man
könne ohne alles Bedenlen jagen, daß ohne diefe Art von Etymolo-
gicum biefer Sprade Niemand fie völlig und gründlich erforichen
könne. — Man erfennt an biefen treffenden Bemerkungen den ums
faffenden Linguiften, der Zlacius war. Aber man würde fi täu⸗
fen, wenn man nun von ber Anwendung feiner Grundfäge ſowohl
in Bezug auf feine Etymologieen, als auf feine Ausgabe des Otfrid
zu viel erwartete. Die Aufgabe war zu neu und die Kenntniß der
alten Sprache noch viel zu ungenügend, al3 daß etwas Anderes als
ein nur mangelhafter Tert zu Etande kommen konnte. Einen nicht
geringen Theil des Verdienftes, daß die Ausgabe doch wenigftens
fo wurde, wie fie ift, hat oßne Zweifel Pirminius Gaffar in An-
fprud zu nehmen. Die „Erklerung der alten Teutſchen worten“,
die dem Gedicht vorausgeſchickt wird und bie von Gaffar herrührt,
bemeift trog aller Verftöße, daß er fi in das Lerifalifde ber
Sprade Hineinzuleben fuchte. Einen weſentlichen Fortſchritt in der
Beurteilung des Ganzen zeigen Gaffar und Flacius darin, daß fie,
auf den Angaben des Zrithemius fußend, Otfrid von Weißenburg
als den Verfafjer erkennen. Und unter allen Umftänden hatte man
den Herausgebern für ihre Ausgabe Dank zu wilfen, da fie über
anderhald Jahrhunderte, bis zum Jahr 1726, die einzige blieb. )
1) Ein weiteres Eingefen auf dieſe Editio princeps des Oifrid und bie
daran fich Anüpfenden Fragen geftattet Hier der Raum nicht. Ich verweife auf
Kelle's Einleitung zu feiner Ausgabe bes Otfrid (B. I, ‚Regensburg 1856),
und über Flacius überhaupt auf: Wilhelm Preger, Matthias Flacius Illyricus
und feine Zeit, Erlangen I. 1859; II 1861.
Die Anfänge ber deutſchen Altertfumsforfhung im Reformationsgeitalter. 37
Die Anfänge der vergleihenden Sprachforſchung und die germaniſche
Philologie.
Die germanifhe Philologie hat in ihrer ganzen Entwidlung
in enger Wechſelbeziehung zur vergleichenden Sprachforſchung ge
fionden. Wir werben dies Verhältniß in feiner tiefiten Bedeutung
tennen lernen, wenn wir den großartigen Aufſchwung zu ſchildern
haben, den bie germaniſche Philologie in neuerer Zeit genommen
det. Aber fhon in ihren Anfängen wachen beide Wiſſenſchaften
gemeinfam empor. Wenn es aud nicht an einzelnen vorangehen⸗
den Berſuchen fehlt; fo war doc der eigentliche Gründer der neue
ven Linguiftit Conrad Geßner, jener reich begabte Gelehrte, den
die verfchiedenften Gebiete der Wiſſenſchaft als Bahnbrecher ver»
ehren. Conrad Geßner, oder, wie er fih in feinen Iateinifchen
Werlen fchreibt, Gesnerus wurde geboren zu’ Zürich den 26. März
1516. Sein Bater, ein unbemittelter Kürſchner, vermochte die zahle
reihe Familie kaum zu ernähren. So hatte der junge Geßner eine
ſehr Harte Jugend zu durchleben. Aber es wurde ihm ein guter
Haffifcher Schulunterricht zu Theil, und aud zur Beobachtung der
Natur legte der Aufenthalt des Knaben bei feinem Großoheim, dem
Caplan Frick, der ein Freund der Pflanzenkunde war, den erften
Grund. ALS fein Vater in dem Treffen am Zugerberge im Jahr
1531 gefallen war, wurde Geßner auf Empfehlung des Myconius
Famulus bei Capito in Straßburg, wo er ſich beſonders im He
bräifcden vervolffommmete. Entſcheidend aber wurde für feine Ent»
wilung, daß ihm ein Züriher Stipendium die Möglichkeit ver-
ſchaffte, feine Studien im Jahr 1533 in Bourges, 1534 in Paris
fortzufegen. In den reichen VBibliothelen von Paris legte er ben
Grund zu ber umfafjenden Kenntniß der alten und neuen Literatur,
die ihm dann bei allen feinen Unternehmungen zu Statten kam.
In Jahr 1585 übernahm er eine Schulftelle in feiner Vaterftabt
Züri, die ihn nöthigte, für ſehr geringe Beſoldung die Elemente
des Lateinischen und Griehiihen zu lehren. In demſelben Jahr
heiratete er ein armes Mädchen. Nichtsdeftoweniger trieb ihn feine
mermübliche Wißbegier im folgenden Jahr nah Baſel zu gehen,
88 Zweites Kapitel.
um dort Mebicin zu ftudieren. Klaſſiſche und naturwiſſenſchaftliche
Studien giengen aud hier bei ihm Hand in Hand. Im Septem-
ber 1537 erhielt er die Profeffur der griedifhen Sprache an der
neu errichteten Afabemie zu Laufanne. Zwei Stunden täglih er-
Märte er griechiſche Stlaffiter, für ihm eine Teichte Aufgabe, fo daß
er Zeit genug behielt für feine Titerarifhen Arbeiten und feine
Neigung zur Botanil. Nah einem breijährigen Aufenthalt in
Laufanne erhielt er dur Vermittlung feiner Freunde in Zürich ein
Stipendium zur Fortfegung feiner medicinifhen Studien. Er gieng
nad Montpellier und bereiherte dort feine anatomiſchen und bota⸗
nifgen Kenntniſſe. Nachdem er im Jahr 1541 zu Baſel Doctor
der Medicin geworben mar, kehrte er in feine Baterftabt Zürich
zurüd, wo er dann bald eine Profefjur der Phyſik und Naturge-
ſchichte erhielt. Seine Lage blieb aber fortwährend eine äußerft bürf-
tige. Denn aud) feine Ernennung zum erften Stadtarzte brachte ihm
nur zwanzig Gulden Zulage. Erſt nad; Iangjäßrigem Warten und
wiederholten Bittſchriften erhielt er auf Betrieb feines Freundes, bes
Theologen Bullinger im Jahr 1558 ein anftändiges Austommen.
Aber feine Gefundheit war dur die lange drüdende Dürftigteit bei
tiefenmäßigen’ Arbeiten gebrochen. Doc weber durch die Gicht
ſchmerzen, gegen welche die warmen Bäder in Baden im Yargan
nur vorübergehend Linderung gewährten, noch durch die Abnahme
feiner Körperfräfte ließ fi Geßner an der unermüdlichen Fort⸗
fegung feiner wiffenfhaftlihen Arbeiten hindern. Bei ber ver-
heerenden Pet, die im Jahr 1564 und 65 Zürich Heimfuchte, bot
ex mit größter Aufopferung, wo er e3 vermochte, ärztliche Hülfe;
aber nachdem er jo Manchem das Leben gerettet, wurbe er ſelbſt am
18. December 1565 von der ſchredlichen Krankheit hingerafft.
Die wiſſenſchaftliche Thätigkeit Conrad Geßner's ift wahrhaft
Staunen erregend. Durch fein großes Wert über die Thiere wird
er ber Begründer ber neueren Zoologie, durch feine botanifchen
Forſchungen ein Mitbegründer der neueren Botanik; und berjelbe
Mann verfaßt ein gelehrtes griechiſch⸗lateiniſches Wörterbuch, gibt
den Stobaeus in fehr verbefjertem Tert und mit einem Commentar
heraus, ber von feiner umfafienden Kenntniß der Griechen zeugt,
Die Anfänge der deutſchen Altertfumsforigung im Reformationggeitalter. 39
ſchreibt außerdem auf alle den genannten Eebieten und auf bem
der Mebicin eine Unzahl tüchtiger Schriften und wird durch feine
im J. 1545 erſchienene Bibliotheca universalis ber Gründer ber
neueren Literaturwiſſenſchaft.
Aus diefem Zuſammenwirken der verfdiebenften wiſſenſchaft⸗
lichen Thätigleiten entſprang aud bie Richtung in Geßner's Stu⸗
dien, mit ber wir es hier zu thun haben. Wenn wir fein großes
Thierwerk durchblättern, fehen wir feine ſprachvergleichenden Be-
ſtrebungen gleihfam vor umfern Augen entftehen. Er beginnt bie
Beihreibung jedes Thieres mit der Aufzählung der Namen, die
& in ben verfdiebenen ihm irgend erreichbaren Sprachen hat,
und fließt fie mit etymologiſchen, literariſchen und culturgefchicht-
fihen Bemerkungen über die Beziehungen des gefchilderten Thieres.
Schon diefer Anfhluß der mannigfachften ſprachlichen Bezeichnungen
an die beobachteten Gegenſtünde feloft mußte dem Trieb der Sprad-
vergleihung Nahrung geben. Aber es war noch eine andere Seite,
welde der vergleichenden Sprachforihung den Boden bereitete, näm⸗
fi das Stubium der Bibel und ihre Uebertragung in bie verſchie⸗
denften Sprachen ber Völfer. Berband fi mit dem Allen bie
laffiſch⸗ philologiſche Gründlichleit und das univerſelle literariſche
Intereſſe, die Geßner auszeichnen, ſo waren die Bedingungen gege⸗
ben zur Eutſtehung der vergleichenden Sprachforſchung.
Die Schrift, in welcher Geßner ſeine linguiſtiſchen Forſchungen
niederlegte, führt den Titel: Mithridates. De differentiis lin-
guarum tum veterum tum quae hodie apud diversas natio-
nes in toto orbe terrarum in usu sunt, Conradi Gesneri Ti-
gurini observationes. Anno MDLV. Tiguri excudebat Fro-
schoverus. In der Widmung des Buches an den Engländer
Johannes Balaeus fagt Geßner: „ES gibt in der That eine
große Mannigfaltigkeit der Sprachen und Mundarten, [durch welche
die Menſchen bie Gedanken des Geiftes unter einander ausſprechen
und fih barüber verftändigen. Es ſcheint aber nicht ſowohl eine
Sache der Neugierde, als der wiffenfdaftlihen Bildung zu fein,
daß wir einfehen, melde Sprachen mehr ober weniger unter ein.
ander verwandt, welche gänzlich; verſchieden find. Denn da allein
40 Zweites Kapitel
- der Menſch unter den Thieren fowohl mit Vernunft, als mit
Sprade begabt ift, fo gehört es nad) meiner Weberzeugung zu den
Studien eines gebildeten und philofophifhen Geiftes, die Verſchie-
benheiten der Rede und ber Sprachen zu Iennen. Ich veröffent-
lie deshalb das, was ih auf diefem Gebiet, wie es eben gehen
wollte, beobachtet habe, nicht als etwas Vollendetes und nad Ge—
bühr Ausgearbeitetes, fondern jo viel ich eben gegenwärtig zu lei⸗
ften vermochte, nur wie ein Merkzeihen, wodurch angeregt und
vielleicht auch gefördert Andere nah mir Alles fleißiger und voll-
kommener behandeln mögen.“ In der Abhandlung felbft gibt
Geßner erſt feine allgemeinen Bemerkungen über die Verſchieden—
heiten der Spraden. Er knüpft daran an, wie feine Zeit mit dem
Studium der drei Sprachen: des Griechiſchen, des Lateiniſchen und
des Hebräifchen, das Evangelium habe erwachen jehen, und wie das
Evangelium dur Bücher und Predigt auch unter bie übrigen Völ-
ter verbreitet werde. Darauf ftellt cr die Nachrichten der Alten
über die Zahl und Verfdiedenheit der Spraden zufammen. Die
hebräiſche Sprache ift nad} feiner eigenen Anſicht die erfte und ältefte
von allen und die einzige reine und unvermiſchte. Nach einigen zum
Theil treffenden, zum Theil natürlich noch ſehr unvolllommenen Bemer-
Tungen über die Mifhung der Sprachen, den Urjprung der Wörter u.
ſ. w. geht er dann zu einer alphabetiihen Aufzählung der Sprachen
über, indem er unter jeder das einträgt, was ihm darüber befannt
geworden. Man findet hier nicht Weniges, was man in einem
Wert aus der Mitte des 16. Jahrhunderts kaum erwartet, und
freut fi der raftlofen, überallhin gerichteten Beobachtung des un-
ermüdlichen Gelehrten., Andererjeits geben uns die Anfihten des
größten Linguiften feiner Zeit einen Maßſtab dafür an bie Hand,
welche großartigen Fortſchritte die Sprachforſchung in den Tolgen-
den brei Jahrhunderten gemacht hat. Ich will in dieſer Beziehung
zu bem, was oben über die hebräifhe Sprache ausgehoben worden
ift, nur nod das Eine Hinzufügen, daß Geßner die Spraden fo
eintheilt, baß auf der einen Seite das Griechiſche und Lateinifche,
auf ber anderen die barbariihen Sprachen ftehen. Doch will er
aud das Hebräifhe von den barbarifhen Sprachen ausnchmen,
Tie Anfänge ber deutſchen Altertpumsforfhung im Reformationszeitafter. 41
weil dasſelbe einerſeits bie ältefte und wie die Mutter ber anderen,
andrerſeits die heilige und göttliche Sprache feit). Die übrigen
Sprachen aber ſcheidet er wieber in folde, die ganz und gar barba-
ic find, daS Heißt, mit der griechiſchen und Kateinifhen gar nichts
gemein haben, wie unfere deutſche; und in fehlerhafte (soloecae),
wie dem Latein gegenüber das Stalienifhe, Spanifhe und Fran:
zoſiſche 2). Doch entgehen ihm andererjeits die vielfahen Berüh—
zungen der deutſchen und ber griechiſchen Sprache nicht, und mit
Lerufung auf Dalberg 3), Aventin *), Andreas Althamer®) und
Sigismund Gelenius 6) weift er auf die vielen dem Griechifchen
und Deutſchen gemeinfamen Wörter hin 7).
Was uns hier vor allem angeht, find Geßner's Anfichten über
die germanifhen Spraden. Er hat fie in mehreren befonbers
eingehenden Abſchnitten feines Mithridates niedergelegt und dann
iräterhin noch ergänzt in der Borrede, bie er zu Joſua Maaler's
im Jahr 1561 eridienenen Dictionarium Germanicolatinum
iärieb. Da Geßner in bedeutendem Umfang kannte, was feine
Torgänger über ben Gegenftand gefchrieben hatten, auch ſelbſt mit
Vorliebe gerade die germaniſchen Spraden behandelte, fo bietet er
ms ein Bild von dem Zuftand der damaligen Kenntniffe: einer-
jäts, wie weit fie bereits gelangt, und andrerſeits, wie weit fie
noch zurüd waren. Suchen wir nach beiden Seiten eine richtige
Lorftellung zu gewinnen. Bor allem berührt uns wohltuend ber
1) Mithridates Bf. 3. — 2) Pandectarum sive partitionum uni-
versalium Conradi Gesneri — libri XXI, Tiguri 1548, Bl. 34. —
3) Ueber Johannes Dalberg's Zuſammenſiellung griedifder und beutfher
Bter ſ. Trithemius' Polygraph, 1518, 1. VI, 81.4. — 4) [. 0. 6.22, —
5) Andreas Althamer, Scholia zur Germania des Tacitus bei Schard I
11574) p. 64 sg. — 6) Sigismund Gelenius in feinem Lexicon sym-
phonum quo quatuor linguarum Europae familiarium, Graecae scili-
t, Latinse, Germanicae ac Sclauinicae concordia consonantiaque
indiestur, Basilene 1537, fielt viele Wörter jener Sprachen zufammen,
dog mir nach ſcheinbarem Gleichtlang, und ohne zwiſchen Urverwandtem und
Eutlehntem zu unterjheiden. — 7) Mithridates Bl. 84 b.
42 Zweites Kapitel.
warme Gifer, mit dem Gefner feinen Gegenftand behandelt 1). Er
Tennt fo ziemlih die Ausbreitung ber damaligen germanifchen
Spraden. Außer dem Deutihen in feinen verſchiedenen Mund-
arten gibt er vom Flandriſchen und Friefiihen Beſcheid 2. Er
weiß, daß die ffanbinavifhen Spraden dem Deutſchen nahe ver-
wandt find; unter dem Artifel De lingus Germanica theilt er im
Mithridates auch in isländifher Sprache das Vaterunfer mit 3).
Syn der Vorrede zum Maaler fügt er es dann aud in ſchwediſcher
Sprade Hinzu, umb bemerkt dabei, das Isländiſche, Normegifche,
Gothiſche, Schwediſche und Däniſche feien unter fih ähnlich und
ftünden dem Sächſiſchen nicht allzufern ). Das Engliſche kennt er
als eine Miſchſprache, aber mit weit überwiegender germanifcher
Grundlage. Er hat gehört, daß noch vor wenig Jahren weit we-
niger franzöfifhe und Iateinifhe Wörter im Engliſchen gewefen
feien, an denen es jetzt jo überreih fei. Denn in ber Unterhal-
tung haſchten viele danach und in ihren Schriften mifchten fie die⸗
felden ein als Blumen und Schminke (veluti flosculos ac pig-
menta), fo daß das Volk ohne Weberfegung fie nicht verftehen
könne. Der größte Theil jedoch ſei jegt noch ſächſiſch. Bücher
aber, die vor zwei oder dreihundert Jahren in England geſchrieben
ſeien, gehörten faſt ganz der ſächſiſchen Sprache an 5). Innerhalb
der deutſchen Sprache geht Geßner den einzelnen Mundarten nach.
Er verzeichnet bie ihm bekannten Unterſchiede zwiſchen der ſchwei⸗
zeriſchen und ſchwäbiſchen Mundart, wie fie namentli in der Ver⸗
tretung des ſchweizeriſchen f buch ei, des A durch au und in fo
manden anderen Punkten fih zeigen 6). Aus Fabian Frand 7)
theilt er eine Reihe von Eigenthümlicfeiten anderer deutſcher Mund⸗
arten mit 3). Unter den deuten Mundarten, fagt er, meinen
Einige, fei die, deren ſich die Oberbeutfhen (superiores Germani)
1) Gehner's Vorr. zu Maaler's Dietionarium. Vgl, u. das 5. Kapitel
unferes Buche. — 2) Mithridates BI. 39. — 3) Mithridates BI. 40. —
4) — „similes inter se sunt aque Saxonica non alienae.“ Praef.
zum Maaler Bl. 4 rw. — 5) Mithridates BL. 8 mw. — 6) Mithrid.
1.38. — 7) S. u. — 8) Mithrid. Bl. 40 fg.
Tie Anfänge ber deutſchen Altertfumsforfhung im Reformationggeitalter. 48
bedienen, die befte umd vorzüglicfte umd am wenigften verborben.
Manche ertheilen der Leipziger Gegend (mo and; Luther feine Bü-
der geſchrieben Habe) bie erfte Stelle in Bezug auf Feinheit der
Sprache; Andere Halten vielmehr die Sprade ber Augsburger,
noch Andere die ber Basler in ben meiften Stüden für richtig !).
Die Sprache der Schweizer, das ift, wie Geßner fagt, die des
oberen Deutſchlands, bezeichnet er als gleichſam die deutſche Ge
meinſprache (communis Germanica lingua) ?). Auch über bie
deutſche Verskunſt gibt Geßner anziehende Bemerkungen. Diele
ſchrieben gereimte Verſe; Gedichte aber, in denen bie Quantität
ter Sylben Beobachtet werde, Niemand. Er felbit habe ſich einft,
wenn auch mit wenig. Glüd, in deutſchen Herametern verfucht. Und
darauf theilt er einige merkwürdige Proben bavon mit ®). Gefner
beihräntt fich endlich nicht auf die germaniſchen Spraden der Ger
genwart, er läßt fi auch auf das Altveutihe ein. Im Mithri-
dates theilt er eine althochdeutſche Ueberfegung des Vaterunſer und
des apoftoliichen Symbolums mit und fügt hinzu, er höre, daß
aud) der Pjalter in ähnlicher Weife überfegt im Kloſter des heili⸗
gen Gallus vorhanden fei‘) In der Vorrede zum Maaler führt
er eine Strophe aus Otfrid's Evangelienbuh an) und verbindet
damit die Bemerkung: „Vor hırzem hat der berühmte Augsbur-
ger Arzt Achilles P. Gafferus verfproden, er werde die Evangelien
dieſes Otfrid, ſo wie ſie von ihm übertragen worden ſind, von
feiner Hand ſorgfältig abgeſchrieben mir zur Herausgabe ſchicken.“
Das iſt dann auch geſchehen. Geßner wählte ſich eine Probe für
die zweite Ausgabe ſeines Mithridates aus, doch dieſe Ausgabe
lam nicht zu Stande. Einen Verleger für den Otfrid konnte Geß⸗
i) Praef. zu Maaler Bl. 4 ıw. — 2) Ebend. Daß Geßner an
lieſet Etelle unter nostra lingus bie der Schweiger mit ihren i (= ei)
md d (= am) verfleht, ergibt ſich aus dem Mithrid. Bl. 37 mitgeteilten
Saterunfer „in lingua Germanics communi, uel Heluetica.“ — 8) Mi-
thrid. 81. 36 rw. — 4) Sowohl biefe Nachricht, als die von Geßner
nitgetheilten althochdeutſchen Stüde ſtammen von Joachim Badianus. ©. o.
6.30. — 5) Praef. zu Maaler's Dietionarium BI. 6b.
44 „Zweites Kapitel.
ner dem Gaffar nicht verihaffen‘), und fo erſchien der Otfrid erft
ſechs Jahr nad; Geßners Tod, durch die gemeinfamen Bemühungen
des Gaſſar und des Flacius Illyricus. Auch auf die Grund-
lagen zu einer deutſchen Literaturgefchichte richtete Gefner fein Augen⸗
merf. Am Schluß ber Vorrede zum Maaler ſpricht er den Wunfch
aus, daß ein ähnliches Werk, wie er ſelbſt es in feiner Bibliotheca
universalis für die griechiſche, lateiniſche und hebräiſche Literatur
geliefert Hatte, über das Deutſche erfcheinen möchte, und erbietet fich,
dem, der ein foldes unternehmen wolle, feine nit geringen
Sammlungen über die deutſchen Bücher bereitwillig zu überlaffen.
Wir fehen aus alle dem, wie der fleißige und univerfelle Ge-
lehrte nach den verſchiedenſten Seiten hin die. richtigen Wege betritt.
Zu fehr Vielem, was in der fpäteren Entwidlung der Wiffenfhaft
zur Entfaltung Tam, erbliden wir die Keime ſchon bei Geßner.
Wollte man aber aus diefen Andeutungen den Schluß ziehen, Daß
Geßner bereit? den Entdedungen und Erwerbungen nahe geweſen
fei, die uns die Geſchichte der germaniſchen Philologie in den fol-
genden brei Jahrhunderten vorführen wird, fo würde man ſich jehr
täufcen. Aus dem Gefihtspunkt, den wir jegt einnehmen, erſchei⸗
nen uns vielmehr Geßner's Beftrebungen, fo ehrenwerth fie für
ihre Zeit find, nur als die erften ſchwachen Anfänge. Gleich die
genauere Betrachtung der von Geßner mitgetheilten kurzen Sprach⸗
proben zeigt uns, daß er von dem Bau und Wejen ber älteren,
fo wie der ihm ferner liegenden gleichzeitigen germaniſchen Spra-
Gen Feine Ahnung hatte 2). Dasfelbe tritt uns entgegen, wenn
wir die Etgmologieen, die er entweder felbft macht oder von Anderen
ohne Mißbilligung entlehnt, in's Auge faffen. So meint er z. B.
ber Göttername Aleis bei Tacitus (Germ. 43) fei nichts Anderes
als das ſchwäbiſche Halgen, id est sancti. Denn die Afpira-
tion werde von ben Lateinern oft weggelaffen, und bie Eonfonanten
1) ©. die Ausüge aus den Epistol. medieinal. Conradi Geaneri in
Kelle's Ausgabe bes Difrid I, S. 100 fg. — 2) Bol. z. B. bie Strophe,
die er aus Otfrid aufügrt, fo wie bie übrigen in Geßuer's Mithridates mit:
geteilten Sprachproben.
Die Anfänge der deutſchen AltertGumsforihung im Neformationszeitalter. 45
e und g feien mit einander verwandt‘). In Bezug auf die Alteften
germaniſchen Völlerverhältniſſe ſteht Geßner's Wiſſen, wie das fei-
ner mitforſchenden humaniſtiſchen Zeitgenoſſen, weit über Allem,
was man ein Jahrhundert früher davon kannte. Denn Cäſar,
Tacitus, Ammianus Marcellinus u. |. w.?) ftehen ihm zu Gebote,
md er fußte auf den Forſchungen feiner unmitteldaren Vorgänger,
namentlih bes Beatus Nhenanus und des Aventinus 3). Aber
von einer kritiſchen Sichtung der Quellen, wie fie ung jegt zur
zweiten Natur gehört, ift auch bei Geßner noch wenig bie Rede.
Die Fabeleien des untergeihobenen Beroſus führt er ganz arge
los ala Hiftorifge Duelle an). Den Hunibald, dag Machwerk
des Trithemius, ftellt er neben Gregor von Tours für die Ge
ſchichte der Franken). Das Angeführte, das ſich durch fehr viele
ähnliche Züge erweitern ließe, wird hinreichen, um fi von Geh-
ners wirflihen Wiſſen eine richtige Vorftellung zu maden. Zum
Schluß will ich noch einen Gegenftand berühren, der uns in die
erften Anfänge eines der wichtigften Zweige der germanifchen Phi
Iofogie einen vorläufigen Blid thun läßt. Mit befonderem Eifer
geht Geßner in feinem Mithridates den Spuren der alten Gothen
nach. Die Eigennamen ihrer Fürften bezeugen ihm ihre germani-
ide Sprache. Aus Syatob Ziegler ©) und Joſaphat Barbarus 7)
jucht er das Fortleben der Gothen am Schwarzen Meer zu ermeifen.
Rod aber weiß er (1555) nichts davon, daf fi Reſte jener ural-
ten Sprache handſchriftlich erhalten Haben. Doc; während er im letzten
dahrzehend feines Lebens für eine zweite erweiterte Ausgabe des
Mitgridates fortfammelt, erhält er (um 1563) von Johann Wilr
helm Meyffenftein, der fi damals unweit Stolberg aufhielt und
von Georg Caffander aus Köln einige Proben der alten gothiſchen
Eprae ſelbſt 2). Er würde fie ebenfo, wie den Otfrid, ben ihm
1) Mithrid. 31. 35. — 2) 2gl. Mithrid. 91. 32, — 3) Mithrid.
%.3;32. — 4) Mithrid. Bl. 81 m; Bl. 34, ww. — 5) S. u.
Gehnexs Pandectae (1548) Bl. 135b. — 6) Mithrid. Bf, 27 b. —
7) Ebend. 1.43. — 8) ©. Geßner's Brief an Gaffar vom 22. April 1563
is Epistolaram medicinalium Conradi Gesneri — libri II, Tiguri
1877, BL 28.
46 . Zweites Kapitel.
fein gelehrter Freund Gaffar in Augsburg mittheilte, für die zweite
Ausgabe feines Mithridates benügt haben '). Uber bevor diefe zu
Stande lam, ereilte ihn ber Tod.
Die deutſchen Inriken nad die germanifche Philologie.
Die Rehtsverftändigen ftehen in einer zwiefachen Beziehung
zur Gründung und Fortbildung der germanischen Philologie. Er-
ftens haben fie einen weſentlichen Antheil an der Feſtſetzung ber
deutſchen Schriftiprage; und zweitens werden fie durh das Stu-
dium ber altdeutſchen Rechtsquellen auch auf die Erforfhung der alt-
deutſchen Sprache und Literatur geführt. Die erftere Seite werden
wir fpäter noch berühren. Was aber die zweite betrifft, fo werden wir
in der Folgezeit das Feld der altdeutſchen Philologie mit Vorliebe
von Juriſten angebaut finden. In biefer Periode aber, im Zeit
alter der Neformation, begegnen wir nur den erften ſchwachen An-
füngen diefer Beftrebungen. Wir müſſen uns nämlich erinnern,
daß wir es Bier nicht mit ber Rechtsgelehrſamkeit als folder zu
thun haben, fondern nur mit der Erforſchung der altveutfchen
Sprache und Literatur, infofern diefelbe von Seite der Rechtsge⸗
lehrſamtkeit gefördert wurde. Hier find es vorzüglid zwei Gebiete,
welche die Rechtsgelehrſamleit mit der Sprachforſchung in Verbin-
dung fegen, nämlich erftens die alten germaniſchen Vollksrechte, die
fogenannten leges barbarorum, und zweitens die Rechtsbücher aus
den fpäteren Jahrhunderten des Mittelalters. Was num zuerft dieſe
legteren betrifft, fo werden fie im Lauf des 15. und 16. Jahrhunderts
in zahlreihen Ausgaben durch den Drud veröffentlicht. Aber diefe
Veröffentlijungen haben damals noch mit der deutſchen Philologie
wenig zu thun. Sie haben nicht den Zweck, die alten Rechtsbücher
als Denkmäler einer vergangenen Zeit zu erforfhen, fondern fie
ſollen dem praktiſchen Bedürfniß dienen, infofern jene Rechtsbücher
noch als lebendes Recht galten 2). So widtig deshalb diefe Ber
1) Gbend. — 2) Des Sachsenspiegels erster Theil, her. von Ho-
meyer (3) 1861, 8. 73.
Die Anfänge ber deutſchen Alterthumeforſchung im Reformationgzeitalter. 47
firefungen für bie deutſche Rechtsgeſchichte find, fo fern liegen fie
der deutſchen Philologie. Anders verhält es fi mit ben altger”
naniſchen Volksrechten. Zu dieſen führt ein geſchichtlich wiſſen⸗
ſcaftliches Streben, und es iſt aller Ehren werth, daß trotz der
überwältigenden Herrſchaft, bie damals das römiſche Recht über bie
juriſtiſchen Köpfe ausübte, doch einzelne Gelehrte fih auch jenen
Reſten des alten deutſchen Rechts zumandten. So Johannes
Sichard, geboren 1499 zu Biſchofsheim an ber Tauber, 1525
Brofeffor der Rhetorik in Bafel, 1530 in Freiburg Schüler des
Uri Zaſius im römiſchen Recht, 1585 bis zu feinem Tode 1652
Profefor des Eober in Tübingen '). Im Jahr 1530 veröffent-
lichte Sichard zu Bajel zum erften Mal die Leges Ribuariorum,
Bejuvariorum und Alamannorum. Ihm folgte Johannes
Herold. Geboren zu Höchſtädt an der Donau 1511, ftndierte er
zu Baſel Theologie und Geſchichte, erhielt eine Landpfarrei im Ba-
feler Gebiet, z0g aber 1546 wieber nach Bafel, um ſich ganz lite—
rariſchen Arbeiten zu widmen. Er lebte no im J. 1566 9). Im
dahr 1557 gab er zu Bafel eine Sammlung der germaniſchen Volls⸗
tehte heraus, die außer den von Sichard veröffentlichten auch nod die
meiften übrigen in lateiniſcher Sprache aufgezeichneten enthielt. Diefe
Ausgaben der Vollsrechte waren no fehr unvolitommen ®), und
eft der Verſuch, die in ihnen enthaltenen auch ſprachlich germani-
fden Elemente zu erläutern *), wurde bann fpäter der Anlaß zu
altgermaniſchen Sprachſtudien. Aber doch war es von nidt gerin«
* ger Wichtigkeit, daß vorläufig nur irgend ein Text diefer unfhäg-
1) Melchior Adam., Vitae Germanorum jureconsultorum (3) 1706,
4. Gtinging, Urih Zafius, 1857, S. 286. 0. Stobbe, Geschichte
der dentschen Rechtsquellen I, 1860, 8. 8. II, 1864, 8.42. —
9) Bayle, Dictionnaire hist. et critique s. n. Eſcher in Etſch's und
Grubers Algen. Encyflop., Zweite Section, Thl.6 (1829) ©. 404406. —
3) BL Johannes Merkel's Einleitung zur, Lex Alamannorum in feiner
Ausgabe derjelben bei Pertz, Monum., Leges, Tom. III, p. 28, 1. 29, 5.
4) Die von Herold verſprochenen Erläuterungen find nicht erſchienen (Merkel
LLP , 2.)
48 Zweites Kapitel.
baren Reſte bes altgermanifchen Lebens den Forſchern in die Hand
gegeben war. Wenn wir Sohannes Herold nicht feines Standes,
fondern nur der eben befprocdhenen Arbeit wegen in biefem Abſchnitt
erwähnen, jo können wir ſchließlich noch eines Juriften von Beruf
gebenfen, der uns zeigt, welchen Antheil die Rechtsgelehrten auch
ſchon in unferer Periode an der Erforſchung der germanifchen
Spraden nahmen. Wolfgang Hunger, geb. zu Waflerburg
um 1511, Brofeffor des römiſchen Rechts an der Univerfität Ingol⸗
ftadt, geft. 1555 zu Augsburg als Kanzler des Biſchofs von Frei—
fing ) fehrieb gegen den Franzofen Bovillus eine Linguae Ger-
manicae vindicatio, worin er einen Theil der franzöſiſchen Wör⸗
ter aus dem Deutſchen abzuleiten fuchte. Herausgegeben wurde
dies Buch erft im Jahr 1586 zu Straßburg durch den Sohn bes
Verfaffers.
Drittes Kapitel.
Die Thätigkeit auf bem Gebiete ber älteren germaniſchen Sprachen
dom Ausgang des 16ten Jahrhunderts bis zum 3. 1665.
Schon bei den erften Anfängen ber germanifgen Philologie
haben wir neben den Humaniften und Theologen bie Juriften be-
theiligt gejehen. Dieſer Antheil der Juriften an ber Förderung der
altgermaniſchen Studien wächſt in der nächſtfolgenden Zeit in ſolchem
Maß, daß vorzugsweiſe Juriften als Vertreter diefer Studien zu
nennen find: Männer, wie Friedrich Lindenbrog, Marquard Freher
und Melchior Goldaft; und aud der bebeutendfte beutihe Gram⸗
matifer bes 17ten Jahrhunderts, Juſtus Schottelius, war feinem
Lebensberuf nach Yurift. Es ift diefelbe Zeit, in welder das Stu-
1) Jo. Nep. Mederer, Annales Ingolstadiensie academiae; P. I,
Ingolstadii 1782, p. 175. 208. 211.
Die ält. germ. Sprachen von Ausg. bes 16. Ihs. bis 1665. 49
dium des deutſchen Rechts in Verbindung mit dem der deutſchen
Geſchichte und des deutſchen Altertfums duch Hermann Conring
(geb. 1606 zu Norden in Djtfriesland, 1632 Profeffor an der
Univerfität Helmſtädt, geftorben 1681) einen fo bedeutenden Auf-
ichwung nahm ).
Friedrich Lindenbrog wurde im J. 1573 zu Hamburg
geboren. Sein Bater Erpold Lindenbrog lebte dort als Taiferlicher
Notar und hat fi durch mannigfache Schriften über die ältere
deutſche Geſchichte, beſonders aber durch feine Ausgabe des Adam
von Bremen befannt gemadt. Der Sohn bezog um das J. 1594
die Univerfität Leiden und wibmete ſich dort neben ber Rechtswiſſen⸗
ſchaft philologiſchen und BHiftorifhen Studien. Unter feinen Leh-
ven werden auch Bonaventura Vulcanius und Paulus Merula
genannt, die wir als die Mitgründer der germaniſchen Philologie
in den Niederlanden werben kennen lernen. Er durchreiſte hierauf
England, Frankreich und Italien und kehrte dann in feine Bater-
ftabt Hamburg zurüd, wo er im J. 1648 als ein angejehener
Rechtsgelehrter geftorben ift. Friedrich Lindenbrog verband auch
als Schriftſteller die antik klaſſiſche Gelehrſamleit mit ben altger-
maniſchen Studien. Er gab den Statius und den Terenz heraus -
und ftand mit den Koryphäen der klaſſiſchen Philologie, mit Jo⸗
ſeph Scaliger und Iſaak Cafaubonus, in vegem Verkehr. Seine
vorzüglichfte Thätigleit aber wendet er den Quellen ber älteren
deutſchen Geſchichte zu. Er gibt den Ammianus Marcellinus, den
Jornandes, Paul Warnefridi und Anderes Heraus. Sein Haupt
wert aber ift der im J. 1613 erſchienene Codex legum antiqua-
rum, eine neue Recenſion der lateiniſch gefchriebenen germaniſchen
Vollsrechte, welder Lindenbrog ein Gloffarium zur Erläuterung der
dunlleren Wörter beifägte. Diefe Arbeiten führten ihn immer mehr
dem Studium ber älteren germanifhen Sprachen zu, und im
1) Gomeing’s Leben vor Hermanni Conringii epistolarum syntag-
mata duo, Helmstadii 1694. Sein Hauptwerf de origine juris Germa-
niei erffeint 1649. Ueber Conring's epochemachende SWebeutung fiehe
0.8tobbe's Geschichte der deutschen Rechtsquellen II ge 8.418 fg.
Reumer, Seid. ber germ. Philologie.
50 Drittes Kapitel.
%.1633 fand ihn Hugo Grotius mit der Ausarbeitung eines Lexikons
der altdeutſchen Sprache beihäftigt 1). Lindenbrog kam zwar mit
diefem Wert nicht zu Stande, aber ſchon ber Verſuch bazu blieb nicht
ohne Nachwirkung. Unter Lindenbrog's Sammlungen, die er mit ſei⸗
ner übrigen Bibliothek feiner Vaterſtadt Hamburg vermachte, fanden fich
neben mandem Anderen auch die althochdeutſchen Bloffen, die dann
im J. 1729 Chart veröffentlicht Hat 2). Won befonderer Bedeut⸗
ung aber war es, daß Linbenbrog auf feinen wieberholten Reifen nach
England mit den englifhen Gelehrten in Verbindung trat, bie ſich
die Erforihung des Angelfächfiihen zur Aufgabe gemacht hatten,
mit Heinrih Spelman und Wilfelm Camben. Unter Lindenbrog’s
nachgelaſſenen Papieren fand man Legum Anglicarum libri IV
a & Lindenbrogio latine versi ?).
In Deutſchland waren vorzüglih Marquard Freher und Mel-
chior Goldaft die Genoffen Friedrich Lindenbrog's in Erforſchung
des deutſchen Altertfums. Marquard Freher, der Sohn eines
angefehenen Rechtsgelehrten, wurde geboren zu Augsburg im J. 1565.
Er ftudierte zuerft in Altdorf, dann in Bourges die Rechte und
wurde am Iegterem Orte im 3. 1585 durch ben berühmten Cuja-
cius zum Licenciatus juris gemacht. Ex wurde darauf pfälziiher Rath
und 1596 zum Professor Codieis in Heidelberg befignier. Im
J. 1598 gab er diefe Stellung auf, indem er vom Churfürften
Friedrich IV. von der Pfalz zu wiätigen diplomatifhen Geſchäften
verwendet wurde. Er ftarb zu Heidelberg im J. 16144). Freher
warf ſich mit unermüdlichem Eifer auf die Erforſchung des deut⸗
1) ©. ben Brief des Hugo Grotius an Johannes Eorbefius vom 11. Apr,
1633 in Hugonis Grotüi epistol. Amstel. 1687, p. 112. — 2) Com-
mentarii de rebus Franciae orientalis II, 991 — 1002. — 3) Joann.
Molleri Cimbria literata, Tom. III, p. 423. Moller's Werk bin ich auch
in den obigen Angaben über Linbenbrog’s Leben gefolgt, ba fie einen zuver⸗
Häffigeren Gindrud machen, als die zum Theil abweichenden bes 1723 zu
Hamburg erfhienenen „Leben ber Berühmten Lindenbrogiorum.” —
4) Paul. Freher. Theatrum viroram eruditione clarorum, Noribergae
1688, p. 1002 sq.
Die Alt. germ. Sprachen vom Ausg. bes 16. 366. bis 1665, 51
ſchen Rechts und ber deutſchen Geſchichte und nimmt durch feine
Schriften auf beiden Gebieten eine geachtete Stellung ein. Dieſe
Arbeiten führten ihn auch auf das Studium der alten germaniſchen
Sprachdenkmaler, und einige der wichtigſten unter den kleineren
derjelben verdanken ihm ihre Herausgabe. So veröffentlichte er im
J. 1609 zuerft eine der älteften hochdeutſchen Meberfegungen des
Baterunfers und des apoſtoliſchen Glaubensbelenntniſſes aus der
Abſchrift eines St. Galler Codex 1); darauf im J. 1610 eine an-
gelſaͤchſiſche Ueberfegung bes Dekalogs, des Waterunfers und des
apoſtoliſchen Symbolums. Im J. 1611 gab er von neuem bie
Eide der Könige und der Völfer zu Straßburg vom J. 842 her-
aus, die zuerft P. Pithoeus in feiner Ausgabe des Nithard (1588)
veröffentlicht Hatte. In den Anmerkungen, die Freher diefen Mei-
nen Dentmälern Hinzufügt, zeigt ex ſich befannt mit den damals
fon veröffentlichten altdeutſchen Schriften, mit Otfeid 2), mit Not⸗
ler's Baterunfer und apoftolifgem Symbolum, wie es Stumpf,
Geßner und Vadian (bei Goldaft 1606) mittheilen 3). Er fennt
und fördert die wichtigen Veröffentlihungen Goldaſt's, mit denen
wir uns im Folgenden beihäftigen werben, und berüdjictigt das
gothiſche Vaterunfer bei Bonaventura Vulcanius (1597) und ar
nus Gruter (1602) 4). Ebenſo find ihm die angelſächſiſchen Ver:
öffentfihungen der Engländer nicht unbelannt 5). Aber Freher be⸗
ſchrãnkt ſich nit auf das Gebrudte. Er kennt auch die bamals
no ungedrudten Palmen Notler's 6) und benugt Kero's und
Anderer althochdeutſche Gloffen ). Die St. Galler Handiärift
von Notker’s Pſalmen befand ſich (1602) eine Zeit Yang durch
Schobinger's Vermittlung zu Heidelberg %), und Freher erzäplt
1) Handferift zu St. Gallen bei Müllenhoff und Scherer Nr. LVII.
2) Orationis dominicae et symboli apostolici Alamannica versio vetus-
tissima. Marg. Freheri notis exposita 1609 81. 3. 6. — 3) Ebend.
8.3. — 4) Ebend. Bl. 4. — 5) Cr führt Lambard's "Apyasorouie
(Lond. 1568) an in feiner Ausg. des agj. Decalogus u. |. w. 1610,
8.5. — 6) Ebend. BL. 7. — 7) Ebenb. Bl. 6. — 8) Viroram Cl.
ad Goldastum epistolae, Francof. 1688, p. 80.
4*
52 Drittes Kapitel.
felöft, daß er fie ganz durchgearbeitet habe, wünſcht aber zu wie-
derholtem Studium eine Abſchrift derſelben 1), — Freher wurde
in der Kraft feiner Jahre hingerafft. Er trug ſich mit einer
Menge von Planen. Er bereitete eine neue Ausgabe des William
und des Otfrid vor ?) und wollte ein Lexicon ober Etymologi-
cum Alamannicum ſchreiben ®).
Sehr verſchieden von Freher's ruhiger und georbneter Lebens⸗
bahn war die feines Freundes und Arbeitsgenoſſen Meldior
Goldaſt. Geboren im J. 1576 4) zu Biſchofzell unweit St. Gal-
Ien von veformierten Eltern erhielt Melchior Haiminsfeld
Goldaſt feine Zugendbildung in feiner Vaterftadt. Zum Jüng⸗
King Berangereift gieng er zuerft nad) Ingolſtadt, dann (1595) nach
Altdorf, um fi dem Studium des Rechts umd der Philologie und
Geſchichte zu widmen. An Fleiß und Eifer läßt er es nicht feh-
Ien, und bald zieht fein bedeutendes Talent bie Aufmerhamteit fei-
ner Lehrer und Genoffen auf fi. Aber drüdende Armuth verfolgt
ihn von Jugend an, und eine gewiſſe Unruhe feines Weſens treibt
ihn von einer Lebenslage in die andere, ohne ihn jemals ein
dauerndes Lebensglüd erreichen zu laſſen. Im J. 1598 in feine
Heimath zurüdgekehrt fand er in dem wohlhabenden Rechtsgelehrten
Bartholomäus Schobinger zu St. Gallen einen Freund
und freigebigen Gönner. Geboren zu St. Gallen im J. 1566 5)
I) Freher's Brief an Goldaft vom 10. Aug. 1605. Ebend. S. 121. —
2) Die 1681 in Worms erſchienene Ausgabe bes Wilitam (Goedeke,
Grundriez zur Geach. der deutschen Dichtung I. (1859) 8. 13) unb
Freher's Emendationes et annotationes zum Oifrid, Worms 1639 (Otfr.
v. Kelle I. Einl. S. 104) kenne ich nur ans zweiter Hand. Ich habe bieje
Bücher auf einer Anzahl ber berühmteften deutſchen Bibliotheken vergeblich ges
fügt. — 3) Melch. Adam., Vitae Germanorum Jureconsultorum
(8) 1706, p. 221. — 4) Ober 1578. ©. Henr. Christian. Sencken-
berg, Melchioris Goldasti memoria, Francof. 1730 (vor Sendenberg’s
Ausg. von Goldaft’s Rer. Alam, scriptores) p. 2. — 5) ©. die Angabe
Marcus Welſer's in feinem Brief an Goldaft vom 8. Sept. 1604 in den
Virorum Cll, ad Goldastum epistolae 1688, p. 119. Ueber Schobinger
und feine Familie vgl. auh H. I. Leu, Allgem. Scähweigerifhes Lericon,
ZH. XVI, Züri 1760, ©. 425 fg.
Die alt. germ. Sprachen vom Ausg. des 16. Ihs. bis 1665. 58
teilte Schobinger Goldaſt's Eifer für die Erforſchung des deut⸗
fen Alterthums, aber fon im J. 1604 wurde er ihm durch den
Tod entriifen ). Bon Schobinger unterftägt hielt ſich Goldaft
eine Zeit Yang in Bern, Genf und Laufanne auf, gieng dann im Ge-
folge des Herzogs von Bouillon nad) Heidelberg und Frankfurt, wurde
(1604) Hofmeifter eines Barons von Hohenfar zu Hohenfar und
dorſteck hielt fi dann wieder abwechſelnd in Züri, Biſchofzell und
St. Gallen auf, bis er im J. 1606 nad Frankfurt üderfiebelte,
wo er ſich durch Herausgeben und Corrigieren von Büchern nährte.
Bir Eönnen hier Goldaft nicht in allen feinen Verſuchen, eine fefte
Stellung zu gewinnen, verfolgen. Im J. 1611 wurde er an den
Weimar'ſchen Hof berufen, 1615 gieng er als Rath des Grafen
von Schaumburg nah Büdehurg, 1625 kehrte er wieder nad
Frankfurt zurüd. Da er aber die Ueberführung feiner Bibliothek
von Büdeburg nad Frankfurt in den damaligen kriegeriſchen Zeite
lauften nicht für ſicher hielt, fo übergab er fie der Stadt Bremen
zur Aufbewahrung. Im J. 1627 wurde er zum Rath des Kai—
fers und bes Ehurfürften von Trier ernannt. Zuletzt trat er im
die Dienfte des Landgrafen von Heſſen-Darmſtadt. Bon feinem
neuen Herrn nad; Gießen berufen ift er im Anfang des Jahrs
- 1685 dafelft geftorben?). Man muß fi das unruhige und wechſel⸗
volle Leben Goldaſt's gegenwärtig halten, um feine bedeutenden
wiffenfchaftlichen Verdienfte richtig zu würdigen. Während eines von
Armuth und mannigfacher Drangfal erfüllten Lebens ift er uner-
mũdlich thätig in Veröffentlihung von Quellen der deutſchen Ge-
ſchichte und des deutſchen Rechts und in Abfaffung juriſtiſcher und
hiſtoriſcher Schriften. Aber freilich Hat er feinen Ruf als Samm-
ler und Herausgeber dadurch befledt, daß er ſich nicht ſcheut, Ger
ſete u. ſ. f. zu erbichten und feine Fälſchungen unter die echten
Denkmale einzuſchmuggeln 3). Auf dem Gebiet der altdeutſchen
D) Virorum CL ad Goldastum epist. p. 114. — 2) Die obigen
Angaben über Goldaſt's Leben find entnommen aus Sendenberg's Goldasti
memoria 1730. Vgl. auch ben Artikel Goldast bei Bayle. — 3) Bgl.
Hamann Conring's, der fonft Goldaf’s Verdienſte wohl zu würbigen weiß,
ſqatſes Urteil in feiner Schtift De origine juris Germanici, 1695, p. 27 2q.
[71 ' Drittes Kapitel.
Sprache ımb Literatur Tommt dieſe üble Seite Golbaft’3 weniger
in Betracht, und wir dürfen hier feine Verdienſte um fo höher an⸗
(lagen. Goldaft Kat in mehreren feiner Werke zu Erweiterung
unferer Kenntniß der altdeutſchen Sprache und Literatur weſentlich
beigetragen. In feinen Alamannicarum rerum scriptores ali-
quot vestuti, Francofarti 1606, veröffentlicht er zum erftenmal
die althochdeutſchen Gloſſen des Hrabanıs Maurus de partibus
corporis 1) und die Schrift desfelben de inventione linguarum ?),
worin fi u. A. ein Runenalphabet 3) findet. Ebenſo macht er
zum erftenmal Mittheilungen aus der dem Kero zugeſchriebenen
althochdeutſchen Ueberſetzung der Benebictinerregel, indem er bie
lateiniſchen Wörter alphabetifh ordnet und jedesmal die althoch⸗
deutſche Ueberfegung Hinzufügt ). Daß in eben biefem Werk die
Schrift des Vadianus, worin fid die Stüde aus Notker finden, ab-
gedrudt ift, haben wir früher fon erwähnt 6). Ebenſo gibt Hier
Goldaſt zwei bereits früher veröffentlichte althochdeutſche latechetiſche
Dentmöler in beſſeren Texten 9). Schon 1601 Hatte er in feinen
Anmerkungen zum Balerianus Cimelenfis ein Meines Stüd aus der
St. Galler Handſchrift von Notler's Pfalmen mitgetheilt 7).
Aber bei weitem wichtiger als alles dies waren Goldaft’s
Beröffentligungen aus ber mittelhochdeutſchen Lyrik. Die deutſche
Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts war am Beginn der neueren
Zeit faft ganz verſchollen. Mean hatte zwar in ben Ueberlieferun⸗
gen ber Meifterfänger eine bunfle und verworrene Kunde von dem
Dafein jener früheren Dichter. Aber ihre Gedichte felbft waren im
1) Tom. II, p. 89. — 2) Ebend. p. 91. — 3) Einen Teil biefes
Runenalphabets Hatte ſchon Wolfgang Lazius veröffentliht. ©. o. ©. 27.
Dgl. W. Grimm, Ueber deutſche Runen 1821, ©. 79. — 4) Tom. II,
p. 4122. — 5)6.0.6.29. — 6) Tom, II, p. 173. 174. Zu
bem Symbolum p. 173 vgl. Müllenhoff und Scherer Nr. XCIIL Zu der
Beichte p. 174 vgl. die deutſchen Abſchwörungsformeln, Her. von Maßmann,
1839, ©. 42, Nr. 27. Müllenhoff u. Scherer Nr. LXXIL. — 7) 8.
Valeriani Cimelensis episc. De bono disciplinge sermo. S. Isidori
Hisp. episc. de praelatis fragmentum. Melior Hamenvelto Goldastus
dedit cum collectaneis 1601, p. 82.
Die ält. germ. Sprachen vom Ausg. bes 16. Ihs. bis 1665. 55
16. Jahrhundert vergeffen. Wie weit die Kenntniß aud der ge»
Icheteften Forſcher in diefer Beziehung reichte, erfehen wir aus
einem Werk, das gegen ben Schluß jenes Jahrhunderts gefchriehen
worden ift. In J. 1598 nämlich verfaßte Cyriacus Span-
genberg (geb. zu Norbhaufen im J. 1528 1), geft. zu Straßburg
1604)2) ein Bud: „Bon der edlen unnd hochberuembten Kunft
der Mufica unnd deren Ankunft, Lob, Nug unnd Wirkung, auch
wie die Meifterfenger aufffhommmenn volllhommener Bericht“ 3), zu
Ehren der löblichen und ehrjamen Geſellſchaft der Meifterfinger in
der freien Reichsſtadt Straßburg. Aus diefem Bud, das hand-
föriftlih von den Meifterfängern zu Straßburg aufbewahrt und in
großen Ehren gehalten wurde, fehen wir, daß die letzten Ausläufer
der mittelhochdeutſchen Sprit: Frauenlob 4) und Regenboge d), fo
wie der Menner des Hugo von Trimberg ©), in ber Erinnerung
noch fortlebten. Dagegen find die Dichtungen der Blüthenzeit fo
mbelannt, daß Spangenberg ſelbſt von Walther von ıder Bogel-
weide nur eine ſchwache Kunde aus zweiter Hand: hat”). Dies
Duntel follte fih nun mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts lic»
ten. Die Freiherren von Hohenſax, deren Stammſchloß im Rhein⸗
thal oberhalb des Bodenſees gelegen ift, waren im Befig der koſt⸗
baren Liederhandſchrift, die jet nad) mannigfahen Schidfalen eine der
größten Zierden der laiſerlichen Bibliothek in Paris bildet. Während
des 16. Jahrhunderts findet ſich nur bei dem ſchweizeriſchen Geſchicht⸗
ſchreiber Johannes Stumpf eine kurze Erwähnung diefer Handſchrift ).
Aber da er keins ihrer Lieder mittheilt, gieng ſeine Anführung
ſpurlos vorüber. Anders geſtaltete ſich die Sache, als gegen Ende
des 16. Jahrhunderts die Handſchrift den drei Gelehrten belannt
1) Job. &g. Leucfeld, Historia Spangenbergensis, Quedlinbutg 1712,
6.1 und S. 6, Anm f. — 2) Ebend. ©. 79. — 3) Herausgegeben
durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1861. Die großen Znitialen rühren
den mir her. — 4) Ebend. ©. 131. — 5) Ebend. ©. 132. — 6) Ebend.
6.127 fg. — 7) Ebend. ©. 124. — 8) ©. die Geschichte der Manes-
schen Handschrift vor (Bodmer’s) Sammlung von Minnesingern, 1.,
Zyrich 1757, 8. XV.
56 i Drittes Kapitel.
wurde, die damals allen Anderen in der eifrigen Erforſchung des
deutſchen Alterthums vorangiengen, nämlich Freher, Schobinger
und Goldaft. reger, der die Handſchrift auf dem Schloſſe Forſteck
bei ihrem Befiger, dem Freiherrn Johann Philipp von Hohenſar,
gejehen und benutzt Hatte 1), betrieb nad deſſen Tod auf das eif-
rigfte die Erwerbung berfelben für den Churfürften Friedrich IV.
von der Pfalz, Schobinger ſchrieb einen großen Theil derſelben ab 2),
und Goldaft war ber erfte, der Bruchitüde aus ihr durch den
Drud befannt machte. Er that dies zuerft im J. 1601 in feinen
Colfectaneen zu dem Bruchſtũck des Iſidorus Hifpalenfis de Prae-
latis 3). Drei Jahre darauf machte Goldaft weitere und größere
Mittheilungen, indem er in feiner Paraeneticorum veterum pars I.,
Insulae ad Lacum Acronium (b. i. Lindau) 1604 Hinter einer
Anzahl lateiniſchet Schriften den „Klnig Tyro von Schotten®,
den Winsbeken und die Winsbekin abdruden ließ. Allen breien
fügte er erläuternde Anmerkungen hinzu mit zahlreichen Auszügen
aus den übrigen Theilen der großen Lieberhandihrift. Bei allem
Ungeſchick, das dem erften Anlauf notwendig anfleben mußte, fehen
wir Goldaft in manden Dingen auf dem rechten Wege. Er ver-
mißt ſich nicht, die alten Dichter durch bloßes Nathen verftehen zu
wollen, fondern er fucht, die Bedeutung ihrer Ausdrücke durch
zahlreiche Parallelftellen zu erflärent). Dies kommt dann neben-
1) Freher's Brief an Goldaft vom 26, Sept. 1601, in Viroram Cl.
ad Goldastum epistolae 1688, p. 58. — 2) Freher's Brief an Golbaft
vom 23. Jan.'1608, ebend. p. 226, und Goldaft vor dem 3. Theil ber
Alam, rer. scriptores 1606, Bl. 6b.— 3) In der oben S.54 angef. Ausg.
©. 120. 153 fg. — 4) gl. 3. 8. Goldaſi's Bemerkungen über von schul-
den ©. 355 fg., über wiht ©. 390, über scham ©. 445 fg., über Minne
©. 454 fg. Am ſchwächſten find natürlich Goldaf’s etymologiſche Verſuche.
(&9t. 4 8. 361 kurn. ©. 362 Kürisser). Aber doch fält ihm aud Hier
glüctich auf, daß das deutſche f das griechiſche und laieiniſche p vertritt und
er fammelte dafür (5.489) eine Menge von Belegen. Freilich ſtellt er dann
ebenba ben Uebergang des lat. p in deutſches pf mit dem von p in f auf
Eine Linie, indem er zugleich auch für Iehteren Mebergang eine große Anzahl
von Belegen gibt. ö
Die ält. germ. Sprachen vom Ausg. bes 16. 398. bis 1665. 57
bei der Sache um fo mehr zu gut, als dem Lefer eine Menge von
Serien und ganzen Strophen aus den mittelhodbeutfchen Lyrikern
vorgeführt werden. So find nun hier und in den Anmerkungen
zum Balerianus Cimelenfis neben vielem Anderen zum erftenmal
Terfe unferes größten alten Lyrikers, Walther's von der Vogels
weide, durch ben Drud veröffentlicht. „Optimus vitiorum censor
ae morum castigator acerrimus® nennt ihn Goldaſt i). Was
Männer wie Goldaft und Freher unjern alten Dichtern zuführt,
iſt freilich zunächſt der Gebrauch, der fih von ihnen machen Täßt
zur Erläuterung der deutſchen Staats» und Rechtsgeſchichte. Nie
mand, fagt Goldaft, Tann die Gebräude des Lehensweſens gehörig
erläutern, niemand die mittelalterlihen Geſchichtſchreiber, niemand
die Benennungen der Aemter und Würden verftehen ohne jene alt-
deutſchen Schriften. Er ſelbſt Habe die Sitten und Einrichtungen
unjerer Vorfahren nicht verftanden, Dis er ihre eigenen Schriften
gelejen Habe?). — Aber obwohl dies der Ausgangspunkt war,
fo findet ſich doch ungeſucht aud die Freude am ben Dichtungen
jelbft ein. Wahrhaft naiv ſpricht dies der Taiferlihe Rath Johann
von Schellenberg aus, dem Goldaft als einem großen Gönner der
geſchichtlichen Studien feine deutihen Paraenetifer gewidmet hatte.
„Jucundum certe fuit, fagt er in einem Brief an Schobinger,
antiquorum Germanorum vocabula et proverbia legere; neo
satis mirari possum, nobiles etiam illo saeculo taliter, qua-
liter literis instructos, et martialia ingenis cantilenis istis
amatoriis mansueta reddidisse“ °), So Haben auch Goldaſt t)
und Freher 5) ihre Freude ar jenen Liebern felbft. Der gelehrte
Marcus Welfer in Augsburg ergögt fi vor alfem an König Tys
vol und dem Winsbelen und wünſcht bringend bie Herausgabe der
ganzen Liederhandſchrift e), und Friedrich Taubmann, der witzige
Herausgeber des Plautus, iſt hingeriſſen von Goldaſt's Mittheil⸗
1) Ebend. S. 420. — 2) Ebend. S. 348. — 3) Ebend. ©. 271. —
4) Paraenetici vet. p. 263. 266. 346. — 5) Freher an Goldaft d. 26.
Sept. 1609 in ben Virorum CI. ad Goldastum epist. 1688, p. 58. —
6) Belfer an Golbaſt b. 8, Sept, 1604. Ebend. ©. 120. —
58 Drittes Kapitel.
ungen unb empört, daß man biefe Schäte edht deutſcher Poeſie fo
lange vernadjläffigt Habe '). Der Churfürft Friedrich IV. von der
Pfalz Hatte das größte Verlangen, die loſtbare Liederhandſchrift
felöft zu befigen. Er ruht nicht, Bis er fie enblih (1607) durch
Freher und Golbaft für feinen Heidelberger Bücherſchatz erworben
hat?). Er vertraut fie dannn noch eimmal (1609) Goldaft an,
um die von Schobinger begonnene Abſchrift zu vollenden, bringt
aber auf baldige Zurüdgabe 3).
Wenn wir die Studien Goldaft'3 überbliden, fo erhalten wir
eine Borftellung von dem damaligen Umfang der altdeutſchen Kennt⸗
niffe- Außer dem bereits oben bei Freher und bei Goldaſt ſelbſt
Erwãhnten lennt er das deutſche Heldenbuch, Eden Ausfahrt, den
hörnen Siegfried und den Herzog Ernſt); dann den Wigalois bes
Wirnt von Gravenberg 5), des Strider’s Karl), die mittelhoch-
deutſche Paraphraſe bes Alten Teftaments 7), den Nenner des
Hugo von Trimberg ®) und einige Andere. Dagegen find ihm
die Nibelungen 9), Wolfram's Parzival 1%) und Hartmann's
Iwein 11) unbelannt, wenigftens damals, als er bie Baraenetifer
herausgab. Sehen wir nun aud, wie gerade das Wichtigſte Goldaft
noch abgieng, und find - die.von ihm veröffentlichten Texte auch
nichts weniger als kritiſch, ſo war dod ein fhöner Anfang gemacht
zu weiterem ortireiten. Goldaft hatte auch nod weit gehende
1) S. Taubmann's Praefatio zu feiner Ausgabe von Birgil’s Culex,
Wittebergae 1609. — 2)Virorum Cll. ad Goldastum epist. p. 176. 177.
180. 185. 186. 193. 205. — 3) &bend. p. 337. — 4) Paraenet. vet. p.346 5q.
Dpl. >Anonymus in Ecken Vfarte p. 364. — 5) Ebend. ©. 368.
378. — 6) Ebenb. S. 359. — 7) Ebend. ©. 359. 367. 372. — 8) Vi-
roram Cl. ad Goldastum epist. 1688, p- 249. 294. 298. — 9) Bel.
die Aufzählung in den Paraenet, p. 346 sq. — 10) Zu Tyrol 42 bemertt
Golbaſt Paraenet. p. 384: »Flenetnise etc. Amphartys. Fabula ig-
nota nobis, quam qui indicauerit, ei praemium indieinae dabitur.e
>Li Romans de Parceuale citiert er p. 378. 400. 414. — 11) Zur
Winsbefin 11 fagt Golbaft Paraenet. p. 448: »Lunet Historiam non
legimuse, Dann führt er Stellen aus Tanhuſer und Wirnt’s Wigalois an,
in benen Lunete genannt wird.
Die Alt. germ. Sprachen vom Ausg. bes 16. Ihs. bis 1665. 59
Plane. Er wollte die ganze Heidelberger (jet Parifer) Liederhand⸗
ſchrift veröffentlichen 1) und gieng mit einer Herausgabe von Not-
ter’ Pfalmen um). Aber von alle dem kam nichts zu Stande.
Nur einige weitere Mittheilungen aus jener berühmten Liederhand⸗
igrift Hat Goldaft (1611) noch gemadt®). Die gewitterſchwüle
Zeit vor dem Ausbruch des großen Meligionsfrieges war umfafjen-
den buchhändlerifchen Unternehmungen der Art nicht günftig 4), und
ala num vollends der Krieg ſelbſt entbrannte, war an die Ausführ-
ung folder Plane nit weiter zu denken. Die Toftbaren Heidel⸗
berger Bücherfäge wurden geraubt (1623), Goldaſt's eigene Pa-
piere wurden zum Theil (1625) nach Bremen geflüchtet, und erft
mehr als ein Jahrhundert fpäter kam allmählich das zur Ausführ-
mg, was ſchon Golbaft und Freher im Sinne gehabt hatten.
Aber ihre Arbeit war nicht verloren. Denn nicht nur blieb fie
finger als ein Jahrhundert die Quelle, aus ber alle Folgenden
fHöpften $), fondern wir werben fpäter fehen, wie auch noch im
38., ja bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts hinein der weis
tere Fortſchritt der Wiſſenſchaft mit ihr zufammenhängt 9.
So jehr der ſchreckliche breißigjährige Krieg allen wiffen-
jcaftlichen Unternehmungen in den Weg trat, fo waren doch auch
Ne Jahre von 1618 bis zum Schluß unfrer Periode (1665) für
die Vermehrung des altdeutſchen Quellenmaterials nidt ganz un
ftuchtbar. Der gelehrte Jeſuit Chriſtoph Bromer (geb. zu
Ambeim 1559, geft. zu Trier 1617)%) Hatte ſchon in feinen An-
tiquitates Fuldenses (1612) eine bereits von Flacius und Gaffar
in ihrem Otfrid (1571) veröffentlichte althochdeutſche Beichtformel
1) Parsenet. p. 266. Freher an Goldaſt d. 10. Aug. 1605 in den
Virer. CH. epist. 1688, p. 121. Ebend. (1607) p. 176. — 2) Freher
eu Gelbaft 10. Aug. 1605 a. a. D. ©. 121. — 8) In feiner Replicatio
pro Bac. Caesarea — majestate, Hanovise 1611, p. 281 6q. —
4) Belfer an Gofdaft 8. Sep. 1604, a. a O. 6.119. — 5) Bl. J.
Sim, Ueber den altbeutfen Meiftergefang, 1811, ©. 192. — 6) ©. u.
in umferem zweiten und britten Bud. — 7) Bol. Wyttenbach in Crfd's
u Grubers Allgem. Engl, Thi. i8 (1824) ©. 101. 102.
60 Drittes Kapitel.
von neuem aus einer Fuldaer Handſchrift mitgetheilt 1). In den
nad feinem Tod herausgegebenen Antiquitates annalium Tre-
virensium (1626) findet fi zuerſt die merkwürdige altnieder-
rheiniſche Interlinearverſion eines Theiles eines Capitulars aus
dem 9. Jahrhundert 2). Ein anderes Meines, aber äußerft werth⸗
volles Denkmal: das ſächſiſche Taufgelöhnig aus dem 8. Jahrhun⸗
dert, wurde veröffentlicht aus dem Nachlaß des vieljeitigen und
grundgelehrten Lucas Holftenius (geb. zu Hamburg 1596, um
1627 in Paris zur römiſchen Kirche übergetreten, geft. in Rom
1661) 3) zu Straßburg 1664 in den Miscella antiquae lectionis
des Buchändlers Simon Paulli. Auch ein bedeutendes poeti-
{des Denkmal wurde in jener Zeit zum erftenmal veröffentlicht.
Im %. 1639, dem letzten feines Lebens, gab nämlih Martin
Opiz, ber berühmte Gründer der jchlefiihen Dichterſchule, zu
Danzig das Gedicht über ben heiligen Anno heraus. So Bieles
ſelbſtverſtändlich Text und Anmerkungen zu wünſchen faflen, fo
zeugen bie letzteren dod von einem eifrigen und nicht erfolglofen
Studium der bis dahin veröffentlichten altdeutſchen Werke, und
befonders anzichend ift e8, zu fehen, weld bedeutenden Eindrud
Goldaft’3 Anführungen aus den mittelhochdeutſchen Lyrifern auf
den Anfänger der neueren deutſchen Dichtung gemacht Haben. Ihre
„anmuthsvollen“ Verſe weden in ihm das „fehnlihe Verlangen“
nad) weiteren Mittheilungen, und als Goldaſt geftorben ift, ohne
feinen wiederholten Mahnungen nadzulommen, Hofft er, Lucas
Holſtenius werde nun ben grüßtentheils nah Mom entführten
Schatz alter Dichtungen zur Ehre Deutſchlands Heben t).
1) Brower, Fuldensium antiguitatum libri II, Antverpise
1612, p. 158, 159. Es ift Nr. LXXI bei Müllenhoff und Scherer,
und biefelbe, bie wir oben S. 54 bei Goldaſt erwähnt haben. —
2) Die Stabibibfiothet zu Trier befigt ein Exemplar jener äußert feltenen
Ausgabe von 1626. ©. Wyttenbach a. a. DO. Das Stüd ift dann Bfters
wieber herausgegeben, aber immer auf Grunblage von Brower's Tert, ba bie
Handfärift noch nicht wieder aufgefunden if, Müllenhoff und Scherer
©. 477. — 3) Joh. Molleri Cimbria literate III, 321 sg. —
4) Incerti Poetae Teutoniei Rhythmus de Sancto Annone. — Martinus
Opitius primus ex membrana veteri edidit et Animadversionibus il-
lustravit, Dantisci 1639, p. 30. ®gl. p. 15.
6
Biertes Stapitel.
Die grammatiſche Behandlung der deuiſchen Sprade bis zum
Jahr 1665.
Die deutſche Grammatik im ſechzehnten Jahrhundert.
Wie bei anderen Völfern, jo ift aud) bei den Deutſchen nicht die
wiſſenſchaftliche Forſchung, ſondern das praftiihe Bedürfniß ber
erfte Anlaß zur grammatiſchen Behandlung der eigenen Sprache
geworden. Sobald man anfängt, eine Sprache zu ſchreiben, zeigt
ih auch die Nothwendigfeit, gewiſſe, wenn aud noch fo elemen«
tare grammatifche Feitfegungen zu treffen. Und fo fehen wir denn
auch wirklich ſchon in der althochdeutſchen Periode, zumal kei dei
Et. Gallen, die erften Anfänge davon. Zu einer eigentlichen
dentf hen Grammatit aber bringt es erſt das Neuhochdeutſche. Bei
teren Entftehung dürfen wir nicht außer Acht laſſen, daß die gram-
natiſchen Kategorien nicht von den, beutihen Grammatilern erft
entdedt worden find; vielmehr find fie ihnen von den Römern
überfiefert, und dieſe haben fie wieder von den eigentlichen Ent»
teten, den Griechen, erhalten. So hängt die Entftehung ber
deutſchen Grammatik auf das engfte mit den Ueberlieferungen des
laſſiſchen Altertfums zufammen. In der That ſehen wir auch,
gleichſam als ein Vorſpiel für das Hervortreten der deutſchen
Grammatik feldft, in der Beit der wieder erwachenden klaſſiſchen
Studien das Deutſche zunähft nur als ein Hülfsmittel zur Er⸗
kißterung des Sateinlernens benutzt. So in ber Iateinijhen Gram⸗
matit, die der bayeriihe Geſchichtſchreiber Johannes Tur-
mair, nad feinem Geburtsort Abensberg Aventinus genannt
(geb. 1477, + 1584) 1), im J. 1512 zu Münden unter dem Titel
heiausgab: Grammatica omnium vtilissima et brevissima. —
Sunt vbique dietionum significata vernacula lingua addita.
Preterea translatio casuum et temporum in nostram linguam
160.6. 19 fg.
62 Biertes Kapitel.
Eorundemque formatio brevis et elegans etc. Eine beutjche
Grammatik Kann man das natürlich noch nit nennen. Eine folde
entfteht vielmehr und entwidelt fi mit der Entftehung und Aus⸗
bildung der neuhochdeutſchen Schriftſprache. Und wie diefe fi an
die Taiferlihe Kanzlei und dann an die Form anfnüpft, welche die
deutſche Gemeinſprache in Luther's Schriften angenommen hatte, jo
fehen wir diefe beiden Elemente auch die Grundlage der deutfchen
Grammatik bilden. Der erfte, von bem uns berichtet wird, daß
ex eine Grammatik. der deutſchen Sprade unternommen habe, war
Hans Krahenberger, kaiſerlicher Math und Secretarius am
Hofe Friedrich's II. und Maximilian's I. Das opus grammaticale
de lingua Germanica certis adstrieta legibus war feine letzte
Arbeit. Er ift darüber Hingeftorben, ohne fie zu vollenden und zu
veröffentlichen ?). "
Wie nahe die Entftefung der deutſchen Grammatik mit dem
Aufkommen der deuten Schriftſprache zufammenhieng, zeigt ſich
au an der Art, wie man allmählich zu einer volfftändigen deut-
fhen Grammatif gelangte. Das nächſtliegende Bedürfniß nämlich,
das zuerſt Befriedigung erheiſchte, war die Kunſt, richtig zu fehrei-
ben. Die Bemühungen um die deutſche Grammatik beginnen daher
mit Anweifungen zur deutſchen Orthographie. Diefe Schriften Ha-
ben es theils auf eine Anleitung zur Schreiberei abgefehen, theils
faffen fie das Lefen- und Schreibenlernen des ganzen Volles mit
befonderer Nüdficht auf die religiöfe Leftüre in’s Auge. Der
exfteren Gattung gehört urſprünglich ein vorzüglices Meines Buch
an, das Magifter Fabian Frangk, „Burger zum Buntzlaw,“ im
Jahr 1531 umter dem Titel Herausgab: „Teutiher Sprach Art
vnd Eygenſchafft. Orthographia, Gerecht Buͤchſtaͤig Teutſch
1) S. Engelb. Klüpfel, De vita et soriptis Conradi Celtis,
Friburgi Brisgoviae 1827, p. 179. Dies Unternejmen bes Gecretärs
Kaifer Marimilian’s ſtimmt merkwürdig zu Luther’s Ausſpruch: Kaifer Maris
mifian und Kurfürſt Friedrich Haben im römifden Reich die deutſchen Sprachen
alfo in eine gewiffe Spradje gezogen. (Luther’s Tiſchteden, Eisleben 1566,
81. 578).
Die grammaliſche Behandlung der deutſchen Sprade bis zum Jahr 1665. 68
wihreiben. New Cantzlei, ie bräudiger, gerechter Practich
Formliche Miſſiuen vnd Schriften an iede Perjonen rechtmeſſig
zuſtellen, auffs kürtzſt begriffen“. Frangk war geboren zu „Aßlaw“
(aſſel im Regierungsbezirk Liegnitz), lebte, als er ſein Buch zum
erſtenmal herausgab, zu Bunzlau und wurde ſpäter nad Frankfurt
an der Ober berufen, um dort eine deutſche Schule zu gründen 1).
Hier arbeitete er feine Schrift um und gab fie fehr erweitert und .
mehr für die Zwede der Schule eingerichtet im Jahr 15382) von
nem heraus. Wir finden den Verfaſſer (ſchon 1531) auf dem
tihtigen Wege, die gemeinfame deutſche Schriftfprage von den
landſchaftlichen Mundarten zu unterſcheiden. Ex hat fi unter den
verihiebenen Mundarten Deutſchlands umgefehen und bie eigen
tümlide Ausiprade des Franken, Bayern, Schleſiers und
Meichtners“, des Oberländers und Niederländers, belauſcht. Aber
er hat gefunden, daß nirgends das Schriftdeutſche geſprochen wird *).
Vielmehr beantwortet er die Frage: „Warauß man recht und reyn
Zeutſch lerne“ dahin: „Wer aber fülde mißbreuch meiden, vnd
tehtförmig Teutſch ſchreiben, odber reden wil, der muß Teutſcher
fragen auff eins Lands art vnd brauch allenthalben, nicht
nacuolgen. Nüglih vnd güt ifts einem iedlichen, viler Lande
Irraen mit jren mißbröuchen zewiffen, damit man bag vnrecht ınög _
meiden, Aber dz 9 fürnemlichft ift fo zu diſer fach forderlich vnd
dienſtlich iſt, das man guͤter Eremplar warneme, das ift, gütter
Teutſcher Bücher und verbrieffungen, ſchrifftlich oder im Trud ver-
faßt und aufgangen, die mit fleiffe Iefe, und jnen in dem das an-
jumemen und recht ift, naduolge. Vnder wölhenn mir etwan bes
temven (hoch loblicher gedechtnuß) Keyſer Marimilians Canlei,
H Wagiſter Fabian Frand, der erſte deutſche Orthograph. Bon Dr.
drang Weber. Separatabdrud aus ber Zeitſchrift de Vereins fr Geſchichte
mu Altertjum Schlefiens, Breslau 1863, S. 6 fg. Ftangk ſchwankt in der
Shreisung feines Namens zwiſchen Ftangt und Frand. (Weber a. a. O.
6.6, Anm. 8). — 2) Am Schluß: „Gedrudt zu Wittenberg buch Hans
Wen. M. D. XXXIX.“ (Weber a, a. D. ©. 6). — 8) 8.9 ber
Ausgabe von 1531. — 4) = das.
64 Biertes Kapitel,
vnnd diſer zeit D. Luthers ſchreiben, vnd dz 1) vnuerfaͤlſchet, bie
emendirtſten vnd reynſten zuhanden lommen fein“ 2). Die andere
Gattung, die es auf das Leſen- und Schreibenlernen bes ganzen
Volles abfieht, — das Erftere hauptſächlich zu geiftlihen Zweden —,
ftellt ung das Büchlein dar, das Johann Kolroß, „Teutſch
Lefermayfter zu Baſel“, (wahrſcheinlich im J. 1529) veröffentlichte:
„Encheridion. Das ift, hantbuͤchlin teutſcher Orthographi, Hod-
teutſche ſpraͤch, artlich zeſchreyben und leſen, ſampt einem Negifter-
lein über die gantze Bibel.“ Solcher Anleitungen zur deutſchen
Orthographie iſt dann von jener Zeit an eine große Anzahl er-
ſchienen, und dahin gehört auch eigentlih das Meine Buch, das
ſich zuerft den Namen einer deutſchen Grammatit beilegte. Im
5.1531 ober bald danach ſchrieb nämlich Valentin Seelfamer,
An Anhänger Luthers und eine Zeit lang des Schwärmers Karl-
ftadt, feine „Zentihe Grammatica Darauß ainer von jm ſelbs
mag leſen lernen, mit allem dem, fo zum Teutſchen Lefen vnnd
deſſelben Orthographian mangel und überfluß, auch anderm vil
mehr, zu wiffen gehört“). Ickelſamer ift ein feuriger Kopf. Er
nimmt einen Anlauf zu einer deutſchen Grammatif, und es fehlt
ihm nicht an eigenthümlichen Gedanken, aber in- der Ausführung
bringt er e8 troß des vielverſprechenden Titels doch nicht über eine
Anleitung zum Lefenlernen und zur deutſchen Orthographie hinaus.
Erft vierzig Jahre nah Icelſamer kommt es zur Herausgabe
einer wirklichen deutſchen Grammatif, und merkwürdiger Weiſe
treten nun plöglich faft zu gleiher Zeit zwei deutſche Grammatiken
in die Oeffentlichkeit, die das Zeichen der Zwillingsbrüberihaft un
vertennbar an ber Stirne tragen. Die Geſchichte der wirklich aus-
geführten und an die Oeffentlichkeit gelangten deutien Gramıma-
tifen beginnt nämlich mit einem feltfamen literarifhen Räthſel.
In demfelben “Jahre, (1573), erſchienen zwei deutſche Gram⸗
matifen, bie eine von dem Straßburger öffentlichen Notar Albert
1i) S das. — 2) 81.2 der Ausgabe von 1531. — 3) Ausgabe
ohne Ort und Jahr, auf ber k. Bibliothet zu Berlin. Neue Ausgabe, Nürn-
berg durch Johann Petreius 1537, auf der Univerfudtsbibliotgek zu Göttingen.
Die graumatiſche Behandlung der deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 66
Delinger, die andere von dem Oftfranfen Laurentius Al-
bertus, und beide geben fi für den erften Verfud einer deutſchen
Grammatit aus. So weit num hätte die Sache noch nichts ber
ſonders Wunderbares. Denn warum follten nicht Albert Delinger,
der in Straßburg lebt, und Laurentius Albertus, ber feinen Aufent-
halt in Würzburg Hat 1), beide in aufrictigfter Meinung glauben,
fie hätten feinen Vorgänger in ber Abfaffung einer deutſchen Gram⸗
matif? Sie brauchten ja, eben da ihre Bücher gleichzeitig erſchienen,
bei der Herausgabe derjelden Nichts von einander zu wiſſen. ber
das Auffallende beginnt, wenn wir ben Inhalt der Bücher ſelbſt
anfehen. Hier bleibt uns nämlich bald Fein Zweifel, daß der Eine
die Arbeit des Anderen gelannt haben muß. Nicht nur in der
Behandlung des Stoffes, fondern auch in der Form des Ausbruds
finden wir öfters eine ſolche Uebereinftimmung, daß an ein zu-
fälliges Zufammentreffen nicht zu denken ift. Eine nähere Unter-
juchung führt zu dem Ergebniß, daß Laurentius Albertus feine
Grammatik zwar vor der des Delinger verüffentlit, daß er aber
bei Ausarbeitung feines Werks Mittheilungen aus der Handſchrift
Oelinger's in unredlicher Weife benugt hat?). Wir dürfen jomit
den Straßburger Notar Albert Delinger als den Erften be
zeichnen, von dem wir eine eigentliche deutihe Grammatil befigen.
Sein Buch hat den Titel: Vnderricht der Hoch Teutihen Spraad:
Grammatica Seu Institutio Verae Germanicae linguae, in
qua Etymologia, Syntaxis et reliquae partes omnes suo or-
dine breviter tractantur. In usum iuventutis maxime Galli-
«se, ante annos aliquot conscripta, nunc autem quorundam
instinetu in lucem edita, plaerisque uieinis nationibus, non
minus utilis quam necessari.. Cum D. Joan. Sturmij sen-
tentie, de cognitiine et exercitatione linguarum nostri
1) Er unterzeichnet bie Widmung feines Bude: Wurzburgi, 20
Septemb: anno 72. — 2) Eine genaue Vergleichung beider Bücher beflätigt,
we bie Inteinifchen Gedichte, bie Delinger's Grammatik vorausgeſchidt find,
eutorüdtich jagen, daf Oelinger feine Handſchriſt deshalb jegt ſchon in Drud
9b, weil ein Anderer ihn beftohlen habe,
Raumer, Sei. ber germ. Pillofagie. 5
66 Viertes Kapitel.
saeculi. Alberto Oelingero Argent. Notario publico Auctore,
Argentorati, exeudebat Nicolaus Wyriot. M. D. LXXIII. °).
Diefem Titel und feinem ar ausgefprochenen Zweck entfpricht der
Anhalt des Buches. Es behandelt in lateiniſcher Sprache die deut-
fe Grammatik ganz nad dem Schema’ der antifen, befpricht zuerft
die Buchſtaben und deren Ausſprache, dann den Artitel, das No:
men, das Pronomen, das Verbum, das Participium, das Adver⸗
bium, die Praepofition, die Conjunction und die Interjection, gibt
dann eine ganz kurze Syntax und endlich eine noch kürzere Brosobie.
Die Behandlung ift dem Zwed des Buchs entſprechend eine pral-
tifche. Die Kategorien liefert die antile Grammatik. Von einem
tieferen Eindringen in den Bau der deutſchen Sprade ift noch Feine
Nebe; doch fehlt es nicht an einzelnen treffenden Bemerkungen. So
gibt der Verfaffer zuerſt die deutſchen, den lateiniſchen entjprecen-
den Tempora, umſchriebene und nicht umfchriebene, fährt dann aber
fort: „Proprie vero Germani duo tantum habent tempora,
nempe praesens, ef praeteritum imperfectum: reliqua eir-
cumloquuntur, praeterita per verba auxiliaria, haben, vel
fein, et futura per verba wollen et werden“ 2). Auch verdient
bemerkt zu werben, da Delinger die deutſchen Verba nicht fo ein»
theilt, daß er die [wachen als regelmäßige, die ſtarken als une
gelmäßige behandelt. Vielmehr macht er vier Conjugationen, unter
deren drei erfte er die ablautenden Zeitwörter vertheilt, während
er aus den ſchwachen bie vierte bildet.-
Wir haben den Zwilling Delinger’s, Laurentius Albertus,
von dem Vorwurf des Plagiats leider nicht freiſprechen Tönnen.
Aber trotz feiner Entlehnungen aus Delinger bietet er doch vieles
Eigene. Sein Buch führt den Titel: Teutih Grammatid oder
Sprad-Kunft. Certissima ratio discendae, augendae, ornan-
dee, propagandae, conseruandaeque lingnae Alemanorum
siue Germanorum, grammaticis regulis et exemplis compre-
hensa et conseripta: per Laurentium Albertum Ostro-
1) &o auf dem Titel des Göttinger Eremplars. Am Schluß bes Budes
aber: Excudebat Nicolaus Wyriot. Anno M.D.LXXII. — 2) p. 9%.
Die grammatiſche Behandlung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 67
francum. Cum gratia et privilegio Imperial. Augustae
„Vindelicorum excudebat Michaöl Manger. M. D. LXXIII.
Der Berfaffer nimmt nit nur auf die örtlichen Mundarten, fon
dern bisweilen fogar auf die ältere deutſche Sprache Rüdfiht. So
bemerft er, nachdem er die Bildung ber Feminina auf in (König,
Königin) dargeſtellt hat: „Nota quod in rithinis (fies: rhythmis)
apud veteres foemininis in in, non raro litera e, tanquam iis
propria adjieistur: als fürftinne, Koniginne, aut syllaba, gund
ala Königumb, quod deinde proprium nomen factum est“ 1).
Beweift der Anfang diefer Stelle, daß Laurentius ältere deutſche
Schriften kannte, fo zeigt der Schluß, daß er von ihrer Sprade
kein Verſtändniß hatte. — In anerkennenswerther Weife richtet
Raurentius Albertus fein Augenmerk auf die Ableitung der Wörter.
So ftellt er 3. B. die „terminationes“ zufammen, durch welde
Verbalia von Verbis und deren Partieipiis gebildet werden, mie
ung in Rechnung, er in Schreiber u. |. w. Aber wie fehr
die deut he Grammatik hier noch in den allererften Anfängen fteht,
dafür genügt es anzuführen, daß unter jenen und ähnlihen End»
folden ſich aud die Bemerfung findet: „9. Odt, als gebodt
mandatum, gebietten, mandare“ 2). Ja fogar die Zurüdführung
des ganzen deutſchen Sprahihages auf Wurzeln ift dem Albertus
nit fremd. „Alle primitiven Wurzeln unfrer deutſchen Sprache,
fagt er, find einfylbig und treten in biefer Beziehung dem Hebräi-
fen fehr nahe, eine Kürze, die fihherlich weder die Griechen, noch
die Lateiner überall aufweiſen können“ >). Auch in diefer Stelle
tritt uns neben einem aufleuchtenden richtigen Gedanken fofort bie
dunlle Finfterniß entgegen, bie damals nod über der vergleichen.
den Sprachforſchung lag. Aber vorausgefegt, daß Albertus nicht
and) in diefen Theilen feines Buchs Andere ausgefchrieben hat und
wir mer feinen Vorlagen noch nicht auf die Spur gefommen find,
beweifen die angeführten Stellen und fo mande andere, daß er ein
firebfamer Gelehrter war. Dafür feheint auch zu ſprechen, daß er
an mehr als einer Stelle noch weitere Linguiftiihe Unternehmungen,
ij) Bl. D. 6. ww. — 2) Bl. F. 8. — 8.02 m.
5°
68 Viertes Kapitel
die er im Sinn Bat, ankündigt !), fo namentlich bie Ausarbeitung
eines beutien Wörterbuds 2).
Ein größeres und länger behauptetes Anfehen, als feine bei⸗
den Vorgänger, hat fih wenige Jahre nah ihnen Johannes
Clajus erworben. Geboren zu Herzberg an der Schwarzen El⸗
fter ftudierte er zu Leipzig Theologie, wirkte dann als Schulmann
zu Goldberg, Franfenftein in Schleſien und Norbhaufen, bis er im
5%. 1573 Prediger zu Benbeleben in Thüringen wurde, wofelöft ex
im J. 1592 ſtarb ®). In der lateiniſchen, griechiſchen und hebräi-
ſchen Sprache wohlbewandert richtete er doch fein hauptſächlichſtes
Augenmerk auf die Herſtellung einer deutſchen Grammatil. Nad-
dem er mehr als zwanzig Jahre daran gearbeitet hatte, gab er die
Frucht feiner Bemühungen im 3. 1578 zu Leipzig unter dem Titel
heraus: Girammatica Germanicae linguae M. Johannis Claij
Hirtzbergensis: Ex. Bibliis Lutheri Germanieis et aliis eius
libris collecta. Ein begeifterter Anhänger Luthers legt Clajus
deffen Sprade feiner Grammatik zu Grunde. Die einzelnen Theile
derjelben behandelt er in der Weife der damaligen lateiniſchen
Grammatifen, nämlih 1) die Orthographie, 2) die Prosodie, 8) die
Etymologie, 4) die Syntar. Darauf folgen noch zwei Abſchnitte
de ratione carminum veteri apud Germanos (d. h. von ger
reimten Gedichten) und de ratione carminum nova (d. 5. von
der Nahbildung antiker Metra im Deutſchen). Fleiß, im Einzel-
nen öfters richtige Beobachtung und eine gewiſſe praktiihe Brauch⸗
Barfeit für feine Zeit wird man dem Bude bes Elajus nicht ab⸗
ſprechen; aber wie fehr die deutſche Grammatik noch in ihren erften
Anfängen ftand, das zeigt ſich darin aller Orten. Wie feine Bor
gänger, fo ſchließt ſich auch Clajus im der Behandlung der deut
fen Sprade eng an die gegebene Form der Iateinifhen Gram⸗
matik an, und zwar geht er hier in ſtlaviſcher Uebertragung der
Methode bisweilen noch weiter als Delinger und Laurentius Alber⸗
tus. Alle drei behandeln fie 3. B. erft das natürliche Geſchlecht,
18.06 — 98.02 — 3) Jörbene, Lexikon deutſcher
Dichter und Proſaiſten I, 302, Claji gramm. Germ. ling. Praef.
Die grammatiſche Behanblung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 69
dann das durch die grammatifche Form gegebene. Wenn nun auch
das natürliche Geſchlecht fid in ähnlicher Weiſe beſprechen läßt wie in
den antiten Sprachen, fo ift mit den abgeftumpften Flexionen des
Neuhochdeutſchen für das grammatiſche Geſchlecht meift nicht viel
auszurichten. Dennoch wollen diefe erften deutihen Grammatifer
das Geflecht der Wörter nad) den Endungen beftimmen. Delin-
ger und Laurentius Albertus bedienen fi dazu der Endſyl⸗
ben. Dadurch betreten fie wenigftens in einigen Fällen den Weg,
gewiffe Ableitungsſylben mit einem beftimmten Geſchlecht in Ver⸗
bindung zu bringen. 3. 8. wenn Delinger!) die „nomina
finientia in umb“ für Neutra erflärt, „ut das hergogthumb, das
heyligthumb, jerthunmb“ ; oder wenn Albertus fagt: „Verbalia in
er masculina sunt, et formant foeminina in In, als ber
Shtreiber, seriba, die ſchreiberin, Koch, köchin 2c.” Aber meiftens
find ihre Annahmen ohne alles Verſtändniß der Wortbildung. So
lautet die ganze Regel Delingers, welche das oben über umb
Angeführte einfäließt: „Item nomina finientia in ct, es, echt,
end, ment, od, bt, pt, umb, et quae formant pluralem a singu-
lari additione er plaeraque neutra sunt.* Und demgemäß heißt
& dann 3. B.: „In et, vi bas bett, das brett, das pareth. Ex-
dpiuntur quaedam, vleuti (lies veluti) die bancquet, bie Fett,
teomet, paftet.” Laurentius Albertus, der in diefer Be
ziehung den Delinger übertrifft, bringt aber dod neben ber rich
tigen Beobachtung, daß die Wörter auf ung, ey, heit und keit
generis feminini find, die Megel, daß dies auch bei denen auf ag
der Fall fei: „Ag, die zufag promissio, die Mag, querela ıc.“ 2).
Benn nun ſchon diefe Beifpiele zeigen, daß Delinger und Al-
bertus faum die erften Schritte zu einer richtigen Einſicht thun,
fo bleibt Elajus in diefem Punkt noch Hinter ihnen zurüd, indem
er ganz roh die Wörter nach ihren Enbbuchftaben durchnimmt und
danach ihr Geſchlecht beſtimmen will. Er Handelt einen Buchſtaben
nach dem anderen ab vom a bis zum tz. Da werben bemm
38.3) unter # erft eine Menge Wörter aller Arten aufgezählt,
Dpse,— 2) Bl. E. — 32.48 0q.
70 Biertes Kapitel
von benen es heißt: „Desinentia in t. Masculina sunt: ber
Rath, Benatus, Consilium, Consiliarius. Der Grat, Spina
piscium, et dorsi. Salat, Lactuca. Der Gott, Deus. Der
Hut, Muth, Pileus, Animus. Der Abt, Abbas“ u. |. f. Dann:
„Foeminina sunt: die That, Factum. Nat, Suture. Die Not,
Angustia. Die Stut, Equa. Brut, exclusio ouorum* u. ſ. w.
Endlich: „Neutra sunt: das Niet, Pascuum. Das Brot, Lot,
Panis, Drachma. Gut, Blut, Bonum, Sanguis“ u. ſ. w.
Ich habe dieſen Gegenftand etwas ausführlicher beſprochen,
weil er uns ein recht beutlihes Bild gibt von der noch überaus
geringen Einſicht, welde jene erften deutſchen Grammatifer in das
Weſen der deutſchen Sprade hatten. In manden anderen Theilen
der Grammatik zeigen fie ſchon einen etwas helleren Blid. Doch
läuft aud hier das Richtige und Verfehlte oft ſeltſam durcheinander.
So gibt 3. B. Elajus mande richtige allgemeine Beftimmung über
die deutſche Conjugation !); dann aber hat er den fonderharen Ein-
fall, die Abwandlung der einzelnen deutſchen Beitwörter fo zu bes
handeln, daß er die Zeitwörter nad ihren Endſylben ordnet und
unter jeder Endſylbe bie verchiedenartigften Verba zufammenfteltt.
Auf diefe Weife wird natürlich das Zufammengehörige faft durch-
weg außeinanbergerifjen und das Fremdartigſte vereinigt. Auch
hier waren Delinger und Albertus ſchon auf dem richtigeren
Wege. Aber andrerjeits ift nicht zu verkennen, daß Elajus fie
an Reichhaltigkeit und Sorgfalt in der Ausführung übertrifft.
Die deutſche Grammatik im ſiebjehnten Jahrhundert bis zum Jahr 1665.
Zwiſchen den deutſchen Grammatiten bes 16. Jahrhunderts
und denen des 17. Liegen wichtige Vorgänge, die ber allgemeinen
deutſchen Literatur» und Kulturgefhichte angehören und die wir
deshalb Gier nur berühren dürfen. Die Poeſie des Opig (geb.
1597 } 1639) beginnt einen neuen Abſchnitt in der Geſchichte der
deutſchen Diätung, unmittelbar aber greift er ein in einen wich⸗
tigen Theil der deutſchen Grammatik: die deutſche Metrit, durch
1) p. 142 29.
Die grammatifcje Behandlung der deutſchen Sprache Bis zum Jahr 1665. 71
fein Buch „von der Deutfhen Poeterey,“ das im J. 1624 zu
Brieg gedruckt und zu Breslau verlegt wurde. Hier wird zuerit
für die deutfche Poeſie die Negel feitgeftellt, daß ber Accent die
Stelle der antiten Ohantität zu vertreten habe‘). Saft gleichzeitig
mit Opig war der merkwürdige Verfuh, den Wolfgang Rati—
Hins (geb. zu Wilfter in Holftein 1571, + 1635) zur Umgeftalt-
ung des Schulwefens machte. Mit der ‚allgemeinen Methode des
Natichius umd den übertriebenen Erwartungen, die er daran fnüpfte,
haben wir e8 hier nicht zu thun. Für uns ift das Wichtige an fei-
nem Berſuch, daß er den Sprachunterricht mit der deutſchen Gram-
matit beginnen und das Deutſche wenigftens theilweiſe zur Uns
terrichtsſprache machen wollte. So vieles Seltſame und Verkehrte
auch Ratichius in feine Unternehmungen mifchte, fo bleibt ihm doch
das Berbienft, weſentlich dazu beigetragen zu haben, daß die Wif-
ſenſchaft allmählich ihr lateiniſches Gewand mit einer deutſchen
vertaufjchte- Gerade von dieſer Seite fand er auch bei mehreren
der bebeutendften Gelehrten feiner Zeit bleibende Anerkennung, fo
bei Joachim Jungius und Ehriftophorus Helvicus. — Die dritte
Eſcheinung, die aud für die Entwidlung der deutſchen Sprad-
wiſſenſchaft von Bedeutung war, bildet die Gründung der deutſchen
Sprachgeſellſchaften. Nah dem Vorgang der Italiener wurden fie
im Lauf des 17. Jahrhunderts geftiftet und trugen troß aller
Wunderlichleiten und Geſchmacloſigkeiten doch nicht wenig dazu
bei, in einer jammervollen Zeit die Liebe zur deutſchen Mutter⸗
ſprache wach zu erhalten. Die angefehenfte unter dieſen Geſell⸗
ſhaſten: die „feuchtöringende”, geftiftet im J. 1617, werben wir
mit ben bebentendften grammatiſchen Leiftungen des 17. Jahrhun⸗
derts in nahem Zufammenhang fehen; und aud der Pegneſiſche
Hirten und Blumenorden hat fi nicht ausſchließlich auf Spielereien
beſchränlt, vielmehr ſpricht fein Stifter ©. Ph. Harsdörffer in
feinem Specimen Philologiae Germanicae, (Norimbergae 1646)
1) Blatt & ij der Erſten Ausgabe, deren Titel mod) nicht die Worte Pros-
odia Germanica ber fräteren Ausgaben enthält,
72 Viertes Kapitel.
fo manden gefunden Gebanten über die Wichtigfeit der deutſchen
Sprade für die ganze deutſche Bildung aus.
Unter den deutſchen Grammatiten des 17. Jahrhunderts er-
wähnen wir zuerft eine, die fi unmittelbar an bie oben beſpro⸗
chene Neuerung des Ratichius anſchließt. Es ift die „Deutſche
Grammatica, Zum newen Methodo, der Jugend zum beſten, zuge⸗
richtet. Für die Weymariſche Schuel, Auff ſonderbaren Fürſtl.
Gn. Befehl. Gedrudt Zu Weymar. — Im Jahr 16181." Ein
zweiter Titel (mit der Jahrzahl 1619) nennt dann den M. Jo⸗
hannes Kromayer (geb. zu Döbeln 1576, Generalfuperinten-
dent zu Weimar, } 1643) als Verfaſſer. Was den Stoff betrifft,
fo wird man von einem Elementarbüchlein nit verlangen, daß es
höher ftehe, als die Gelehrten feiner Zeit. Doc zeigt fi der
Verfaſſer als ein Mann von Einfiht 2). Das Hauptgewidt aber
legt er auf die didaltiſche Methode, und hier ift fein Bud in dop⸗
pelter Beziehung merkwürdig, erftens, weil es die erfte nicht in
lateiniſcher, fondern in deutſcher Sprache geſchriebene deutſche Gram⸗
matif ift 3), und zweitens, weil es trotz der Wunderlichkeiten der
Ratich ſchen Methode doch einen achtungswerthen Anfang zur Her-
ftellung einer wirflichen deutſchen Elementargrammatit macht 4). —
Bon den übrigen Grammatilen unferes Zeitraums wollen wir bie
Deutihe Sprachkunſt des Tilemann Dlearius, Halle 1680,
den „Deutſcher Sprachlehre Entwurf‘ von Chriftian Gueing,
Eöthen 1641, und „Die Deutſche Grammatica oder Sprachkunſt“
des Johannes Girbert, Mülhauſen 1653, nur nennen, um
etwas länger bei dem bebeutendften beutihen Grammatiler bes
17. Jahrhunderts, Schottelius, verweilen zu können. Juſtus
Georgius Schottelius wurbe geboren im Jahr 1612 zu Eim-
bed, wo fein Vater Prediger war. Nachdem er die Schule zu
1) Muf der Bibfiotgek zu Göttingen. — 2) Bgl. z. V. feine Eintheil:
ung ber deutſchen Gonjugationen S. 27 fg., befonders ©. 88, XXL —
3) Icdelfamer’s Bücjlein nennt fih zwar eine deutſche Grammatit, ift aber
keine. S. o. S. 64. — 4) Bgl.4. B. bie praktiſche Unterſcheidung ber
Subſtantiva und Abjectiva ©. 8, IX u. X.
Die grammatiſche Behandlung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 73
Hibeseim und das Gymnafium zu Hamburg beſucht Hatte, gieng
er nad Holland und ftubierte von 1633 Bis 1636 zu Leiden ſchöne
Wiſſenſchaften und Jurisprudenz. Leiden war damals nicht nur
die erfte Hochſchule Europa's für Maffiige Philologie, fondern feine
großen Gelehrten nahmen zugleih den wärmften Antheil an bem
Auffchwung des niederländifhen Staats und ber niederländiſchen
Sprache; ja auch die Erforfäung ber älteren germanifden Spra-
sen hatte hier einen bemerkenswerthen Anfang genommen 1). Es
war deshalb für den Lebensgang des Schottelius nicht ohne Bes
deutung, daß er feine Univerfitätsftubien in Leiden machte und
daß Hier gerade Daniel Heinfius, der große Philolog und geachtete
hollandiſche Dichter 2), fein Hauptfäglichfter Lehrer wurde. Im J.
1636 gieng Schottelius zur Fortfegung feiner Stubien nad Wit
tenderg, von wo ihn im J. 1638 die Stürme des breißigjährigen
Kriegs nah Haufe trieben. In bemfelben Jahr noch berief ihn
Herzog Auguft von Braunſchweig, der Gründer ber berühmten
BVolfenbütteler Bibliothek, zum Erzieher feines Sohnes Anton
Ulrich. Schottelius blieb von da an im Dienft der braunſchwei⸗
giſchen Fürſten und ſtarb als Hof- Kanzley- und Kammerrath den
%. Oftober 1676 zu Wolfenbüttel 3).
Schottelius war einer der trefflihen Männer, die während
der traurigſten Zeit innerer Zerriſſenheit und ausländiſcher Ein-
miſchung nicht an der Zukunft ihres deutſchen Vaterlands verzwei⸗
felten und nach Kräften an deſſen Aufrichtung und innerer Stärk⸗
ung arbeiteten. Aus dieſem Geſichtspunkte haben wir feine lang⸗
jährigen Bemühmgen um bie deutſche Sprache vor allem zu be
ttachten. Sie find durdzogen von der tiefften Trauer über ben
politiſchen Zuftand Deutſchlands und von ber feiteften Zuverſicht
auf deſſen Tünftige Größe. Noch in einer feiner legten Schriften
)6&.u — 2) Schottelius rühmt ihn in der Ausführlichen Arbeit,
1663, ©. 86 fg., ©. 91, ©. 1169 als Dichter. — 3) Bgl. El. Cafp. Rei
Gerd, Verſuch einer Hiſtorie ber deutſchen Sprachkunſt, Hamburg 1747,
6.98 fg. — 8. H. Zörbens, Lericon deutſchet Dichter und Profaiften, 8.4
&ı 1809, ©. 614 fg.
74 Viertes Kapitel.
heißt es: „Reine Heersmacht in der gangen Welt wird ber Teut⸗
ſchen Heerstraft Abbruch können thun, jo fern die Teutſchen umter
einander eins und einanderreht meinen, wozu bilfig bie fonft
angeborne Treu und Reblicgfeit fie unzertrenlich ſollte veranlaffen“ 1).
Als Mitglied ber fruchtbringenden Geſellſchaft, in welcher er den
bezeichnenden Namen des Suchen den führte, begnügte er fih
nicht mit den mwohlgemeinten YWeußerlicleiten, fondern er ftrebte,
der Geſellſchaft und dem Vaterland durch raftlofe Bearbeitung ber
deuten Sprade Ehre und Vortheil zu Bringen. Er kennt fehr
wohl den engen Zufammenhang, in welchem das Gebeihen der
Mutterſprache mit dem Wohl des Staates fteht ?). Er ift des-
bald entrüftet über die Berunftaltung der deutſchen Sprache durch
das Einmengen unzähliger franzöfiiher und anderer Fremdwörter,
das gerade in feiner Zeit in fo erihredender Weife um fih griff,
und ſucht diefem Unheil nach Kräften zu fteuern 3). Doc ift er
bei all feinem berechtigten Eifern gegen diefe „Sprachverberberey“ +)
kein überfpannter Sprachreiniger, wie mande feiner Beitgenoffen,
fondern er vertheidigt die Beibehaltung gemiffer Fremdwörter, wie
Altar, Bifhof und dergleichen ©) gegen „die effelfuht und aus⸗
mufterung der jenigen, jo fein Teutſch, als was ihren Ohren nur
Teutſch Minget, zulaffen“ 6). „Jedoch, fügt er Hinzu, wird mit
nichten das a la modo parliven und bie eingeihobene almodo —
Lappmwörter oder das unnötig eingemengte Latein hierdurch ver⸗
ftanden“ 9). .
Es war für Schottelius nicht gleichgültig, daß er feinem
Lebensberuf nach Zurift war. Unter den Juriſten haben wir im
der erſten Hälfte des 17. Jahrhunderts die bebeutendften Förderer
der altveutjhen Spradftubien: Freher und Goldaſt, gefunden.
Aber auch andere Rechtsgelehrte in nicht geringer Zahl wurben
1) Horrendum Bellum Grammaticale, Braunfgweig 1673, ©. 68.
Dgl. ebend. ©.5. 8. 39, 43. 57. 59, 67. 68, 76. 91.— 2) Auefuhrliche Ar⸗
beit 1663, ©. 1453. Bgl. S. 1013. 149 fg, — 3) Ebend. ©. 1013,
1014. 1027 u, font oft. — 4) Ebend. S. 1018. — 5) Ebend. 6,455. —
6) Ebend. S. 1273. Bol. auch ©, 1245. 1248. 1250,
Die grammatiſche Behändlung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 75
mals dur ihre Studien auf die Unterſuchung altdeutſcher Rechts⸗
ausbrüde geführt. So Paul Matthias Wehner ') (f 1612),
Chriſtoph Befold 2) (F 1638), Joh. Gryphiander 9)
{f 1652), Joh. Jak. Speidel‘) (um 1640), Joh. Lim—
naeusd) (f 1665). Wie diefe, fo beſchäftigte fih auch Schotte»
fins mit der Unterſuchung eigenthümlicher deutſcher Rechtsgebräuche,
ala deren Frucht ev 1671 ein (beutihes) Wert De singularibus
qubusdam et antiquis in Germania juribus et observatis
herausgab. Diefe Beichäftigung mit den alten deutſchen Rechten
bradite es von feldft mit fi, daß er ſich auch um die Sprade, in
welcher die alten Mechtsquellen abgefaßt waren, kümmern mußte,
md fo erhob fich ſchon badurd feine Behandlung der deutſchen
Sprache über die Bemühungen jo mancher Pedanten feiner Zeit.
Schottelius hat die Früdte feiner germanifhen Studien in
einer ganzen Reihe von Schriften niedergelegt, von denen wir hier
natürlich mur die bebeutenberen namhaft machen fünnen. Er begann
mit einer „Teutſchen Sprachkunſt“, die im J. 1641 zu Braum-
ſchweig erſchien und im J. 1651 „zum anderen mahle* ebendafelbft
herauslam. Auf Grundlage diefer Bücher gab er dann fein großes
Hauptwert herans: Ausführliche Arbeit von der Teutſchen Haubt
Sprache, Braunſchweig 1663. Das Werk zerfällt, abgejehen von
einigen Beigaben, in fünf Bücher, von benen das erfte zehn „Lob-
reden von ber ubralten Teutjchen HaubtSprache” enthält, dag zweite
bie „Wortforfhung der Teutſchen Sprache”, das dritte die „Wort
fügung” (Syntaxis), das vierte die „Teutſche Verskunſt“, endlich
das fünfte fieben verſchiedene „Zractate*, unter denen wir nur ben
von den „Sprichwörtern der Teutſchen“ und ben von den „Stamm-
1) Practicarum juris observationum liber singularis, neu fer. von
Ih. Gäilter, Argentor. 1785. — 2) Thesaurus practicas, Tubing.
1629, meu Her. von Chriſtoph Ludw. Dietherr, Norimb. 1679. — 8) De
Weichbildis Saxonis, Francof. 1625. — 4) Speculum juridico - poli-
tieo - philologico- historicarum observationum ete. Norimb, 1657. —
5) De jure publioo imperii Romano Germaniei tomi tres, Argentor.
1645,
76 Viertes Kapitel.
wörtern der Teutſchen Sprache nebft ihrer Erflärung” hervorheben
wollen. Den Abſchluß feiner grammatiſchen Thätigfeit machte
Schottelius mit zwei ohne feinen Namen erſchienenen MHeineren
Schriften. Die erfte derfelben iſt eine eigenthümliche geiſtreich
humoriſtiſche Dichtung, in welder er feine politifgen und gramma-
tiſchen Gedanken miteinander verſchmilzt und welcher er den Titel
gab: „Horrendum Bellum Grammaticale Teutonum antiquis-
simorum Wunderbarer Ausführlicher Bericht, Welcher geſtalt Bor
Tänger als Zwey Tauſend Jahren in dem alten Teutſchlande das
Sprad-Regiment gründlich verfaffet geweſen: Hernach aber, Wie
durch Mistrauen und Uneinigteit ber uhralten Teutſchen Sprach⸗
Negenten ein graufamer Krieg, famt vielem Unheil entftanden,
daher guten Theils noch jeko rühren Die, in unfer Teutſchen
Mutter Sprache vorhandene Mundarten, Unarten, Wortmängel“
Braunſchweig 1673. Die letzte Schrift des Schottelius war ein
Heiner Auszug aus feinem großen Hauptwerk, eine „Sure und
gründlige Anleitung Zu ber NehtSchreibung Und zu der Wort-
Forihung In der Teutihen Sprade. Für die Jugend in ben
Säulen, und fonft überall nüglih und dienlich.“ Braunſchweig
1676.
Bel der Beurtheilung von Schottel's Leiftungen müſſen wir
zwei Gefihtspunfte wohl auseinanderhalten. Cinerfeits nämlich
bilden die Arbeiten desfelben ein wichtiges Glied in der Reihe der
Grammatifer, welde unfere Schriftipradie feftgeftellt haben, und
andrerſeits befafien fie fi zugleich mit der gelehrten Unterfuhung
der Sprachgeſchichte. Iu erfterer Beziehung ſetzt Schottelius bie
Beftrebungen des Delinger, bes Albertus, des Clajus fort. Er
Tennt deren deutſche Grammatiten 1), aber er weiß auch, daß die
Aufgabe, die er fich felbft ſtellt, eine viel umfaffendere iſt 2). Ex ſchließt
fi nämlich mit klarem Bewußtſein dem antiten Begriff der Gram⸗
matik an, wie ihn Gerhard Voſſius, „der Hochgelahrte Mann“,
1) Delinger, ſ. Schottelius Ausfügel. Arbeit ©. 4. Oſtrofrank, ebend. ©. 4.
1183. Clajus ©. 4. 1204. Auch Icelfamer kennt er, ebend. ©. 4. 19
59. — 2) Schottelius Ausfühel. Arbeit S. 1188 fg.
Die grammatiſche Behandlung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 77
in feinem Wert de arte grammatica entwidelt hatte‘). Was
die griechifgen Grammatifer ben Griechen, bie lateiniſchen ben
Römern gewefen waren, das wollte er ben Deutjden fein. Er
femt den Streit der antifen Grammatiker über Analogie und
Anomalie umd fucht, für ſich felbft einen haltbaren Standpunkt in
diefer Grumdfrage zu gewinnen, indem er ben „guten Gebrauch“
von der „mißbräuchlichen Verfälſchung“ unterſcheidet 2). Ueberall
aber ſetzt er ſich die Feſtſtellung der „Hochteutſchen Sprache oder
der rechten Hochteutſchen Mundart” 5) zum Ziel. „Die Hod-
teutſche Sprade, fagt er, bavon wir Handelen und worauff dieſes
Bud) zielet, ift nicht ein Dialeotus eigentlich, fondern Lingua ipsa
Germanica, sicut viri docti, sapientes et periti eam tandem
receperunt et usurpant“‘). Dieſe lingua ipss Germanica ift
nun keineswegs ex usu zu erlernen 5); vielmehr muß „die Mutter»
ſprache nicht in der alltäglichen ungewiffen Gewonheit, fonderen in
kanftmöffigen Lehrfägen und gründlicher Anleitung feit beftehen“ ©).
Wie ein fefter ausgepfälter Grund ift der einige gewiſſe Aufent»
halt eines Gebäues, aljo ift gleichfals die Grammatica die Seule
und Grundfeſte, worauf jeber Sprache Kunftgebäu beruhen und
richtigen ſicheren Aufenthalt haben muß: Hat fi aud feine
Spradie eintziger kunſtmäſſigen Gemisheit und völligen Vermögens
zrũhmen, noch höher zufteigen erkühnen Tünnen, es fey denn, daß
fie durch untriegliche Staffelen der Grammatic den rechten Anfang
und Grund angewiefen Habe“ 7). So ift es mit dem Griechiſchen und
bateiniſchen gegangen, und fo muß und wird es aud) mit bem Deut-
füen gehen. Denn „bie befreyete unacht und unbetrachtete Unges
wißheit thut der Teutſchen Sprache wol ben gröffeiten Schaben
und Wiberftand, daß fie bishero zu Feiner völligen, feften Ehren⸗
Raffel, gleich anderen Haubtſprachen, Bat gelangen mögen“ ®),
Man wird das Richtige in biefen Anſichten nicht verfennen. Es
galt, die deutſche Schriftiprage zu einer grammatiih feft abge⸗
1) Eend. S. 141. 177. — 2) hend. &.9 fg. — 3) Ebend,
6.174,7. — 4) Ebend. ©. 174, 8. — 5) Ebend. ©. 1458. —
9) Ebenb, ©. 148. — 7) Ebend. ©. 178. — 8) Ebend. ©. 167.
78 Biertes Kapitel.
grängten zu erheben, wie dies bei allen völlig entwidelten Schrift-
ſprachen der Fall geweſen ift. Längft vor Gottſched und Adelung
hat Schottelius dies Ziel mit klarem Bewußtſein in's Auge
gefaßt und nicht mit Unrecht ift er von ber Wichtigkeit desſelben
durchdrungen. Aber man bemerkt auch leicht die Gefahr, welche
diefe Anſicht von der Sprade einfeitig aufgefaßt mit fih führen
mußte. Die unmittelbaren, ſchöpferiſchen Quellen der Sprache
werben verfannt. Was nicht durch bewußte Thätigkeit „in Funft-
mäfjige Gewisheit gejegt ift”, wird mit wegwerfender Verachtung
als „Pöbelgebrauch“ bezeichnet 1). Woher foll da die richtige Ein-
fiht in die wahre Entwidlung der Sprahe kommen? Schottelius
war aud wirflid weit entfernt von einer ſolchen Einfiät, und wenn
er nichtsdeſtoweniger ſich mit Liebe den alten Sprachdenkmalen
zuwendet, fo geichieht e3, weil fein von Natur gefunder Sinn jenen
verfehrten Anfihten die Waage hält. Er freut fih innig an ven
„fühlen Geheimnüffen der Spraden“ 2). „Was ift nebenft andern
Geheimniffen der Göttlihen Gaben, welde das Menihlihe Ge
müßt befiget, fagt er, mol herrlicher als die innerfte Erkenntniß
der Sprachen“ 2). „Die Rede als der allerköftlichfte Cha und
höchſtkünſtliche Exrflärerinn der Vernunft ift nur des Menſchen
Eigentuhm, und fie ift eine geordnete, fi fügende und deutende
Stimm, darin, wie in einem Spiegel das Geſichte, aljo unſer Ge
müßt und Her Tan erfant werben” 2). Mit befonderer Bor-
liebe fammelt und behandelt Schottelius die Sprüchwörter, „nach⸗
denflihe, mit wenig viel Dinges in fi enthaltene Redarten“ 4),
wie er fagt. Er rühmt „die gar alten Teutſchen Schriften glei
dem alten Silber in einer Erbſchaft, welches man deswegen nicht
weg wirft, weil das Geſchirr daraus gemacht uns unbräuchlich oder
zum itzigen austrinfen unbequem ſcheinet, fondern man verwahret
foldjes alte Silber oder Ieffet daraus etwas neues, blanles, ſchönes
und igiger Manier gemeßes verfertigen“ 5). Gr fammelt alte
y Em. 6.18. Bl. 6.158. — 2) Em. S. 74. —
8) Ebend. ©. 1109. — 4) Ebend. ©, 1102. — 5) Ebend. ©. 1998,
Die graumatiſche Behandlung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 79
deutfhe Wörter aus den alten Gefegen und fucht fie zu erflären?).
& ift, wie er fagt, in feinem Werk „nicht allein ein Anzahl vieler
taufend ſchöner Wörter hervorgebracht, fondern auch fo manmgig-
faltige Erflärung und Andeutung, fo bie gange Sprahe und das
alte Teutfche Wefen angehet, geihehen, daß unſchwer daher zu ver⸗
nünfftigen, wie viel vornefme alte und neue Schriften und Bücher
haben müffen burchgelefen, und was hie nötig, gefamlet werden“ 2).
Und wirklich hat er fih aud in den altdeutſchen Schriften, fo weit
fie damals zugänglich) waren‘, fleißig umgefehen. Er lennt nicht
nur die alten Rechtsbücher, fondern aud die Dichter find ihm nicht :
fremd. Er beruft ſich auf das Heldenbuch®), auf Goldaſt's Aus-
gabe des Königs Tirolt) und des Wiesbelen und der Wieshefind).
& kennt den Otfrid und bemußt ihn im ber Ausgabe von
15719. Er beruft fih auf Willeram ) und kennt die Ausgabe
von 15988) und die Noten des Franciscus Yunius zum Wille
ram). Mit befonderer Vorliebe bezieht er fi auf das Nie
derdeutſche. „Die Niederſächſiſche oder Niederteutſche Sprache,
meint ex, als worin das Altertuhm gutenteihls unverendert ge⸗
blieben, muß bei Erklärung (altdeutſcher Wörter) gemeiniglih das
befte tuhn, die ausgeſchliffene Sigmatifirende Hochteutihe Mundart
trit von der ber alten Geltifchen Ausrede weiter ab“ 10) „Otfridus,
Willeramus und viele andere, als anfängere des alten Fränkiſchen
(ternach per seculs nad; gerade ausgefchliffenen und genanten
Hochteutſchen) Dinlecti, haben angefangen, fih des zz, 6, B an
flat des t oder d — zubedienen“ 1), Ja au das Altnordiſche
md die beginnende Forihung der ſtandinaviſchen Gelehrten läßt
Schottelius nicht unbeachtet. Er bezieht fih auf Dlaus Wor-
1) Gbend. S. 688 fg. — 2) Ebend. ©. 178. Bol. auch S. 5. —
9) Cbend. ©. 1198. 1184. — 4) Ebend. ©. 1196 fg. Bol. ©. 110. —
5) Cbeub. ©. 1021 fg. 1196. — 6) Ebend. DI. 9. ©. 42. 43. 98. 145.
132.119. — 7) Ebend. 6.48. 152. — 8) Eben. S. 1170. —
9) Chend. S. 1037. — 10) Ebend. ©. 690. Mt. 157 fg. — 11) Ebend.
6.152,
80 Viertes Kapitel,
mins 1), auf Arngrimus Yonas ?) und Andere und theilt das
Baterunfer in islandiſcher, ſchwediſcher, däniſcher und norwegiſcher
Sprache mit ). Er erwähnt der Runen und gibt auf Grundlage
feiner fandinavifhen Gewährsmänner eine Abbildung derſelben *).
Eine weſentliche Lũcke aber bildet bei Schottelius, daß ihm das Go⸗
thiſche noch fo gut wie unbelannt iſt. Zwar iſt ihm das Wenige,
was man im Jahr 1663, als er fein Hauptwerk herausgab, vom
Gothiſchen wiffen konnte, nicht entgangen. Er kennt die Schrift
des Bonaventura Vulcanius de literis et lingus Gothorum 5);
aber das Lit, das diefe Meine Schrift aufftedte, war fo gering,
daß Schottelius noch ſagt: Ulphilas, ein Gotiſcher Biſchof, foll
die Heilige Schrift in die Teutſche Sprache gebracht haben ©), und
daß er an einer anderen Stelle das Gothiſche und das Altnor-
diſche durcheinanderwirrt 7).
Fragen wir nun, was Schottelius auf Grundlage dieſer Kennt⸗
niffe für die Erforſchung ber deutſchen Sprache geleiftet hat, fo
wollen wir nicht Yäugnen, daß er mande ganz richtige Blide ge-
than und feine Anfichten mit großem Fleiß ausgeführt habe. So
iſt z. B., was er über die deutſche Wortbildung, und insbejondere,
was er im Anſchluß an den holländiſchen Mathematiker Stevinus,
über die große Fähigkeit der germaniſchen Spraden, Compofita zu
bilden, jagt, aller Anerkennung werth ®). Wie weit aber Schotter
lius noch entfernt war von einer richtigen Erkenntniß des deutſchen
Sprachbaus, dafür wollen wir nur zwei Umftände anführen. Was
das Genus ber deutſchen Wörter Betrifft, fo begnügt er ſich,
einige wenige Regeln vorauszufciden, und dann führt er bie
Wörter nad) ihren Endbuchſtaben auf ). Die deutſchen Verba aber
1) Ebend. ©. 53. 1024. 1162 fg. — 2) Ebend. €. 56. 1024. —
8) Ebend. ©. 130. — 4) In der 2. Ausgabe der Teutſchen Sprachtunſt,
Vraunſchweig 1651, ©. 111; im der Ausfühelichen Arbeit 1668 fehlt bie
Tafel. — 5) Ebend. €. 56. — 6) Ebend. S. 48, — 7) Ebend. 6.54.
8) Ebend. ©. 72 fg. 398 fg. Stevin's Anficht eb. ©. 409. Auch außer:
dem begießt fi) Schottelius nicht felten auf jenen patriotiſchen holländiſchen
Seleprten. Vol. 4.8. ©. 12. 41. 55. 61. 98. 1167. 1975. — 9) Gbend.
S. 209 fg. Up. 8. ©. 281.
Die grammatifche Behandlung der deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 81
vertheilt er unter zwei Konjugationen: „die gleichflieffende (Regu-
laris) und ungleichflieſſende (Irregularis) oder „die ordentliche und
mordentliche" 1). Bon den „ungleichflieſſenden“, d. h. ſtarken Zeit
wörtern aber fagt er, daß man ihre „Formirung nicht Teichtlich in
liche Lehrſätze faſſen könne“ 2), und begnügt fi dann, fie in al»
phabetiſcher Meihenfolge aufzuführen 3).
In Bezug auf die geſchichtliche Erforſchung der deutfhen Sprache
iſt es ſchon ſehr ehrenwerth, daß Schottelius ſich mit nicht geringem
Aufwand von Fleiß auf eine Geſchichte der deutſchen Sprache ein⸗
gt‘). Er theilt fie in fünf „Denkzeiten oder Epochas.“ Die
erſte berfelden beginnt mit der „anfänglichen Bildung der Teutſchen
Wörter“, die zweite mit Karl dem Großen, bie britte mit Rudolf
von Habsburg, die vierte mit Luther, endlich die fünfte und letzte
Dentzeit „möchte auf die Jahre einfallen, darin das aufländifche
werberbende Lapp⸗ und Flikweſen fünte von ber Teutſchen Sprade
abgefehret, und fie in ihrem veinlichen angebornen Schmuffe und
Leuſchheit erhalten, auch darin zugleich die rechten durchgehende
Gründe und Kunftwege alſo künten gelegt und beliebet, aud ein
völliges Wörterbuch verfertiget werben, daß man gemähli bie
Kinfte und Wiſſenſchaften in der Mutterfpradie Iefen, verftehen
und hören möchte” 5), Auch zeigt Schottelins eine anerkenneng-
werthe Einfiht in das Hervorwachſen des deutſchen Wortſchatzes
aus den Stammmörtern der Sprache‘), und es gereicht ihm zum
Lobe, daß ef den Verſuch macht, die Stammwörter der deutſchen
Sprade zu fammeln?). Aber auf welcher Stufe feine ganze Sprach⸗
forſchung noch ftand und wie völlig fremd ihm die richtige Erkennt
1) Ebend. ©. 549. Bel. S. 160. — 2) Ebend. ©. 569. — 3) Ebend.
5. 578 fg. Merlwürdigerweiſe bedient fi Schottelius einmal für die ſtarken
Berba des Ausdrude „ungleiäflieffend und ablautend“ (Bellum gramma-
tieale 1673, ©. 48). Aber in berfelben Schrift if S. 90 bie Rebe von
„Ungewisheit des Ablaut“, und ebenda heißt es mit ſcharfem Tadel: „daß
mar fo unartig, ablautend und übel fprehen und ausreben müſſen.“ Bei—
des nicht mit Beziehung auf die flarfen Berba, aber der von biefen gebrauchte:
Ausorud findet dadurch feine Erläuterung. — 4) Ausführlige Arbeit 1608,
6.27. — 5) Ebend. ©. 49. — 6) Ebend. S. 68. — Den ©. 1269 fg.
Ruumer, Gef. der germ. Philelodie.
82 Biertes Kapitel.
niß der deutſchen Spradentwidlung war, das wird fi aus bem
Folgenden zur Genüge ergeben. „Die uhralte Celtiſche oder Teul-
fe" Sprache ) ift das, movon der Verfaffer bei feinen geſchicht⸗
lien Erörterungen überall ausgeht. Diefe „Celtiſche oder alte
Teutſche Sprache“, ſagt er, „hat vielerlei Mundarten, jo haubtjad-
lich geteihlet werden in Abſtimmige, darin zwar bie Teutſchen Ge⸗
ſchlechtwörter, Hülfwörter, Stammwörter und alſo die Teutſche
Eigenſchaft befindlich, dennoch aber wegen der Ausrede, Berftüm-
melung und unfentlih Machung der Teutſchen und Einmengung
der frömden Wörter faſt abſtimmig von jetziger Teutſchen Sprache
ſcheinen, wiewol doch Ankunft, Grund und Weſen Teutſch annoch
iſt und bleibet, als da ſind die Isländiſche, Norwegiſche, Däniſche,
Schwediſche, Engliſche, Schottiſche, Walliſche, Altgotiſche, ſo annoch
in Taurica Chersoneso vorhanden?), Und Zuſtimmige“, nämlich
Hodhteutſche“, d. i. oeſterreichiſche, bayeriſche u. ſ. f., und Nieder
teutſche, d. i. niederländiſche, frieſiſche, Holfteinifge u. f. f. ®).
Man erkennt an diefem Stammbaum leicht, wie weit die Ein-
fiht des Schottelius veichte, und wie unrichtig und verworren
feine Vorftellungen über die älteren ımb über die auferbeut-
{den Sprachen waren. Das, worauf es ihm num weiter vor
allem ankommt, iſt, zu zeigen, daß „unfere itzige Teutſche
Sprache eben dieſelbe uhralte weltweite Teutſche Sprade ift, ob fie
ſchon durch mildeften Segen des Himmels zu einer mehr prächtigen
Zier und Vollkommenheit gerahten ift"*). Wenn er Dies in Bezug
auf althochdeutſche und altniederdeutſche Wörter geltend macht ), fo
bat er ja, die Sache richtig verftanden, nicht Unrecht. Aber wie
denkt ſich Schottelius die Sache? Er weiß recht wohl, daß die
deutſchen Wörter, namentlich in Bezug auf ihre Endungen, zur
Zeit Karl's des Großen ſehr anders ausgefehen haben als im 17.
Jahrhundert 6). Er findet dort on und an ftatt em und dergleichen
1) Ebend. ©.34. 54. 56. 140, 151. 152. 1453. — 2) Scottelius Tennt
bie Nachricht des Busbequius. S. Ausführlige Arbeit 1663, ©. 182, —
3) Ebend. ©, 154. — 4) Ebend. S. 48. — 5) Ebend. S. 47. — 6) Ebend.
©. 43, 152.
Die grammatiſche Behandlung ber deutſchen Sprache bis zum Jahr 1665. 88 ,
mehr. Da nimmt er nun alles Ernftes an, daß die verfümmerten
neuhochdeutſchen Formen bie uralten regelrechten feien, von denen
man fih nur aus Ungeſchick, aus Unachtſamkeit und Geihmadlofig-
keit), zum Theil auch aus Nachahmung bes Lateinifchen 2) entfernt
habe. „in den alterälteften Geſchriften und Reimereien“, fagt er,
nimt man diefes war, daß nach Belieben und Einfällen die Wür-
ter find geendigt“ 3). In feinem Bellum grammaticale führt er
dies weiter aus. Da theilt er zum Beleg vier Zeilen aus Otfried
mit und fährt dann fort: „Diejes ift ja Mar und unftreitig Teutſch,
aber durch Unart und Unadt der Mundarten beftäubert und er-
frömdet, Dan Allo ziti thio tho zin heiſſet recht und nun⸗
mer wieder alle Zeit die da fein“4) Und dies Letzte
ſchtieb Schottelius, als bereits durch die Wiederauffindung und
Herausgabe bes gothiſchen Cober argenteus eine neue Epoche für
die Erforf gung der deutſchen Sprache angebrochen war. Aber er
hatte damals bereits mit feinen Anficten abgeſchloſſen, und ver⸗
funfen in anderweitige, namentlich theologiſche Studien Hat er, wie
8 ſcheint, von jener epochemachenden Entdecung feine Einwirkung
mehr erfahren. Wir fagen dies Alles nicht, um ben trefflichen
Mann herabzufegen, fondern um recht einleuchtend zu zeigen, wie
mit Franciscus Junius und der Herausgabe des Ulfilas ein neuer
Zeitraum für die germanifhe Sprachforſchung beginnt.
Sünftes Kapitel.
Die lexilaliſche Bearbeitung der deutſchen Sprache biß zum Jahr
1665.
Schon in der althochbeutichen Periode gab es zahlreiche Iatei-
niſch⸗ deutſche Wörterbücher, die einen Theil der fogenannten Gloſ-
fen Bilden, und dieſe lexikographiſche Thätigkeit ſetzt ſich fort durch
1) Ebend. ©: 43. 152. — 2) Ebend. ©. 43. — 3) Ebend. ©. 175.—
4) Horrendum bellum grammaticale 1673, ©. 88.
6*
84 Fünftes Kapitel.
das ganze Mittelalter bis in den Anfang der neueren Zeit. Nach
Erfindung der Bucdruderkunit erſcheinen in der zweiten Hälfte des
15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts eine Menge folder
Vocabularien im Drud '). Ya auch deutſch-lateiniſche Wörter
bücher der Art gab es damals ſchon in ziemlicher Anzahl. Dahin
gehört z. B. der 1482 zu Nürnberg erſchienene Vocabularius
theutonicus in quo vulgares dictiones ordine alphabetico
preponuntur et latini termini ipsas direete significantes se-
quuntur 2). Aber alle dieſe Bücher haben im Grunde mit ber
deutſchen Philologie nichts zu thun. Sie können dem Germaniften
ſehr reichhaltige Aufſchlüſſe geben; aber ihre Verfaſſer Hatten nicht die
Abſicht, den deutſchen Sprachſchatz zu verzeichnen, fondern ihr ganzes
Streben gieng nur dahin, ein Hülfsmittel zum Verſtändniß bes
Lateinifhen zu bieten. Wir müſſen diefe beiden Seiten wohl un⸗
terfeiden, wenn wir eine richtige Einfiht in die Entwidlung der
deutſchen Lerifographie bekommen wollen. Der nädfte Schritt, der
in der erften Hälfte des 16. Jahrhunderts gemacht wurde, hat es
nämlid gleichfalls noch nicht auf ein Wörterbuch ber deutſchen
Sprade abgefehen. Es foll vielmehr nur an die Stelle des bar-
bariſchen Lateins ber bisherigen Vocabularien echtes antik laſſiſches
Latein gefegt werden, fo daß der Benuger mit Hülfe bes Tateinifch-
deutſchen Wörterbuchs die alten Klaffiter verftehen, mit Hülfe des
deutſch⸗ lateiniſchen fi felbft einen guten lateiniſchen Ausdruck an-
eignen kann. In diefe Klaſſe von Büchern gehört das Dictiona-
rium Latinogermanicum und das dazu gehörige Dietionarium
Germanicolatinum, welches ber im J. 1559 verftorbene Lehrer des
Griechiſchen zu Strakburg?) Petrus Dafypobius im J. 1536
herausgab. Daß er es in beiden Theilen auf das Lateinifhe ab-
gefehen hat, ergibt fih aus der Vorrede des Berfaffers zur Genüge.
Dagegen macht den entſcheidenden Fortſchritt zu einem wirklichen
1) ®gl. Laur. Diefenbach, Glossarium Latino-Germanicum me-
diae et infimae aetatis, Francof. 1857, p. XVI »q. — 2) Auf ber
Münchener Hof> und Staalsbibliothel in mehreren Cremplaren vorhanden. —
3) G. Matth. König, Bibliotheca vetus et nova, Altdorfi 1678, I, 236.
Die lexilaliſche Bearbeitung ber deutſchen Sprache Bis zum Jahr 1665. 86
Wörterbuch der deut ſchen Sprache der Züricher Joſua Maaler
Eiotorius) in feinem Wert: Die Teütſch ſpraach. Alle wörter,
namen, vñ arten zů reden in Hochteütſcher ſpraach, den 1 BE
nad ordentlich geſtellt, vnnd mit gütem Latein gantz fleiſſig vnnd
eigentlich vertolmetſcht, dergleychen bißhaͤr nie geſaͤhen, Durch Joſua
Maaler burger zu Zürich. Dietionarium Germanicolatinum no-
vum. Hoc est, Linguae Teutonicae, superioris praesertim,
thesaurus, — Tiguri 1561. Der Berfaffer, Pfarrer zu Elgau !)
im Zürider Gebiet, wurde von Conrad Gesner veranlaft, das
1556 zu Züri erſchienene lateiniſch-deutſche Dictionarium des
Joh. Friſius zu einem alphabetiſch geordneten deutſchen Sprach⸗
ſchatz umzuarbeiten. Das beigefügte Latein ſollte freilich auch hier
zugleich dem Lateinſchreibenden eine gute Ueberſetzung der deutſchen
Redeweifen an die Hand geben; die eigentliche Abſicht aber gieng
auf eine Sammlung des deutſchen Wortſchatzes. In der gehalt-
reichen Vorrede, die Conrad Gesner dem Werke Hinzufügte, fagt
a, in einem Geſpräch zwifchen ihm und Friſius, dem auch Pic-
terius beimohnte, fei die Rede auf die lebenden Sprachen Euro:
pa's gefommen, und ba hätten die Unterredenden bemerkt, wie viel
die den Deutſchen benachbarten Völker: die Franzoſen, Italiener
und Engländer, für Verſchönerung und Bereicherung ihrer Spra-
sen thäten, und daß fie reichhaltige Wörterbücher derſelben ber
fähen, in denen wohl geordnet die einzelnen Ausbrüde, ihre An-
wendung und Bebentung, und ebenfo die Redensarten erklärt wür-
ten. „Da empfanden wir es ſchmerzlich“, fährt Gesner fort, „daß
unſtem Deutjhland ein Mann fehle, der dasfelbe für unfere Sprache
leiftete.“ So veranlafiten fie den Pictorius, ſich dieſer Arbeit zu
mterziehen. Wie fehr dabei das Deutſche im Vordergrund fand,
fieht mar unter Anderem auch daraus, daß der. Verfafler nicht bloß
der einheimifchen Jugend, fondern au ben Fremden: Franzoſen,
Yalienern und Engländern, zur Erlernung der deutſchen Sprache
behülflich jein wollte?). Um ſich zu überzeugen, daß Maaler’s
1) Elgovium, Maaler's Widmung, und Gesner's Praef. — 2) ©.
die Vidmung Maaler’s.
86 Fünftes Kapitel.
Unternehmen wirflid ein neues war, „bergleichen bisher nie geſehen,“
braucht man es nur mit dem vorangehenden deutfch - Tnteinijchen
Wörterbuch des Dafypodius zu vergleihen ). — Was Joſua
Maaler begonnen Hatte, das ſuchte ein halbes Jahrhundert fpäter
Georg Henifc in viel größerem Umfang auszuführen. Geboren
zu Bartfelven 2) in Ungarn im J. 1549, wurde Henifh 1576 zu
Bafel Doctor der Mebicin und in demfelben Jahr Profeſſor ber
Logik und Mathematit am Gymnaſium zu Augsburg. Hier wirkte
er 518 zu feinem am 31. Mai 1618 erfolgten Tod als Lehrer,
BVorftand des Gymnafiums und Mitglied des mediciniſchen Colle-
glums 3). Heniſch gab eine große Zahl klaſſiſch⸗philologiſcher und
mathematiſch⸗ aftronomifher Schriften Heraus. Was aber feinem
Namen vor allem einen ehrenvolfen Platz in der Geſchichte der Ge-
Iehrfamleit fihert, ift fein umfangreiches Werl: Teütſche Sprad
vnd Weißheit. Thesaurus linguae et sapientiae Germanicae. —
Pars prima. Augustae Vindelicorum 1616. Mit Recht kann
Heniſch in der lateiniſch gefhriebenen Widmung an bie Stände von
Ober⸗ und Niederoefterreih jagen, daß fein Buch fein gewöhnliches
Dictionarium fei, woraus man nur bie Bedeutung ber einzelnen
Wörter entnehmen könne, fondern ein Wert reicher und vollfom-
mener als alle übrigen Lexila. Denn es enthalte nicht bloß bie
gewöhnlichen Wörter, jondern aud bie feltenen und feltenften, die
in anderen ähnlichen Büchern vermißt würden. Ueberdies Iehre es,
bie Wörter auf die Dinge feldft anwenden, fo daß bie Dinge in
Worte übergiengen. Auch fei das Buch nach einer ſolchen Methode
geſchrieben, daß nod niemand es in dieſer Folge verſucht habe.
Denn die einzelnen Wörter hätten neben fi ihre Synonyma,
Derivate, Epitheta, Phrafes, Sprühmörter und geiftreihe Aus-
ſprüche weifer Deutfcher ſowohl aus ber Vergangenheit, als aus
1) Man vgl. 3. B. ben reichhaltigen Artikel Burger und beffen Ableit:
ungen bei Maaler mit benfelben Wörtern bei Dafypodius. — 2) »Bart-
phae in Hungaria«, fagt Heniſch felbft auf ber Tepten Seite feiner Dedica-
tion. — 3) Jocher. Vgl. die Nachrichten, die Henifh ſelbſt am Schluß
feiner Widmung über fein Leben gibt.
Die lerifalifhe Bearbeitung der deuten Sprache bis zum Jahr 1665. 87
der Gegenwart. Und was ber Verfaffer hier verfpricht, das hält
er redlich in der Ausführung. Sein Werk ift neben allem Anderen
ein wahrer Schag von Sprüchwörtern und ſprüchwörtlichen Redens⸗
arten‘). Daß er in dem eigentlih Sprachwiſſenſchaftlichen, zumal
in der Etymologie auf dem noch fehr unvollfommenen Standpunkt
feiner Zeit fteht, wird man ihm nicht zum Vorwurf machen. Leir
der ift fein reichhaltiges Werk unvollendet geblieben. Der alfein
erihienene erfte Theil, ein Folioband von 1875 Spalten, umfaßt
mm die Buchſtaben A bis G. Zwei Jahr nad defien Erjcheinen,
am 31. Mai 1618, ftarb der Verfaſſer, und in demſelben Jahr
brach der verwüftende breißigjährige Krieg aus, der auf lange hin
derartigen Unternehmungen ein Ende machte.
Einerfeits mit der Lerilographie, andrerſeits mit der Gram-
matil in nächfter Beziehung ftehen die Schriften, die fi mit der
Etymologie der beutihen Sprache beichäftigen. Wir haben in die-
ſem und den vorangehenden Abſchnitten ſchon öfter der gelegentlichen
Bemühungen um die Ableitung der deutſchen Wörter gedacht, und
wollen Hier nur noch einige Schriften erwähnen, bie fi ausſchließ⸗
fi, mit der beutfchen Etymologie beſchäftigen ). Die erfte: Origi-
nes dietionum germanicarum, erjdienen 1620, rührte her von
dem Meflenburger Andreas Helwig (F 1643) und ſuchte auf
tie damalige Weife die deutſchen Wörter aus dem Lateiniſchen,
Griechiſchen und Hebräifchen abzuleiten 3). Die andere: Ars ety-
mologiea Teutonum e philosophiae fontibus derivata, er-
idienen zu Duisburg 1663, Hatte zum Verfaffer den ſcharfſinnigen
Cortefianer Johannes Clauberg (geb. 1622 zu Solingen, geft.
als Prof. der Philofophie und Theologie zu Duisburg 1665) 9.
D) Bgl. 4. ©. das Wort „arm“ Sp. 108—118, oder das Wort „Gott“
Ep. 1688 — 1716. — 2) Wegen einer Menge anderweitiger Schriften mag
wan Edharl’8 Historia studii etymologiei etc. nachſehen. — 3) Bgl.
Clauberg'$ Ars etymologica in Leibniz’ Collectanea etymologicn, Ha-
zoverse 1717, p. 210 sq. — 4) Bgl. die Auszüge aus Clauberg’s Leben
von Henninius bei Reichard, Verſuch einer Hiftorie der deutſchen Sprachtunſt,
Sunhurg 1747, ©. Ai fg.
88 Sechſies Kapitel.
Clauberg war nit nur ein geübter Denker, fondern er hatte ſich
auch mit wahrem Verftändniß auf das Studium ber deutſchen
Sprade geworfen, und fo enthält feine Heine Schrift neben man⸗
chem BVerfehlten eine Reihe gejunder Gedanken und Ausführungen
über deutſche Etymologie ).
Sechſtes Kapitel.
Die Anfänge ber germanifen Philologie in den Niederlanden,
in England und in Stanbinabien.
1. Die Anfänge der germanifhen Philologie in den Hiederlanden bis auf
. Frauciscus Iunius.
Bevor wir die Geſchichte der germanischen Philologie innerhalb
Deutſchlands weiterführen, müſſen wir einen Blick werfen auf das,
was unter den übrigen germaniſchen Völkern bis gegen das Jahr
1665 für unfre Wiſſenſchaft geleiftet worden ift Wir beginnen
mit den Niederlanden. Man wird vielleicht fragen, warum wir
nicht die Leiftungen der Niederländer gerade fo, wie die der Schwei—
zer, den Arbeiten der Deutfchen beizählen. Aber das Verhältniß
ift in der That ein ganz verſchiedenes. Die Schweizer ſtehen mit
den übrigen Deutſchen auf dem Boden einer und derſelben Schrift-
ſprache, dagegen haben die Niederländer fi auf Grundlage ihrer
Mundarten eine befondere Schriftſprache gebildet. So find fie,
obwohl die nädften Berwandten der Deutihen, doch ein von
diefen verſchiedenes Voll. Dies tritt uns gerade bei unferem
Gegenftand recht Mar entgegen. Die Entwidlung der nieder
ländifhen Schriftſprache geht ihren befonderen Gang. Sie hat
ihre eigenen Grammatifer und Lerifographen, jo wie die deutſche
die ihrigen. "Nun werben wir zwar in diefem Werk die Aus-
bildung der außerdeutihen Schriftſprachen nicht weiter verfolgen.
1) Die Schrift ift wieder abgebrudt in den von Edhart herausgegebenen
Colleotanea etymologica bes Leibniz, Hanov. 1717. gl. bort befonbers
das ©. 191 Über bie Ableitung des Wortes Vernunft Gefagte.
Tie Anfänge der germ. Phil. in den Niederl, in Engl. u. in Sfandinavien. 89
Her auch auf die Erforfhung der älteren Sprache äußert die
KRüdfiht auf die eigene Mutterſprache den weſentlichſten Einfluß,
wie wir dies ganz Mar bei den Engländern und Skandinaviern,
aber auch deutlich genug hei den Niederländern wahrnehmen. Die
germanijche Sprachforſchung beginnt bei den Niederländern in der
weiten Hälfte des 16. Jahrhunderts 1), und zwar fehen wir fie
anfänglich ebenfo in ben ſüdlichen wie in den nördlichen Niederlan-
den ihren Sig aufſchlagen. Ihr ältefter Vertreter: Johannes
Goropius Becanus, war freilich einer der feltfamften Käuze,
de fih je mit Sprachforſchung abgegeben haben. Geboren im
% 1518 in dem Dorfe Gorp ftubierte er Medicin, gab dann aber
eine glänzende mebicinifhe Praxis auf, um fi ganz der Erforſch⸗
ung der vaterländiſchen Sprache und des vaterländifchen Alterthums
zu widmen. Er lebte meift zu Antwerpen und ftarb 1572 zu
Maastricht. Seine vermeintlichen Entdedungen legte er in einigen
umfangreichen Werfen, den Origines Antwerpianse (Antwerpen
1569), Hermathena 2) und anderen nieder. Goropius war nicht
ohne ausgebreitete Gelehrſamkeit, aber kritillos und phantaſtiſch.
Unter feinen vielen Wunderlicfeiten will ich nur die eine hervor⸗
been, daß er’ das Niederländiiche für die Urſprache der Menfchheit
hält und diefe Anſicht in einer Weife begründet, die noch viel fon-
derbarer ift, als die Behauptung felbft?). Doch wie zum Lohn
für jeinen patriotifhen Eifer wurde diefem Sonderling die Ehre zu
Theil, daß eins feiner Werke, die Origines Antwerpianae, zum erften-
mal (1569) ein Meines Bruchſtück der gothiſchen Sprache: das
1) ®ir verfolgen in biefem Werk, wie oben ſchon bemerkt, bei ben
außerdeutſchen Völkern nur die gelehrte Erforſchung der germaniſchen Sprachen.
Auferdem hätten wir hier, wie in Deutſchland, mit ben niederländiſch-lateini-
\gen Wörterbüchern zu beginnen und Hier zugleih ben 1477 zu Köln er—
Mienenen Teuthonista des Gherard van ber Schueren aus Xanten im
Herzogtäum Kleve zu erwähnen. Vgl. über ihn und fein Wert Clignett’s
Borrebe zur neuen Musgabe des Teuthonista (Leyden 1804). Ebend.
©. LXXVII fg. ein Verzeichniß lateiniſch-niederländiſcher Bocabularien. —
%) Herausgeg. nad) Goropius Tode zu Antwerpen 1580. — 3) Origines
Antwerpianae p. 584. 629. Hermathena p. 27, 204.
90 Sechſtes Kapitel.
Vaterunſer, veröffentlicht ). Aber das ganze Verfahren bes Goro-
pius war fo grundverfehrt, feine Schriften wimmeln dermaßen
von verrüdten Einfälen und tollen Etymologieen, daß wir uns
nicht wundern dürfen, wenn Joſeph Scaliger ihn auf das heftigfte
angriff. Sollte die Erforſchung der germanifhen Sprachen ſich
den Rang einer Wiſſenſchaft erwerben, fo waren andere Wege ein-
zuſchlagen, und gerade um die Auffindung und Verfolgung dieſer
richtigen Wege haben fih die Niederlande unfterblide Verdienſte
erworben. Noch vor dem Schluß des 16. Jahrhunderts (1574)
gab Cornelis Kiel (Cornelius Kilianus, geb. zu Duffel in
Brabant, geft. zu Antwerpen, wo er viele Jahre als Corrector der
Plantin’ihen Druderei lebte, im J. 1607) 2) zu Antwerpen, ein für
feine Beit vorzügliches niederländiſch⸗lateiniſches Wörterbuch heraus,
deffen britte Ausgabe (1599) den Titel erhielt: Etymologieum
Teutonicae lIinguae®). Obwohl er den Goropins Becanus unter
feinen Quellen nennt %), ihm auch öfters benutzt 6), ift er doch fo
verftändig, von der Angabe der Etymologieen meift ganz abzuſehen,
fi neben den germanifhen Sprachen auf die gelegentliche Ber-
gleihung des Griechiſchen und Lateiniſchen zu beſchränken und, wie
er fagt, die Ergründung der ganzen babylonifhen Sprachverwirr⸗
ung Anderen zu überlaffen 9). Das Werk bes Kilian zeigt uns,
welche Bedeutung aud bie ſüdlichen Niederlande für die Erforſchung
der vaterländifhen Sprache hätten gewinnen können. Aber dies
Wert ift für Iangehin das legte Lebenszeichen, das Brabant und
Slandern und die übrigen Provinzen, die unter das fpanifche Joch
fielen, auf dem Gebiet der heimiſchen Sprachforſchung gegeben ha-
ben. Defto bedeutender aber erwuchſen dieſe Studien auf dem frei
gewordenen Boden der nördlichen Niederlande Mit dem ruhm⸗
vollen Kampf um die veligiöfe und bürgerliche Freiheit gieng hier
1) Origines Antwerpianse, 1569, lib. VII, p. 739 sq. — 2) Baylo,
8. v. Kilianus. — Van Kampen, Geschied. I, 216. — 3) ©. Hoffman
von Fallersleben, Horse Belgicae, P. VII. (2), p. XXI. — 4) Ed. 3.
(1599) 81.7. — 5) ®gl. 3. B. herd, focus $. 186; hert, cor 8. 187. —
6) 8. 3.
Tie Anfänge der germ. Phil. in ben Rieberl., in Engl. u. in Sfanbinavien. 91
das edelſte Streben nad) höherer Geiftesbildung Hand in Hand,
Schon bald nach Beginn des Krieges (1575) wurde die Univerfität
zu %eiden gegründet, die in kurzer Zeit zur angefehenften Hod-
iäule Europa's erwuchs, und nicht wenige Städte der nördlichen
Niederlande mwetteiferten mit Leiden in der Pflege der antik klaſſiſchen
Studien. Denn dieſe waren es vor allem, denen man feine Sorg-
fült zumandte. So wurden die Niederlande und an ihrer Spike
die Univerfität Leiden für eine Reihe von Menfchenaltern der Haupt
fi der llaſſiſchen Philologie. Aber wie wir es bei den Deutſchen
geiehen haben, fo nehmen auch die niederländiſchen Vertreter der
Maffiichen Philologie eine ganz andere Stellung’zum klaſſiſchen Al-
tertfum ein, als ihre italienischen Vorgänger. In Stalien glaubte
mar, in den alten Römern die eigenen Vorfahren zu ehren, und
und in dem ftolzen Gefühl, Virgil und Cicero unter die eigenen
Yandsleute zu zählen, blickte man auf alles Außerklaſſiſche mit Ge-
ringſchätzung herab. Anders bei den Nieberländern. Man war
zwar durchdrungen von der hohen Vortrefflichfeit der antiten Klaf-
fter, man widmete der lateiniſchen und griechiſchen Sprache ein
eingehendes Studium, man fuchte mit antiquariicher Gelehrſamleit
in das Leben der alten Griechen und Mömer einzubringen, aber
man blieb fi bewußt, einem anderen und zwar gleichfalls thaten-
tigen und hochbegabten Volksſtamm anzugehören. Dazu kam bei
ten niederländiſchen Philologen noch ein Zweites, was ihren Hori-
zent über den der Staliener hinaus erweiterte. Die veformierte
Kirenlehre gründete fi auf das Studium der Bibel Um dieſe
im Grundtert zu erforſchen, bedurfte es außer den beiden Haffifhen
Sprachen auch des Hebräiſchen. Diefe vom Griehiihen und La—
teiniſchen fo verfchiedene Sprache führte dann weiter zur Erforſch-
ung ifrer eigenen Schweſterſprachen, insbejondere des Arabifchen.
So wird Leiden ber Mittelpunkt der orientaliſchen Sprachſtudien,
mb fo ift auch von diefer Seite die Ausbreitung der linguiſtiſchen
Studien weit Über die Grängen des Lateiniſchen und Griechiſchen
tinaus angebahnt. Daß aber gerade auch die Mutterfprache in ben
Heiß der linguiſtiſchen Forfjung gezogen wurde, das lag nicht nur
in der Univerfalität der ſprachlichen Studien, fondern es ergab ſich
73 Sechſtes Kapitel.
von ſelbſt aus dem großartigen Aufſchwung, den damals die nörd⸗
lien Niederlande in Staat und Literatur nahmen. Die großen
Philologen begleiteten diefen Aufihwung mit dem wärmften An-
theil, und wir find berechtigt, nicht nur was geborene Niederländer
auf unferem Gebiete leifteten, den Niederlanden zuzurechnen, fon-
dern in gewiffem Sinn aud das, was Auswärtige duch das
wiſſenſchaftliche Zuſammenwirken der verfdiedenften Kräfte auf
nieberländifhem Boden zu Stande brachten, und ebenfo das, was
auswärts entftanden erſt durch niederländiſche Gelehrte der Deffent-
lichfeit übergeben wurde.
Den Begriff der vaterländifen Sprache faßte man, fo ſehr
man au am Nieberländifhen hieng, doch jo weit, daß man alle
germanifhen Sprachen in feinen Bereih zog. So wurden die
Nieberlande die Geburtsftätte der gothiihen Studien. Bonaven-
tura Bulcanius (urfprünglid de Smet), geb. zu Brügge
1538, 1578 Profeffor des Griehifhen zu Leiden, geft. 1615 1),
gab im J. 1597 zu Leiden bie Meine Schrift De Literis et Lin-
gua Getarum Sive Gothorum heraus, worin außer dem Vater-
unfer zum -erftenmal noch einige weitere Meine Proben aus ber
gothifhen Bibelüberfegung mitgetheilt werden. Vulcanius war
nicht Verfaffer, fondern nur Herausgeber der Abhandlung, in wel
Her ſich diefe Mittheilungen finden. Der ungenannte Verfaſſer
war vielmehr Arnold Mercator, (geb. 1537 zu Löwen, geft.
1587, ein Sohn des berühmten Geographen Gerhard Mercator),
der auf feinen geographifcfen und antiquariihen Unterſuchungsreiſen
in dem weſtfäliſchen Klofter Werden den Coder argenteus der
gothiſchen Evangelien auffand und einige Proben daraus abzeich-
nete. Aus ihm iſt geſchöpft, was Goropius Becanus (1569) ?),
Bulcanius (1597) und etwas fpäter (1602) Janus Gruter in ſei⸗
nem Inſchriftenwerk 3) an- Gothicis mittheilen *). Aber auch der
1) Jo. Franc. Foppens, Bibliotheca Belgica, T.I, Bruxellis 1739,
p. 142. — 9)6.0.6.89. —.3) I, CXLVI. — 4) I folge in Be
zug auf das von Vulcanius herausgegebene Werk ben gelehrten Erörterumgen
Mafmann’s in Haupt’s Zeitschrift für deutsches Alterthum I (1841)
8. 306 fg. Bgl. beſ. ©. 322. 831-337.
Die Anfänge ber germ. Mil. in den Niederl, in Engl. u. in Sfanbinavien. 93
übrige Inhalt von Vulcanius Heinem Bud war für feine Zeit
(1597) von großem Werth. Wir finden hier unter Anderem
mehrere nordiſche Runenalphabete und Runeninſchriften, die Nach—
rüsten des Busbequius über Gothen in der Krim, Proben aus
dem althochdeutſchen Ammonius und aus Willeram's PBaraphrafe
des Hohen Lieds, den Anfang des Annoliedes und Alfred's angel-
fühfjhe Vorrede zu Gregor's Cura pastoralis. — Nicht zu ver-
gleichen an Wichtigfeit mit dem Büchlein des Bulcanius, aber ein
weiterer Beweis für die vielfeitigen Studien ber nieberlän-
diſchen Philologen ift die Herausgabe von Willeram’s althod-
deuticher Paraphraſe des Hohen Lies durch Paulus Merula.
Paulus Merula, geb. zu Dordrecht 1558, 1592 Profeffor
der Geſchichte zu Leiden, geft. 1607 zu Noftod 1), gab jenes für
die Sprachgeſchichte wichtige Wert im J. 1598 zu Leiden heraus mit
einer niederländifen Ueberfegung und fpracerklärenden Anmerkun-
gen, die beide von dem gelehrten Juriſten Bancratius Eaftrico-
mius (geb. zu Altmaar, geft. zu Amfterdam 1619) herrühren ?).
Bedenken wir, daß wir hier noch in den erften Anfängen der ger-
maniſchen Philologie ftehen, fo werben wir dieſen Verſuchen troß
vieler Mißgriffe unfre Anerkennung nit verfagen. Der Verfaſſer
der Anmerkungen macht unter Anderem bie Beobachtung, daß in
der Sprache des Willeram das th dem nieberlänbifchen d (thieco
= dieke), das z dem t (suoze — soete) entſpricht 3). Wie die
bisher genannten, fo liefern auch andere niederländiſche Philologen
md Hiftorifer jener Zeit gelegentliche Beiträge zur Vermehrung
des altgermaniſchen Quellenvorraths. So gibt Juſtus Lipfius
in einem Briefe vom Jahr 1599 (gedruckt 1605) ) eine Samm-
fung von Wörtern, die er einer altniederdeutſchen Pfalmenüher-
jetung entnommen hat; und Abraham VBander-Milius theilt
1) Foppens, Bibl. Belg. II, 942, — 2) ©. bie ausführlie Crörter-
um; des F. van Lelyvelb in der 2. Ausg. von Huydecoper's Proeve van
Taal-en Dichtkunde, Thl. 2 (Leyen 1784) &,551—568. — 3) &.4.—
4) Jnsti Lipsi epistolarum selectarım centuria tertia ad Belgas,
Antverp. 1605, epist. XLIV, p. 43 sq.
9 Sechſtes Kapitel.
in feinem Bude „Lingua Belgica“ (Leiden 1612) den ganzen
19. Pſalm aus biefer Ueberfegung mit). Joh. Iſaak Ponta—
nus (geb. 1571 zu Helfingör von niederländiſchen Eltern, geft. zu
Hardermijt 1640) ?) veröffentlicht in feinen Originum Franeicarum
libri VI (Hardervici 1616) einige Rapitel der althochdeutſchen Ueberfeg-
ung der Evangelienharmonie des Ammonins (oder Tatianus)’). Mar-
cus Zuerius Borhorn (geb. 1602 zu Bergen op Zoom, Prof.
der Geſchichte zu Leiden, geft. 1658) *) gab in feinen Prima reli-
gionis christienae rudimenta antiquissima Saxonum et Ale
manorum lingus scripta (Xeiden 1650) auf Grundlage Freher's
und Anderer eine Meine Sammlung folder angelſächſiſchen und
althochdeutſchen Denkmäler Heraus und veröffentlichte im feiner
Historia universalis (Leiden 1652) ©) eine alte niederdeutſche Um⸗
ſchreibung des Apoftolicums zum erftenmal 9).
Man begnügte ſich aber nicht, bloß den Schat der altgerma-
niſchen Quellen zu vermehren, fondern man- verfuchte ſich aud in
etgmologifgen Combinationen über die Gränzen des Germaniſchen
hinaus. Im Anſchluß an die deutſchen Vorgänger verglich man
germanife Wörter mit Iateiniihen und griehifgen, aber ohne
wiffenfhaftlige Methode und indem man Entlehntes und Urver⸗
wanbtes harmlos durcheinander mengte %). ine beftimmtere Vor⸗
ftelung von der Urverwandſchaft beginnt aufzudämmern in ber
- freilich irrigen Annahme, daß Griechen und Germanen von ben
Scythen ftammen, wie wir fie bei Borhorn 7) finden. Auch zeigt
fi) bereits eine Vorahnung von dem Bufammenhang der Germa⸗
1) Abrab. Vander-Milii Lingua Belgica, Lugd. Bat. 161%,
p. 152 sq. Der Gelehrienname des Verfaſſers hat bie obige ſeltſame nieder:
landiſch⸗ lateiniſche Jorm. — 2) Westphalen, Monum. ined. rer. Germ.
T. II (1740), Praef. p. 48 sq. — 3) p. 589 sg. — 4) A. J. van der
Aa, Biogr. Woordenboek der Nederlanden II, 3 (Haarlem 1855)
p- 1122 fg. — 5) p. 102. Ju Müllenhof’s und Scherer's Denkmälern
Nr. XCVIII. — 6) Bgl. 3. B. Merula's Ausgabe bes Willeram ©. 35 fg-
— 7) gl’ 4 8. deſſen Griginum Gallicarum liber, Amstelod. 1654,
p- 110.
Die Anfänge der germ. Phil. in den Niederf., in Engl. u, in Skandinavien 95
nen mit ihren afiatifhen Stammverwandten. Das Perfifhe bietet
dazu die Handhabe. Schon Franciscus Raphelengius (geb.
zu Lanoi 1589, geft. zu Leiden 1597) theilt dem Bonaventura
Bulcanius (1597) eine Anzahl perſiſcher Wörter mit, bie mit
deutſchen übereinftinmen ?), und Juftus Lipfius ftellt (1599.
1605) nicht nur perfiige und niederländiihe Wörter zufammen,
jondern ex bemerkt auch, daß die Flexionen der Zeitwörter in jenen
beiden Sprachen nicht allzuverſchieden feien?). Am tiefften aber
fah bereits im biefer Beziehung der Schleſier Johannes Eli-
mann, der als Arzt in Leiden lebte und fi zugleich mit größtem
Eifer und Erfolg den dort herrſchenden linguiſtiſchen Studien hin-
gab >). Leider ereilte ihm der Tod (1639), bevor er die wichtigſten
feiner Arbeiten vollendet hatte,
Bon befonderer Bedeutung aber ift es, wie tief die germani-
ſtiſchen Studien in den Niederlanden damals ſchon in ben ganzen
Betrieb der Wiſſenſchaften eingreifen. Hervorragende Gelehrte der
verihiedenften Fächer nehmen ein lebhaftes Intereſſe an ihnen.
Joſeph Scaligerd) und Juſtus Lipſius), die großen
Bhilologen, Simon Stevin, ber berüßmte Mathematiker °), und
Hugo Grotius 7), fie alle haben fi an den Anfängen ber ger»
maniftiihen Studien in den Niederlanden beteiligt.
1) Bonav. Vulcanius, de Literis et Lingus Getarum, Lugd. Bat.
1597, p. 87. — 2) Justi Lipsi epist. centuria tertia ad Belgas,
Antverp. 1605, epist. XLIV, p. 56. — 3) Salmasii praefatio zu Elide
mann’6 Ausgabe der Tabula Cebetis, Lugd. Bat. 1640, Bl. 8. —
4) Jos. Justi Scaligeri opuscnla varia, Paris. 1610, p. 119 aq. Ber-
nays, Scaliger 8. 298. Vgl. auch Scaliger’s Zufhrift an Bonav. Vulca—
zus vor deſſen De lit. et lingus Getarum. — 8) S. o. 6.9. —
% 6. die Uytspraeck vande weerdicheyt der duytsche tael und bie
Sammlung einfglbiger nieberländifger Wörter vor Simon Stevin's Beghin-
slen der Weeghconst, tot Leyden, 1586. — 7) S. Nomina appella-
tiva et verba Gotthica, Vandalica et Langobardica quae in hoc
volumine reperiuntur, cum explicatione, in Historia Gotthorum, Van-
dalorm, et Langobardorum: Ab Hugone Grotio partim versa, par-
tim in ordinem digeste, Amstelod. 1655, p. 574 sq.
96 Sechſtes Kapitel.
2. Die Anfänge der germanifcen Philologie in England bis auf Franciscus
Imuius. .
In England waren es natürlich zunädft bie angelſächſiſchen
Schriften, welche die Augen der Alterthumsforſcher auf ſich zogen,
und wie in Deutſchland, fo find es aud in England zuerft nicht
philologiſche, fondern theologifche Zwecde, die man bei ber Unter:
ſuchung und Herausgabe angelſächſiſcher Denkmäler verfolgt. Bald
aber trat in England ein weiteres Intereſſe Hinzu, nämlich das
hiſtoriſch⸗ juriſtiſche. Auch in Deutſchland fehlte dies zwar nicht, aber
in England führte es ummittelbarer zum Studium ber alten
Sprade, weil die angelſächſiſchen Gejege und aud ein Theil der
geſchichtlichen Aufzeichnungen fi der einheimifhen Sprache bebien-
ten, während in Deutſchland die älteren ſchriftlichen Abfaſſungen
der Gefege und Geſchichtsquellen in lateiniſcher Spradie ftattfanden.
Was die theologifhen Anfänge der angelſächſiſchen Studien betrifft,
fo glaubten die Anhänger ber kirchlichen Meformation, in den angel-
ſächſiſchen Quellen Beweiſe ihrer Anfihten zu finden, und bies
tried fie zu deren Sammlung und Erforfhung. Bor allem ergab
fi) aus dem Umftand, daß man fo mannigfahe Uebertragungen
der Heiligen Schrift in die angelſächſiſche Sprache fand, die Ge
mißheit, daß man im jener älteren Zeit bie Bibel in die Volls-
ſprache überfegt und nicht bloß dem Lateinverftehenden vorbehalten
habe. In dieſem Sinn äußert ſich bereits Erzbiſchof Cranmer
in der Vorrede zu der englifgen Foliobibel, die im Jahr 1539
oder 40 von Grafton gedrudt wurde 1. — Beſonders eifrig in
Sammlung angelſächſiſcher Handſchriften war ber erfte wirklich
proteſtantiſche Erzbifhof von Canterbury Matthäus Parker
(geb. 1504, geſt. 1575). In der Vorrede zu der engliſchen Folio⸗
Bibel vom Jahr 1572 führte er den von feinem Vorgänger Cran⸗
mer angetretenen Beweis mit beſſern Hülfsmitteln ausgerüftet noch
weiter aus 2). Zugleich aber benüßte er feine Kenutniß der angel-
1) An historical Sketch of the Progress and present State of
Anglo -Saxon Literature in England. By John Petheram, London
1840, p. 28. — 2) Petheram 1. 1. p, 28.
Die Anfänge ber germ. Phil. in den Nieberl., in Engl. u. in Sfandinavien. 97
fühfifgen Quellen für feine Vertheidigung der Priefterehe. In
feinem 1562 anonym erſchienenen Wert A Defence of. Priests’
Marriages finden fi mehrere Citate in angelſächſiſcher Sprache,
und dies find die eriten gebrudten Proben bes Angelſächſiſchen, die
man fennt ?). Wie für die Priefterehe, fo ſuchte man für die anti«
latholiſche Anficht vom Abendmahl Belege in den kirchlichen Schrif-
ten der Angelſachſen. Zu dieſem Behuf wurde bereits im Jahr
1567 durch Parker’ Secretär John Joscelin eine angeljäd«
füge Ofterpredigt des Aelfric nebft einigen anderen Stüden her-
ausgegeben 2). Den Drud beforgte der namhafte Buchhändler
John Day zu London, den Parker veranlaft Hatte, angelſächſiſche
Dyen ſchneiden zu laſſen, die erften, die e8 gab). Mit raftlofem
&fer fammelte Erzbiſchof Parker angelſächſiſche Handſchriften. So
weit irgend fein Einfluß reichte, ließ er fih Mittheilung machen
von allem, was fi) Derartiges vorfand +). In feiner Ausgabe
des Affer (1574) veröffentlichte er König Aelfred's angelſächſiſche
Borrede zu Gregor's Schrift de cura pastorali. Eine andere
Ftucht diefer Beſtrebungen war die Herausgabe der angelſächſiſchen
Ueberfegung der vier Evangelien duch Johannes For, die auf
varker's Koften im Jahr 1571 zu London erfolgte 5).
Reben Erzbiſchof Parker find die bereits erwähnten Yoscelin
und For ımb außer ihnen Lawrence Nowel und William
Lambarde unter ben Gründern des angeljähfifgen Studiums
zu nennen. Bon Joscelin bat fi ein handſchriftliches angel-
ſẽchſiſch/ lateiniſches Wörterbuch erhalten 9; und auch eine angel-
füäfiihe Grammatik war von ihm handſchriftlich vorhanden, aber
fon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht mehr auf-
1) Petheram 1. 1, p. 32, nad) Strype's Life of Parker (505). —
9 6. ben Anhang, ben Hides feiner Ausgabe von Runolphus Jonas Gram-
matiese Islandicae Rudimenta, Oxon, 1688, hinzugefügt hat, p. 134, und
Petheram 1. 1. p. 82. 87. — 3) Petheram p. 36. — 4) Wanley, Cata-
Yogus p. 158. — Petheram p. 34 sg. — 5) Petheram 1. 1. p. 40. —
6) Ms. Cotton. Titus A. XV. Petheram 1. 1. p. 88.
Raumer, Geh. der germ. Philologie 7
98 Sechſies Kapitel.
zufinden 1). Samrence Nowel Hatte bereits vor dem Jahr 1567
ein angelſächſiſch⸗ engliſches Wörterbuch angelegt, das ſich unter ben
Handfäriften der Bodley'ſchen Bibliothel in Orford fowohl im
Original, als in einer Abſchrift des Franciscus Junius erhalten
bat 2). Während feines Aufenthalts in Lincoln's Inn unterrichtete
Nowel feinen Schüler William Lambarde im Angelſächſiſchen
und ſchenkte ihm eine Abſchrift, die er von der zu Rocheſter auf-
bewahrten Handſchrift der angeljähfiihen Geſete gemacht Hatte,
nebſt feinem Vocabularium Saronicum. Auch unterftügte er La m⸗
barde ferner bei ber Herausgabe der Archaionomia ober ber
erſten gebrudten Sammlung der angeljähfiichen Geſetze, die von
einer Iateinif en Ueberſetzung vambarde's begleitet im Jahr 1568
zu London eridien 9).
Auf diefes raſche Aufslühen der angelfähfiihen Studien folgte
eine längere Paufe. William Camden, ber berühmte englifche
Geſchichtsforſcher, ließ 1608 im feiner Sammlung der Geidichts-
ſchreiber Englands die angelſächſiſche Vorrede König Aelfred's zu
Gregor's Cura postoralis aus Parker's Aſſer wieder abbruden.
In feinen Remaines concerning Britaine äußert er fih mit Be-
geifterung über die angelſächſiſche Sprache“) und ſucht durch eine
chronologiſche Reihenfolge von Weberfegungen des Vaterunſer einen
Begriff von der Gejchichte der engliichen Sprache zu geben 5). Aber
das Alles blieb zunächſt ohne nachhaltige Wirkung. Im J. 1623 gab
William L' Isle (+ 1637) Aelfeics angelſächſiſchen Tractat über
das Ute und Neue Teftament nebft einigen anderen veligiöfen
Stüden heraus. In der Vorrede dazu beſchreibt uns LIsle ben
mühfamen Weg, ben er damals noch entblößt von allen Hülfs⸗
mitteln zur Erlernung de3 Angelſächſiſchen nehmen mußte Er
begann mit dem Leſen der älteren engliſchen Bücher und fuchte ſich
1) Hickes, Institutiones grammaticae Anglo!- Saxonicae Ozon.
1689, praef. 81.1. — 2) Petheram 1.1. p. 39. — 3) ©, bie der
"Aozasovoula vorangeffidie Epistöle des Lambarde an Gulielmus Gor-
bellus. — 4) Remaines concerning Britaine. Written by Will. Cam-
den, Esquire (5) Lond. 1686, p. 19 sg. — 5) Ebend. ©. 28 fg.
Die Anfänge der germ. Phil. in den Niederl, in Engl. u. in Sfandinavien. 99
fo allmãhlich bis zum Angelſächſiſchen hinaufzuarbeiten 1). Don
den anderen Unternehmungen LIsle's Fam nichts zu Stande, aber
feine Bemühungen belebten die angeljächfiihen Studien auf's neue.
Der berühmte englihe Wlterthumsforiger Henry Spelman
(geb. 1562, geft. 1641) lernte noch in veiferen Jahren Angelfäh-
filh, weil ex wohl einjah, daß ihm dies fr feine Arbeiten unent-
behrlich ſei. Er wollte im Jahr 1689 eine Lehrftelle für das
Angeljähfifge an der Univerſität Cambridge ftiften, indem er
Abraham Whelock zehn Pfund Sterling des Jahrs ausfegte. Seine
Abſicht, diefe Stelle für immer zu gründen, wurde jedod durch
feinen Tod und bie ausbredenden Bürgerkriege vereitelt 2). In
feinen eignen Werfen: dem Archasologus (1626) und der Samms-
lung der engliſchen Concilien und kirchlichen Sayungen (1639),
machte Spelman von feiner Kenntniß des Angelſächſiſchen einen
fudtdaren Gebrauch. Sein Sohn John Spelman vermehrte
durch Herausgabe der angelfähfiihen Pfalmenüberfegung (London
1640) mit beigefügter lateiniſcher Interlinearverſion den Heinen
Vorrath der damals vorhandenen angeljähftigen Drude 3).
Abraham Whelod, dem Henry Spelman fein Cambridger
Stipendium zugewandt hatte, gab im Jahr 1648 zu Cambridge
Beda's Historia ecclesiastica gentis Anglorum mit König Xel-
fred’s angelfähfiiher Paraphraſe heraus und fügte ihr die angel-
fädfifcde Chronik mit einer von ihm angefertigten Yattinifhen Ueber-
fegung bei. Im folgenden Jahr ließ er, gleichfalls zu Cam-
bridge, eine verbefierte und vermehrte Ausgabe von Lambard's
Sammlung der angelſächſiſchen Gefege erfeinen. Den Zufammen-
Bang bes Angelſachſiſchen mit ben llaſſiſchen Spraden, insbefondere
aber auch mit dem Hebräiſchen ſuchte Mericus Caſaubonus,
der Sohn bes berühmten Iſaak Caſaubonus, in feiner unvollendet
gebliebenen Schrift De quatuor linguis, Lond. 1850, nachzu-
weilen. Aber bei dem damaligen Zuftand der etymologiſchen Kennt
H A Baxon Treatise concerning the Old and New Testament.
Written — by Aelfricus. — Now first published in print — by Wil-
liam L'isle. Lond. 1628. To the Readers, BI. 18 sq. — 2) Biogra-
Phia Britannica VI, 1 (1763) p. 3786." — 3) Petheram p. 57.
7
100 Seqhſtes Kapitel.
niſſe konnten feine Vermuthungen der wiſſenſchaftlichen Forſchung
nur geringen Gewinn abwerfen.
Wir find hiemit bereits an die Gränze ber Zeit gelangt, in
welder Franciscus Junius fowohl für England als für
Deutfhland eine neue Epoche der germaniſchen Philologie begrün-
bete. Im Jahr 1655 erſchienen jeine Obfervationen zum Willeram
und in demfelben Jahr feine Ausgabe des Caedınon. Wir werben
im folgenden Bud ausführlicher von dieſen Arbeiten handeln.
Weil aber der eigentlih Epoche machende Abſchnitt in der Wirk-
ſamkeit des Junius erft durch die Herausgabe des Coder argenteus
im Jahr 1665 bezeichnet wird, fo beſprechen wir hier nod einen
Gelehrten, deſſen Hauptwerk ſchon vor jenes eingreifende Ereigniß
fat. William Sommer (geb. 1606 zu Canterbury, geft.
ebendafelbft 1669, während feines ganzen Lebens ein treuer An-
hänger der königlichen Sade), wurde durch fein Studium ber eng-
liſchen Alterthümer auf das Angelſächſiſche geführt 1) und machte
darin jo bebeutende Fortſchritte, daß er in feiner Zeit neben Fran⸗
ciscus Junius als ber bebeutendfte Kerner dieſer Sprache bezeichnet
werben muß. Die reiffte Frucht feines Fleißes war fein angelr
ſachſiſch/ lateiniſches Wörterbuch, das im Jahr 1659 zu Oxford
erſchien und lange Zeit das wichtigſte Hülfsmittel für das Studium
des Angeljächfiihen bildete.
3. Die Anfänge der germanifhen Philologie bei deu fkandinavifchen
Völkern bis zum Jahr 1665.
Die Entwidlung der alten nordgermaniſchen Literatur war
eine ganz andere als die der beutfchen, umd dem entſprechend zeigt
au die germanifde Philologie in Standinavien Züge, bie fie
wefentlih von dem unterſcheiden, was uns in Deutſchland ent-
gegengetreten ift. In Deutſchland gehören die älteften Denkmäler
der Sprade und Literatur fait ausnahmslos dem Chriftenthum
an, bie Ueberrefte ber heidniſchen Zeit find nur gering. Dagegen
fehlt den Nordgermanen, die erft um das Jahr 1000 zum Ehriften-
thum übertraten, eine fo alte chriſtliche Literatur, wie wir fie im
1) ©. über ihn bie Biographia Britannica VI, 1 (1763) p.8757 fg.
Die Anfänge der germ. PHil. in ben Nieberl., in Engl. u. in Sfandinavien. 101
Althochdeutſchen beſitzen; dafür aber Haben fi im Norden bie
wertfvolfften Reſte des germaniſchen Heidenthums erhalten. In
Deutſchland find die Quellen für die älteren Perioden ber politi—
ſchen Geſchichte durchweg lateiniſch. Dagegen befigt der Norben
über feine frühere Geſchichte ſehr reiche Denkmäler in feiner ein-
heimiſchen Sprache, ſowohl Geſchichtswerke, als Inſchriften. Aber
noch ein anderer ganz eigenthümlicher Umſtand zeichnet den Nor-
den aus. Wir finden nämlich unter den Sprachen, bie ſich dort
entwidelt Haben, eine — die isländiſche —, die in ihren Formen
um viele Jahrhunderte Alter ift, als bie beiden anderen: das
Schwediſche und Däniſche. Co haben die Dänen am Isländiſchen
im Weſentlichen noch heute die Sprachformen vor ſich, die ihre eigene
Sprache vor mehr als einem halben Yahrtaufend beſeſſen Hat.
Die gefhilverten Umftände erflären uns, warum bei aller
allgemeinen Verwandtſchaft die Anfänge der germaniſchen Philolo-
gie doch einen fehr verſchiedenen Charakter in Skandinavien zeigen,
als in Deutſchland. Das ummittelbar chriſtlich theologiſche In⸗
tereife an der alten einheimifchen Literatur, das wir in Deutſchland
und England jo lebendig gefunden Haben, - tritt in Skandinavien
mehr zurüd. Zwar fehlt e8 auch der altnordiſchen Literatur nicht
an Werfen Kriftlichen Inhalts, aber die eigentlichen Anfänge der
germaniſch⸗ſtandinaviſchen Philologie Tiegen auf einem anderen Bo⸗
den, nämlich auf dem der Erforſchung des flandinavifchen Alter-
thums. Schon im Jahr 1594 hatte Jens Mortenfen, veran-
laßt durch den däniſchen Reichskanzler Arild Hwitfeld, einen
dönifen Auszug aus der Heimskringla veröffentlicht, im J. 1591
ter lönigliche Hiftoriograpd Anders Sörenſen Vedel (geb.
zu Beile 1542, geft. 1616) däniſche Volislieder Herausgegeben.
Aber die eigentlihen Gründer der nordgermaniſchen Philologie
waren bie bänifhen und isländiſchen Gelehrten, die fih in der
erſten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur Erforſchung des ſtkandina⸗
viſchen Alterthums vereinigten. Die nordgermanifhe Philologie
geht dabei Hand in Hand mit ber eigentlichen Geſchichtsforſchung,
wie fie Stephanus Johannis Stephantus (geb. zu Kopen-
hagen 1599, + 1650) in feiner Ausgabe bes Saro Grammaticus
102 Seiten Kapitel,
. (1644. 45) üßte. Den Mittelpunkt dieſer Beftrebungen bildete der
trefflihe Ole Worm. Geboren zu Aarhus am 13. Mai 1588,
erhielt er feine Vorbildung auf dem Gymnafium zu Lüneburg
und wibmete fid dann im Jahr 1605 philologiſchen und theolo⸗
gifgen Studien auf den Univerfitäten Marburg und Gießen. Da
& ihn aber mehr zur Mebdicin, als zur Theologie hinzog, warf
er fi vom Jahr 1607 an erft zu Straßburg und dann zu Bafel
mit größtem Eifer und Erfolg auf mebicinifhe und naturwiſſen⸗
ſchaftche Studien. Nachdem er auch noch alien und Frankreich
zu ſeiner weiteren Ausbildung durchzogen und einige Zeit an der
Univerfität zu Kopenhagen ſtudiert hatte, wurde er 1611 zu Baſel
Doctor der Medicin und beſuchte dann noch bie Niederlande und
England. Als er im Jahr 1613 nah Kopenhagen zurückkehrte,
wurde. ihm fofort die Profeffur der literae humaniores übertragen.
Im Jahr 1615 erhielt er die Profefiur ber griechiſchen Sprache
und endlich im Jahr 1624 eine Profeſſur der Medicin. In dieſer
Stellung lebte er zu Kopenhagen hochgeehrt als Lehrer, Arzt und
Alterthumsforſcher bis zu feinem am 31. Auguft 1654 erfolgten
Tod 1). Seine freien Stunden widmete Worm feit feiner Rück⸗
kehr nad Dänemark ber Erforſchung des ffandinavifhen Alter-
thums. Unter feinen gelehrten Leiftungen auf biefem Gebiet nen-
nen wir feine Runer seu Danica Literatura antiquissima (1636),
feine Danicorum monumentorum libri VI (1643), feine Fasti
Danici (1643) und feine Schrift über das 1639 entdeckte golbene
Horn (1641) 9. Zum Behuf feiner Alterthumsforſchung fette ſich
Worm in Verbindung mit gelehrten Jsländern, unter denen damals
ein neuer Eifer für das Stubium ihrer alten Literatur erwachte.
Sd bildete ſich die ſchöne Vereinigung bänifder und islandiſcher
Gelehrten, welche der Wiſſenſchaft bis auf den heutigen Tag ſo
reiche Früchte getragen hat. Wir nennen unter ben isländiſchen
1) S. bie Vita Olai Wormii ex programmate academico et ora-
tione funebri Thomas Bartholini vor Olai Wormii epistolae, Havniae
1751. — 2) Bgl. Über Ole Worm bie Abhandlung E. C. Werlauff's in
Nordiſt Tidoſtrift for Oldtyndighed I (1832) ©. 283 fg.
Die Unfänge ber germ. Phil. in den Niederl. in Engl. u. in Stanbinavien. 103
Mitgrändern der altſtandinaviſchen Forſchung den damals ſchon
hodibetagten Arngrim Jonsſon (geb. 1568, geft. 1648) 1),
deſſen Schriften ?) zuerſt eine richtigere Kenntniß dev Inſel Island
in Europa verbreiteten; dann den gelehrten Magnus Dlafsfon
(Olavius oder Olai geb. 1573, + 1636) 3), dem wir bie erften
Anfänge ber altnordiſchen Leritographie 4), jo wie bie erfte gebrudte
Derftellung der islänbifhen Poeſie 5) und die lateiniſche Weber-
ftumg eines Theils ber jüngeren Edda verbanten 6); ben Biſchof
von Holum auf Island Thorlatr Stulafon (geb. 1597,
+ 1656) ); den Biſchof von Stalholt Brynjulfe Sveinsfon
(Srenonius, geb. 1605, } 1875) 9), der die berühmte Sammlung
altuorbifcher Götter- und Heldenlieder entbedte und 'ihr (1643)
deu Namen Edda Saemundi multiscii beilegte 9); den Gudmund
Audreae (} 1654) 10), von dem das erfte eigentlich isländiſche
&eriton herrũhrt umd auf defien Arbeiten wir fpäter noch einmal
zurũctonnnen werben. Wenn wir ben Isländer Runolf Yons-
fon, der einen Theil feines Lebens in Kopenhagen zubrachte und
im Jahr 1654 ftarb, erft jet nennen, fo geſchieht es, weil wir
auf feine Arbeiten etwas näher eingehen wollen. Runolf Jons- -
fon ober mit feinem latinifierten Namen Runolphus Jonas '!)
mar der Erſte, der eine isländiie Grammatik herausgab. Sie
1) Wminbeligt Litteraturlericon for Danmark, Norge, og Island, ved
Ryerup og 3. ©. Kraft. Ueber Jonsfons Verkehr mit Worm ſ. Olai Wor-
mü et ad eum — epistolae, Havniae 1751 I, p. 293 aq. — 2) Bre-
vis commentarius de Islandia, Hafniae 1599. — Crymogser, Ham-
burgi 1610. — Speeimen Islandiae historioum, Amstel. 1643. —
I) Ryerup a. a. D. Sein Verkehr mit Worm in beffen angeführten Epist.
Lp. 35109. — 4) Speeimen lexiei runiei — colleetum a Magno
Olario, in ordinem redactum auctum et locupletatum ab Olao
Wormio, Hafnise 1650. — 5) In Worm’s Danica literatura anti-
quissima, Hafn. 1636, p. 190 sq. In ber ed. 2. Hafn. 1651, p. 177 sq.
— 96 u. Bu II, Rap. 1,2. — 7) Nyerup a. a. O. Sein Verkehr
wit Worm in befien Epist. I, p. 95 sg. — 8) Nyerup a. a. D. Sein
Safer mit Worm in beifen Epist. II, p. 1036 sq. — 9) Vgl. Möbius,
Catal. p. 67. — 10) Nyerup a. a. O. — 11) Er unterzeichnet bie
Dedication (1651), bie Hickes weggelaffen at: Runolphus Jonas.
104 Sechſtes Kapitel,
erſchien unter dem Titel: Recentissima antiquissimae linguae
septentrionalis incnnabula, id est Grammaticae Islandicae Ru-
dimente Nuno primum adornari ooepta et edita Per Runol-
phum Jonam Islandum, Hafnise 1651 1). Wie alle erften
Anfänge einer Wiffenfhaft, fo ift ums aud dies Buch von befon-
derem Intereſſe. Runolphus Jonas erzählt uns im ber Vorrede,
wie er als Lehrer des Lateinifhen und Griechiſchen an feiner hei⸗
mathlichen Lehranſtalt bei der Weberfegung ber antifen Klaſſiler
darauf aufmerfam geworben ſei, welch genaue und regelmäßige
Flerionen feine isftindifhe Mutterſprache befige. Er habe ſich des⸗
halb entſchloſſen, das, mas nicht nur im Hebräiſchen, Griechiſchen
und Lateiniſchen, ſondern neuerdings auch im Deutſchen, Italieni⸗
ſchen, Franzöſiſchen, Engliſchen u. ſ. f. geſchehen ſei, auch an ſeiner
Mutterſprache zu verſuchen. So habe er dieſe ſchon auf Island
begonnene Grammatik, ermuntert von Olaus Worm, während
feines Aufenthalts" in Kopenhagen vollendet. — Wir ſehen alfo,
das Wert des Mumolphus Jonas ift nit die grammatiihe Bear⸗
Beitung einer nicht mehr lebenden altgermaniſchen Sprache, fondern es
" gehört vielmehr in bie Reihe der Grammatilen neuerer Tebenber
Sprachen, wie fie die Deutfhen fon ein Jahrhundert vor Jonas
durch Oelinger, Clajus u. |. f. befaßen. Aber durch den Umftand,
daß das Isländiſche die alten Formen des Nordgermaniſchen fo
treu bewahrt Bat, Fam ben ffandinavifhen Sprachforſchern das
Bud) des Jonas faft ebenfo zu Statten, als wenn er abfihtlic eine
altnordiſche Grammatik geſchrieben hätte. Diefe Bedeutung des IJs⸗
ländifhen hatte fon im J. 1636 Olaus Worm ausdrücklich hervor»
gehoben 2). Das, was Runolf Jonsſon wirklich bietet, ift allerdings
nod weit entfernt von dem, was wir jegt von einer isländiſchen
Grammatit erwarten, aber es iſt do ein ganz achtungswerther
Anfang, der auf mehr als hundert Jahre Hin den grammatiſchen
Leitfaden zur Erlernung des Isländiſchen geboten Hat. Die Laut -
lehre behandelt Jonsſon nur fehr kurz; ausführlicher ift feine Dar⸗
ftellung der Flerionen. Eine Syntax gibt er nicht, fondern ftatt-
1) Die Göttinger Bibliothek befigt biefen erfien Drud von 1651 und bie
Wiederholung durch Hides, Oxford 1689. — 2) Ol. Worm. Danica
Literaturs antiquissima, Hafn. 1636, p. 149.
Die Anfinge ber germ. Phil. in ben Nieberl,, in Engl. u. in Sfanbinavien. 105
deffen auf nur drei Seiten eine Zufammenftellung der isländiſchen
Conjunctionen und Präpofitionen.
In Schweden Tnüpfte fi das Intereſſe an der alten
Sprade und Literatur zunächſt an die Erforfhung der Amen.
Schon in der 1554 zu Rom eridienenen Historia Gothorum
Suionumque bes Erzbifhofs von Upfala Johannes Magnus
findet fih ein Munenalphabet, und ebenſo in ber Schrift feines
Btuders Dlaus Magnus De gentium septentrionalium variis
eonditionibus (Romae 1555) 1). Aber der eigentliche Gründer des
beimiſchen Alterthumsſtudiums in Schweden war Johannes
Bureus. Geboren zu Alkerby im Jahr 1568 warf ſich Bureus
ſchon früh auf das Studium der nordiſchen Alterthümer, wurde
des jungen Guſtav Adolf Lehrer und ſpäter Reichsarchivar und
Aufſeher der Antiquitäten und ber königlichen Bibliothek. Er ſtarb
in hohem Alter im Jahr 1652 9. Bureus war ein ſehr eigent-
thümlier Mann. Er erwarb fih Kenntniffe auf den verſchieden⸗
ften Gebieten und ſetzte feine Runenforſchung mit kabbaliſtiſchen
Zröumereien in Beziehung. Aber er hat das unbeftreitbare Ver⸗
dienft, zuerft (1599) Aunenfteine gefammelt und mit lobenswerther
Genauigkeit veröffentlicht zu Haben. Auch ift er vielleicht als der
Erfte zu nennen, ber (1636) den Verſuch gemacht hat, eine alt-
germaniſche Sprache grammatiſch zu behandeln 3).
1) Uno von Troil, De runarum in Suecia antiquitate, 1769,
Upeal., p. 6. — 2) Biographiskt Lexicon, III, Upsala 1837, p. 105
ul — 3) €8 fieht mir leider nur ein fehr unvolllommenes Material
für Bureus zu Gebote. Meine Kenntniß desfelben beruht auf bem eben
angeführten ſchwediſchen biogr. Lexiton; E. C. Werlauff's Abhandlung über
Borm in Rorbijt Tidoſtrift for Olbfgnbigheb, I (Rhon. 18321, ©.319 fg.;
Joannis Schefferi Svecia literate, Hamburg. 1698, p. 49 sq.; I. ©.
Ljegren’8 Run »Lära, Stodyolm 1832. Die von Scheffer a. a. O. p. 51
aufgeführte Schrift des Bureus: Speeimen primariae lingrae Scantzia-
nae, continens deelinationes nominum adjectivorum et substantivo-
rum, ut et sintaxin eorum in tabula, Holmise 1636, ift auf in
* Efpweben nicht mehr aufzufinden, wie ich durch Theodor Möbius' gütige Ver:
mitlung vom k. Bibliothefariat in Stodholm erfahren habe.
Zweites Bud),
Die germanifche Philologie von der Herausgabe des
Eoder argentens bis zum Auftreten der Romantiker.
1665 bis 1797.
Gries Zayitel.
Die germaniſche Philolagie in ben Kiederlanden, in England und
in Stanbinavien von 1665 bis 1748.
1. Die germanifge Philologie in den Hicderianden nnd in England non
1665 bis 1748. Frauciscus Innins. Gesrge Yihes. Lambert ten Kate.
Ür haben im vorangehenden Abſchnitt gefehen, wie in ben
Niederlanden ſchon feit den legten Jahrzehnten des 16. Jahrhun⸗
derts ein weit verbreiteter Eifer fih der Erforihung der germani-
fen Sprachen zumandte. In andrer Weife wieder hatte in Eng
land bis um die Mitte des 17. Jahrhunderts die Veröffentlichung
angelſächſiſcher Quellen ſchon einen ziemlien Umfang gewonnen.
Dort in den Nieberlanden und in England war deshalb vorzugsweile
der Boden bereitet zu einer neuen Epoche der germaniftiihen Stu
dien. Diefe Epoche wurde hauptſächlich begründet durch einen
Mann franzöfiiher Abkunft, der in Heidelberg geboren die Jahre,
in denen ſich die mutterſprachliche Bildung zu entſcheiden pflegt,
in den Niederlanden zubrachte, während ein nicht geringer Theil
feines Lebens England angehörte. Es war Franciscus Ju
nius. Durch eine günftige Schickung wurde ihm, dem größten
Kenner ber germaniſchen Sprachen während bes 17. Jahrhunderts,
Die germ. Phil. in ben Niederl., in Engl. u. Stanbinavien v. 1665 5.1748. 107
die Aufgabe zu Theil, das Gothiſche für immer in ben Kreis der
Sptachforſchung einzuführen. Nächſt ihm find es vorzüglich zwei
Gelehrte, die man als Mitbegründer der germaniihen Stubien
nennen muß: Der Engländer George Hickes und der Niebers
linder Lambert ten Kate. Die nähere Darftellung wird
uns zeigen, wie bebeutend der Fortſchritt ift, den die Arbeiten
dieſer Männer allen früheren Leiftungen gegenüber bezeichnen.
1. $ranciscus Junius. Das Leben bes Franciscus Junius.
Sranciscus Junius ber Jüngere, mit dem wir ung
bier befhäftigen, war der Sohn des älteren Franciscus Junius,
der in der Geſchichte der reformierten Theologie eine geadhtete
Stelle einnimmt '). Geboren zu Bourges und gebildet zu Genf,
hatte der ältere Frango is Du Yon, ober, wie er fi als Ge—
lehrter nannte, Franciscus Yunius nad wechſelvollen Schick⸗
ſalen im J. 15883 bereits zum brittenmal eine Stelfung an ber
Univerfität Heidelberg erhalten. Hier wurde ifm von feiner Gat⸗
tin Johanna LHermite, Toter des Simon LHermite, Schöppen
der Stadt Antwerpen, im J. 15892) ein Sohn geboren, ber wie
fein Bater den Namen Francis cus erhielt. Aber nur die aller-
aften Lebensjahre brachte das Kind im oberen Deutihland zu.
Denn fon im I. 1592 folgte der Vater einem Ruf als Profeſſor
der Theologie an der Umiverfität Leiden, und fo wurden die Nies
derlande bie eigentlihe Heimath des jüngeren Franciscus
Junius. So viel er auch fpäter wandert und fo viele Jahre
er in anderen Ländern zubringt, betrachtet er doch bie Niederlande
als feine Heimath, umd was die Hauptſache ift, das Niederlän-
diſche wird feine Mutterfprade 3). Schon vor dem Abzug der
1) Ueber das Leben bes Älteren Franciscus Junius ſ. ben betr. Artikel
in Bayle's Diotionnaire, und La France protestante par Eug. et Em.
Haag, T. IV. (Paris 1853), p. 382 sq. — Ueber beide Junius: Jo,
Guil. de Crane oratio de Vossiorum Juniorumque familie, habita
Franequerae d. VI. Nov. 1820. — 2) &. bie Anmerkung am Schluß von
Sawine' Vita Francisci F. F. Junüi, bie dem Werke des Junius De pic-
tura veterum, Roterod. 1694 vorausgefßidt iſt. — 3) Bol. den Brief
108 Zweites Bud. Erſtes Kapitel.
Familie von Heidelberg war im J. 1591 die Mutter des Knaben
geſtorben, und auch eine Stiefmutter gieng ihrem Mann im Tode
voran. So hinterließ der ältere Franciscus Junius, als er am
13. Oftober 1602 ſtarb, feinen Sohn als Doppelwaife Am
2. Febr. desſelben Jahres hatte Gerhard Voſſius, der große
Philolog, damals Rector des Gymnaſiums in Dordrecht, bie
Nichte des älteren Franciscus Junius 1) geheirathet, und als biefe
im %. 1607 ftarb, ehelichte er no im Lauf besfelben Jahres eine
Tochter des älteren Franciscus Junius. Der junge Franciscus
wurbe dem neuen Verwandten zur Erziehung anvertraut 2), und er
tonnte in feine befferen Hände fommen, als in bie jenes ausge
zeichneten Philologen und Pädagogen. Die erfte jugendliche Neig-
ung des heranwachſenden Jünglings gieng auf Mathematik und
Kriegswiſſenſchaften. Er wollte unter der ruhmvollen Führung des
Prinzen Morig von Oranien für bie freiheit der Niederlande
kämpfen. Als aber zuerſt die Friedensunterhandlungen, dann ber
Abſchluß des zwölfjährigen Waffenftillitands die Ausfiht auf meir
tere Krigsthaten abſchnitt, gab Junius feinen Plan auf umd wandte
ſich mit ganzer Kraft dem Stubium der alten Sprachen und ber
Theologie zu 9). Im Jahr 1608- finden wir ihn auf der Univer⸗
des Fr. Junius an Gerh. Voffius aus London vom 22. Mai (a. Gt.) 1635,
wo er von der Meberfegung feines Werks de pietura veterum in’s Nieder
länbifje fagt: Primo per otium in vernaculam nostram linguam es
quae Latine dedi transfero. (Ger. Jo. Vossii — epistolae, Lond.
1690, II, p. 143). In der Wibmung ber Observationes in Willerami
Paraphrasin, Amstel. 1655, 1. 3, nennt Junius das Holändifge »Teu-
tonicam nostrame« und »vernaculam nostram.e — 1) Eliſabeth Corput,
bie Tochter bes Heinrich Corput, der ein Bruber ber zweiten rau bes älteren
Tr. Junius war. Der jüngere Fr. Junius war ein Sohn der britten Frau
bes älteren. — 2) Crane 1. 1. p. 57. — Junius nennt den Voſſius aus
drüdlich feinen Lehrer. (Ger. Vossii epist. II, p. 2). In feinen Obser-
vationes in Willerami Paraphrasin (1655) p. 176 fagt er: Gerardus
Joh. Vossius affinis quondam mihi conjunctissimus et praeceptor
optime semper de me meritus. — 3) S. Graevius in ber Vita de)
Junjus, -
Die germ, Phil. in ben Niederl, in Engl. u. Stanbinavien v. 1665 6. 1748. 109
ftät zu Leiden, von wo er dem Gerhard Voffius über feine Maffi-
ſhen und theologiſchen Stubien berichtet. Mit befonderem Eifer
warf er fih unter tüdtiger Leitung auf das Studium der
Griehen 1). Na Vollendung feiner Univerfitätsftubien, hielt er
fih eine Zeit lang bei dem frommen und gelehrten Theologen
Teelinghins zu Middelburg auf ?), um ſich auch praktiſch für das
geiftliche Amt vorzubereiten. Im J. 1617 erreichte er dies Biel,
indem er auf Empfehlung des Hugo Grotius zum Pfarrer in
Hillegonsberg berufen wurde °). Die reformierte Kirche der Nie-
derlande war damals durch bie erbitterten Streitigfeiten zwiſchen
den Anhängern des Gomarus und bes Arminius zerriffen. Junius
hielt fih von einer Einmiſchung in diefe nicht bloß mit geiftigen
Waffen geführten Streitigfeiten fern. ber fein milder, einfach
frommer Sinn zog ihn mehr zu Hugo Grotius und ben anderen
Remonftranten, als zu den Vertheidigern der unbedingten Prä-
deftination 4). In derfelben Zeit, in der fi die Synode zu Dord-
recht für die Lehre des Gomarus entjhied, erfuhr auch Junius
einen kränlenden Angriff auf feine amtliche Stellung. Die Synobe
zu Delft erflärte im Februar 1619 feine Berufung zum Pfarramt
für ungültig und wollte ihn nur als Vicar und auf Kündigung,
bis ex ſich beſſer ausgewiefen, haben würde, in feiner Stellung bes
laſſen. Junius, der fid feiner Schuld bewußt war, fühlte ſich
durch dieſe unwürdigen Zumuthungen tief gefränft und zog e8 vor,
dem geiſtlichen Amt gänzlich zu entfagen 5). Er ift auch nie wieder
zu demfelben zurückgelehrt; und obwohl er auch fernerhin die Schie-
1) Ger. Voss epist. U, p. 2. — 2b. I. p. 12. — 3) Gerh.
Boffins empfiepft feinem Freund Hugo Grotius ben Junius für bie Stelle in
Hilegonsberg in einem Brief vom legten Jan. 1617, der gebrudt iſt in Cen-
tum Epist. Clarorum Virorum ex Museo Brantii p. 18. Die zuflim-
menbe Antwort bes Grotius findet fih in Nr. 94 und ein weiterer hieher bes
Higlicger Brief desſelben ebend. Nr. 95. — 4) Man fieft bie u. A. aus
dem Gefprädp, das Junius im Sept. 1620 mit Tilenus in Paris Hatte,
©. darüber den Brief bed Junius an Gerh. Voſſius in Ger. Vossii epist,
1, p.%. — 5) Grane p. 59, o.
110 Zweites Buch. Erſtes Kapitel.
fale feiner Kirche mit warmer Theilnahme verfolgte, wandte er fi
jetzt anderen als ben theologifchen Studien zu.
Im Sommer des Jahres 1620 reifte er nach Paris, befuchte
dort feine Verwandten und gieng dann im nächſten Jahr nad
England hinüber. Hier machte er die Belanntichaft des relchen,
Kunft und Wiſſenſchaft Tiebenden Tomas Howard Grafen von
Arundel. Der Graf fand ſolches Wohlgefallen an Junius, daß er
ihm bat, bei ihm zu bleiben !), und ihm die Erziehung feines Sohnes
anvertraute. Hier lebt num Junius viele Jahre, umgeben von den
Schägen der Kunft und ber Wiſſenſchaft, im Verkehr mit Gelehrten
und Künftlern und mit den engliſchen Großen in Staat und Kirche.
Seine Zeit ift getheilt zwiſchen dem Pflichten, die er als Erzieher
bes jungen Grafen treulich erfüllt 2), wiſſenſchaftlichen Beihäftig-
ungen unb ven Vergnügungen des vornehmen Weltlebens °). Bald
finden wir ihn in dem Arundel'ſchen Palaft in London, den der
Graf mit den berüßnten antiten Marmorwerken ausftattete,
bald auf den Lanbfigen der Großen, wo er mit feinem Zögling an
Jagden und anderem Zeitvertreib theilnimmt %). Immer iſt ex in
Eile, fo zu fagen immer auf dem Sprung. „Raptim“ ift die ge-
wöhnlihe Unterſchrift feiner Briefe an Gerhard Voſſius. Aber
bald ſollte fi zeigen, daß dies ſcheinbar zerftreute Leben ihn nicht
hinderte, die grünblichften und umfaffendften wiffenfhaftlihen Stu-
dien zu maden. Auf den Wunſch des Grafen Arundel d) begann
er nämlich ein Verzeichniß der antiken Künftler anzulegen, und aus
den Brolegomenis zu diefer Arbeit e) wurde bie in dem antiquaris
ſchen Theil der alten Kunftgefhichte Epoche madende Schrift De
DE. den Brief bes Junius an Gerh. Boffius vom 1. Der. (a. St.)
1621, in Ger. Vossii — epist. H, 29. — 2) S. Ger. Vossii epist. I,
179. — 3) Die ganze Schilderung if entworfen nad) den Andeutungen, bie
fih in den Briefen bes Junius an Gerhard Voſſius finden. Vgl. bef. den
‚Brief des Junius vom 22, Mai (a. St.) 1635 in Vossii epist. II, 143. —
4) Junius an Gerh. Voſſius 19. Apr. (a St.) 1628 in Ger. Vossii epist.
II, 59. — 5) Junins an Gerh. Voff. d. 19. Apr. (a. St.) 1628, in Ger.
Vossii epist. II, 59. — 6) Junins an Gerh. Voſſ. 1684 in Ger. Vossüi
epist. II, 134.
Die ger. Phil. in den Nieberl., in Engl. B 1665 6.1748. 111
pietara veterum. Sie wurde im Jahre 1637 unter der Obhut
des Gerhard Voſſius zu Amfterbam herausgegeben und erwarb
dem Berfaffer die Lobſpruche ber berühmteften Gelehrten feiner
dit‘).
Bir wiffen nit, wie fich das Verhältniß des Junius zur
Familie des Grafen von Arundel geendet hat; aber aus einem
Brief des Gerhard Voſſius vom 1. December 1641 erfahren wir,
dab Junius damals Erzieher eines Grafen von Oxford war 2).
Im folgenden Jahr begleitete er feinen Bögling in bie Nieber-
Inmde:), und and im Jahr 1644 finden wir ihn bort mit bem
jungen Grafen von Oxford, ber im nieberlänbifien Heer Dienfte
genommen Hatte. Bis zum Jahr 1646 4) weilte Junius in ben
Niederlanden; dann Tehrte er nach England zurüd und blieb dort,
Bis er im Jahr 1651 für eine Tängere Reihe von Jahren feinen
Kufenhalt in der niederiandiſchen Heimath nahm.
Während feines faft dreißigiährigen Aufenthalts in England
wor Junius im regſten Verkehr mit feinen niederländiſchen Ber-
wandten geblieben. Wenn er aud) Fein ſehr fleiiger Briefſchreiber
>), fo nimmt er doch an Allem, was feinen Schwager Gerharb
Boffins und deſſen Haus betrifft, den wärmſten Antheil ©). Dies
nahe Berhältnig zu Gerhard Voſſius iſt vom nicht geringer
Bedeutung für den Gang, den die Stubien des Junius nahmen.
Riht als ſollte das jelbftändige Werbienft des Junius geſchmälert
werden, das er ſich durch die epochemachenden Arbeiten auf dem
Gebiet der germaniſchen Philologie erwarb. Aber daß Junius
diefe Richtung einſchlug, daß er fie fo gut ausgerüftet und mit
1) S. die Briefe des Hugo Grotius, bie ber Schrift des Junius De
pietura veterum vorgebrudt find; ben Brief des Gerhard Voſſius an Junius
in Ger. Vossii epist. I, 259. — Der Ontalogus Artifcum wurde erft
10% Junius Tod im Anfhluß an bie zweite Ausgabe des Werks De pictara
veterum, Roterodami 1694 veröffentliht. — 2) Ger. Vossii epist. I,
38. — 3) Ib. II, 397. — 4) Ger. Vossii epist, I, 498. — 5) Ger.
Vomii epist. I, 148. — 6) Bgl. bie Briefe des Junius an Gerh. Voſſius
in Ger. Vossii epist. II, 31; 68 u. ff.
112 Zweites Bud. Erſtes Kapitel.
folder Gründlichkeit verfolgte, das erklärt fi nicht zum geringſten
Theil aus feinem Verhältniß zu dem größten unter den bamals
lebenden klaſſiſchen Philologen. Denn was wir in einem früheren
Abſchnitt über die niederländiſchen Philologen gejagt haben, das
zeigt fih am glänzendften in der Familie des Gerhard Voſſius.
Sie ftellt uns den ausgebreiteten Umfang der damaligen Philologie
dar. Er felbft greift, wie wir fehen werden, weit über die Gren⸗
zen bes antik Klaſſiſchen hinaus. Seine tafentvollen Söhne Diony-
ſius und Iſaak befhränfen ihre Studien nicht auf das Griechiſche
und Lateiniſche, fondern fie erwerben ſich zugleich unter der Leitung
des Golius die Kenntniß der ſemitiſchen Sprachen !). Und derſelbe
Dionyſius Voſſius, deſſen femitiftifhe Gelehrſamkeit fi im ber
Herausgabe des Moses Maimonides de Idololatria ein Dentmal
fegte, übertrug bie nieberländifchen Annalen des Everard van
Reyd in klaſſiſches Latein 2. Ein dritter Sohn des Boffius,
Matthäus, ſchrieb ein felbftändiges Werk über die Geſchichte Hol-
lands und Seelands von den älteften Zeiten bis zur Mitte des
14. Jahrhunderts). An dem allen nahm der Vater den leben
digften Antheil. Er erzählt uns felöft, wie fein Haus viele Jahre
hindurch erfüllt war von Gefprähen über die alten niederländiſchen
Geſchichten %). In Bezug auf feine Spradftudien aber war Ger
hard Voffius, obwohl einer der erften Kenner und Meifter des
Haffifhen Lateins, doc; feineswegs jo beſchränkt, das, was über
das Haffifhe Latein hinauslag, verächtlich bei Seite zu laſſen. Er
richtete fein Augenmerk auf die Urfprünge ber lateiniſchen Wörter,
und fon dies führte ihn weit über den Bereich der bloßen Latini⸗
ften, Hinaus. Iſt aud Vieles in feinem großen Werk über bie
lateiniſche Etymologie jegt längſt veraltet, fo erwedt dod die Ger
lehrſamkeit und der Scharffinn, die der große Sprachforſcher ent
faltet, noch heute unfere Bewunderung. Gerhard Boffius erflärte
fi aber auch ausdrücklich dagegen, feine Studien auf das klaſſiſche
1) Crane L.1.p. 16 09,5 p.24.— 2 ib. p.17. — 3) ib. p. 28
83. — 4) Gerh. Voſſ. Brief an Johann. Brumaens vom 3. 1646 in Ger.
Vossii epist. I, 444. "
Die germ. Phil. in ben Nieberl. in Engl. u. in Gfanbinavien v.1665 5.1748. 118
Latein zu beſchränken. Er Hält es für unumgänglich, auch in bie
fpäteren Beiten hinabzufteigen '). Er ſelbſt that dies in feinem ge-
lehrten Werk De vitiis sermonis et glossematis Latino-barbaris.
& handelt Hier ausführlich von den Wörtern, bie dem klaſſiſchen
Latein fremd find. Natürlich thut er dies zunächft aus dem Ge⸗
fichtspunkt, daß der Gebrauch diefer Wörter. von dem, der gutes
&atein ſchreiben will, als fehlerhaft zu meiden fei. In welchem
Geift er aber nichts beftoweniger den ganzen Gegenſtand behandelt,
dos zeigt fi in ben Worten, mit denen er ben genannten Ab⸗
jcuitt einfeitet. Ac ordiar ab iis, fagt er, quae ortu ipso bar-
bariem prodant: ut quae genus suum ducunt ab illis, quos
Romani Graecique pro fastu suo barbaros dixere: praecipue
ab incolis magnae matris nostrae Germaniae ?). Und nım geht
er neben anderen eine große Menge germanifcher Wörter durch, bie
fih bei den mittelakterlichen Lateinern finden. Man wird billiger-
weife nicht erwarten, daß der llaſſiſche Philolog Hier vor mehr als
zweihundert Jahren und vor dem Beginn einer wirklich wiſſen⸗
ſchaftlichen germaniſchen Sprachforſchung überall das Rechte ge-
ttoffen Habe. Man wird ſich vielmehr freuen, zu ſehen, wie der
große Ratinift fi der altgermanifchen Quellen zu bemächtigen fucht,
wie er nicht nur die mittelalterlichen Lateiner, fondern aud die
altdeuti gen Sprahbenkmäler für feine Zwede benugt. Er citiert
den Offrib 3), den althochdeutſchen Tatian 4), den Kero 6), ben
Billeram. Den legten führt-er nad der Ausgabe des Merula an
und fügt dann orthographiſche Varianten aus einer Handſchrift Bei,
die er vetustus noster Manusoriptus nennt 9). Ex ſchöpft aus
althochdeutſchen und aus angelſächſiſchen Gloffen 7. Er kennt die
wenigen Heinen Bruchſtücke, bie damals von der gothifchen Bibel⸗
überfegung veröffentlicht waren ®). Er will überhaupt nicht nur
1) Ger. Vossii de vitiis sermonis et glossematis Latino-barbaris
Nibri quatuor. Francof. 1666. Praef. (p. 185g.) — 2) Ib. p. 175. —
3 Ib. p. 886. — 4) Ib. p. 285. — 5) Ib. p. 208; 339. — 6) Ib.
p. 227; 899; 240. — 7) Ib. p. 184; 206; 336; 339. — 8) Ib. p. 7
führt er das gothiſche Waterunfer an; p. 285 bie gothiſche Ueberſebung bes
Canticam Simeonis. Beide waren in ber Schrift des Bonaventura Vul-
Reumer, Sch der germ. Phllologie, 8
114 Zweites Buch. Erſies Kapitel.
unter die Teutonas, fondern auch unter die Quloredrovag ge
rechnet fein ').
So fehen wir Gerhard Voſſius, den. großen klaſſiſchen
Philologen, als unentbehrliches Nebenftudium die altgermaniſchen
Sprachquellen für feine Zwecle ausbeuten. Wir erbliden ihn ge-
wiffermaßen ſchon auf dem Wege, der dann feinen Schwager Fran⸗
ciscus Junius zur Pflege der germanifhen Philologie als einer
befonderen Wiſſenſchaft führte. Franciscus Junius theilte bie
Neigung feines Schwagers Gerhard Voſſius zu etymologiſcher
Forſchung. Er ift hoch erfreut, als er im Jahr 1634 des Vulca⸗
nius Gloffarium von Gerhard Voſſius zugefenbet erhält, und iſt
ganz zufrieden, daß aud das Lexikon des Heſychius ſich bei diefer
Sendung befindet, obſchon er es bereits früher erworben hat.
Denn gute Büder, meint ex, befige er gern zweimal, um fie fo-
wohl in London als auf dem Land, wo er den Sommer zubringt,
zur Hand zu Haben 2). Ganz beſonders aber war es bie nieder-
ländiſche Mutterſprache, welche Franciscus Junius mit Liebe pflegte.
Er ſchrieb fie auch nad) langer Abweſenheit mit Meifterichaft, wie
dies feine Ueberfegung der Schrift De piotura veterum bewies 3),
und ihre Erforfung war es vorzüglih, was ihn mehr und mehr
ausſchließlich germaniſchen Sprachſtudien zuführte. Während feines
Iangjährigen Aufenthalts in England wurde er befannt mit dem
reichen Schag angelſächſiſcher Handſchriften, welche bie engliſchen
Bibliotheken aufbewahren, und es entgieng ihm nicht, wie viele
neue Aufſſchlüſſe die Durchforſchung dieſer alten Sprachdenlmäler
auch für die Erläuterung der neueren germaniſchen Sprachen: des
Niederländiſchen, des Engliſchen und des Deutſchen, gewähren t).
Er warf fi mit ganzem Eifer auf das Studium des Angelfähli-
canius De Literis et Lingua Getarum Sive Gothorum, Lugduni Ba-
tavorum 1597, mitgetgeilt. — 1) Ib. p. 8. — 2) $ranc. Junius an
Gerhard Voſſius in Ger. Vonsii epiet. IL, p. 183g. — 3) Der Anonym.
Bat. (b. i. Adrian Verwer) Praef. Ideae Linguae Belgieae erklärt fie
für ein Mufter ber nieberländifhen Sprache. S. Crane l. 1. p. 29. —
4) S. d. Vita Fr. Junii vor der durch Graevius bejorgten Ausgabe des
Werts De picture veterum.
Die germ. Phil. in den Riederl,, in Engl. u. in Skandinavien v. 1665 6.1748. 115
ſchen. Dies führte ihn immer tiefer in die Erforfung auch der
anderen altgermaniſchen Sprachen, namentlich des Althochdeutſchen,
hinein
Als ſein Schwager Gerhard Voſſius im Jahr 1649 geſtorben
war, kehrte Franciscus Junius nach den Niederlanden zurück und
lebte längere Zeit mit feiner Schweſter, ber Wittwe des Voſſius,
et in Amfterdam, dann im Hang). Aus dem Nachlaß feines
Eqwagers gab er deſſen Harmonia Evangelica heraus 2).
Seine hauptſächlichſte Beſchäftigung aber bildete das unermüdliche
Stubium der germanifchen Sprachen. Als ihm mitgetheilt wurde,
im weftlihen Friesland gebe es eine Gegend, in welder die Be-
wohner die alte friefifhe Sprade in ihrer urfprünglichen Geftalt
bewahrt hätten, entihloß er fi, diefe Sprache an Ort und Stelle
zu lernen, und hielt ſich zu biefem Behuf zwei Jahre lang in den
Heinen Orten Staveren, Moltweren, Hinbelopen, Workum und
Volsward auf ?). Um unerkannt und durch feine Rüdficht gebunden
mit den Leuten verlehren zu lönnen, vertauſchte ex feinen Namen
mit deſſen hebräiſcher Ueberfegung Nadab Agmon *). Nach Ber-
lauf von zwei Jahren kehrte er ausgerüftet mit einer gründlichen
Lenntniß der friefiihen Sprage nad Amfterdam zurüd. Hier
übergab er num die erite Frucht feiner germaniftiihen Studien der
Oeffentlichteit. Es waren bie Observationes in Willerami Ab-
batis Franeicam Paraphrasin Cantiei cantioorum, die mit den
Leitern und auf Koften des Verfaſſers im Jahr 1655 zu Amfter-
dam erſchienen. Daß er fih zuerft an diefem eigenthümlichen alt-
hoqhdeutſchen Erzeugniß bes elften Jahrhunderts verfuchte, wird
feinen Grund darin gehabt Haben, daß dies Wert durch Paulus
Rerula im Jahr 1598 zu Leiden herausgegeben worden war. Die
Observationes des Junius machen den Gindrud einer raſch nie-
dergeſchriebenen Arbeit, aber einer Arbeit, die auf den umfafjendften
1) Crane 1.1, p. 38. — 2) Im Jahr 1656. Bol. Crane 1. 1.
p. B. — 3) S. b. Vita Fr. Jumii vor Graevius Ausg. ber Schrift De
piet, vett. und Crane p. 33 u. 79. — 4) Crane p. 34.
8.
116 Zweites Bud. Erſtes Kapitel.
Borftubien ruht. Sie theilen mit leichter, ſicherer Hand aus ben Schägen
mit, an denen Junius damals ſchon jeit Jahren geſammelt hatte. Denn
bereits im Jahr 1651 ſchreibt Johann Friedrich Gronov an Nicolaus
Heinfins: „Neulich war ih zu Amfterdam mit Franciscus Junius
zuſammen. Er hat ein 2erifon der Origines unfrer Mutterſprache
fertig, worin viel Treffliches aus ben alten Spradenkmälern ver
Angelſachſen“ ). Im Lauf des Jahres 1655 gab Junius and
noch eins ber widtigften Denkmäler der angelfähfiigen Poefie zum
erftenmal Heraus, nämlich die metriſche Paraphraſe der bibliſchen
Geſchichte, die unter dem Namen des Caedmon belannt ift ?). Die
Handſchrift, welche ber Erzbiſchof von Armagh, Jacob Uffer, dem
Junius mittheilte °), nennt leinen Verfaſſer. Junius aber ſchrieb “)
das Werk dem alten Dichter Caedmon zu, von welchem Beda in
feiner Kirchengeſchichte erzählt. Die Ausgabe des Junius enthält
außer dem ſauber mit angelſächſiſchen Xettern gebrudten Text
nur ein kurzes Vorwort und eine Inhaltsangabe ber Kapitel.
Ales Andere, was Junius bem Tert nadfolgen Iaffen wollte d)
iſt ungebrudt umter feinem handſchriftlichen Nachlaß aufbewahrt.
In biefelbe Zeit, in welcher Junius die erften Proben feiner
germaniftifgen Stubien in Drud gab, fällt ein Ereigniß, das für
Junius und durch im für die ganze Entwidlung der germaniſchen
Sprachſtudien epochemachend wurde. Wir haben in einem früheren
Abſchnitt gefehen, wie in der zweiten Hälfte des ſechzehnten Jahr⸗
hunderis die Kunde von der gothiſchen Evangelienhandſchrift auf
taucht, wie aber nur wenige eine Bruchftüde derſelben veröffent-
1) Sylloge Epistolerum, Herausgegeben von Peter Burmann, Tom. II],
p. 286. — 2) Caedmonis monachi Paraphrasis poetioa Genesios ac
praecipuarum Sacrae paginae Historierum, abhine annos MLAX.
Anglo -Saxonioe conscripta, et nuno primim edita & Francisco Junio
F. F. Amstelodami, Apud Christophorum Cunradi. Typis et sump-
tibus Editorie. CIOIICLV. Prostant Hagae-Comitum apud Adris-
num Viacg. (Rein Quarto). — 8) Fr. Junius Ad lectorem vor em
Tert des Gaebmon. — 4) Observationes in Willerami Paraphrasiz,
p. 248. — 5) Bl. Fr. Junius Ad lectorem vor dem Tert des Gachmon
nf.
Die gern. Phil. in ben Rieberl.,in Engl. u.in Stanbinavienv. 1665 6.1748. 117
lſicht werben, und bie Hanbferift dann wieder aus dem Geſichts⸗
Iris der Gelehrten verſchwindet ). Sie war in den Schat bes
efrigen Sommers, Kaifer Rudolf IL, auf bem Hradſchin gelom-
men 2). Hier fanden fie nad Erftürmung der Kleinfeite von Prag
im Jahr 1648 die Schweden und entführten fie mit anderen liter
rariſchen Koftharkeiten nah Stodholm. Unter den Gelehrten,
welche die Königin Chriftine von Schweden an ihrem Hofe ver-
fammelte, befand ſich auch Jſaak Voſſius, der Sohn des Ger⸗
hard Boffins und Neffe des Franciscus Junius. Die Königin,
et übertrieben freigebig für gelehrte Zwecke, konnte dann fpäter
nad Erſchöpfung ihrer Mittel den früher übernommenen Verpflich⸗
tungen nicht überall nachkommen. Sie konnte dies um fo weniger,
nachdem fie im Juni bes Jahres 1654 die ſchwediſche Königskrone
niedergelegt Hatte. Sie geitattete daher einzelnen Gelehrten, ſich
für das, was fie ihnen ſchulde, dur Bücher aus ihrer koſtbaren
Bibliothek zu entfhäbigen. Cine folde Erlaubnig, erhielt Iſaak
Voſſius, der nah mannigfachen Schiefalen und Zerwärfniffen im
rüßling des Jahres 1654 aus Schiweben nach den Niederlanden
wrüdtehrte. Man hat ihm vorgeworfen, er habe ſich unerlaubter
Beije an dem Eigenthum der Königin vergriffen. Iſaak Voſſius
war durchaus nicht der eble, reine Charakter, wie fein Vater; man
beſchuldigt ihn nicht mit Unrecht der Habſucht und anderer ſchlim⸗
mer Dinge. Aber mit der obigen Erlaubniß der Königin, fi
Bũcher aus ihrer Bibliothek auszuſuchen, ſcheint es feine Richtigkeit
u haben 3). Unter den Büchern, bie Iſaak Voffius ſich aneignete,
befand ſich auch ber gothiſche Evangeliencoder, und fo kam biefe
toftbare Handſchrift in bie Hände feines Ofeims, des Franciscus
Imius. Man ann fih denken, von welder Freude der greife
docſcher ergriffen wurde, als ſich ihm biefe alteſte und urſprüng⸗
1) S. 0 6.92% — 9) Mapmanı in Hanpt’s Zeitschrift für
deutsches Alterthum, Bd. I (Leipzig 1841) 8, 316 fg. — 3) Die hier
wachen Darfiellung folgt haupiſachlich ber forgfältigen Unterſuchuug Chauffe ⸗
viES in befien Nouveau dietionnaire bistorique et critique, Tom. IV.
(Amsterdam 1756) p. 621 sq.
118 Zweites Bud. Erſies Kapitel.
lichſte Quelle der germanifhen Sprachen erſchloß. Schon den
Heinen von Bonaventura Bulcanius veröffentlichten Bruchſtücken
hatte er richtig abgemerkt, daß uns Hier ein Zuftand der germani-
ſchen Sprachen entgegentritt, der weit auch hinter den älteften Denk⸗
mälern des Angelſächſiſchen zurüdiiegt ). Und nun hielt er diefe
ältefte Urfunde, diefe Grundlage ber ganzen germanifhen Sprad-
forfhung in Händen! Er fieht darin eine Schidung des Himmels.
Dur eine Fügung des ewigen Gottes fei diejer oder in feine
Hände gefommen 2). Bon nun an geht fein eifrigftes Bemühen auf
die Herausgabe ber gothiſchen Sprachreſte. Er arbeitet fih mit
unermüblihem Fleiß in die Sprache hinein, läßt auf feine Koften
gothiſche Lettern ſchneiden und gelangt fo endlich dahin, da er im
Jahr 1665 die erfte Ausgabe des Codex argenteus zu Dord-
recht erſcheinen laſſen kann 3). Er verband fih dazu mit dem
Engländer Thomas Marefhall. Diefer fügte dem gothiihen
Text die alte angelſächſiſche Weberfegung ber Evangelien bei, welche
im Jahr 1571 zum erftenmal erſchienen war und zu deren vers
befferter Herausgabe ihm Junius die Collation von vier Hand»
ſchriften überließ +). Mareſchall ftenerte außerdem fehr achtungs⸗
werthe Observationes de Versione Gothica und in Versionem
Anglosaxonicam bei. Junius ſelbſt aber Tieß der Ausgabe des
Textes ein Gothicum Glossarium folgen, das erfte lexilaliſche
Hülfgmittel für das Studium des Gothifchen.
1) gl. die Widmung bes Franciscus Junius an ben Kanzler De fa
Gardie vor feiner Ausgabe bes Codex argenteus. — 2) Ebend. —
3) Quatuor D. N. Jesu Christi Euangeliorum Versiones perantiquae
duse, Gothica scil. et Anglo-Saxonica: Quarum illam ex celeber-
rimo Codice Argenteo nunc primum depromsit Franeiscus Junius F,
F. Hano autem ex Codioibus mass. collatis emendatiüs recudi oura-
vit Thomas Mareschallus, Anglus: Cujus etiam Observationes in
utramque Versionem subnectuntur. Accessit et Glossarium Gothicum:
cui praemittitur Alphabetum Gothicum, Runicum etc. oper& ejusdem
Franeisci Junii. Dordrechti. Typis et sumptibus Junianis. Excude-
bant Henrieus et Joannes Essaei, Urbis Typographi Ordinarii.
CIYIICLXV. — 4) gl. Thomae Mareschalli (sic), Angli, observa-
tiones in versionem Anglo-Saxon. p. 490.
dit germ. Phil. in den Rieberl., in Engl. u. in Efandinavien v. 1665 5. 1748, 119
So lebte Junius eine Tange Reihe von Jahren in den Nie-
derlanden der Erforſchung der germanifhen Sprachen Hingegeben.
Seine äußere Lage hatte fi günftiger geftaltet, nachdem er einen
langwierigen und verbrießlihen Proceß gegen den Viscount Staf-
ford, den Sohn des Grafen Thomas Arundel, gewonnen hatte ').
Aber das Erworbene diente ihm nur, um ungeftört und ununter⸗
drohen an den großen Sammlungen fortarbeiten zu können, die er
fir die Erforſchung der germaniſchen Sprachen angelegt Hatte.
Obwohl jet in hohem Greifenalter, genoß er einer wunderbar
feiten und ungetrübten Gefundheit. . Jeden Morgen, Winter und
Sommer, erhob er fid um vier Uhr von feinem Lager und ftand
dann bis zur Effenszeit, um Ein Uhr, vor feinen Arbeitspulten.
Auf diefen Pulten lagen fünf Wörterbüder, die er ſich für die alt-
germanifhen Spraden angelegt Hatte, und feine Commentare zu
altgermaniſchen Schriftwerfen. In diefe trug er Alles ein, mas
ihm beim Leſen der Aufzeichnung werth dünkte. Um Ein Uhr aß
a zu Mittag. Dann machte er fi zwei Stunden lang Bewegung
mit Spagierengehen, Springen und Laufen im Freien, wenn es die
Jahreszeit duldete; war das Wetter gar zu ſchlecht, fo ftieg er
feiner Geſundheit zu Liebe die Treppen im Haufe auf und ab. Um
drei Uhr zog er fich wieder in fein Zimmer zurüd und arbeitete
ununterbrochen fort bis Abends acht Uhr. In diefer Abgeſchieden⸗
heit und Arbeitfamfeit aber war der rüftige Greis nichts weniger
ala mũrriſch oder menjchenfeindlih. Obwohl er fi ungern von
feiner Arbeit abziehen ließ, war er doch äußerſt freundlih und
liebenswürdig, wenn er Beſuch erhielt. Cr konnte dann Stunden
lang durch fein lehrreiches und unterhaltendes Geſpräch feſſeln.
Erin Charakter war von einer feltenen Reinheit und über fein
ganzes Weſen war die Scheu vor jedem Uneblen und Unreinen
1) In ber Vorrede zu feinen Observationes zum Willeram fpielt Zus
nius auf biefen verbriehlichen Redhtshandel an. Aus einem Brief bes Janus
Biriws am Nicolaus Heinſius vom Jahr 1662 (in Burmanı's Sylloge
T. I, p. 769) erfahren wir, daß Junius den Proce gewonnen hat. ©.
Grane 1. 1. p. 77.
120 Zweites Buch. Erſtes Kapitel,
ausgebreitet. Von Allen, die ihn Tannten, geliebt und verehrt,
erſchien er wie ein Ueberreft aus einer beffern Zeit. Weder Hoff-
nung auf Gewinn, noch Durft nah Ruhm trieb ihn zu feiner
Arbeit, fondern allein die reine Liebe zur Wiſſenſchaft, zum Bater-
land und zu den Mitmenfhen. So ſchildert ihn ein jüngerer
Beitgenoffe‘), und ſowohl durch die Berichte Anderer, die ihn ges
lannt 2), als durch die Schriften des Junius ſelbſt ) wird ung bie
Treue diefer Schilderung beftätigt. Erſt nachdem er das achtzigfte
Lebensjahr längſt überfäritten Hatte, begannen die Beſchwerden des
Alters fi bei ihm einzuftellen. Im Anfang des Jahres 1674
wurde er von einer ſchweren Krankheit befallen, aber troß feines
hohen Alters überftand er fie glüdlih *). Dod begannen nun
bald feine Körperkräfte abzunehmen, fein früher fehr fiheres Ge⸗
dächtniß ſchwächer zu werden 5). In feinem fiebenunbachzigften
Lebensjahr faßte er den Entſchluß, noch einmal feinen Wohnfig zu
verändern. Im Herbft des Jahres 1675 verließ er dem Haag,
wo er bis dahin gelebt Hatte, und ſchiffte nah England hinüber.
Schon im Jahr 1670 war ihm fein Neffe Iſaak Voffius voraus
gegangen, ber von König Karl IL. im Jahr 1678 ein Canonicat
zu Windfor erhielt. In der Nähe diefer Stadt lebte er auf einem
Landgut im Befig eines bedeutenden Vermögens °).. Franciscus
Junius brachte den größten Theil feiner Zeit in Oxford zu. Im
Auguft 1677 beſuchte er feinen Neffen Iſaak Voſſius auf beffen
Landgut bei Windfor. Hier, im Haufe feines Neffen, ift er am
19. November des Jahres 1677 nach einer Krankheit von nur
wenigen Tagen geftorben. Sein Leichnam wurde in der ©t
1) Graevius in ber Vita Junii vor deſſen Schrift De piotura vete-
rum. — 2) ®gl. Pauli Colomesii Opers, Hamburgi 1709, p. 323. —
3) Bol. u. A. die liebenswürdig ſelbſtloſen Aeußerungen des Junius in ber
Vorrede zu den Observationes zum Willeram. — 4) Graevius an Ric
Heinſius d. 13, Febr. 1674, in Burmann's Sylloge Epistolarum T. IV,
p- 226. — 5) Nic. Heinſius an Graevius d. 8. Juli 1675, in Burmann's
Sylloge Epist. T. IV, p.355. — 6) Chauffepie, Nouveau Dictionnaire
historique et critique Tom. IV (Amsterdam 1756) p. 627 sq.
" Die germ. Phil. in ben Niederl, in Engl. u. in Skandinavien v. 1665 6.1748. 121
Gengäfiche zu Windfor beigefegt ').. Seinen reichen literariſchen
Nachlaß vermachte ex der Univerfität Oxford.
Die Leitungen bes Franciscus Junius,
Bei Beantwortung der Frage, melde Fortſchritte die Erfor-
hung der germanischen Spraden dem Franciscus Junius ver-
dankt, befinden wir uns in einer eigenthümlichen Rage. Bei den
meiften Gelehrten richtet ſich unſer Urtheil nach den Schriften, die
fie während ihrer Lebzeiten in Drud gegeben haben; ober fehen
wir uns bei einigen gemöthigt, auch auf ihren handſchriftlichen
Rachlaß Rüdſicht zu nehmen, fo ift doch diefer Nachlaß in der
Hegel bald nad} ihrem Tode veröffentlicht worden, und fein aner--
lanntes Eingreifen in den Gang der Wiſſenſchaft liegt nahe bei-
fammen mit den Werken, welche jene Gelehrten noch ſelbſt heraus⸗
gegeben haben. Anders bei Franciscus Junius. Wir haben feine
äuferjt wichtigen, doch nicht fehr zahlveichen Veröffentlihungen im
vorigen Abſchnitt Tennen lernen. Aber außer diefen gebrudten
Werlen hinterließ Franciscus Junius einen fehr umfangreihen hand⸗
igriftlichen Nachlaß. Diefer Nachlaß, den er der Bodley'ſchen Biblio»
thel in Orford vermachte, enthält unter Anderem in einer anfehn-
lichen Reihe von Bänden die Wörterbücher, die ſich Franciscus
Junius zu etymologiſchen Zweden aus verſchiedenen germaniſchen
Sprachen anlegte. Andere Convolute dieſes Nachlaſſes geben um⸗
fangreiche Zufäge und Verbeſſerungen zu ben von Junius ver⸗
öffentlichten Schriften, fo zum Caedmon und zum Willeram. Wieder
andere enthalten vollftändige Werke des Junius, an denen er viele
Jahre feines Lebens gearbeitet hat, ohne fi doch völlig genug zu
tum, und die er deshalb ungebrudt, aber brudveif Hinterlaffen hat.
So verzeichnet der Katalog, den Graevius 2) als Anhang zum
Leben des Junius über deffen handſchriftlichen, auf der Bodley'ſchen
Bibliothek aufbewahrten Nachlaß gibt: „Tatiani Monotessaron cum
1) Bayle, Dictionnaire, s. v. Junius, aus Athenae Oxonienses. —
2) Bor der Ausg. ber Schrift bes Junius De pietura veterum, Roterod.
169.
122 Zweites Buch. Erfies Kapitel,
praefatione Victoris Episcopi Capuse, cum annotationibus
amplissimis Junii, in quibus comparantur cum Francisca
Gothica et Anglosaxoniga ;“ und außerdem „Auctarium nota-
rum in Tatianum, justum volumen in 4.“ Auf diefe Anmer-
kungen zur althochdeutſchen, gothifhen und angelfähfiigen Evan-
gelienüberfegung legte Junius ein befonderes Gewicht. Schon zwölf
Jahr vor feinem Tod war er im Begriff, fie in Drud zu geben.
Unter den Echriften, die er in der Vorrede zu feinem Gothicum
Glossarium (Dordrechti 1665) als darin öfters citierte verzeich⸗
net, führt er fie mit den Worten auf: „Tatiani harmonis evan-
gelica Latino - Francica cum nostris ad eam Annotatis, Deo
vitam viresque largiente, propediem praelo subjicietur.* Er
aitiert fie dann im Verlauf des Werkes fo, als lägen fie dem
Publicum bereit vor. Außerdem finden fih im Nachlaß des Ju⸗
nius eine Menge von Abfchriften angelfächfiicher, althochdeutſcher, frie⸗
ſiſcher Sprachquellen, die er zum Theil mit der beftimmten Abſicht
der Herausgabe genommen hatte. So heißt es 3. ®. in dem an-
geführten Verzeichniß des Graevius: „Otfridi Euangeliorum
liber, nitidissime scriptus cum indice Capitulorum a Junio
parante novam editionem.“ Endlich umfaßt das Bermädtniß
eine Anzahl gebrudter Werke mit zahlteihen handſchriftlichen Be⸗
merkungen des Junius, fo die Historia ecclesiastica des Beda,
Chaucer's Dichtungen und Anderes. Diefer handſchriftliche Nachlaß
des Junius ift num nicht bloß für feine nächſten Nachfolger und
Schüler, fondern weit über beren Leben Binaus, ja bis in bie
neufte Zeit Hinein eine Zundgrube der Belehrung gewefen. George
Hides, der Verfafier des großen Thesaurus linguarum veterum
septentrionalium, ſchöpfte vorzugsweife aus den Handſchriften des
Junius. Chriftoph Ramlinfon gab die angelſächſiſche Ueberfegung
von Boethius Consolationes philosophise im Jahr 1698 nad)
der Abfchrift des Junius zu Orford Heraus. Die Sammlung
althochdeutſcher und niederdeutſcher Gloffen, die Junius ſich ange
legt hatte, fand im Jahr 1787 an Nyerup zu Kopenhagen einen
Herausgeber. Ja noch nad) der Gründung ber neueren beutfchen
Sprachforſchung duch Jacob Grimm blieben die Papiere bes
Die germ. BHil. in ben Niederl., in Engl.u. in Sfandinavien v. 1665 5.1748. 128
Junius nach manden Seiten hin von großem Werth für bie
Wiſſenſchaft. Jacob Grimm ſelbſt gab im Jahr 1830 nad der
Anftrift des Junius die althochdeutſche Ueberfetzung der 26 Iatei-
niſhen Kirchenhymnen heraus und begleitete fie mit einem Vor⸗
wort, das der Leiftungen des Junius mit hohem Lobe gedentt 1).
Bon dem größten Einfluß aber unter den Arbeiten, die aus dem
Rachlaß des Junius veröffentlicht worden find, war das etymolo-
giſhe Wörterbuch der englifchen Sprache, das Edward Lye im J. 1748
zu Orford herausgab?). Eye hat die von ihm hinzugefügten Vermehr-
ungen in Klammern eingefchloffen und ung fo ein Urtheil über die Ar»
beit des Junius möglich gemacht. Junius geht in diefem Werk die
BVörter der englifhen Sprache, ſowohl die von angelſächſiſchem, als
die von franzöfifhem oder anbermeitigem Urfprung, der alphabe-
tiſchen Meihenfolge nad} durch und bemerkt bei jedem, was er über
defien Etymologie zu fagen weiß. Bis auf ben neuen großartigen
Aufſchwung der germaniſchen Sprachforſchung blieb dies Wert bes
Junius die hauptſächlichſte Fundgrube für die Etymologie der ger⸗
maniſchen Spraden.
Sehen wir fo die Arbeiten des Franciscus Junius ben um-
feffendften Einfluß auf die Entwidlung der Wiſſenſchaft üben, fo
bleibt und noch die Frage nad dem wiſſenſchaftlichen Werth biefer
Arbeiten zu beantworten. Wenn irgendwo, fo tritt uns bier bie
Forderung nahe, die Leiftungen unferer Vorgänger nicht ungerechter
Weiſe Herabzufegen, indem wir den Maßftab der fortgefährittenen
Wiſſenſchaft an fie legen und fie mit dieſem gemefjen für fehr
ungenügend erfläven. Vielmehr haben wir fie mit den Leiftungen
ihrer eigenen Zeit zu vergleichen und zu prüfen, welden Fortſchritt
und Zuwachs der Wiſſenſchaft fie ihren Vorgängern gegenüber
1) Bgt. über die Einwitkung des Junius auf den Gang der Wiſſenſchaft
I Grimm in der oben angeführten Einleitung zu den Hymnen und in der
Erfen Ausgabe bes Erſten Bandes der Grammalit ©. LXXIII u. LXI. —
% Francisei Juni Francisci filii Etymologicum Anglicanum. Ex
autographo descripeit et acoessionibus permultis auctum edidit Ed-
wardus Lye. Oxonii 1748, fol.
124 Zweites Bud. Erfies Kapitel.
bieten. Nach diefer allein zuläffigen Weiſe der geſchichtlichen Beur⸗
theilung werben wir nicht anftehen, die Bewunderung zu theilen,
die der größte Meifter unferes Faces, Jacob Grimm, den Arbei-
ten des Junius zollt 1). Was zuerft die Behandlung ber altger-
maniſchen Texte betrifft, durch deren Herausgabe Junius die Wiffen-
f&aft bereichert Kat, fo lam es vor allem darauf an, die Hand
ſchriften möglichft treu durch den Drud zu vervielfältigen und fie
fo den Forſchern aller Länder zugänglih zu machen. Konnten
num auch in biefer Beziehung die Ausgaben des Junius noch nicht
den Forderungen genügen, bie man jegt mit Recht ftellt, jo wird
man doch den Fleiß und die Ausdauer des Junius weit mehr be
wundern, als daß man ihn wegen ber allerdings großen und viel
fültigen Mängel feiner Texte herabfegen wird. Denn zum richtigen
Leſen der Handfäriften, zumal wo diejelben verblihen ober ver
dorben find, gehört eine genaue grammatiſche und lexikaliſche Kennt-
niß ihrer Sprade. Cine ſolche aber konnte Junius noch nicht
befigen, vielmehr hat er fie durch feine Arbeiten erft anbahnen
helfen. Bedenken wir, daß er im Angeljäcfiigen nur wenige, im
Gothiſchen eigentlich gar feinen Vorgänger hatte. Seine Ausgabe
des Eaebmon, obwohl nicht frei von mannigfachen Meißgriffen,
gewährt doch einen ziemlich richtigen Tert 2). Weit mehr Schwie
rigkeiten bot ihm der gothile Codex argenteus. Wo deſſen
Blätter gut erhalten find, gibt er fie mit ziemlicher Treue wieder.
Wo dagegen die Züge der alten Handſchrift gelitten Haben, da ift
fein Text voll von Mißgriffen, und es zeigt ſich da recht, daß mar,
um richtig zu leſen, fon wilfen muß, was den Gejegen ber
Sprade nad daftehen Tann. Man vergleihe z. B. das ſechſte
1) In ber angeführten Einleitung zu den XXVI Hymn. — 2) Das
Arenge Urtheil Thorpe's in ber Vorrede zu feiner Ausgabe des Caedmon
(London 1832, p. XIII) ift berechtigt vom Etanbpunft eines neuen Her
ausgebers, ber fich gegen das Vorurtheil ſichern muß, als habe ber alte Her
auögeber bereits Alles geleiftet. Es fieht beshalb mit der obigen Charalieris
MIR, welche bie Arbeit des Junius im Zuſammenhang mit ben Borbebingum
gen feines Jahrhunderts faßt, nicht im Widerſpruch.
Die ger. Phil. in den Niedetl., in Engl. u. In Stanbinavien v. 1865 6.1748. 125
Kapitel des Evangeliums Matthaei mit Lucas 8, 33 fg. Das
erftere, defien Schriftzüge im Codex argenteus gut erhalten find,
gibt Junius mit einer nur mäßigen Anzahl von Fehlern. Das
gegen ift die angeführte Partie des Lucas, bei welcher die Hand-
fhrift ſehr gelitten hat, bei Junius durch eine Unmaſſe von Un-
richtigleiten entſtellt. Wir können hier recht deutlich ſehen, welchen
Gang die Wiſſenſchaft nimmt. Erſt müſſen ihr die Quellen der
Sprache überhaupt zugänglich gemacht werden. Dann entwickelt
fe ans den Maren und ſicheren Theilen die Geſetze der Sprache,
amd darauf dringt fie mit gefhärftem Blick aud in bie erloſchneren
und verftümmelten Theile der Handiäriften ein.
Wie es nun ein unvergänglices Verdienſt des Junius ift,
der germanischen Sprachforſchung neue Quellen von unſchätzbarem
Werth eröffnet zu Haben, fo ift es andrerſeits faft zu verwundern,
wie wenig ex troß feiner ausgebreiteten Gelehrfamleit in den gram⸗
matifhen Bau der germanifchen Sprachen eingedrungen ift. Na-
türlich richtet er, gründlich geſchult in den beiden Maffifhen Spra-
den, fein Augenmerf auch auf die Grammaticalien des Gothiſchen,
Angelfähfifcgen, Althochdeutſchen u. |. w., und «8 fehlt nicht an
einer Reihe rihtiger Beobachtungen, die er in feinen Anmerkungen
zum Wilferam, in feiner Ausgabe der gothiſchen Evangelien und
dem dazu gehörigen gothiſchen Gloffarium niederlegt. Aber zu
dem Gedanten, daß die grammatiihen Beugungen der altgerina-
niſchen Sprachen einem feiten Gefe folgen, und daß man vor
allen Dingen dieſem Gefeg auf die Spur kommen muß, wenn an
eine fihere Auslegung der Sprachdenkmäler gedacht werden foll,
iſt er nicht vorgedrungen. Ober wenn er ihm einmal aufgetaucht
iſt, fo war er wenigftens weit davon entfernt, ihn zur Ausführung
zu bringen. Dies beweifen unzählige Stellen nit nur feiner
Zertausgaben, fondern auch feiner ſprachlichen Bemerkungen 1).
1) Bsl. 3. 8. kun in Junius Alphabetum Gothicum p. 5, und im
Gloss, Goth. p. 223. — hvait, Alph. Goth. p. 8 und Gloss. Goth.
p 274. — vik (zu in vikon Luc. 1, 8) im Gloss. Goth. s. v. — Die
Bermifäung von gateihen u, gatinhan im Gloss. Goth. p. 125, u. ſ. f-
126 Zweites Bud. Erſtes Kapitel.
Weit mehr als auf die Grammatik ift das Augenmer? des Junius
auf die Sammlung und etymologiihe Erklärung des Wortſchatzes
der alten germanifchen Sprachen geriätet. Hier müffen wir vor
allem feinen unermüblihen, eifernen Fleiß und feine umfaflende
Gelehrfamteit bewundern; an vielen Stellen aber erfreuen wir und
auch an dem Scharffinn und ber Feinheit feiner Combinationen.
Schon in den 1655 herausgegebenen Observationes zum Wille
ram ift es vorzugsweife die lexilaliſche Seite der Sprache, die Ju-
nius beſchäftigt. In größerem Umfang und mit erweitertem Ges
fihtsfreis fegt er dann fpäter feine Bemühungen im Glossarium
Gothicum und im Etymologicum Anglicanum fort. Und allen
dieſen Arbeiten liegen die großen Iegifaliiden Sammlungen zu
Grunde, die er für die verſchiedenen altgermanifchen Sprachen bis
in's höchſte Greifenalter zu vervolfftändigen fortfuhr. Er hat die
angelſächſiſchen Sprachdenkmäler in weiten Umfang durchgearbeitet,
ebenſo einen Theil der althochdeutſchen. Das Friefiihe kennt er
aus erfter Hand. Für das Altnorbifhe, das ihm noch wenig zu
gänglich ift, benugt er die Schriften des Olaus Wormius 1), des
Arngrimus Jonas, des Stephanius 2). Dazu fommt dann auf
in weiterem Umfang das Gothifhe, feit ihm der Codex argen-
teus dur ein günftiges Geſchick zugeführt worden ift. Diele
älteften germanifgen Sprachen aber find ihm mit denen der Ge
genwart vermittelt durch die Denkmäler des ſpäteren Mittelalters.
Namentlich auf dem Gebiet des Engliſchen verfolgt er diefen Meg.
In feinem Etymologicum Anglicanum benugt und erklärt er
die älteren engliſchen und ſchottiſch⸗engliſchen Schriften: den Chau-
cer, Gawin Douglas Ueberfegung von Virgils Aeneide und An-
deres. Er begnügt ſich aber nicht damit, die germaniſchen Spra-
Ken unter fi zu vergleichen, fondern fein Hauptaugenmerk hat er,
wie fon Viele feiner Vorgänger, darauf gerichtet, die germani-
schen Wörter etymologiſch mit den griechiſchen und lateiniſchen in
1) ©. das Alphabetum Runicum vor dem Glossarium Gothicum
des Junius p. 17. — 2) ©. die Widmung der Observationes zum Wil-
leram Bl. 3.
Diegerm. Phil. in ben Nieberl., in Engl.u. in Sfanbinavien v. 16656.1748. 127
Verbindung zu bringen. Auch das Hebräiſche zieht er herbei, und
die leltiſchen Sprachen find ihm nicht unbekannt. Natürlich ift das
Eigmologifieren des Junius großentheils noch ein blindes Taften.
Der müßte den damaligen Zuſtand ber vergleihenden Sprach⸗
wilfenfhaft wenig Tennen, der etwas Anderes bei Junius erwar⸗
tete. So mande feiner Etymologien nöthigt uns jegt ein Lächeln
ab. Dennod aber fehen wir ihn an mehr als einer Stelle feiner
Schriften nicht nur im Einzelnen, fondern aud in den Grund»
fipen feines Verfahrens auf dem richtigen Wege. Eins ber merk⸗
mwärbigften Beiſpiele der Art findet fi im Etymologicum Angli-
canum unter dem Wort „Lean (inniti, ineumbere, recumbere).“
Dies bringt nämlich Junius dur Vermittlung des angelſächſiſchen
„hlinan, hleonon“ in Verbindung mit xAlvemw, Clinare, decli-
nare, inclinare, reclinare, und dann fährt er fort: „Initiale vero
x saepissime transire in aspiratam, evincunt baenep a xav-
vaßı,, Cannabis. healm a x&Aa sog, Calamus, culmus. hydan a wev-
9er, Äbscondere, oocultare. hlidan, gehlidan a x2esdodr, Clau-
dere elavi. hlud a xAusos, Vocalis, argutus. hund a xuuidıon,
Catellus. hora a xögvia, Giravedo, pituita. Goth. hliftus 1) a
slönegg, Fur. hramjan a xgsuä», Crucifigere. ete.“ 2) Man
fieht, hier iſt ein Stück von den Analogien des Lautwandels ge-
funden, welde die Grundlage von Grimm’s Geſetz der Laut
verihiebung bilden. So ehrenvoll aber auch ſolche Blide für
den Scharffinn und richtigen Takt des Junius find, fo würde man
fich dod irren, wenn man glaubte, die Etymologie desjelben werde
bereits durch derartige gefunde Grundjäge beherrſcht. Im Ganzen
fteßt fie vielmehr, wie die feiner Beitgenoffen, auf dem Standpunkt
des willfürlichen Rathens. Aus unzähligen Beifpielen greife ich
das Wort Hahn heraus, das Yunius von dem griechiſchen Ave
ableitet, wobei er die Wahl Täßt, ob man dva als Vocativ von
vos oder als Apofope von dvdora (surge) nehmen will 9).
1) Durch einen Drudjehler fieht haiftus. — 2) Bgl. auch das Gothi-
cum glossarium des Junius, Dordrecht 1665, p. 182. 190. 201. 236. —
3) ©. den beiteffenden Artifel im Glossarium Gothieum und im Etymo-
128 Zweites Bud. Erſtes Kapitel.
Sole Proben, die keineswegs nur vereinzelte Mißgriffe find, be⸗
weifen uns, daß aud die Etymologie des Junius noch fehr in ben
Anfängen ftand. Aber gerade darin zeigt ſich Junius als wahr⸗
haft großer Forſcher, daß er troß der eminenten Ueberlegenheit,
die er in feinem Fache über alle feine Zeitgenofien bejaß, jehr wohl
weiß, daß feine Arbeiten nur Anfänge und Verſuche find. An
mehr als einer Stelle feiner Schriften ſpricht er Dies mit liebens-
würdiger Beideidenheit aus. So ſchließt er in feinem Etymolo-
gieum Anglicanum ben für feine Zeit treffli—hen Artifel Ambas-
sadour mit den Worten: Caeterum in hac mea qualicunque
conjectura quemadmodum et in reliquis id genus oonatibus,
non est quod quemquam praejudicio meo velim adstringi,
quum libera hominum judicia mihi magis exspectanda, immo
expetenda esse videantur.
Faſſen wir zum Schluß noch einmal zufammen, worin die
epochemachende Bebeutung des Franciscus Junius für bie Ent-
wicllung der germaniſchen Spradiftubien beftand. Es war nicht
nur die überlegene Gelehrſamkeit in den einzelnen altgermanifchen
Spraden, die dem Junius diefe Bedeutung gab, fondern es war
noch mehr der Umftand, daß er zuerft die verſchiedenen Zweige der
germaniſchen Studien, die bis dahin nad den einzelnen Ländern
getrennt getrieben worden waren, in fi) vereinigte. Er felbft Hat
von diefer feiner Stellung ein Hares Bemußtfein. In der Wid-
mung feiner Obfervationen zum Willeram fpricht er fi darüber
aus. Gelehrte Männer in Skandinavien Hätten fi um das Nor
diſche, Engländer um das Angelſächſiſche, Deutſche um das Frän-
kiſche große DVerdienfte erworben. Mehrere unter ihnen hätten
ſehr wohl eingefehen, melde Vortheile eine Vergleihung dieſer
Sprachen bieten werde. Aber fie hätten es mehr bei dem Wunſch
bewenden laſſen, daß einmal einer kommen möchte, der jene drei
Sprachen in Verbindung brädte, als daß fie felbft Hand an's
Wert gelegt Hätten. Sein Wille und feine Meinung aber, fügt er
logieum Anglicanum des Junius. Das richtige Eiymon von Hahn hat
ſich im fat, canere erhalten. Der Hahn ift urfprüngli der Ginger.
Die germ. Phil. in ben Niederl., in Engl. u. in Sfanbinavienv. 1665 5.1748. 129
beſheiden Hinzu, feien immer die gewejen, daß lieber einer von
denen, die gefchikt dazu feien, dies unternehmen möchte, als er,
über Tieber er als gar Niemand '). Nichts Fam ihm in diefem
Streben fo zu ftatten, wie die Entdecung der gothifchen Sprach-
tfte. Schon die Meine Probe bei Bonaventura Dulcanius hatte
ihn zu der Ueberzeugung geführt, daß das Gothiſche eben ſo weit
hinter dem Angelſächſiſchen zurückliege, wie dies hinter dem älteſten
Hoqhdeutſchen. Er glaubte im Gothiſchen die Quelle der altgerma-
niſchen Sprachen zu erkennen; das Gothiſche aber ſchien ihm glei-
den Urjprungs mit dem Griechiſchen, da es fi nur durch den
Dialelt vom Altgriechiſchen unteriheide 2). Aber erſt die Wieder-
affindung und Herausgabe des Codex argenteus durch Francis-
as Junius führte das Gothiſche wirklich in den Kreis ber germa-
niſchen Eprachforſchung ein, und erſt dadurch erhielt dieſelbe ihren
Zuſammenhang und ihre tiefere Grundlage.
2. George Hides. Das Leben bes George Hides.
Die von Francidcus Yunius begonnene Arbeit führte in mehr
als einer Beziehung der Engländer George Hides?) weiter.
Geboren am 20. Juni 1642 in Porkhire, bezog George Hides im
Jaht 1659 Die Univerfität Orford, wo er fih dem Studium der
Theologie widmete. Im Jahr 1666 wurde er zum anglicaniſchen
Briefter ordiniert. In den Jahren 1673 und 74 bereifte er als
Begleiter Sir George Wheeler’s Frankreich. Nah England zurüd-
gelehrt erhielt er im Jahr 1676 die Stelle eines Capellans bei
dem Herzog von Lauderdale. Im Jahr 1679 machte ihn die Uni-
verfität Opford zum Doctor der Theologie, und im Jahr 1683
ernannte ihn König Karl II. zum Dedant von Worceſter. Bei
1) Observationes in Willerami Paraphrasin, 8.3. — 2) S.
bie Widmung von Junius Ausgabe der golhifgen Evangelien an den Canzler
de la Gardie. — 3) Ueber Hides' Leben ſ. Chalmers, General biogra-
Phical Dietionary, Vol. XVII, Lond, 1814, p. 450 fg. — Biogr. Brit.
Vol. VII, Buppl.
Raumer, Geht. der germ. Philologie. 9
130 Zweites Bud. Erfied Kapitel.
der Staatsummälzung des Jahres 1688, melde Jakob dem Zwei⸗
ten den Thron koſtete, hielt Hides mit einem Theil der anglicani-
ſchen Geiftlileit an dem Recht des vertriebenen Monarchen feit
und weigerte fi, König Wilhelm dem Dritten und der Königin
Marie den EB der Treue zu leiſten. Er verlor darüber feine
geiftligen Pfründen, im Jahr 1689 wurde er fuspenbiert und im
darauf folgenden Jahr abgeſetzt. Er ließ ſich jedoch dabur in
feiner Gefinnung nicht irre machen. Vielmehr unternahm er im
Jahr 1693 eine Reife nach Frankreich, ſuchte den abgeſetzten Künig
Jakob II. in St. Germain auf ımd brachte deffen Zuftimmung zu
dem Plan mit, die Succeffion des anglicanifchen Epijfopats ba-
dur zu erhalten, daß man eidweigernde Geiftliche zu Biſchöfen
weihte. Hides felöft wurde zum Suffragan - Biihof von Thet-
ford geweiht und übernahm fo eine Rolle bei dem unglüdlidhen
Verſuch, der großen Maſſe der anglicanifgen Kirche, die fi den
neuen Staatszuftänden fügte, eine vermeintlich allein berechtigte
Kirche gegenüberzuftellen. Hickes betheiligte fih an dieſen kirch-
lien Kämpfen mit dem Eifer des entſchiedenſten Parteimanns.
Aber fo beſchränkt ung fein ſtarres Sefthalten an einer verfomme
nen Dynaſtie erigeinen mag, er handelte nicht aus unlauteren Be
weggründen, fondern aus Ueberzeugung 1).
Wir mußten hier mit einigen Worten biefer kirchlich⸗religiöſen
Seite von Hides’ Leben gebenten, theils weil fie mit feinen angel-
ſächſiſchen Studien nicht außer Zufammenhang fteht, theils weil fie
ung erflärt, durch welde ihm felbft Höher ftehende Beichäftigungen
Hides verhindert wurde, feinen Leiftungen auf altgermaniſchem Ge
biet eine größere Vollendung zu geben. Einerſeits nämlich ift es
aud bei Hides noch das Beſtreben, in die Zuſtände der alten
angelſächſiſchen Kirche einzubringen, was ihm das Studium ber
angelſächſiſchen Sprache und Literatur beſonders werthvoll macht,
und andrerſeits Tann er ſich feinem Lieblingsſtudium doch nur mit
1) Bal. Macaulay, The History of England, Vol. V., Leipsig
1855, p. 124.
Die germ. Phil. in ben Niebert., in Engl. u. in Sfanbinavien v. 1665 5.1748. 181
großen Unterbrechungen wibmen, ba die theologifhe Parteifhrift-
ftelerei einen bedeutenden Theil feiner Zeit und feiner Kräfte in
Anfpruh nimmt. Seiner Neigung zum Studium der altgermani-
fen Sprachen boten die Verhältniffe von früh an reihe Ge-
legenheit. Seine jüngeren Jahre fallen zuſammen mit den legten
fünfmdbreißig Lebensjahren des Franciscus Junius, und wir haben
geiehen, in wie naher Beziehung diefer ausgezeichnete Gelehrte zur
Univerfität Oxford ftand, auf welcher Hides feine Studien machte.
Seinem Beifpiel eifert Hickes vor allen nad. Die Art, wie Ju-
mins das Studium fämmtlicher altgermanifchen Spraden mit ein-
ander verband, dient ihm zum Vorbild. Thomas Marefhall, der
gelehrte Freund und Mitarbeiter des Junius, ftand nicht nur durch
feine altgermanifhen Studien, fondern auch durch feine kirchlich⸗
politiſche Geſinnung in naher Beziehung zu Hickes. Den legten
Theil feines Lebens verbrachte Hides zu London. Hier ift er am
15. December 1715 nad mehrjährigen ſchweren Leiden geftorben.
Die Leiftungen bes George Hides.
Die Leiftungen des George Hides find niedergelegt in zwei
Berken. Das erfte derſelben find die Institutiones grammaticae
Anglo-Saxonicae et Moeso-gothicae. Auctore Georgio Hickesio,
Ecclesiae Anglicanae Presbytero. — Oxoniae, e Theatro
Sheldonieno, 1689. Typis Junianis. Das zweite ift der
große Linguarum Vett. Septentrionalium Thesaurus gramma-
tieo-critieus et archaeologieus. Auctore Georgio Hickesio.
Oxoniae. E Theatro Sheldoniano; An. Dom. 1705. Die
Vändezahl des Werts laßt fid eigentlich nicht bezeichnen. Das
Werk beftcht nämlich aus einer Anzahl von Abhandlungen mit
immer von neuem beginmender Paginierung und findet ſich deshalb
Kalb in zwei, bald in drei Bände gebunden. Den Anfang macht
ine Dedication an den Prinzen Georg von Dänemark, den Ge
mahl der Königin Anna von Großbritannien. Darauf folgt eine
ausführliche Praefatio bes ganzen Werks, worin der Derfafler
über fein Unternehmen Rechenſchaft gibt. Die dann folgende
9.
132 Zweited Buch. Erftes Kapitel.
Pars prima de3 Thesaurus mit befonberem Titel und ber Jahr-
zahl 1708 bilden die Institutiones Grammaticae Anglo -Saxo-
nieae et Moeso -Gothicae von Hides.- Die Pars secunda , mit
befonderem Titel und der Jahrzahl 1703, find die Institutiones
Grammaticae Franco-Theotiscae von Hides. Die Pars tertia,
ebenfalls 1708, Bilden die Grammaticae Islandicae Rudimenta
per Runolphum Jonam Islandum, cum Georgi Hickesii ad-
ditamentis aucta et illustrata. Dann folgt, mit der Jahrzahl
1703, Georgii Hickesii de antiquae litteraturae septentrio-
- nalis utilitate, sive de Linguarum Veterum Septentrionalium
Usu Dissertatio epistolaris, ad Bartholomaeum Showere etc.
Hierauf: Numismate Anglo-Saxonica et Anglo-Danica bre-
viter illustratae ab Andrea Fountaine, Eq. Aur. et Aedis
Christi Oxon. Alumno. 1705. Am Schluß diefer Schrift finden
fi die Worte: Voluminis Primi Finis. Auf dies Volumen
primum folgt dann: Antiquae Literaturae Septentrionalis
Liber Alter. SßSeu Humphredi Wanleii Librorum Vett.
Septentrionalium, qui in Angliae Bibliothecis extant, nec
non multorum Vett. Codd. Septentrionalium alibi extantium
Catalogus Historico-Criticus, cum totius Thesauri Linguarum
Septentrionalium sex Indieibus. 1705. Das ganze Wert ift
nit nur ſehr fplendid gebrudt, fondern aud mit einer großen
Menge von Kupfertafeln ausgeftattet, auf denen Proben von Hand-
ſchriften, Münzen u. f. w. abgebildet werden. Ich mußte den Sn:
halt des Werkes etwas genauer angeben, weil dadurch zugleich
feine Entſtehung und feine Beſchaffenheit darakterifiert wird. Es
ift nicht das Erzeugniß ununterbrodener, ftreng zufammenhängen-
der Arbeit eines Einzelnen; fondern e8 find allmählich entftandene und
dann zu Einem Ganzen zuſammengeſchobene Arbeiten Verſchiedener.
Und aud) die Theile, die von Hides feldft herrühren, tragen das
Gepräge der Mühfeligfeiten und Hinderniffe, unter denen fie ent-
ftanden find. Hickes nämlich war damals, als er fein großes Le
benswert: ben Thesaurus linguarum veterum septentriona-
lium, unternahm, nicht mehr der glülihe Inhaber reicher Pfrün«
den, wie früher, fondern, um feiner Eidweigerung willen abgejegt,
Die germ. Phil. in ben Nieberl., in@ngl. u. in Skandinavien v. 1665 b. 1748. 133
Iehte er in ſehr beſcheidenen Verhältniſſen ). Er war deshalb bei
der loſtſpieligen Herausgabe feines Werts auf bie Unterftügungen
md Subferiptionen Anderer angewiefen. Diefe wurden ihm zwar
in unerwartet reichlicher Weife zu Theil, aber dennoch hatte er viele
fmanzielle und technifhe Schwierigkeiten zu überwinden. So ver-
zogerte ſich die Vollendung des Werts eine längere Reihe von
Jahren. Gin befonderes Glück für Hides war, daß er in Edward
Ihwaites und Humphred Wanley tüdtige Mitarbeiter fand.
Der Exftere übernahm eine forgfältige Durchſicht ſowohl der Hand⸗
förift, ald des Drudes und der dazu gehörigen Kupferplatten; und
Humphred Wanley bereifte die engliſchen Bibliotheken, um deren
angelſächſiſche Handſchriften in dem Catalogus zu verzeihnen, der
als letzter Theil von Hickes Thefaurus ein Heute noch unentbehr⸗
lies literariſches Hülfsmittel bildet. Unter ben Beftanbtheilen
die von Hickes ſelbſt herrühren, trug bie Dissertatio epistolaris
de Inguarum veterum septentrionalium usu nicht wenig zur
Ausbreitung der angelfächfiichen Stubien bei, indem fie in eindring-
lichſter Weife und durch zahlreiche Veifpiele den Werth darthat, ven
die Kenntniß der altgermanifchen Sprachen, und insbefonbere bes
Angelſächſiſchen für den Alterthumsforſcher, ben Juriften und ben
Theologen hat. Für die Entwidlung der Wiſſenſchaft aber waren
die Grammatilen bes Gothiſchen, Angelſächſiſchen und Altdeutſchen,
die Hides ſchrieb, von beſonderer Wichtigkeit.
Hides iſt nämlich der erſte, der eine Grammatik altgermani⸗
ſcher Sprachen nicht nur geſchrieben, ſondern auch veröffentlicht hat.
Denn die ſchon früher (1651) veröffentlichten Grammaticae Is-
landicae Rudimenta des Isländers Runolphus Jonas jind eine
Grammatik des damaligen Isländiſchen und gehören alfo nicht Hie-
ber 9. Bon der handſchriftlichen angelſächſiſchen Gramatik des
Johannes Jocelin hatte ſich nur ein doppelter alphabetiſcher Inder
1) Bgl. über das Folgende J. Petheram, Anglo-Saxon Literature
in England p. 78 fg. — 2) ©. o. ©. 104. Ob aud ber Schwede or
hannes Bureus Bier zu nennen ifl, vermag ich nicht zu entſcheiden. (S. o.
6.108),
14 Zweites Bud, Grfies Kapitel.
erhalten ); und Thomas Mareihall, der trefflihe Freund und
Mitarbeiter des Franciscus Yunius, Hatte zwar die Asficht, das
fünfſprachige Lexikon des Franciscus Junius herauszugeben und
ihm eine angelſächſiſche und gothiſche Grammatik vorauszufgiden,
er hat jedod feine Abficht nicht zur Ausführung gebracht ?). Hides
ſah fi deshalb, als er im Jahr 1689 feine Institutiones Gram-
maticae Anglo-Saxonicae herausgab, fait ganz auf feine eigenen
Kräfte angewiefen. Nur vereinzelte grammatiſche Bemerkungen in
Somner's Dictionarium und in Mareſchall's Observationes de
versione Gothica und in versionem Anglo-Saxonicam fonnte
er benugen 3). Ginen eigentlichen Vorgänger hatte er nicht 3).
Unter ſolchen Umftänden ift es einerjeits vom nicht geringem In ⸗
tereffe, zu ſehen, wie Hickes feine Sache angreift, und andrerjeits
wird man bie allerdings zahlreichen Mißgriffe Billiger beurtheilen.
In feiner erften Arbeit vom Jahr 1689 behandelt Hides bloß bas
Gothiſche und das Angelfähfiihe und verbindet damit für das
Nordiie die Rudimenta Grammaticae Islandicae des Runol-⸗
phus Jonas. Im Thefaurus gibt er dann feine frühere Behand-
Hung des Gothiſchen und Angelſächſiſchen mannigfach bereichert, den
Rımolphus Jonas mit Zuſätzen verfehen; und dieſem allen fügt er
Institutiones Grammaticae Franco-Theotiscae bei, das heißt
eine Grammatik des Althochdeutſchen und Altſächſiſchen, da Hides
dieſe beiden Sprachen noch nicht unterſcheidet *). Wir faſſen in um
ferer Eharafteriftit dieſe ſämmtlichen grammatiichen Arbeiten des
Hides zujammen. Im Anſchluß an Junius hält Hides das Gothie
fe für die Mutter der übrigen germanifhen Sprachen. Das
Gothiſche Hat nach ihm drei Töchter, nämlich das Angelſächſiſche,
Frankiſche (d. i. nad Grimm’s Bezeichnung das Althochdeutſche
1) &. Wanley's Catalogus (in Hide” Thesaurus) p. 101. —
2) Hickes, Institutiones Grammaticae Anglo-Saxonioae etc. Oxon. |
1689, Praef. 81. 1. — Nur einige Blätter grammatiſchen Inhalts von
Maref gas Hand finden fi auf ber Bodley'ſchen Bibliothek in Orford. ©.
Wanley’s Catal. p. 102. — 3) Hickes, Institutiones 1689, Praef- |
Bl. 8. — 4) Ugl. Hickes, Dissertatio epistolaris p. 122.
Die germ. Phil. in den Nieberl., in Engl. u. in Sfandinavien v. 1665 5. 1478. 135
und Altjãchſiſche) und Cimbrifhe (d. i. Altnordiſche). Vom Angel-
ſãchſiſchen ftammt dann weiter das Belgiſche (Niederländifde),
Friefiſche, Engliſche und Schottifge; vom Fränkiſchen das Deutſche;
vom Eimbrifgen das Islandiſche, Norwegifhe, Schwediſche und
Dänifche '). Wir wiffen jegt freilich, daß das Gothiſche nicht die
Mutter aller diefer Sprachen iſt, aud leiten wir nicht das Nie-
derländifde und Frieſiſche vom Angelſächſiſchen ab; aber trogdem
wird man nicht Täugnen, daß Hides auf den Schultern des Ju⸗
nius ſchon eine ziemlich richtige Eintheilung der germanifden Sprach⸗
zweige gibt. Seltfamer Weife aber wird er fpäter an der richtigen
Anfiht, daß wir im Codex argenteus, das Werk des Gothen Ulfilas
befigen, wieder irre und möchte lieber „Teutonem aliquem
Ulphilae sive aequalem, sive illo forsan superiorem“ als deſſen
Verfaſſer annehmen ?). In Bezug auf fein Quellenmaterial ift
Hices natürlich am beften verfehen für das Angelſächſiſche. Für das
Gothiſche fteht ihm die Ausgabe des oder argenteus von Fran⸗
ciscus Yunius mit deſſen und Mareſchall's Bemerkungen und des
Erfteren Glossarium Gothicum zu Gebote. Unrichtige Lefungen
des Junius führen ihn öfters irre. Er macht zwar ben Verſuch,
mit Hülfe feiner grammatiſchen Einſicht den gothiſchen Text des
Junius zu berichtigen, und bisweilen gelingt ihm dies auch, aber
oft ift das, was er am die Stelle des Junius'ſchen Textes fegen
will, grammatiſch fehlerhaft 3), Für das „Fränkiſch-Deutſche“
fießen ihm bie bis dahin gebrudten althochdeutſchen Texte und die
in Orford aufbewahrten Papiere des Franciscus Junius zu Ger
bot. Er hebt unter feinen Quellen +) den Willeram, den Otfrib
und Tatian's Evangelienharmonie hervor und außerdem den Coder
Cottonianus des Heliand.
1) Hickes, Institutiones, 1689, Praef. 8. 8. — 2) Hickes,
Thessur. pars I, Oxon. 1703, Widmung an Pafinton Bf. 5b. — 3) Hickes,
Gramm. Anglo-Sax. et Moeso-Goth. im Thesaurus p. 81. Qpfters aber
helſen dem Hides feine grammatiſchen Kenntniffe zu richtigen Verbeſſerungen.
€ wenn er Luc. 10, 1 ftatt antharana des Junius lieſt antharans, ober
Lne.9, 48 (flatt in allan) in allaim, u. ſ. f. — 4) Hickes, Dissert, epistol.
(im Thesanr.) p. 122.
136 Zweites Bud. Erfies Kapitel,
Unter den verſchiedenen Theilen ber Grammatik behandelt
Hides die Lehre von den Flexionen mit befonderer Ausführlichkeit,
während er bie übrigen Gegenftände nur kurz abthut. Erinnern
wir und, wie es noch wenige “Jahre vor Hides, z. B. bei Schot-
telins, mit ber Grammatik der altgermaniihen Spraden ftand,
fo werden wir ſchon darin einen bedeutenden Fortſchritt erblicken,
daß Hides erfannte, daß die altgermanifhen Spraden beftimmte,
in ihren Bebeutungen unterſchiedene Zlerionen haben. „Die Nomina“,
fagt er, „haben bei ben Angelfachfen verſchiedene Cafus, wie im
Griechiſchen und Lateiniſchen 1)“. Auch ift ein großer Theil deilen,
was er nun über die Flexionen der Declination und der Conjuga-
tion zufammenftellt, richtig; und man kann ſich denken, welche be-
beutende Hülfe dadurch dem Studium der altgermaniſchen Sprachen
geboten wurbe, wenn man fi erinnert, daß man bis dahin noch
gar fein derartiges grammatifches Hülfsmittel befefien hatte. Fragt
man aber einerjeits nad der Auffafjung des ganzen Sprachbaus
und andrerfeits nad der Richtigkeit im Einzelnen, fo kann man
nicht läugnen, daß bei aller achtungswerthen Gelehrjamfeit des
Hides doch dieſer erfte Verfuh noch ziemlich unvollkommen
ausgefallen iſt. Was uns aber am meiſten wundernimmt, iſt fol⸗
gender Umſtand. Hides zeigt ſich überall auf das lebhafteſte er⸗
griffen von ber ihm entgegentretenden Aehnlichleit der verſchiedenen
altgermanifden Spraden. „Wenn jemand“, fagt er, „bie nahe Ber-
wandtſchaft, die zwiſchen dem Angelſächſiſchen und Möfogothifgen
ftattfindet, bebenkt, fo kann es ihm nicht zweifelhaft fein, daß wie
in jener, fo aud in diefer Sprade die Subftantiva durch ſechs
Caſus und in verſchiedenen Flexionen abgebeugt werden ?).“ Aber
nichts deftoweniger Tommt es Hides nicht in den Sinn, die Dedi-
nationen und Conjugationen des Gothiſchen, Angelſächſiſchen, Alt
hochdeutſchen und Altnordiſchen als ein zufammengehöriges Ganzes
zu faffen und fie demgemäß in den verfchiedenen Sprachen gleid-
mäßig zu behandeln. Vielmehr geht er im jeder feiner Grammar
1) Hickes, Gramm. Anglo-Saxon. etc. im Thesaurus p. 10. —
2) Hickes, Gramm. Anglo-Sax. ete. im Thesaur. p. 14.
Die germ. Phil. in ben Nieberl., in Engl. u. in Stanbinavien v. 1665 6. 1748, 187
tifen feinen beſonderen Weg 1). Ya das Seltfamfte ift, daß Hickes
in einem befonderen Kapitel feiner angelſächſiſchen und möfogothi-
fen Grammatik einen Anlauf nimmt zu einer im Einzelnen durch⸗
geführten Bergleijung der von ihm behandelten altgermaniſchen Spra-
den, und daß er fi dann doch begnügt, die Aehnlichkeit an einer
mößigen Anzahl einzelner Fälle nachzuweiſen, im Uebrigen aber
die ganz ausenandergehende Auffafjung in feinen verſchiedenen
Grammatiten beim Alten läßt. Und zwar ift ihm diefe Aehnlichteit
Ion damals aufgefallen, als er feine im Jahr 1689 herausgege-
benen Institutiones grammaticae Anglo-Saxonicae et Moeso-
gothicae verfaßte. Dort trägt das Schlußlapitel die Ueberſchrift:
‚Caput XVIH. In quo, institutis quibusdam parallelismis,
lingua Anglosaxonica et Moeso-Gothiea cum Islandica, sive
Scandia-Gothica conferuntur“ 2), und der Verfaffer erzählt ung
dumm, daß er hier am Schluß, eben im Begriff fein Wert zu
euben, zu feiner Freude bie isländiſche Grammatit des Runol⸗
phus Jonas erhalten habe. Er habe fie mit Begierde durch⸗
gelefen und viele köſtliche Aehnlichlkeiten des Angelſächſiſchen und
MNöfo + Gothiſchen mit dem Cimbro - Gothifen gefunden, und
er lönne nit umhin, dieſelben feinen Leſern ſchließlich noch
vor Augen zu legen. — Jedermann wird erwarten, daß dieſe
Eutdedung den durchgreifendſten Einfluß auf die vierzehn Jahre
ſpãter (1703) erſchienenen Grammatiten des Hides gehakg haben
werde. Aber darin fehen wir uns getäuſcht. Wielmehr finden
wir dies ganze Kapitel mit feinem vor vierzehn Jahren zu—
treffenden Eingang in ber angeljächfiichen Grammatit des Thefau-
1u3 3) wieder abgebrudt. Wenn mun aud im Ganzen und im
Einzelnen 4) Vieles auszufegen ift an dem Werk des Hides, fo
1) Bel. 3. 8. die Declinationen des Angelfähfiigen in Hides’ Gramm.
Anglo-Sax. eto. (Thesaur. p. 10 fg.) mit denen bes Gothifgen (ebend.
p- 14 fg.), denen des Althochdeuiſchen (Gramm. Franco-Theotisca, im
Thessur., p. 14 fg.) und benen des Jolandiſchen (Runolph. Jonas, im
Thesaur. p. 9 fg). — 2) Hickes, Institutiones ete., Oxon. 1689,
p. lo4. — 3) p. 82. — 4) 6o gibt Hides z. B. in feiner Aufflellung
der gothiſchen Declinationen (Gramm. Anglo-Saxon. ete, im Thesaur.
138 Zweites Bud. Erſtes Kapitel.
nimmt dasſelbe doch eine fehr bedeutende Stelle in der Geſchichte
der germaniſchen Philologie ein. Es Hat nicht mur in England
dem Studium des Angelfähfifhen einen neuen Antrieb gegeben,
fonbern den, wenn auch noch mangelhaften Anfang zur grammati-
fen Behandlung der altgermanifhen Sprachen gemadt; und was
eine Hauptſache war, e8 theilte eine Menge von Sprahproben mit,
die für Tangehin den Forſchern alfer germaniſchen Länder ein werth-
volles Material boten. Um nur Einiges anzufühten, fo finden
wir hier außer vielen angelſächſiſchen Stücen mehrere von den in's
Althochdeutſche überfegten Hymnen aus der Abſchrift des Junius
zuerſt veröffentlicht 1) und desgleichen die erften Mitteilungen aus
dem altſächſiſchen Heliand 2).
Wir haben etwas ausführlicher über Hides berichtet, weil
feine Arbeiten für lange Zeit zu den hauptfäcliciten Grundlagen
der germaniſchen Studien gehören. In Bezug auf feine Zeitger
noffen und nächſten Nachfolger müfjen wir uns mit einigen ge
drängten Angaben begnügen. Das Studium des Angelſächſiſchen
nahm gegen Ende des 17. und in ben erften Jahrzehnten bes
18. Jahrhunderts in England einen fehr erfreulihen Aufſchwung,
und insbefondere wurde dasfelbe zu Orforb mit Eifer betrieben.
So wurde in jener Zeit einerfeits der angelſächſiſche Quellenvorrath
durch erfte oder verbefferte Ausgaben angelſächſiſcher Schriften we-
ſentlich vermehrt, andrerfeits das Stubium buch neue Hilfsmittel
geförbert. In erfterer Beziehung erwähnen wir nur bie Heraus
p. 14 fg.) himinans als Nomin. Plur. von himins (flatt himinde); ma-
nagai als Nomin. Plur. von managei (flat manageins), u. dgl. m. Daß
ihm der Grundbau ber germanifgen Sprachen verborgen blieb, erfieht man
ſchon daraus, daß er jede berfelben anders behandelt. Daß es ihm aber nicht
an grammatifem Sinn gebrach, zeigt z. ®. feine Darftelung des hochdeutſcheu
Berbums (Gramm. Francotheot. im Thesaur. p. 71) trog all ihrer Män-
gel. Ja in ber Gramm. Anglo-Saxon. (im Thesaur. p. 40) erfennt er
vitan (seire) als ein >praeteritum, quod praesentis significationem
habete, aber freilich als das »unicume, und wenige Zeilen vorher wider:
fpricht ex ſich ſelbſt. — 1) Hickes, Gramm. Franco-Theotisca im Thesaur.
p- 64. 100, 110. — 2) Ebend. p. 101-105.
Die germ. Phil. in ben Rieberl., in Engl. u. in Sfanbinavien v. 1665 6. 1748. 139
gabe des angelfächfifchen Heptateuchus nebft Hiob und dem Frage
ment der Yudith duch Edward Thwaites (Oxford 1698) und
des angelfächflj hen Boethius durh Chriftopb Ramlinfon
(Orford 1698), fo wie die neuen verbefferten Ausgaben der angel-
fühfiihen Gejege durch David Wilkins (London 1721) und des
ongelfächfifhen Beda duch Joh. Smith (Cambridge 1722).
Inter den neuen Hilfsmitteln zum Studium der altgermaniſchen
Spraßen aber nennen wir Thomas Benfon’s Vocabularium
Anglo-Saxonicum (London 1701) und Stephan Skinner's
Etymologicon Linguae Anglicanae (London 1671).
3. Lambert ten Kate.
Unter den Gründern der germanifhen Sprachforſchung ift neben
Ftanciscus Junius und George Hides als dritter zu nennen der
Ibarffinnige holländiſche Gelehrte Lambert ten Kate. Er wurde
geboren zu Amfterdam den 23. Januar 1674. Schon in früher
Jugend fühlte er fi zum Studium feiner Mutterfprahe Hinge-
zogen. Er beſchränkte ſich aber nicht auf deren Kreis, fondern ers
lernte außer dem Lateinifchen und Griechiſchen aud das Englische,
Franzöſiſche und Italieniſche. Neben der Spradforihung hegte er
eine warme Liebe zu den bildenden Künften. Er ftand mit den
Malern feines Vaterlands, insbefondere mit Jan van Huifum,
dem berühmten Blumen» und Früchtemaler, in nahem Verkehr und
erwarb fich einer geachteten Namen als Kunftfenner. Sein Leben
floß ohne beſondere Ereigniffe ruhig dahin. Er blieb unverheirathet
und lebte nad) feines Vaters Tod mit feiner Mutter in Amfter-
dam. Unterrihtsftunden, bie er in ben angejehenfteri Häufern im
Schreiben, Rechnen, Buchhalten und befonders in Geometrie und
Algebra gab, ſicherten ihm nicht nur ben nöthigen Lebensunter⸗
halt, fondern verſchafften ihm auch die Mittel, ſich eine anfehnliche
Sammlung von Büdern und Kunftwerfen zu erwerben. Er ftarb
3 Amfterdam ben 14. December 1731.
Unter Ten Kate's Schriften finden ſich aufer den linguiſtiſchen
and) 'einige religiöfe; und eine äſthetiſche über das ideale Schöne
der Maler, Bildhauer und Dichter ift im franzöſicher Meberfegung
140 Zweites Bud. Erſtes Kapitel,
dem Trait& de la Peinture et de la Sculpture von Richardſon,
Anmfterdam 1728, vorausgeſchickt. Als Sprachforſcher gab er zuerſt
ohne Nennung feines Namens eine Schrift heraus: Gemeenschap
tussen de Gottische Spraeke en de Nederduytsche, Amster-
dam 1710 (Berwandtfdaft der gothiſchen und niederländiſchen
Sprache) 1). Ihr ließ er dreizehn Jahre fpäter fein großes Haupt
wert folgen: Aenleiding tot de Kennisse van het verhevene
Deel der Nederduitsche Sprake. 2 Bände, Amfterdam 1723.
(Anleitung zur Kenntniß des höheren ?) Theils ber niederländiſchen
Sprade). Außer feinen gebrudten Werten hinterließ Ten Kate
vier geſchriebene Foliobände unebierter Schriften, die ſich auf ber
Schulbibliothel zu Amfterdam befinden. Darunter Verhandeling
over de klankkunde in twee deelen ?) (Abhandlung über bie
Lautlehre in zwei Theilen).
Ten Kate's Leiſtungen ruhen auf der Herausgabe ber gothi-
ſchen Sprachquellen duch Franciscus Junius. Man ift ihm ewir
gen Dant ſchuldig, fagt Ten Kate, dafür, daß er diefen älteften
Ueberreit des Theutoniſchen Sprachſtamms herausgegeben hat *).
Darüber aber, jagt er an einer anderen Stelle, darf man ſich nicht
wundern, daß dieſer hochgelchrte Mann, der das gothifche Evan-
gelium erft in feinem Greifenalter fand und auf jein &loffarium
feine geringe Arbeit verwendet hat, feine Zeit mehr Hatte, um auf
die gothiſche Grammatik zu erforihen 5). Die Unterſuchung des
gothiſchen Sprachbaues und feines Verhältniffes zu dem der übri-
gen germaniſchen Sprachen war es num vor allem, was Ten Rate
1) Ueber Lambert ten Kate's Leben und Schriften f. den betreffenden
Artifel in A. J. van der Aa, K. J. R. van Harderwijk en Dr. G. D.
9. Schotel Biographisch Woordenboek der Nederlanden, Tiende Del,
Haarlom 1862, p. 74 fg. — 2) Was Zen Kate unter verhevene Del
verſteht, darüber gibt er in ber Vorrede zum Erſten Theil feines Wertes
Bl. 10 Ausfunft. Dgl. auch Thl. I, ©. 2 und 334. — 3) S. ben oben
erwähnten Artifel in van der Aa, Woordenboek p. 76. — 4) Aenlei-
ding 1, S. 56. gl. ©. 358. 546. — 5) Gemeenschap tunen de
Gottische Spraeke etc. 8. 12,
Viegerm. Phil. in den Niederl., in Engl. u. in Skandinavien v. 16656.1748. 141
fih zur Aufgabe fegte. Als er eben feine gothiſche Grammatik in
der Handſchrift vollendet hatte, am ihm der Thesaurus lingua-
rım veterum septentrionalium von Hides zur Hand. Er freute
fih des tüchtigen Mitarbeiters, fand aber doch, daß feine eigenen
Etgebniſſe fo bedeutend von denen des Hickes abwichen, daß er fih
über feine aufgewandte Mühe nicht zu beklagen habe !). Er gab
deshalb zuerft die oben genannte Meine Schrift über die Berwandt-
ſchaft der gothiſchen und niederländifchen Sprache Heraus, worin
er zugleich jo mande grammatifche Mißgriffe des Junius berid-
tigte 2) umd feine eigene gothifhe Grammatik aufftellte. Er ver-
meibet darin mehrere Fehler des Hides 3); mas ihn aber am
meiften vor Hickes auszeichnet, ift, daß er mit dem Nachweis ber
Gemeinfamleit de3 grammatiſchen Baues bei allen germanijchen
Sprachen wirklich Ernſt mat, und hier führt ihn feine Forihung
auf eins der folgenreichſten Ergebniffe, nämlich darauf, daß die bis
dahin für ımregelmäßig gehaltenen Verba gleichfalls regelmäßigen
Wandlungen des Stammoocals folgen und zwar bei allen germa-
niſchen Sprachen, nad beftimmten Geſetzen der etymologifchen
autvertretung, denjelben Bocalmwandlungen. Diefe Entdeckung, die
& ſchon in feinem erften Meineren Wert (1710) mittheilt, führt er
dann in feinem Hauptwerk, der Aenleiding, (1723) mit großem
Scharffinn und für feine Zeit fehr achtungswerther Belefenheit weiter
aus. Die erften Anfänge, auch die ſtarlen Verba in gewiffe Grup-
pen zu fondern, finden wir zwar ſchon im 16. Jahrhundert 4),
und Hides faßt fie bereit als „Conjugatio secunda* zuſammen
1) Ebend. ©. 12 fg. — 2) So führt z. B. Junius in feinem Go-
thicum Glossarium (1665, p. 236) auf: ‘»litha, artus, membra,« Ten
Rate (Gemeenschap S. 33) gibt richtig: >Lithus, masc. artus.« Auderes
ka. — 3) Dem unrichtigen Rominat, Blur. himinans bei Hide (Thes.,
Gramm. anglo-sax. et moeso -goth. p. 14) gegenüber gibt Ten Kate
(Gemeenschap 8. 50) bas richtige dagos. Statt bes unrichtigen Nominat.
Sing. fan bei Hides (m. a. O. ©. 15) Hat Ten Kate (©. 50) richtig atta
mb unter ben Beifpielen zu diefer Declination „frauja, Heere.” — 4) ©,
6.66,
142 Zweites Bud. Erſtes Kapitel,
gegenüber den ſchwachen, die er als Conjugatio prima bezeichnet 1).
Aber von diefem erften Auftauchen einer richtigeren Einfiht bis zu
der Erfenntniß, daß die ſtarken Verba den identiſchen Grundbau
alfer germanifhen Sprachen bilden, ift noch ein weiter Schritt,
und diefen Schritt hat Ten Kate gethan. Die Durchführung diefer
Entdeckung bildet den wichtigften Theil feiner Aenleiding, deren
erſter Band in vierzehn Gefpräden die Hauptfragen der nieberlän-
diſchen Grammatit behandelt und darauf in einem befonberen
Abſchnitt die Negelmäßigfeit und Ordnung der germanifchen Verba
darlegt, während der zweite auf Grundlage der ablautenden Verba
zwei umfangreiche Proben eines wilfenfhaftlic geregelten Etymo-
Togicums der germaniſchen Spraden gibt. Der Raum verbietet
uns, hier in eine nähere Darftellung der Art einzugehen, wie Ten
Rate die ftarken Verba in Klaſſen orbnet; die Hauptfache ift, daß
es ihm trotz fo mander Mißgriffe gelingt, die Uebereinftimmung
der Ablaute in allen germanifgen Spraden darzuthun. Er ift
durhbrungen von ber Wichtigfeit diefer Entdeckung. Schon in
feiner erſten Schrift Hat er fie angebahnt, in der Aenleiding führt
er fie in gefonderten Abſchnitten duch 2) für das Niederländiſche,
das Gothiſche, das „Frank⸗Deutſche“ (Althochdeutſche), Angelſäch-
ſiſche, Hochdeutſche (Neuhochdeutſche), und, was ihm am meiſten
Freude macht 3), auch für das Isländiſche. Von dieſer Erkenntniß
aus, deren Aufſpürung er den beſten Theil ſeines Lebens widmet,
gelangt Ten Kate zu geſunderen Anſichten über den Bau ber ger-
maniſchen Sprachen und über die Exforberniffe einer wiſſenſchaft ⸗
lichen Etymologie, als fie irgendeiner ber germaniftiihen Sprad-
forſcher bis dahin beſeſſen hatte. Die ablautenden Verba Bilden
ihm die Grundlage einer geregelten Wortableitung, die bis jegt
noch gefehlt Hatte‘). Er erkennt, daß wir, wenn wir nit in
1) Hickes, Thes. I, Grammatica anglo-saxon. etc. p. 55. 56. —
'Thes. II, Grammatica franco - theotisca p. 71. Vgl. darüber Ten Kate,
Aenleiding Thl. I, ©. 544. — 2) Ten Kate, Aenleiding I, p. 541—
596. — 3) Ebend. I, ©. 544. Bel. I, ©. 676. 1, S. 24. —. 4) Aen-
leiding, I, Voorreden (unpaginiert) Bl. 8.
Die germ. Phil. in den Nieberl., in Engl. u. in Sfandinavien v. 1665 6.1748. 143
Bezug auf den Vocalwechſel und deſſen mundartliche Verſchiedenheit
in willlürliche Berirrungen geraten wollen, den ablautenden Ver—
bis von Glied zu Glied nachgehen müffen; dem wir dürfen durd-
aus nicht von der einen Klaſſe derfelden auf die andere hinüber
ſchließen ). Solde Mißgriffe, wie fie felöft einem Franciscus
Jurins noch begegnet waren, wenn er das gothiſche gataihun
(narraverunt), gateihith (renunciate) unter gatiuhan aufführt ?),
waren fortan unmöglich 3). Die Etymologie muß überhaupt auf-
Sören, ein bloßes willlürliches Rathen zu fein‘). Denn dies ift
nichts als eine Zeitvergeudung, die fi für Menſchen von Urtheil
nicht geziemt 5). „Ich Binde mic in meinen Ableitungen,“ fagt Ten
Rate, „an ein fo ftrenges Geſetz, daß ich feinen einzigen Buchſtaben
zu verändern, zu verjegen, noch Hinzu oder hinwegzuthun fuche,
außer in Kraft einer durchgeführten Ordnung ober Hegel“ 6).
Demgemäß gibt er bereits eine Ueberſicht, welche Vocale im 8
lindifhen, Altdeutſchen, Angeljähfiihen und Niederländif—hen den
einzelnen gothiſchen Vocalen etymologiſch entſprechen ”), und eine
aͤhnliche Vergleichung ftellt er zwiſchen ben Gonfonanten an ®).
Auch fonft ift er in der Methode feines Etymologifierens auf dem
tichtigen Weg. „Ueberall,“ fagt er, „follen wir, um mehr Licht und
Sicherheit zu erhalten, mit dem Alterthum und den verwandten
Sprachen zu Mathe gehen, um die Wörter um fo näher an ihrem
Urfprung und in ihrer einfacheren und durch die Zeit am wenig.
ften in Verfall gerathenen Geftalt zu betrachten" ). Auch auf die
Phpfiologifhe Natur der Laute richtet Ten Kate fein Augenmerk 10),
1) Ebend. II, ©. 35. — 2) Goth. Glossarium 1665, p. 125. —
3) &. Ten Kate, Gemeenschap 1710, 8. 13. — 4) Aenleiding I,
Voorreden, Bl. 12. Bgl. II, 8,3. — 5) Ebend. II, 8. 4. — 6)
»dan uit kragte van een’ streekhondende (eigentl.: ſtrichhaltende) Rooi
of Regel.« Aenleiding I, 8. 175. Bgl. I, 8.6 fg. II. 8. 20. —
?) Aenleiding I, 8. 165.’ II, 8.19. — 8) Ebend. II, 8.19. —
9) Aenleiding II, 8.7. ®gl. 1, 8.2. — 10) Ebend. I, 8. 111 fg. Ten
Rate fennt die »>Grammatica van den Wijdvermaerden Wiskonstenaer
Wallis,« Aenleiding I, 8. 630.
144 Zweites Bud. Erſtes Kapitel.
und andererſeits fpürt er ben Wegen nad, welde bie Umwand⸗
lungen der Bedeutungen eingeſchlagen haben !). Insbeſondere aber
feffelt ihn die Unterfugung, wie das Genus der Wörter entſtanden
und bisweilen verändert worden fel?). Und das Alles mit eben
fo feinem, als nüdternem Sinn. Denn überall „ſucht er feine
Grundregel feft im Auge zu behalten, daß man die Giefege der
Sprade finden und nit machen muß“ 3). In der Anwendung
feiner Grunbfäge, bie er im zweiten Bande feines großen Werkes
gibt, legt er die ablautenden Verba zu Grunde, und zwar ftelit er
in der erften Probe der geregelten Ableitung bie „ungleihfliegen-
den Thatwörter,“ die im Holländiſchen noch vorhanden find, und
die von ihnen abgeleiteten Wörter zufammen, in "2 zweiten aber
die im Holländifhen zwar verlorenen, jedoch aus den verwandten
Sprachen hergeftellten %). Er findet bie Zahl der Iegteren nur
wenig geringer, als die im Holländifhen erhaltenen 5). Er will
zwar fein vollftändiges etymologiiches Wörterbuch geben, fondern
nur eine Probe 6). Aber zu diefer Probe wählt er ben für die
Etymologie wichtigſten Theil der Sprade. Denn die ungleich
fließenden Verba find die allerälteften Erſtlinge des altdeutſchen
Stammbaums und die höcfte Spige der Ableitung ). Eie haben
dem Verfaſſer das vorzüglichfte Licht für die Etymologie gegeben ?).
Sie find echte primitive Wurzelftämme. 9).
Ich bedauere, daß ich Hier nicht ausführlier in das Einzelne
eingehen darf; ich würde fonft eine große Anzahl feiner Beobach⸗
tungen Ten Kate's aus allen Theilen feines Werkes beibringen
tönnen. Aber das Gefagte wird hinreichen, um zu zeigen, daß
Ten Kate in mehr als einer Hinfiht Bahnen eingeſchlagen Bat,
die denen unferes großen Meifters Jacob Grimm nahe verwandt
waren. Daß er noch weit entfernt von ben Bielen blieb, die dann
1) Gbenb. I, 8.25 fg. — 2) Ebend. I, 8, 396 fg. — 3) Aen-
leiding T, 8. 365. Dt. I, Voorreden BI. 13, Dann auch I, 8.18. 14.
898. — 4) Ebend. IT, 8. 81. — 5) Ebend. IT, 8.581 fg. — 6) Ebend.
1,8.5.— 7) Ebend, I, 8.13. — 8) Gbend. I, 546. — 9) Cbend.
II, 8. 16.
Diegerm. Phil. in ben Nieberl., in Engl. u. in Stanbinavienv. 1665 6.1748. 145
hundert Jahre nach ihm Jacob Grimm erreicht Hat, Liegt in ber
Ratır der Sache. Abgeſehen von allem Uebrigen würde ſchon die
Dürftigfeit feiner Hülfsmittel 1) ihm deren Erreihung unmöglich
gemacht haben. Wie groß aber au fonft no der Abſtand Ten
Lete's von der Sprachforſchung unferes Jahrhunderts war, davon
wird uns bie Anführung eines einzigen Umftandes überzeugen.
1) 3% will Hier die Hauptfäglicgften Hülfsmittel des Ten Kate, bie uns
den Umfang feiner Stubien bezeichnen, namhaft machen. dür das Niederlän:
diche rügmt er Kilieen’s Etymologicum von 1599, Aenleiding I, 161.
17, Moonen’s Nederd. Spraekkonst eb. S. 400, Hoogstraten's Aen-
merkingen over de Gealagten 1710 und manches Andere, Bon älteren
Rieberläntern führt er beſonders an Melis Stoke I, 41. 58. 356. 572, und
die alıpolänbifche Bibel, Delft 1477 (I, 58). Für das Neuhochdeuiſche kennt
a Ehottelius als einen berühmten Grammatifer I, 359, er benuht aber an
den wichiigſten Stellen feines Werkes nur deſſen Gründliche Anweifung zur
Reifpreibung, Braunfweig 1676, »zijnde een kort Uittreksel van
Schottelii Opus de lingua Germanica« I, 547. Bgl. I, 653. jener
Biriter's Grundfäge der beutfchen Sprache, Berlin 1701, Aenl. I, 547. 658
Or bemerkt beffen Unterſchiede von Schottelius I, 663. 672. Endlich das
Dietionarium regiam Sranff. 1709. 1, 400. Für das Althochdeutſche ber
up er den Tatian von Palthen 1706 (I, 33. Bl, 546) und ben daran
$fügten Isidor (I, 57), ben Willeram (I, 83. 171. 500), ben Otfrid (I,
57), Eceard. Cateches. Theot. 1713 (I, 330. 372. 395). Zür bie fpätere
hochdeuiſche Sprache kennt er Opihens Ausgabe des Annoliebs 1639 (I, 57)
und Gofdaft’s Parsenetiei veteres (I, 327. II, 29). Daß ihm für das
Angelfächfifhe Hides’ Thesaurus zu Gebote ftand, ift oben bemerkt. Er bezieht
fi außerdem auf da6 Evang. Anglos. in Junius Ev. Goth. (I, 57. 165.
546. 632), auf Benfon’s Vocab. Ags. (I. 171. 546), auf Thwaites’ Aus:
gabe des agf. Heptateuchus 1698 (I, 546. 632) und weiß, baf eine große
Anapl agfer Handſchriften in ben engliſchen Bibliothefen liegt (I, 652). Zür
das Jelandiſche benupt er vor allem die Grammatit bes Runolphus Jonas
(1, 171. 362, 376. 400. 547), Olai Wormii Liter. Danica (I, 51), aus
ker er bie Ragnars dräpa mittheilt (I, 79) und erwähnt die »Edda Telan-
dorame (I, 398). Sein Berhältnig zu der Herausgabe des Ulfilas durch
Janine ift oben erörtert. Für das Frieſiſche nennt er Japir und Andere (I,
5. 358).
Raumer, Gejß. der germ. Bfllolsgle. 10
146 Zweites Bud. Erſtes Kapitel.
Bei der Unterfuhung der gothifgen Verba entgeht ihm natürlich
nicht, daß die Gothen Verba befigen, bie ihr Praeteritum durch
Neduplication bilden. Diefe Beugung, meint er, fei ganz verſchie⸗
den von allen anderen deutſchen und kimbriſchen (d. i. nordiſchen)
Zweigen. Und wie erflärt er ſich nun biefe Erfheinung? Al
die Gothen in Moefien wohnten, hätten fie dieſe rebuplicierten
Praeterita von den benachbarten Griechen, mit denen fie umgiengen,
angenommen '). Und eben daher Tomme es, daß die Gothen vielen
Subftantiven und dem Maſculinum des Adjectivs ein s anfügen
nad) der Weife der griechiſchen Endung og 2).
2. Die germanifhe Philologie bei den fkandinavifden Völkern nom
Iahr 1665 bis zum Jahr 1748.
Nicht Weniges von dem, was die ſtandinaviſchen Gelehrten
bereit in ber vorigen Periode erarbeitet hatten, trat erft in der
folgenden in die Oeffentlichleit. Wenn aber auch jenen tüchtigen
Männern, die ihre Leiftungen zunächft nur handſchriftlich Hinter-
laſſen hatten, ihr Verdienst nicht geſchmälert werben darf, fo ift
doch andrerſeits nicht zu verkennen, daß auch jene Leiftungen erit
durch ihre Veröffentlihung in den ganzen Gang der Wiffenfchaft be
deutender eingreifen. Diefe Betrachtungen drängen fih uns auf bei
einem in unfrer Wiſſenſchaft epochemachenden Ereigniß, nämlich bei
der erften Herausgabe ber Snorrifhen Edda durch Petrus Re
ſenius. Geboren zu Kopenhagen im Jahr 1625 machte Reſe⸗
nius feine Studien in feiner Vaterftabt, indem er im Jahr 1643
unter dem Rectorat des Ole Worm die dortige Univerfität bezog.
1647 gieng er nad) Leiden, ftudierte dort vier Jahre lang Philo-
Togie, durchreiſte dann die Niederlande, Frankreich, Spanien und
Italien, warf fi in Padua auf die Jurisprudenz, wurde daſelbſt
1653 Doctor Juris, kehrte in demfelden Jahr nad) Kopenhagen
zurück und wurde 1657 an der dortigen Univerfität Profeffor ber
Ethik ?). 1662 wurde er Profeffor Juris, 1664 zugleich Bürger
1) Aenleiding I, 8. 56. ®gl. 8. 591 fg. — 2) Ebend. ©. 56. —
3) Er. Vindingins, Regia academia Hauniensis, Haunine 1665,
p. 4 sq.
Die germ. phhil inden Riederl., in Engl. u. in Skandinabien v. 1665 6.1748, 147
meifter. 1680 in den Adelsſtand erhoben, ftarb er als Staate-
rath im Jahr 1688 1). Wir fpredhen Hier natürlich nur von den
Schriften des Nejenius, welde der germaniſchen Philologie an-
gehören. Unter diefen hat feinem Namen den größten Ruf ver-
ſchafft feine Ausgabe der jüngeren Edda. In den Schriften der
vorangehenden Periode, bei Ole Worm und feinen Genofien, ift
öfters ſchon die Rede von der Edda 2). Ein Meines Bruchftüc der
jüngeren Edda theilt ſchon Ole Wurm 1651 in ber zweiten Aus-
gabe feiner Danica Literatura antiquissima mit). Aber erft
in demfelben Jahr 1665, in welchem aud das Gothifhe in ben
Kris der europäiſchen Gelehrfamteit eintrat, wurden bebeutende
Theile beider Edden zum erftenmal buch den Drud zugänglich
gemacht. In jenem Jahr erſchien nämlich zu Kopenhagen: Edda
Islandorum an. Chr. MCCXV Islandice conseripta per Snor-
ronem Sturlae Islandiae nomophylacem nunc primum Islan-
diee Danice et Latine ex antiquis codieibus mss. bibliothecae
regis et aliorum in lucem prodit opera et studio Petri Jo-
hannis Resenii. Aus einer jehr ausführligen Widmung an Kö—
mg Friedrich II. von Dänemark, in welcher Reſenius von der
Ethit der verſchiedenen Völler handelt, erfehen wir, daß es die
Cthit war, die Reſenius zum Stubium der Edda geführt Hat. In
der darauf folgenden Vorrede beſpricht er dann feine Ausgabe von
Suorri's Edda. Der Tert felbft enthält 1) die Vorrede der jün-
1) Nyerup og Kraft, Almindeligt Litteraturlericon. — 2) Bgl. Arn-
grim. Jonne Crymogaea, Hambprgi 1610. Dazu deſſen Brief an Ol.
Worm. vom 11. Aug. 1638 in Olai Wormii epist., Hafn. 1751, I,
P-329; uub ebend. I, 353 Worm’s Brief an Magnus Dlafsjon vom Jahr
1097, und Dlafofon's Briefe an Worm vom 27. Aug. 1627 (I, 354) und
2. Aug, 1629 (I, 358). Darüber, daß die ſ. g. ältere Edda zuerſt von
Brynjulfe Bveinsson um 1643 den Titel Edda erhalten hat und bem Ene:
mund jugeſchrieben worden ifl, dgl. u. A. Munch's Vorrebe zu feiner Ausg.
der älteren Edda (Christionia 1847) ©. V u. Möbius' Catalogus p. 67.
— 3) p. 33. (Hövamal 143.) In der erften Ausg. vom Jahr 1636 fieht
die Stelle (p. 33) noch nicht.
10*
148 Zweites Bud, Erſies Kapitel,
geren Edda !). 2) Gylfi's Täuſchung. 3) Bragaraedır. Daran
fließen fih unmittelbar eine Anzahl aus Skaldſtaparmal entnom-
mener Erzählungen an. Aus den Kenningar wird dann nad
einer Aufzählung der Götter mit ihren verjchiedenen Namen ein
alphabetiſch geordnetes Verzeichniß der hauptſächlichſten Gegenftände
mit ihren Benennungen gemacht. Dem Grundtert iſt die latei⸗
niſche Ueberſetzung hinzugefügt, die der Isländer Magnus Dlafs-
fon?) im Jahr 1629 gemacht hatte, und außerdem, wo fie von
diefer abweicht, die des Isländers Stephan Olafsſon
(Cr 1688) 9). Und da diefe beiden nur bie erften 68 Erzählungen
überjegt hatten, ließ ſich Reſenius die noch fehlende Zahl von
dem Zsländer Thormodr Torfafon (geb. 1636, } 1719) 9
übertragen. Außerdem fügte er noch eine bänifhe Ueberfegung
hinzu, die Stephanus Stephanius handſchriftlich hinterlafien hatte,
und eine Anzahl von Anmerkungen, die theils von Magnus Dlafs-
fon, theils von ihm ſelbſt herrühren. Wir fehen aus bem allen,
daß ber ſchwierigſte Theil des Werkes Anderen, als dem Reſenius
angehört. Dennod war es für bie Wiſſenſchaft von unermeßlicher
Bedeutung, daß Reſenius fih der Veröffentlihung des Ganzen
unterzog. Aehnlich verhält es fi mit den Stüden ber älteren Edda,
die Mefenius gleichfalls im Jahr 1665 zu Kopenhagen herausgab:
der Völufpa, welcher er bie lateiniſche Ueberjegung des Stephan
Dlafsfon und die Anmerkungen ebendesfelben und des Gudmund
Andreae hinzufügte 5), und dem Havamal und Runa Capitule.
Auch Hier war das Wichtigfte, daß durch die Ausgabe des Nejenius
zum erftenmal ganze Stüde jener uralten Götterdichtung der euro-
päifhen Gelehrfamteit zugänglich gemacht wurden. Ein verwandtes
BVerdienft erwarb fih Mefenius dadurch, daß er im Jahr 1688 (zu
Kopenhagen) das von Gudmund Andreae verfaßte Lexicon
Islandioum Herausgab, das erfte wirkliche Wörterbuch dieſer
Sprache. — Das Studium des Altnordifgen wurde gegen Ende des
1) Mit einigen vorangeſchicien Zufügen. — 2) ©. 0. S. 108. —
3) Nyerup og Kraft, Alm. Lit. — 4) Gbend. — 5) ©. Refenius Bor:
rede zu feiner Ausgabe der Snorra-Edda.
Die germ. Phil. in den Nicberf., in Engl. u. in Sfanbinadicn v. 16656.1748. 149
17. und in ber erften Sälfte bes 18. Jahrhunderts durch eine
Reife gelehrter Dänen und Isländer bebeutend gefördert. Unter
den Dänen war es vorzüglih die Familie Bartholin, deren
begabte Glieder fi der einheimifhen Sprache und Alterthümer
annehmen. Schon der ältere Thomas Bartholin, der ber
rüfmte Mebiciner, (geb. 1616, + 1680), wibmete feine Mußeftun-
den der Erforſchung des ſtandinaviſchen Altertfums und pflanzte
tie Liebe zu diefen Studien feinem Sohne ein. Diefer, ber jün-
gere Thomas Bartholin (Juriſt und Hiftorifer, geb. 1659
+ 1690), gab 1689 heraus Antiquitatum Danicarum, de causis
contemtas a Danis adhuc gentilibus mortis, libri tree, worin
er viele Auszüge aus den noch ungebrudten Gedichten der f. g.
Saemundiſchen Edda mittheilte., Wie ber ältere Thomas Bartho-
fin, fo machten fi zwei feiner Brüder um die vaterländifhe Sprache
und fiteratur verdient: ber eine, Rasmus Bartholin (geb.
1625, } 1694), durch feine 1657 gehaltene, 1674 gebrudte Rede
De studio linguae Danicae; der andere, Albert Bartholin
(f 1668) durch fein erft (1666) nad) feinem Tode erſchienenes Buch
De scriptis Danorum. Unter den Isländern jenes Zeitraums
thaten ſich theils durch Herausgabe altnordiſcher Schriften, theils
durch Forfhungen auf dem Gebiet der altnordiſchen Sprache und
cüiteratur befonders hervor Thordhr Thorlacius (f 1697),
Thormodhr Torfafon (Torfaeus), Pal Vidalin (+ 1727)
md Arni Magnusfon (Arnas Magnaens). Der zulekt
Genannte, geb. 1663 in Quenebaefte auf Island, wurde 1684
Amanuenfis des jüngeren Thomas Bartholin in Kopenhagen, 1721
Univerfitätsbibliothefar daſelbft und ftarb 1730. Er war nit nur
einer der gelehrteften Kenner der altnordiſchen Literatur, wie er
namentlich durch fein Leben des Saemundr hinn Frobi ?) beivies,
jondern er erwarb fich überdies ein umvergänglices Verdienft um
die altnordiſchen Stubien dadurch, daß er feine Manufcripte ber
Ropenhagener Univerfitätsbibliothet zugleih mit einem Capital ver-
1) Ext 1787 im erſten Band der Kopenhagener Ebba gebrudt.
150 Zweites Buch. Erſles Kapitel.
machte, deffen Zinſen einer oder zwei isländiſche Studierende erhal⸗
ten follten, die fih dem Studium des nordiſchen Alterthums wid-
meten 1). Schließlich Haben wir noch einen gelehrten däniſchen
Sprachforſcher aus diefer Zeit zu nennen, ber feine Thätigleit ins-
befondere auch dem älteften Hochdeutſchen zuwandte: Friedrich
von Roſtgaard. Geboren zu Kraagerup bei Helſingör im
Jahr 1071, machte Roſtgaard gelehrte Reiſen durch einen großen
Theil von Europa zur Benutzung der Bibliothelen und Erweiter-
ung feiner ausgebreiteten philologiſchen Kenntniffe. Er ftarb als
dänifcher Conferenzrath im Jahr 1745. Unter feinen mannigfal-
tigen Schriften gehören in unferen Bereich feine Emmendationen zum
Otfrid. Während eines längeren Aufenthalts in Rom im J. 1699
verglich er bie Heidelberg- Vaticanifhe Handſchrift mit der Basler
Ausgabe, merkte die zahlreichen Fehler der letzteren an, verſuchte ſich
aud in eigenen Conjecturen und gab richtige Auskunft über das Ver⸗
hältniß der Basler Ausgabe zur Vaticaniſchen Handihrift. Das Ganze
ſchickte er an Schilter zu freier Benutzung 2). Im Jahr 1720 ließ
Eahart Roſtgaard's Emendationen als Anhang zu feiner Ausgabe
der Leges Salicae druden.
Um dieſelbe Zeit, in welder die altnordiſchen Studien in Dä-
nemark durch die Herausgabe der Snorri'ſchen Edda einen neuen
Aufſchwung nahmen, begann auch in Schweden die Liebe zum ffandi-
naviſchen Alterthum mehr und mehr zu erwaden. Cine Reihe be
deutender Gelehrter: Etjernhjelm, Berelius, Rudbech, begegnete ſich
1) Tie Angaben über das Leben der oben genannten Tönen und Jslän-
der find dem Almindeligt Litteratnelericon for Danmark, Norge, og Jsland.
Bed R. Nyerup og I. E. Kraft, 1820, entnommen. Ueber die Arna = Diay
naeiſche Stiftung f. Hans de Hofman, Samlinger af Publique og Private
Stiftelfer, T. I, Kiöbenh. 1755, &. 212 fg., 275 fg., u. T. X (1705),
Appendix p. 1—11. Hier finder man das Nähere über eine Stiftung, bie
beweiſt, wie Bedeutendes mit geringen Mitteln erreicht werden kaun, wenn
man fie verfländig anwendet. — 2) Darüber, daß weder Schilter, noch
Scherz Roſtgaard's Bemerkungen gehörig verwertheien, ſ. Kelle's Otfr. I,
Ein. S. 121 fg.
Tie germ. Phil. in den Nieberl., in Engl. u. in Standinavien v. 1665 6.1748. 151
in biefem Streben, und durch ein günftiges Geſchick war auch der
anzefehenfte Staatsmann Schwedens: der Reichskanzler de la
Gardie, begeiftert für diefe Studien. Magnus Gabriel de la
Gardie (geb. 1622, Reichslanzler 1660, + den 26. April 1686)
gründete 1686 das Antiquität3- Collegium zu Upfala, deſſen Bor-
fand Stjernhjelm und deſſen Beifiger neben Anderen Verelius
wurde '). Durch den Isländer Rugman ließ er isländiſche Schrife
ten anfaufen. Er ſelbſt ſchenkte der Univerfität Upfala den gothie
fen Coder argenteus, den er in den Nieberlanden für 2000 Gul-
den zurüdgefauft Hatte. Das Biel feiner Beſtrebungen faßt er in
die treffenden Worte zufammen: „Ich will nicht eine verſchwun⸗
dene Zeit zurüdführen. Man lebe in feiner Zeit, man fprede
deren Sprachel Aber man kenne die früheren Zeiten, die Weis»
keit der Alten und die Sprache der Väter!” ?) Das Epoche⸗
machende für die ſchwediſchen Altertfumsftudien war das Bekannt»
werben des Islundiſchen. Dadurch erhielt die ganze ſchwediſche
Sprach⸗ und Alterthumsforſchung eine neue Grundlage. Hiemit
verband ſich das neue Kit, das für die gefammten germaniſchen
Studien durch die Entdedung des Gothiſchen aufgieng. Wir dür-
fen uns nicht wundern, wenn dieſer Reichthum neuer und unge
ahnter Aufichlüffe über das germanifche Alterthum die hegeifterten
Berehrer desſelben anfänglich blendete und vermirrte und neben
höchſt achtungswerthen Beftrebungen die fonderbariten Wahngebilde
ereugte. Haben wir es doch ſchon ähnlich bei dem Gründer biefer
Studien in Schweden: Yohannes Bureus, gefunden. Eine ver-
wandte Richtung fett ſich auch bei den ſchwediſchen Gelehrten fort,
die als feine Nachfolger mit reiheren Hülfgmitteln und größerem
Erfolg die altgermaniſchen Sprachen erforihen. Georg Stiern-
diem (geb. 1598 in der Nähe von Fahlun, } 1672) 3) warf
1) Abr, Gronholm, Magnus Gabriel be la Garbie, in Supplement
til biographiskt Lexicon, Lund. 1836, p. 93. — 2) Ju einer Rebe, die
@ zu Upfala hielt, bei Cronholm a. a. DO. S. 9. — 3) Ueber Stjern⸗
dielm's Leben ſ. Biographiskt Lexicon öfrer namnkunnige Svenska
män, 16. Bd. Upsala 1849, p. 1. fg.
152 Zweites Buch. Erfles Kapitel,
ſich mit fenvigem Eifer auf das Studium ber altgermanifden
Sprachen. Er wollte fi) aber nicht begnügen mit den Ergebniſſen,
die eine beſonnene Forſchung fon damals hätte gewinnen können,
fondern verlor fi in Phantafieen über den Zufammenhang und
den Urfprung aller Sprachen. Natürlih mußte er hier in viele
und ſchwere Irrthümer gerathen. Doc finden wir bei. ihm trotz
alter Mißgriffe manchen richtigen Blick. So erklärt er (1671)
dag Hebräifge nur für einen Dialelt der von Sem abftammenden
Sprache, glei dem Arabiſchen, Syriſchen u. ſ. w. '); und in feinem
Glossarium Ulphila- Gothicum (1671) madt er an dem durch⸗
gebeugten gothiſchen haban auf die nahe Berwandtihaft der gothi-
fen ‚und lateiniſchen Flexionen aufmerkam 2). So verehrt auch
Stjernhjelm's etymologiſches Verfahren noch ift, jedenfalls müſſen
wir das ernſte Studium anerfennen, das er dem Gothiſchen und
dem Zsländifhen widmete. Seine 1671 zu Stodholm erſchienene
. Ausgabe des Ulfilas bezeichnet zwar feinen weſentlichen Fortſchritt,
aber fte bildet den Anfangspunft der Arbeiten, durch die fid in
ben beiden folgenden Jahrhunderten gerade ſchwediſche Gelehrte um
das Gothiihe jo hohe Verdienfte erworben haben. Einer der tüd-
tigften unter den Gründern der altſtandinaviſchen Studien in
Schweden war Olof Verelius. Geboren 1618 erhielt er 1662
die neu gegründete Profefjur der ſchwediſchen Alterthümer in Up
fala, wurde 1666 Aſſeſſor des Alterthums⸗Collegiums dafeldft und
ſtarb am 3. San. 1682 3). Verelius beginnt zuerjt die Veröffent-
lichung altnordiiher Sagaen, indem er 1664 zu Upfala die Gaut-
rels Saga herausgibt; 1666 läßt cr die Herrauds, 1672 die Her-
varar Saga folgen. Dem Tert fügte er eine ſchwediſche Ueber
fegung und erläuternde Anmerkungen bei. Unterftügt wurde er in
feinen Unternehmungen durch die Kenntniffe des in Schweden
lebenden sländers Jonas Rugman (} 1679). Den glängend-
1) ©. bie Praefatio zu Stjernhjelm's Ausgabe des Ulfilas, Stocholm
1671, Bl. 11 fg. — 2) Ebend. im Glossarium Ulphila-Gothicum p. 79.
— 3) Ueber fein Leben ſ. das o. angeführte Biographiskt Lexicon, Bd. 20
(1852) p. 165 fg.
Die germ. Phil. in ben Nieberl., in Engl.u. in Sfanbinevien v. 1665 5. 1748. 158
fen Ramen bei feinen Zeitgenofien erwarb fi unter den dama⸗
figen ſchwediſchen Alterthumsforſchern ein Mann, der jegt nur noch
genannt zu werben pflegt, wen man eine der unglaublichiten Ber-
inumgen übel angewendeter Gelehrfamleit als warnendes Beifpiel
enführen will: Olof Rudbed. Er wurde geboren in Vefteras
1630, finbierte Medicin und Naturwiſſenſchaften, erwarb fid früh
einen Namen als Anatom und fpäter auch als Botaniker, wurde
1660 Brofeffor der Anatomie und Phyfiologie in Upfala und ftarh
daſelbſt am 17. Sept. 1703 1). Uns geht Hier nicht der Nature
forfger, fondern nur der Alterthumsforſcher Rudbeck an. Als
nämlich Berelius bie Hervararfaga herausgab, forderte er Rudbeck
auf, eine Eharte von Schweden zu entwerfen, die zum Verſtändniß
der alten Saga dienen könne 2). Indem Rudbed diefen Gedanken
mit Eifer verfolgte, gieng ihm plöglic ein ganz meues Licht über
die Urzeit des ſtandinaviſchen Nordens auf. Es wurde ihm fo
Mar wie der Tag, daß die alte, für fabelhaft gehaltene Atlantis
nichts Anderes als daS wirkliche hiſtoriſche Schweden fei. Hier
blüßte in uralter Zeit eine veihe Kultur; von Standinaviens
Slalden haben die Griechen, Römer und Yegypter all das Ihrige
genommen 3). Hier ift die Urheimath der Menſchheit. Zur Be
gründung dieſes genialen Unfinns Tieß Rudbed fein Atland eller
Manheim 1675 — 98 in brei ftarfen Foliobänden erſcheinen; von
nem angefangenen vierten Band verſchonte der große Brand von
Upfala im Jahr 1703 nur wenige Exemplare ). Das Merkwür⸗
Nafte an diefer Erſcheinung ift, daß dieſe phantaftiihe Ausgeburt
eines geiftveichen, aber verſchrobenen Kopfes mit unerhörtem Bei-
fall aufgenommen wurde. In wenigen Sahren erlebte ber erfte
Band drei Auflagen, und alle kritiſchen Zweifel, wie ſie z. B. der
gelehrte Hiftoriter Johannes Scheffer (geb. zu Straßburg
1821, Prof. in Upfala 1648, } 1679) vorbradite 5), vermochten
1) Ueber Rubbe?s Beben ſ. Biographiskt Lexicon, Bd. 12 (1846),
PS fg, — 2) S. die Wibmung von Rudbed's Atlantica an Berclius
(W75). — 3) Rudbeck, Atland I (1675), p. 688. — 4) Biogr. Lex.
A, 928. — 5) gl. Biogr. Lex. XII, 371 fg. XII, 326,
154 Zweites Bud. Zweites Kapitel,
die patriotifhe Freude der Schweden nicht zu ftüren. Man muß
fi aber erinnern, daß dur die Schriften jener Gründer der
ſchwediſchen Alterthumsforſchung wirklich ein Zug nordiſchen Tief⸗
ſinns und echter Begeiſterung für das ſtlandinaviſche Alterthum geht.
Daher auch trotz aller Schwächen und Verirrungen ihre wirklich
für jene Zeit dankenswerthen Leiſtungen. Sie geben die alten
ſchwediſchen Geſetze heraus, ſie beginnen die zahlreichen ſchwediſchen
Runenſteine zu veröffentlichen, und, was das Wichtigſte iſt, ſie und
ihre Schüler machen mehrere ber bedeutendſten altnordiſchen Werte
zuerſt befannt. Unter diefen Nachfolgern ber erften Gründer find
vor allen zu nennen Peringffiöld und Börner. Johann Bering-
ſtiöld (geb. zu Strengnäs 1654, ſchwediſcher Reichsantiquar 1693,
rd. 24. März 1720) 1), gab 1697 zum erftenmal den altnorbi-
fen Grundtert von Snorri's Heimskringla?), 1715 die Bilfine
und die Riflunga Saga ?) heraus; und Erik Julius Björner
(geb. 1696, Afjeffor des ſchwediſchen Alterthums-Collegiums 1738,
+ 1750) veröffentlichte 1737 2) in feinen Nordiſta Kämpa Dater
neben einer Neihe anderer Sagaen zum erftenmal die Bölfunga-
Saga. Alle diefe Ausgaben Tießen in Bezug auf Textbehandlung
und Berftändniß noch viel zu wünfden übrig, aber es war von
nicht geringer Wichtigfeit für die Weiterentwidlung der Wiſſenſchaft,
daß eine folhe Reihe von Hauptwerken der altnordiſchen Proſa
allen Forſchern durch den Drud zugänglich gemacht war.
Zweites Kapitel.
Die germaniſche Philslogie in Deutſchland 1665 Bis 1748.
1. Anregungen durch Morhof und Leibny. .
Die Geſchichte der germanifchen Philologie in den Niederlan-
den, England und Skandinavien während der zweiten Hälfte des
1) Ueber fein Leben |. Biographiskt Lex., Bd. XI, 139 fg. — 2) 3u
Stocholm. J
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 155
17. und im Beginn des 18. Jahrhanderts Kat uns eine Neihe
epochemachender Leiftungen vorgeführt: Die Herausgabe der gothi-
ſchen Evangelien durch Franciscus Junius, bie erfte grammatiſche
Beatbeitung ber altgermaniſchen Sprachen durch Hickes, die ſcharf-
finmigen Unterſuchungen Ten Kate's, die erſte Ausgabe von Snorri's
Eda dur Reſenius. Alle diefe Erſcheinungen hatten natürlich
eine bedeutende Einwirkung auch auf die Entwidlung der germani-
fen Philologie in Deutſchland; aber es währte geraume Zeit, bis
dieſe Einwirkung zu voller Reife gelangte.
Gleich am Eingang unferer Periode begegnen wir zwei Ge
lehrten, welche ſich, wenn auch der eine den anderen an Begabung
meit überragte, doch infofern zufammen nennen lafjen, als beide
die wiffenjchaftlichen Beſtrebungen der verfchiedenen Ränder mit ein-
ander verfnüpften und die germaniihe Sprachforſchung mit dem
ganzen Gebiet des Wiſſens in Verbindung zu fegen ſuchten. Der
eine diefer beiden Männer war Daniel Morhof, der andere
Gottfried Leibniz, Daniel Georg Morhof wurde ge
boren im J. 1639 zu Wismar, erhielt feine Jugendbildung auf
dem Pädagogium zu Stettin unter dem Rectorat des Johannes
Micraelius und bezog dann 1657 die Univerfität Roſtock, wo er
mannigfach gefördert durch Andreas Tſcherning im J. 1660 als
Brofeffor Poetices deffen Nachfolger wurde. Doch gieng er vor
dem Antritt diefes Amtes noch ein Jahr auf Reifen nah ben Nie- -
derlanden und nad England. Im J. 1665 nahm er einen Auf
al3 Professor eloquentiae et poöseos an der Univerfität Kiel
an. Bon hier aus bejuchte er 1670 zum zweitenmal England und
die Niederlande und lernte neben vielen anderen Gelehrten au
Franciscus Junius, der damals im Haag lebte, Tennen '). Im
% 1671 nad Kiel zurüdgefehrt, übernahm er 1673 die Profefiur
der Geſchichte und ſtarb nach längerer Kränklichkeit 1691 auf der
Reife zu Kübel 2). Morhof war ein Gelehrter von ausgebreitetem
1) Die obigen Angaben find ber bis zum 3. 1670 reichenden Seibfls
biograppie des Morhof entnommen, bie fi abgebrudt findet Hinter D. G.
Morhofi Dissertationes academıcae et epistolicae. Hamburgi 1699.—
9) ©. d. Prolegomena in Morhofii Polyhistorem von Johannes Moller
156 Zweites Bud. Zweites Kapitel.
Wiſſen auf den verſchiedenſten Gebieten und hat diefem Wiffen in
feinem vor Zeiten berühmten Polyhistor einen Ausbrud gegeben.
Aber diefe Vielfeitigfeit des Wifien? hat ihn nicht dem Baterländi-
ſchen entfrembet, er war vielmehr urn ganzem Herzen dem Deut-
ſchen zugethan. In diefem Sinn ſchrieb er feinen „Unterricht von
der Teutſchen Sprache und Poeſie. - Kiel 1682,” ein in mehr
als einer Hinfiht merkwürdiges Bud. Er zerlegt fein Werk in
drei Theile und handelt im erften „Bon der Teutihen Sprade,“
im zweiten „Bon ber Teutjchen Poeterey Uhrſprung und Fortgang,“
endlich im britten „Bon der Teutſchen Poeterey an ihr ſelbſten.“
Wir fehen da, wie Morhof die Beſtrebungen zufammenfaßt, die
fi bis dahin in den verſchiedenen Ländern für die Erforſchung ber
germanifhen Sprachen umd Literaturen geltend gemacht hatten. Er
tennt nicht bloß die deutſchen Gelehrten, fonbern er ſteht aud in
perſönlichem oder Brieflihem Verkehr mit vielen namhaften For⸗
fern des Auslands: mit Franz Junius in den Nieverlanden, mit
Peter Rudbed und Verelius in Schweden !). Er ſchätzt feine beut-
ſchen Vorgänger, insbeſondere Schottel, deſſen Hauptwerk er rüh⸗
mend erwähnt ), ohne doch deſſen Schwächen zu überſehen ).
Aber er lennt auch die epochemachenden Arbeiten des Auslands, die
zwiſchen ihm und Schottelius liegen: Die gothiſchen Evangelien
bes Junius ) und bie Snorri'ſche Edda des Reſenius d). Doch
in ber Ausgabe des Polyhistor, Lubecae 1708. — 1) S. bie oben an
geführten Prolegomena von Moller ©. 17. — 2) Morhof, Unterricht
©. 457. — 3) Ebend, ©. 437. Polyhistor 1708, II, p. 87. — 4) Poly-
histor 1708, IL, p. 38. II, p. 53. Im Unterricht u. ſ. f. führt Morhof
dfters ſowohl bie gothiſchen Evangelien ſelbſt, ald das Gloffarium bes Junius
an. Wie weit aber fein Stubium bes gothiſchen Teries ſelbſt gieng, ift auch
aus ben Stellen, in benen er ihn anführt, nicht ſicher zu entnehmen, ba er
feine Eitate nicht immer aus dem Terte ſelbſt, fonbern aus bem Gloſſar bes
Junius nimmt. So iſt z. B. bei Morhof ©. 146 das falſche Citat Marc. 10, 4
(ſtatt 9, 20) aus Junius' Gloſſar ©. 328 entlehnt. Ebenſo erwect bie Art,
wie Morhof im Polyhist. 1708 T.II, p. 38 vom Ulfilas auf die »Historis
Gothriei et Rrolf, Gothioa lingun soripta« übergeht, fein gutes Vor⸗
urtheil für feine Kenntniß bes Gothiſchen. — 5) Morhof, Unterriät S. 404 fg.
Die germanifche Philologie in Deutſchland 1665 Bis 1748. 157
Morhof ift Teineswegs ein bloßer Notizenfammler, fondern ein
Mann von gefunden und felbftändigem Urtheil. Namentlich in
wei Beziehungen ift fein Werk von Wichtigkeit, erftens durch bie
treffenden Aeußerungen über die richtige Behandlung ber deutſchen
Etymologie, und zweitens als erfter Verſuch einer Geſchichte der
deutſchen, ja der geſammten neueren europäiſchen Poefie. In Be-
zug auf die Wortableitung lehrt er: „daß man gar genau bie
Veränderung der Vocalium und Consonantium in act nehme,
woran ein groffes in den Derivationibus ber Wörter gelegen.
Die allzu groffe Gleichheit ift viel verbäditiger, als wenn einiger
Unterſcheid in den Wörtern ift“ 1). „Iſt alfo auff Gleichheit nicht
fo jeher zu fehen, als auff die Veränderung die in den Wörtern
verfällt. Hier fan nun gar wol eine gewiſſe Nichtigkeit getroffen
md feite Regulen auß inftändiger Observation gezogen werben.
Bie dern in ber Lateiniſchen Sprade die alten Grammatiei, und
am volffommenften Vossius in feinem Tractat de permutatione
lterarum getan“ 2). Man muß den Weg, ben die Sprache ge
nommen, „wieder zu rüde gehen und bie Veränderung von Zeiten
zu Zeiten merden. Welde nicht auff einmahl, fondern Stupffen-
weile geichehen“ 3). „In den Wörtern ift nichts veränderlicher, als
bie Vocales“ 4). „Die Consonantes werben auch in einander
verwandelt, nachdem fie ihnen unter einander verwandt, oder von
einem organo gebilbet werben“ b). Und babei heißt ber Werfaffer
inshefondere auch auf die älteren germaniſchen Sprachen Rückſicht
nehmen. „In Teutſcher Sprache,“ fagt er, „hat man eine groffe
Menge folder Wörter, deren Uhrſprung niemand errathen Tan:
wer aber die monumenta ber alten Teutſchen Sprachen nachſiehet,
und auff die Veränderung ber Buchſtaben acht Hat, der wirb ſich
bald darin finden. Dergleichen Arbeit ift von feinem Teutſchen
noch zur Zeit vorgenommen.” Nur Vorftius habe etwas Derarti⸗
9 an einigen Proben verfucht ). Wo Morhof fih auf die Aus-
&ıL. Polyhist. 1708 T. IL, & p. 8 sq. — 1) Morhof, Unterricht S. 929.
— N Ebend. ©. 104 fg. — 3) Ebend. ©. 109. In der Ausg. von 1700
Bett: Stuffenweiſe. — 4) Ebend. S. 109. — 5) Ebend. S. 111. —
6) End. S. 492.
158 Zweites Bud. Zweites Kapitel.
führung feiner Anſichten einläßt, ift er nicht ohne glückliche Blide.
Er bemerkt nicht nur nad dem Vorgang des Junius den Wechſel
von griechiſch⸗ lateiniſchem k und deutſchem h in calamus, Halm
u. f. f.), ſondern er fügt auch den von h und g Hinzu in „hor-
tus, art, hesternus, geftern, hostis, @aft, hoedus, @eit“ ?),
und fo noch mandes Andere). Man braucht die Etgmologieen
Morhof's bloß mit den nur wenig älteren des Schottelius zu ver-
gleichen, um ben bedeutenden Fortſchritt wahrzunehmen, der zwiſchen
beiden Männern liegt). Aber fo achtungswerth diefe Anfänge
einer rationellen Etymologie find, fo hüte man fid) body, zu weit
gehende Schlüfje daraus zu ziehen. Denn das Richtige ift nicht
nur mit einer Menge willfürliher und verfehrter Wortableitungen
untermiſcht ®), fondern der Verfaſſer Hat auch das ganz verfehlte
Beſtreben, darthum zu wollen, daß das Griechiſche und Lateinifhe
zu einem guten Theil vom Deutſchen ftammen °), und er Iegt felbft
Rudbeck's phantaftifher Atlantica einen hohen Werth bei”). Bon
einer vergleichenden Grammatik nämlih, die fih auf die Verwandt
(Haft und Umwandlung der Flexionen gründet, hat Morhof noch
keine Ahnung. Man könnte denfen, die Entdeckung des Gothiſchen
mit feinen reichen Flexionen Hätte auf diefen Gedanken führen
müffen. Aber weit entfernt, erflärt Morhof vielmehr: „Die Ar-
tieulos pronomina und vorba Auxiliaria findet man in ber älte
ften Gothiſchen und Teutſchen Sprache offtmahls außgelaffen, und
an ftaat derer gewiſſe endigungen der Wörter, dadurch der Unter:
ſcheid der Casuum temporum und personarum außgebildet wird.—
Ich folte aber den Gebrauch der articulorum und verborum auzi-
1) Ebend. S. 38. 138, — 2) Ebend. ©. 118. — 3) Ebend. ©. 8.
118, 122. 138. 146. — 4) Morhof ift deshalb wohlberechtigt, bie Eiyme:
logieen des Schottelius zu tadeln. Polyhistor 1708 T. IL, p. 37. —
5) Bol. 4 8. Kheupm ift das niederländiſche het hayr. Morhof, Unterridt
©. 144, und vieles Andere. — 6) Morhof, Unterrigt ©. 4. 22. 23. M.
59. 68. 74. 78, 85. 122. 148. 150. — 7) Ebend. ©. 18. By. Polybist.
1708, T. IT, p. 21, amd befonders Morhof's Worie in feiner Epist. ad Ol.
Rudbeck bei Moller, Proleg. zum Polyhist. 1708, p. 66.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 159
liarium älter halten, und ſcheinet, daß man hierin den Lateinern
nachgeahmet Habe“ 1). R
Wir können hier fo mandes Gute, das Morhof's Buch z.B.
über deutſche Orthographie?), über die Verfdiebenheit der Wort-
ftelung in der Poefie und Profa3) und Anderes enthält, bloß cr-
wäßnen, und begnügen uns, nur noch Einiges über den wichtigen
fiteraturgefchichtlichen Theil des Werkes zu fagen. Der Berfaffer
gibt da eine Geſchichte ber „reimenden Poeterey“ 4) bei den Fran-
zeſen, Stalienern, Spaniern, Engländern, Nieberländern, Deut-
ihen und Standinaviern, wie fie vor ihm nod niemand verſucht
hatte. Er weiß Beſcheid zu geben von den provenzalifhen Dich-
tem) und iſt ber erfte, der in Deutfjland den Namen Shatefpeare
nennt 6). Was aber für unfern Zmwed von befonderem Werth ift:
a lennt und ſchätzt die altdeutſche Poefie?). Er theilt nämlich
„die Teutſche Poeterey“ in drei „Beiten“: „bie uhralte” vor Karl
dem Großen, die „andre“ von Karl dem Großen an, endlich die
dritte feit Opig®). Wo er von den älteften deutſchen Gedichten
ſpricht, Hält er feinen Landsleuten als beſchämendes Beiſpiel den
Eifer vor, mit welchem die Schweden ihre alte Literatur erforſchen,
und jagt dem gegenüber von den Deutſchen: „Es ift traun uns
verantwortlich, daß man bergleihen Alterthümer fo gar in finftern
fteden Täft, und fie mit zur Ehre der Teutſchen Nation hervor
gegeben werben“ 9). Was damals von ber altveutf—hen Poeſie ver-
entfiht war, ift ihm großentheils befannt, aber er weiß, daß
dies bei weiten nicht alles Vorhandene ift, und dringt deshalh
darauf, daß man nah dem rühmlihen Vorgang Goldaſt's bie
Schäke der altdeutſchen Literatur befannt made 10). -
Was Morhof als begabter Polyhiftor anjtrebte, das erfaßte
Gottfried Wilhelm Leibniz (geb. zu Leipzig 1646, geft. zu
Hannover 1716) als tieffinniger Denker und genialer Forſcher.
1) Worhof, Unterricht ©. 506. — 2) Ebend. ©. 468 fg. — 3) Ebend.
3.5116. — 4) Ebend. S. 151-446. — 5) Eben. ©. 156 fg. —
9) Eiend. S. 250. — 7) Ebend. S. 326. — 8) 6bend. ©. 422. —
Ebend 6. 289 fg. — 10) Ebend. ©. 304.
160 Zweites Buch. Zweites Kapitel.
Bir dürfen hier natürlich feine Darftellung des Leibniziſchen Cy-
ftems geben, fo groß wir aud im Lauf bes 18. Jahrhunderts
deſſen Einfluß auf die ganze Denkweiſe der Gebildeten finden. Wir
müffen uns vielmehr begnügen, zu zeigen, wie Leibniz von ver
ſchiedenen Seiten feiner umiverfellen Beſtrebungen aus barauf ge
führt wurde, auch ber Erforfung der deutſchen Sprache und des
deutfhen Altertfums feine Thätigfeit zuzuwenben. Es war vor
allen Leibniz der deutſche Patriot und Staatsmann, welcher die
Wichtigleit der deutſchen Sprache und ihrer Pflege erfannte. Aus
dieſem Geſichtspunkt ſchreibt er im J. 1679 feine „Ermahnmg an
die Teutſche, ihren Verſtand und Sprache beßer zu üben ſamt bei⸗
gefügten Vorſchlag einer Teutſchgeſinten Geſellſchaft“ i), und im
J 1697, bald nach Abſchluß des Rijswijler Friedens 2), feine
köſtliche Schrift: „Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Aus
übung und Berbefferung ber teutſchen Sprache“ e). Die teutſche
Tapferkeit, jagt er bort, bat fid zu unferen Zeiten durch große
von Gott verliehene Siege wiederum merklich gezeiget. „Nun iſt
zu wünfchen, daß aud der Teutſchen Verſtand nicht weniger ob-
fiegen und den Preis erhalten möge“ ). Dazu fei aber vor allem
die Ausbildung der deutſchen Sprache nothwendig, und deren Ber-
befferung und Unterjuhung fei einer befonderen Anftalt anzuver:
trauen. „Wir können die einzelnen Gebanten, die Leibniz. in biefer
überaus gehaltreichen Schrift entwidelt, nicht alle verfolgen, wir
wollen nur den einen für die germanifche Philologie beſonders
fruchtbaren hervorheben, daß Leibniz eine dreifache Bearbeitung des
deutſchen Wortſchatzes wünfcht, nämlich ein Lexikon für die allge
1) Herausgegeben 1846 von C. 2. Grotefend, unb wieder abgebrudt im
Weimariſchen Jahrbuch für deutſche Sprache u. ſ. w., Her. von Hoffmann von
dalleroleben und Schade, Bd. III, Hannover 1855, &.88—110. — 2) Leib⸗
niz's Deutſche Schriften. Her. von G. €. Guhrauer, Bd. I, Berlin 1838,
©. 441. — 3) Zuerft veröffentlicht nad; Leibniz’ Tod in Leibnitii Collec-
tanea etymologiea. Cum praefatione J.G. Eccardi. Hanoverse 1117.
Dann Öfter; am beflen in Guhrauer's eben angeführter Ausgabe von Leibnize
deutſchen Säriften, ®. I, ©. 449-486. — 4) $.4. &.450 bei Gufraur.
Die germaniſche Philologie in Deutfehland 1665 Bis 1748. 161
mein gebrãuchlichen Wörter, einen Sprachſatz für die Kunſtwörter,
und endlich ein Glossarium etymologicum „vor alte und Land⸗
Borte, und folde Dinge, fo zu Unterfuhung des Urfprungs und
Grundes dienen“ 1). Leibniz nahm dem Iebhafteften Antheil an
iradlihen und befonders an etymologifhen Unterfuhungen, und
war wurde er von zwei Seiten zu ihnen hingezogen. Erſtens
gaben ihm feine tiefjinnigen Forſchungen über das Weſen der
Sprage und ihr Verhältniß zum Gebanten Anlaß, fih um bie
verißiedenartigften Sprachen und jo namentlih aud um die ger-
moniigen zu befümmen; und zweitens erkannte er als Hiftoriker
den hohen Werth der Sprachforſchung für die Geſchichte. Was bie
eiftere Seite betrifft, jo wollen wir nur einen Punkt hervorheben,
meil er auch in der Geſchichte der germaniſchen Sprachforſchung
eine fortwirtende Rolle fpielt. Gegenüber der Meinung Lode's,
daß die Wörter völfig willfürliche Zeichen der durch fie ausgedrück⸗
ten Begriffe feien, 2) vertrat Leibniz die Anfiht, daß im Grunde
wiſchen dem Laut der Wörter und den Dingen ein gewiſſer Zu-
jummenhang beftehe, und er begründet dies durch das Beiſpiel der
Wörter, welde das verſchiedene Geſchrei der Thiere bezeichnen oder
davon abgeleitet find 3). Dann aber dient ihm zweitens jeine
Sprachkenntniß bei der Herausgabe der deutſchen Geſchichtsquellen.
So theilt er 3. B. in feinen Annales imperii oceidentis ?) einen
verbeſſerten Tert der Straßburger Eide vom J. 842 mit. Bor
allem aber fieht er in ber Erforſchung ber Spraden die Grund⸗
lage für die Urgeſchichte der Völler. Cr ſchreibt eine Brevis
designatio meditationum de originibus gentium ductis potissi-
1) g 33, S. 461 bei Gußrauer. — 2) BgL Locke, An essay coneer-
ning human understanding, Book III, chap. 2, 8. 8. — 3) Leibniz,
Nouvesux essais sur l'entendement humain, Liv. III, Chap. II, $. 1
(ed. Raspe p. 239). — 4) In ber Ausg. von Berk, Tom. I, Hannoverae
1843. p. 498 eq. Bon ber Kenntniß bes Althochbeutſchen, bie Leibniz beſaß,
gat u A. aud) Zeugniß feine Ueberſebung der Stelle des Otfrid über die
Uammung ber Franken, bie er weit richtiger verſteht, als Schiltet. ©.
Leibnitii de origine Francorum disquisitio, in den Opp. IV, 2, 148,
Raumer, Geig. der germ. Phllelogie. ı
162 Zweites Bud. Zweites Kapitel.
mum ex indicio linguarum, die mit den Worten begiunt: Cum
remotse gentium origines historiam transcendant, lin-
guae nobis praestant veterum monumentorum vicem !). Daß
die Deutſchen, Gothen, Schweben, Engländer, Dänen Völler des-
felßen Stammes find, fagt er in feiner Asfanblung De origine
Germanorum, ergibt fi aus dem Zeugniß der Sprache, weldes
das ſicherſte Beweismittel für die Verwanbtihaft der Völker ift?).
Er findet ), daß urſprünglich eine Sprache weithin über den alten
Eontinent verbreitet war. Die Spraden, die von jener abftam-
men, fagt er, theilen wir nicht übel in die Japetiſchen und Ara-
wmötfhen 4). Das Japetiſche nennt er gewöhnlich Celto⸗Scythiſch ®).
Zu dieſem gehören nun aud die Germanen‘). Das Studium
ihrer alten Sprachen verfolgt Leibniz mit aufmerffamem Blid.
Bor allen rühmt er bie Verdienſte des Frantiscus Junius, deſſen
Beilpiel dann den Georg Hides zur Herausgabe feines Thesaurus
angetrieben habe. Cr beriditet (1701) über die erften Proben von
Schilter's Thesaurus 7) und fpridt dann fpäter (1705) nad Schil⸗
ter's Abſcheiden feine Freude aus, daß deſſen Arbeiten nicht zu
Grunde gehen follten 9). Wie den Tod Schilter's, fo belagt er
den des bremer Geiftlichen Gerhard Meier, den er ſelbſt zum
Stubium der germaniſchen Spraden veranlaßt Hatte 9). Auch
1) Leibnitii Opera, collecta stadio L. Dutens. Tom. IV, 2, p. 186.
(Zuerft in den Miscellanea Berolinensia, Berolini 1710, p. 1— 16). —
2) @bend. ©. 200. — 3) Zm ber Abhandlung de originibus gentinm
a. a. O. 6. 187. — 4) Eben. 5. 188. — 5) Ebd. ©. 189. —
6) Ebend. S. 193. — 7) Monatliher Auszug, Hanover 1701, October»
S. 96 fg. — 8) Leibniz an Motten 1705 in Leibn. Opp. ed. Dutens
VI, 2, p. 218. — 9) Ebend. ©. 195. In einem Brief an Sparvenfelt
vom 7. Apr. 1699 bedauert Leibniz, daß die Handſchriften des Junius nicht
herausgegeben fein. Ebendaſelbſt gibt er Nachricht von den Arbeiten Schi—
ters unb ſpricht bie Befürchtung aus, daß bei deffen hohem Alter und Kränf:
lichteit die Ausgabe des Nofer und Oifrid nicht zu Stande kommen mödte.
Leibn. Opp. ed. Dutens Tom. VI, 2, p. 222. Ueber Leibniz’ Berhäknis
au Gerhard Meier geben bie Wuszüge aus ihrem Vriefwechſel Auffchluß ie
Leibniz Collect, etymol. II, 288 sq. und ben Opp. od. Dutens VI, 2
p- 145 29.
Vie germanifge Philologie in Deuiſchland 1665 bis 1748. 168
Gobaf’s, Opiz', Schottel's und Morhof's Berdienfte weiß er zu
fhägen !). Leibniz liebt das Etymologifieren 2), und wenn auch
feine eigenen Etgmologien fi faum über ben Stand ber ganzen
Inmeligen Wiffenfcaft erheben, fo zeichnet ſich doch auch Hier ber
große Genius buch das Mare Bewußtfein über bie noch unüber⸗
wundene Unfiherheit bes damaligen Etymologifierens aus. Auch
weiß er echt wohl, woher bie Hülfe Zommen müfle. Ex will 3.8.
über die Ableitung bes Wortes Welt nicht ftreiten, „weil biefe
Dinge ohne genugfame Unterfuhung zu feiner völligen Gewißheit
zu bringen, und bie alten Teutſchen Bücher den Ausſchlag geben
möfen“ 3). So läßt fich Leibniz auch durch die phantaftifhen Träu-
mereien mancher Skandinavier, insbefondere Rudbed's nicht täu⸗
ſchen. Er verſpottet deſſen Sucht, Alles aus dem Slandinaviſchen
abguleiten %). Dennoch aber möchte er bie Beſtrebungen dieſes ge⸗
lehtten und patriotiſchen Schweden nicht völlig zu Boden ſchlagen.
Denn die Borliebe für fein Vaterland trage trotz all feiner Irr⸗
thũmer doch dazu bei, ben ruhmvollen Eifer feiner Landsleute für
die Unterfuchung ihrer alten Denkmäler anzufeuern. Wir Deutſche
foltten aber dieſen Ruhm mit den Skandinavien theilen und mit
geichem Fleiß unfer Alterthum geltend machen. ‚Mihi autem,
führt er in der Abhandlung de origine Germanorum, aus wel-
der das Angeführte entlehnt ift, fort, Mihi autem ultra partium
studie affectusque attollenti animum et patriam oommunem
humani generis intuenti contendere argumenta argumentis
placet, aequali lucro, utra pars vicerit, dum veritatis cogmitio
augeatur 5). Gerade auf dieſe unbefaugene Weiſe aber gelangt
Leibuiz zu dem Ergebniß, daß nicht die Deutſchen aus Standinavien,
1) Bst. Opp. VI, 2, 182. — 2) Opp. VI, 2, 218. Unvorgreifliche
Gedanlen $. 41. ©. 464 bei Guhrauer. — 3) Unvorgreiflie Gebanfen
$.49, ©. 467 bei Guhrauer. Offenbar muß es dort 3. 6 heißen: Doch
will mar nicht mit denen freiten. — Die Vorficht des Leibniz jpricht fih in
kin Hanov. 1717 von Edhart ebierten Collect. etym. an vielen
Stellen aus. Er ſelbſt ſcherzt über feine Etymologien in bem Brief an Ludolf
Opp. VI, 2, 186 sq. — 4) Opp. VI, 2, 228. — Collect. etymol,
Hanov. 1717, I. p. 57. 70 sg. — 5) Opp. IV, 2, 199.
11*
164 Zweites Bud. Zweites Kapitel.
fondern die Skandinavier aus Deutſchland in ihre jetzige Heimath
eingewandert feien 1). Man thue deshalb fehr unrecht, werm man
das Deutjhe immer nur aus dem Skandinaviſchen ableiten wolle.
Man folle vielmehr die alte Wurzel eine germaniſche ober deutſche
(Teutonicam) nennen, deren Spuren fi bald im Gothiſchen des
Uffilas, dem älteften Denkmal des Deutſchen, bald bei den Stan
dinaviern und Isländern, bald bei ben Angelfachfen, bald bei den
Franken des Otfrid oder anderswo finden. Was aber das Gothi-
ſche betrifft, jo follte man, um Zweideutigfeit zu vermeiden, lieber
nur das fo nennen, was aus dem Cober argentens genommen wird;
das Andere aber follte man ſtandiſch nennen 2). Mit diefer legten
Bemerkung macht Leibniz einer bis bahin hecrſchenden ſehr verderb-
lichen Begriffsverwirrung ein Ende.
Wie Leibniz überall nicht bloß der große Gelehrte, ſondern
aud der Mann von ſtaatsmänniſch praktiſchem Blid war, fo jehen
wir ihm auch beftreht, feine Gedanken über die deutſche Sprache
durch eine bleibende Inſtitution zu ſichern. In dem Stiftungshrief
der Berliner Societät der Wiſſenſchaften, „in welchem wir leiht
Leibnizens eigene Feder erfennen“ 3), Heißt es: „Solden nad fol
bey dieſer Societät unter andern nützlichen Stubien, was zu Er
haltung ber teutſchen Sprache in ihrer anftändigen Reinigkeit, auch
zur Ehre und Zierde der teutſchen Nation gereidet, abjonderlih
mit beforget werden, aljo daß es eine teutjch-gejinnete Societät der
Scienzien ſey“ *). Berlin wird durch bie königliche preußiſche
Societät der Wiffenfhaften glei von deren Gründung am ein
Hauptfig der tieferen Sprachforſchung und insbefondere der beut-
fen. Die bahnbrechende Abhandlung des Leibniz de originibus
1) Opp. IV, 2, 205. — 2) Ih Habe bie obigen Anſichten zufammen:
gefelt aus Leibnit. Opp. VI, 2, 176 29. und VI, 2, 17609. — 3) Guh⸗
rauer, Leibnig. Eine Biographie. Thl. II. Breslau 1846. ©. 191. — 9)
Kurge Erzehlung, BWelcergeflalt Bon Gr. Kön. Maj. in Preuken Friedrich
dem I. in Dero Haupifig Berlin bie Societaet der Wiſſenſchafflen — geftiftet
worben. Berlin 1711. BL 8. Vgl. auch bie »General Instruction, Der
toniglichen Societaot ber Wiffenfchafften" BL. 5.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bie 1748, 165
gentium ductis potissimum ex indicio linguarum eröfftet im
he 1710 die Reihe ihrer Denlſchriften 1).
Wir werden bie tiefgreifende Einwirkung des Leibniz durch
das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch wahrnehmen. Bor
allem aber werben wir fehen, wie zwei ber größten germaniftiichen
Sptach⸗ und Altertfumsforicher biefes Jahrhunderts: Johann
Georg Edhart umb Leonhard Friſch, durch Leibniz angeregt und
gefördert worben find.
2. Die Epätigkeit auf dem Gebiete der altgermanifhen Sprachen in
Deutſchland vom Jahr 1665 bis zum Jahr 1748.
Bir Haben im erften Buch unfrer Darftellung gezeigt, in mie
weit ſchon vor der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts das Vor⸗
Sandenfein unferer alten Sprachdenkmäler den Gelehrten befannt
murde, und wie man auch ſchon damals einen ſchwachen Anfang
machte, wenigftens einige diefer Denkmäler durch den Drud zu
veröffentlichen. Was damals von Männern wie Freher und
Goldaft beabfihtigt, aber größtentheils nicht zur Ausführung ge-
bracht wurde, das begann ſich in der erften Hälfte bes 18. Jahr⸗
bunderts in bebeutendem Umfang zu verwirklichen. Es ift nicht
die poetifche Seite unfrer alten Literatur, welche damals zur Her⸗
ausgabe altdeutſcher Werke reizte, fondern die Erforihung der poli⸗
tifhen Geſchichte und der deutſchen Rechtsalterthümer, wozu ſich
dann das Intereſſe an unfrer alten Sprache ſelbſt gefellt, doch
damals noch fait ausſchließlich in lexikaliſcher Beziehung. Dem⸗
gemäß wendet fih die Thätigfeit der Herausgeber vorzugsweife der
ülteften Periode der hochdeutſchen Sprache zu. Der größte Theil
der althochdeutſchen Denkmäler wird in den Jahren 1696 bis 1748
veröffentlicht. Auch die Zeit von 1665 an ift für diefe Studien
nicht umfruchtbar, aber eine wirklich umfaſſende Thätigfeit ent-
widelt fi) erft gegen Ende des Jahrhunderts.
In jene frühere Periode fallen die Bemühungen des Lambe-
aus. Beter Lambed (Rambecius) wide geboren zu Ham-
1) In ben Misoellanes Berolinensia. ©. o. ©. 162,
166 Zweites Buch. Zweies Kapitel.
burg 1628. Seine Mutter war eine Schwefter des Lucas Hol
ftenius 1). Im Jahr 1645 gieng Lambeck nad Amfterdam, dann
nad} Leiden und Paris, um ſich juriſtiſchen, hiſtoriſchen und philo-
logiſchen Studien zu widmen. In Paris trat er 1647 heimlich
zur römiſchen Kirche über, fehrte 1650 nah Hamburg zurück und
wurde 1651 Lehrer der Geſchichte am dortigen Gymnaſium und
1660 Rector diefer Anftalt. 1662 verlieh er Hamburg, gieng über
Wien nah Nom und befannte fi hier öffentlich zur römiſchen
Kirche. Noch in demfelben Jahr wurde er Vice-Bibliothekar, und
1663 Bibliothelar der kaiſerlichen Bibliothek in Wien. Hier ftarb
er am 4. April 1680 2). Unter den Schriften des Lambecius
kommt für ung feine Hauptarbeit in Betracht, feine Commentarüi
de Bibliotheca Caesarea Vindobonensi, deren acht von 1665
bis 1679 erſchienene Yoliobände noch nicht den britten Theil deſſen
enthalten, was Lambecius beabfihtigte. Dies weitſchichtige, mit
außgebreiteter, aber etwas wüſter @elehriamteit verfaßte Werl
Hieferte fehr werthvolle Beiträge zur Kenntniß der altdeutſchen
Sprache und Literatur. Mehrere der Heineren althochdeutſchen
Denkmäler werden hier zum erftenmal veröffentlicht. So (1669)
die Reichenauer Beichte 3), das Gedicht von der Samariterin ?),
Theile der Ambraſer Predigtbruchftüde 9). Auch machte Lambecius
(1669) zuerft auf das große Gloffar des Hrabanus Maurus ber
Wiener Bibliothek aufmerkiam %). Am wichtigſten aber waren bie
Aufihlüffe, die Lambecius (1669) über Otfeid gab. Die Wiener
Handſchrift war bis dahin nur von Martin Zeiler (1628) und
aus ihm von Matthäus Merian beiläufig erwähnt worden 7). Grit
Rambecius machte die Gelehrten mit beren Inhalt näher bekannt.
Er theilte bebeutende Ergänzungen zu ber Ausgabe des Flacius
1) S. 0. 6. 60. — 2) Moller, Cimbria literate T. I, p.391 29.
Friedr. Lor. Hoffmann, Peter Lambeck, Soest 1864. — 3) Nr. LXxull
bei Müllenhoff u. Scherer, in Lambecii Comment. IT (1669) p. 318 sq-
— 4) Comment. II. (1669) p.383 0q. — 5) Rr. LXXXVI bei Mällen-
hoff u. Scherer, in Lambecii Comment. II. (1669) p. 757 0q. — 9)
Comment. IT. (1669) p. 415 sg. — 7) Ebend. II. (1669) p. 453.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 167
grins mit !) umb berichtigte neben mandem Anderen deſſen
Wißverftändniß in Betreff der Benennung des Werts 2). Auch
etenat er zuecft, daß wir drei verſchiedene Handſchriften von Ot-
ftid's Wert befigen, nämlich erftens bie Wiener, zweitens die von
Veatus Rhenanus erwähnte Freiſinger und drittens bie, aus wel-
der die Ausgabe des Flacius gefloffen, die jetzige Heidelberger 9).
Bie für Otfeid, fo war auch fir Notker das Wert des Lamdecius
von Bedeutung. Ws er (1665) die werthvollſten Handſchriften
ms Schloßz Ambras bei Innsbruck in die kaiſerliche ibliothel zu
Bien verpflanzte, brachte er auch den jegt berühmten Coder (2681)
von Rotler's Pſalmen mit ). Er Hält ihn zwar irrtümlich für
ein Wert des Otfrid 5), aber die Hauptſache war, daß er (1609)
ds Proben ben erften pſalm ©) und einige der Meineren in der
Handſchrift enthaltenen Stüde 7) in feine Commentarien aufnahın.
Fr diefelde Zeit wie die Mittheilungen bes Lambecius fällt (1667)
die esite Veröffentlichung ber althochdeutſchen Exhortatio ad ple-
bem christianam, unb zwar aus ber Gaffeler Handſchrift 9),
dur, den gelehrten veformierten Theologen Heinrig.Hottinger
(eb. zu Zürih 1620, am 5. Juni 1667 in der Limmat er⸗
tnınten) 9).
Bir haben bisher nur von der Veröffentlichung neuen Stof-
jes zu berichten gehabt, die ohne eigentliches Studium ber altdeut-
fen Sprache unternommen wird. Um die Scheibe des 17. und
18. Jahrhunderts aber tritt eine Bedeutende Wendung ein. Die
imvirhung der ſtandinaviſchen, engliſchen und niederländiſchen
1) Ebend. II. (1669) p. 481 sq. — 2). Cbenb. II. (1669) p. 419. —
3) &bend. II, (1669) p. 457. — 4) Ebend. II (1669) p. 460. Bol.
p: 608, 757. — 5) Ebend. II. (1669) p. 459. 461. — 6) Ebend. II.
(1669) p. 461. — 7) So die oben (6. 166) erwäßnten Predigtbrucftüde,
das Baterunfer (Comment. II, p. 462) und ben Eingaug "zum apoſtoliſchen
Spmbolum (ebend.). — 8) Historise ecclesiae novi testamenti_Tom.
VII, authore Joh. Henrico Hottingero, Tiguri 1667, p. 1219 sg, —
9) Dr. Preffel in Herzog s Real-Encytt. für proteft. Theologie, Bd. 6. (1856).
5
168 Zweites Bud. Zweites Kapitel,
Leiftungen und die durch Morhof uud Leibniz gegebenen Anveg-
ungen rufen nun aud in Deutſchland ein felbftändiges Studium
der älteren germanifchen Sprachen hervor. Eine Reihe achtbarer
Gelehrter widmet ſich ihrer Erforſchung. Anfänglich ftchen fie noch
vereinzelt. Aber obwohl fie von ganz verſchiedenen Punkten aus»
gehen, ſehen wir fie dann mehr und mehr in wechſelſeitige Ber:
Bindung treten. Einer der bebeutenbften umter ihnen war Johann
Georg Ekhart!). Geboren im Jahr 1674 zu Duingen im
Kalenbergiſchen widmete ſich Chart auf ber Univerfität Yeipzig
hiſtoriſchen und philologifgen Studien. Im Jahr 1698 wurde er
in Hannover mit Leibniz befannt, und biefer nahm ihm zu ſich,
um fi bei feinen hiſtoriſchen Arbeiten feiner zu bedienen 2).
1706 erhielt er durch Leibniz’ Vermittlung die Profeffur der Ge⸗
ſchichte an der Univerfität Helmftädt, jedoch ohne fein Verhältnig
zu Leibniz aufzugeben. 1714 3) wurde er zum hannoveriſchen Rath
und Hiftoriographen ernannt und als folder erft der Mitarbeiter
und dann (1717) der Nachfolger des Leibniz. Schon als Gehülfe
des Leibniz und dann als felbftändiger Hiftoriograph machte Ed»
hart viele Reifen zur Durchforſchung der deutſchen Bibliothefen.
Seine hiſtoriſchen und linguiſtiſchen Schriften erwarben ihm einen
großen Ruf, und für feine im Jahr 1719 erſchienenen Origines
Austriacae erhob ihn der Saifer in den Adelsftand. Aber für
feine mannigfachen Arbeiten und Reifen vielleiht nicht genügend
bezahlt und jebenfalls kein guter Wirth *) geriet) Eckhart in Han-
1) So nannte er fi in fpäteren Jahren, feit er geabelt wurde. (rüber:
bin ſchrieb er ſich Eccard. S. Guhrauer's Anm, zu Leibnitz's Deutfchen
Schriften, Bd. I, Berlin 1838, ©. 97 u. Anhang S. 46. — 2) So nach
Edhart's eigener Darftellung in feinem Lebenslauf des Hrn. von Leibniz 1717,
in Murr's Journal zur Kunſigeſchichte u. f. f-, Thl. VII (1779) ©. 170,
und ber Praefatio zu Leibnitii Collectanes etymologica, Hanoverae
1717, p. 4. Die Nachrichten, die in (Wil’s) Hiſtoriſch-diplomatiſchem Ma-
gazin, Bb. I (Nürnberg 1781) S. 186 — 140 mitgeteilt werben, find damit
fo, wie fie dort gegeben werben, nicht zu vereinigen. — 3) Edharrs Lebens:
Tauf des Hrn. von Leibniz bei Mur a. a. DO. ©. 187 fg. — 4) Echart
hatte nach feiner eigenen Ausfage 1500 Thaler Gehalt, (j. Echart's Brief an
Die germanifhe Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 169
mover tief in Schulden, fo daß er zuletzt zu bem verzweifelten
Mittel geiff, ſich (1723) feinen Gläubigern durch die Flucht zu
entziehen. Er gieng zu ben Benedictinern in Corvey unb von ba
nd Köln. Hier trat er am 2. Febr. 1724 im Collegium ber
Rſuiten zur römiſchen Kirche über 1). Man legte anf die Gewin⸗
nung dieſes bedeutenden Gelehrten Teinen geringen Werth. Bon
verigiedenen Seiten erhielt er Anerbietungen, unter welden er ben
Auf als Math des Bifhofs von Würzburg mit dem Amt eines
Hftoriographen, Bibliothefars und Arhivars annahm. In Würze
burg führte er ein zurüdgezogenes arbeitfames Leben 2), ganz ver-
tift in das Studium der Landesgeſchichte und zugleih ber er-
wohenden Naturforigung mit Neigung und nühternem Blick zu-
gehan?). Er ftarh dafeldft am 9. Februar 1780 4). Echart's
den Garbinal Paffionei in ben Actis Eruditorum 1738, p. 201) unb dies
mar nad) dem damaligen Geldwerth eine fehr anflänbige Beſoldung. Echarr's
lagen Können aljo böcflens in Bezug auf befonbere Vergütungen einigen
Grund haben. "
1) J. C. Harenberg, Anecdota de J. G. Eccardo, in Nicol, Bar-
key, Symbolae litterarine Haganae, Classis secundae Fascic. I.
Hagae Comitum 1779, p. 158. — Ueber Edyart's Entweihung von Hans
noder ſ. ben rührenden, aber unzweibeutigen Brief desfelben vom 18. Dec.
1723 in (Wil’e) Hiforifch -diplomatifgem Magazin Bd. 1, Nürnberg 1781,
6. 156 fg. In wiberlihem Gegenfaß zu biefem Brief ſteht Edhar’s Schreiz
ben an ben Cardinal Pafjionei, das in den Acta apostolicae legationis
Helveticae, Tugii 1729, mitgetheilt wird. Woher Übrigens Harenberg das
Datum des 2. Febr. Hat, weiß ich nicht. Jener Brief an Paffionei, ber vom
18. Januar 1724 datiert ift, müßte dann vor bem feierlichen Webertritt ges
förieben fein. Nad dem Epitaphium, das der Bortede zum Erften Bd. von
Gifar’e Comm. de reb. Franc. or. beigefügt if}, wäre Eqhart ſchon 1722
in Köln übergetreten, was durch Edhart’s oben angeführten Brief vom
18. Der. 1728 wiberlegt wird. — 2) Bol. Edhart’s Brief an Aug. Joh.
Hugo vom 23. März 1727, bei Wil a. a. DO. ©. 167. — 3) ©. in bem
eben angeführten Brief die brollige Gefichte, wie Echart den angeblichen
Berfleinerungen bes Dr. Beringer auf bie Spur kommt, S. 162 fg. —
4) 60 das Epitaphium Edhar’s am Schluß ber Praefatio des Erſten
3%. der Comm. de reb, Franeiae orient. und Ign. Gropp, Wirdburgiſche
170 Zweites Buch. Zweites Kapitel,
gelehrte Thätigkeit ſchloß ſich aufs engfte an bie feines großen
Gönners und Lehrers Leibmiz an. Als er 1698 defjen Secretär
wurde, war er mehrere Sabre lang nur deſſen ſchreibende Hand,
die das zu Papier brachte, was Leibniz angegeben oder geradezu
dictiert hatte 1). So entftand der „Monatlihe Auszug aus aller-
hand nen «herausgegebenen, nützlichen und artigen Büchern,“ der
vom Jahr 1700 bis 1702 in Hannover ohne Nennung eines Her-
ausgebers erſchien. Dan muß fi deshalb bei Eckhart's früheren
Schriften in Acht nehmen, fein Verdienft nicht zu überſchätzen, da
wir in ihnen nicht nur Echart's, fondern auch Leibniz’ Arbeit vor
uns haben 2). Andererfeits aber zeugt e8 gerabe für Echhart's be⸗
deutendes Talent und veblichen Fleiß, daß ein Mann wie Leibniz
ihm ſich zugejellte und ihn achtzehn Jahre lang eines fo weit
gehenden Vertrauens würdigte. Schon von früher Jugend an’ Hatte
fih Eckhart mit Leidenfhaft dem Studium der deutſchen Vorzeit
zugewandt, und ganz bejonbers zog ihn die Unterſuchung ber Altes
ven deuten Sprache an. Leibniz hatte Echart's Neigung und
Ghronid Bb. II, (1750) Vorr. S. VI. Ebenſo Bönide, Grundriß einer Ge
ſchichte von der Univerfität zu Wirzburg, Thl. II, Wirzburz 1788, ©. 26.
(gegen Harenberg's Angabe a. a. D. ©. 169, Ecdhart fei 1729 geftorden).
Für Edhart's Leben Habe id; außer ben bereits augeführten Schriften aud
Hirſching's Hiſtoriſch-literar. Handbuch IL, 1 (1795), ©. 77 fg. benutt.
1) So feint mir das Verhältni Xeibnigens zu dem gleich zu erwäh:
nenden Monatlihen Auszug aufzufaffen zu fein. Leibniz war beffen eigentlicher Ur:
heber, faft überall dem Inhalt und Häufig auch der Form nad. In dieſem
Sinn flimme ich Guhrauer's ſcharfſiunigen Erörterungen (Leibnig’s Deutſche
Schriften, Bd. II, Berlin 1840, Beilagen S. 3 fg.) Bei; und jedenfalls bat
Edhart in feinem Lebenslauf von Leibniz (1717, in Murr's Journal 1779,
©. 172 fg.) über den wirtlichen Antheil Leibnizens am Monatlichen Auszug
viel zu wenig gefagt. Dagegen möchte ich bis zur Beibringung pofitiverer Be:
weife Echart nicht bie Schlectigfeit zutrauen, baf er fid etwas beigelegt
habe, woran er nach Guhrauer's Anfiht (S. 44) auch nit einmal den Anz
theil eines Schreibers gehabt hätte. — 2) So werben wir, nach ber ganzen
Sachlage und nah den Grfahrungen beim monatlihen Auszug, Egharre
Aeußerung in der Historia studii etymologiei (1711) p. 325. 326 au&
legen dürfen.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 171
Begabung zur etymologifen Forſchung bald erkannt und ihr nad
Kräften in feinen Beſtrebungen unterftügt und aufgemuntert ').
Aus diefem Zuſammenwirken Leibnizens und Echart's giengen die
früßeren Schriften Edhart’s hervor: Die Inauguraldiſſertation
De usu et praestantia studii etymologiei in historia (1706,
erweitert herausgegeben zu Helmftäbt 1707) und die Historia
stadi etymologici linguse Germanicae hactenus impensi
(Hannover 1711). In der erfteren ſucht Echart an ausgewählten
Leipielen den Nuten bes etymologiſchen Studiums fir die ver⸗
qiedenen hiftorifchen Digciplinen nachzuweiſen. Beſonders hervor-
nheben ift Hiebei der Verſuch Edhart's, mit Hilfe ber Etymologie
in die deutſche Mythologie einzubringen. Die zweite Schrift ift
ein trefflicher literarhiſtoriſcher Ueberblick über alles, mas bis dahin
für die Erforſchung ber germaniſchen Sprachen fowohl in Deutſch-
land, als in England, Skandinavien und den Nieverlanden geleiftet
worden war. Nichts läßt uns ben gewaltigen Umſchwung diefer
Studien feit ber zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts fo beuthid)
eitennen, wie biefe Heine Schrift. Wir fehen, wie in der Hand
des Leibniz und feines verbienten Mitarbeiters Echart die Fäden
der altgermaniſchen Forſchung aus allen Ländern germanifchen
Stammes zufanmenlaufen. Am Schluß des Buchs kündigt Edhart
an, daß er ein etymologiſches Lexikon ber deutichen Sprache heraus⸗
geben wolle2). Aber obwohl er gegen dreißig Jahre für biefes
Bert fammelte, brachte er es doch nicht zu Stande Echart's
eigene Eiymologieen laſſen dies nicht allzuſehr bedauern. Sie
unterſcheiden ſich von denen feiner Vorgänger durch eine umfafjen-
dere Leuntniß der älteren germaniſchen Sprachen, aber fie find
nicht weniger willturlich als die feiner meiften Beitgenoffen 3). Als
1) Edharrs Praefatio zu Leibniz’ Collectanea etymol. 1717, p.4 sq.
Leibniz, De originibus gentium (1710) in Leibnitii Opera ed.
Dutens IV, 2, 192. — 2) Bol. auch Echart's Catechesis Theotisca
am) p 59. — 3) Bol. 3. B. im zweiten Abſchnitt der Sqhrift
de um et praestantia studii etymologiei (1707): »Et geat,
gigas, et gut, bonus dieitur quasi geatet vel geotet, h. e. aliqua
172 Zweites Bud. Zweites Kapitel,
Herausgeber altdeutſcher Denkmäler erwarb fih Echart Bedeutende
Berdienfte. Zuerſt durch feine 1718 zu Hannover erfdienenen
Incerti monachi Weissenburgensis Catechesis Theotisca seculo
IX conseripta. Hier veröffentlichte er zum erftenmal die althoch⸗
deutſchen latechetiſchen Stüce, welche die Wolfenbüttler aus Kloſter
Weißenburg im Speyergau ftammende Handſchrift enthält. Er
fügte in zweimäßiger Weife alle übrigen bis dahin veröffentlichten
Denkmäler diefer Art bei und ſchicte dem Ganzen eine fehr gute
Einleitung voraus. In feinem Veterum monumentorum qua-
ternio (1720) machte Echart neben mehreren lateiniſchen Stüden
aud das aus Latein und Altdeutſch gemifchte Gedicht auf Otto's I.
Bruber Heinrich aus dem 10. Jahrhundert zum erftenmal belannt,
freilih in kaum begreifliher Verlennung der Sprade als ein
„Fragmentum poematis in laudem Henrici comitis palatini
sd Rhenum anno MCCIX decantati.* Das wictigfte Wert
Echart's für die Veröffentlichung altdeutſcher Denkmäler waren
feine umfangreichen Commentarii de rebus Francise orientalis.
Chart ftarb, ohne dies bedeutende Geihichtswert zu Ende zu
führen. Aud der Drud der beiden eriten Bände, obſchon fie die
Jahrzahl 1729 auf dem Titel tragen, wurde erſt nad Echart's
Tod (9. Febr. 1780) vollendet 1. In biefem Wert wird zum
erftenmal eins der wichtigſten altdeutſchen Denkmäler veröffentlicht:
Das Hildebrandslied aus dem 8. Jahrhundert. In richtiger Er⸗
fenntniß von ber großen Bedeutung dieſes Bruchſtücs gibt Eckhart
einen Theil der Handſchrift als Facſimile, darauf läßt er den Ab-
drud des Ganzen folgen unter Beifügung einer lateiniſchen Weber-
fegung und ausführlicher Erläuterungen 2). Daß es hier an einer
Unzahl von Mißgriffen nicht fehlen konnte, verfteht fi von ſelbſt.
Aber wir werben Echart zugeftehen, daß er ſich eine für feine Zeit
achtnngswerthe Teritalifhe Kenntniß der alten Sprache zu verſchaffen
re insignis vel praeditus in genere, a verbo frequentativo oten, ogten,
ogeten, unde et ot, divitiae, bona.>
1) ©. bie Fortfepung der Praofatio zum erfien Band. — 2) Tom. I,
p· 864 — 902.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 Bis 1748. 178
gemußt Hat. Vom grammatiichen Bau derſelben hat er freilich
feine Ahnung ). Außer dem Hildebrandslied gehen Edhart’s
Commentarii zuerft volfftändig Notler's Katechismus 2) nad der
Bin» Ambrafer Handſchrift und fünf von den eben dort erhaltenen
Predigtbruchftücken 3), und überhaupt zum erftermal die Würzbur-
ger Beichte aus bem 9. Jahrhundert *) und, was für die Lerifafi-
ſche Kenntniß des Althochdeutſchen von befonderem Werth war,
eine Anzahl der wichtigften Gloffenfammlungen, darunter die Caſſe⸗
Ir), die bes Hrabanus zur Bihel®), die Florentiner 7) umd die
lindenbrog ſche 3). Obwohl Chart die altdeutſchen Studien zu-
nächft zu hiftorifch « antiquarifhen Zwecken trieb, blieb ihm deren
dichteriſche Seite doch nicht fremd. Er gieng (1713) damit um,
eine Geſchichte der deutihen Poeſie von ihrem Urfprung bis auf
Dpig herauszugeben °), und feine gelegentlichen Bemerkungen zeigen
kei allem Irrigen, daß er mehr Davon verftand, als feine meiften
deitgenoſſen 10).
Die Mitforſcher Echart's ſcheiden fid in zwei Gruppen, eine
norddeutſche und eine fübdeutice. Den Mittelpunkt der norddeut ⸗
fen bildet Dieberih von Stade, ben der ſüddeutſchen Schilter's
verſon und Schilter's Werl. Diederih von. Stade wurde
geboren am 13. Oct. 1687 in Stade. Vom Jahr 1658 an wid⸗
mete er ſich zu Helmftäbt erft dem Stubium ber Theologie, dann
dem der Jurisprudenz. Es war bie Zeit, in der Coming dort
wirkte, den auch Stade unter feine Lehrer zählte. Nach Vollendung
1) Bsl. 3. ©. die Bemerkung über heriuntuem — actus praedandi.
«$ herion (populari) und thum p. 869. Ober bie Conjectur, zu fefen:
iro rosaro rihtun (flatt iro saro rihtun), was bann heißen fol: equos
sus praeparabant, p. 864. 869. — 2) Tom. II, p. 980 29. —
3) end. p. 941 sq. — 4) Ebenb. p. 940. Nr. LXXV bei Müllenhoff
und Scherer. — 5) Ebenb. Tom. I, p. 853 aq. — 6) Ebend. Tom. II,
950 sg. Sie waren theilweiſe ſchon 1721 von Diecmann veräffentlicht.
&u — 7) Ebenb. p. 981 ag. — 8) Ebend. p. 991 sq. — 9) Neuer
veqeraal XXII. Oeffnung (Reipig 1718), ©. 753 fg. — 10) Bgl. z. v.
den Gingang zu feinen Noten zum Hifbebranbslieb in ben Comment. de
teb. Francise or. I. 866 sq.
174 Zweites Bud. Zweites Kapitel.
feiner Univerfitätsftudien unternahm Stabe eine Reiſe nach Schwe⸗
den. Wir müffen uns erinnern, baß feine Vaterftabt im Weft-
fäliſchen Frieden (1648) mit den SHerzogthümern Bremen und
Verden an die Krone Schweden gelommen war. Als Stabe in
Schweden anlangte, begann dort gerade der großartige Aufſchwung
der nordiſchen Altertfumsftudien, den wir in einem früheren Ab⸗
ſchnitt geſchildert haben 1). Loccenius, Rudbeck und Scheffer waren
in Upfala feine Lehrer, und bald wurde er auch mit Verelius und
Stiernhielm befreundet. Im Umgang mit diefen Männern ergiff
ihn bie Heißefte Begierde, ber Crforſchung der altdeutſchen Sprache
feine Kräfte zu widmen. Mit unermüblichem Eifer warf er ſich
auf das Studium fowoßl ber alten, als ber neuen germanifchen
Spraden. Ausgerüftet mit einer gründlichen Kenntnig des Schwe-
diſchen kehrte er in feine Heimath zurüd und wurde bort 1668
zum Secvetär bes Conſiſtoriums, 1711 zum Archivar der Herzog-
thümer Bremen und Verden ernannt. Bald darauf aber vertrieben
ihn die damaligen SKriegsläufte aus feiner Baterftabt. Er über-
fiedelte nah Hamburg und von ba nah Bremen, wo er am
19. Mat 1718 ftarh 2). Dieberi von Stade war ein Mann von
milden Charakter und echter Frömmigkeit. Erſt als hochbetagter
Greis gelangte er dazu, feine umfaſſende Gelehrjamteit ſchriftſtelle⸗
riſch zu verwerthen. Im Jahr 1706 geftattete er Palthen, ohne
Nennung feines Namens feinen Herftellungsverfuh bes Gedichts
von ber Samariterin zu veröffentlichen 2). Zwei Jahre darauf
(Stadae 1708) ließ er fein Specimen Lectionum antiquarum
Francicarım ex Otfridi monachi Wizenburgensis libris euan-
geliorum folgen, worin er einige Abſchnitte bes Otfrid und eine
Anzahl latechetiſcher althochbeutiher Denkmäler vereinigte, von einer
lateiniſchen Ueberfegung und ſprachlichen Erklärungen begleitet.
Daneben beichäftigte ihm Luther's Bibelſprache, deren ſchwierigere
1) ©. 0. 6.150fg. — 2) Die thatſächlichen Angaben der obigen Lebens
ffigge find entnommen aus Jo. Henr. a Seelen Memoria Stadeniana, Ham-
burgi 1725. p. 33-52. — 3) Hinter Palthen's Ausgabe des Tatian,
Gryphiswaldiae 1706, p. 419 sq.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 175
Ausbrüde er in einem 1711 (und fehr vermehrt 1724) erichienenen
Bert erläuterte. Stade's Schriften zeugen von einer umfafjenden
Lennmiß der germanijchen Sprachen und befien, was bis dahin zu
üner Grforfung geliehen war. ¶ Jusbeſondere hat er ſich in fee
eingehender Weiſe mit dem Althochdeutſchen beſchäftigt, wie bies
feine Arbeiten über Otfrid beweifen und noch mehr beweifen wür⸗
den, wenn es ihm vergönnt geweſen wäre, feine in ber Handſchrift
vollendete Ausgabe des ganzen Otfrid zu veröffentlichen. Er Hatte
für dieſelbe nicht nur eine lateiniſche Ueberjegung und einen um⸗
fangreicden Inder angefertigt 1), ſondern angeregt durch den Vor⸗
gung des Hides 2) hatte er mod in feinem hohen Greifenalter
(1710) eine Grammatik von Otfrid's Sprade ausgearbeitet. Die
richtige Erkenntniß, daß zum Berftändniß altdeutſcher Schriften die
ganmatiſche Unterſuchung ihrer Sprache unentsehrlih fei, hebt
Stade über bie meiſten feiner deutſchen Zeitgenoſſen. Aber ba
feine Grammatik, fo wie feine ganze Ausgabe des Dtfrid unge
drudt blieb, hatten feine Bemühungen nicht bie weiter greifende
Birhing, die fie vielleicht fonft gehabt haben würden. Natürlich
dürfen wir uns nad unferen jegigen Begriffen überhaupt feine zu
hehen Vorſtellungen von den Leiftungen Stade's machen, fo werth⸗
vol fie für ihre Zeit waren ). Sein handſchriftlicher Nachlaß
1) Ueber Stade's Bearbeitung bes Dtfrib dgl. feinen Briefwechſel bei
felen, Mem. Staden. p. 250. 295. 320. 336. 339. — 2) Im Jahr
1694 hielt Gtabe noch bie Aufforderung des Hides, eine »Grammatica
Iinguse Francicae« zu ſchreiben, für kaum ausführbar (Stade an Rift
169, bei Seelen a. a. O. ©. 185). Erſt Hides eigener Vorgang im The-
wuros (1705) ermufhigte Stade zu feinem Unternehmen. Bgl. Stade's
Wuhfärift zu feinem Speeimen Lectionum Franeicarım (1708) p. 36;
mb über Stade's Grammatik zum Otfrid Überhaupt feinen Briefwechſel bei
Seelen a. a. ©. S. 295 fg. 340. 400. Unter Stabe's Papieren auf ber
Bülistget zu Hannover befindet fih eine Grammatica Otfridiana und eine
Grammatiea Franco -theotisca paradigmatico-Otfridiana. (©. Kelle's
Ditid, I. Einl ©. 113). — 8) Im Ganzen wird man vor Stabe's Kennt:
len, zumal des Althoqhdeutſchen, alle Achtung Gaben. Auf grammatiſchem
Shlet Hat er durch einen glükfihen Einfall eine ſchöne Entdeckung ber Folge
176 Zweites Bud Zweites Kapitel.
wurde auf Efart’s Betrieb für die kurfürſtliche Bibliothel in
Hannover erworben 1). Mit Dieberih von Stade in naher Ber-
bindung fanden zwei andere fleißige Spradforiger, Johann
Dieemann (geb. 1647 zu Stade, geft. ebenda als Generalfuper-
intendent 1720), mit beflen Erläuterungen 1721 ein Theil der ſ. g.
Rabaniſchen (Wiener) Gloſſen erfien, und Johann Philipp
Balthen. Geboren 1672 zu Wolgaft, ftudierte Palthen in Greifs⸗
wald, machte dann Reiſen durch Holland, Schweden und Däne
mark und fpäter (1697) duch Frankreich und England, und ſtarb
als Brofeffor Hiftoriarım an der Univerfitit Greifswald 1710 2).
Balthen verfaßte fehr viele hiſtoriſche und ſtaatsrechtliche Schriften,
das wefentlichfte Verdienſt aber erwarb er ſich dadurch, daß er
(Greifswald 1706) die althochdeutſche Ueberſetung von Tatian's
Evangelienharmonie herausgab. Er entnahm fie der neueren Ab⸗
ſchrift, die aus dem Nachlaß des Franciscus Junius auf bie Bod-
leyſche Bibliothel in Orford gekommen war. Mit dem Latin
verband er ein anderes bebeutenbes althochdeutſches Denkmal, das
bier zum erftenmal veröffentlicht wurde: Die Weberfegung von
Isidorus de nativitate domini, aus ber Parifer Handſchrift
Beide Werke verjah Palthen mit Anmerhmgen, die troß vieler
Mißgriffe von einer für bie damalige Zeit fehr achtungswerthen
Kenntnig der älteren germaniſchen Sprachen zeugen.
Im fünlihen Deutſchland geht der Antrieb zu erneuter eifriger
Tätigkeit auf dem Gebiet der altdeutſchen Literatur von Schilter
aus. Johannes Schilter wurde geboren im Jahr 1632 zu
zeit vorweggenommen. Gr erkennt nämlich in dem te ber ſchwachen Prat⸗
terita (lobe-te) Otfrid's »deda et teta.c (Seelen a. a. O. &. 352). Um
aber unfre Vorſtellung von Stabe’s Kenntniffen richtig zu begrängen, führe
ich beifpielsweife an, daß er brunsti von der flectierten Form brennest
ableiten (eb. ©. 348) und brachte zu beran ziehen will (eb. ©. 351), dab
er lekza (Otfr. an Salomo 5) für ein Verbum Hält und mit »edidici«
überfegt (Specimen Lectionum Franc. p. 9), u. |. m.
1) Seelen a. a. D. S. 146. Daf. ©. 138 fg. das Verzeichniß von
Stabes Nachlaß. — 2) Jocher, nad; Greifswalder Univerfitätsprogt.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 Bis 1748. 177
Pegan im Churfürftentgum Sachſen. Vom Jahr 1651 bis 55
widmete er fi zu Sena und Leipzig dem Studium der Philofophie
mb der antifen Literatur und erft nachdem er fih auch auf dem
Gebiet der Theologie und Medicin umgefehen hatte, ergab er fid,
nach Jena zurücgelehrt, fünf Jahre hindurch dem Studium ber
risprudenz. Nach einer mannigfaltigen praftiichen umd gelehrten
Zpötigfeit zu Naumburg, Suhl, Jena und Frankfurt nahm er im
Jahr 1686 einen Ruf als Rathsconfulent und Profeffor Honora⸗
us an der Univerfität zu Straßburg an. Der Eifer und bie
Gewiffenhaftigkeit, mit der er trog ſchwerer körperlicher Leiden
diefen doppelten Beruf bis an fein Lebensende ausfüllte, erwarben
ihm die größte Hochachtung. Er jtarb am 14. Mai 1705 1). Auf
allen Gebieten der Rechtswiſſenſchaft zu Haufe 2), erwarb ſich
Schilter doch fein größtes Verdienft um das deutſche Recht und
die deutſchen Alterthümer. Die Verbindung juriftiiher und ge
ſcichtlicher Forihungen führte Schilter au zu dem Studium
after alten Sprachdenkmäler. Sein Codex juris Alemanniei
feudalis (1697) und feine Ausgabe von Jakob's von Königshoven
ſtraßburgiſcher Ehromit (1698) gehöven bereits unferem Gebiet an.
Das bedeutendſte Wert aber, an welchem Schilter viele Jahre mit
taſtloſem Fleiß arbeitete, defien Herausgabe er aber nicht mehr
eilebte, war fein Thesaurus antiquitatum Teutonicarum. Einen
Borläufer desfelben bildete (1696) Schilter's Ausgabe des althod-
deutjchen Ludwigsliedes nach einer Abfchrift, die cinige Jahre zuvor
Mabillon im Kloſter St. Amand genommen hatte. Schon im
Jahre 1693 Hatte Schilter feine Ausgabe des Otfrid drudfertig,
1698 gab er ein Meines Specimen derfelben heraus. Aber erft lange
uch Schilter's Tod follte fein Thesaurus an's Licht treten. Doc
diefer Verzug fam dem Werke fehr zu Statten. Denn einerfeits
1) Die obigen Nachrichten find entnommen aus ben Straßburger afabes
wlßen Scriften über Schilier's Leben, die ſich in deſſen Thesaurus Anti-
quitatum Teutonicarum, Tom. II. abgebrudt finden. — 2) ©. das Ver⸗
widmiß von Eehilter’s zahlreichen Schriften bei J. F. Jugler, Beyträge zur
ixtitiſchen Biographie, Bb. VI, Leipz. 1780, ©. 77 fg.
Raumer, Gef. der germ. Philologie. 2
178 Zweites Buch. Zweites Kapitel.
wurden Schilter's Sammlung nod mehrere widtige Sprachdenl⸗
mäler Hinzugefügt, anbrerjeits verjah Schilter's bedeutenbfter Schüler
Johann Georg Scherz bie Arbeiten feines Lehrers mit werth⸗
vollen Berihtigungen und Zufägen Geboren zu Straßburg im
J. 1678 hatte Scherz auf der bortigen Univerfität erft antike Lite ⸗
ratur und Bhilofophie, dann Jurisprudenz ſtudiert und namentlich
auch Schilter unter feine Lehrer gezählt. Nach einer längeren
wifienfhaftligen Reiſe duch Deutſchland wurde er 1702 an ber
Univerfität Straßburg Profeflor der Moralphilofophie, 1711 der
Jurisprudenz. Er ftarb am 1. April 17541), Die allgemeine
Leitung bei der Herausgabe von Schilter's Thesaurus übernahm
Johann Frick (geb. zu Ulm 1670, + als Senior Miniſterü
dafelbft 1789), den Verlag ber Buchhändler Bartholomaei?)
in Ulm. So erſchien bies umfangreiche Wert endlich in den Jah⸗
en 1726 bis 1728 in brei ftarten Foliobänden, deren zwei erfte
eine große Menge der wichtigſten altdeutſchen Spracbentmäler
enthalten, während ber dritte ein Glossarium Teutonicum gibt.
Die Sprachdenkmäler, die hier gefammelt erſcheinen, find theils
zum erftenmal veröffentlicht, theils find es neue Ausgaben bereits
belannt gemachter Texte. Unter ben letzteren nimmt die wichtigſte
Stelle ein das Gvangelienbud des Otfrid. Wir haben bie bit
herigen Bemühungen um bies größte Denkmal der althochdeutſchen
Poeſie verzeichnet. So achtungswerth fie auch find, fo war doch
ſeit Flacius Illyricus (1571) feine neue Ausgabe des Otfrid
mehr erſchienen, und jener alte fehr mangelhafte Abdruck war noch
dazu Außerft felten geworden 3). Es war deshalb fon an fih
ein Verbienft, dem gelehrten Publicum ven Text des Otfrid wieder
zugänglich zu machen. Die Art, wie dies Hier geſchah, Kat zwar
nicht unverbienten Tabel gefunden. Vergleichen wir aber bie neue
1) Obige Angaben find entnommen aus: Neuer Zeitungen von Gelee:
ten Sachen auf das Jahr 1754 Erſter Theil, Leippig, ©. 459 fg. — 2) El.
bie Praef. generalis zum Sdiilter ſchen Thes. p. XVII. — 3) Bl.
ben Briefwechſel Stade's mit Eggeling bei Seelen Memoria Staden.
p. 250 29.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 Bis 1748. 179
Ausgabe mit der des Flacius, fo werben wir nicht läugnen, daß fie
einen bedeutenden Fortſchritt bezeichnet. Schilter legte den Text
bes Flacius zu Grunde, benutzte zu deſſen Verbefferung die Ar-
beiten von Freher und Lambecius und begleitete das ganze Gedicht
mit einer lateiniſchen Weberfegüung und erläuternden Anmerkungen.
Da Schilter jeine Arbeit fon 1693 !) im Weſentlichen abſchloß,
jo verwerthete erſt Scherz Roſtgaard's Vergleihung des damals,
Baticanifchen (jest Heidelberger) Coder und die Abſchrift des Wie-
ner Codex, die Schilter's Schüler 2), der Straßburger Joh. Phil.
Schmid, für feinen Lehrer genommen hatte. Er that dies in Zu-
fügen zu Schilter's Anmerkungen, indem er Schilter's Text unbe
rührt ließ. Dies Verfahren war ohne Zweifel zwedwibrig, und
&enjo ift es auffallend, daß fowohl Schilter, als Scherz über die
Handſchriften von Otfrid's Wert im Unflaren blieben. Auch wim⸗
met Schilter's Ueberfegung von Fehlern, und Scherz verbeffert
diefe zwar häufig und nicht felten mit großem Scharffinn, oft aber
iſt aud er im Irrthum. Das Schlimmfte ift, daß Schilter vom
grammatifchen Bau des Althochdeutſchen feine Ahnung Bat, und
auch Scherz trog feiner weit größeren Kenntniſſe fi gerade in
dieſer Hinficht feiner Aufgabe nicht gewachſen zeigt ?). Aber trog
alledem ift in biefer Ausgabe bes Otfrib für Terxtkritik und Er⸗
Mlärung nicht wenig gefchehen. Sie bot dem damaligen Lefer ein
iehr erwũnſchtes Hülfsmittel, und wer fid in jene Zeit verfegt, der
wird zugeben, daß Schilter, und ohne allen Vergleih mehr noch
Scherz fi durch bloße Uebung eine ſolche Kenntniß des Althoc-
deutſchen erworben haben, wie fie damals nur jehr Wenige be-
ſaßen 4). Auch die übrigen ſchon früher veröffentlichten Stüde gibt
1) ©. Schiller's Praefatio zum Offrib c. II. — 2) Praefatio
generalis zu Schilter's Thes., Tom. I, p. VI. — Schmid's Brief an Stade
in Seelen's Memor. Staden. p. 330. — 3) ©. bie Belege in Kelle's Ot-
fü, 8b. I, Einl. ©. 122 fg. — Bon Schilter bemerkt ſchon Diederich von
Stade (1716), daß feine „Werde nicht fo gut und richtig ſeyn werben, wie
man ſich einbilbet, weil er. Teine Grammatifche Art verftanden.‘ Seelen,
Mem. Staden. p. 339. — 4) Ich begreife vollkommen Kelle's hartes
. 12*
180 Zweites Buch. Zweites. Kapitel.
Schilter's Thefaurus zum Theil in verbefferter Geftalt. So wird
bei Willeram's Paraphraſe des Hohenlieds die Breslauer Hand-
ſchrift zu Grunde gelegt, für ben Wiederabdruck von Golbaft’s
Paraenetifern die Parifer Handſchrift von neuem verglichen. Unter
den übrigen heben wir nur noch ben wiederholten Abbrud des alt
hochdeutſchen Tatian und Iſidorus hervor. Aber Schilter's The
ſaurus machte nicht bloß bereits Gedrudtes in verbeſſerter Gejtalt
zugänglich, ſondern er bereicherte die Wiſſenſchaft durch die werth-
vollſten Inedita. An ihrer Spige fteht Notker's Pſalmenwert,
das bier zum erftenmal erideint. Eine gründlide Dissertatio
eritico-historica des St. Galler Capitularen und Bibliothelars
Bernhard Frand, die dem Abdrud vorangefdidt ift, weift ben
Irrthum bes Lambecius, als fei Otfrid von Weißenburg Berfafler
dieſes Pfalmenmwerts, zurüd und ftellt für immer feit, daß dasſelbe
von Notker Labeo herrührt. Ein anderes für die Sprachforſchung
wichtiges Denkmal, das Schilter's Thefaurus zum erftenmal voll-
ftändig bietet, ift Kero's althochdeutſche Interlinearverſion der Bes
mebictinerregel. Aber au die Kenntniß des Mittelhochdeutichen
erfuhr eine wefentlihe Bereicherung dadurch, daß hier zum erften-
mal das Rolandslied des Pfaffen Conrad und befien Umarbeitung
durch den Strider veröffentlicht wird. Das umfangreihe altdeutjch-
lateiniſche Gloffarium, das den dritten Band von Schijter's The
ſaurus füllt, muß natürlich bei dem damaligen Stand der Kennt
niffe an fehr großen Gebrechen leiden, aber als ber erite derartige
Verſuch nimmt es in ber Geſchichte unferer Wiſſenſchaft eine beach-
tenswerthe Stelle ein. Werfen wir noch einmal einen Blick auf
das ganze Unternehmen, fo erhellt feine Bedeutſamleit ſchon hin⸗
reichend daraus, daf die im demfelben abgebrudten Sprachdenkmäler
ein Jahrhundert lang die hauptſächlichſte Grundlage für unfre
Kenntniß des Althochdeutſchen gebildet haben. Obwohl Schilter's
Urteil über Sqherz (Otfrid I, Einl. 8.120). Aber die Gefchichte ber Wiffen-
ſchaft Hat fih in die Zeit zu verfegen, bie fie ſchildert. Vgl. das Lob, das
Hoffmann von Fallersieben Scherz erteilt (im Weimar. Jahrb. für deut-
sche Sprache I, 8. 59) und Grimm in der Gramm. I (1) S. LXXIII.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 181
Kenntniffe mehr in die Breite als in die Tiefe giengen, iſt er fo-
wohl durch feine Schriften, wie durch fein Lehramt von bedeuten-
dem Einfluß auf die Entwicklung unferer Wiſſenſchaft geweien. Es
mat einen wehmüthigen Einbrud, daß Straßburg um biefelbe
Zeit, in der es dem deutſchen Reiche durch franzöſiſchen Raub ver
Ioren geht, durch Schilter's Bemühungen ein Mittelpunkt der deut
Ken Sprach⸗ und Alterthumsforſchung wird. Schilter's Schüler
Scherz, feinem Meifter an gründliher Sprachkenntniß weit über
legen, gibt deſſen Thefaurus durch feine Zufäge erft den vechten
Werth und arbeitet ein langes Leben hindurch an einem Glossa-
rum Germanicum medii aevi, das dann (1781) lange nah
feinem Tod gleichfalls ein Straßburger Gelehrter, Oberlin, heraus»
gt’). Und was Mmüpft ſich nicht Alles am diefe Thätigfeit der
Straßburger Alterthumsforſcher und an Straßburg's deutſche Ver⸗
gangenheit überhaupt! Durch Scherz werben Bodmer und Brei-
finger auf die Pariſer Minneſängerhandſchrift ayfmerffam, durch
Shöpflin erhalten fie dieſelbe zugeſchickt, und in demfelden Straß ⸗
burg geht dem jugendlichen Goethe der Sinn für deutſche Kumt
und deutſches Alterthum auf.
Doch ehren wir zurück von dieſem Vorausbiie zu den erſten
dehrzehnten des 18. Jahrhunderts. Wir haben da unter ben
Förderern der altdeutſchen Literatur noch die gelehrten Brüder
Bernhard und Hieronymus Pez zu nennen. Geboren zu
Is in Niederöftreih traten beide in den Benebictinerorden und
gehörten zu deſſen Bierden im Stifte Melt. Hieronymus
{f am 14. Oct. 1762) ?) veröffentlichte (1745) in feinen Boripto-
res rerum Austriacarum die Reimchronik bes Ottokar von
Hornet, und Bernhard (+ 1785) gab in feinem Thesaurus
aneedotorum (1721) zum erftenmal das Weſſobrunner Gebet ®)
ber und eine große Anzahl althochdeutſcher Gloffen, barunter
die umfangreichen Monſeeer 4).
H S. — 9 S. über ihn (Schrödh in) Neue Zeitungen vom
Gelchtien Sachen, Leipzig 1762, 22. Rod. — 3) Tom. I, col. 418. —
4) Eid. col. 317 29. \
182 Zweites Bud. Zweites Kapitel,
Wir fehen in unferer Periode die deutſchen Gelehrten vor-
zugsweife mit den Denkmalen des Althochdeutſchen und Hin und
wieder au mit denen bes Mittelhochdeutſchen beicäftigt. Die
übrigen älteren germaniſchen Sprachen finden nur eine fpärlige
Pflege. Wir erwähnen die Differtation, die 1698 ©. F. Heupel
in Wittenberg über bie gothiſche Evangelienüberſetzung veröffente
lite 2). — Zu ben flanbinavifen Sprachen führte einerjeits die
Unterfugung des germaniſchen Heibentfums, anbrerfeits bie Ber
ſchäftigung mit der ſchwediſchen und däniſchen Literatur. Welden
Einfluß die früherhin geſchilderten epochemachenden Arbeiten ber
ſtandinaviſchen Gelehrten hier übten, fieht man beutli, wenn mar
die 1691 erfienene „Cimbrifhe Heyden-Neligion“ des Trogillus
Arntiel (geb. zu Tollſted in Schleswig, + 1718 als Probſt zu
Apenrade) mit ber 1648 herausgegebenen Schrift des Elias
Schede (+ 1641) vergleicht. Während Schede trog alles gelehrten
Zuſammentragens griechiſcher und lateiniſcher Citate über die wirt
liche Mythologie der Germanen noch fo gut wie michts weiß, ber
treten wir bei Arnkiel, jo wunderliche Dinge er auch noch vorbringt,
doch wenigſtens theilweife feften Boden, weil ihm Reſenius' Edda
belannt ift. Auch ſucht er, gebilbet an den Arheiten Worm’s, Ru⸗
neninfhriften zu entziffern 2). Ebenſo vertraut mit den ffanbina«
viſchen Forſchungen finden wir dann Joh. Georg Keyßler
(geb. zu Turnau 1698, + 1743 zu Stintenburg im Lauenburgiſchen)
in feinen Antiquitates selectae septentrionales (1720). Eine
gründliche Kenntniß der ſchwediſchen und däniſchen Literatur zeigte
in feinen Schriften Joh. Moller (geb. zu Flensburg 1661, +
als Nector daſelbſt 1725). Joh. David Köhler (geb. zu Coldiz
1684, + 1755 als Prof. in Göttingen) ſchrieb 1724 als Brof. zu
Altdorf ein Heines Programm de Bealdis. — Mit einzelnen Er-
ſcheinungen der älteren neuhochdeutſchen Literatur befchäftigten fih
die Gelehrten jener Zeit aus antiquariſchen, bibliographiſchen und
1) Wieder abgebrudt in A. J. Bifhing’s Ausg. von pres Seripts
versionem Ulphilanam illustrantia, Berlin 1773. — 2) Arnfiel, Cim
briſche Heyben-Begräbniffe, Hamburg 1702, ©. 346 fg.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bie 1748. 183
anderen Geſichtspunklten. Wir erwähnen Hier nur Joh. Chris
ſtoph Wagenfeil’s (geb. zu Nürnberg 1683, + als Prof. zu
Aldorf 1705) Schrift über die Meifterfänger (1696) und bie bes
fhon genannten J. D. Köfler über den Teuerdank (1714).
Unter den zahlreichen Schriften, die fi in diefem Zeitraum
mit den Urfprängen ber beutfhen Sprade und der Etymologie
ihrer Wörter Hefchäftigen '), wollen wir nur zwei hervorheben.
Gleich am Beginn nämlich finden wir einen Mann, ber mit großer
Einfiht die älteren germaniſchen Spraden für bie Erforſchung ber
deutſchen Wörter benügt, den wvielfeitig gelehrten Johannes
Borft (geb. zu Weffelburg in Ditmarſchen 1623; 1660 Rector
des cölniſchen Gymnaſiums umd Bihliothefar zu Berlin, + 1696) 2).
In feinem Observationum in linguam vernaculam specimen
(1669) 3) erflärt er eine Anzahl zum Theil fehr verbunfelter beut-
ſter Wörter meift richtig durch Zurüdführung auf ihre älteren
Formen ). Den größten Namen aber machte fid bei feinen Beit-
genoffen auf bem Gebiet der deutſchen Etymologie Johannn
Georg Water. Geboren zu Memmingen im Jahr 1673 ftu-
dierte er zu Tübingen Theologie, gieng dann auf Reifen, lebte
einige Zeit in Amfterdam, bis er in Berlin von König Friedrich I.
für Berfertigung der Auffhriften und Devifen eine Beſoldung er-
hielt. Durch die Mebuctionen unter Friedrich Wilhelm I. verlor
a (1722) diefe Stellung. Er wandte fi nad Dresden und von
da nad) Leipzig, „allwo er,“ nad feinem eigenen Ausdruck, „bie
Eipmologie der deutſchen Sprache als ein Bret im Schiffbruche
ergriffen, und erftlih das eine, hernach das große Glossarium
geſchrieben. Kaum war biefe Arbeit vollendet, jo hat der Rath in
&iygig, deſſen Eyfer für die ſchönen Wiſſenſchaften auf eine rühm-
1) Bel. bie betreffenden Abjchnitte in Edhart’s Historia studii etymol.
mb Reichatd's Verſuch einer Hifiorie ber deutſchen Spradfunft. — 2) Mol-
\er, Cimbria literata I, 700 sg. — 8) Eine deutſche Meberfegung dieſer
Wertgoollen kleinen Schift findet fi in ben Beyträgen zur crit. Hiſtorie ber
heutigen Sprache, Bd. 7, Leipz. 1741, ©. 179 fg. — ABl. 4. B.
Ber Ableitung von Demuth, &wa, ruchlos u. Anderes.
184 Zweites Bud. Zweites Kapitel.
lie Art bekannt ift, ſich feiner angenommen, ihm das Verzeichniß
der griechiſchen und römifhen Münzen bey feiner angejehenen
Bibliothek zu verfertigen aufgetragen und ihm eine anſehnliche Ber
foldung auf Lebenszeit ausgefeget“ 1). Wachter jtarb am 7. Nov.
1757. Ein Mann von umfaffender Gelchrfamteit Hatte ſich Wachter
mit ſehr verfehiedenartigen Dingen, mit dem Spinozismus im Juden⸗
thum, dem Naturrecht, antiter Münzkunde befhäftigt. Sein haupt-
ſächlichſtes Studium aber wandte er der Erforſchung der germani-
fen Spraden zu. Im Jahr 1723 veröffentlichte er in ben Ab»
Handlungen der Berliner Akademie eine Commentatio de lingus
codieis argentei, 1737 zu Leipzig fein großes Glossarium Ger-
manicum, continens origines et antiquitates totius linguse
Germanicae, et omnium pene vocabulorum, vigentium et
desitorum, nachdem er ſchon 1727 ein Specimen besjelben voran
geihidt Hatte. Der Titel diefes Werfs verſpricht beträchtlich zu
viel, aber allerdings hat Wachter einen großen Theil der damals
zugänglihen altgermanifhen Sprachdenkmäler für feinen Zwec
durchgearbeitet. Dem alphabetiſch geordneten Gloffar ſendet er
eine Einleitung voraus, worin er die Grunbfäße feines etymolo⸗
giſchen Verfahrens darlegt. Er beruft ſich babei auf feine beden⸗
tendften Vorgänger: Franz Junius 2), Leibniz 3) und Ten Kate‘).
So weit e8 ihm möglich ift, ſucht er auf die älteften Formen der
Wörter zurüczugehen 9). Die germanijgen Spraden Hält er für
celtiſch ©) umd das Angelſächſiſche für die ältefte derfelden, melde die
Mutter aud des Isländiſchen, Däniſchen und Schwediſchen ſei ).
Sehr bedenklich iſt Wachter's Anſicht, daß der Etymolog mehr auf
den intellectus, als auf den sonus der Wörter zu achten habe?).
Doch will er aud Feine willfürlihe Behandlung der lautlichen
1) 3. ©. Wagter's Selbſtbiographie, aus feiner Handſchrift abgedrudt
in der Bibliothek der ſchönen Wiſſenſchaften, Bd. IX, Leipzig 1763, ©. 169
2) S. bie Praefatio zu dem Specimen von 1727, XLVIL, — 3) Eben.
XLIX. — 4) Ebend. XXXI. — 5) Ebend. L. — 6) Eben. XXVIII.
XXXII. XXXVI. LI. — 7) Ebend. XLII. — 8) Prolegom. zum Glos-
sarium vom 3. 1737, Sectio I, XXIV.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 185
Form. Bielmehr find zuvörderft die Praefixa und Buffixa ber
Börter abzufcheiden, und von beiden gibt Wachter ein ziemlih um⸗
fangreices Berzeichniß 1). Dann ift zu beachten, daß im der Regel
aut die verwandten Raute ſich einander anziehen oder auch mitein-
ander vertaufchen?). Doch wechſeln „ex genio linguae* aud
mande nit verwandte Laute ?). Verwandte Raute aber nennt
Wachter die, welche von benfelden Sautwerkzeugen gebildet werden 4).
So ſcheidet er die Gonfonanten, im Anſchluß an den Mediciner
Joh. Konrad Amman, in Gutturales, Linguales, Labiales und
Dentales 6). Hier, wie in manchem Anderen, fehen wir bei Wad-
ter gute Anfänge, und auch die Ausführung hat für ihre Zeit viel
Berdienftliches. Im Anſchluß an feine Vorgänger verzeichnet er die
öfter wiederkehrenden Lautwechfel und barumter aud einen Theil
der germaniſchen Lautverfchiebung. Aber Alles bunt gemifcht, fo
daß es ihm durchaus noch nicht gelingt, die Willfür des Etymolo-
gifierens duch ftreng grammatiiche Zergliederung und Aufdeckung
durchgreifender Lautwandelgeſetze zu befeitigen 8), wie bies dem fol»
genden Jahrhundert vorbehalten war.
3 Grammatifhe und lexikaliſche Bearbeitung der nenhohdenifhen Spracht
vom Jahr 1665 bis zum Jahr 1748.
Böbiker. Stieler. Steinbad. Friſch.
Im Anflug an die Bemühungen der vorigen Periode fegt
fih auch gegen Ende des 17. Jahrhunderts und in ber erften Hälfte
des 18. dag Streben fort, die neuhochdeutihe Sprade grammatiih
1) &bend. Beet. V und VI. — 2) Ebend. Sect. IM, I und IL —
3) &bend. Soct. III, III. — 4) Ebend. Sect, III, I. — 5) Ebend. Seot.
I, XIX eg. ®gl. Joh. Conr. Amman, Surdus loquens, Amstelaedami
1892, p. 28. Deſſen Dissertatio de loquela, ebenb. 1700, p. 56. —
9 Bl. 4 8. was Wachter (a. a. O. Seotio IV) über bie Anaftrophe fagt,
dermöge deren Suuoc und mod, das gothiſche fan (! dominus) und cams
briſch maf identiſch fein follen; und über die Epenthefis, ber gemäß nicht
@4 niet durch ein eingefhobenes ch entflanben fein fol, und ebenfo wicht
@ quid.
186 Zweites Buch. Zweites Kapitel.
und lerikaliſch feftzuftellen; und wie früherhin, fo verbindet ſich
auch jegt mit biefem Streben, und zwar mit wachſendem Erfolg,
der Verſuch, bie deutſche Sprache geſchichtlich zu erforſchen. Wir
müſſen aber, wenn wir ein richtiges Urtheil über die Hier in Be
trat kommenden Männer gewinnen wollen, dieſe beiden Seiten
forgfältig auseinanderhalten. Gleich bei dem erften derſelben
tritt uns dieſe Bemerkung entgegen. Johann Bödiker, ge
boren 1641 ummweit Stettin, 1673 Conrector, von 1675 bis zu
feinem Tod 1695 Mector des cölniſchen Gymnafiums zu
Berlin 1), gab im Jahre 1690 eine Schulgrammatit der beut-
hen Sprade Heraus, unter dem Titel: „Grund -Cäte ber
Deutfjen Sprachen.“ Als Lehrbuch ber deutjſchen Schriftiprage
übertrifft dieſe Grammatik entſchieden die vorausgegangenen. In
kurzen und bündigen Sägen trägt der Verfaſſer feine Regeln vor
und in mehr als einer Beziehung hat er die Feſtſetzung ber beut-
ſchen Scriftfprache gefördert. So find 3. B. feine Beſtimmungen
über den Unterſchied von vor und für 2) diejelben, die ſich bis auf
den heutigen Tag in Geltung erhalten Haben. Dagegen ift an
feinen Verſuchen, die deutſche Sprache gelehrt zu erforſchen, nur
das zu loben, daß er überhaupt vom Altdeutſchen Kunde nimmt.
In der Ausführung befindet er fi no ganz auf dem unkritiſchen
Standpunkt feiner deutſchen Vorgänger. Die deutſche Sprade ift
ihm die ältefte Tochter der hebräiſchen ) und die Mutter der grie
chiſchen, lateiniſchen und aller anderen europäiſchen +). Dem ent
fprechend leitet er die beutjchen Wörter unmittelbar aus dem Heb-
raiſchen ab, und zwar in haarfträubenber Weile. So zählt er un
ter den Veränderungen, „wenn eine Sprache von der anderen her-
tkömmt,“ als ſechſte „die Nüdlefung, Anastrophe* auf und behan-
delt fie als ein vegelvechtes Mittel der Etymologie. Durch folde
Umdrehung foll das Hebrätfhe nahag das deutſche gehen, das
hebräifche naschak das beutfhe küssen fein, u. ſ. w.d). „Wenn
1) Ueber fein Leben vgl. G. ©. Küfter, Forigeſeztes Altes und Reue
Berlin, Berlin 1752 ©. 975 fg. — 2) ©. 575 fg. ber Ausgabe von 1709.
— 3) Ebend. ©. 173 fg. — 4) Eben. S. 420. — 5) Ebend. ©. 165.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland 1665 bis 1748. 187
ife diefe, und fonft wenige Stüd beobachtet”, fagt er, „Io habt ihr
die gange Babyloniſche Verwirrung; Ober vielmehr aller Spraden
Unfprung, Ableitung und Uebereinftimmmung* ').
Saft gleichzeitig mit Bödiker trat Caspar Stieler auf.
Geboren zu Erfurt im Jahr 1632 führte er ein fehr wechſelvolles
Leben. Die fruchtbringende Geſellſchaft ernannte ihn 1668 zu ihrem
Mitglied unter dem Namen des Spaten (d. h. bes Späten),
und Kaiſer Joſeph I. erhob ihn 1705 in den Abelftand. Er ftarb
a Erfurt im Jahr 1707 2). Sein Hauptwerk ift: Der Teutfhen
Sprache Stammbaum und Fortwachs, ober Teutſcher Sprad-
fhag — durch unermüdeten Fleiß in’ vielen Jahren gejamlet von
dem Spaten. Nürnberg 1691. — Stieler's mühfames und fleißi-
93 Wert war ber erfte Verfud eines deutſchen Wörterbuchs feit
Heniſchs unvollendetem Unternehmen. Der Verfaſſer hat es nur
af eine Sammlung der zu feiner Zeit gebräuchlichen Wörter ab-
giehen3). Im feinen Etgmologieen fteht er auf dem Stanbpunft
Schottels, überbietet ihn aber in dem Streben, ber beutichen
Sprae möglichft viel zuzumenden, fo daß er 3. B. das Wort
Biſchof von dyſchuwen, beyſchauen (observare) ableitet‘). Den
von Stieler wieder aufgenommenen Verſuch, ein vollftändiges
deutſches Wörterbuch herzuftellen, führte der Breslauer Arzt Chri-
Hopp) Ernft Steinbach (geb. zu Semmelwitz bei Jauer 1699,
get. 1741) weiter. Er trat zuerft mit einer „kurtzen und gründ⸗
lihen Anweifung zur Deutſchen Sprache — Rostochü et Parchimi
— 1724 hervor. Dies Heine Buch ift beſonders dadurch merk⸗
würdig, daß der Verfaffer die Annahme, als ſeien unfre ſtarken
deitwörter irregularia, verwirft. Er theilt vielmehr unfre Verba
in zwei Eonjugationen, deren erfte das Supinum auf en bilde und
1) Ebend. ©. 165. — 2) Ueber Stieler's Leben und Schriften vgl.
35. von Faldenftein, Analecta Nordgaviensia, IV. Nadlefe, Schwa-⸗
a 1738, ©. 253 — 280. — 3) Borr. Bl. 9. — 4) Spalte 174. Bol.
Br. 8.11. — 5) So nennt er fi) auf dem Titel und in ber Unterfehrift
de Bibmung feines größeren Wörterbuchs. Auf dem Titel feines (frügeren)
Heineren Worierbuchs Reht Gpriftian.
188 Zweites Buch. Zweites Kapitel.
lauter verba primitiva enthalte, weshalb er ihr aud die erfte
Stelle einräume. Nach der verfchiedenen Abwandlung der Vocale
ſcheidet er dann die Verba diefer Conjugation in fünf Ordmmgen ').
Die zweite Conjugation bilden ihm die Verba mit dem Supimm
auf et?). Auch die gedrungene Syntar ift mit viel Geſchick abge
faßt. Seiner Grammatik ließ Steinbach erft ein Heineres Wörterbud)
„Breflau — 1725" folgen, dann fein „Vollſtändiges Deutſches
Wörter- Buh —, Breßlau — 1734”, in zwei Großoctanbänden.
Auch dies Werk iſt mit viel Geſchick gearbeitet. Die Wörter find
nah „Örundwörtern”?) georbnet, die Grundwörter nad dem Al-
phabet. Der Verfaſſer Hat fih auch mit dem Altdeutſchen beſchäf-
tige 4) zum Behuf der Etymologie, fein eigentliches Abſehen aber
ift ein praftifhesd), das er auf die einfachfte Weife zu erreichen
fucht. Im feinem Meineren Wörterbuh Hat er nur bie deuticen
Wörter „aus dem indice von Lindneri Lexico in eine Ordnung”
nad) feinen Grundregeln gebradit. In gleicher Weife geht er jetzt
die deutſchen Wörter „aus Fabri Lexico,* aus Hederich's Promp-
tuarium latinitatis und aus dem Zeitungslerifon duch und merft
ſich dazu dies und jenes aus Opig, Lohenftein, Rachel, Günther
und Hoffmannswaldau an ©).
Ein Mann ganz anderen Schlages als feine bisher beſprochenen
Vorgänger war Johann Leonhard Friſch. Geboren zu Sul
bad) in der Oberpfalz am 19. März 1666 brachte Friſch feine Jur
gend in Nürnberg zu, wo fein Vater als faiferliher Notar und
geheimer Negiftrator lebte. Nach einer fehr forgfältigen Vorher
zeitung bezog er im J. 1683 die Univerfität Altborf, von wo er
1686 nad) Jena und von dort 1688 nad; Straßburg üherfiebelte
Als er auf biefen drei Univerfitäten feine theologiſchen Studien
vollendet hatte, begab er ſich auf Reifen, durchzog einen Theil
Frankreichs, Süddeutſchlands und der Schweiz, Tieß fich, nad Nürn
berg zurüdgefehrt, unter die Candidaten des Predigtamts aufnehmen
DP. 60. 0q. Dgl. Bor. 8.5. — 2) P. 67 5q. — 3) Bomeht
8. 10. — 4) Ebend. UI. 13. 14. — 5) ©. die Widmung bes Bugs. — |
6) Vorrede Bl. 15. 16,
Die germanifche Philologie in Deutſchland 1665 Bis 1748, 189
und gieng dann nad Ungarn, wo er einige Zeit ein enangelifches
Predigtamt in Neufol bekfeivete. Aber mannigfah verfolgt, gab er
dieſe Stelle wieder auf und ſetzte jein Reiſeleben fort. Es trieb
ifn ein unwiderftehlier Drang, die Welt zu fehen. Denn „er
reiſete nicht wie mande, von welden er zu fagen pflegte, daß fie.
nicht viel beſſer reiſeten als die Poft» Pferde” 2). Vielmehr Hatte
@ überall ein offenes Auge für Natur und Mengen, und befon-
ders benußte ex feine Wanderungen zum Erlernen der mannigfad-
fin Sprachen. In Straßburg hatte ihm der Unterricht im Deut
ien, den er einigen franzöſiſchen Abligen ertheilte, zugleich eine
grimblihe Kenntniß des Franzöſiſchen verihafft, der Aufenthalt in
Ungarn trug ihm die lebendige Kenntniß ber ſlaviſchen Sprachen
ein. Nachdem er fid ein wenig jenfeits der türkiſchen Gränze um«
gehen hatte, kehrte er durch Oberitalien nach Deutſchland zurüd.
Hier wirft er fi eine Zeit lang auf die Defonomie, geht dann
uch Amfterdam, verkehrt dort mit Gichtel und anderen Schwärs
mern, durchſchaut fie aber bald. Denn Friſch war ein frommer,
einfach gläubiger CHrift, deffen Chriſtenthum nicht in phantaftiihen
Träumereien, fondern in einem fittlih tüchtigen, von kindlichem
Gottvertrauen erfüllten Leben beftand. Als ihm das Geld ausgeht,
verdient er ſich das Nöthigfte als Arbeiter an einer Mamme. Ein
tier Gönner aber veißt ihn auf eine zarte Weife aus feiner Be-
tränguiß. Friſch geht nun über Hamburg nad Berlin, und bier
findet er endlich die Stellung, die für ihn paßte. Er wird 1698
Subrector, 1708 Gonvector, endlich 1726 Rector des Berliner
Gynnaſiums zum grauen Klofter, umb als folder iſt er am
A. März 1743 geftorben.
Friſch war ein Mann von den mannigfaltigften Gaben: ein
Afriger und feinfinniger Naturforſcher, deſſen Werke über die In—
1) Das Leben des Weiland berühmten Rectors an dem Gymnafio zum
Hasen Kloſter in Berlin, Johann Leonhard Friſch, nebſt bepgefügten Stand»
ad 2ob:Reben, auch einigen Trauer-Gedigten, mit einer Vorrede zum Drud
berdert won Joh. Zac. Wippel. Berlin — 1744. ©. 6. Aus biefer
Sqrift find auch unfere übrigen Angaben über Friſchs Leben genommen.
190 Zweites Buch. Zweites Kapitel,
fecten und über die Vögel in hohem Anfehen ftehen, ein treffliger
Schulmann, und was ung hier am meiften angeht, ein ausgezeich⸗
neter Sprachforſcher. Nach diefer Seite hängt er auf das engite
mit Leibniz und deſſen Berliner Beftrebungen zufammen. Leibniz
«erlernte von ihm die ruſſiſche Sprache und ermunterte ihn in feinen
germaniſchen Arbeiten. Auf Leibniz’ Vorſchlag wurde er 1706 zum
Mitglied der königlich preußifchen Societät der Wiſſenſchaften er-
nannt, und in den Denkihriften diefer Societät legte er bie erften
Früchte feiner gründlichen deutſch⸗ ſprachlichen Studien nieder ').
Im Jahr 1731 „warb er zum Direotore der Königlichen Bocie-
taet der Wiſſenſchaften erwählet, in Classe Historico-Philologieo-
Germanica“ ®), und biefer Societät und ihrem Stifter Leibniz
ſpricht Friſch noch als hochbetagter Greis in der Vorrede zu feinem
Hauptwerk jeinen innigften Dank aus.
Als Friſch fein letztes und größtes Werk: das deutſche Wör-
terbuch, herausgab, hatte er ſich bereits durch eine Reihe anderer
Arbeiten als einen ber gründlichſten Sprachforſcher ausgewiefen.
Wir können hier nur die wichtigſten berfelden kurz erwähnen.
Außer den Abhandlungen über Gegenftände der deutfchen Sprach-
forſchung, die er in den Miscellaneis Berolinensibus und in den "
„die teutſche Sprach betreffenden Stüden“ veröffentlichte, gab
ex 1712 ein vorzüglices franzöfifch-beutiches und deutſch⸗franzöfiſches
Wörterbuch heraus, jchrieb Verſchiedenes, wodurch er feine Kennt
niß der flavifchen Sprachen bethätigte, und beforgte 1723 eine neue
durchgreifend umgearbeitete Ausgabe von Bödiler's „Grund-Säpen
der Teutſchen Sprache.“ Wenn wir biefe Ausgabe mit der voran
gehenben vergleichen, fo erlennen wir alsbald bie Ueberlegenheit
Friſch's über feinen Vorgänger. Die bündigen, meift ganz guten
1) &. Miscellanes Berolinensia — ex scriptis societati regise
exhibitis edita, Berolini 1710, p. 60. Contin. II, 1727, p. 310. T.IV,
1734, p. 175. 179. 182. 188, 185. 188. 190. 191. 195, T. V, 178%
p. 198. 217. T. VI, 1740, p. 192. 193. 195. Und: Der erfle Auszug
von einigen bie Teutſche Sprach betreffenden Stüden, Berlin 1734. —
2) Bippel a. a. O. ©. 4.
Die germanifche Philologie in Deutſchland 1665 Bis 1748. 191
‚Brund-Säge“ ſelbſt hat ex gewöhnlich; beibehalten, aber Bödiker's
ware und oft fehr verkehrte Erläuterungen dazu hat er großen-
theils Befeitigt und durch andere richtigere erfegt. Als Anhang hat
er diefer Bearbeitung von Bödiler's Grammatik beigegeben: „Spe-
dmen Lexici Germanici Ober Ein Entwurff Samt Einem
Gempel Wie er fein Teutſches Wörter-Buch einrichtet.“ Schon
vorher (1716) 1) hatte er eine Heine Schrift veröffentlicht: „Unter
fndımg des Grundes und Urfaden der Buchftab - Veränderung
eier Teutſchen Wörter,“ und 1789 gab er in einem lateiniſchen
Programm Nachricht von den Alteften in Deutſchland gebrudten
Börterbücern. Enblih im Jahr 1741 bradte er fein großes
Hauptwerk zum Abſchluß, fein „Teutſch- Lateiniſches Wörter-Buc,
Darinnen Nicht nur die urjpränglicen, nebſt denen davon herge-
leiteten und zufainmengejegten allgemein gebräudfihen Wörter;
Sondern auch die bey den meiften Künften und Handwerken, bey
Berg. und Saltzwerlen, Fiſchereyen, Jagd-, Forſt- und Hauß ⸗Weſen,
na m. gewöhnliche Teutſche Benennungen befindlich, Vor allen,
Bas noch in keinem Wörter- Buch geſchehen, Denen Einheimiſchen
und Ausländern, jo die in ben mittlern Zeiten gefchriebenen Hiftos
tien, Chroniken, Ueberjegumgen, Reimen u. d. g. mit ihren veral-
teten Wörtern und Ausbrüdungen verftehen wollen, mögliäft zu
dienen, Dit überall beygefegter nöthigen Anführung der Stellen,
wo dergleichen in den Büchern zu finden, Samt angehängter Theils
verfierten, theils muthmaßlichen Etymologie und critiigen An⸗
merbangen; Mit allem Fleiß viel Jahr über zufammengetragen,
Und jet den Gelehrten zur beliebigen Vermehrung und Verbeſſer⸗
mg überlafjen. Nebſt einem Megifter der Iateinifchen Wörter.
Berlin — 1741." Ich Habe ben Titel des ausgezeichneten Werts
abfichtlich im feiner ganzen Ausführlicfeit mitgetheilt, weil er am
beſten befagt, was ber trefflihe Greis zu geben beabfichtigte, und
id lann nur Hinzufügen, daß er das Verfprodene in einer Weiſe
1) Diefe Jahrzahl gibt EI. Caſp. Reichard in feinem Verſuch einer Hi⸗
Rorie der deuiſchen Sprachtunſt, 1747, ©. 428, das Eremplar ber Göttinger
Bibliotgef hat feine Jahrzahl.
192 Zweites Bud. Zweites Kapitel,
geleiftet Hat, die feiner Arbeit eine ber erften Stellen in ber ganzen
deutſchen Lexikographie ſichert. Das Werk ift äußerlich von kinem
allzugroßen Umfang. Es füllt nur zwei mäßige Quartbände, aber
diefe zwei Bände enthalten einen außerorbentlihen Reichthum an
wohlgefihtetem und auf ber gründlichſten Gelehriamteit ruhendem
Stoff. Gegen fünfzig Jahre hat Friſch an biefem feinem Lebens⸗
wert gearbeitet 1). Er hat fid bei deſſen Abfaſſung fein Ziel ſehr
Mar geſtedt. Nach unferer jegigen Ausdrudsweie würden wir
fagen: Er hat es auf ein neuhochdeutſches Wörterbuch abgejehen
das Wort Neuhochdeutſch in feinem ganzen Umfang genommen.
Die älteren germanifhen Sprachen überläßt er Wachter's und
Schilter's Gloffarien. Aber wo Schilter aufhört, da ſetzt Friſch
ein, und er darf mit Recht fagen, bag man „bie Zeiten kurz vor
und kurz nach ber Erfindung des Buchdruckens noch recht dunkel
nennen Tann, darinnen man Hiftorien und Chroniken findet, wo
auf allen Seiten Wörter ftehen, die dem Lefer am Berftand fol
Ger Schriften hinderlich fallen,“ und ex Hat in ber That, wie er
fi ausdrüdt, „in diefem gegenwärtigen Wörter - Buch die Hand
an eine ſchöne Aerndte gelegt.“ In der Angabe der Bedeutungen
iſt Friſch jehr forgfältig. Was die Etymologie betrifft, fo ſchenlt
ex ihr ein befonderes Intereſſe. Er gibt fie meiftens am Ende
eines jeden Wortes an. „Wo die Etymologie gar ausgelafien it,
fagt er im Vorbericht 2), hat fie der Verfaffer nicht gewußt. Man
will hier lieber eine behutſame Unwiffenheit befennen, als ein ver-
wegenes Wilfen vorgeben. Offt ift durch Muthmaſſungen von ber
Herleitung einiger Wörter andern zu weitern Nachdenken Gelegen-
heit gegeben worden.“ Zur Ableitung der beutichen Wörter ſei
1) Mau findet öfter bie Angabe, Friſch's Wörterbud fei die Frucht
dreißiglägriger Arbeit. Aber biefe Angabe beruht auf einem Mißverfändnig.
Im dem oben erwähnten Anhang zu feiner Ausgabe von BVödiker's Grund
fügen fagt Friſch (©. 8), ex fei ſchon über dreihig Jahr über biefer Leritons
Arbeit. Allein jener Anhang erfhien im Jahr 1723. Mipin. hatte Fri,
als er 1741 fein Wörterbuch herausgeb, bereits gegen fünfgig Jaht daran gear:
beitet. — 2) Aus biefem find aud bie vorangehenden Angaben entnommen.
Die gem. PHil. in ben Niederl. in Engl. u. in Sfanbin. v. 1748 bis 1797. 198
die gründliche Kenntniß der verſchiedenſten Sprachen nothwendig,
md „man hat denjenigen für einen Ertz-Praler zu halten, der da
fagt, er wiffe, wo alle unfere Wörter herlommen.“
Am Schluſſe diefes Abſchnitts wollen wir noch anführen, daß
‚gen Ende unferes Zeitraums auch bereits ein gelungener geſchicht⸗
liher Rückblick auf alles, was bisher auf dem Gebiet ber deutfchen
Grammatit geleiftet worden war, erſchien, nämlih Elias Gajpar
Reichard's (geb. zu Quedlinburg 1714, geft. 1791) Verſuch einer
diſtorie der deutſchen Sprachkunſt, Hamburg 1747.
Drittes Kapitel.
Die germaniſche Philologie in den Niederlanden, in England
und in Standinavien von 1748 bis 1797.
Obwohl es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den
Niederlanden nicht an fehr achtungswerthen Männern fehlt, die ſich
die Erforiung der Mutteriprage zur Aufgabe maden, iſt man
doch weit davon entfernt, die großen Erwartungen erfüllt zu fehen,
de ſih an die bahnbrechenden Leiftungen des Franciscus Junius
md Ten Rate knüpfen. Man verfolgt nur in eingeſchränkter Weife
die von diejen betretenen Wege, indem man fein Hauptaugenmerk
af die niederländiihe Sprade richtet, und zwar zunächſt auf
die neuniederländiſche Schriftſprache. Hiemit aber verbindet man
eine umfaffendere Pflege auch der älteren niederländiſchen Sprache
und Siteratur, als dieſer bi8 dahin zu Theil geworben war. An
der Spige all diefer Beitrebungen fteht der gelehrte Balthafar
Huydecoper, geb. zu Amfterdam 1695, 1740 Schöffe feiner
Baterftadt, zulegt dijkheemraad (Deichaufſeher), geft. 24. Sept.
178 1). Sein Hauptwerl in Bezug auf die neuere niederlän⸗
diſhe Sprache, Anmerkungen zu Vondel's Ueberjegung von Ovid's
1) Van der Aa, Biogr. Woordenboek VII, 2 (1867), 1495 fg.
Raumer, Geh. der germ. Philologie 18
194 Zweites Bud. Drittes Kapitel,
Metamorphofen, erſchien bereits im Jahr 1780 '). Hatte der Ber-
faifer ſchon hier Häufig Beranlafjung genommen, bie ältere nieder-
landiſche Sprache in feinen Bereich zu ziehen, fo gab ihm feine
Ausgabe ber mittelniederlänbijhen Reimchronik des Melis Stole
(Leiden 1772) die unmittelbare Gelegenheit, von jeiner reichen Be
leſenheit in der älteren niederländiſchen Literatur Gebrauch zu
machen. In ähnlicher Weile bereicherte Jakob Arnold Elig
nett (geb. 1756, geft. 30. Det. 1827 als Rath am Obergericht
im Haag) 2) durch feine Ausgabe von Jakob van Maerlant's
Spiegel historiael (Leiden 1784) und Anderes umfere Kenntniß
der mittelniederlänbifen Literatur. Won befonderer Wichtigkeit
für die nieberländifhe Sprad- und Literaturforfhung aber wurde
mit der Zeit die im Jahr 1766 zu Leiden gegründete Maatschap-
pij van Nederlandsche Letterkunde (Gefellihaft für nieder
länbifde Sprache und Literatur).
In England Hatte der Eifer für die angeljähftihen Studien,
welder bie erften Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts auszeichnet,
nicht in gleichem Grade fi erhalten. In diefer Zeit des Nach⸗
laſſens verdienen die unverbroffenen Bemühungen Edward Lye's
alle Anerfennung. Geb. 1694 bei Totnes erhielt e (1713) feine
gelehrte Bildung auf der Univerfität Orford und farb als angli⸗
caniſcher Geiftliher zu Yardley - Haftings ben 19. Aug. 1767 3).
In der ländlichen Einſamkeit feiner Pfarreien Hatte er fih mit
Eifer auf das Stubium der alten germanifchen Sprachen, befonders
des Angeljächfiichen geworfen. Im Jahr 1743 gab er das Ety-
1) Proeve van Taal-en Dichtkunde; in vrymoedige Aanmerkin-
gen op Vondels Vertaalde Herscheppingen van Ovidius. Cine zweite
Ausgabe beforgte F. van Lelgvelb, Leiden 1782. Ein Hauptverdienft Hude
coper's Liegt auf bem Gebiet ber neunieberlänbifen (hollänbifgen) Schrift⸗
ſprache. Die Green unfer Mufgabe erlauben uns jedoch nicht, biefen Ger
genftand weiter zu verfolgen. Literariſche Notizen dazu findet man in Jjreij's
Beknopte Geschiedenis der Nederlandsche Tale (Utreät 1812) 8.529 fg.
— 2) Van der As, Biogr. Woordenb. III, 473. — 3) S. vye's Lehen
vor feinem Dictionarium Saxonico - et Gothico - Latinum in Manning’s
Praefatio.
Die germ. Phil. inden Niederl, in@ngL, u.in Sfanbin. v. 1748 bis 1797. 1985
mologieum Anglicanum des Franciscus Yunius, 1750 die gor
thiſchen Evangelien mit Hinzufügung einer gothiſchen Grammatik
heraus. Aber fein eigentlies Lebenswert, das Dictionarium
Saxonico- et Gothioo - Latinum, veröffentlihte erſt nad Lye's
Tode im Jahr 1772 zu London Owen Manning. Man hat
die ſchwachen Seiten biejes Wertes, namentlih Lye's Mangel an
gränblicher grammatiſcher Kenntniß der altgermaniſchen Sprachen,
wit Recht getabelt '). Trotzdem aber Hat es lange Zeit den
Sprodforihern nicht bloß England’S, ſondern auf Deutſchland's
und Slandinavien's ein dankenswerthes Hülfsmittel geboten. Unter
den vorangebrudten Subſtribenten finden wir au bie Umiverfi-
tätsbibliothel zu Böttingen. Außer Lye's Thätigfeit ift in dieſem
Zaitramın noch zu erwähnen die Gründung einer Profeſſur für das
Angelfähfifche an der Univerfität Orforb buch Richard Ramwlin-
ion im Jahr 1750 2) und bie fon 1690 durch William
&litob vorbereitete, aber erft 1773 durh Daines Barring-
tom zu Stande gebrachte Herausgabe von Alfred's angelſächſiſcher
Ueherjegung des Oroſius. Samuel Johnſon's engliihes Wör⸗
tern, deſſen erſte Ausgabe 1755 erſchien, beſchäftigte ſich zwar
auf mit der Geſchichte der Wörter, hatte aber feinen Hauptwerth
af dem Gebiete der meuengliihen Schriftſprache. In biefer Ber
iichung ift es von nicht zu verfennendem Einfluß auf einen der
ngejehenften neuhochdeutſchen Lexilographen, auf Abelung geweſen.
Bon einer ganz anderen Seite werden wir Thomas Percy buch
feine 1765 ericjienenen Reliques of ancient English Poetry
nicht nur auf bie deutſche Literatur, fondern au auf die Entwid-
lung der deutſchen Philologie einwirken fehen.
Sehr bedeutend war bie Thätigkeit, die in dieſem Zeitraum
der ſtandinaviſche Norden auf dem Gebiet ber alten einheimiſchen
Sprae und Literatur entwidelte. In Dänemart war e8 vor
allen der große Geihihtsforiher Peter Friederich Suhm
(geb. in Kopenhagen 1728, } am 7. Sept. 1798) ®), der feine
1) ®gl. ©. Bask, Angels. Sprogl. 8.18. — 2) Petheram,
Anglo -Saxon Lit. in England, p. 105. — 3) 6, in der Kürze Almin-
duigi Literaturleriton. Ved Nyerup og Kraft, 1820, S. 587 fg.
13°
196 Zweites Bud. „ Drittes Kapitel,
unermüdliche und aufopfernde Thatigleit auch ber förderung der
altnordiſchen Literatur zuwandte. Er verband mit ber richtigen
Einfiht in die Wichtigkeit des vergleihenden Sprachſtudiums für
die Urgeſchichte der Völter ?) das redlichſte kritiſche Streben, Wahr ⸗
heit und Irrthum in der Geſchichte zu unterſcheiden und fid nicht,
wie jo Mande feiner. ſtandinaviſchen Vorgänger, durch einen miß ⸗
verftandenen Patriotismus zu verlehrten Annahmen hinreißen zu
laffen. Aber er war weit entfernt, ben Werth der altnordiſchen
Kiteratur zu unterihägen, vielmehr drang er auf beſchleunigte Ver⸗
öffentlichung ihrer wichtigften Werke, und eine ganze Reihe derfel-
ben wurde auf feine Koften durch isländiſche Gelehrte. Heraus-
gegeben 2. Wir wollen bier nur no erwähnen, daß Suhm's
Theilnahme ſich nicht bloß auf die ſtandinaviſchen, fondern and auf
die übrigen alten germaniſchen Sprachen erſtreckte. So gab auf
Suhm's Kojten Rasmus Nyerup (geb. zu Nyerup auf der
Inſel Fühnen 1759, Prof. der Literaturgejhichte und Univerfitätd-
bibliothelar zu Kopenhagen 1796 3), + 28. Juni 1829) 4), im Jahr
1787 zu Kopenhagen Symbolse ad litteraturam Teutonicam
heraus, welde neben Anderem die von Franciscus Junius gefom-
melten althochdeutſchen Glofjare und das althochdeutſche Gedicht
vom 9. Georg enthalten, das letztere ein Wiederabdruck der erſten
Ausgabe (1783) des früh verftorbenen Barthold Chriftian
Sandvig (geb. zu Kopenhagen 1752, } 1786). Bon Sandwig
rührt auch die Bearbeitung des größten Theils ber eben beſpro⸗
chenen Symbolae der, und Nyerup vollendete nur nad) Sandwig's
Tode beifen Arbeit 5). Unter den zahlreichen Veröffentlichungen
1) Bol. 3. B. Suhm's „Gebanfen über die Scwierigfeiten, welche man
bei ber Bearbeitung ber alten Däuiſchen und Norwegiſchen Geſchichte antrifft,“
in’ Deuiſche Überfegt (mit Zufägen Suhm's) in den Hiſtor. Abhandlungen
ber Geſellſchaft der Wiſſenſchaften zu Kopenhagen her. von Val, Aug. Heinz,
Bd. I, Kiel 1782, S. 855 jg. — 2) ©. das Vetzeichnißz in dem angefügeten
itteraturler. ©. 589. — 8) Ebend. S. 433. — 4) Alminbeligt dor⸗
fatter-erifon , veb Erslew, Bd. II, 1847, ©. 465. — 5) 6. Nyerup's
Praef. zu ben Symbolge p. IX sq.
Diegerm. Phil. in ben Rieberl., in Engl. u. in Stanbin. v.1748 bie 1797. 197
altnorbiiher Werte, die in den Syahren 1748 bis 1797 in Däne-
mark zu Stande famen, nehmen zwei eine hervorragende Stelle
ein. Erftens nämlich die neue Ausgabe von Snorri's Heimskringla,
bie auf Koften des däniſchen Erbprinzen im Jahr 1777 zu Ropen-
hagen durch Gerhard Schöning (geb. 1722 zu Statnaes in
Norwegen, 1775 Geheimardhivar zu Kopenhagen, F 1780) !) be-
gonnen wurde. Aber ohne Vergleich bedeutender noch war die
Herausgabe der rhythmiſchen Edda auf Koſten der Arni-Magraei-
ſcen Stiftung. Seit Rejenius 1665 einige Lieder derſelben ver-
öffentlicht Hatte 2), waren fo manche weitere Bruchftüde daraus
zerftrent mitgetheilt worden. Aber das Alles konnte nur dazu
dienen, bie Begierde nach einer vollftänbigen Herausgabe dieſes
mertwärdigften aller altnordiſchen Ueberrefte immer mehr zu ftei-
gem. Da nahmen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
die Ephoren des Magnaeiſchen Legats die Sache in die Hand, und
unter ihrer Leitung erſchien im Jahr'1787 zu Kopenhagen: Edda
Rhythmica seu antiquior, vulgo Saemundina diete. Pars I.
Odas mythologicas, a Resenio non editas, continens. Für
den Tert wurde ber Codex Regius aus dem 14. Jahrhundert zu
Grunde gelegt, was dieſem fehlt, aus den anderen Handſchriften
egänzt und auch fonft deren Lesarten als Barianten hinzugefügt.
Eine lateiniſche Ueberjegung und erläuternde Anmerkungen halfen
die nicht geringen Schwierigleiten des Textes überwinden. (ine
ausführliche Vorrede von Stuli Thorlacius 9 (geb. 1741 in
land, + 1815 in Kopenhagen) 4) und das Lehen Saemund's des
Beifen von Arni Magnusfon, mit Anmerkungen von John
Erichſen (geb. in Island 1728, Bibliothefar zu Kopenhagen
1781, + 1787) 5), Märten darüber auf, daß ſowohl die Bezeichnung
Eda, als der Name Saemunb’s des Weifen erft durch Brynjulfe
Sveinsſon (1643) mit unferer Sammlung altnordiſcher Götter»
1) Rperup og Kraft, Sitteraturlericon, ©. 548. — D ©. o. ©. 148.
— 3) 89. Möbins, Catalogus p. 68. — 4) Nyerup og Kraft, Bittere:
inlericon S. 610. — 5) Ebend. ©. 159,
198 Zweites Bud. Drittes Kapitel.
und Heldenliever in Zufammenhang gebracht worden fei ) und
gaben eingehende Auskunft über die beiden |. g. Eddaen und ihre
verſchiedenen Handſchriften. Ein „Bpecimen glossarii* endlich gab
Zuſammenftellungen und Aufſchlüſſe über viele in den abgebrudten
Liedern vorkommende felimere Wörter. Natürlich findet die fort-
geſchrittene Wiſſenſchaft an diefer erſten Ausgabe eines der dunlel⸗
fen Werte vieles zu verbeffern, aber es bleibt den Herausgebern ber
Ruhm umverkürzt, für alle weiteren Eddaſtudien die Bahn gebrochen zu
haben. Wir fünnen hier nicht genauer auf die mannigfachen Leiftungen
jener Zeit eingehen, wollen aber doch außer ben bereits Erwähnten noch
einige jener gelehrten Jsländer und Dänen nennen, bie fi in dieſer
Zeit um die altnordiſche Literatur verdient gemacht haben. Halfdan
Einarfon (geb. auf Island 1732, Rector in Holar 1755, geft.
1785) ſchrieb 1777 die Geſchichte der isländiſchen Literatur. Björn
Haldorsfon (geb. auf Island 1724, geit. als Pfarrer ebenb.
1794) verfaßte das erſte ausführli—ere, 1814 von Raſt heraus
gegebene islänbiihe Lexilon. Yon Olafsſon (geb. zu Soc
ney auf JIsland, geft. 1811) ſchrieb (1786) das umjaſſendſte
Wert über die altnordiſche Dichtkunſt. Sinne Jonsſon (ge.
1704 zu Hytterdal auf Island, Biſchof in Stalholt 1754, } 1789)
gab in feiner Kirhengeihichte Island's (1772 — 78) und anderen
Arbeiten auch zur isländiſchen Literaturgeſchichte mannigfache Bei
träge. Als Herausgeber altnordiſcher Quellen nennen wir noch
ben daniſchen Geſchichtsforſcher Jakob Kangebet (+ 1775), die
länder Yon Finsſon (} 17%), Gudhmundr Magnus
fon (+ 1798), Olaf Olafsfon (} 1788), die ſich vorzugsweiſe
an den Veröffentlijungen wichtiger Sagaen durch die Magnätfe
Gommiffion betheiligten, und den Norweger Hans Baus (+ 1770)9),
den Herausgeber der alten norwegiſchen Geſetze.
1) Edda Rhythmica, ParsI. Hafniao 1787, Ad Lectorem p. XXXV
sg. XLI. Vita Ssemundi Multiscii autore Arna Magnaeo p. VII <q.
XL — 2) Die Angaben über das Leben biefer Männer find Nyerup und
Kraft's Pitteraturlericon entnommen. Borzüglige Hülfe hat mir aud für
biefen Abſchnitt Theodor Möobius trefflichet Ontalogus libroram Islandi-
corum et Norvegicorum geleiflet.
Die germ. Phil. in ben Niederl, in Engl. u. in Stanbin. v. 1748 581797. 199
Im Schweden erhielt ſich noch Bis um die Mitte des 18.
Jahrhunderts die Richtung, welche Rudbeck und feine Genofien ben
ſſandinaviſchen Wltertfumsftubien gegeben hatten i). Einer ber
legten und bebeutenbften Vertreter dieſer Richtung war Yohan-
nes Göransjon. Geboren zu Gräbäck im Kirchenfprengel von
Garkftabt 1712, wurde er 1755 Baftor in Gilberga und ftarh im
Jahr 1769 9). Ebenſo an unverbroffenem Eifer, wie in der Aben-
teuerlichteit der Anfichten war Göransſon Rudbed's würdiger
Nachfolger. Im Jahr 1746 begann er eine Ausgabe bes Upſa⸗
laer Gober der Snorra⸗Edda, die aber nit über Gylfaginning
hinauslam, und ber er 1750 eine Ausgabe ber Völuſpa folgen
Üieß. Der gegemoärtige Text der proſaiſchen Edda, meint Görans⸗
ion, veihe wohl nicht weiter zurüd als in das 12. Jahrhundert
nach Chriſto, da Snorri · ihn nad alten Munenbügern in Kürze ab-
igrieb, aber nad Herodot's und Plato's Zeugniß jei fie bereits
dreihundert Jahre vor Troja’s Erbauung in meflingene Zafeln
ängerigt geweſen 2). Aber Göransſon's Tert war trot biefer
abenteuerlichen Anfichten ein Zuwachs zur Kenntniß der Edda.
Aehnlich verhält es fi mit Göransſon's Hauptwerk: Bautil, det
är: alle Svea och Götha Rikens Runstenar 3), das 1750 zu
Stocholm erſchien. Der Verfaſſer läßt die Reihe der Runenſteine
mehr als 2000 Jahre vor Ehrifti Geburt, alſo gleich nad ber
Sündfluth beginnen *), aber trotz dieſes kritilloſen Schwindels bot
Göransfon’s Bautil durch fein reiches Material für Iange Zeit ein
muenthehrliches Hülfsmittel zum Stubium der Runen. Doch alle
Vermehrung des Stoffes würde natürlich nichts geholfen, ſondern
nur immer tiefer in den Irrthum hineingeführt haben, wenn nicht
endlich auch in Schweden eine wifjenihaftlige Behandlung des ger-
16.0. 6.153. — 2) Biographiskt Lexicon V, 869 fg. —
36. die Widmung an bie Kronpringeffin Louiſe Ulrike in De Yfverborna
Allingars- Edda (Hyperboreorum Atlantiorum - Edda) - studio Johan-
as Göransson, Upsala, s. a. (1746, nad Biogr. Lex. V, 374). —
3) ‚Beutil, bas iR: alle Runenſteine bes ſchwediſchen und gothiſchen Reiche.”
— 4) @örandfon’s Bautil, Unberrättelfe om befa Runfenar, BL. 2.
200 Zweites Bud. Drittes Kapitel.
maniſchen Altertfums durch fritiihe Köpfe fih Bahn gebroden
hätte. Ein folder Kopf war Johannes Ihre. Geboren zu
Lund im Jahr 1707, begab fih Ihre 1730, ausgerüftet mit einer
gründlichen philologifchen Borbildung, auf Neifen. Er befudte
Deutſchland, Frankreich, Holland, England und Dänemark md
hielt fi namentlich längere Zeit in Oxford, London und Paris
auf, immer beftrebt, von den dortigen Gelehrten und Bibliotheken.
für feine Kenntniffe Gewinn zu ziehen. Nach breijähriger Abwe⸗
fenheit lehrte Ihre in fein Vaterland zuräd, wurde 1734 Secretär
der Wiffenfhafts - Societät in Upfala und 1737 Profeſſor an der
Univerfität. Er war ein jehr beliebter Lehrer, deſſen Vortrag ſich
nicht weniger durch geiftreiche Lebendigkeit, als durch Gelehrſambeit
außzeichnete. Ihre ftarb am 1. Dec. 1780 1), Die Sprachfor⸗
ſchung biefes bebeutenden Gelehrten Hatte ‚ihren Ausgangspımlt in
ber damaligen ſchwediſchen Sprache. Der Auftrag, Steeles
Srauenzimmer-Bibliothek in's Schwediſche zu überfegen, den er von
der Königin Ulrika Eleonora erhielt und in den Jahren 173438
ausführte, machte ihn auf die vielen Gebrechen und Unſicherheiten
in der ſchwediſchen Sprade aufmerffam 2), er beſchloß deshalb, die
ſchwediſche Sprade in ben Bereich feiner Vorträge zu ziehen,
und fo entftand zunächſt fein Entſchluß zu Vorleſungen über die
ſchwediſche Sprade (1751) 3). Je piehr aber Ihre ſich in dieſen
Stoff verſenkte, um fo mehr erfannte er, daß zur richtigen Beur⸗
teilung ber ſchwediſchen Sprache die eindringenbfte Erforſchung
aller germaniſchen Spraden und beſonders der älteften unter ihnen
erforderlich ſei. So warf er fi einerjeits auf die Unterſuchung
ber ſchwediſchen Sprade und ihrer Mumdarten, andrerfeits auf die
des Gothiſchen und Altnordiſchen. Als Vorläufer feiner ſchwedi⸗
I) Biographiekt Lexicon VI, 353 fg. — 2) Bgl. ebend. ©. 357.
— 3) Auf der Göttinger Bibliothek findet fih: Professor Johan Ihres Ut-
kast till Föreläsningar öfwer Swenska Spraket, ooh thes narmare
kännedom. Stookholm och Upsala 1751. Hier ſpricht Ihre (Företal
p. 1m. 2) nur im Algemeinen von ber Unfiderheit und Bernadläffigung
ber ſchwediſchen Sprache.
Pie germ. Phil. in ben Rieberl., in Engl. u. in Stanbin. v. 1748 bis 1797. 201
fen Sprachſtudien veröffentlichte er (1766) ein Schwediſches
Dioleft-Leriton, eine Arbeit, die nad) dem Urtheil ber einheimiſchen
Gelehrten an mannigfachen Gebreden leidet. Um fo größer aber
war der Beifall, mit dem drei Jahre fpäter (1769) Ihre's großes
Hauptwerk aufgenommen wurde, fein „Glossarium Buiogothicum,
in quo tam hodierno usu frequentata vocabula, quam in
legum patriarum tabulis aliisque sevi medii scriptis obvia
explicantur, et ex dialeotis cognatis, Moesogothica, Anglo-
Baxonica, Alemannica, Islandica ceterisque Gothicae et Cel-
tieae originis illustrantur“, Upsaliae 1769. Der ausführliche
Titel bezeichnet am beften ben Inhalt des Bus, und man wird
nicht läugnen, daß ber Beifall, den Ihre's Arbeit fand, ein wohl-
verdienter war. Im Gegenfag zu feinen meiften Vorgängern be
fleifigt fih Ihre einer großen Beſonnenheit. Ich habe mir zum
Geſetz gemacht, jagt er, bei der Unterfuhung bes Urfprungs der
Börter zunächft die einheimiſche alte Sprache zu Hülfe zu rufen;
wo biefe mich im Stiche ließ, habe ich die isländiſchen Schriftſteller
ja Nathe gezogen, ba deren Sprache vor neum Jahrhunderten von
der unſrigen nicht verfdieden war. Won da bin id zur aleman-
niſchen und angeljäßfiihen Sprache fortgeiäritten und endlich bei
der moejogothifchen ftehen geblieben, der Mutter der übrigen, von
der wie nur leider fo wenig Reſte übrig haben ?). Ihre weift
dann ferner den Zuſammenhang mit dem Celtiſchen, Griechiſchen,
bateiniſchen und Perfiichen Teineswegs ab, wenn auch feine Bor-
felfungen von dieſem Zuſammenhang noch unklar find. Vom
Sanskrit weiß er natürlich (1769) noch nichts. Auch darüber, daß
man den Wechſel der Buchſtaben nicht überjehen dürfe, ift Ihre
mohlumterrichtet, und er ſchickt feinem Gloffarium eine Ueberſicht
über die wichtigſten Buchſtabenvertauſchungen des Schwediſchen
voraus 2). Wir finden Hier einen Theil der germanifhen Laut-
veriiebungsgejege richtig beobachtet, aber verftedt unter die ver-
Midmartigften anbermweitigen Bemerkungen. Dem Ganzen hat
y de, Glossarium Suiogothicum I, Prooem. p. I. — 2) Ebend.
6. XLI fg.
202 Zweites Buch. Drittes Kapitel.
- offenbar bie ähnliche Arbeit des Gerhard Voſſius über das Latet-
niſche zum Vorbild gedient: Das Gloſſarium ſelbſt gibt über eine
Menge von alten Wörtern Aufſchluß und ebenjo über bie Abkunft
vieler noch gebräudlichen. Wenn wir auch jegt öfters gegen Ihre's
Etymologieen Einſprache erheben müflen, fo fonnte einem jo ger
lehrten und ſcharffinnigen Werk doc die größte Wirkung auf bie
Wiſſenſchaft feiner Zeit nicht entgehen. Außer biefer abiäließenden
Hauptarbeit find es namentlich zwei befondere Gebiete, denen Ihre
feine Thätigfeit zuwandte: Das Gothiſche und das Altilanbina-
viſche. Für das Gothifche hatte ihm fein Landsmann Erih Ben-
zel (geb. zu Upfala 1675, geft. 1748) durch feine Ausgabe bes
Coder argentens, die 1750 mit Lye's Zufägen zu Orford erſchien,
gut vorgearbeitet. Aber trotzdem beginnt mit Ihre's 1752 Bis
17731) herausgegebenen Abhandlungen zum Ulftlas eine neue Epoche
für das Studium des Gothiſchen. Durch eine forgfältige Ver⸗
gleichung des Coder argenteus, die Ihre durch Erih Sotberg
vornehmen ließ, wird die richtige Resart in einer großen Menge
von Stellen and Licht gebracht. Die grammatiihen Arbeiten
Ihre's über die gothiſche Conjügation und Declination bleiben
zwar in vielen Punkten vom Richtigen noch weit entfernt 2),
aber fie bezeichnen durch ihr forgfältiges Sammeln ber vorgefim-
benenen Formen 9) einen weſentlichen Fortſchritt gegen alles Bis-
berige. Wie überlegen Ihre feinen Zeitgenoffen in genauer Kennt
niß des Gothiſchen war, das zeigt fi jo recht in feiner verbeiler-
1) ©.'Biographiskt Lexicon VI, (Ups. 1840) p. 360. — 2) gl.
. B. Ihre's Eintheilung der gothiſchen Verba in brei Gonjugatiouen [I-
sokja. II. kann, kunnum. III. saigha (b. i »ai@a)) in Bifhing’s Aus:
gabe von Ihre's Scripte versionem Ulphilanam et linguam Moeso-
gothicam illustrantia, Berolini 1773, p. 158. 157. 162. Dabei aber bie
richtigen Bemerkungen gegen Hides p. 149 und über den Vocalwechſel ber
dritten Gonfugation p. 162. — 3) Bgl. 3. ©. das über bie Derlination det
gotgif—en Adjectivs Geſagte, p. 247 (Büsching) und das Verzeicniß der
Berba p. 172 fg. ebend. Jrrihümer aus mangelnder Vorficht fehlen natürlich
auch nicht. ©. ;. 8. drauhen ©. 229. magathos S. 289.
Die germ. Phil. in ben Rieberl., in Engl. u. in Stanbin, v. 1748 bis 1797. 208
tem Ausgabe von Knittel's Wolfenbüttler Fragment des Römer⸗
brief ). Was die Sprade des Coder argenteus betrifft, jo macht
Itre in feiner Abhandlung De lingua codieis argentei (1754) 2)
allem Streit für immer ein Ende, indem er gegen den Berliner
Bibliothelar Lacroze, ber fie für fränkiſch erflärte °), den unumftöß-
lichen Beweis führt, daß wir im Coder argenteus die Ueberjegung
des alten gothiſchen Biſchofs Ulfilas vor ums haben, und zwar in
einer Abſchrift, die Hin und wieder ber alten lateiniſchen Verſion
angepaßt worden ift ). Ihre erkennt mit Bewunderung die hohe
grammatifche Vollendung der gothifchen Sprache und zeigt, wie die
neueren germanifhen Sprachen: das Schwediſche, Deutſche, Eng-
liſche u. ſ. f., von jener alten Höhe herabgeſunken find 9). Daß
das Gothiſche ſehr viele Webereinftimmung mit dem Griechiſchen
umd Lateiniſchen zeigt, ſucht er überall darzuthun; aber über die
Art und ben Grund biefer Webereinftimmung kommt er zu feiner rech⸗
ten Klarheit. Er nennt das Griechiſche und Lateiniſche „Schweitern
oder vielmehr Töchter des Gothiſchen“ ©), und während er alle
Sprachen aus Einer Quelle fließen ımd fi in Dialefte und dann
dh immer größere Ummanblungen in verfdiedene Spraden
falten läßt ”), kommt er doch immer wieder darauf zurüd, bie
dem Gothiſchen ähnlichen Wörter des Griechiſchen und Lateiniſchen
daraus abzuleiten, daß Griechenland und Jtalien in ältefter Zeit
qthiſche Bewohner gehabt haben 8). — Der fanbinaviihen Als
terthumstunde gehören Ihre's Unterſuchungen über bie profaiiche
Edda und über bie Runen an. In feinem Brief über die Upfa-
laer Handſchrift der Proſa⸗Edda ſucht er (1772) einerjeits bie
nebelhaften Borftelfungen, die man damals noch von dieſem Werk
hatte, zu berichtigen, andererſeits aber, zu beweilen, daß wir in
dem um 1800 geſchriebenen Upfalaer ober eine echte Abſchrift
1) 6.97 fg. bei Bülhing, — 2 S. 257 fg. bei Büſching. —
3) Ebenb. ©. 259. — 4) Ebend. ©. 268. — 5) Ebend. S. 222. 248.
— 6) S. 6 Bei Büfging. Bgl. ©. 146.285. — 7) ©. 298 fg. Bei
Sülging. — 8) Ebend. 6.7. Bel. ©. 138. 146. 18,
204 ‚Zweites Bud. Viertes Kapitel.
von Snorri's Wert befigen 1). Schlözer's hiegegen vorgebradhte
Zweifel wies Ihre zurüd in einem Brief an Hrn. von Trail,
ben biefer feiner „Reife nach Island“ einfügte (1777)2). Was
die Runen betrifft, fo trat Ihre den überſchwenglichen Anfichten
des Rudbeck, Verelius und Göransfon entgegen, als wenn das
Alter der flandinavifhen Nımenfteine bis nahe an die Sündfluth
hinanreichte, indem er fie vielmehr den Jahrhunderten des Mittels
alters zuwies 3).
Piertes Kapitel.
Die germanifdge Philologie in Deutſchlaud von 1748 bis 1797.
1. Grammalifhe nnd lexikaliſche Bearbeitung der aeuhochdeutſchen Aprade
vom Jahr 1748 bis zum Jahr 1797.
Gottſched. Abdelung.
Wir ſchreiben hier nicht die Geſchichte der beutihen Sprade,
fonbern die Geſchichte der deutfhen Sprachforſchung. Aber
um die Stellung, die Gottſched unter ben deutſchen Gramma-
tilern einnimmt, richtig zu würdigen, müſſen wir mit einigen
Worten an bie Geſchichte der deutſchen Sprache im 17. und 18.
Jahrhundert erinnern. Wir Haben in einem früheren Abſchnitt
der Beftrebungen gedacht, die ſchon in der erften Hälfte bes 17.
Jahrhunderts durch Ratichius, Helvicus, Harsbörffer und Andere
gemacht wurden, um die deutfhe Sprache an Stelle ber lateiniſchen
zur Sprade- der Schule umd der Wiſſenſchaft zu erheben. Diefe
1) ©. die deuiſche Weberfegung von Ihre's Schrift in Schläger's Joländ.
Litteratur und Geſchichte, Göttingen 1778, ©. 78 f. — 2) Zn ber beut:
ſchen Weberfegung von Troil’s Reife, Upfala u. Leipzig 1779, ©. 269 fg. —
8) Dissertatio gradualis De runarum in Suecia antiquitate. Quam —
Praeside — Johanne Ihre — Publice ventilandam sistit Uno von
Troil, 1789, Upsaliae, p. 57.
Die germaniſche Philologie in Deuiſchland von 1748 bis 1797. 206
Veitrebungen brechen fich in ber zweiten Hälfte des 17. und in
der erften bes 18. Sahrbunderts immer mehr Bahn. Baltha-
far Schuppius (} 1661) vertritt fie mit feinem gefunden Mut⸗
terwig. Was Leibniz im diefer Michtung geleiftet, haben wir
hon erwähnt. Chriftian Thomafius Fündigt im Jahr 1687
u Leipzig die erfte Univerjitätsvorlefung in deutſcher Sprache an,
ud ſchon um das Jahr 1711 werden an ber Univerfität Halle bie
meiften Vorleſungen deutſch gehalten '). Um 1742 endlich erklart
der große Latiniſt Joh. Matthias Gesner in Göttingen mit
Aftimmender Befriedigung, daß die deutſche Sprade in den Uni»
verfitätsvorlefungen die herrſchende geworben fei ). Wie auf den
Univerfitäten, fo breitete-fih in derjelben Zeit aud auf den Gym⸗
nofien die deutſche Sprache immer mehr aus. Eine große Menge
von deutſchen Schulgrammatiten, Anleitungen zur deutſchen Ortho⸗
graphie u. f. w. liefert dafür den Beweis. Ein wichtiges Mittel
zut Beförderung der deutſchen Sprade waren endlich die deutſchen
Sprachgeſellſchaften. Die vielfah wunderlichen, aber Teineswegs
verdienftlojen derartigen Beftrebungen, wie wir fie im 17. Jahr
hundert haben kennen lernen, erfuhren nämlich in den erſten Jahre
sehnten des 18. eine bebeutende Umbildung, und bier ift es, wo
wir vor allen Gottſched eingreifen fehen.
Johann Ehriftoph Gottſched, geboren im Jahr 1700
a Juditenlich im Oftpreußen, ftubierte in Königsberg Theologie,
vᷣbiloſophie und ſchöne Wiſſenſchaften und wurde 1723 daſelbſt
Magifter. Da er jedoch feines großen Körperwuchſes halber fürd-
ten mußte, zum Militärbienft gezwungen zu werben, floh er im
Jahr 1724 nach Leipzig und habilitierte fih an ber dortigen Uni»
1) J.G. Eecardi historia stadii etymologiei linguae Germanicae ete.;
Hanoverae 1711, p. 258. — Der Gebanfe, bie lateiniſche Sprache ber.
Wiffenfepaft mit der beufchen zu vertaufihen, vegt fih gegen Ende dee 17,
%s. in den verſchiedenſten Köpfen. So in Chr. Gottl: Grau in Herborn
1692) und in dem viel umhergeworfenen Michael Wagner (Bol. Guhrauer
in der Kieler Monatsſchrift (Braunfweig 1854) ©. 48 fg) — 2) Jo.
Matih. Gesneri primae lineae isagoges etc. Tom. I, Lips. 1774,
p. 108,
206 Zweites Bud. Bieries Kapitel.
verfität '). Im Jahr 1730 wurde er zum außerorbentlichen Pro⸗
feffor der Philofophie und Poeſie, im Jahr 1784 zum ordentlichen
Profeffor der Logik und Metaphyfil befördert. Er ftarb am 12. Dec.
1766 1). In Leipzig fand Gottſched ſchon eine „Deutſchübende
Poetiſche Geſellſchaft· vor, die unter der Leitung des Volyhiſtors
Burkgard Mende ftand. Gottſched trat in biefelbe ein, und im
Jahr 1727 war er bereits ihr Senior. Als folder unternahm er
nod in demfelben Jahr eine Umbilbung der Geſeilſchaft. Er ver
taufchte deren bisherigen pedantiſchen Namen mit dem einfacheren
einer „deutfchen Geſellſchaft.“ Ihre Abſichten ſollten „auf die um
gebundene diede ſowohl, ja faft mehr, als auf die gebunden,
geben“ 2. Im Hintergeunde ftand der Gedanke, die Gejellfhaft
altmäplich zu einem ähnlichen Inftitut für die deutſche Sprade aus-
aubilben, wie es die franzöfiſche Akademie für die frangöfifde war >.
Diefer Plan mißglüdte, aber er bezeichnet am beften das Ziel von
Gottſched's -Veftrebungen. Wir werden zwar Gottſched and ald
einen der Männer tennen lernen, die ihre Bemühungen der älteren
deutſchen Literatur und Sprache zuwandten; aber feine eigentlihe
Aufgabe fah er in etwas Anderem, nämlid in der grammatiſchen
Negelung und Zeftftellung der deutſchen Schriftſprache zum pral-
tiſchen und literariſchen Gebrauch. Man muß deshalb feine Gram-
matif als ein Glied in der Kette feiner übrigen Beftrebungen, feiner
Zeitſchriften, feiner Rebehunft (1728), feiner kritiſchen Diepttunft (1730)
u. ſ. f. betrachten, wenn mau ihre Bedeutung richtig würdigen will Gr
veröffentlichte fie im Jahr 1748 unter dem Titel: Grunblegung einer
Deutjchen Sprachkunſt, Nach den Muftern ber beften Schriftfteller des
vorigen und igigen Jahrhunderts abgefaffet von Johann Chriſtoph
Gottſcheden. Gleich im darauf folgenden Jahr erlebte dies Buch
die zweite, im Jahr 1776 die fechfte Auflage. Das Biel, das er
ſich ſtect, ſpricht Gottſched im Beginn feines Buchs mit ben Wat
ten aus: „Eine Spratunft überhaupt ift eine gegründete An
1) Bel. K. 9. Zördens, Lexikon deutſcher Dichter u. Profaiften, Dt. II,
©. 212 fg. — 2) Worte Gotiſched's bei TH. W. Danzel, Gottſched und
feine Zeit. Seipgig 1848, ©. 88. — 3) Ebend. S. 83 fg.
Die germaniſche Philolegie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 207
weifung, wie man bie Sprache eines gewiſſen Volkes, nad) der
beiten Mundart desjelben, und nach der Einſtimmung feiner beften
Scriftfteller, richtig und zierlich, ſowohl reden, als ſchreiben ſolle“ 1).
& ift num zwar eine durchaus irrige Anficht, wenn man gemeint
dat, die deutſche Schriftiprache fei bis bahin bloß gewohnheitsmäßig
geweſen, und Gottſched habe fie zuerft ausdrücklich feftgeftellt ?).
Vielmehr haben wir, abgefehen von den noch älteren Bemühungen,
datſelbe Streben bei Schottelius, Bödiker und Friſch geſehen.
Aber innerhalb der Reihe der Männer, denen die neuere deutſche
Serriftſprache ihre graumatiſche Feſtſetzung verbankt, nimmt Gotte
eb eine feineswegs umbebeutende Stelle ein. In diefem Sinn
legte er auch den Grund zu einer deutſchen Synonymik in feiner
Shrift: Beobachtungen über den Gebrauch und Meißbrauch vieler
denticher Wörter und Medensarten. Straßburg und Leipzig 1758.
Den großen Einfluß, den ſich Gottſched erwarb, verbantte er theils
feinem wirflih rũühmenswerthen Eifer für bie deutſche Sprade und
der nächteen überlegten Auffaſſung feines @egenftands, theils dem
Geiic, mit dem er die Richtung feines Zeitalters für fi auszu-
beuten wußte, bie von allen Seiten dahin gieng, bie deutſche Schrift-
ſprache zu einem den älteren Kulturſprachen ebenbürtigen Wert-
veng der literariſchen Thätigkeit auszubilden. Mer wie ihm im
der früheren Zeit die Verbindung, in welde er feine grammatifchen
Atbeiten mit feinen poetiſchen und literariſch kritiſchen Beſtrebungen
iepte, großen Vorſchub gethan Hatte, fo konnte ſich auch fein Au-
ſehen als Grammatiler nicht mehr lange behaupten, nachdem ex
anf dem Gebiet der Literatur durch Klopſtock und Lefling in den
Staub geworfen war. In früheren Jahren weit überfcägt, büßte
1) Bolfländigere und Neuerläuterte Deutſche Sprachkunſt [fo nannte
Goitſched die fpäteren Auflagen feines oben angeführten Vuche], 4. Aufl,
&iy, 1757, 6.1. — 2) Th. W. Danzel in feinem fonft Höchft verbienft-
ligen Buch: Gotiſched und feine Zeit, Leipz. 1848, ©. 7. Cs gereicht Gott:
Feb zur Ehre, daß er ſeibſt fehr wohl wußte und auch offen ausſprach, daß
& mm der Zortfeßer HöchR achtungewerihet Borgänger fei. Bol. Goitſched,
deutſche Sprachtunſt, 4. Auf. 1757, Bor. zur erfien Ausg. BI. 5.
208 Zweites Buch. Biertes Kapitel,
ex gegen fein Lebensende aud die Achtung ein, die er fi durch
feine wirflien Berbienfte erworben hatte Doc Bat gerade feine
Deutſche Sprachkunſt noch zehn Jahr nad feinem im Jahr 1766
erfolgten Tode eine neue Auflage erlebt, hund ebenſo ift von dem
„Kern der deutſchen Sprachkunſt,“ den Gottſched „aum Gebrauch
der Jugend“ im Jahr 1758 herausgegeben hatte, noch 1777 eine
achte Auflage eridienen.
Haben wir Gottſched im Bisherigen von der Seite betrachtet,
auf die auch er jelöft den größten Werth Iegte, nämlich von Seite
feiner Bearbeitung der neuhochdeutſchen Schriftiprache, fo würden
wir dod ein unvoliftändiges Bild biefes über Gebühr gelobten und
über Gebühr herabgefegten Mannes erhalten, wenn wir niht
gleich Hier aud der Verbienfte gedächten, die er ſich als Forſcher
auf dem Gebiet der deutſchen Literaturgeſchichte erworben hat. Sein
belannteftes dahin gehöriges Werk, der Nöthige Vorrath zur Ge
ſchichte der deutſchen dramatiſchen Dichtlunſt, Leipzig 1757, Zweiter
Theil 1765, ift eine für ihre Zeit ſehr achtungswerthe Sammlung.
Noch ausſchließlicher mit dev älteren deutſchen Dichtung beſchäftigen
fi) mande unter den Heineren Schriften Gottſched's. So mat
er in einem Programm vom Jahr 1745 auf Heinrich's von Bel
dele Aeneide aufmerlſam. In einem anderen vom Jahr 1752 De
temporibus Teutonicorum vatum mythiois erfennt er ganz
richtig, daß die Helden unfrer voltsthümlichen altdeutſchen Epil,
Dietrich von Bern und feine Genofen, der Zeit der germaniſchen
BVölferwanderung, die Gebichte aber, die wir über fie beſitzen, erſt dem
fpäteren Mittelalter jeit dem 12. Jahrhundert angehören. Dürfen
wir nun aud Gottſched's Einfiht in den Werth unfrer altdeut-
ſchen Dichtungen nicht gar hoch anſchlagen, fo fehen wir ihm doch
fort und fort bemüht, feine Kenntniffe auf dieſem Gebiet zu erwei⸗
tern 1) und das Gefundene in feinen Zeitſchriften 2), Programmen
1) ®gl. De temporibus Teutonicorum vatum mythieis, Lips. 1752,
p. ZU. — 2) So namentlich in ben Beyträgen zur Critiſchen Hiforie ber
Deutfchen Sprache, Poeſie und Veredſamkeit, acht Bände, Leipz. 1732—174,
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 209
uf. m. mitzutheilen. Und daß Gottſched doch nicht ohne Sinn
fir das Kernhafte der volksthumlich deutſchen Spruchweisheit war,
bemeift die „Sammlung einiger Kern und Gleichnißreden der
detſhen Sprache im feiner deutſchen Sprachtunſt, und die Art,
mie er dieſelben einführt 1).
Schon zu Gottſcheds Lebzeiten war feine deutſche Sprachlehre
von Johann Michael Heinze, Mector zu Lüneburg, (f 1790)
wiſtict und Bitter angegriffen worden ?). Aber es mährte ger
tume Zeit, bis fi eine andere deutſche Grammatik zu dem An⸗
iin aufihwang, das bie Gottſched'ſche genoſſen Hatte. Weber
Job. Siegm. Popowitſch's (geb. 1705 unweit Stubenig in
Unermart, + 1774) Aufongsgründe der Teutſchen Sprachtunft,
Biem 1754, noch Frieder. Carl Fulda’s Grumbregeln ber
Tenfen Sprache, Stuttgart 1778 3), waren dies im Stande.
Einer ausgebreiteteren Wirfamleit erfreute fih Joh. Friedr.
deynag (geb. zu Havelderg 1744, Rector an der Oberſchule und
Prof. an der Univerfität zu Frankfurt an der Ober, + 1809)
Seine Deutjge Sprachlehre zum Gebrauch der Schulen, Berlin
1770, erlebte noch 1808 eine fünfte Auflage ), und feine Briefe
ud im Neuen Bücherſaal der ſchönen Wiſſenſchaften und freien Künften, zehn
ir ring, 17451754.
1) Goniſched's Deutſche Sptachtunſt, 4. Aufl, Leipz. 1757, 6.594 fg. —
Tagegen möchte ich auf das allerdings merfwilrdige Lob, das bie altbeutfchen
Die: „Walter von der Vogelweyde“ (Sp. 1635 fg), „Wolferam von
ailbah· (Sp. 1661 fg.) und andere in Gottſcheb's Handlexicon — ber
iGinen Wiffenfepaften, Leipgig 1760, erhalten, bei Gottſched's belannten An
flen über Poefie fein fehr großes Gewicht legen. Diefe Artikel rühren
gofentheife nicht von Goitſched Her, und daß er fie Hat fiehen laſſen, will
fa dem raſch fabricierten Buch micht viel beſagen. (Bgl. die Borr., Iehte
Ei). — 2) Joh. Mich. Heinzens — Anmerkungen über des Herm Pro:
Mer Botfheh’s Deutihe Sprachlehte, Göttingen und Leipzig 1759. —
9) Belonberer Abbrud aus „Der teutfche Sprachforſchet, Zweiter Teil. Stute
aut 1778°, (Gerausgegeben von Joh. Nafl) ©. 118 fg. Ueber Fulda ale
ſprechen wir weiter unten. — 4) Hoffmann, Deutsche
Pidlel. 8, 141.
Renner, dqq. der germ. Büstogte. 14
210 Zweites Buch. Vierles Kapitel.
bie deutſche Sprache betreffend, ſechs Theile, Berlin 1771 — 75,
wurden von den Beitgenofien geihägt ). [
Aber der eigentliche Erbe von Gottſched's tonangebender Stel
lung, der den Ruhm feines Vorgängers auf dem Gebiet der
Deutſchen Grammatik weit Hinter fi Tieß, war Jo hann
Chriſtoph Adelung. Geboren am 8. Auguft 1732 in dem
Dorfe Spantelow bei Anklam, wo fein Bater Pfarrer war, be
ſuchte Adelung die Schulen zu Anklam und Klofterbergen und fir
dierte dann auf der Univerfität Halle. 1759 ward er Profeſſor
am evangeliihen Gymnafium zu Erfurt, ſah fi aber auf Veran
laffung eines Streits zwiſchen der dortigen proteftantifen Ge—
meinde und ber Regierung, in welchem er bie Gerechtſame feiner
Confeſſionsverwandten zu vertheibigen übernommen Hatte, genöthigt,
Amt und Ort fänell zu verlaffen. Er floh nad Leipzig, wo er
mit Eorrecturen, Weberfegungen und eigenen jchriftftellerifgen Ar-
beiten ſich feinen Unterhalt mühfam erwarb. Mit ftaunenswertiem
Fleiß förderte er eine lange Reihe ber verfciebenartigften Werte
zu Tage. Darunter neben vielen anderen eine Geſchichte der Phi⸗
Iofophie für Liebhaber, Leipzig 1786, drei Bände; einen Kurzen
Begriff menſchlicher Fertigfeiten und Kenntniſſe, Leipzig 1778,
2. Auflage, 1783—89, vier Bände; einen Verſuch einer Geſchichte
ber Kultur des menſchlichen Geſchlechts, Leipzig 1782; eine Ge
ſchichte der menſchlichen Narrheit, Leipzig 1785—89, fieben Bände;
aber and) feine Fortfegung von Jöcher's Gelehrtenlegiton, Leipgig
1784, zwei Bände; fein Neues Lehrgebäude der Diplomatil, Erfurt
1760, drei Theile, und fein Glossarium manuale ad scriptores
mediae et infimae Iatinitatis, Halae 1772 — 84, ſechs Bände;
vor allen aber feine Wörterbücher und Grammatilen der deutjhen
Sprache, über die wir nachher einen eingehenderen Bericht zu er⸗
ftatten Haben werden. Im Jahr 1787 nahm Abelung einen Ruf
als Hofrath und Oberbibliothefar in Dresden an. Hier wid⸗
mete er bie Zeit, die ihm feine bibliothekariſche Thätigfeit übrig
1) Aber wie wenig gränblid die Kenntniffe dieſes Sprachforſchers waren,
barüber vgl. z. B. bie oben angef. Briefe, Thl. V, ©. 71 fg.
Die germanifhe Philologie in Deutjland von 1748 bis 1797. 211
Reg, mit vaftlofem Fleiß linguiſtiſchen und hiſtoriſchen Studien.
Roh am jpäten Abend feines Lebens unternahm er feinen Mithri-
dates ober allgemeine Sprachenkunde. Aber er vollendete bloß ben
erften Theil, während der Bearbeitung des zweiten ward er am
10. September 1806 vom Tod abgerufen 1).
Sowohl zur lerilaliſchen, als zur grammatiſchen Bearbeitung
der deutſchen Sprache wurde Abelung zunächſt durch äußere Um-
fände veranlaßt. Wenige Jahre vor feinem Tode hatte Gottſched
ein deutſches grammatifches Wörterbud) angekündigt. Aber das Wert
war nicht über biefe Ankündigung und einen zugleich ausgegebenen
Probebogen Binausgelommen. Da veranlafte nach Gottſched's Tode
der Buchhändler Breitkopf in Leipzig Abelung, die von Gottſched
begonnene Arbeit auszuführen. Abelung gieng barauf ein; ba ihm
aber außer dem angeführten Probebogen nichts von Gottſched's
Sammlungen zu Gebote ftand, auch die oberflächliche Art, in ber
Gottſched verführen war, von ber Benutzung feiner Papiere nichts
erwarten Tieß, jo mußte Abelung fein Wert vom Grund aus auf
bauen 2). So entftand fein Verſuch eines vollftändigen gramma-
tich-kritiſchen Wörterbudes der Hochdeutſchen Mundart, mit beftän-
diger Bergleihung der übrigen Mundarten, befonders aber ber
oberdeutſchen, 5 Theile, Leipzig 1774— 1786 3). Das Werk be-
fHäftigte Adelung eine lange Reihe von Jahren und fand einen
1) Die obigen Angaben über Adelung's Leben find dem Artikel Ader
lung in Erfä's und Gruber’ Encyelopäbie, Thl. 1, Leipz. 1818, S. 404 fg.,
anommen. Da biefer Artikel von Ebert, Adelung's fpäterem Nachfolger an
ber Dreöbner Bibliothek, herrühtt, fo wird man annehmen dürfen, daß feine
Angaben zuverläffig find. Nichtsdeſtoweniger bleibt es auffallend, daß Meufel
im Neuen Titerarifcen Anzeiger 1807, Sp. 799 „auf Ehre verfichert“, Ade ⸗
hung ſelbſt Habe igm mitgeteilt, daß er am 80. Auguft 1734 geboren fei,
wihrend Ebert dem gegenüber auebrüdtich jagt: „Abelung war am 8. Aug.
1732 (nit 30. Auguft 1734)" geboren. — 2) ©. bie Vort. zum Erſten
Zeil von Aelunge's Wörterbud) (1774) ©. U fg. — 3) Auf dem
Viel dieſer erfien Ausgabe ment fi Adelung mit, wohl aber unter ber
Borrebe.
14*
212 Zweites Buch. Biertes Kapitel
ungewöhnlichen Beifall. Bevor noch die erfte Auflage vollendet
war 1), machte fih ſchon das Bedürfniß einer neuen geltend. Diefe
erſchien unter dem Titel: Grammatiſch- kritiſches Wörterbud der
Hochdeutſchen Mundart —. Zweyte vermehrte und verbeſſerte
Ausgabe, vier Theile, Leipzig 1798 — 1801 2). Obſchon Abſicht
und Anlage des Werts im Wejentlicen dieſelben blieben, war doch
das Ganze von neuem durchgearbeitet und an unzähligen Stellen
verbefjert und vermehrt 3). Wie feft Adelung's Auf ſchon durch
die erfte Ausgabe feines Wörterbuchs gegründet war, zeigte fih
bereits vor beren Abichluß. Im Jahr 1779 befahl Friedrich der
Große, „eine gute teutſche Grammatik, bie bie befte ift, in den
Säulen zu gebrauden, es fei nun die Gottſchediſche, oder eine an
dere, bie zum beften ift“ 4). In Folge deſſen forderte fein Minis
fter, der Freiherr von Zeblig, Adelung auf, eine deutſche Sprach⸗
lehre für Schulen zu ſchreiben. So entſtand Adelung's erſtes
grammatiſches Wert, ſeine „Deutige Sprachlehre. Zum Gebrauche
der Säulen in ben Königlich Preußiſchen Landen. Berlin 1781.
In demſelben Jahr erſchienen, wie Kants Kritit der reinen Ver⸗
nunft, iſt Adelung's Sprachlehre auch demfelben preußiſchen Staats
miniſter von Zedlitz gewidmet, wie das epochemachende Wert des
großen Königsberger Philoſophen. Adelung's übrige grammatifge
Arbeiten führen wir weiter unten an und erwähnen Hier nur noch
fein Bud) „Ueber den deutſchen Styl“ (Leipzig 1785), feine Schrift:
Jacob Püteri) von Reicherzhauſen. Ein Heiner Beytrag zur
Geſchichte der Deutſchen Dihthmft im Schwäbiſchen Zeitalter"
Leipzig 1788, und feine „Aeltefte Geſchichte der Deutſchen, ihrer
Sprache und Literatur, bis zur Völkerwanderung,“ Leipzig 1806.
1) Des „Fünften und legten Theils Erſte Hälfte“, Leipzig 1786, floh
zwar das Wert mit dem 3 ab, aber bie Zweite Hälfte, welde „Werbefferum
gen und Zufäge" zu bem ganzen Werk enthalten ſollie (Wortebe zu V, l,
2. 2) iſt nicht erfienen, weil inzwiſchen die neue Auflage im Anzug mat
— 2) Zwölf Jahre nach Abelung's Tob im Jahr 1818 erfhien nad) einet
fünften ober Gupplementbandes Erſtes Heft. — 8) Bol. Adelung's Bir
ierbuch Thl. I. 2, Ausg., Leipzig 1798, Vort. ©. VII. — Preub,
Sriebrich der Große, Bb. II, Berlin 1833, ©. 116,
Die germanifäje Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 218
Wenn man bie Unmaſſe von Schriften überhlidt, bie Abelung
anf ben verfchiebenartigften Gebieten veröffentlicht hat, und dabei
in Betracht zieht, daß er zur Bearbeitung feines deutſchen Wörter⸗
bus und feiner deutſchen Sprachlehre erft von außen veranlaft
mie, fo könnte man auf den Gedanken kommen, Abelung fei ein
rielſchreibender Polyhiſtor geweſen, der ohne Zuſammenhang bald
dies und bald jenes ergriff und ohne inneren Beruf durch den
bloßen Zufall eben auch auf die deutſche Sprachforſchung gerieth.
Über bei einer ſolchen Annahme würde man ſich über dieſen merk⸗
mirdigen Mann gänzlich täuſchen. Vielmehr hängen faft alle feine
Unternehmungen, fo verſchiedenartig fie zu fein ſcheinen, auf das
engfte zufammen. Wir müſſen deshalb, um feine Leiftungen auf
dem Gebiet ber deutſchen Sprachforſchung richtig zu beurtheilen,
mörderft etwas näher auf feine allgemeinen Anſichten über Wiffen-
ſcaft und Leben eingehen. Adelung's Entwidlung fällt in die Zeit,
als die durch Chriftion Wolff verflachte Leibniziſche Philoſophie ſich
in den weiteſten Kreiſen verbreitete. Hatte ſchon Wolff den Leib⸗
nisiihen Ideen mancherlei Fremdartiges beigemiſcht, fo war dadurch
der Weg gebahnt zu dem bunten Efleftiismus, ber vor dem Auf
treten Kant's die Geifter in Deutſchland beherrſchte. Adelung
ſelbſt fpriäht dies mit den Worten aus: „Daher hat in ben neues
ften Zeiten faft jeder Philofoph von Kopf und Scharffinn fein
eigenes eflektiiches Syftem, worin dod die Leibnitziſch⸗Wolfiſchen
Snpothefen bald mehr bald weniger zum Grunde liegen“ 1). Aug
Welung's philoſophiſche Anfihten find natürlih beeinflußt von
img. Aber man würde fi täuſchen, wenn man bie Quellen
feines Dentens vorzugsweife bei Leibniz fuchte Er kann natürlich
nicht umhin, deſſen „Scharffinn und ſchnelle und durchdringende
Veurtheilungskraft· anzuerkennen 2); aber feine Philoſophie iſt ihm
eigentlich im Grund der Seele verhaßt. Leibniz, ſagt er, Hat ſich
bemüht, das Gebiet der Philoſophie „in den gränzenloſen Regio⸗
nen der Möglichfeit von neuem zu befeftigen“ 3). In Bezug auf
1) Geſchichte der Philoſophie für Liebhaber, vd. 3 (1787), ©, 425. —
% Ehend, Vd. 8, ©. 404. — 8) Ebend. Bb. 3, ©. 408.
214 Zweites Buch. Viertes Kapitel.
Leibnizens Beftrebungen, bie Philofophie mit der Hriftlihen Reli⸗
gion auszuföhnen, ift er nicht abgeneigt, an deſſen Ehrlichkeit zu
zweifeln *). „Die Lehre von den angebohrnen Begriffen”, fagt er
dann ferner, lann ich Teinem Philofophen vergeben, und am wenig
ften einem Leibnig; fie ift eine Frucht des hohen Werthes, welden
er auf die Speculation fegte, und feines Hanges zur Platoniſchen
Bhilofopfie" 2). Diefe „Vorliebe für bie Pantheiſtiſchen Syfteme
und befonbers für den Plato“ 2) ift nad) Adelung ein Hauptfehler
des Leibniz. Wenn dagegen Abelung von ber Leibniziſchen Ein-
theilung der Begriffe in Mare und dunele u. ſ. f. einen oft wie
derfehrenden Gebrauch macht, fo bemerkt er felbft, daß Leibniz hier
größten Theils dem des Cartes folgt" 3). Nicht Leibniz, fondern
Rode ift es, am deſſen Grundgedanken Adelung vorzugsweiſe an
tnüpft. „Unter allen (Verbeſſerern der Logif), jagt er, fam einer
der Wahrheit näher, als der berühmte Engländer, Johann Kode,
welcher der erfte war, der von ber Erfahrung und Beobachtung
ausgieng, an ihrer Hand das alte Stedenpferd der angebohrnen
Begriffe verſcheuchte, und den Urfprung aller unferer Erkenntniß
da fand, wo er wirklich zu ſuchen ift, in der Empfindung durch die
Sinne” ). Wie mit dem Grundgedanlen Lode’s, fo fühlt ſich Ade⸗
lung vor allen mit der ganzen Art und Weife des Chriftian Tho-
mafius verwandt. In ihm ſieht er „den Urheber der Aufklärung
und des philoſophiſchen Geiftes, welche fi feit dem Anfang des
gegenwärtigen Jahrhunderts über Deutſchland, und befonders
deſſen nördliche Hälfte verbreitet Haben“ 5). „Seine fpeculativifhe
Bhilofophie, die Geiſterlehre abgerechnet, ift noch die vernünftigfte,
die bisher war gelehret worden” 6). „Ex Hatte die Sinne ſehr
richtig als die einzige Quelle unferer vernünftigen Erkenntniß ans
1) Ebend. 8b. 3, ©. 408 fg. — 2) Ebend. Bb. 3, S. 400. —
3) Ebend. Bd. 8, S. 409. Vgl. 8b. 3, S. 370. Ueber fein Verhältniß zu des Gartes
in biefer Beziehung fpricht ſich Leibniz in ben Nouveaux essais sur l’enten-
dement humain Liv. I, ch. 29 (Rafpe's Ausg. ©. 213) aus. — 4) Ge
ſchichte der Philoſophie für Liebhaber, Bb. 3, S. 442. Bol. 6.445. —
5) Ebend. Bd. 3, ©. 389. — 6) Ebend. Bb. 3, ©. 392..
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 215
genommen, unb gefunden, daß alle abftracte Begriffe Bloß von ber
groben Körperwelt um uns Her abgeriffen find“ 1). „Ex haſſete
und verfolgte den Hang (ber bisherigen ſectiriſchen Philofophie)
m unnützen Speculation aus bem ſehr wahren umb richtigen
Grundfage, daß die Philofophie kein müßiges Spiel des Verftandes
md Scharffinnes feyn, fondern das Glüd des Menſchen im gefell-
ſhaftlichen Leben befördern müſſe“ 9. Wenn aud Leibniz, Newton
und Andere „mit mehr Tieffinn und Abſtraction philofophtret ha⸗
ben,“ als Thomafius, fo find doch „feine Bemühungen dem menſch⸗
fihen Geſchlechte unendlich wohlthätiger geworben, als die ſcharf⸗
finigften Hypotheſen diefer Männer.” Daß er „den Glauben an
Seren und andere Teufeleyen“ verbannt und dadurch Myriaden
unſchuldiger Perſonen das Leben gerettet hat,“ „ift mehr werth,
als der ganze Speculations⸗Kram aller Philofophen zuſammen ge-
nommen“ 3). Aus den angeführten Stellen ergibt fi Adelung’s
philoſophiſcher Standpunkt, und wir wollen nur noch einiges We:
mige Hinzufügen. Die Hauptaufgabe dev Phikofophie ift nach Ade-
kung die Gemeinnügigfeit, und das vorzüglichite Mittel hiezu ſieht
er in den Naturwiſſenſchaften. Sie bilden die Grundlage aller gefun-
den Philoſophie. Ihre Vernachläſſigung bei den Griechen und ihr
großartiger Betrieb in unferer Zeit hebt die neuere Philofophie
weit über die antife. Der jetzige philoſophiſche Geift ift „beſon⸗
ders eine Folge der in den neuern Zeiten erwedten und verbreite-
ten Naturkunde, worin fein großer Vorzug vor dem philoſophiſchen
Geifte der Alten beftehet, der aus Mangel an einer nur erträg-
lihen Kenntniß der Natur und ihrer Kräfte immer noch an tauſend
Arten des gröbften Aberglaubens lebte" 4). Aber was Abelung
mter der Philofophie der Neueren verfteht, ift nicht ein beſtimmtes
Softem, eine „philofophifge Secte.” Vielmehr „war es Thorheit,
die eibnitziſchen Hypotheſen in ber Folge für unumſtößlich auszu⸗
1) Ebend. Bd. 8, ©. 394. — 2) Ebend. 8b. 8, S. 880. —
3 Ebend. Bd. 3, ©. 800. — 4) Ebend. Dh. 3, ©. 462. Bel. Bb. 2,
8.100. ®b. 3, 427. 432-433. 449—450. 459. Bol. Abelung, Aelteſte
Geſchichte der Deutſchen, Leipz. 1806, S. 307.
216 Zweites Bud. Viertes Kapitel.
geben." „Wenn die fyftematifche Philofophie auf ſolche Abwege
geräth, fo ift ihr die eklektiſche unendlich vorzuziehen, melde bie
Wahrheit von ber Hypotheſe forgfältig unterfeibet, jene nimmt,
wo fte felbige findet, und kein Syſtem zu erfünfteln ſucht, wo bie
Natur der Dinge es nicht verftattet 1),
Wenn wir bie eben bargelegten philoſophiſchen Grundanfichten
Adelung's im Auge behalten, fo wird uns au Mar werben, daß
feine verſchiedenen Arbeiten 2) auf das engfte zufammenhängen und
wechfelfeitig in einander greifen. Auf dem Grunde jener Anfichten
erbaut fi Adelung eine Kulturgeſchichte des menſchlichen Ge⸗
ſchlechts, und in diefer Kulturgeſchichte bildet wieder bie Sprade
eins der wichtigſten Glieder. Auf dieſem Gebiet fand Adelung
zwei Vorgänger, mit denen er im Wefentlihen übereinzuftimmen
glaubte und auf die er deshalb öfters verweilt. Der eine berfel-
ben war Herder 3) in feiner Berliner Preisſchrift über den Ur-
fprung ber Sprache (Berlin 1772); der andere Fulda in feiner
Göttinger Preisfehrift über die beiden Hauptdialelte der deutſchen
Sprade (Leipzig 1778). In Herder's „vortreffliher Abhandlung“
ſieht Adelung dieſelbe Grundanſicht von der Sprade, auf die er
felöft fon vor dem Drude ber Herder'ſchen Schrift „durch die
Sprache ſelbſt geleitet wurde,“ (baf fie nämlich „Nachahmung mit
Beſonnenheit ſei,“) „auf eine überzeugende Art aus Vernunftſchlüſſen
erwieſen“ +). Mit Fulda aber fühlt er fi in Anſehung der Eiy-
mologie der Wörter fo einig, daß er deſſen Preisſchrift in den
erften Theil feines deutſchen Wörterbuchs aufnehmen läßt. Daß
Abelung ſich in feinen Anſichten vielfad; mit Herder und mit Zulda
berüßet, unterliegt Teinem Zweifel, aber eben fo wenig läßt fih
vertennen, daß er doch ſowohl dem Einen, als dem Anderen viel
1) Ebend. 8b. 1, S. 17. — 2) Natürlich ſehen wir hier ab von
manden bloß buchhändleriſchen Nebenarbeiten. — 3) Ueber Herber ſ. u.
— 4) (Mbelung) Verſuch eines geammatifch + krit. Wörterbuds ber God:
deutſchen Mundart. Thl. 3, Leipg..1777, Vorr. BL. 2 Bel. BL. 3, und be
ſonders auch Magazin für die Deutſche Sprade, Erſten Jahrgangs viertes
Stüd, Leipzig 1783, ©. 10.
Die germanifhe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 217
ferner ftanb, als er anfänglich glaubte. In Betreff Fulda's hat
a dies ſelbſt fpäterhin eingefehen und darum deſſen Preisſchrift in
die zweite Ausgabe feines Wörterbuchs nicht wieder aufgenommen 1).
Melmg’3 Anfiäten über die Entwicklung der menſchlichen
Yultır und der menſchlichen Sprache find nämlich im Weſenllichen
dieſe: Wie alle unſere Erkenntniß von den Sinnen ausgeht, fo
hat fi auch das menſchliche Geſchlecht aus einem ganz ſinnlichen
Zuftand allmählich zur Kultur emporgearbeitet. „Cultur“, fagt
Welung, „ist mir der Uebergang aus bem mehr finnlichen und
thieriſchen Zuſtande in enger verſchlungene Verbindungen bes ge
ilfeffigen Lebens. Der ganz finnlice, folglich gang thierifäe
duftand, der wahre Stand der Natur ift Abweſenheit aller Cul⸗
tr" 2). Die allmählige Vermehrung der Menſchen führt fie zur
Kultur. „Was den Menſchen zur Eultur beſtimmen ſoll, ift nichts
anders, als Vollsmenge im eingeſchränkten Raume* 3). Unter die
Stũde, die zur Cultur gehören, rechnet Adelung vorzüglich auch
die allmählige Abnahme der ſinnlichen oder bunfeln Begriffe und
ihret Herrſchaft·, und die „eben fo allmählige Zunahme der deut»
fihen Begriffe, ober der vernünftigen Erfenntniß, und ihrer Herr⸗
ſcaft über die vorigen“ %. Hiemit hängt auf das engfte zuſam⸗
men die Entwidlung der Sprache. Der Menſch ift nämlich mit der
bloßen Anlage alles deſſen, was er werben follte, aus ber Hand
des Schöpfers hervorgegangen 5). „Aber worin beftand diefe Mög-
fihleit, diefe Anlage? Wir können fie ohne Gefahr zu irren, in bie
Sihigteit fegen, fid feiner Empfindungen bewußt zu feyn, aber
fi ihrer nicht allein bewußt zu feyn, fondern aud durch wieder:
hohlte Aufmerkfamfeit fi von dem empfundenen Dinge ein Mert-
mahl abzureiſſen, vermittelft folder abgeriffenen Merkmahle nicht
1) Kelung, Grammatiſch⸗krit. Wörterbuch u. ſ. w., 2. Ausg., Thi. I.
&iy, 1798, Wort. S. VII. — 2) (Mbelung) Verſuch einer Geſchichte
der Eultur des menfchlichen Geſchlechts. Leipzig 1782, Vort. 8.3. —
3) Berfuch einer Geſch. ber Eultur, Vorr. BI. 4. Bel Bi. 7. — 4) Ber:
nd einer Geſch. der Gultur, Vorr. BI. 8. — 5) Verjuch einer Geſch. ber
Cult, 6.9.
218 Zweites Buch. Viertes Kapitel.
alfein Mare, fondern auch allgemeine Begriffe zu bekommen, und
die auf folde Art erworbenen Begriffe wieder zur Verbeſſerung feines
Auftandes anzuwenden, Turz in dem, was Herder mit einem
glücklich wieder erneuerten alten Worte die Befonnenheit nennt;
ein Vermögen, welches den Menſchen von den Thieren unterjchei-
det, ihn zu dem macht, was er ift und werben Tann“ '). Dies
Vermögen „ift zugleih der Grund der Sprade” 2). „Diele ift
von Menſchen erfunden“ 3). „Sprache und Erkenntniß ftehen in
dem genaueften Verhältnig mit einander” 4). „Die Sprade iſt
der erfte und widtigfte Schritt zur Eultur, das, was den Men-
fen aus ber Claſſe des Thierreiches heraus hebt, und ihn eigent-
lich zum Menſchen macht“ 5). Er lernt, „fi ein hörbares Mert-
mahl von dem Dinge, welches den Eindrud auf ihn machte, abzu-
reiffen, und vermittelft diefes Merkmahles hat er num auch einen
Haren Begriff, der ihm zugleich in den Stand feet, ſich des Din-
ges und ber Empfindung von bemfelben wieder zu erinnern“ ©).
Denn bie Sprade ift durchaus nit aus willkürlich gewählten oder
verabrebeten Zeichen entftanden 7). In der Zeit, in welcher er die
Sprache erfindet, ift der Menſch noch ganz finnlih. Er verfährt
dabei nicht nach dem Bewußtſein Har erkannter Gründe, fondern
hängt ganz von dunfelen Vorftellungen ähnlicher Fälle ab, „weil
er feine Hare und deutliche Erkenntniß erſt mit und durch die
Sprade erhält“ 8). „Ein rohes, wildes oder Halb wildes Bolt
lebt ganz ſinnlich, Hat daher nur wenig Begriffe, feine Sprache er-
ſtredt ſich felten weit über die Gränzen der finnlihen Gegenftände
und Veränderungen, bie es um fih hat, und fein Ausbrud beriel-
ben ift eben fo Hart und ungeſchlacht als feine Empfindungswerl-
1) Berfuch einer Geſch. der Cultur, S. 10. — 2) Verf. einer Geld.
ber Eultur, ©. 11. — 8) Ebend. ©. 12. — 4) Ebend. ©. 13. —
5) Eben. ©. 19. — 6) Ebend. 6.20. — 7) Abelung gegen Mei⸗
ner, im Magazin für die Deutſche Sprache, Erften Jahrg. erſtes Stüd (1782)
S. 134. In biefem Punkt fiimmt Adelung nit mit Loce, fondern mit
Leibnib. ©. o. S. 161. — 8) Nelung, Umfländliches Lehrgebäude ber
Deutſchen Sprache, Leipz. 1782, I. ©. 94. Vgl. ©. 9.
Die germanifhe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 219
zeuge und Sprach⸗Organen“ ?). „Die Urfprünge der Wörter fallen
allemahl in die roheſten Zeiten jedes Volkes, wo es Feine andern
als ganz ſinnliche Borftellungen hatte und haben konnte, wo folge '
lich die ſinnlichſte Erklärung allemahl die wahrſcheinlichſte ift* 2).
In dieſe Periode der Sinnlicteit fällt der Urſprung des Ge—
ſchlets der Hauptwörter. „Da man einmahl alle ſelbſtändigen
und als ſelbſtändig gedachten Dinge durch äußere Merkmahle in ge⸗
wiſſe Claſſen tHeilen wollte, fo würde man dieſes Mittel auf eine
überaus nügliche und fruchtbare Art haben anwenden Können, wenn
man einen ſchicklichern Eintheilungsgrund gewählet Hätte, als das
Geſchlecht. Allein alsdann Hätten die Urheber der Sprache wenig-
ftens deutliche Begriffe von den Dingen haben müffen, die wir
doch hei ihnen noch nicht annehmen können. Daher bleiben fie bet
dem allerſinnlichſten und unſchicklichſten Mertmahle ftehen, welches
man fi nur denken Tann, und ba fie an fih und an den Thieren
zweyerlei Geſchlecht bemerkten, jo wendeten fie foldes auf alle
übrige, wahre ober eingebildete Subftanzen an, und pflanzten da⸗
durch den überzeugendften Beweis von der Kindheit ihres Verſtan⸗
des auf ihre Nachkommen fort“ 3). Erſt ganz allmählich ſchreitet
die Sprache zugleich mit der Vernunft zu immer größerer Boll»
Iommenheit fort. „Denn Sprahe und Vernunft gehen Hand in
Hand, und klären ſich wechſelsweiſe auf. Beyde knüpfen fih an
dunlele Eindrüde an, und ſchreiten nur ſtufenweiſe zu Hören Be»
griffen fort” 4%. „Die anfänglich noch ſehr buntele Erkenntniß Häret
fh immer mehr und mehr auf, die faltblütige Vernunft gewinnet
der Sinnlichleit immer mehr Feld ab, der Verſtand veiffet ſich im-
mer mehr von den Feſſeln des Irrthums ber Sinne Los" 5),
Denſelben Gang von der Dunkelheit zu immer größerer Klarheit
niumt die Sprache. Anfänglich werden nur einſylbige Wörter neben
1) Ebend. J. S. 7. — 2) Ebend. I, &. 7. — 3) Umfländlices
Aehrgebäube I, ©. 346. Vgl. Magazin für bie Deutſche Sprade, Erſten
Rihranges viertes Stüd, 1783, ©. 3 fg. — 4) Abelung, Mithribates,
Erfter Theil, Berlin 1806, Einleitung ©. V. — 5) Magazin für bie
Deutche Sprache, Erften Jahrganges zweytes Stüd, 1782, ©. 3.
220 Zweites Buch. Vierles Kapitel.
einander geftelit, ohne die Beziehungen, durch welche fie verfnüpft
find, zu bezeichnen. Diefe Stufe der Sprachbildung haben uns die
Sprachen von China, Tibet, Ava, Pegu, Siam, Tunkin und Eot-
ſchinſchina erhalten. „Alle diefe großen Länder, und zwar nur
diefe im der ganzen bekannten Welt allein, verraten in ihren
Spraden noch ganz das Unvollkommne ber erften Spradbil-
bung” 1). „Sie haben noch die erſte rohe Urſprache beibehalten“ 2).
Ein großer Fortſchritt war der Uebergang zur Flexion. Aber doch
würde man irren, wenn man bie Flexion für etwas Anderes, als
ein ſehr umvolltommenes Mittel Halten wollte. „Es läßt fih nämlich
bemeifen, daß die Flexion zwar anfänglich ein brauchbares Mittel
war, Verhältniffe und Nebendegriffe dunkel zu bezeichnen, indem
diefe dunkele Bezeichnung doch mehr Verſtändlichkeit gemährete, als
gar Teine; daß aber ber menſchliche Geift, fo wie er einfehen lernte,
daß diefe dunkele Vorftellung zur Flaren erhoben werben müffe,
dieſen Weg wieder verließ, und da, mo er von dem Verhältniſſe
und Nebenbegriffe are Begriffe haben Tonnte, ber Flexion bie
Umſchreibung vorzog" 3). Daher bilden die neueren Spraden
einen entſchiedenen Fortſchritt gegenüber dem Griechiſchen und La⸗
teiniſchen. Was diefe mur dunkel durch Biegungsſylben bezeichne ⸗
ten, das brüdt das Italieniſche, Franzöſiſche u. ſ. f., und ebenſo
das Deutfhe durch befondere Wörter aus. „Gewiß aus Feiner
andern Urſache, als aus der dunklen Ueberzeugung, daß es unſchicklich,
und der Abficht der Sprade zuwider ift, das dunkel auszubrüden,
wovon das menſchliche Geſchlecht ſich endlih klare Begriffe erwor-
ben Bat“ 4. „Es hat freilich feine Richtigfeit, daß eine Sprade,
deren Ausdrüde noch viel von dem urſprünglichen Bildlichen an
fi Haben, und welde in ihrem Baue eine gewiffe dunkele Kürze
bat, wobey fie nur bie hervorftehendften Begriffe ausbrüdt, die
1) Abelung, Mirgridates, Erfler Theil, 1806, ©. 18. — 2) Ebend.
S. 10. — 3) „Beweis ber fortigreitenden Cultur des menſchlichen @eiftee
aus ber Vergleichung der älteren Sprachen mit ben neuern.” Im Maga
für bie Deuiſche Sprache, Erſten Jahrganges zweytes Stüd, 1782, ©.13. —
4) Ebend. S. 17,
Die germanifcge Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 221
Rebenbegriffe aber errathen läßt, für die Dichtung bequemer ift,
d8 eine andere; daher find es bie Griechiſchen und Römiſchen
mehr als die neuern Europäiſchen Sprachen, und die ältern morgen«
lindifgen mehr als jene, und die urſprüngliche Sprache war ver-
muthlih die volltommenfte Dichtung, die man fi nur gedenken
lann, weil da jeder Ausbrud nicht allein ein ſinnliches Bild, fon-
dern felöft ein tönendes Bild war. Allein, die Dichtung ift denn
doch nicht die weſentlichſte Abſicht weder der Sprache, noch bes ger
ilfaftlichen Lebens, fondern nur eine Nebenzierde, welde höhern
Borzügen billig nachftehet. Freylich verlieren die neuern Spraden
immer mehr in Anfehung der Dichtung, je mehr fie ausgebildet
werden, ober vielmehr, je mehr der menſchliche Geiſt feinen Wachs⸗
thum am Klarheit und Deutlicteit auch auf fie anwendet; aber
da biefer Wachstum ein wahrer Gewinn ift, fo Tann jenes auch
gein wefentlicher Nachtheil ſeyn, da es eine nothwendige Folge bier
es Gewinnes ift“ %). Daß hier ber Gewinn unbebingt auf Seite ber
Reueren ift, ergibt ſich fhon aus der Stellung, welde die Poeſie
in Lreiſe der menſchlichen Thätigkeiten einnimmt. Die Poeſie hat
& nämlich mit dem zu thun, „was auf bie untern Kräfte, vor«
vehmlih aber auf die Einbildungskraft, die Gemüthsbewegungen
amd den Wig wirkt“ 3. Dagegen ift die Profa „zunächft auf den
Berftand gerichtet, fo daß die Rückſichten auf die untern Kräfte nur
fällige Verſchönerungen find" 9). Adelung ſchließt fih Hier ber
Aetgetit des Alexander Baumgarten an *) und zieht aus berfelben
öolgerungen, die ſehr zum Nachtheil der Poefie ausfallen. Unter
der Ueberſchrift: „Wohbeit der Sprache bei rohen BVöllern,“ fagt
@: „Je weniger aufgefläxt ein Volt ift, befto ftärker find Key
demfelden die untern Kräfte, befonders bie Einbildungskraft und
die beidenſchaften, und dieſe bruden denn auch ihr Gepräge der
ganzen Sprache auf, die dadurch in diefem Zuſtande für die Dicht.
1) Ebend. ©. 25 fg. — 2) Abelung, Ueber ben Deutſchen Styl,
water u. britier Teil, Berlin 1785, ©. 252 fg. — 3) Ebend. ©. 258,
— 4) Bel. ebend. ©. 254, und (Mdelung) Kurzer Begriff menſchlichet Fer⸗
igeiten amd Kenntniffe, Dritter Theil, zwehte Aufl,, Leipg. 1786, ©. 247.
222 Zweites Bud. Biertes Kapitel.
Tunft freylich bequemer ift, als in einem höhern Grabe der Eul-
tue” 1), Adelung bemerkt ganz richtig, daß ein ſolches Boll an
Ausbrüden unfinnliher und abftracter Gegenftände arm fein müfle.
Auch find wir natürlich weit entfernt, den hohen Werth, den er
auf den Verftand Iegt, beitreiten zu wollen. Aber bie Art,
wie er num diejen „oberen Kräften“ gegenüber die angeblichen „une
teren“, das heißt, bie ſchöpferiſchen Kräfte der Poefie umd ber Kunft
überhaupt behandelt, gränzt an das Unglaubliche. Der Dichter
muß „Genie“ Haben, das heißt, „die umtern Kräfte ber Seele
möffen ſich bei ihm im einem vorzüglichen Grabe der Stärke ber
finden“ 2). Das Genie ift nur eine Fähigfeit und bloße Möglich-
keit. „Soll die Fähigkeit wirklich nüglih werden, fo muß fie
nicht allein hervor gezogen, ſondern auch durch Nachdenken, Fleiß
und Webung ausgebildet, und zur Fertigkeit erhöhet werben“ ’).
Aber auch fo bleibt das Genie vergleichsweiſe nur von umtergeord- |
netem Werth. Denn „man ſchätze das Genie micht über feinen
wahren Werth. Das Genie, fo wie es in ben ſchönen und bil
denden Künften genommen wirb, beſchäftiget fi mit dem Schönen,
mit dem Schmude. Dieſer hat allerdings feinen Werth, er mag
nun in eigenen Producten auftreten, oder bloß zur gefälligen Ber-
ſchönerung des Nützlichen und Nothwendigen dienen. Allein es
ftehet doch dem letztern allemahl nad, und muß nicht zu deſſen
Nachtheil übertrieben werben. Ein rechtſchaffener Geſchäftsmann
von den zu feinem Amte nöthigen Fähigleiten iſt der bürgerlichen
Geſellſchaft unendlich brauchbarer als zehn Genies, deren Gegen
ftand immer nur das Angenehme ift“ 4). Aber nicht nur der
brauchbare Geſchäftsmann, auch der Mann von Geſchmack fteht
höher als das Genie. Erſt „in den höhern Graden der Cultur“
nömlih tritt die „Bilbung des Geſchmackes“ ein d). Das Genie
aber war zu allen Zeiten da. Es war eher, als bie Regeln
1) Ueber den Deutſchen Styl, Crfler Teil, Berl. 1785, S. 13. —
2) Ebend. (2. u.) 3, Theii, ©. 359. — 3) Ebend. ©. 369. — 4) Chen.
S. 370. — 5) (Mbelung) Verſuch einer Gedichte, ber Cultur, 1788,
Vorr. BL. 3.
Die germaniſche Philologie in Deutfhland von 1748 bis 1797. 223
‚Die Regel leitet nur das Genie, flößt e8 aber nicht ein. Das
Genie ift ein Werk der Natur, deſſen Ausbruch oder Thätigfeit
eine Folge des höhern Grades der untern Kräfte. Die Regel ift
in Werk der Erfahrung, und der falthlütigen Vernunft“ 1). „Frey
lich gab es ſchon vor Ariftoteles ſchöne Dichter und ſchöne Schrift-
fieller aller Art. Allein, entweder find es Homere, wo große
Schoͤnheiten mit großen Mängeln und Fehlern verbunden find,
oder fie befolgten eben dieſelben Regeln mehaniih, fo wie man
ſptachrichtig ſchrieb und ſprach, ehe es Sprachlehren gab. Es gibt
m allen Zeiten Genies, und immer mehr Genies als Männer,
die mit einem vorzüglichen Verftande begabt find‘ 2). „Homer’s
Epopeen, Shaleſpeare's Schaufpiele find irregulär, weil in beyden
gar oft umd ſehr wider die Regeln des allgemeinen Schünen ge
findiget wird. Wenn ber gute Geſchmack herrſcht, fo jhäget man
die einzelnen Schönheiten an folgen Werken und mißbilfiget die
Fehler, weil folge Producte nie ein ſchönes Ganzes ausmachen
fonnen“ 3).
In den Schriften, die fi mit der deutſchen Sprache beichäf-
tigen, macht nun Abelung Gebrauch von den bisher entwidelten
Anfichten. Wir können uns deshalb wohl denken, wo es ihm am
beften gelingen muß. Auf dem Gebiet der neuhochdeutſchen Schrift-
frathe bringt fein Marer Verſtand, fein nüchternes Urtheil und
fein eiferner Fleiß Werke hervor, die von einem jehr bedeutenden
Erfolg begleitet waren und eine keineswegs zu unterſchätzende Stelle
in der Geſchichte der deutſchen Sprachwiſſenſchaft einnehmen. Sein
Grammatiſch⸗ kritiſches Wörterbuch der Hochdeutſchen Mundart be
ſcrünlt ſich auf die hochdeutſche Schriftſprache feiner Zeit. Nur
weil ,verſchiedene ältere Schriften noch täglich gelejen werben, find
ad die im denſelben vorkommenden veralteten und provinziellen
Börter, Bedeutungen und Wortfügungen mit aufgeführt, follte es
1) Abelung, Ueber den Deutſchen Styl (2 u.) 3, ©. 400. — 2) Ebend.
6.401. Ueber Homer urtpeilt Adelung verfländiger in feinem Kuren Ber
gif menſchlicher Fertigkeiten und Kenniniſſe, Thl. 3 (2. Aufl.) Leipz. 1786,
8.405. — 3) Ebend. ©. 401 fg.
224 Zweites Buch. Biertes Kapitel.
auch nur geſchehen ſeyn, um ben umkundigen ober ausländiſchen
Leſer zu warnen“ 1). Innerhalb der Gränzen, die Abelung fih
Hier ſelbſt zieht, ift fein Wörterbuch unftreitig eine höͤchſt anerien-
nenswerthe Leiftung. Seine Sammlungen können natürlich nicht
vollftändig fein, aber fie find für feinen Zweck ſehr reichhaltig
Seine Vegriffsbeſtimmungen find Mar und fäarf, und fie treffen
in den meiften Fällen das Richtige. Bon Adelung's Anficten
über das Weſen des Hochdeutſchen, die aud auf fein Wörterbuch
einen ftörenden Einfluß äußern, werben wir weiter unten ſprechen
und ebenfo laſſen wir die Seite der etymologiſchen Forſchung hier
noch unberüßrt.
Seine grammatiſchen Arbeiten begann Adelung mit feiner
„Deutjhen Sprachlehre. Zum Gebrauche der Schulen in den
gbnigliſch Preußiſchen Landen“, 1781. „Die Deutſche Sprage",
fogt .er in feiner Widmung an ben Minifter von Zeblit,
„auf Deutigen Schulen granimatifh zu lehren und zu lernen,
diefer eines großen Küniges und feines großen Minifters fo
würdige Gedanke, verdienet von ber fpäteften Nachwelt, melde
erſt den völligen Nuten davon einärnten wird, mit der Tehhafteften
Empfindung bes Dankes verehret zu werben.” In ber Vorrede
legt er dann die Anfichten dar, nad denen er die Grammatik ber
deutſchen Sprade zu behandelt gedenkt. „Es gibt vornehmlich
einen geboppelten Weg, die Regeln einer Spradje vorzutragen und
zu lehren: entweder, daß man basjenige, was man in ber Sprache
bemerkt oder bemerlet gefunden, unter gewiſſe allgemeine, größten
theils von Altern Sprachlehren entlehnte Rubriken neben einander
ftelle, ohne weiter zu umterfuchen, was es ift, wie es ift, oder
warum es ift; ober daß man das Weſen der Sprache im ihr felbft
auffuge, von allem was in berjelben vortommt, deutliche Begriffe
au befommen und zu geben ſuche, und ben Urſachen nachforſche,
warum das Veränberlie in der Sprade gerade fo und nicht an
ders eingerichtet ift.” Bisher habe man faft immer nur ben erfte
ven, freilich leichteren Weg eingeſchlagen. „Die Erlernung ber
1) Berfud) eines Gramm.trit. Worterbuches Thl. I, Bor. ©. II.
Cie germariſche Philologie’ in Deutfeland von 1748 Bis 1707. 225
Sprache ift dadurch ein bloßes Werk des Gedächtniſſes geworben,
deg welchem der Berftand auch nicht die minbefte Beihäftigung
findet, und zwar das Iangweiligfte und abſchreckendſte Gedächtniß⸗
wert, welches man fi nur vorftellen Tann, weil man ſich überalf
ganz mit dunkeln und verworrenen Begriffen behelfen mußte, und
in feinem Falle nad) Grund und Urſache fragen konnte oder
durfte.“ Er ſelbſt wolle nun dem zweiten, freilich mühfamen, aber
auch allein vihtigen Weg betreten. Er Habe fi bemüht, „das
Bein der Deutſchen Sprache in ihr ſelbſt aufzuſuchen,“ und aus
dem Gebrauche der Redetheile in der deutichen Sprache „die Gründe
hetzuleiten gefucht, warum die vornehmften Erſcheinungen in der-
felben jo und nicht anders find und feyn können.“ „Der legte
Bund war einer der ſchwerſten und mühfamften. Jede Sprache,
folglich auch die Deutſche, ift von einem ganz rohen und ſinnlichen
volle nad) dunkel empfundenen Aehnlichleiten erfunden und ausge
bildet, und ſelbſt im Fortgange der Eultur nad eben fo dunkel
enpfundenen Aehnlichkeiten erweitert, und verfeinert worden. Alles
dieſes auf deutliche Begriffe zurück zu führen, ift wicht leicht.“ „Im
der Sprache ift foldes ſchlechterdings unmöglich, wenn man nicht
53 auf ihren erften Urfprung zurüd gehet, weil die wahren Gründe
und Urfachen aller oder doch der vornehmften Erſcheinungen in der
Sprache nur hier geſchöpft, und nur aus ihm allein begreiflich ge»
nacht werben Töimen.” Man fieht, es ift ein Hohes Biel, das
Adelung ſich ftelt. Daß er dies Ziel erreicht habe, wird man
nicht erwarten. Aber jedenfalls gehört feine Deutſche Spradlehre
fir Schulen zu den Schriften, die neben feinen Mängeln auch jeine
Borzäge in befonderem Maße zeigen. ,
Seine Schulgrammatik ergänzte Adelung im folgenden Jahr
durch fein „Umftändlices Lehrgebände der Deutfhen Sprade zur
Grläuterung der Deutſchen Sprachlehre für Schulen, Leipzig 1782.”
Dier gibt er die nähere Begründung beffen, was er in der Sprach⸗
Ihe fie Schulen als Ergebniß vorweggenommen Hatte, und im
Anujchluß daran läßt er in feinem Magazin für die Deutſche Sprache
(1182— 1784) noch eine Reihe von Abhandlungen über einzelne
wichtige Punkte folgen. Hier erflärt fih nun Abelung auch ein⸗
Raumer, Gel. der germ. Philblogle.
226 Zweites Buch. Viertes Kapitel.
gehender über die Grundfragen feines Unternehmens: über das
grammatiſche Erlernen der Mutterſprache umd über das Verhältniß
der Grammatik zur philoſophiſchen Speculation. „Ob es beſſer
iſt,“ fagt er, „eine Sprade, und befonders feine Mutterſprache, gram-
matifch, d. i. mit Bewußtſeyn der Sprachregeln, oder aus bloßer
Uebung zu erlernen, ift fehr leicht zu entſcheiden, jo bald man nur
über den Vorzug ber Haren und deutlichen Erkenntniß vor der
dunfelen und verworrenen einig ift. Die Iegtere ift von einer
bloß aus der Webung erlangten Fertigleit unzertrennlich, die erſtere
aber Tann allein aus der Sprachlehre erhalten werben. Dieſe ift
in der Mutterſprache defto nothwendiger, je unverzeihlicher es ift,
ſich von Gegenftänden außer uns klarer und deutlicher Begriffe zu
befleiffigen, und fidh in Anfehung des Ganges und Ausdrudes feiner
eigenen Gedanken mit dunkeln und verworrenen zu befriedigen“ ').
Ueber das Verhältniß der Philofophie zur Sprachwiſſenſchaft fpriht
ſich Adelung fo aus: „Sprachkunſt und Logik find indeffen näher
verwandt, als man gemeiniglih glaubt. Jene beſchäftigt ſich mit
dem richtigen Ausbrude ber Gedanken, und da dieſe uns richtig
denen lehret, fo follte fie Billig vor Erlernung der Sprachkunſt
voraus gehen. Beyde klaren ſich wechſelsweiſe auf, und ein ge
ſchidter Lehrer wird einen großen Theil der Logik gelegentlich bey
der Sprachkunſt vortragen können“ 2). So fehr aber auch Abe
lung das Logiſche in der Sprache betont, fo fieht er doch recht
wohl ein, daß die Sprache keineswegs mit der Logik zuſammen⸗
fält. „Da die Sprachregeln bloße Erfahrungsjäge find," jagt er,
„so find fie auch nur wahrſcheinlich, und können nicht anders als
durch Beyfpiele erwiefen werden. Philoſophiſche Beweiſe find Hier
theils unmöglich, theils nicht hinlänglich, weil in einer Sprade
nichts vorhanden ift, wovon nicht aud das Gegentheil Statt fin-
den könnte, und in andern Spraden wirklich Statt findet” 3).
Aber nichtsdeſtoweniger „ift die Spradlehre des vernünftigen und
wiſſenſchaftlichen Vortrages eben fo ſehr fähig als eine jede andere
1) Umföndf. Lehrgebäube, Mb. I. (1782) ©. 92. — 2) Chen.
8b. I, ©. 92. — 3) Ebend. Bb. I, ©. 118.
Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 227
Lehre, und es ift die Pflicht eines jeben Sprachlehrers, allen Be
griffen in der Sprache den höchſten nur möglichen Grad der Deut-
lichleit und Beftimmtheit zu geben, und die Gründe aller Erſchein⸗
ungen fo tief aufzuſuchen, als bie Natur der Sache es verftattet.
Will man das philoſophiſch nennen, immerhin; allein alsdann
muß man auch geſtehen, daß gründlich, vernünftig und philofo-
phiſch einerfey ift, dem nur das feihte, unvernünftige und verwor-
tene entgegen ftehen Tann“ 1).
In feinem Umſtändlichen Lehrgebäude hat Adelung niederge⸗
legt, was ihm fein philoſophiſches und hiſtoriſches Studium der
deutſchen Sprache ergeben Hat. Cr beginnt mit einer Einleitung
über Sprache, deutſche Sprache und deutſche Sprachlehre. Das
ganze Werk gliedert er in zwei Theile, deren erſter umfangreichſter
vom „ber Fertigkeit richtig zu reden” handelt, während ber zweite
fig mit „der Orthographie ober Fertigkeit richtig zu ſchreiben“ be⸗
faßt. Die Lehre von der Bildung, der Biegung und der Zufam-
menfegung der Wörter ift nicht ohne richtige Bemerkungen, aber
im ganzen gehört fie zu ben Leiftungen Adelung's, die am weiter
ften hinter dem zurüdhleiben, was wir jegt verlangen; und es
tonnte dies auch bei Adelung's Verhalten zur Sprachgeſchichte, wie
wir es nachher Tennen lernen werden, nicht anders fein. Dagegen
bezeichnet fein Abfmitt „von bem Syntare oder Redeſatze“ einen
entſchiedenen Fortſchritt und hat bis in die neufte Zeit hinein auf
die Bearbeiter der beutfhen Syntag bewußt oder unbewußt einen
unverfennbaren Einfluß geübt. Namentlich finden wir die Grund»
düge von Adelung's Anfichten über die Arten der Säge bei deut-
Ken Graumatilern der verſchiedenſten Art wieder. Er führt zwar
hier, wie auch fonft öfters, Hrn. Rector Meiner als ven Gelehrten
an, der ihm in feiner Philofophiihen Sprachlehre den Weg ger
bahnt Habe 2). Aber wenn wir bie Erörterungen Meiner’s über
1) Ebend. I, S. 116. Bol. aud Magazin für die Deutſche Sprache,
rien Jahrg. erfies Stüd, 1782, ©. 13%. — 2) Umftändl, Lehrgeb.
11, ©. 567. Bot. Deutfge Sprachlehre zum Gebrauche der Schulen u. |. w.
181, Bor, 81.6. Magazin f. die Deutſche Sprache I, 1 (1782) ©. 182 fg.
15°
228 Zweites Bud. Viertes Kapitel.
die Arten der Säge mit denen Adelung's vergleichen, fo werden
wir unbedenklich Adelung das größere Verdienſt um die Aufklärung
dieſer ſchwierigen Materie zufpregen '). „Ein jedes einem Sub⸗
jecte entweder zu= oder abgeſprochenes Prädicat,“ jagt er, „maht
einen Sag aus, und da die Natur immer nur von dem Einfachern
durch unmerflihe Webergänge zu dem zufammen gejegtern fort-
ſchreitet, fo beftand in der erften Kindheit der Borfteffungen und
der Sprache die ganze Rede aus lauter folgen einfachen neben
einander geftellten Sägen, deren jeber fein eigenes Subject und
Pradicat, und auch nicht mehr als eines, allenfalls mit einigen
einfahen nähern Beftimmungen Hatte“ 2. Grit nah” umd nah
lernte man, mehrere Säge mit einander zu verbinden und fo alle
mählih die mannigfachiten Sagbildungen hernorzubringen, „welche
ſich doch insgefammt auf zwey Gefihtspuncte zurüd führen Laffen,
auf die Materie des Satzes, d. i. auf die Begriffe und Vorſtel⸗
Tungen, welche er enthält, und auf die Form befielben, welde von
der Gemüthaftellung des Sprechenden abhängt. In Anfehung der
Materie ift ein Sag entweber einfach, wenn er bloß aus dem
Subjecte und deſſen Prädicate beftehet; oder zufammen geſetzt,
wenn zwey ober mehrere Säge zu einem einigen Satze verbunden
werden, der denn folglich mehrere Subjecte mit ihren Präbicar
ten enthält. Beyde Arten find entweder nadte Säge, wenn jo
wohl das Subject als das Prädicat, ohne alle nähere Bezeichnung
ausgedrückt werben, ober ausgebildete, wenn beyde nach ihren
Verhältniffen, Eigenfhaften oder Umftänden, doch nur vermittelit
einzelner Redetheile oder Beftimmungsmwörter, 3.9. durch Adverbia,
Abjectiva, Präpofitionen mit ihren Caſibus u. |. f. näher bezeichnet
werben; ober endlih erweiterte, wenn Verhältnifie, Eigenſchaf-
ten, Umftände, Bedingungen u. |. f. zwiſchen dem Subjecte und
1) Bgl. Verſuch einer an ber menſchlichen Sprache abgebildeten Ber
nunftlegre oder Philoſophiſche und allgemeine Sprachlehre von Johaun Ber:
ner Meiner, ber Schule zu Langenfalza Rektor, Leipzig 1781, ©. 319 fg.
mit Abelung’s Umfländl. Lehrgeb. II, ©. 566 fg. — 2) Umſtändl. Lehrgeb-
1, (1782) 6. 571.
Die germanifce Philologie in Deutfhlanb von 1748 bis 1797. 229
dem Präbicate in eigenen SäYen eingefchoben, ober auch als eigene,
aber nicht vor ſich Beftehende Säte dem Prädicate angehänget wer
den. Dergleichen eingefhobene oder angehängte Sätze werben
Rebenfäge genannt, und ftehen alsdann dem Hauptfage ent-
gegen, welchem fie zur nähern Beftimmung dienen“ 1), Man fehe
fih um, was frühere deutſche Grammatifen über den Satzbau
geben, und man wird in dieſen ung jeßt fo geläufigen Beſtim⸗
mungen eine der tiefften Einwirkungen Adelung's auf die Weiter-
entwicklung der deutſchen Grammatik erkennen.
Ein Hauptanliegen Adelungs, das ſich durch alle feine fprad-
wiſſenſchaftlichen Schriften Hindurchzieht, ift, feftzuftellen, was man
unter Hochdeutſch zu verftehen Habe. Er bleibt fi in feiner
Stimmung nicht ganz gleich. Einmal fagt er von der hochdeut⸗
ſchen Sprache, fie fei „im Grunde nichts anders, als die durch das
Oberſãchſiſche gemilderte, und durch Geſchmack und Wiffenfhaften
ausgebildete Oberdeutſche Mundart” 2). Ein anderesmal heißt es:
„Billig follte man drey Hauptmundarten annehmen, die ſüdliche,
hoöchſte oder Oberdeutſche, die hohe, Mitteldeutſche oder mittellän-
diſche, und die nördliche oder Niederdeutſche; aladann Tönnte man
die Hochdeutſche oder herrſchende Schriftſprache durch die verfeinerte
mittellãndiſche erflären“ ). Worauf aber Abelung immer von
neuem zurüdtommt und was er mit einer Art von Fanatismus
vertheidigt, ift der Sag: Das Hochdeutſche ift die Sprade der
oberen Klaſſen Oberjachfens +). In feiner Provinz Deuſchlands
wird „umfere höhere Schrift- und Geſellſchaftsſprache“ „jo allge
mein und in den Städten ſelbſt in dem unterften Klaſſen gefpro-
den“). Was „gut Hochdeutſch iſt,“ Tann nicht „in den Provin⸗
1) Umfländl. Lehrgeb. II, (1782) ©. 572 fg. Diefelben Beftimmungen
mb Bezeichnungen gibt im Weſentlichen ſchon bie Sprachlehte zum Gebrauch
der Schulen u. ſ. f. (1781) ©. 538. — 2) Umfländl. Lehrgeb. I, (1782)
©. 81. Bgl. Ebend. I, S. 64. — 3) Ebend. I, ©. 84. — 4) Ebend.
1,6. 82. Magazin für bie Deutſche Sprache, Erler Zahıg., erfies Stüd
(1782) ©. 19. 21. 27 fg. 91fg. — 5) Magazir für die Deutſche Sprache,
Erf. Jahrg. erſtes Stüd (1782) ©. 25.
290 Zweites Buch. Viertes Kapitel.
zen, wo man das Hochdeutſche als eine frembe Sprache erlernt,
beurtheilet und beftimmet werben, fondern nur da, wo der Sprach⸗
gebrauch, des Hochdeutſchen einheimiſch ift (d. 5. in ben „ſüdlichen
Ehurfähfiscgen Landen”), weil aufjer feinem Vaterlande weder die
Erfahrung fo alfgemein und Häufig, noch bie Empfindung fo fein
und übereinftimmend feyn Tann, als dazu erfordert wird" 1). Daß
es mit der reinen Sprade ber unteren Klaſſen im „Tüblichen
Oberſachſen“ nicht weit Her fei, Tonnte Adelung nidt entgehen 2),
und auch bei den Gebildeten Tonnte er das Vorhandenſein gewiſſer
Provincialismen nicht läugnen 3); dennoch wollte er feine Anficht
um jeden Preis feſthalten. Es läßt fi denken, daß er in den
verfchiedenften Gegenden Deutſchlands auf Widerſpruch ftieß. Es
mußte dies um fo mehr geſchehen, als Adelung aud für die deut-
ſche Literatur des 18. Jahrhunderts den Primat Oberſachſens
in Anfprud nahm. In ber erften Hälfte des 18. Jahrhunderts
hätten verſchiedene Umftände zufammen gewirkt, um in Oberfachien
dem Geſchmack die „einige wahre Richtung“ zu geben. „Der durch
Handlung und Fabriken erhöhete Wohlftand und Vollsmenge, die
in Oberfachfen wieber hergeftellte und dem gemeinen Menſchenver⸗
ftande begreifflich gemachte umd allgemein verbreitete Philofophie,
die prächtigen Höfe der Augufte,” — „die von Gottſcheden gerei⸗
nigte Sprache“ — „Alle die Umftände wirkten ſchnell und unwi⸗
derftehlih, und Oberſachſen ward nunmehr Deutſchlands Attica
und Toscana und diente dem bisher noch unvolllommenen und
ſchwankenden Geſchmacke zur Stüge und Führerinn. In dem Zeit
puncte von 1740 bis auf den verberblichen fiebenjährigen Krieg, waren
dieſe Folgen am fihtbarften, und das ift auch unftreitig der fünfte
Zeitpunct, nicht nur der ſchönen Literatur Deutſchlands, fondern
des deutſchen Geſchmackes überhaupt. Deutſchland verkannte fein
Athen damals nit; alle Provinzen ärnteten hier Geſchmack und
Künfte, die wirklich claſſiſchen Scriffteller, welche wir haben, find
1) Zufammengezogen aus Magazin für die Deutſche Sprache, Erfen
Jahrg. erfies Stüd ©. 30. — 2) Umflänb. Lehtgeb. I, (1782) ©. 89. —
3) Umfländl. Lehrgeb. I, (1782) ©. 85.
Die germanifcge Philologie in Deuiſchland von 1748 bis 1797. 281
insgeſaumt ſolche, welche fi in Oberſachſen ober doch nad; Ober⸗
ſãchſiſchen Muſtern gebildet Haben“ 1). Eine ſolche Sprache, im
Jahr 1782 geführt, mußte ben Widerſpruch herausfordern. Er
folgte denn auch von allen Seiten. In der Berliner Monats-
frift durch Viefter, ber einerjeits die Ausſprache der Ober-
judfen, ihre „höchftjeltfame Verwechslung des b und p, des d und
#°, durchhechelt, andverfeits dagegen Verwahrung einlegt, daß bie
oberfächfifchen Leiſtungen von 1740 — 1760 „uns nicht nur Megel
md Richtſchnur, fondern auch Gränze und Ziel fein follen“ 9).
Am feinften und einfihtigften trat Wieland gegen Adelung in
die Schranken mit einigen Auflägen „Ueber die Frage: Was ift
dohhdeutſch,“ die er in bie Jahrgänge 1782 und 88 feines Teut-
ſcen Merkur einrüdte 3). „Schreiber dieſes,“ fagt er, „hat viele
Gelegenheit gehabt Churfäcfihe Herren und Damen, die ganz
werläßig in die oberften Klaſſen gehörten, zu ſprechen, — und
umglüdliher Weiſe mußte er immer auf folde treffen, welche eine
Ausnahme von Hrn. Adelung's Verfiherung machten, und (von
ben Beenen und korſchamen Dienern nichts zu fagen) fo
viel Provinzial-Ausdrüde in ihre Sprade miſchten, als die Per-
ſonen ihres Standes größtentheils in allen übrigen teutfhen Pros
vingen zu thun pflegen“ 4). Was aber die Verdienſte der Stadt
vreipzig betrifft, fo erfennt er diefelden nad allen Seiten hin im
volftem Maße an. „Aber feiner ihrer Patrioten,“ fagt er, „fo
Aferfünhtig er auch über ihren Ruhm feyn mag, kann fid beleidigt
finden, wenn id) ihr ein Vorrecht abſpreche, das ich Feiner andern
1) Magazin für bie Deutſche Sprache, Erſt. Jahrg. erſtes Gtüd (1782)
5.8 fg. — 2) Berlinifhe Monatsfheift. Herausgeg. von F. Gebife und
38. Biefter. Erſter Band, Berlin 1783, ©. 194. — 3) Wieland gab die
beiden Abhandlungen unter ber Maske eines Einfenders, der fih Philomuſos
name, und zwiſchen welgem und Abelung dann Wieland am Schluß zu
vermitteln fuchte. Aber das Ganze war von Wieland. Er hat es mit einigen
Beränderungen im feine Werke aufgenommen und fi) berüber ausgeſprochen.
6. Wieland's fümmtl Werke, Bb. 44, Leipz. 1826, ©. 235 fg. — 4) Der
Teutfge Merkur, Dec. 1782, ©. 204,
232 Zweites Bud. Viertes Kapitel.
Stadt in Teutfhland zugeftehen würde” 1). Bon Bbefonderem In⸗
tereſſe ift, wie fi Wieland über pen Einfluß der Schriftfteller auf
die Sprade äußert. Den Sag, daß die Schriftfteller nicht die
Sprache machen, hatte Abelung fo aufgefaßt, daß den Schriftftel-
lern überhaupt fein felbftändiger Einfluß auf die Sprache zukomme,
daß fie ſich vielmehr ganz im Kreiſe der bereits vorhandenen ger
ſellſchaftlichen Sprache der oberen Klaſſen Oberſachſens zu halten
hätten 2. „Die Aufnahme provinzielfer Wörter" ift ein Verderb
der Schriftſprache, „weil fie, fo fern fie wirklich provinziell find,
dem Geſchmade nach allemahl um mehrere Grade tiefer ftehen
möüffen“ 9). „Veraltete Wörter” find „als ein Auswurf anzu
fehen, der in das Ganze nicht mehr paßt“ 9); umd „es ift umbillig
und wider die Abfiht der Sprade, bergleihen Auswurf mander
Nebenurfachen wegen wieder zurüd zu rufen, d. i. einmahl veral-
tete Wörter, Formen und VBerbindungsarten wieder in den Gang
bringen zu wollen“ 5). Wie in vielen Fällen, fo liegt aud hier
den Anfihten Adelung's etwas Wahres zum Grunde, aber bie Art,
wie er fie anwendet, ift verkehrt. Ich will Beifpielsweife nur
anführen, daß Adelung umter die Wörter, deren Gebrauch er fir
ganz verwerflih erflärt, folgende rechnet: entſprechen (für gemäß
fein) 9), Strauß (für Kampf) 7), Seher (für Prophet) ©), beginnen
(für anfangen) 9. Natürlich fpriht fih aud Wieland auf das
allerentſchiedenſte gegen das Treiben jo mander damaligen Scrift-
fteller aus, die fih um die Richtigkeit der Sprache nichts Fümmer-
ten und ohne allen Gewinn für ihren Ausdrud veraltete ober
1) Ebend. S. 208. — 2) Adelung bleibt ſich auch in dieſen Behau-
tungen nicht ganz glei; aber das Obige ift der wefentliche Sinn von Ad
Tung’8 Abhandlung: „Sind es Schriftfteller, welche bie Sprachen bilden und
ausbilden?“ im Magazin für bie Deutſche Sprache, Erſten Jahrg. britted
Stüd (1782) ©. 45-57. — 3) Magazin für die Deutſche Sprache, Erfien
Jahrg. erfies Stüd (1782) ©. 28. — 4) Ebend. 6.29. — 5) Ehen.
Erſten Jahrg. zweytes Stüd (17827 ©. 61. Vgl. ©. 75. — 6) Ebend
©. 67. — 7) Ebend. 5.68. — 8) Ebend. S.69. — 9) Ehend. ©. ©.
Vol. I, 3, 158.
Die germanifche Philologie in Deutfchland von 1748 Bis 1797. 288
povinzielle Wörter in ihre Schriftſprache einmengten 1). Aber
dieſes Unfugs wegen dürfe man bie Rechte der wirklich guten
Sceiftfteller nicht verfümmern. Denn fie fein es, „welche die
wahre Schriftſprache eines Volles bilden“ 2). Natürlich habe auch
die Freiheit der berufenen Schriftfteller ihre Gränzen; „aber dieſe
Grängen werben vielmehr dur die Natur der Sprade und durch
tie allgemeinen Grundſätze des richtigen Denkens und der guten
Shreibart, als durch die Mundart der obern Klaſſen in ber
blũhendſten Provinz feftgefett” 3). Die Zeit fei noch nicht gekom⸗
men, wo die Anzahl der Autoren, welche den ganzen Reichthum
unſter Schrift» Sprade enthalten, für beſchloſſen angefehen werden
Könnte. Bis dahin aber feien die älteren Dialelte noch immer als
gemeines Gut und Eigenthum der echten deutſchen Sprache und
ds eine Art von Fundgruben anzufehen, aus welden man den
Verärfniffen der allgemeinen Schrift - Sprade in Fällen, wo es
vonnöthen ift, zu Hülfe kommen könne 4). „Schriftfteller von
Geſchmack wiſſen immer am beften. was fie zu thum haben, und
wie weit fie gehen dürfen: fehlen fie aber, fo kömmt e8 einem
wahren Ariftarch allerdings zu, zu zeigen, wie, worinn ımd warum
fe das Schickliche verfehlt haben. Aber nie Tann ihm die An-
naßung geftattet werben, willtürliche Gefege zu geben, und bem
Genie, dem Wi, der Laune, Feſſeln anzulegen, fo lange fie bie
Freyheit, das Element worinn fie allein leben Können, nicht auf
offenbaren Mißbrauch ziehen“ 9). „Nach Herrn Adelung ift die
Lerftändlichfeit die einige (einzige) Abſicht der Sprade °). Hätte
et gejagt bie erite, fo wäre nicht? dagegen einzuwenden: baf fie
einzige ſey, wird ihm fein Dichter zugeftehen. Der will und foll
mit feiner Sprache noch viele andre Abfichten erreichen. Ein ver-
altet Wort, ein Provinzial» Wort, wofür das fogenannte Hoch⸗
teutfhe lein völlig gleichbedeutendes hat, ift zumeilen an dem Orte,
1) Teutſch. Merkur, 1782, Dec. S. 195. — 2) Ebend. 1782, Nov
& 166. — 83) Ebend. 1782, Nov. ©. 165. — 4) hend. ©. 169 fg. —
5) Eben, 1782), Der. ©. 215. — 6) „Magazin ber teutſchen Sprache
1. Et. 6. 57.*
234 Zweites Bud. Viertes Kapitel.
wo ers braucht, gerade bie einzige Farbe, bie zu feiner beſtimmten
Abſicht paßt, und wovon die Würkung abhängt“ 1). Erinnern wir
uns, daß diefe Worte im Jahr 1782, aljo vor dem Erſcheinen
ber größten Meifterwerle Göthe's und Schiller's, gefärieben find,
fo werben wir Wieland um fo mehr beipflichten. Freilich aber
werben wir aud) fagen müſſen, daß die Frage nad der Entftehung
und dem Wefen ber Schriftſprache, die Adelung unrichtig beant-
wortet, auch von Wieland ungelöft bleibt.
Ein befonderes Augenmerk richtete Adelung auf die deutſche
Orthographie. Eine Menge von Schriftftelleen, berufenen und un-
berufenen, befchäftigte ſich damals mit der Werbefferung der deut,
fen Orthographie. Klopftod Hatte im J. 1778 feine Schrift
über die deutſche Rechtſchreibung herausgegeben, worin er ben kühnen
Berfuh macht, die ganze bisherige deutſche Orthographie über den
Haufen zu werfen und fie durch eine ſtreng durchgeführte phonetifhe
zu erjegen. Klopſtock's Unternehmen fand zwar nur mäßigen An-
Hang, aber ımzählige Andere bemühten fi, jeder in feiner Weile,
die deutſche Orthographie zu verbeffern, jo daß Wieland im
J. 1783 von einer „Art von Orthographifger Influenza“ fpriht,
die „in diefen Iegten Jahren unter uns epidemiſch“ geworden fei?),
und von einer „läherlihen und unfere ganze Nation befchimpfen-
den Sprahverwirrung, die daraus entfteht, daß nicht nur die Ma-
gnaten unſrer gelehrten Republik, (bie dem Bolt hierin mit feinem
guten Beyfpiele vorgehen) ſondern beynahe jeder, ber etwas bruden
läßt, ſich eine eigne Sprache und eine eigne Unrecht ⸗ Schreibung
macht“ 3). Diefer hereinbrechenden Willkür ſetzte Adelung mit allen
ihm zu Gebote ftehenben Mitteln die Bertheivigung des Herge⸗
braten entgegen. Dem ausführlihen Abſchnitt feines Umſtänd⸗
lichen Lehrgebäubes über die Orthographie ließ er in feinem Ma⸗
gazin (1782) eine Abhandlung über das „Grundgeſetz der Deuticen
Orthographie” *), und fpäter eine „Volfftändige Anweiſung zur
1) Teuiſchet Merkur 1782, Dec, S. 215. — 2) Teutſcher Mertur
1783 ©. 320 (eigentlih S. 16). — 3) Ebend. S. 20. — 4) Magazin für
bie Deuiſche Sprache, Erften Jahrg. erfles Stüch ©. 59.
Die germaniſche Philologie in Deutfhland von 1748 bis 1797. 285
Deutſchen Orthographie, nebft einem Meinen Wörterbuche für bie
Ausſprache, Orthographie, Biegung und Ableitung, Leipzig 1787,
folgen. „Unfere gewöhnliche Orthographie“, fagt er, „ift nicht das
Berk eines ober des andern Individui, fondern, fo wie alles in
der Sprache, ber gefammten Nation, welde dabey nad der dun⸗
In Erlenntniß der Abſicht und Mittel gehandelt Hat“ i)j. „Die
deutſche Orthographie ift in der Anwendung der richtigen Grund-
fäge mit mehr Webereinftimmung und Berftande zu Werke gegan-
gen, als die Orthographie irgend einer andern Sprache“ 2. „Das
eiſte und vornehmfte Geſetz der Schrift ift: Schreib wie du ſprichſt.
Dieß ift gleihfam das Naturgefeg der Schrift" 9. Wo findet man
aber bie Ausſprache, welche durch die Schrift wiedergegeben wer⸗
den fol? „Unter ber Hochdeutſchen Orthographie”, antwortet
Adelung, „verftehet man bie Orthographie der Deutfhen Schrift
Image, und da die Bezeichnung der Ausſprache das erfte ganz in
der Woficht der Schrift gegründete Geſetz derſelben ift, fo kann nur
die Hochdeutſche Ausſprache, d. i. bie Ausſprache ber obern Elaffen,
in welchen das Hochdeutſche einheimifch ift, zum Grunde der Schrift
geleget werden, weil man fonft nicht Hochdeutſch, fondern Provin«
al» Deutfch ſchreiben würde +. Wir dürfen Hier nicht näher
darauf eingehen, in welches Verhältniß dann Adelung biejen feinen
oberften Grundſatz zu den anderen Schreibgefegen bringt, und wol-
lm nur noch bemerken, daß er neben mandem Verkehrten vieles
Berfländige und Durchdachte fagt, ohne doch, bei feiner unrichtigen
Boransfegung über das Weſen der hochdeutſchen Schriftſprache, ber
Soche anf den Grund kommen zu können.
Wir Haben im Bisherigen Adelung's Leiftungen auf dem Ge⸗
biet der neueren deutſchen Sprache betrachtet. Adelung hat aber
and einen nicht geringen Theil feines Fleißes dem Studium ber
älteren deutſchen Sprache und Literatur gewidmet. Er ſelbſt nennt
änmal die Geſchichte unferer ältern Dichter fein altes Liehlings-
1) Magazin für die Deutſche Sprache I, 1 (1782) S. 68. — 2) Ebend.
8.81. — 3) Ebend. ©. 60. — 4) Umfländl. behrgebäude, Bb. LI, (1782)
€. 708,
236 Zweites Bud. Viertes Kapitel,
ſtudium i). In mehr als einem feiner Werke gibt er eine Ueber
ficht über die Geſchichte unfrer Sprache und ihrer alten Denkmäler.
So namentlih in der Einleitung zu feinem Umftändlichen Lehrge⸗
bäube der deutſchen Sprade. Er unterſucht die Geſchichte und die
Sprade der Gothen umd findet freilich dieſe Vegtere über bie Mafen
rauh und ungeſchlacht. Denn „man bemerkt, daß bie Völker diefes
höhern Stammes an Roheit und Unkultur zunehmen, je weiter fie
öftlih wohnen” 2). Eine Reihe zum Theil umfangreicher Arbeiten
in feinem Magazin für die deutſche Sprache beſchäftigt ſich mit der
älteren deutſchen Literatur, darunter fein „Chronologiſches Verzeich⸗
niß der Dieter und Gedichte aus dem Schwäbiſchen Zeitpunkie“
(1784)3). Hier macht er in Bezug auf das Beiwort Meifter, das
manden Dichtern des Hohenſtaufiſchen Beitalters gegeben wird, die
Bemerkung: „ES ift aus hundert Stellen der Schwäbiſchen Dich⸗
ter erweislich, daß die Dichtkunſt zu ihrer Zeit eben fo zünftig war,
als alfe übrige Fertigfeiten, und als die Ritterſchaft ſelbſt. Ehen
fo erweislich ift, daß die nachmahligen Meifterfänger in gerader
Linie von ihnen abſtammen, ober eigentlich nichts anders find, als
eben diefe ältern Dichter, und daß der ganze Unterfchieb bloß in
dem größern und geringern Anſehen beftehet, denn in dem dichteri⸗
ſchen Geiſte find fie ſich fo ziemlich gleih“ ). In dieſer Abhand⸗
lung, ſo wie in ſeiner Schrift über Püterich von Reicherzhauſen
Märt Adelung fo manchen Punkt in der Geſchichte ber altdeutſchen
Dichtkunſt auf, wenn er aud natürlich viele thatſächliche Irrthümer
mit feinen Zeitgenoffen tHeilt. Aber das Intereſſe, das Adelung
an unfren alten Dichtungen nimmt, ift nur ein antiquariſches und
lexikographiſches 9). Bon deren dichteriſchem Werth hat er fine
Ahnung; wie er denn überhaupt unfre deutſche Vorzeit mit wahren
Ingrimm Haft. Seine „Aeltefte Geſchichte der Deutſchen, ihrer
1) Püterich von Reichershausen, Leipz. 1788, 8.5. — 2) Adelung
in Zahn’s Ausgabe des Ulfilss, Weifsenfels 1805, Einleitung & 10.
— 8) Magazin für bie, Deutſche Sprache II, 3, S. 3—92. — 4) Ebend. II,
3, 6, 6. — 5) Vgl. Ebenb. I, 2, ©. 152. Weber den Deutſchen Styl II,
(1785) ©. 310 fg.
Die germanifhe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 287
Eyrache und Litteratur bis zur BVölferwanderung“ (1806) ift eine
niftige Schmähſchrift auf die alten Germanen, das gerade Wider-
fiel von Tacitus Germania. Truntenbolde, Spieler, graufam ge-
gen die Feinde waren bie Germanen. Aber das genügt Wdelung
kei weitem nicht. Treuloſigleit, Nothzucht, Unterbrüdung des Wei-
bes, „welches bis zur Sclavinn herabgewürdigt ift“ '), wirft er
ihnen vor. Ihre fogenannte Liebe zur Freiheit ift nichts als der
Hab gegen alle Einſchränkung. Ja felbft ihre viel gerühmte Keufch-
beit hat Teinen Werth. Sie ift nur eine Folge ihrer ungebildeten
Hoheit 2). Und daß ihre Tapferkeit nicht weit her war, fieht man
a3 ihren Schladitgefängen, indem „der ungebildete Menſch nicht
the etwas wagt, wenn nicht vorher die Vorftellung der Gefahr
durh den Rauſch der Seele verdunkelt worden“ ®). Genug, der
alte Germane ift „das Raubthier, welches ſchläft, fo bald es nicht
fgt oder frißt“ 9; „der Barbar grenzt hier weit näher an das
wende Thier, als an den durch Kenntniß, Sitten und Geſchmack
deredelten Weltmann“ 5).
Und wie Abelung bei den älteften Germanen nichts als thieri«
ide Rohheit fieht, fo in den Dichtungen der Hohenftaufiichen Zeit
uhts als elende Neimerei und Geiämadlofigteit. Es war aller
dings mit den Dentfchen etwas beffer geworben. Das Epriften-
tum hatte fie gezähmt, fie fingen an, zu einigem Wohlftand zu
langen, „und wenn bas Bebürfniß befriebigt ift, und ber Menſch
mehr erwirbt, als er zur Nothburft bedarf, fo wird ber Trieb
zum Vergnügen herrſchend, und dann entftehen bie ſchönen Künfte
1) Melung, Yeltefte Geſchichte der Deutſchen, 1806, ©. 297. — 2) Ich
fan mr ſehr abgefürgt geben, was ſich bei Abelung, Aelteſte Geld. ber
Tarten ©. 295 ig. findet. — 3) Neltefte Geſch. der Deutſchen ©. 385. —
4) Oben. S. 297. — 5) Ebend. ©. 296. Bol. Umſtaͤndl. Lehrgeb. ber
Untfgen Sptache I, (1782) S. 27. 33. Wir wollen indeffen night verſchwei ⸗
32, daß Abelung ausbrüdtich zugibt, daß ber Germane jener rohen Zeiten
‚gen zum voraus alle Hülfsmittel in feine Sprache gelegt Habe, feine Bes
er bis ins Unendliche zu vervielfältigen." Aelteſte Geſch. ber Deutſchen.
318.
238 Zweites Bud. Viertes Kapitel.
von felöft“ '). In den Dichtern „aus dem Schwäbiſchen Zeit:
punkte” ift nun ſchon Mandes ganz erträglich, „a. B. wenn fie
den Mai, den Sommer, die Empfindungen ber Liebe fingen“ ; aber
„ſo bald fie das Feld der angenehmen Empfindungen verlaffen,
werden fie matt, proſaiſch und oft ekelhaft; am unausftehlihiten
find fie, wenn fie Gegenftände der Neligion und Sittenlehre be
fingen, wo fih die Dichtkunſt allemahl auf das graufamfte an
ihnen rächet· 2). "So Adelung im Jahr 1782, und dabei hatte es
fein Bewenden, auch nachdem Müller im 3. 1783 das Nibelungen
lied volfftändig herausgegeben Hatte. Gerade in feiner Beurtheil-
ung der Müller'ſchen Sammlung, deren erfte Lieferungen das Nibel-
ungenlied enthalten, verfteigt ſich Adelung am Schluß einer Tangen
Weihe von Schmähungen zu dem Ausſpruch: „Kurz, von Seiten
der Dichtung verdienen alle dieſe Weberbleibfel nicht die mindeſte
Aufmerkfamteit“ 3. Aber nicht Bloß die alt deutſche Poeſie it
nad Adelung völlig werthlos, aud in der Sprache der Gegen
wart ift ihm das volfsthümlih Naturwücfige ein Gegenftand der
tiefften Verachtung. „Die Sprüchwörter“, fagt er in ber Vortede
zu feinem Wörterbud, „gehören größtentheils in die niebrige und
pöbelhafte Sprade. Ich babe es daher nicht der Mühe werth ger
halten, fie zu ſammeln und noch weiter fortzupflangen. Wer in
ihnen und andern ſchmutzigen Blümchen des großen Haufens den
Kern der deutſchen Sprache fuchet, ber kann einen veichen Vortath
davon in Gottſched's Spradlunft finden" 4). An dem altbeutfihen
Poeſieen ift ihm aber noch ganz befonders die Sprache zuwider.
„Wie kalt“, fagt er, „wie proſaiſch, wie unanſchaulich ift Hier alles.
Und mweldes wirkliche Genie wirb fi) wohl fo weit vergeffen fün-
nen, eine fo unausſtehliche Sprache zu reden” 5). So urtheilt ein
Mann, der mit jedem Wort beweift, daß er auch nicht die erften
1) Umfländl. Peprgebäube ber Deutſchen Sprache I, (1782) ©. 51. —
2) Ebend. ©. 55. — 3) Magazin für die Deutſche Sprache II, 2 (178,
©. 148. — 4) Verſuch eines — Wörterbuds der Hochdeutſchen Mundart,
Leipz. 1774, Erler Teil, Vorr. S. XIV. — 5) Magazin für bie Deute
Sprache II, 2 (1784) ©. 148.
Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 289
Elemente der Sprache Tennt, über die er jene Abfurbitäten vor⸗
dringt: „enchan für Tann“, „enhat für hat“, meint er, feien
‚müßige, nichtsbedeutende Sylben“ !). Das o am Schluß des alt-
hochdeutſchen Franko (Franke), guoto (gut) u. f. f. Hält er für
eine bloße Verlängerung um des Wohlklangs willen. „Vor dem
zwölften Jahrhundert”, fagt er, „da bie Körper, folglich auch die
Spraßwerkzeuge noch ſehr grob und ungeſchlacht, und die Kennt⸗
miffe noch ſehr ungebildet waren, wandte man dieſes Mittel bey
nahe ohne allen Unterjchied an, und verlängerte jedes Wort, es
mochte ein Wurzelwort ober abgleitetes feyn, durch einen Vocal“ 2).
Wie um das Altdeutſche, fo hat ſich Adelung auch um die all-
gemeine Sprachforſchung bemüht. Aber auch hier fehen mir feine
Einfiht in eine fehr beftimmte Gränze eingeſchloſſen. Er bemerkt
ganz richtig, daß man die Sprachen erft zergliedern und ihre Wur-
xelſylben herausſchälen müffe, ehe man ihrer Verwandtſchaft nach⸗
ſpüren könne. „Nur aus der Vergleihung der Wurzelſylben, „ſagt
a, „läßt fi die Verwandtſchaft und Verſchiedenheit der Spraden
beurteilen“ 3. „Selbft die ganze Etymologie ift verächtliches Ta-
igenipiel, wenn fie nicht von diefer Auflöfung der Sprachen aus-
gehet” 3). Ja bisweilen nimmt er einen Anfag ſelbſt zur Zerglie-
derung der Flexionen. „Die Biegungsiylben der Perjonen [am
Berbunm]“, fagt er, „ſcheinen urſprüngliche alte Pronomina zu feyn;
daher find auch die meiften Spraden darin ähnlich“, und nun
ftellt er zum Beweis defien die Beugungen von 440, amo und
ich liebe zufammen, fogar mit Herbeiziehung des alten lichemes und
liebent *). Aber man hüte ſich, aus dergleichen zu viel zu fließen.
Bon einer wiſſenſchaftlichen vergleichenden Spradforihung hat Ade⸗
lung feine Ahnung. Er denkt nit einmal daran, Gefege für den
Rautwandel aufzuſuchen und fie bei feinen Etymologieen zu Grunde
zu legend). Ja er tft überhaupt weit entfernt, von der Berwandt-
1) Ebend. — 9) Magazin für die Deuſche Sprache J. 3 (1782) S. 2219.
— 3) Adelung, Mithridates I, (1806), Vorr. 8. XII. — 4) Umfländ.
bechtgebãude I, (1782) ©. 764. — 5) Bgl. 3. ©. was Adelung auch in ber
2 Musg. feines Worierbuchs Db. II, (1796) Sp. 1436 über die Etymologie
240 Zweites Bud. Viertes Kapitel.
ſchaft der indogermanijhen Spraden eine richtige Vorftellung zu
haben. Noch in einer feiner legten Schriften erklaͤrt er das Vor⸗
Tonimen vieler Wörter im Perſiſchen, welche Aehnlichleit mit beut-
fen Haben, daraus, daß germanifche Völker auf ihren Wanderun⸗
gen in Perfien eingedrungen feien, „fi mit ben Einwohnern ver-
miſcht, und aus Dankbarkeit einen Theil ihrer Sprade zurüdge
laſſen Haben“ 1). Dieſelbe Anſicht hat er bier aud noch von ber
griechiſchen Sprade. Er Hält die „Germaniſchen Wurzelwörter“,
die fih im Griechiſchen finden, für Andenken barbariſcher Völler,
die Griechenland überfäwemmt und beherriht haben ?). Aber in den
zehn Jahren, die zwiſchen der Ausarbeitung feiner Aelteſten Ge
ſchichte der Deutſchen und deren Veröffentlihung liegen, dämmert
Adelung allmählich eine richtigere Anfiht auf). Im erjten Band
feines Mithridates, den er wenige Monate vor feinem Tode vol-
lendete *), kommt er auch auf das vor kurzem von der europäifcen |
Wiſſenſchaft entdedte Sanskrit zu ſprechen. Er Hat es nicht mehr
erlernt, aber aus zweiter Hand ftellt er eine Menge ſanskritiſcher
Wörter mit lateinischen, griechiſchen, deutſchen u. |. f. zufammen,
und bei dieſer Gelegenheit bemerft er: „Das Hohe Alter bieier
Sprache erhellet unter andern auch aus ber Uebereinkunft ſo vieler
ihrer Wörter mit andern alten Spraden, welches wohl keinen
andern Grund haben Tann, als daß alle diefe Völker bey ihrem
Entftehen und vor ihrer Abfonderung zu einem gemeinſchaftlichen
Stamme gehöret haben; denn an eine fpätere Entlehnung ober
Vermiſchung ift bei fo ſehr entfernten Völkern wohl nicht zu ben
ken“ 5). Aber auch jegt noch Hat Abelung keine Ahnung davon,
des Wortes Zoch fagt: „Das Laleiniſche jungere kommt mit unferm eini:
gen, fo wohl ber dorm, als der Bedeutung nad) überein; es würde ale
einen unb ein bas Stammmwort von allen fein“, nämlich von Jog, jugum
Gore u ſ. w. — 1) Aelieſte Geſchichte der Deutſchen (1806) ©. 350. —
2) Ebend. ©. 352. — 3) Bol. Weltefle Geſchichte der Deuiſchen (1806),
Vorr. S. IV und &. VI, uud Mithridates, Thl. I, (1806) 8. 277-279.
— 4) Den 20. Julius 1806 if} die Vorrede unterzeichnet, am 10. Eepiem:
ber besjelben Jahres fach Abelung. — 5) Adelung, Mithridates, Thl. I,
(1806), 8. 149.
Die germanifhe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 241
welhe geofastigen Ergebniffe die Wiflenfhaft aus der Erforſchung
dieſer Urverwandtſchaft der indogermaniſchen Sprachen ziehen wird.
Dean noch in dem nachgelaſſenen zweiten Theil feines Mithridates
ſagt er von dem germaniſchen Sprad- und Völterftamm: „Daß
dieſes Boll im feinem Urſprunge mit andern alten nahen und fer-
nen Böllern verwandt geweien, gibt die Natur der Sade, und jo
viele gemeinfchaftlicge Ueberrefte in den Sprachen aller beftätigen
& Allein die Zeit diefer erften Verwandtſchaft liegt fo weit außer
den Grenzen aller Geſchichte, und fällt noch fo tief in die Duntel-
heit ihres erſten Stammfiges in Afien, daß weder der Sprach-⸗
noch der Geſchichtforſcher einen andern Gebrauch davon machen
lam, als dieſen gemeinfgaftlihen Urſprung überhaupt anzuerten-
um). J
Hiemit ſchließen wir unſere Darſtellung Adelung's. Trotz aller
Irthumer und Verlehrtheiten war er dennoch einer der merkwür⸗
digften Gelehrten, die fih mit der Erforihung der deutihen Sprache
beihäftigt haben. Bei feinen Zeitgenoffen erfreute er fich eines
fait ımbegrängten Anfehens 2), und wie bedeutend feine Einwirkung
sub auf bie Folgezeit war, das werben wir an dem bewußten
Gegenſatz erlennen, in weldem fi der Gründer der gefhictlihen
deutſchen Sprachforſchung zu Abelung befindet. Wir find deshalb
abfihtlich etwas näher auf Adelung's Urbeiten eingegangen und
timen am Schluß diefes Abſchnitts nur noch die Namen einiger
Zeitgenoffen Adelung's nennen, bie ſich gleihfalls um die Behand-
lung der neuhochdeutſchen Sprade verdient gemacht haben. Sa—
muel Johann Ernjt Stoſch (geb. zu Liebenberg 1714, geft.
u Berlin 1796) wurde durch feinen Verſuch in richtiger Beftimmung
einiger gleihbebeutender Wörter der deutſchen Sprache (1770 — 80)
H Adelung, Mithridates, Thl. II, 8.169. Daß das Stüd, dem bie
sbigen Worte entnommen find, noch von Abelung felbft herrührt, darüber vgl.
den Herausgeber unb Forifeger bes Mithridates, Severin Vater, in ber DVorr.
Dun 2. Theil, S. X. — 2) Bol. 3. B., wie Wieland über Aelung ſpricht
in Teufen Mertur 1782, Nov. ©. 145. Dec. ©. 194. 1788, April
&. 307. 313. 30.
Raumer, Bed. der gem. Philologie. 16
240 Zweites Bud. Viertes Kapitel.
ſchaft der indogermaniſchen Spraden eine richtige Vorftellung zu
haben. Noch in einer feiner letzten Schriften erflärt er das Bor-
Tommen vieler Wörter im Perfifchen, welche Aehnlichkeit mit deut⸗
ſchen Haben, daraus, daß germanifche Völler auf ihren Wanderun-
gen in Perfien eingedrungen feien, „fi mit ben Einwohnern ver-
miſcht, und aus Danfbarfeit einen Theil ihrer Sprade zurüdge-
laſſen haben“ :). Diefelbe Anſicht Hat er Hier aud noch von der
griechiſchen Sprade. Er hält die „Germaniſchen Wurzelwörter“,
die fih im Griechiſchen finden, für Andenten barbariſcher Völler,
die Griechenland überfäwermt und beherrſcht Haben ?). Aber in den
zehn Jahren, die zwiſchen der Ausarbeitung feiner Aelteſten Ge⸗
ſchichte der Deutſchen und deren Veröffentlihung liegen, dämmert
Melung allmählich eine richtigere Anficht auf). Im erften Band
feines Mithrivates, den er wenige Monate vor feinem Tode vol⸗
lendete 4), fommt er aud auf das vor kurzem von ber europäifchen
Wiſſenſchaft entdeckte Sanskrit zu ſprechen. Er hat e8 nicht mehr
erlernt, aber aus zweiter Hand ftellt er eine Menge ſanskritiſcher
Wörter mit lateiniſchen, griechiſchen, deutſchen u. f. f. zufammen,
und bei dieſer Gelegenheit bemerkt er: „Das hohe Alter biejer
Sprache erhellet unter andern auch aus der Uebereintunft jo vieler
ihrer Wörter mit andern alten Sprachen, weldes wohl keinen
andern Grund haben kann, als daß alle dieſe Völker bey ihrem
Entftehen und vor ihrer Abfonderung zu einem gemeinſchaftlichen
Stamme gehöret haben; denn an eine fpätere Entlehnung oder
Vermiſchung ift bei fo fehr entfernten Völkern wohl nicht zu den-
ten“ 5). Aber auch jet noch hat Abelung feine Ahnung davon,
des Wortes Joch jagt: „Das Lateinifhe jungere fommt mit unferm eini:
gen, fo wohl der Zorm, als ber Bebrutung nad; überein; es würde aljo
einen unb ein das Stammwort von allen fein“, nämlich von Jog, jugum,
Toyde u ſ. w. — 1) Aelleſte Geſchichte der Deutſchen (1806) ©. 350. —
2) Ebend. ©. 352. — 3) Bol. Weltefle Geſchichte der Deuiſchen (1806),
Bor. S. IV und ©. VI, und Mithridates, Thl. I, (1806) 8. 377-279.
— 4) Den 20. Inlius 1806 if} bie Vorrede unterzeichnet, am 10. Geptem:
ber besjelben Jahres ſiarb Abelung. — 5) Adelung, Mithridates, Th. I,
(1806), 8. 149.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 241
melde großartigen Ergebniſſe bie Wifjenfhaft aus der Erforſchung
dieſet Umerwanbtichaft der indogermaniſchen Sprachen ziehen wird.
Dean noch in dem nachgelafjenen zweiten Theil feines Mithridates
jagt er von dem germaniſchen Sprad- und Völkerſtamm: „Daß
dieſes Voll in feinem Urfprunge mit andern alten nahen und fer-
um Böllern verwandt geweſen, gibt die Natur der Sade, und fo
viele gemeinſchaftliche Ueberreſte in den Sprachen aller betätigen
&. Allein die Zeit diefer erften Verwandtſchaft liegt jo weit außer
den Grenzen aller Geſchichte, und fällt noch fo tief in die Dunkel
heit ihres erften Stammfiges in Wien, daß weder ber Sprach⸗
noch der Geſchichtforſcher einen andern Gebrauch davon machen
kam, als biefen gemeinfchaftlihen Urfprung überhaupt anzuerten-
m)
Hiemit ſchließen wir unſere Darftellung Adelung's. Trotz aller
Vrthämer und Verlehrtheiten war er dennoch einer der merkwür⸗
Yigften Gelehrten, die fi mit der Erforſchung der deutihen Sprache
beihäftigt haben. Bei feinen Beitgenofien erfreute er ſich eines
fait unbegrängten Anfehens 2), und wie bebeutend feine Einwirkung
ud auf die Folgezeit war, das werden wir an dem bemußten
Geyenfag erkennen, in welchem fi der Gründer der geſchichtlichen
deutſchen Sprachforihung zu Abelung befindet. Wir find deshalb
cifichtlich etwas näher auf Adelung’s Arbeiten eingegangen und
Kmen am Schluß dieſes Abſchnitts nur noch die Namen einiger
deitzenoſſen Abelung’s nennen, die ſich gleichfalls um die Behand-
lung der neuhochdeutſchen Sprache verdient gemadt haben. Sa-
mel Johann Ernft Stofch (geb. zu Liebenberg 1714, geſt.
Berlin 1796) wurde durch feinen Verſuch in richtiger Beftimmung
einiger gleichbebeutender Wörter der deutſchen Sprache (1770 — 80)
H Adelang, Mithridates, Thl. II, 8. 169. Daß das Stüd, dem bie
cbigen Worte entnommen find, noch von Abelung felbft herrührt, darüber vgl.
da Herausgeber und Fortſeher des Mitpribates, Severin Vater, in der Vorr.
2. Teil, S. X. — 2) Bl. z. B., wie Wieland über Adelung ſpricht
im Zeutihen Mertur 1782, Nov. ©. 145. Tec. ©. 194. 1783, April
6. 307. 318, 30.
Raumer, Gchd. der germ. Ppbilologie. 16
242 Zweites Buch. Biertes Kapitel.
einer der Gründer der deutſchen Synonymil; und Karl
Philipp Moriz (geb. zu Hameln 1757, geft. zu Berlin 1793)
verfaßte eine Reihe von populären Schriften, um Richtigkeit und
Geſchmack im Gebrauch der deutſchen Sprache zu verbreiten, madte
fi) aber, abgeſehen von feinen Leiftungen auf anderen Gebieten,
befonders durch feine Anſichten über deutſche Metrit bekannt, bie
ex in dem Verſuch einer deutſchen Projodie, Berlin 1786, nieder
legte, und durch melde er einigen Einfluß auf Goethe's Versbau
übte 1). Schließlich wollen wir noch eines fleißigen Sammlers und
Kritikers auf unferem Gebiete gedenken, nämlih Johann Chriftian
EHriftoph Rüdiger's (geb. zu Burg bei Magdeburg 1751,
1791 Prof. zu Halle, geft. 1822), der in ben Jahren 1782 bis
1796 zu Leipzig eine Art Zeitſchrift herausgab unter dem Titel:
„Neuefter Zuwachs der teutjchen, fremden und allgemeinen Sprad-
kunde in eigenen Aufjägen, Bücheranzeigen und Nachrichten.”
2. Die Bearbeitung der deutſchen Yolksmundarten bis zum Jahr 1797.
Bon Bollsmundarten kann nur da die Mede fein, mo
fi eine Gemeinfprade gebildet hat, die fih von den Mundarten
des Volles, wie fie in den einzelnen Landſchaften geſprochen wer-
den, unterjeidet. Cine ſolche Gemeinfprache hat fi in Deutig-
land, wie in vielen anderen Ländern, durch Vermittlung der Schrift
gebildet: Die neuhochdeutſche Schriftſprache. Daß dieſe Sprache
nicht bloß geſchrieben, ſondern im höheren Verkehr auch geſprochen
wird, ändert nichts an der Thatſache, daß ſie nur mit Hülfe der
Schrift zu Stande gekommen iſt. Vor der Entſtehung einer ſolchen
Gemeinſprache gibt es keine „Bolfsmundarten“, ſondern die
Redeweiſen der einzelnen Stämme ftehen ſich gleichberechtigt gegen⸗
über und jede von ihnen trägt in ſich die Möglichkeit, zur beſon⸗
deren Schriftſprache ausgebildet zu werden ?). Alle dieſe Vorgänge
1) Bol. Goethe's Ital. Reife, Rom ben 10. Jan. 1787. (Gocihe's Bertt,
1840, 8b. 23, ©. 192). — 2) Au in ber früheren Periode bes Hab
deutſchen kann nur gerade in dem Maß unb in bem Umfang von Volts
munbdarten gejprogen werden, als man dem Mittelhogbeutfgen der
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748. bis 1797. 248
luſſen fi recht deutlich wahrnehmen an der Behandlung ber beut-
(den Vollsmundarten. Schon beim Beginn unfrer neuhochdeutſchen
Gemeinſprache wiflen unfre Orthographen das „rechte und reine
Deut” von den Mundarten der einzelnen Landſchaften zu unters
fheiben. So im 3. 1531 Fabian Frangk), und ähnlich Hierony⸗
ms Wolf im %. 1578 2). Und je mehr fi dann weiterhin bie
deutſche Schriftſprache in ihren Formen grammatiſch feftftellt, um
fo mehr wendet man fi andererjeit3 der Unterfuhung der Munds
arten zu. So folgt auf die grammatifhen Bemühungen des 17.
Jahrhunderts der eigentliche Beginn der mundartlichen Forſchung.
Ramentlich fehen wir auch hier wieder aufmunternd und felöft ein⸗
greifend Leibniz thätig. In das von ihm vorgejchlagene Gloffarium
ſollten neben den alten auch die „Landworte des gemeinen Man—
23" Aufnahme finden 9). - Den Bremer Theologen Gerhard
Meier muntert er auf, ein ſächſiſches Gloffarium zu ſchreiben,
worin die Ausdrücke des gemeinen Volkes in Niederfachien neben
den veralteten gefammelt und erflärt werben follten +). Meier ftarb
jedoch vor Vollendung des Werts. Ein handſchriftliches Verzeich⸗
miß mieberfüchficher Wörter aus den Herzogthümern Bremen und
Verden, das Juſtus Joh. Kelpius (Amtmann zu Ottersberg,
+ 1720) 5) verfaßt hatte, verfah Leibniz mit feinen Anmerkungen 9).
And in anderen Theilen Deutfhlands vegte fih damals das Yn-
tereffe für die Mundarten. So gab Joh. Ludwig Prafc (geb.
1637 zu Megensburg, gejtorben 1690 als Bürgermeifter dafelbit) 7)
im J. 1689 zu Regensburg ein Meines Glossarium Bavaricum
heraus ®), und Chriftian Meisner aus Herenftadt in Schlefien
Charakter einer über ben Munbarten feines Bereichs fiehenden Gemein:
Irrade quertennt. — 1) S. 0.6.63. — 2) In Institutionum gram-
maticarum Joannis Rivii libri octo, Augustae Vindel. 1578,
p. 595 sq. — 3) 2eibnig, Unvorgreiflihe Gebanten 9.33.34. — 4) Eccard,,
Hist. stadii etymol. p. 107. — Leibnitii Collectanea etymol. 1717,
1,238 sg. — 5) Ride, Idioticon Hamburgense (2) 1754, Borr.
€. XXI. — 6) Ad glossarii Chaueici specimen notae, in Leibnitii
Collect. etymol. 1717, I, 33 24, — 7) ©. über ihu Reichard, Verſuch einer
Hihorie der deutſchen Sprachtunſi 1747, S. 269 fi. — 8) Im Anſchiuß an
16*
244 Zweites Bud. Biertes Kapitel.
teilte in feiner Silesia loquens (Wittenberg 1705) ein Meines
ſchleſiſches Idioticon mit‘). Uber das Alles find doch nur gering
fügige Anfänge. Ihren eigentlichen Aufjhwung nahm die Darfiell-
ung der Mundarten erft im weiteren Verlauf des 18. Jahrhun⸗
derts, d. i. im berfelben Zeit, welche fi um bie Seftftellung un.
ſerer neueren Schriftſprache fo vedlih bemühte. Sm J. 1784 ver
öffentliht Leonhard Friſch feinen kurzen, aber wohldurchdachten
„Entwurf Was für Wörter in jeder Broving und Gegend von
Teutfhland, fonderlih in ber Mark Brandenburg zufammlen
find“ 9. 1743 umd in zweiter fehr vermehrter Auflage 1755 gab
Michael Richey, Profeffor am Gymnaſium zu Hamburg (geb-
bafelöft 1678, geft. 1761), fein „Idioticon Hamburgense ober
Wörter⸗Buch, Zur Erflärung der eigenen, in und um Hamburg
gebräuchlichen, Nieder-⸗Sächſiſchen Mund⸗Art“ Heraus. 1756 folgte
Johann Chriſtoph Strodtmann (geb. zu Welau 1717,
1749 Rector zu Osnabrüd, geit. 1756) mit einem Idioticon Or .
nabrugense. Am umfafjendften aber behandelte dann bas Nier
derdeutſche der „Verfuch eines brewmiſch-⸗niederſächſiſchen Wörterhußß",
herausgegeben von der bremiſchen deutſchen Geſellſchaft, fünf
Theile, Bremen 1767 — 71. Nehmen wir bazu noch Johann
Karl Dähnert's (Prof. zu Greifswald, geb. zu Stralfund 1719,
+ 1785) Platt» Deutfces Wörterbuch nad) der alten unb neue
Pommerſchen und Rügiſchen Mundart (Stralfund 1781) und eine
ganze Reihe Hleinerer Arbeiten über andere niederdeutſche Dialekte,
fo fehen wir die niederdeutſchen Vollsmundarten im Lauf des 18.
Jahrhunderts einen Gegenftand weit ausgebreiteter Unterſuchungen
bilden. Unter allen deuten Mundarten hatten aber aud bie
mieberbeutjchen, eben weil fie vom ber hochdeutſchen Schriftſprache
am weiteften abftehen, für ben Forſcher den größten Reiz. Au
den niederdeutſchen Mundarten zeigt fih am augenfälligften, was
feine Dissertatio altera de origine Germanica Latinae linguae, Batis-
bonae 1689, p. 15— 26. — 1) ©. Richey a. a. D. S. KVIL. XIL-
2) Der erfie Auszug von einigen bie Teutſche Sprach betreffenden Stüden
u. [. m. Balin 1734, S. 3 fg.
Die germanifce Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 245
mir oben über Vollsmundart und Schriftſprache gefagt haben. Im
Mittelalter fteht das Niederdeutſche dem Hochdeutſchen gleich-
berechtigt zur Seite. Auch im erften Jahrhundert ber neueren
Zeit iſt dies noch fo. Luther's Bibelüberfegung ericheint 1534 zu
Gübet in niederdeutſcher Uebertragung. Katehismus, Liturgie,
Geſangbuch find niederdeutſch. So ſchreibt im J. 1582 der Roftoder
Brofeffor Nathan Ehytraeus (geb. 1543 zu Menzingen in
der Pfalz, geft. 1598) feinen Nomenclator Latino -saxonicus
war wohl mit dem Bewußtſein, daß er fid eines anderen Dia-
lettes bebient als bie Oberdeutſchen, aber im der Weberzeugung,
daß man ſich diefes Dialektes in einem gelehrten Schulbuch ganz
mit dem gleihen Recht bediene, wie bie Oberdeutſchen des ihri⸗
gm‘). Im J. 1625 erſchien diefer Nomenclator zum vierten mal ?),
dann nicht wieder. Denn im Lauf des 17. Jahrhunderts wurde
das Niederdeutſche als Schriftiprae vom Hochdeutſchen verdrängt.
In 3.1621 wirb die letzte niederſächſiſche Bibel gebrudt o). Wenn
dann auch noch fernerhin, und gerabe in ber neuften Zeit am häu-
foften, Dichtungen in niederdeutſcher Sprache ericheinen, fo ift das
berhaltniß ein ganz anderes, als früher. Der Dichter bedient
fih jet abfihtlih einer Bollsmundart im Gegenfag zu ber
anf in Nieberbeutfland geltenden hochdeutſchen Schriftiprade.
Bem dies nicht Mar ift, der braucht ſich bloß die Frage vorzulegen,
ob wohl gegenwärtig ein Lehrbuch ber Phyſik ober irgend eine
andere wiſſenſchaftliche Arbeit in plattdeutſcher Sprache erjcheinen
Eimmte, ohne den Eindruck eines Scherzes zu machen.
Wie die niederdeutſchen, ſo erfreuten ſich auch die übrigen
deutſchen Volksmundarten im 18. Jahrhundert einer immer ausge⸗
breiteteren Berüdfichtigung. Im J. 1789 veröffentlicht Andreas
Zaupſer zu Münden ben ‚Verſuch eines baieriſchen und ober⸗
Hähifen Idiotilons“, 1795 Jahann Caſpar Schmid (geb.
u Ehingen 1756, } 1827) den „Verſuch eines ſchwäbiſchen Idioti⸗
1) Bal. die Widmung und bie Vorrede des Bude. — 2) Zu Roſtoc.
Diefe Ausgabe liegt mir vor in dem Cremplar der Münchnet Bibliothel. —
3) Rinderling, Geſch. der nieverfäd. Sprache ©. 397.
246 Zweite Bud. Vieries Kapitel,
kon.” In Oeftreih tritt Valentin Popowitſch (1750) für die
Wichtigleit der Mundarten ein‘). Auch die äußerften Borpoften
der deutſchen Sprache finden bereits ihre Bearbeiter. Guſtav
Bergmann (1785) und Aug. Wild. Hupel (1795) ſammeln
Toländifhe, Joh. Georg Bod (1759) und Siegmund Hen-
nig (1785) preußiihe, Joh. Seyvert (1781) und Jo h. Bin-
der (1795) fiebenbirgifce Idiotismen. Selbft die deutſche Sprad-
infel der Sette Communi wird von F. 8. Fulda (1778) in die
deutſche Sprachforſchung eingeführt. Ja in ber zweiten Hälfte bes
18. Jahrhunderts wird die Beſchäftigung mit den Vollsmundarten
eine fürmliche Liebhaberei ber Gebildeten. Zeitſchriften, wie bas
Deutſche Mufeum 2), Reifende, wie Friedrich Nicolai), wen-
den ihnen ihre Aufmerkfamleit zu. Wenn dann dazwiſchen gerade
von ben Freunden der mundartlichen Studien öfters die Klage er-
ſchallt, daß nicht genug für die Erforſchung der Mundarten ge
ſchehe, fo ift dies mm ein neuer Beweis, welden Werth man auf
deren Unterfuhung legte. Denn daß bie Bearbeitung der Mund-
arten im Lauf des 18. Jahrhunderts, verglichen mit der vorange
gangenen Zeit, wirklich eine erftaunliche Ausbreitung gewann, das
ertennt man fofort, wenn man in Hoffmann’s veihhaltiger Kitera-
tur ber Mundarten die Mafje deffen, was das_18, Jahrhundert
hervorgebracht, mit den wenigen Schriften vergleicht, bie der
früheren Zeit angehören ). Natürlich bleibt Hier ber wiſſenſchaft⸗
1) Unterfugungen vom Meere. Frankf. und Leipz. 1750. gl. au:
Verſuch einer Bereinigung der Munbarten von Teutſchland, aus ben Hinter:
laſſenen Schriften bes berühmten Heren Prof. Joh. Siegm. Bal. Popowitſch
Bien 1780. — 2) (Joh. Hein. Häslein) Probe einer Sammlung von Nürn⸗
berg. Provinzialwörtern, im Deutſchen Mufeum 1781, II, 457 fg. — 3) Ber:
ſuch eines öfterr. Idiotikon in F. Nicolai’s Neife durch Deutſchland, Bd. V.
(1785) Zeil, ©. 70—145. — 4) Heinr. Hoffmann, Die deutsche Philo-
logie, Bresl. 1836, 8. 174 — 206. Id habe hier natürli nur den Ge
fanmtverlauf ber mundartlichen Forſchung darſtellen Können. Wegen ber fon:
Rigen hieher gehörigen Literatur verweife ich auf Hoffmann a. a. O. und
Paul Tromel, die Literatur der Deutſchen Munbarten in Petaholdt's An-
geiger, Jahrg. 1854.
Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 247
liche Werth der einzelnen Leiftungen zunächft außer Trage. Es
handelt ſich nur um deren Anzahl. — Auch der Verfuh, alle deut⸗
ſchen Mundarten unter gewiſſe Gefihtspunfte zufammenzufafien, wird
bereits gemacht von Friedrich Karl Fulda in der Göttinger
vreisſchrift: „Weber die beiden Hauptdialecte der Teutſchen Sprache“
Reipzig 1773), und derſelbe Gelehrte gibt (1788) einen „Verſuch
einer allgemeinen teutſchen Idiotilenſammlung“ Heraus. Doch wir
brechen hier ab, da wir auf dieſen merkwürdigen Mann im folgen⸗
den Abſchnitt noch einmal zurückkommen.
3% Die älteren germanifgen Sprachen und Literaturen in Dentfhland und
” ie Einwirkung der deutſchen Klafiker auf die germanifhe Philologie in den
Jahren 1748 bis 1797.
Die Periode, von der wir hier Handeln, unterſcheidet ſich wer
fentlih von den vorangehenden. In der früheren Zeit war das
Intereſſe, das man an den älteren deutſchen Schriftwerfen nahm,
in vorzugsweiſe antiquarifces, insbeſondere hiftorifch - juriſtiſches.
In der vorliegenden Periode aber tritt der äfthetiich - poetiie An⸗
theil in den Vordergrund, den man an ben Dichtungen der deut»
ſchen Vorzeit nimmt. So wie aber au in ben früheren Zeiten
dieſer letztere Geſichtspunkt leineswegs ganz ohne Vertretung ift,
fo findet natürlich auch in ber jegigen die rein antiquarifhe und
linguiſtiſche Seite ihre Fortfegung. Selbſtverſtändlich ftehen alfe diefe
Beftrebungen in einem gewiſſen Zufammenhang, indem fie ſich wech⸗
ſelſeitig unterftügen. Dennoch aber treten fie ſich theilweiſe fo
fen, daß wir am beiten thun werben, fie getrennt zu behandeln.
Bir ſprechen alſo zuerft von den rein linguiſtiſchen und antiquari-
iden Leiftungen auf bem Gebiet der älteren germanifchen Sprachen
und Literatirren. Dann faffen wir zufammen, mas in diefer Zeit
für die Herausgabe und das Verftändniß der mittelhochdeutſchen
Ditungen geſchehen ift, und zulegt ſchildern wir bie Anregungen,
welche die germaniſche Philologie nach den verſchiedenſten Seiten
Hin von ben großen neuhochdeutſchen Schriftftellern des 18. Jahr⸗
hunderts erhalten hat.
248 Zweites Bud. Viertes Kapitel.
1) Die linguiftif-antiquarifhe Behandlung ber älteren ger:
manifhen Spraden von 1748 Bis 1797.
Wir Haben hier zuvörderſt ein Hauptwerk der juriftifch-antie
quariſchen Richtung zu beiprehen, das der Zeit feiner Herausgabe
nad unferer Periode angehört, obwohl feine Entftehung noch in
der vorangehenden wurzelt, nämlich das Gloſſarium von Haltaus.
Ehriftian Gottlob Haltaus wurde geboren zu Leipzig im
%. 1702. Er widmete fih an der dortigen Univerfität philologi-
ſchen und Hiftorifen Studien, vorzugsweiſe unter der Leitung von
Burkhard Mende, der ihn zum Mitarbeiter an feinen Seriptores
rerum Germanicarum machte. Im J. 1734 wurde Haltaus -
Lehrer an der Nicolaiſchule zu Leipzig, 1751 Rector diefer Anftalt.
Er ſtarb am 11. Februar 17581). Durch ein ftreng geſchichtliches
Studium des Mittelalters, insbeſondere feiner rechtlichen Einricht⸗
ungen, wurde Haltaus auf die Erforſchuug der älteren deutſchen
Sprade geführt. Es war ihm vor allem um die Erflärung ber
Urkunden und der übrigen Rechtsquellen des deutſchen Mittelalters
zu thun. Aus diefem Streben gieng erft fein Specimen Glos
sarüi Fori Germanici, ex diplomatibus, Lipsiae 1738, und dann
fein großes Hauptwerk hervor: Glossarium Germanicum medü
aevi maximam partem e diplomatibus multis praeterea alüs
monimentis tam editis quam ineditis adornatum, Lipsise
1758. Haltaus erlebte die Herausgabe diefes feines bedeutendften
Werkes nicht mehr, aber no im Jahr feines Todes wurde die
felde durch oh. Gottlob Böhme bewerfftelfigt. Dies Buch bietet
einen wahren Schatz deutſchrechtlicher Gelehrfamfeit und bildet bis
auf ben heutigen Tag ein nad diefer Seite Hin unentbehrliches
Hülfsmittel. Unter den übrigen Bemühungen zur Erforſchung der
germanifen Spraden von juriſtiſch-antiquariſcher Seite erwähnen
wir nur noch bie Schriften Tilemann Dothias Wiardas
(geb. zu Emden 1746, geft. als Landſyndilus zu Aurich den 7. März
1826) 2) und bie Abhandlungen, welche ber verbiente Hiſtoriker
1) Ueber Haltaus Leben dgl. Böhme's Vorrede zu Helles Glosserium
Germanicum. — 2) In unferen Zeitraum fallen don Wiarda's Sqhrifien
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 249
Johann Chriſtoph Gatterer in ben Gommentationen ber
Göttinger Societät über den Gebrauch der deutſchen Sprade in
Urhmben veräffentliäte '). j j
Säließen ſich bie bisher beſprochenen Arbeiten ben verwandten
der früheren Periode an, fo tritt ein neues Element in die Studien
der deutſchen Sprachforſcher dadurch ein, daß es num endlich auch
in Deutſchland zu Verſuchen kommt, die älteren germanifhen Spra-
den wicht bloß lexilaliſch, fondern auch grammatiſch zu behandeln.
Bir erinnern ums, daß bie Bahn Biezu ſchon längſt in England
von Hides, in Holland von Ten Kate gebroden war. Ja and) in
Deutſhland war fon im J. 1710 ein Anfang derartiger Stubien
gemacht durch Diederich's vom Stade handſchriftliche Grammatik
der Sprache Otfrid's. Aber dieſe Grammatik wurde nicht veröffent⸗
liht und fand keine Nachfolge. Der erſte Deutſche, der fih auf
dieſem Gebiet öffentlich Kervorthat, war Fried rich Karl Fulda.
Geboren zu Wimpfen im J. 1724, ftudierte Fulda zu Tübingen
Deologie umd daneben Philofophie und Mathematik, gieng dann
ala Feldprediger nach den Niederlanden und nahm nad Auflöfung
des Regiments, bei dem er ftand, an ber Univerfität Göttingen
feine Umiverfitätsftubien wieder auf, behnte fie aber jegt vorzugs⸗
weile über deutſche Alterthümer und Geſchichte aus. 1751 wurde
er Garnifonsprediger auf der würtembergifhen Feſtung Hohenas-
verg, 1758 Pfarcer in dem Dorf Mühlhauſen an der Enz, 1787
erhielt ex die Pfarrei Enfingen. Hier ift er am 2. Dec. 1788 ge»
forden. Obwohl in gelehrte Studien aller Art vergraben, war
Fulda ein pflichttreuer Seelforger, ein liebenswürdiger Geſellſchafter
und ein vortrefflicher Hausvater ). Um Fulda als Sprachforſcher
die Geſchichte der alten friefiſchen ober ſächſiſchen Sprache. Auri 1784, und
Altſriefiſhes Wörterbuch. Aurih 1786. — 1) Commentationes societatis
Tegise scientiarum Gottingensis. Vol. II, (1780) Hist, et philol.
p. 52 sq. unb Vol. IIT (1781) Hist. phil. p. 8 sg. — 2) Diefe Ange:
ben über Zulda’s Leben find entnommen aus ber „Nachricht von dem Leben
an den Sqhriften Friedrich Earl Fulda's (aus beffen Hinterlaffenen Papieren
Wiegen)” , die fi vor Zahn's Ausgabe bes Ulfilas, Weißenfels 1805, findet.
250 Zweites Buch, Viertes Kapitel,
richtig zu würdigen, muß man ſich erinnern, daß er nicht won der
Philologie, fondern von einer generalifierenden und abftrahierenben
Speculation herkam. Unter feinen bandicriftlihen Werken fand
fi ein „Stammbaum aller Wiſſenſchaften, Künfte, Profeffionen
und Handwerker” vom Jahr 1753, und eine Ontologia sive
dootrina, quae continet universalissimas notiones et praedi-
cata, methodo genealogica ereota-1783 1). Obwohl nun 1762
ber Unwille über Popowitſch's alphabetiiches Verzeihniß der ſ. g.
ungleih fließenden Conjugationen der Anlaß wurde, daß Fulda
fich auf bie Erforſchung ber deutſchen Sprache warf, fprang er doch
fofort über auf „die weſentliche Radilaleinſtimmung aller Sprachen“
und machte ſich ein „Stammbäumden der Sprachorgane und be
Urfprungs der menſchlichen Sprade und Begriffe” unter dem Titel
„Origo linguae humanae“ 2). Den Antrieb, öffentlich als
Sprachforſcher aufzutreten, erhielt Fulda durch eine von der Göt⸗
tinger Societät der Wiſſenſchaften geftellte Preisfrage. Fulda's
Bearbeitung derſelben erhielt im Jahr 1771 den Preis 3) und
wurde von ihm unter dem Titel: Ueber die beiden Hauptdialecte
der Teutfhen Sprade. — Leipzig 1773, veröffentlicht. Als Er-
gänzung folgte einige Jahre darauf Fulda's umfangreichites Wert:
Sammlung und Abſtammung Germaniſcher Wurzel- Wörter, nah
der Reihe menſchlicher Begriffe, — Halle 1776. In den beiden
näcften Jahren betheiligte er fih an dem teutſchen Sprachforicer,
den Johann Naft, Profeffor am Stuttgarter Gymnafium,
„Stutgart“ 1777 und 78 herausgab, mit einer Reihe größerer Ar-
beiten, unter welchen die zu „Stutgart“ 1778 auch einzeln erſchie⸗
nenen „Grundregeln der teutſchen Sprache” die bebeutendfte Stelle
einnehmen %). Noch in feinem letzten Lebensjahr veröffentlihte
Fulda den „Verfuh einer allgemeinen teutſchen Idiotikenſamm⸗
lung, — Berlin und Stettin 1788, und nad) feinem Tode gab
DE. bie oben angeführte „Nadriht" S. II u. IV. — 2) Eben.
S. V. — 3) Bl. Göttingifhe Anzeigen von Gelehrten Sachen 1771,
138, Gtüd, ©. 1178. — 4) Der teutſche Sprachforfcher. Zweiter Zeil
Stutgart 1778. ©. 118 — 220.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 251
Gräter Heraus: C. F. Fulda's Geſchichte der Teutſchen und ber
menſchlichen Natur. Ein Pendant zu ſeinem Wurzelwörterbuche
und Commentar über Tacitus Germania, Nürnberg und Altdorf
1795.
Sehen wir uns biefe Arbeiten Fulda's darauf an, was ihr
Berfaffer für die deutſche Sprachforſchung geleiftet Hat, fo wer⸗
den wir vor allen Dingen den Eifer anerkennen, mit dem er ſich
auch auf das Stubium der älteren germanifhen Spraden gewor-
fen hat. Er begnügt fid nicht mit dem bloßen Wortvorrath derfel-
ben, fondern er fucht auch ihren grammatifhen Bau zu erforſchen.
R feiner Preisſchrift über „die beiden Hauptdialecte der Teutſchen
Sprache“ (1773) gibt er eine Ueberficht über bie gothiſchen und
althochdeutſchen Flerionen *), und in den „Gruffbregeln der Teut-
ſchen Sprade“ (1778) Hat er Einiges noch weiter ausgeführt.
Fulda 2) kennt feine Vorgänger Hides 3), Ten Kate *) und Ihre 6),
ſucht fih aber feinen eigenen Weg zu bahnen. Seine Angaben
winmeln zwar von Fehlern ©), aber doch bleibt ihm das Verbienft,
als der erfte in Deutihland aud über den grammatiſchen Bau
der altgermanischen Sprachen etwas veröffentlicht und mit richtigem
Blick erlannt zu haben, daß die Alteften germaniſchen Flexionen
mit den griechiſchen und lateiniſchen „viele Gemeinſchaft hatten“ 7).
dulda's eigenthümlichfte Seite ift feine Wurzelforſchung. Hier
aber ſchweift er fo weit über das Gebiet des Germanifchen hinaus,
daß wir ihm an dieſer Stelle nicht folgen dürfen. Wir begnügen
uns, zu bemerken, daß e3 feiner Entwidlungsgefdichte der Sprache
nit an geiftreichen Bemerkungen und richtigen Bliden fehlt, daß
DS. fg. — Im (Nas) teutſchem Spragforfger II. (1778)
6.119 fg. — 3) Fulda, Ueber die beiden Hauptdialete S. 55. —
4) Sammlung — German. Wurzelwörter 1776, &©.29. — 5) Der teutfde
Spraßforfer II, ©. 119. Fulda's gothiſche Sprachlehre müffen wir Hier
außer Betracht laſſen, weil fie erſt 1805 in Zahn's Wiflas veröffentlicht wor: _
den if, und auch da nur von Zahn überarbeitet. — 6) Belege 3. ©. in
daldas Schrift Über bie beiden Hauptdialecte S. 4. — 7) Yulda im
Uuuthgen Sprachforſcher LI, (1778) ©. 134.
252 Zweites Buch. Viertes Kapitel.
aber in wiſſenſchaftlicher Hinſicht feine ganze Art zu etymologiſie⸗
ten auf Sand gebaut ift, indem ihr das erfte Erforderniß jever
wiſſenſchaftlichen Etymologie: Die Beobachtung der hiſtoriſchen
Lautwandelgefege, voliftändig abgeht. — Faſt gleichzeitig mit
Fulda machte der Jeſuit Karl Joſeph Michageler (geb. zu
Innsbrud 1785, 1783 Cuſtos an der Univerſitätsbibliothek in
Wien, geft. 1804) einen Verſuch zur grammatifhen Behandlung
der älteren germartifen Spraden in, feinen 1776 zu Innsbrud
eriienenen, auf Hides fußenden Tabulae parallelae antiquissi-
ınarum teutonicae linguse dialectorum, moesogothicae, franoo-
theotiscae, anglo-saxonicae, runicae et islandicae. Wir er
wähnen außerdem noch die Preisiäriften über bie Hauptepochen
der deutſchen Sprache feit dem 8. Jahrhundert von Leonhard
Meifter 1) in Züri und von Wilhelm PBeterfen?) in Stutt-
gart (1787), und die „Praktife Anweiſung zur Kenntniß ber
Hauptveränderungen und Mundarten ber teutſchen Sprache von
ben älteften Zeiten bis ins vierzehnte Jahrhundert," die Joh
Beter Willenbücher (Mector zu Brandenburg, geb. zu Beer
felden 1748, } 1794) im J. 1789 anonym herausgab 3).
Die Beläftigung mit den Alteften germanifhen Sprachen war
damals in Deutſchland noch etwas fehr Seltenes. Dennoch erhielt
dies Gebiet in unferer Periode einige werthvolle Bereicherungen
Um das Yahr 1756 entdedte der Archidiaconus Yranz Anton
Rnittel (geb. zu Salzdahlum 1721, geft. 1792) zu Wolfenbüttel
in einem Codex reseriptus ber dortigen Bibliothet ein Bruchſtũc
ber gothiſchen Ueberfegung bes Römerbriefs, das er einige Jahre
darauf (1762) zu Braunſchweig herausgab. Aus einer anderen
Wolfenbüttler Handſchrift fügte er einige Bruchſtücke bes Otfrid
bei. Bon großem Werth für das Studium bes Gothiſchen war
es ferner, daß ber bekannte Geograph Anton Friedrich Bi
1) In den Sehriften ber Kurfürſtlichen deutſchen Gefellfhaft in Mann:
Heim ®b. I, 6.255 fg. u. ®b. IL. — 2) Ebenb. Wb. IIL — 8) Bil
büdper war Verf. biefer 1789 zu Leipzig erfgpienenen Schrift. S. KRinberling
in Graͤter's Bragur, vd. VI, ©. 197.
Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 258
Sing in Berlin die gehaltvollen Schriften Ihre's über das Go-
thiſche vom Verfaſſer ſelbſt vermehrt und verbeffert (Berlin 1773)
gefnnmelt herausgab. Unfere althochdeutſchen Quellen vermehrte
durch einige Heine Stüde (1765, 1779) 1) der gelehrte Abt von
St Blafien im Schwarzwald Martin Gerbert (Freiherr von
Herman, geb: zu Horb 1720, geft. 1793). Für das Altſächſiſche
war von Wichtigkeit, daß der franzöfiige Emigrant Gerard Gley
(ge. zu Gerarbmer in Lothringen 1761, geft. zu Paris 1830) im
Jahr 1794 den verſchollenen, ehemals zu Würzburg befindlichen
Coder des Heliand auf der Kathevralbibliothel zu Bamberg wieder
entdedte. In Bezug auf das Niederdeutihe überhaupt ſchrieb J.
5% Kinderling (geb. zu Magdeburg 1743, 1774 Prediger zu
Calbe an der Saale, geft. 1807) einen Erſten Grundriß einer
iteratur der plattdeutjchen ober niederſächſiſchen Sprache und ihrer
Töchter (1794) 2), den er dann fpäter (1800) zu einer Geſchichte
der niederſächſiſchen Sprache erweitert Hat. Auf das Altnordiſche
tommen wir in einem fpäteren Abſchnitt zurüd. Hier bemerten
wir mm, daß Joh. Erichſon (geb. 1700 zu Sternberg in Med⸗
lenbutg, 1745 Paſtor zu Starkow in Schwebiid - Pommern) im
Jahr 1766 zu Greifswald eine Bibliotheca runica herausgab,
worin er die Schriften über die Runen verzeichnet und Nachrichten
über ihre Verfaſſer gibt. Schließlich wollen wir noch erwähnen,
dab im dieſer Periode ein geachteter Literator, Joh. Andreas
Fabricius (geb. 1696 zu Dobendorf, 1753 Rector des Gymna⸗
fünns zu Nordhauſen, geft. 1769) in feinem Abriß einer allgemei-
nen Hiftorie der Gelehrſamleit (Leipzig 1752) 3) bereit? im über-
taſchender Weife die Wichtigkeit und den Umfang der deutſchen
Philologie bezeichnet.
1) M. Gerbert, monumenta veteris liturgise Alemannicae II,
(179), 31. (In Müllenhoff’s und Scherer's Denkm. Nr. LXXIV).
— 2) In: Für deutſche Sprade, Litteratur unb Culturgeſchichte. Her. von
Kinderling, Willenbücher und Koch, Berlin 1794. — 3) 8. I, ©. 158,
14. S. Heinr. Hoffmann, Die deutsche Philologie, 1886, Vorr.
av.
254 Zweites Buch. Biertes Kapitel,
2. Die Herausgabe mittelhochdeutſcher Dichtungen. Ober
" lin’s Gloſſar.
Während, wie ſchon bemerkt, die vorangehende Periode (1665
— 1748) ſich vorzugsweiſe mit ber Herausgabe althochdeutſchet
Quellen befaßte, wendet ſich in der jegigen (1748—1797) die Thä-
tigfeit hauptſächlich den mittelhochdeutſchen Dichtungen zu. Schon
Gottſched's Bemühungen um bie Erforſchung der älteren deutſchen
Kiteratur hatten dieſe Richtung angebahnt 1). Viel wichtiger aber
für die Bekanntmachung der altdeutichen Dichter wurden die Ber
ftrebungen feiner feweizerifhen Gegner Joh. Jak. Bodmer
(geb. 1698 zu Greifenfee bei Zürich, geft. den 2. Jan. 1783 zu
Zürih) und Joh. Jak. Breitinger (geb. zu Züri 1701, geit.
ebenda ben 15. Dec. 1776). Beide Männer, eng befreundet in
ihren Kämpfen für die Ausbildung des deutſchen Geſchmacks, find
auch in ihren Leiftungen für die ältere deutſche Literatur fo nah
verbunden, daß fie ihre wichtigften Arbeiten gemeinfam unterneh⸗
men. Einerſeits als Geſchichtsforſcher, andrerjeits als Dichter und
Kritiker wurde Bodmer ſchon früh dem Studium der älteren deut-
ſchen Sprache und Dichtung zugeführt. Ein Richtebrief der Stadt
Züri aus dem 13. Jahrhundert wedte feine Liebe zu umfrer alten
Sprache und Literatur, und in Goldaſt's Paraenetifern fand dieſe
ihre erfte Befriedigung. Auch find ohne Zweifel Gottſched's gleih-
artige Beſtrebungen nit ohne Einfluß auf Bodmer geblieben 2).
DE.0.6.208. — 2) Im Deutfen Mufeum 1783, I, ©. 269
wirb erzäßlt, baf ein Richtebrief ber Stabt Zürich aus dem 18. Jahrhundert
zuerſt Bodmer's Liebe zur Sprade ber Minnefinger gewedt habe. Bobmer
ſelbſt erwaͤhnt bie Poeſie ber hohenſtaufiſchen Zeit in feinem Gedicht „Ehe
valter ber Deutſchen Gedichte" vom Jahr 1734 (J. 3. Bodmer's Gedichte,
2. Aufl. Züri 1754, ©. 19-21). Seine Renntniß ſcheint ſich aber der
mals noch auf Goldaſt's Paraenetifer befchränkt zu haben. Daß bie Abhand:
Tungen über @egenflänbe ber älteren beutfchen Literatur, die ſich in ben von
Gottſched herausgegebenen Beyträgen zur Critiſchen Hiſtorie ber deutſchen
Sprache (1732 fgbe) finden, nicht ohne Einwirkung auf Bodmer geblieben
find, iſt bei der damals noch beftehenden (von Danzel, Gotiſched ©. 186 fg-
Die germanifhe Philalogie in Deutfhland von 1748 bis 1797. 256
In Jahr 1748 veröffentlichte Bobmer in der „Sammlung Critifcher,
voetiſcher, und anderer geiftooller Schriften, zur Verbefferung des
Urtheiles und des Witzes in den Werden der Wohlrebenheit und
der Boefie* 1) feine Abhandlung: „Won den vortreffligen Um-
fänden für bie Poefie unter ben Kaifern aus dem ſchwäbiſchen
Haufe.” Hier macht er auf den nachher fo berühmt gewordenen
Coder (7266) der Pariſer Bibliothek aufmerffam, unter deſſen
Städen „etliche find, die mittelft eingelner Zeilen, die von Goldaſt
aus ihnen angezogen worden, ein ftardes Verlangen nad dem
gangen ermwelet haben“ 2). Nach dem Anfang einer fritiihen Aug-
gabe von Opigens Gedichten durch Bobmer und Breitinger (1745),
in welcher die Opitziſche Ausgabe des Annoliedes mit weiteren
neuen Anmerkungen verjehen wurde, folgten dann die „Proben ber
alten ſchwäbiſchen Poefie des dreyzehnten Jahrhunderts. Aus der
Maneßiſchen Sammlung, Zürich 1748,“ durch welde die mittel-
hochdeutſche Lyrik in den Kreis unſrer Litteratur eingeführt wurde.
Nittheilumgen von Scherg aus dem Coder 7266 der Barifer Biblio-
thel hatten Bobmer in der Muthmaßung beftärkt, „daß in bem-
felben die Liebes-Boeten des Schwäbiſchen Jahrhunderts enthalten
wären,“ welche Goldaſt in feinen Beraenetitern anführt. Dur
Lermittlung Schöpflin’s in Straßburg erhielten Bodmer und
Breitinger die Handſchrift zu freier Benutzung nad) Zürich gefendet.
Sie gab ihnen die volle Ueberzeugung, daß es wirfli die von
Goldaſt gebrauchte Handiehrift fei, die im Beginn des 17. Jahr⸗
hunderts aus dem Beſitz der Freiherren von Hohenſar in bie Biblio⸗
nachgewieſenen) Verbindung zwiſchen Gotiſched und den Schweizern vorauszu⸗
ſeben Aber der Brief Bodmer's an Gotiſched, den Danzel (Gottſched S. 192)
um Beweis Hiefür mittheilt, iR Nom Jahr 1738, alfo vier Jahr jünger ale
des oben erwähnte Gedicht Bobmer’s. Will man bie erſte Anregung Bob:
wer's zum Stubium der altbeutjhen Poefie durchaus auf Gottiſched zurüd-
führen, fo Fönnte man Bobmer’s Bekanntſchaft mit Goldaſt's Paraenetifern
aus den Begträgen zur Grit. Hiſt. der Deutfhen Sprade, 2. Stüd (1732)
©. 385 Yerleiten.
1) Siebendes Stüd, Züri 1743, ©. 25 fg. — 2) Ebend. ©. 35.
266 Zweites Bud. Biertes Kapitel.
the der Kurfünften von der Pfalz zu Heidelberg und von da neh
der Einnahme Heidelberg’ durch Tilly in bie königliche Bibliothet
zu Baris gelommen fei ‘). Da fie meinten, die Handſchriſt jei
einzig in ifrer Art, fo glaubten fie, mit Sicherheit die Worte des
Dichters Hadlaub (um 1800) von dem Sieberfammeln ber Ma-
neffe 2) in Züri auf unfere Handſchrift beziehen zu bürfen ). In
ihrem Vorbericht ftellen fie dann weiter Alles zufammen, was fie
über die Lehensumftände ber einzelnen Dichter ermitteln Tonnten,
und ſchon hier macht Bobmer die fpäterhin weiter ausgeführte
Entdeckung, daß in Rudolf's von Neuenburg Liedern fi einige
Strophen finden, die aus dem Provenzaliſchen des Folquet von
Marſeille überfegt find. Die „Grammatiigen Anmerkungen
über die Sprache der ſchwäbiſchen Poeten“ beginnen die Heraus
geber mit den treffenden Sägen: „Die alte ſchwäbiſche Sprache
hat feine geringe Schwierigkeiten. Diefe entftehen von der Menge
Wörter, die man hat untergehen lafien, ohne daß man fie mit an
been erfeget hat; von einer gleid jo groffen Anzahl Wörter, bie
zwar in unfrer Sprache nod) find, die aber in dem Munde der
Leute, duch welden fie gelaufen, duch das Alter, den Zufall, den
Eigenfinn, ganz andere Beitimmungen empfangen haben; von dem
Abgange und den Abweichungen, melde die Sprache in bev Sr
flerion, der Ableitung, der Stellung, und ber Verbindung der
Wörter erlitten Hat“ 9). Die reichhaltige Auswahl, in welcher
unter Anderen Walther von der Vogelweide der neueren Zeit zum
erftenmal in größerem Umfang vor bie Augen tritt, wirb daum zum
Schluß no dur ein gebrängtes Gloſſarium begleitet.
Die Herausgeber hatten gehofft, duch ihre „Proben von
Minnelievern ans der Maneſſiſchen Sammlung“ allgemeine Be
gierde auf die Veröffentlichung des Ganzen zu erwecken. Aber eine
1) ©. Bobmer’s Vorbericht zu den Proben S. V-XII. — 2%) In
(Bodmer’s) Minnesingern II, (1759) 8. 1874. — 3) Proben, Borbe:
richt ©. XIII fg. Minnesinger I, 8. XII fg. Bagegen Lachmann in ber
Vorr. zum Walther (2) ©. VI fg. — 4) Proben, Vorbericht S. XXVIII.
Die weitere Ausführung |. in (Bobmer’s) Neuen Gritifhen Briefen (2) Zi:
rich 1768, ©. 95 fg. — 5) Proben, Borberift, ©. XXXIX.
Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 257
Aufforderungeſchrift vom Jahr 1753 überzeugte fie, daß fie ſich
in ihren Erwartungen getäufcht hatten. Das Publicum zeigte
wenig Theilnahme, und nur bie höchſt ehrenwerthe Unterftügung
ihrer Züricher Mitbürger machte es Bodmer und Breitinger mög⸗
lich ) neun Jahre nad Herausgabe der Proben die ganze Parifer
Handſchrift erfheinen zu laſſen unter dem Titel: „Sammlung
von Minnefingern aus dem ſchwäbiſchen Zeitpunkte OXL Dichter
enthaltend; durch Ruedger Manefien, weiland des Rathes der ur-
alten Zyrich. — Erſter Theil Durch Vorſchub einer anſehnlichen
Zahl von Freunden des Minnegeſanges. Zyrich — 1758. „Zwey⸗
ter Theil“ 1759. In der Vorrede ſprechen die Herausgeber mit
warmer Liebe von ihren Minnefingern und wiederholen dann bie
Auseinanderfegung, bie fie in den Proben über die Handſchrift und
ihren vermeintlien Sammler gegeben hatten. Sie erwähnen auch.
des Senaer Eoder und ber Nachricht, die über ihn inzwiſchen Pro⸗
feilor B. Chr. Bernhard Wiedeburg 2) (geb. zu Jena 1722,
gef. ebend. 1758), durch Breitinger und Bodmer dazu aufgemun«
tert), gegeben hatte +). Aber auf eine nähere Vergleihung laſſen
fie fih nit ein. Auch geben fie diesmal weder eine grammatiſche
Einleitung, noch ein Gloffar. Ya, was den Text ſelbſt betrifft, fo
enthalten fie fi fogar der Interpunction und beſchränken fih auf
den Abbrud der Handſchrift. Wir Iennen jegt die Mängel dieſer
Ausgabe vet wohl. Aber trog alle dem iſt diefe Leiftung Bod⸗
mer's und Breitinger’3 eine höchft verbienftlihe, und wenn fie auch
zunãchſt nicht den Erfolg hatte, den die Herausgeber wünſchten, fo
werden wir um fo glängender ihre tief eingreifende Wirkung auf
die Entwidlung unferer Wiſſenſchaft in der folgenden Periode Ten-
nen lernen. Kurz vor der Veröffentlihung ber großen Minne⸗
1) Sammlung von Minnesingern, I, (1758) Vorrede 8. II. —
2) Ausfügrliche Nachricht von einigen alten teutſchen poet. Danufcripten aus
dem dreygehenden und vierzehenden Jahrhunderte, welde in ber Jenaifhen afa-
demiſchen Bibliothek aufbepalten werben, ber. von Baf. Chr. Bernhard Wieder
burg. Jena 1754. — 3) Bol. bie Borr, von Wiedeburg's eben ange
fügrter Schtift 8.2, — 4) I, Vorrede 8. IX.
Raumer, Gehd. der germ. Phtlologle. 17
266 Zweites Bud. Bierte® Kapitel,
thek der Kurfürſten von der Pfalz zu Heidelberg und von ba nach
ber Einnahme Heidelberg's durch Tilly in bie koöͤnigliche Bibliothel
zu Paris gefommen ſei i). Da fie meinten, die Haudſchrift fei
einzig in ihrer Art, fo glaubten fie, mit Sicherheit die Worte des
Dichters Hadlaub (um 1300) von dem Liederfammeln der Ma-
neffe ?) in Zürich auf unfere Handſchrift begiehen zu dürfen ). In
ihrem Vorbericht ftellen fie dann weiter Alles zufammen, was jie
über bie Lebensumſtände der einzelnen Dichter ermitteln Tonnen,
und ſchon hier macht Bodmer die fpäterhin weiter ausgeführte
Entdekung, daß in Rudolf's von Neuenburg Liedern ſich einige
Strophen finden, die aus dem Provenzalifhen des Folquet von
Marfeille überfegt find). Die „Grammatiſchen Anmerkungen
über die Sprache der ſchwäbiſchen Poeten“ Beginnen bie Heraus
geber mit ben treffenden Sägen: „Die alte ſchwäbiſche Sprache
hat feine geringe Schwierigkeiten. Diefe entftehen von der Menge
Wörter, die man hat untergehen laſſen, ohne daß man fie mit an-
dern erfeget hat; von einer gleich fo groſſen Anzahl Wörter, die
zwar in unfrer Sprache noch find, die aber in dem Munde ber
Leute, durch welchen fie gelaufen, durch das Alter, den Zufall, den
Eigenfinn, ganz andere Beitimmungen empfangen haben; von dem
Abgange und den Abweihungen, welche die Sprache in ber Ju⸗
flerion, der Ableitung, der Stellung, und ber Verbindung ber
Wörter erlitten hat" 9. Die veihhaltige Auswahl, in welder
unter Anderen Walther von der Vogelweide ber neueren Zeit zum
erftenmal in größerem Umfang vor die Augen tritt, wird Damm zum
Schluß nod durch ein gebrängtes Gloſſarium begleitet.
Die Herausgeber hatten gehofft, durch ihre „Proben von
Minnelievern ans der Maneffiihen Sammlung” allgemeine Be
gierde auf die Veröffentlichung des Ganzen zu erweden. Aber eine
1) ©. Bodmer's Vorbericht zu ben Proben S. V-XII. — 9%
(Bodmer’s) Minnesingern II, (1759) 8. 187. — 3) Proben, Borber
richt S. XIII fg. Minnesinger I, 8. XII fg. Dagegen Lachmann in be
Borr. zum Walther (2) ©. VI fg. — 4) Proben, Vorbericht S. XVII.
Die weitere Ausfüprung |. in (Bobmer’s) Neuen Critiſchen Briefen (2) 31:
rich 1768, ©. 95 fg. — 5) Proben, Vorbericht, ©. XXIX.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 257
Aufforderungsſchrift vom Jahr 1758 überzeugte fie, daß fie fih
in ihren Erwartungen getäufht Hatten. Das Publicum zeigte
wenig Theilnahme, und nur bie höchſt ehrenwerthe Unterftügung
ihrer Züricher Mitbürger machte es Bobmer und Breitinger mög-
lich '), neun Jahre na Herausgabe der Proben die ganze Parifer
Handſchrift erjcheinen zu laſſen unter dem Titel: „Sammlung
von Minnefingern aus dem ſchwäbiſchen Zeitpunkte OXL Dichter
enthaltend; durch Ruedger Manefien, weiland des Rathes der ur⸗
alten Zyrich. — Erfter Theil. Durch Vorſchub einer anfehnlichen
Zafl von Freunden des Minnegefanges. Zyrich — 1758." „Zwey⸗
ter Theil“ 1759. In der Vorrede ſprechen die Herausgeber mit
warmer Liebe von ihren Minnefingern und wieberholen dann die
Auseinanderfegung, die fte in den Proben über die Handſchrift und
iften vermeintlichen Sammler gegeben Hatten. Sie erwähnen auch
des Jenaer Eoder und der Nachricht, die über ihn inzwiſchen Pro-
feſſer B. Chr. Bernhard Wiedeburg ?) (geb. zu Jena 1722,
geſt. ebend. 1758), durch Vreitinger und Bobmer dazu aufgemun-
tert 3), gegeben hatte ). Aber auf eine nähere Vergleihung laſſen
fie ſich nicht ein. Auch geben fie diesmal weber eine grammatiſche
Einleitung, noch ein Gloſſar. Ja, was den Text feldft Betrifit, fo
enthalten fie ſich fogar der Interpunction und beſchränken fih auf
den Abdruck der Handſchrift. Wir kennen jegt die Mängel biejer
Ausgabe recht wohl. Aber trog alle dem iſt diefe Leiftung Bod⸗
mer’3 und Breitinger's eine höchſt verbienftliche, und wenn fie auch
zunachſt nicht den Erfolg hatte, den die Herausgeber wünſchten, fo
werden wir um fo glängenber ihre tief eingreifende Wirkung auf
die Entwidlung unferer Wiſſenſchaft in der folgenden Periode ken⸗
nen lernen. Kurz vor der Veröffentlichung ber großen inne
1) Sammlung von Minnesingern, I, (1758) Vorrede 8. III. —
9) Ausführliche Nachricht von einigen alten teutſchen poet. Manufcripten aus
dem drepgehenden unb vierzefenben Jahrhunderte, welche in ber Jenaiſchen afa-
demiſchen Bibliothek aufbehalten werden, her. von Baf. Chr. Bernhard Wiebe
burg. Jena 1754. — 3) Bol. die Vorr. von Wiedeburg's eben ange
füßrter Schrift 8.2, — 4) I, Vorrede 8. IX.
Raumer, Gef. der germ. Philologie. 17
208 Zweites Buch. Biertes Kapitel,
fängerhandfehrift Hatten Bodmer und Breitinger zwei andere mittel
hochdeutſche Dichterwerke herausgegeben, deren eines dem Geſchmack
jener Zeit befonders entiprad), während das andere erft in ber
Folgezeit als eins ber größten Dichterwerke bes deutſchen Geiſtes
erfannt werben follte. Das erftere waren die „Kabeln aus den
Beiten ber Minnefinger, Züri 1757” ?), als deren Verfaſſer man
fpäter den Bonerius ermittelt hat; das zweite: „Chriemhilden
Rache, und die Klage; zwey Heldengedichte aus dem ſchwäbiſchen
Beitpuncte. Samt Fragmenten aus dem Gedichte von ben Nibe⸗
Hungen und aus dem Joſaphat. — Zyrich 1757.” In dieſem klei⸗
nen Quartanten liegt nun der erfte, wenn auch noch unvollſtändige
Drud unferes Nibelungenlieves vor. he wir aber weiter
darüber ſprechen, wollen wir ber Thätigteit gebenfen, Die Bobmer
noch in feinem höchſten Greifenalter für Herausgabe der altveut-
ſchen Dichterwerke entwidelte. Auch nah der Bekanntmachung ber
Barifer Handſchrift Hlieb ex unermũdlich thätig im Sammeln und
Leſen altdeutſcher Dichtungen. Es war ihm jedoch nicht mehr ver-
gönnt, feine angeſammelten Schäge felbft zu veröffentlichen. Aber
an feiner Stelle fand ſich einer feiner jüngeren Freunde umd Ber
ehrer, um das angefangene Unternehmen fortzufegen. Es mar
dies Chriftoph Heinrid Müller, ober, wie er ſich nach Bod⸗
mer’3 Weife zu ſchreiben pflegte, Myller. Geboren zu Zürich im
Jahr 1740 war diefer eigenthümlihe Mann ?) ſchon früh Lehrer
am Joachimsthal ſchen Gymnafium in Berlin geworben, im Jahr
1788 Tehrte er in feine Vaterſtadt zurüd und ftarb daſelbſt am
22. Febr. 1807. Im Sommer bes Jahres 1780 wanbte fih
Müller von Berlin aus brieflih an Bodmer mit dem Anerbieten,
„die Ausgabe der ſchwäbiſchen Dichter in Berlin zu beſorgen“
Er wiederholte dies Anerbieten dann unter dem 16. Sept. 1780
1) Den Hauptantheif an biefer Ausgabe bat Breitinger. Vgl. bie Bor:
vebe, unb Franz Pfeiffer's Ausgabe des Boner (Leipz. 1844), Borw. ©. VII.
— 2) Bgl. die Sgilderung, die er vom ſich felbft gibt, in der Anmerkung
gu: Briefe ber Echweizer Bobmer, Sulzer, Gehner. Aus Gleim's — Radlafie
Herausg. v. Kötte, Zürid 1804, ©. 406.
Die germanifcge Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 259
öffentlich im einem Schreiben an den Herausgeber des Deutſchen
Mufeums, welches diefer im Novemberheft besfelben Jahres ab-
druden ließ. Eine Geſellſchaft von dreißig Liehhabern follte zufam-
mentreten, von benen jeber brei Jahre lang jährlich drei Louisdor
fir den Abbrud der alten Handſchriften hergäbe. Dies reihe hin,
alle altſchwäbiſchen Dichter dem Untergang zu entreißen. Er ſelbſt
erbot ſich, mit feinem Beitrag voranzugehen 1). Das Unternehmen
fund zwar nit ganz ben gewünſchten Anklang 2), aber doch reich⸗
ten die bargebotenen Mittel hin, um bie Dichtungen zu veröffent-
lichen, welche den Kern unfrer erzählenben mittelhochdeutſchen Poefte
Hilden. Der greife Bobmer bot feine reihen Sammlungen an 3)
amd förderte das Unternehmen auf jede Weiſe. Das Werl, mit
welchem Myller den Beginn machte, war das Nibelungenlied.
Bohmer hatte, wie wir oben fahen, den zweiten Theil besfelben
bereits im J. 1757 veröffentlicht, und zwar hatte er dies aus der
jegt mit O bezeichneten Handſchrift gethan, bie er im Jahr zuvor
durch Herrn von Wocher aus der Bibliothel von Hohen Ems er-
halten Hatte. Als Bodmer fpäter im J. 1779 von dem Ganzen
Afrift zu nehmen wünſchte, waren inzwiſchen große Veränderun⸗
gen in ber Grafigaft Hohen Ems vorgegangen. Die früher mit-
getheilte Handſchrift der Nibelungen war nicht aufzufinden; aber
nach langem Durhmwühlen der beinahe vermoberten Bücherhaufen
gelang es Herrn von Woder, eine andere Handſchrift besfelben
Gedichts zu entbedfen, und biefe fenbete er Bobmer zu. Es war
die jetzt mit A bezeichnete Handſchrift. WBobmer. bemerkte recht
wohl, daß die Handfärift, aus der er fi jetzt die erfte Hälfte
der Nibelungen abſchreiben ließ, eine andere war, als bie, aus
welchet er bie zweite Hälfte Hatte abbruden laſſen, und ex teilte
1) Deutjges Mufeum 1780, &. II, S. 461. — 2) Bgl. die Angaben
bie Zarnde in ber Einleitung zu feiner Ausgabe des Nibelungenlieds (6G
1868 6. XXIV fg.) aus feinem Erxemplar ber Myller'ſchen Sammlung macht.
Den beiden Eremplaren, bie mir zu Gebote ſtehen, find biefe Rechnungsab ⸗
lagen nicht beigebunben. — 3) Vergl. Deutſches Muſeum 1781, ®b. I,
6.87.
17*
280 Zweites Bud. Viertes Kapitel.
diefen Umftand Hrn. Müller mit, als er dieſem jene Abſchrift der
erſten Hälfte fandte 1). Diefer aber überfah Bodmer's Bemerkung
und erflärte am Schluß feines Abdrncks, das ganze Gedicht ſei
einer und derſelben Hohenemfer Handihrift entnommen, die erfte
Hälfte nad) der von Bodmer beforgten Abfchrift, die zweite nad
deſſen Ausgabe ?). Dur dies Verſehen bat der gute Müller
allerdings unfägliche Verwirrung angerichtet. Aber es bleibt ihm
das Verdienft, dur feinen ſchönen Eifer bie erfte volfftändige
Ausgabe unferes gewaltigften Heldengedichts zu Stande gebracht zu
Haben, deren Drud im September 1782 bei Chriftian Sigismund
Spener vollendet wurde unter dem Titel: „Der Nibelungen it
ein Rittergedicht aus dem XII. oder XIV. Jahrhundert. Zum
erſten male aus der Handſchrift ganz abgebrudt.” Wie früherfin
Bodmer, fo fügte auch Müller die Klage dem Nibelungenlieb bei;
aber fie unterſcheidet ſich bei ihm ſchon äußerlich ſtärker davon, weil
er das Nibelungenlied nicht, wie Bodmer, in kurzen, fonbern in
langen Zeilen abbruden läßt. Strophen unterſcheidet er jedoch
nicht, obſchon Bodmer in dem oben angeführten Brief am ihn bei⸗
läufig von „Strophen“ des Nibelungenliedes ſpricht ®). Wenige
Monate nah der Verſendung des Nibelungenlieds ftarb Bobmer.
Aber fo ſchmerzlich fein Tod ben Herausgeber und alle Freunde
der altdeutſchen Literatur berührte, fo erlitt doch das Unternehmen
feine Unterbrechung. Im Lauf eines Jahres wurden noch geliefert
außer einigen kleineren Saden: „Die Eneidt — von Heinrich
von Veldecken zum erften male aus ber Handſchrift abgebrudt‘,
(geendigt Anfang April 1783), „Barcival ein Nitter- Gedicht aus
dem dreizehnten Jahrhundert von Wolfram von Eſchilbach zum
zweiten male aus ber Handſchrift abgedrudt, weil der erfte Anno
1477 gemadte Abbrud fo felten wie Manufeript ift“, endlich der
Arme Heinvih des Hartmann von Aue Alles bisher Genannte
1) S. Bodmer's Brief an Müller vom 1. Mai 1781, in F. H. v. be
Hagen’s Sammlung für Altdeutſche Literatur und Kunſt, I. Bd., 1. Etid,
Breslau 1812, ©. 5 fg. — 2) Bgl. die Schlußbemerkung Müller's in fr
mer Ausgabe des Nibelungenlieds ©. 152. — 3) 9. a. ©. S. 11.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 261
wurde dann zuſammengefaßt unter dem Titel: „Samlung deut⸗
fher Gedichte aus dem XIL. XII. und XIV. Jahrhundert.
Eiſter Band, — Geendiget im Anfang des Februars 1784.“ Der
Herausgeber hatte das erfte Stüd der Sammlung: das Nibelun-
genlied, Friedrich dem Großen gewidmet. Es gehörte freilich eine
merkwũrdige Naivetät dazu, bei einem folden Unternehmen auf den
Leifall dieſes Monarchen zu Hoffen. Die Aufnahme war denn
au danach. Der König beantwortete die Ueberfendung des Dedi-
ationseremplars mit folgendem Schreiben: „Hochgelahrter, Lieber
getreuer. Ihr urtheilt, viel zu vortheilfafft, von denen Gedichten,
aus dem 12., 13. und 14. Seculo, deren Drud ihr befördert ha-
bet, und zur Bereicherung der Teutſchen Sprade, fo brauchbahr
haltet. Meiner Einficht nad, find folde, nicht einen Schuß Pul-
ver, werth; und verdienten nicht, aus dem Staube der Vergefjen-
heit, gezogen zu werben. In meiner Bücder-Sammlung wenig-
ftens, würde Ich, dergleichen elendes Zeug, nicht dulten; fondern
herausſchmeiſſen. Das Mir bavon eingefandte Eremplar mag da-
hero fein Schidjaal, in der dortigen großen Bibliothec, abwarten.
— Biele Nachfrage verſpricht aber folhem nit; Euer fonft gnä-
diger König Frch. Potsdam, d. 22. Februar 1784" 1). Erinnern
wir uns, daß Ludwig Tied ein geborener Berliner, daß Hagen,
Amann, Jacob und Wilhelm Grimm Lehrer an der Berliner
Univerfität waren, fo werden wir zugeben, daß die Voransjagung
des großen Königs nicht eingetroffen ift, und daß es dem Nibelun-
genied auf der Berliner Bibliothek an Nachfrage nicht gefehlt Hat.
Brofeffor Müller lieg ſich auch durch dies wegwerfende Urtheil
Friedrichs IT. nicht irre maden, fondern fuhr fort in der Veröf-
fentlichung der altdeutſchen Dichterwerke, jo daß aus dem nun fer-
ner Gedrudten im J. 1785 ein zweiter Band. feiner Sammlung
gebildet werben konnte. Diefer Band enthält wieberum neben
manchem Anderen eine Anzahl von Werken, die zum Grundſtock
unfrer altdeutſchen Dichtung gehören. Gleih zum Eingang:
Triſtran ein Rittergedicht aus dem XII. Jahrhundert von Got-
1) A. Höfer, die deutſche Philologie, S. 7, Anm.
262 Zweites Bud). Biertes Kapitel.
feit von Strazburc zum erftenmal aus ber Handſchrift abgebruft.”
nDiefes Gedicht, Heißt es am Schluß, ift abgebrudt worden aus
einer Abſchrift, melde ber löbliche Canton Zürich Hat nehmen
laſſen von einer Membran aus der grosherzoglichen Bibliothek zu
Florenz.” Ferner bringt diefer Band den erften Drud von Hein
rich's von Freiberg Fortfegung des Triftan, von Konrad Files
Flore und Blanfheflur, von Hartmann's mein (aus der Floren⸗
tiner Handfärift), ober wie er durch einen feltfamen Lefefehler Hier
durchweg heißt, „Twein“ 1), enbli ben erften mittelhochdeutſchen
Text des Freidank nach Breitinger's Abſchrift des Straßburger
Eoder, und Ergänzungen zur Parifer Minneſingerhandſchrift aus
dem Jenaer „Alten Meifter-Gefangbuh." Ein dritter Band von
Müller’8 Sammlung, der nit vollendet wide, fügte dem Bis
herigen noch die erfte Hälfte von Konrad's von Würzburg Troja
niſchem Krieg Hinzu Dann aber gerieth das Unternehmen in's
Stoden. Prüfen wir nun die Verbienfte, die fi der Herausgeber
um die BVeröffentligung unfrer alten Dichtungen erworben hat,
näher, fo follen alle die großen Mängel, die feiner Arbeit anfler
ben, durchaus nicht geläugnet werben. Wir kennen biefelben, ebenſo
wie bie von Bobmer’s und Breitinger's Ausgabe der Weinnefinger,
zur Genüge. Aber troß all biefer Mängel ift das Verdienſt, das
diefe Männer fi um die alltdeutſche Literatur erworben haben, ein
höchſt ſchätzbares. Durch ihre Bemühungen ift der wichtigſte
Theil ſowohl der lyriſchen, als der erzählenden Poeſie unfrer mit-
telhochdeutſchen Blüthezeit zum Drud befördert worden. Auf dieſen
Abdrüden, fo fehlerhaft fie find, ruht zunächſt die Kenntniß, welche
in ber folgenden Periode die Nomantifer von der altdeutſchen Poeſie
haben. Ja noch bei ber eigentlichen Begründung unfrer germani-
1) Diefer Mißgriff iR um fo auffallender, als Micaeler, der im Ar
Hang zu feinen Tabulis parallelis (1776) ſchon ein Brudflüd bes wein
veröffentlicht, ihm bereits Ywein (S. 298) oder Ywan (G. 317) ſqhreibi.
Auch Bobmer, der in feinen Altengliſchen Balladen u. ſ. f. Zürich 1780,
©. 181 fg. no Twein ſchreibt, hat fi in fein Hanberemplar, weldes die
Zuricher Stadtbibliochek auſbewahrt, bie Notiz gemagt: . „S. 181 leſet all:
mahl Iwein, fonft ſchreibt man es au Ywein, Ywain, Yban.c
Die germaniſche Philologie in Deutjchland von 1748 bis 1797. 268
fhen Philologie, bei dem Erſcheinen von Grimm’s Grammatit
(1819) bildet das, was dieſe drei Züricher geleiftet haben, die
Hauptgrundlage für die Kenntniß der mittelhochdeutſchen Dichtung.
Denn verglichen mit dem, was Bodmer, Breitinger und Müller
zum Drud befördert haben, erſcheint alles, was außerdem in ben
ahren 1748 bis 1797 für Veröffentligung altdeutſcher Werke ges
ſchehen ift, nur als eine, wenn auch fehr dantenswerthe Ergänzung.
& G. Casparſon's (geb. zu Gießen 1729, geft. zu Kaſſel 1802)
ſehr mangelhafte Ausgabe von Wolfram's Willehalm mit Ulrich's
von dem Zürlin Hinzudichtung (Kaffel 1782 — 84), Gottfried
Schũtz e's Ausgabe der Welthronit bes Mubolf von Ems 1) (Ham-
bg 1779— 81), Michaeler's nochmaliger Abdrud des wein
aus der Ambrafer Handſchrift (Wien 1787), Johann Joachim
Eſchenburg's (geb. zu Hamburg 1743, geft. zu Braunſchweig
1820) Mittheilungen aus altdeutſchen Handſchriften?), und endlich
Friedrich Adelung's (eines Neffen des deutfchen Grammatikers,
geb. 1768 zu Stettin, geſt. als Präfident der Alademie der Wiſ⸗
ſenſchaften in Petersburg 1843) Nachrichten von altdeutſchen Ger
dichten, welche aus ber Heidelbergiſchen Bibliothek in die Vati-
tanifche gefommen find (Königsberg 1796. 1799). Aber ein Mann
muß hier noch genannt werden, dev unter ben Vertretern ber alt⸗
deutſchen Stubien im 18. Jahrhundert eine der adtungsmwertheften
Stellen einnimmt, nämlich Jeremias Jakob Oberlin. Er
war geboren zu Straßburg am 7. Aug. 1735 und machte feine
Studien auf der dortigen Univerfität. Einer der wenigen, die da-
mals ſchon die Philologie zu ihrem Lebensberuf erwählten, fteht er
in feiner Zeit ‘faft einzig da durch den ſchon früh gefaßten Ent
ſchluß, das Studium der antiten Spraden mit dem der neueren
1) Wir bezeichnen Hier das Werk der Kürze wegen fo. Ueber den eigent-
lichen Gadjverhalt vgl. Vilmar, Die zwei Recensionen und die Hand-
schriftenfamilien der Weltchronik Rudolfs von Ems 8.53 fg. —
9 In Leſſing's Beiträgen (1781), im Deuiſchen Muſeum (1776 fg). Ge
fmmelt und vermehrt herausgegeben als: Denkmäler altdeutscher Dicht-
kunst, Bremen 1799.
204 Zweites Bud. Biertes Kapitel.
zu verbinden und ben Zuſammenhängen beider nadzufpüren ').
Oberlin ſchloß fi in feinen Stubien befonders dem namhaften
Geſchichts⸗ und Altertfumsforicer Joh. Daniel Schöpflin (+ 1771)
an, ber ihm bie Fortſetzung feiner Alsatia illustrata übertrug.
Viele Jahre mußte fi Oberlin mit einem untergeorbneten Lehr⸗
amt am Straßburger Gymnaſium begnügen, bis er endlich 1778
außerorbentlicher, 1782 ordentlicher Profeffor an der dortigen Uni⸗
verfität wurde. Hochgeehrt und geliebt von feinen Mitbürgern und
feinen zahlreihen Schülern ftarb er am 10. Oktober 1806 2). Dos
Eharakteriftiihe an berlin war feine Verbindung ber antifen
Studien mit den mittelalterlihen. Seine Verdienfte um bie Haj-
fiſche Philologie können wir Bier nicht weiter verfolgen. Sein
Studium der neueren Sprachen erftredte ſich ſowohl auf das Fran⸗
zöſiſche, als das Deutſche. Ein Ferienaufenthalt bei feinem Bruder,
dem trefflihen Pfarrer im Steinthal, veranlafte ihn zu einer
Schrift über das Lothringiſche Patois (1775), wobei er aud das
AUtfranzöfifhe und das Provenzalifhe in den Kreis feiner Untere
ſuchungen zog. Auf dem Gebiet der altdeutſchen Sprache und
Kiteratur befigen wir von ihm ſchätzbare Abhandlungen über Bo
ner's Edelſtein (1782) und über Konrad von Würzburg (1782)°)
und bie Ausgabe eines deutſchen Beihtbudes aus dem 14. Jahr⸗
Hundert (1784). Sein Hauptwerk aber ift bie Herausgabe von
Scherz altdeutſchem Wörterbuch, deffen erfter Band im J. 1781
zu Straßburg unter dem Titel erihien: Joh. Georgii Scherzü
Glossarium Germanicum medii aevi potissimum dialecti
Buevicae edidit illustravit supplevit Jeremias Jac. Oberlinus.
Der zweite Band folgte im J. 1784. Den Grundftod biejes Wertes
1) Bot. Oberlin's eigene Worte in Schweighäufer's Memorie Oberlini,
Argentorati 1806, p. 9. — 2) Ueber Oberlin’8 Leben und Charakter vgl.
bie eben angeführte Memoria von Schweighäufer. — 3) Auch zu den Ab:
handlungen feiner Schüler über bie Alsatia litterata sub Celtis, Romanis,
Francis nnb sub Germanis saeculo IX et X, de Johannis Tauleri
dictione vernaculs, de Johannis Geileri scriptis Germanicis, de poe-
tie Alsatiae eroticis medii aevi, und über Jakob Twinger fieferte Dber:
lin ben Stoff.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 265
bildet die Lebensarbeit des gelehrten J. G. Scherz. Aber durch
Oberlin's Zuthaten hat das Werk erft die eigenthümliche Stellung
belommen, die es in ber Geſchichte der altdeutſchen Stubien ein-
nimmt. Bergleihen wir nämlich das Scherz-Oberlin'ſche Gloſſar
mit dem nur fünfundzwanzig Jahre früher erſchienenen Haltaus'-
ſchen, fo erkennen wir fofort den augenfälligen Unterſchied. Bei
Haltaus ift es abgefehen auf die Erflärung von Urkunden und an-
teren Rechtsdenkmälern. Was außerdem herangezogen wird, bas
fell nur dazu dienen, den Sprachgebrauch des Rechts zu erläutern.
Bo der Herausgeber, J. &. Böhme, bie neueren Werke auf
lt), die noch in den letzten Jahren vor Vollendung des Druds
(1758) benußt werben konnten, ba thut er der Proben ber alten
ſchwãbiſchen Poefie und der anderen vor 1758 erſchienenen Ver-
Öffentlihungen der Zürder nit einmal Erwähnung, und wenn
man den übrigens fehr hübſchen Artifel Minne im Wörterbud
ſelbſt vergleicht, fo fieht man, daß jene Dichterwerke auch wirklich
nicht berüdfichtigt worden find. Ganz anders Oberlin. Er benutzt
nicht nur die herausgegebenen mittelhochdeutfchen Dichter, und zwar
Schritt Haltend mit den Veröffentlihungen im zweiten Band auch
Müllers Nibelungen und Heinrich von Velvet und Casparſon's
Wilhelm von Oranſe, fondern es ift ihm auch ausdrüdlih darum
zu tun, ein Hülfgmittel zum Verſtändniß biefer Dichtungen zu
bieten. Hat nun gleich auch Hiefür Scherz bereits vorgearbeitet, fo
fonnte doch ſchon der wichtigen erft nad Scherzens Tod (1754)
herausgegebenen Quellen halber nur Oberlin dem Werke biefen
Charakter aufprägen. Und fo viel aud feine Bemühungen zu
wũnſchen übrig laſſen, jo war doch ein Anfang gemacht, ben Freun⸗
den ber mittelhochdeutſchen Dichtung menigftens ein Ierifaliiches
Hilfsmittel zu bieten. Dies wurde aud) von den Zeitgenoffen und
der nächftfolgenden Generation dankbar anerkannt, umd unter den
Subſtribenten auf Oberlin’s Werk finden wir Herder und Mies
land, die wir unter ben Unterzeichnern eines Buches wie Haltaus'
Sloffarium vergeblich ſuchen würden.
1) Am Schluß ber Borrede.
266 Zweites Bud. Viertes Kapitel.
3. Die Einwirkung der deutſchen Klaffiker auf bie germanifge
Bbilologie in ben Jahren 1748 bie 1797.
Blicken wir zurüd auf alles, was in ben Jahren 1748 His 1797
für Herausgabe unfrer alten Dichtungen gefhehen ift, fo ſehen wir,
daß ein ſehr reichhaltiges Material dem Zeitalter durch den Ab⸗
drud zugänglich; gemacht war. Die Aufnahme und Wirkung biefer
Schäte aber war bebingt durd den Zuſtand unferer Literatur und
Bildung überhaupt. Wir müfjen deshalb einen Blick auf die Ent
wicklung ber deutſchen Literatur in ber zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts werfen, doch ohne daß wir uns zu einer Darftellung
diefer Entwicklung ſelbſt verloden laſſen. Denn unfere Aufgabe
ift Bier allein, zu unterſuchen, welden Einfluß die verfdiebenen
Richtungen der Literatur und ihre Häupter auf die Entwicklung
der germanifchen Philologie geübt haben 1). Gleich die erften, die
wir in der Geſchichte unſrer Wiffenfhaft zu nennen hatten, Gott
ſched und feine ſchweizeriſchen Gegner, nehmen befanntlih aud in
ber Geſchichte der deutſchen Literatur eine widtige Stelle ein.
Was Gottſched betrifft, fo war fein Verhältniß zur älteren beut-
ſchen Literatur ein mehr Außerlihes. Es war mehr der löbliche
Eifer für die Zufammenftellung und Hervorhebung aller beutjäen
literarifchen Leiſtungen, ber ihn trieb, als eine innere Hinneigung
zu unfver alten Dichtung. Ganz anders ftanden Bodmer und
Breitinger, bie in ben altdeutſchen Dichtungen eine Beftätigung
ihrer Theorien fanden und ihrem ganzen Weſen nach weit mehr
Verwandtſchaft mit ihnen Hatten. So finden wir denn aud bei
Bobmer, dem überbies feine vertraute Bekanntſchaft mit ber italieni-
ſchen Literatur fehr zu Statten kam, mande treffende Bemerkung
über unfere mittelhochdeutſchen Dichtungen. Er ſpricht von ihnen
mit warmer Liebe und Begeifterung. „Unfer Vergnügen barüber,
fagt er im Vorbericht zur Sammlung von Minnefingern ?), ent
ftand von ihrem innerlichen und poetiſchen Werthe, von den Em-
1) 2gl. hierüber A. Koberflein, Grundriß ber Gefdjichte ber deutſchen Ra
tional:itteratur, Xb. II, vierte Ausgabe, Leipgig 1856. — 2) 6. XX.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 267
pfindungen, Bildern und Gedanken; und biefe Art von Freude ift
&, die wir durch unfere Bemühungen gerne unter unfern witigen
bandsleuten weiter ausbreiten möchten.“ Dies, nicht das rechtsge⸗
ſcichtliche Intereſſe, wie fo manden früheren Herausgeber altveut-
fer Dichtungen, habe fie geleitet. In ber Vorrede zu feiner Aus-
gabe der zweiten Hälfte des Nibelungenlieds (1757) 1) ſpricht Bod⸗
mer mit Bewunderung von ber „anziehenden Einfalt" und „großen
Aarheit“· in ben Ausführungen dieſes Gebihts und von der Mans
migfaltigleit in ber Schilderung der verfdiebenen Helden und
Kämpfe. Er ahnt die Vortrefflicfeit der Dichtungen aus dem
Hoßenftaufifchen Zeitalter, bevor er fie noch kennt?), und er ber
ſtüümmt bie Dauer ihrer Blüthe ziemlich richtig, nachdem er ihnen
näher getreten iſt ). Auch für bie Tüchtigfeit des ſechzehnten Jahr⸗
hunderts fehlt es Bodmer nicht an Verſtändniß. Er weiß bie
Vorzüge Sebaftian Brant's und Fiſchart's wohl anzuerkennen 4)
Aber wie ſchwankend und unſicher ift trotz alle dem noch das Ur-
theill Aus der erften Hälfte des Nibelungenlieds theilt Bodmer
in feiner Ausgabe der zweiten (1757) nur einzelne Stellen mit
„einigen Neugierigen zu gefallen.“ „Man jiehet, jagt er, feinen
Anſchein, daß er [biefer „fübere Theil des Gedichtes“] jemals
werde ganz gebruft werben. Es ift in der That für den Ruhm
des ſchwäbiſchen Zeitpunftes am beiten geforget, wenn man nicht
alles, was noch in dem Staube verborgen liget, an ven Tag ber-
vorziehet, fondern in dem, was man uns giebt, eine veife und
tinſichtsvolle Wahl beobachtet“ 5). Dafür leitet er dann die zweite
Hälfte mit einigen altdeutſchen Zeilen von feinem eigenen Gemächte
ein. Ebenſo verſuchte er fi in neuhochdeutſchen Umbichtungen der
16. VI. — 2) „Bon ben vortrefflien Umſtänden für bie Poeſie
unter den Kaifern aus dem ſchwäbiſchen Haufe“, in der Sammlung Eritiicher,
Boetifher, und anderer geiftvollen Schriften“ u. f. w. 7tes Stüd, Zürich
1748, &. 25 fg. — 3) Nämli auf bie Jahre 1180—1830, in ben Neuen
Gritiigen Briefen, R. A, Züri 1763, ©, 59. — 4) Sammlung Grit. —
Sriften 7. St. (1749) ©. 54 fg. — 5) Chriemhilden Rache, Zyrich,
1357, 8. X.
268 Zweites Buch. Viertes Kapitel.
alten Meifterwerke, in denen er fie nad) feinem Geſchmac zu ver-
beffern ſuchte. Auf Grundlage ber Nibelungen dichtete er in mat-
ten Herametern „Die Rache der Schweſter“ 1), und aus Wolfram's
Gedicht zieht er feinen „Parcival“ zufammen 2). Und wie über
die Dichtung des 13., fo zeigt ſich Bodmer's Urtheil über die des
16. noch äußerft unfider. Während er Brant und Fiſchart lobt,
fpricht er mit der größten Geringihägung von Hans Sachs >), ja
ex erfühnt fi fogar einmal, Luther den Bibelüberfeger für einen
„Gottſchedianer vor Gottſcheden“ zu erklären, weil er in feinem
Sendbriefe vom Dolmetſchen gewifje Redeweiſen als undeutſch ver:
wirft %). Aber alle dieſe Mißgriffe würden dem Einfluß Bodmer's
nicht fo viel Abbruch gethan haben, als feine eigenen Dichtungen,
deren Zahl von Jahr zu Jahr ins Unglaublihe anwuchs; und
auch die kritiſchen Schriften des in feiner früheren Periode hochver⸗
dienten Mannes konnten fi feiner ſehr bedeutenden Einwirkung
mehr erfreuen, feit Leſſing dem beutjchen Volke in Styl und Ge
halt einen ganz anderen Mafftab bot. Die altdeutſche Literatur
bedurfte alfo im beutfchen Geiftesleben noch anderer Vertreter, als
der mehr und mehr in den Hintergrund geſchobenen Zürder. Sie
fand dieſe auch unter ben zu ihrer Zeit angejehenften Dictern und
Kritifern. Schon gegen Ende der vorigen Periode (1744) hatte
Gellert den Fabeln des Bonerius ein warmes Lob geipenbet®).
Als dann im 3. 1748 die Proben aus ber Parifer Handſchrift der
mittelhochdeutſchen Lyriker erfienen, „war Hagedorn ganz von
ihnen eingenommen“ 6). Er erlebte bie Herausgabe der ganzen
Handſchrift (1758) nicht mehr. Aber an feine Stelle trat gewifler-
1) In: Ealliope von Bobmern. Zweyter Band. Züri 1767. 6.307.
— 2) Der Pareival ein Gedicht in Wolframs von Eschilbach Denck-
art. Zyrich 1753. Wieder abgebrudt in ber Galliope, Mb. IL, (1767)
©. 33 fg. — 8) Sammlung Gritifer u. ſ. w. Schriften, Gtüd 7 (1743)
©. 53. 79. — 4) (Bobmer) die Grundfäge der deutſchen Sprache, Zürih
1768, &. 20. — 5) ©. Geller's Differtation De poesi apologorum eorum-
que scriptoribus, Lips. (1744), p.45. — 6) &. Sammlung von Minne-
singern, Thl I, (1758) Vorr. 8. IV, I
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 269
maßen Gleim, ber foldes Wohlgefallen an unfern alten Minne⸗
fingern fand, daß er ſich wiederholt (1773. 1779) an deren Nach-
bildung verſuchte ). Man kann fih den Geſchmack diefer „horazi-
ſchen Anafreontiter" an ben Lyritern bes 13. Jahrhunderts recht
wohl erflären, obſchon man fih zu hüten bat, die Aehnlichkeit
wiſchen beiden größer zu finden, als bie Verfchiebenheit. Aber fo
beliebt auch Hagedorn und Gleim ®) eine Zeit Yang waren, fo
wurden fie doch bald überflügelt durch bie begabteren Geifter un-
ferer Literatur, und es fragt fi num, wie biefe fih zu unferem
Alterthum ftellten. Wieland und Klopftod find beide durch die
Ueberlieferungen unſeres Alterthums angezogen worben, aber im
ſehr verjchiedener Weiſe. Bon Bobmer angeregt, beſchäftigt ſich
Bieland ſchon fehr früh mit der Lyrik der Minnefinger®). Aber
weit mehr noch ziehen ihn fpäter die erzählenden Dichtungen bes
Mittelalters an. Als Micaeler Ihm Hartmann’s wein mittheilt,
antwortet Wieland (16. Aug. 1777): „Ich bin ſehr der Meinung,
daß diefer Bisher noch ganz unbelannte Schatz — ans Licht gezo⸗
gen und als eines ber Loftbarften Weberbleibfel der golbnen Zeit
mfrer Sprache und Litteratur unter den ſchwäbiſchen Kaiſern öffent
lich aufgeftellt. und gemeinnägig gemacht werben follte” 4). Die
Ansgabe folle aber auch Gloffar, Erflärungen u. |. w. bringen.
‚Mit einem Worte, ih wünſchte, daß unjerm Hartmann (dem
1) Gedichte nach den Minnefingern. Berlin 1773. Gebichte nad Wal-
ter von ber Vogelweide. 1779. (Goedeke, Grundriss 8. 581). — 2) Wir
färeiben Hier nicht bie Geſchichte ber Einwirkung ber mittelhochdeutſchen Poefie
auf die neuhochdeutſche, fonbern unterſuchen vielmehr, welche Förderung bie
germanifhe Philologie durch die neuhochdeuiſchen Dichter erfahren Hat. Sonſt
hätten wir nod eine Reihe von Erſcheinungen zu beſprechen, fo bie Einwirk-
ung der mittelhochdeutſchen Lyriker auf Hölty. Bol. z. B. Hölty’s Gebichte
der. von K. Halm Nr. 76, 3. 10 mit Walther v. der Vogelweide 46,
19 (Lachm. 2 = 111, 17 Wack.) — 8) Schon vor 1758. Bel. Wie
land's Leben von J. G. Gruber, in Wieland's Werken, Leipzig 1827, Wh. 50,
6.131. — 4) Iwain — von Michaeler, Bd. I, Wien 1787, Vorbe
richt 8. 26 fg.
270 Zweites Bud. Wiertes Kapitel.
meines Erachtens unter unfern altſchwäbiſchen Dictern eine ber
erſten, wo nicht überall bie oberſte Stelle gebührt) eben bie Ehre
angethan würde, bie mar den llaſſiſchen Autoren Griechenlands
und Latiums zu erweiſen gewohnt ift“ 1). Zugleich fpridt Wie
Iand feine Ueberzeugung aus, daß fowohl der “wein, als „alle
wahren deutſchen Rittergedichte aus dem 13. und 14. Jahrhundert
weber mehr, noch weniger als freie Ueberfegungen aus provenzali-
fen und franzöſiſchen Dichtern find“ 2). Diefe franzöftfhen Diät:
ungen waren es ja, denen auch Wieland Anregung und Stoff zu
feinem berühmteften Werte, dem Oberon, verbankte, welcher um
drei Jahre jünger (1780) als ver eben erwähnte Brief an Mi-
chaeler bie mittelalterliche Romantik mit Meiſterſchaft in ein mo
dernes Gewand Heidete. Durch Wieland angeregt, verſuchten auch
Andere, die wunderbaren Erzählungen ber Vorzeit, wie fie fih
theils in Büchern, theils in der mündlichen Ueberlieferung des
Volles erhalten hatten, in bie Literatur einzuführen. Ich nenne
nur ben bebeutendften biefer Verſuche, die in den Jahren 1782—
86 erſchienenen „Boltsmährden der Deutſchen“ von Joh. Karl
Auguft Mufäus (geb. zu Jena 1735, geft. als Profeſſor am
Gymnaſium zu Weimar den 28. Oft. 1787).
In einer ganz anderen Weife und von einer ganz amberen
Seite als Wieland wurde Klopftod ber germaniſchen Philo⸗
logie förberlih. Begeiſtert für deutſches Vaterland und deutſche
Sprache ſuchte er deren Ruhm in jeder Weiſe zu heben. Dahin
zielen nicht nur feine Dichtungen, ſondern eben fo ſehr feine Profa-
ſchriften. Im feinen Fragmenten über Sprade und Dichtkunſt
(Hamburg 1779), in feinen Grammatiſchen Gefprächen (Altona 174),
fo wie in mehreren feiner Vorreden und Abhandlungen beſtrebt er
fi, die Vorzüge ber deutſchen Sprache in's Licht zu ſetzen, und es
finden fih darin neben manden Wunderlichkeiten nicht wenige feine
Bemerkungen über Sprahe und Diätkunft. Bon befonberer Be
deutung aber wurde es, daß Klopftod ſich gerabe der frühften Per
riode des deutſchen Altertfums mit Vorliebe zuwandte. Er tut
1) &bend. S. 80. — 2) Ebend. ©. 28.
Die getmaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 271
dies freilich im einer Weife, in ber Irrthum und Wahrheit
mnderih gemiſcht find. Die Berichte des Tacitus bilden den
}ettel, Druiden, Barden und Offian den Einſchlag diefes ſeltſamen
Gewebes. Denn „Offian war deutſcher Abkunft, weil er ein Kale-
denier war” 1). Aber zugleich fühlte fi Klopftod angezogen duch
die älteten Hefte der wirklich germaniſchen Poeſie. Ex beſchaftigt
fh mit Eädmon, dem „größten Dichter nah Offian unter unjern
Ülen“ 2). Er Lieft den Otfrid und freut fih feiner wohlflingenden
ẽprache 3), ja in einem Briefe an Denis verfucht er fogar, ein
par althochdeutſche Hexameter zu machen *). Bor allen aber zieht
ifm fein großer Vorgänger auf dem Gebiet des chriſtlichen Epos,
der altfäcgfifhe Heliand an. Er lernt ihn aus dem Bruchſtück in
dides Theſaurus kennen, verſchafft ſich weitere Mittheilungen aus
dem Coder Cottonianus zu London und hat die Abſicht, ihn „mit
einer faft ganz wörtlichen Ueberfegung und mit kurzen, aber bebeu-
tenden Anmerkungen” vollftändig herauszugeben 5). Daß Klopftod’s
senntniß der alten Sprache zu einem ſolchen Unternehmen bei wei-
tem nicht ausgereicht Haben würde, braucht nicht erft bemerkt zu wer-
den. Es blieb Hei der bloßen Abſicht und deshalb ohne unmittelbare
Birtung. Aber von tiefer greifendem Einfluß war Klopftod’s
Himwendung zur altnordifhen Mythologie. Die deutſche Gelehr⸗
immfeit Hatte zwar bie nordiſche Götterlehre auch in ımferer
Periode nicht aus dem Auge verloren. Gottfried Schüge
(966. zu Wernigerode 1719, 1750 Rector des Paedagogiums zu
Mona, 1762 Profeffor der griechiſchen Sprache und ber Geſchichte
1) Rlopfod's Brief an Gleim d. 31. Juni 1769, in Rlopfiod®s ſprach⸗
Bf. u. äflhet. Schriften, ber. von Bad u. Spinbler, Bd. 6, ©. 240. —
9) Ebend. — Bol. Ueber Sprache und Dichttunſt. Fragmente von Klopflod.
Zweite Zortfegung, Hamburg 1780, ©. 48 fg. Bei Bad u. Spindler Bb.2,
©. 215. — 3) Vom Syibenmaße, bei Bad und Spindler Bd. 8, S. 229.
— 4) Briefe von und an Klopſtock, Her. von 3. M. Lappenberg, Braun:
qweig 1867, ©. 164. — 5) ©. ben obigen Brief an Gleim ©. 241. —
Kopfol’s Anführungen aus bem Heliand in den Fragmenten über Sprache
mb Dichttunſt, Hamburg 1779, ©. 28 fg. Bei Bad unb Spinbler Bd. 3,
6.105 fg.
272 Zweites Buch. Viertes Kapitel,
am Gymnaſium zu Hamburg, geft. den 2. Juli 1784) 1) hatte in
feiner Abhandlung von den Freidentern unter den alten deutſchen
und nordiihen Völkern (Leipzig 1748), in feinem Lehrbegrif ber
alten deutſchen und nordiſchen Völker von dem Zuſtande der Selen
nad; dem Tode überhaupt und von dem Himmel und der Hölle
inshefonbre (Leipzig 1750) und anderen Schriften die Wichtigkeit
der altnorbifhen Literatur gezeigt, auch zahlreihe Mittheilungen
aus ben Edden in der Grundſprache und in lateiniſcher Ueber:
fegung als Belege beigebradt. „Aber,“ fo Magt er, „die Deutſchen
Alterthümer haben das unverſchuldete Unglüd gehabt, unter die ge:
lehrten Calmeufereien gerechnet zu werben“ 2). Mehr Aufmerl⸗
famfeit erregte Mallet's 1755 zu Kopenhagen herausgegebene
Introduction & P’histoire de Danemare nebſt dem dazır gehüris
gen Supplöment: Monumens de la Mythologie et de la Po&
sie des Celtes Et partieulitrement des Anciens Scandinaves
(& Copenhague 1756). Beide erichienen im Jahr 1765 (m
Roftod und. Greifswald) in deutſcher Ueberfegung 3). Hier wurde
ein bedeutender Theil der jüngeren Edda mitgetheilt, der in Ber-
Bindung mit Mallet's geiftvoller Cinleitung wohl geeignet wet,
die Augen der Gebildeten auf fih zu ziehen. Aber Beachtung in
weiteren Kreifen fand die altnordiſche Götterlehre in Deutihland
erſt, nachdem die Dichter fih ihrer bemächtigten. Den Anfang
machte 9. W. von Gerftenberg mit feinem im Jahr 1766 *)
(anonym) erſchienenen „Gedicht eines Stalden,” und gleich nach
ihm begann NKlopfto die altnordiſche Mythologie ftatt der grie⸗
chiſch⸗römiſchen in feine Oben einzuführen 6). Ueber die aeſthetiſche
1) Meusel, Lexicon XII, 510. — 2) ehrbegrif ber alten Da
hen von bem Zuftande der Selen u. f. f., 1750, ©. 52. — 3) Ju: hm
Prof. Mallers Geſchichte von Dänemart, Aus bem Franzbfiſchen überkett
Mit einer Vorrede Hrn. Gottfried Schützens. Erſter Teil. — N
Kopenhagen, Obenfee und Leipzig. Cin Gremplar ber Erften Ausg. finkt
fich auf der Bibl. zu Göttingen. Wieder abgebrudt in Gerflenberg’s Be
miſchten Schriften, ®b. II, Altona 1815, ©. 87 fg. unter dem Litel: „Der
Stalde.” — 5) Vgl. Klopſtod's Brief an Gleim vom 1. März 1766 über
feinen Verkehr mit Gerſteuberg, bei Bad und Spindler Bd. 6, S. 327, m
Die germemiſche Philologie in Deutfeland von 1748 Bis 1797. 278
Geite der Sache haben wir Hier fein Urtheil abzugeben; aber für
die Verbreitung nordiſch⸗ mythologiſcher Kenntniſſe blieb felbft das
felfame Bardenweſen, das Klopſtocks Beiſpiel hervorrief, nicht.
ganz erfolglos. Michael Denis gibt in dem Liedern Sined's des
Barden (Wien 1772) eine Ueberjegung der Völuſpa und ber
degtamsquidha aus dem Lateiniſchen 1). Aber viel wichtiger als
das mißverftandene Barbenthum war bie Wedung bes deutſchen
Sinns durch Klopftod. Aus dem Kreife feiner Verehrer gieng die
deitſchrift hervor, die in den Jahren 1776 bis 1788 der Sammels
punkt für die Freunde der älteren deutſchen Poeſie wurde: das von
Boie geleitete Deutſche Mufeum.
Wenn Leffing fih au niemals mit Fragen unfrer Wiffen-
ſchaft beſchäftigt Hätte, fo würde fein Name dennod in einer Ger
ſchichte der germaniſchen Philologie eine achtunggebietende Stelle
änmehmen. Seine großartig befreiende Thätigkeit, feine ſiegreiche
Velmpfung des frangöfiihen Geſchmacs, feine bahnbrechende Ver⸗
hertlichung Shafefpeare'3 Bereiteten den Boden für unfere Wiffen-
ſchaft. Wir dürfen Hier micht näher eingehen auf biefe großen
Seiten von Leſſing's Thätigfeit, fondern müſſen uns begnügen,
mit wenigen Worten feine Beichäftigung mit Gegenftänden der
deutigen Philologie zu ſchildern. Aber auch Hier wird uns eine
der fhönften Seiten des feltenen Mannes entgegentreten, nämlich
das gewiſſenhafte Streben, alles, was er ergreift, treu und gründ⸗
lich zu treiben. Er wenbet feine Aufmerkamteit ſowohl ber alt-
deutſchen Literatur, als ber älteren deutſchen Sprache zu. Gleim's
Ariegslieder veranlafjen ihn (1758), fih nad; den alten Kriegs⸗
liedern „der Barden und Stalden“ umzufehen. „Der alten Sieges-
lieber wegen“, ſchreibt er an Gleim?), „habe ich fogar das alte Helben-
buch durchgeleſen, und diefe Lectüre Hat mich hernach weiter auf bie
über die Einführung der altnorbifgen Mythologie in feine Gebichte |. Klop⸗
Rs Brief an Gleim vom 19. Dec. 1767, ebend. ©. 234, und gegen bie
gichiicgen Götter in Gleim’s Gebichten, ben 15. April 1771, eb. S. 258.
1) Bol. dort ©. 5. — 2) Den 6. Fehr. 1758, Leſſing's Schriften
Radnann) 8b. 12, ©. 107.
Raumer, Geſq. der germ. Philologie. 18
274 | Zweites Bud. Viertes Kapitel.
zwey fo genannten Heldengedichte aus dem Schwäbiſchen Jahrhun⸗
derte 1) gebracht, welde bie Schweizer jet herausgegeben haben.“
So wurde fon gleich nach deſſen erſtem noch unvollftändigem Ab⸗
drud unfer größtes deutſches Heldengebit von umjerem größten
deutſchen Kritiker gelefen. Ex lieft es mit gemohnter Aufmerhſam⸗
keit, jo daß ihm die „unverantwortligen Fehler“ 2) der Schweiger
nicht entgehen. Auch das Heldenbuch Kat er wirklich ganz durd-
gearbeitet, wie ſich aus einer Abhandlung ergibt, die ſich unter ſei⸗
nem handſchriftlichen Nachlaß vorfand ). Leffing ift nicht ohne
Empfindung für „die natve Sprache, die urfprünglich deutſche Den-
fungsart” der „Barden aus dem ſchwäbiſchen Beitalter“ 4), abet
eigentlih angezogen haben ihn diefe Dichtungen nicht. „Der ein
ige Vortheil, den ich davon wegbringen werde“, ſchreibt er an Men⸗
delsſohn d), „ift diefer, daß ich das alte ſchwäbiſche Deutſch gelemt
habe, und die Gedichte darinn, welche die Schweiger ans Litht
bringen, mit vieler Leichtigkeit nunmehr leſe.“ Leſſing's Neigung
richtet ſich vielmehr auf die lehrhafte Dichtung bes deutſchen Alterthums
„Ueber die ſogenannten Fabeln aus den Zeiten der Minneſinger,
welde die Schweizer im Jahr 1757 Herausgegeben hatten 9),
theilt er 1773 die Entbedung mit, daß biefelben fon 1461 zu
Bamberg gedrudt worden waren ?), und in einer zweiten Abhand⸗
lung erweift er (1780) Bonerius als den deutſchen Verfaſſer dieſer
Fabeln ®), indem er zugleih gründliche Unterfugungen über die
lateiniſchen Quellen desſelben anftellt*). Auch das entgeht ihm nidt,
daß Bonerius jünger ſei als der Renner des Hugo von Trimberg"),
1) ©. i. »Chriemhilden Rache und die Klage; zwey Heldenge
dichte aus dem schwaebischen Zeitpunote — Zyrich 1757. S. 0
©. 258. — 2) Leſſing's Werke 12, 108. 116, Uebrigens erkennt Leſſing
bie Verdienfte der Schweiger um die Herausgabe ber alideutſchen Dich
tungen ſpäterhin volltommen an. ©. Leſſiug's Werke 9, 5. — 3) Leffing’®
Werke 11, 30-43. Bgl, bei. ©. 31, $.3. — 4) Leſſing's Worberiät
zu Gleim's Grenadierliedern 1758. In Leſſing's Werten 5, 103. —
5) 2. April 1758. Wie. 12, 116. — 6) 6.0.6.28. — 7) Bi
9,7.— 8) Wie 10, 335. — 9) Ebend. 10, 352 fg. — 10) Ebend.
10, 356 fg.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 275
wern er ihn gleich mit Unrecht erft an bas Ende bes 14. Jahr⸗
hunderts jet 1). Vom Menner, den er jehr ſchätzte, hatte er
eine Ausgabe vorbereitet 2). Wie zu dieſen Arbeiten, fo lie
ferte ihm feine Stellung an der Wolfenbüttler Bibliothek auch
zu einem anderen Unternehmen ben Stoff. Er gedachte nämlich,
unter dem Titel: „Altdeutſcher Wig und Verſtand“ eine Samm-
lung von Sprigwörtern, Apophthegmen und Denkverfen altdeut⸗
iger Schriftfteller zu veranftalten, und in feinem Nachlaß fand fi
in vortreffliher Anfang diefes Unternehmens ?). Es waren vor⸗
züglich die letzten Jahrhunderte bes Mittelalters und die erften
der neueren Beit, die Leffing durch ihre überwiegende Verftandes-
ſchärfe umd ihren gefunden Mutterwig anzogen. So finbet ſich
unter feinem Nachlaß eine reichhaltige literariide Sammlung „Zur
Geſchichte der deutſchen Sprache und Literatur von den Minnefän-
gern bis auf Luthern. Größtentheils aus Handſchriften der Her-
zoglichen Bibliothek. Angefangen den 1. Aug. 1777“ 4). Und
ſchon 1759, bald nad Beginn feiner Laufbahn, Hatte er einen
Dichter des 17. Jahrhunderts: Friedrich von Logan, in Gemein-
ſchaft mit Ramler herausgegeben und ihn mit einem Wörterbuch
nebſt einem „Vorberiht von ber Sprache bes Logau“ ©) verfehen.
Es ift ihm dabei nicht bloß um die Erklärung des Dichters, fon-
dern vorzügli auch darum zu thun, die „guten, braudbaren
Wörter,“ welche die Schriftiteller des 18. Jahrhunderts haben ver-
alten lafjen, den Rednern und Dichtern feiner Zeit zu einer ver⸗
fändigen Wiedereinführung zu empfehlen ©). Denn wie fi Leffing
gleich im Beginn auf bie Seite Heinze's gegen Gottſched ftellt 7),
fo zeigen die „Anmerkungen über Abelungs Wörterbuch der Hoch⸗
1) Ebend. 10, 360. — 2) An Herber 10. Jan. 1779, Wie. 12,
521. — 3) Zuerft veröffentlicht durch Fulleborn in Leffing’s‘ Leben von R.
©. Leſſing, Thl. 3, Berlin 1795, ©. 220 fg. Bol. Fülleborn’s Anın. chend.
Bor. S. XVI und Eſchenburg im Fünften Beytrag, Zur Gef. und Litter.
ww. Braunſchweig 1781, ©. 185. — 4) Leſſing's Wie. 11, 468. —
5) &effing’s Wie 5, 297. Bol. den 43. unb 44, Litferaturbrief, in Leffing’s
Bien. 6, 112 fg. — 6) Ebend 5, 298 fg. — 7) Briefe, die neuefte
Liuttatut betrefiend, Göfter, in Leſſing's Wien. 6, 177. ©. o. ©. 209.
18*
276 Zweites Buch. Viertes Kapitel.
deutſchen Mundart,” die fi in feinem Nachlaß fanden, daß er, bei
aller kritiſchen Strenge am reiten Ort, eine freiere Anficht von
der deuten Sprache Hatte, als jene Grammatiler. Ueberhaupt
ſehen wir in faft überall für das Echte und Tüchtige Partei nef-
men. Selbſt für das Volkslied, das ſcheinbar feiner eigenen Art
und Weife fo fern liegt, gewinnt er früh den richtigen Geſichts⸗
punkt. Bei Erwähnung eines Iappländifcen Liedes in ben Litere-
turbriefen (1759) fagt er: „Sie würden au daraus lernen, daß
- unter jedem Himmelsſtriche Dichter geboren werben, und daß leb⸗
bafte Empfindungen fein Vorrecht gefitteter Völfer find.” Und
zum Beweis deſſen theilt er dann einige litauiſche „Daimos oder
Liederchen“ mit, die ihm zu dem Ausruf veranlaffen: „Welch ein
naiver Wig! Welche reizende Einfalt!“ 1).
So fehr nun aber Leffing dur feinen unübertroffenen Ber:
ftand und feine gefunde Natur auf bie richtigen Wege geleitet
wurde, fo ſollte doc der tieferen Auffaffung der Poeſie umd der
Sprache noch von einer ganz anberen Seite her bie Bahn ge
brochen werben. Es waren bie epochemachenden Anfichten Ha
manns und Herder's, die aud auf die Entwidlung der germanis
ſchen Philologie den größten Einfluß geübt haben. Wir können hier
weber den Nachweis liefern, inwiefern ſich bie Samenlörner zu
manden epochemachenden Herder'ſchen Werten fon bei Hamann
finden, noch bürfen wir erörtern, wieſo Herder trotz dieſer Ein
flüffe ein felöftändiger, in Natur und Anfihten von Hamann wer
ſentlich verſchiedener Geift war. In einer Geſchichte der germanis
fen Philologie müſſen wir uns begnügen, auf bie tiefen An
regungen hinzubeuten, bie von Hamann ausgiengen; wie er die
Unmittelbarteit an bie Stelle der Reflexion fegt und ber Phantafie
und ber Leidenſchaft in Sprade und Poefte ihr Recht verſchafft
Wo e8 fi aber um eine unmittelbare und umfafjende Einwirkung
auf die Wiſſenſchaft der germaniſchen Philologie Handelt, ba haben
wir uns vorzugäweife an Herder zu Halten. Gleich in feiner
erften epochemachenden Schrift, in den Fragmenten über bie neuere
1) £effing’s Wee. 6, 75.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 277
beutfhe Literatur (1767) bricht der Geift mächtig hervor, durch
melgen Herber auf die deutſche Literatur und Wifjenfchaft eine
umergänglie Einwirkung gewinnen follte. Aus der Stubenluft
eines verfünftelten Zeitalters führt er den Leſer in bie freie Natur
und lehrt ihn ftakt einer bloß papierenen, mit Schere und Kleiſter
gemachten Poeſie die wahrhaft naturwüchſige und urſprüngliche ken⸗
nen. Nicht mit allgemeinen, aus einigen wenigen Proben abstra-
hierten Negeln Haben wir an die Poefie zu gehen, fondern wir
müſſen ums in bie verſchiedenen Völker und die Perioden ihrer
geiftigen Entwicklung verſenken, um ihre Dichtung zu verftehen.
‚Der Genius der Sprache ift aud ber Genius von der Litteratur
einer Nation” 1). Die Sprache aber Kat ihre verſchiedenen Alter,
fo wie ber einzelne Menſch. „Eine Sprache in ihrer Kindheit
bricht, wie ein Kind, einſylbichte, rauhe und hohe Töne hervor” 2).
„Das Kind erhob fih zum Jünglinge.“ — „Und diefes jugendliche
Sprachalter war Bloß das poetiſche; man fang im gemeinen Leben,
md der Dichter erhöhete nur feine Accente in einem für das Ohr
gewählten Rhythmus; die Sprade war finnlih, und reich an füh-
nen Bildern, fie war noch ein Ausdruck der Leidenſchaft.“ „Die
befte Blüthe der Jugend in der Sprache war bie Zeit der Dichter;
jegt fangen die wosdos und garpedos” ®). Der Jüngling wird
sum Manne. „Eine Sprache in ihrem männlichen Alter ift nit
tigentlich mehr Poeſie, fondern die ſchöne Proſe“ 4). „Das hohe
Alter (endlich) weiß ftatt Schönheit bloß von Nichtigkeit“ 5). „Die
Grammatik und das Vernünfteln über die Sprache Hat den Meid«
thum gefwädt”). „Ein Frauenzimmer, das gut, nicht aber ger
lehrt, erzogen ift, wird über Dinge, die in ihrer Sphäre find, mit
einer Gelãufigkeit, ungefünftelten Beftimmtheit und naiven Schön«
keit ſprechen, daß fie gefällt“ ). „Ein Originalfgriftfteller im
hohen Sinne ber Alten, ift, wenige Beifpiele ausgenommen, bes
1) (Herber) Ueber die neuere Deutſche Litteratur. Erſte Sammlung von
Fragmenten. 1767. ©. 20. — 2) Ebenb. ©. 28. — 3) Ebend. 6.30 fg.
— 4) Ebend. S. 81. — 5) Ebenb. 6. 33. — 6) Eben. ©. 59. —
N) &end. Dritte Sammlung, 1767, ©. 58,
278 Zweites Bud. Vierte Kapitel.
ftändig ein Nationalautor. Ein Mann, deſſen Seele, von Ge
danken ſchwanger, zu gebären vinget, benfet nie darauf, wie ein
aefthetiicher Regelnſchmid einft an ihm figen wird, um Beifpiele
des Ausbruds zu feinen Schulgefegen auszuflauben, und es wird
ihm alfo unmöglich, den Ausdrud abgefondert vom Gedanken zu
behandeln, zu orbnen, zu wählen. Cr bildet fi) das Ganze des
Gedankens in feinem Geiſte; — das Bild ſchaffet fi in feinem
Kopf und tritt, vollſiändig an Gliedmaßen und gefund an Farbe,
mit glänzenden Waffen gerüftet hervor und wird Ausdruck.“ „Die
Groß⸗ und Kleinmeifter der Schreibart" mögen ihn dann „nah
allen Regeln der Grammatik hochmüthig verdammen“ oder ‚nad
alfen Privilegien der Poetik und Rhetorik großmüthig losſprechen;“
er fragt nichts danach. „Er dachte, und ber Gedanke formte den
Ausdrud; mit diefem hadert! Jura negat sibi data“ 1).
Was Herder in feiner eriten größeren Schrift fragmentariih
ausſpricht, bildet er dann in ben folgenden Jahren immer tiefer
und umfafjender aus. In der „Abhandlung über den Urfprung
der Sprache, welde den von ber Königl. Academie der Willen
ſchaften für das Jahr 1770 geſezten Preis erhalten hat“, Berlin
«1772, ift es nicht fowohl die Zurüdweifung des göttlichen Urfprungs
der Sprade, als vielmehr die Art, wie Herder ben menſchlichen
erweift, was für bie germanifche Philologie von unberechenbarem
Einfluß geworden ift. „Poefte ift älter gewefen, als Profa. Denn
was war die erfte Sprade, al eine Sammlung von Glementen
der Poefie?“ 3). „Ein Wörterbuch der Seele, was zugleih My
thologie und eine wunderbare Epopee von den Handlungen und
Neben aller Wefen iſt! Alfo eine beftändige Fabeldichtung mit
Leidenſchaft und Intereſſel Was ift Poeſie anders?“ ). „Indem
die ganze Natur tönt, ſo iſt einem ſinnlichen Menſchen nichts na⸗
türlicher, als daß ſie lebt, ſie ſpricht, ſie Hanbelt.“ n Bei den
1) Ebend. Dritte Samml. 1767, ©. 81. (Lies nata). Ich mahe
vorläufig“auf bie nahe Verwandiſchaft diejer Anfichten mit denen J. Grimm’s
aufmerffam. — 2) Herder, Ueber ben Urfprung ber Sprade, Berlin 1772,
©. 87. — 3) Ebend. ©. 87 fg.
Die germanifihe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 279
Wilden von Nordamerika, 3. B. ift noch Alles belebt, jede Sache
hat ihren Genius, ihren Geift; und daß es bei Griechen und Mor⸗
genländern eben fo geweſen, zeugt ihr Alteftes Wörterbud und
Grammatit — fie find, wie die ganze Natur dem Erfinder war,
ein Pantheon! ein Reich belebter, Handelnder Weſen“ !)I „Nicht
mit der einzigen kalten Wftraftionsgabe der Philofophen läßt
fi je Sprade erfinden." Sondern „je minder bie Seelen»
föfte mod) entwidelt und jede zu einer eignen Sphäre abge»
rüßtet ift, deſto ftärfer wirken alle zufammen, deſto inniger _
it der Mittelpunkt ihrer Intenſität.“ So „gebar fih Sprade
mit der ganzen Entwidlung der menfchlichen Kräfte 2), „Es
iſt für mich unbegreiflih, wie unfer Jahrhundert fo tief in bie
Schatten, in die dunkeln Werkftätten des Kunftmäßigen fi ver-
lieren Tann, ohne auch nicht einmal das weite, helle Licht der un.
eingelerlerten Natur erkennen zu wollen. Aus den größeften Hel⸗
denthaten des menſchlichen Geiftes, die er nur im Zufammenftoß
der lebendigen Welt thun und äußern Tonnte, find Schulübungen
im Staube unfrer Lehrkerfer; aus ben Meifterftüden menſchlicher
Dihtkunft und Beredſamkeit Kindereien geworden, an welchen greife
Rinder und junge Kinder Phrafes lernen und Regeln Hauben“ 8).
Bie hier nach der Seite der Sprade, fo entwidelte Herder im
darauf folgenden Jahr feine Gebanten in Bezug auf die Boefte
weiter in feinem „Auszug aus einem Briefwechſel über Offian und
die Lieder alter Völker“, den er in ber Schrift: „Von Deuticher
Art und Kunſt. Einige fliegende Blätter, Hamburg 1773,“ ver-
ffentlichte. „Sie wiffen aus Reiſebeſchreibungen“, fagt er hier, „wie
ftart und feft fih immer die Wilden ausbräden. Immer bie
Sage, die fie fagen wollen, ſinnlich, Mar, lebendig anſchauend;
den Zwedt, zu bem fie reden, unmittelbar und genau fühlend; nicht
durch Schattenbegriffe, Halbideen und ſymboliſchen Letternverftand
von dem fie in keinem Worte ihrer Sprade, da fie faft feine
abstraota haben, wiflen) durch alfe dies nicht zeritreuet, noch min-
der durch Kunſteleien, ſtlaviſche Erwartungen, furchtſamſchleichende
ij @bend. S. 82 ig. — 2) Gbend. S. 167 5. — 3) 168 fg
278 Zweites Bud. BViertes Kapitel. ”
ftändig ein Nationalautor. Ein Mann, beffen Seele, von Ge
danken ſchwanger, zu gebären vinget, denket mie darauf, wie ein
aefthetifcher Regelnſchmid einft an ihm figen wird, um Beifpiele
des Ausdruds zu feinen Scähulgefegen auszuflauben, und es wird
ihm alfo unmöglih, ben Ausbrud abgefondert vom Gedanken zu
behandeln, zu orbnen, zu wählen. Er bildet fi das Ganze bes
Gebantens in feinem Geiſte; — das Bild ſchaffet ſich in feinem
Kopf und tritt, vollſiändig an Gliedmaßen und gefund an Farbe,
mit glänzenden Waffen gerüftet hervor und wird Ausdruck.“ „Die
Groß⸗ und Kleinmeiſter der Schreibart” mögen ihn dann „nad
alfen Regeln ber Grammatik hochmüthig verdammen” ober „nad
alfen Privilegien der Poetik und Rhetorik großmüthig Losfpreden;"
er fragt nichts danach. „Er dachte, und der Gedanke formte ben
Ausbrud; mit diefem hadert! Jura negat sibi data“ 1).
Was Herder in feiner eriten größeren Schrift fragmentarifh
ausfprict, bildet er dann im ben folgenden Jahren immer tiefer
und umfaffender aus. In der „Abhandlung über den Urfprung
der Sprade, welde den von der Königl. Academie der Wiſſen⸗
ſchaften für das Jahr 1770 gefezten Preis erhalten hat“, Berlin
«1772, ift es nicht fomohl die Zurüdweifung des göttlihen Urſprungs
der Sprade, als vielmehr die Art, wie Herder den menfhligen
erweift, was für bie germanifche Philologie von unberedienbarem
Einfluß geworden ift. „Poefte ift älter gemefen, als Proſa. Denn
was war die erfte Sprade, als eine Sammlung von Glementen
der Poeſie?“ 2). „Ein Wörterbud) ber Seele, was zugleig My
thologie umd eine wunderbare Epopee von den Handlungen und
Reden aller Wefen ift! Alſo eine beftändige Fabeldichtung mit
Leidenſchaft und Interefjel Was ift Poeſie anders?“ ). „Indem
die ganze Natur tönt, fo ift einem finmlichen Menden nichts na
türliher, als daß fie Iebt, fie fpridt, fie Hanbelt.* „Bei den
1) Ebend. Dritte Samml. 1767, S. 81. (ie mata). JG mat
vorläufig auf die nahe Verwandiſchaſt biefer Anfihten mit denen J. Grimm’
aufmerffam. — 2) Herber, Ueber ben Urfprung ber Sprache, Berlin 1778,
©. 87. — 3) Ebenb. ©. 87 fg.
Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 279
Wilden von Nordamerika, 3. B. ift nod Alles belebt, jede Sache
hat ifren Genius, ihren Geift; und baß es bei riechen und Mor⸗
genlänbern eben fo geweien, zeugt ihr älteftes Wörterbuch und
Grammatit — fie find, wie die ganze Natur dem Erfinder war,
ein Pantheon! ein Weich belebter, Handelnder Weſen“ )1 „Nicht
mit der einzigen falten Mbftraftionsgabe der Philofophen läßt
ſich je Sprade erfinden.” Sondern „je minder die Seelen-
föfte noch entwielt und jede zu einer eignen Sphäre abge
richtet iſt, deſto ftärter wirten alle zufammen, deſto inniger _
iſt der Mittelpunkt ihrer Intenſität.“ So „gebar fih Sprache
mit der ganzen Entwidlung der menſchlichen Kräfte" 2), „ES
iſt für mich umbegreiflih, wie unfer Jahrhundert fo tief in die
Schatten, in die dunkeln Werkftätten des Kunftmäßigen fi ver-
lieren kann, ohne auch nicht einmal das weite, helle Licht der un«
eingelerlerten Natur erkennen zu, wollen. Aus ben größeften Hel⸗
denthaten des menſchlichen Geiftes, die er nur im Zuſammenſtoß
der lebendigen Welt thun und äußern konnte, find Schulübungen
im Staube unfrer Lehrkerfer; aus den Meifterftüden menſchlicher
Dihtkunft und Beredſamkeit Kindereien geworden, an welden greife
Kinder und junge Kinder Phrafes lernen und Regeln Hauben“ 3).
Wie hier nad der Seite der Sprade, fo entwidelte Herder im
darauf folgenden Jahr feine Gedanken in Bezug auf die Boefie
weiter in feinem „Auszug aus einem Briefwechſel über Offian und
die Lieder alter Völker“, den er in der Schrift: „Bon Deutſcher
Art und Kunft. Einige fliegende Blätter, Hamburg 1773,“ ver-
öffentlichte. „Sie wiflen aus Reiſebeſchreibungen“, fagt er hier, „wie
flart und feft fih immer die Wilden ausbrüden. Immer die
Sage, die fie fagen wollen, ſinnlich, Mar, lebendig anſchauend;
den Zweck, zu bem fie reden, unmittelbar und genau fühlend; nicht
durch Schattenbegrifie, Halbideen und ſymboliſchen Letternverftand
(von dem fie in feinem Worte ihrer Sprade, da fie faft feine
abetracta haben, wiffen) durch alfe dies nicht zerftreuet, nod min»
der durch Künfteleien, ſtlaviſche Erwartungen, furchtſamſchleichende
1) Ebend. ©. 82 fg. — 2) Ebend. ©. 167 fg. — 3) 168 fg.
280 Zweites Bud. Vieries Kapitel,
Bolitit und verwirrende Praemeditation verborben, über alle biefe
Schwãchungen des Geiftes feligunwiffend, erfaflen fie dem ganzen
Gedanken mit dem ganzen Worte, und dies mit jenem. Sie ſchwei⸗
gen entweber, oder veden im Moment des Intereſſe mit einer un
vorbedachten Feſtigkeit, Sicherheit und Schönheit, die alle wohl-
ſtudierte Europäer allezgeit haben bewundern müffen, und müſſen
bleiben laſſen. Unfere Pebanten, die Alles vorher zuſammenſtop⸗
peln und auswendig lernen müffen, um alsdenn recht methodiſch
zu ſtammeln, — biefe gelehrte Leute, was wären bie gegen bie
Wilden? Wer no bei und Spuren von diefer Feftigfeit finden
will, der ſuche fie ja nicht bei ſolchen; unverdorbne Kinder, Frauen
zimmer, Leute von gutem Natırverftande, mehr durch Thätigkeit,
als Speculation gebildet, die find, wenn das, was id anführete,
Berebfamteit ift, alsdenn die einzigen und beften Redner unver
Beit. In der alten Zeit aber waren es Dichter, Stalden, Gelehrte,
bie eben dieſe Sicherheit und Feſtigkeit des Ausbruds am meiften
mit Würde, mit Wohlflang, mit Schönheit zu paaren wußten;
und da fie alfo Seele und Mund in den feften Bund gebracht hat-
ten, ſich einander nicht zu verwirren, fondern zu umterftügen, bei⸗
zubelfen, jo entftanben daher jene für uns halbe Wunderwerle von
aoıdoss, Sängern, Barden, Mirftrels, wie die größten Dichter
der älteften Zeit waren. Homer’ Rhapfodien und Oſſian's Lieber
waren gleihfam impromptus, weil man damals nod von nichts
als impromptus der Rede wußte; dem Iektern find die Minftrels,
wiewohl fo ſchwach umd entfernt, gefolgt; indeſſen doch gefolgt, bis
endlich die Kunft kam und die Natur auslöſchte“ i). Dieſe Anfid-
ten begründet Herder durch Beifpiele, darunter aus ber älteren
Edda die Vegtamsquidha?) und „Der Webegefang der Balkyrür")
aus der Njalsſaga. Nah Mittheilung einer ſchottiſchen Ro
manze fährt er fort: „Sie glauben, daß auch wir Deutfchen wohl
mehr ſolche Gedichte Hätten, als id mit ber ſchottiſchen Romanze
angeführet; ich glaube nit allein, fonbern id weiß es. In mehr
als einer Provinz find mir Vollslieder, Provinziallieder, Bauer⸗
1) Bon Deutfer Art und Kunft, Hamburg 1773, ©. 39 1 —
2) Ebend. ©. 32. — 3) Ebend. ©. 36.
Die germanifce Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 281
fiber belannt, bie am Lebhaftigfeit und Rhythmus, und Naivetät
und Stärle der Sprache vielen berfelben gewiß nichts nachgeben
würden; nur wer ift, ber fie fammle? der fi um fie befümntre?
ſih um Lieber des Volls bekümmre?“ 1). Wenige Jahre nachher
iehen wir Herder felöft der Erfüllung feines Wunſches nahe. Die
gehaltteiche Abhandlung „Bon Aehnlichleit der mittlern engliſchen
und deutſchen Dichtkunſt,“ die er im Jahrgang 1777 des Deutſchen
Muſeums veröffentlicht, ift zugleich eine Ankündigung feiner dem⸗
nädft erſcheinenden Vollslieder. Ausgehend von ber Berwandtichaft
der Angelfachfen und ber Deutſchen weiſt er die große Aehnlichfeit
der alten engliſchen und deutſchen Dichtung nad) und dringt darauf,
deß wir ung mit Ernſt und Eifer auf die Erforſchung ber altdeut⸗
fen Dichtkunſt werfen follen. „Goldaſt, Schilter, Schatz ?), Opitz,
Gtord Haben treffliche Fußſtapfen gelafien; Freher's Manufcripte
find zerftreuet; einige reiche Bibliothefen zerftrenet und geplündert;
wenn ſanunlen ſich einft die Schäge diefer Art zufammen, und wo
arbeitet dev Mann, der Jüngling vielleicht im Stillen, die Göttin
unfres Vaterlands damit zu ſchmücken und alfo barzuftellen dem
Sol" ?3). Ein folder müßte die reiche geſchriebene Dichtung bes
dentſchen Altertfums auf ben europäif—hen Bibliothelen durchforſchen.
‚Nittergeift ber mittlern Zeiten, in welchem Palafte würdeſt bu
meben!" Aber „auch die gemeinen Vollsſagen, Märden und My—
thologie gehören hieher. Sie find gewiffermaßen Nefultate des
Bollsglaubens, feiner finnlichen Anfhauung, Kräfte und Triebe,
wo man träumt, weil man nicht weiß, glaubt, weil man nicht
fießet, umd mit der ganzen, umzertheilten und ungebilveten Seele
mwirtet: alfo ein großer Gegenftand für den Geſchichtſchreiber der
Menſchheit, den Poeten und Poctiler und Philofopfen. Sagen
Einer Art Haben ſich mit den nordiſchen Völkern über viel Länder
und Zeiten ergofien, jeden Orts aber und in jeber Zeit ſich anders
geftaltet; wie trifft das nun auf Deutſchland? Wo find bie allge
meinften und ſonderbarſten Vollsſagen entfprungen? wie gewanbert?
1) Ebenb. ©. 51. — 2) Scherz? — 3) Deutſches Mufeum, Bd. 2,
Fi bis Der. 1777, Leipgig, ©. 428.
282 Zweites Buch. Vierles Kapitel.
wie verbreitet und getheilet? Deutſchland überhaupt und einzelne
Provinzen Deutfhlands haben hierin die fonderbarften Aehnlichkei⸗
ten und Abweichungen: Provinzen, wo nod ber ganze Geiſt der
Edda von Unholden, Zauberern, Rieſenweibern, Vallyriur ſelbſt
dem Ton der Erzählung nach voll iſt; andre Provinzen, wo ſchon
mildere Märchen, faſt Ovidiſche Verwandlungen, ſanfte Abenteuer
und Feinheit der Einkleivung herrſchet. Die alte wendiſche, ſchwä⸗
biſche, ſächſiſche, Holfteinife Mythologie, ſofern fie noch in Vollz⸗
ſagen und Vollsliedern lebt, mit Treue aufgenommen, mit Helle
angeſchaut, mit Fruchtbarkeit bearbeitet, wäre wahrlich eine Fund⸗
grube für den Dichter und Redner feines Volls, für den Sitten⸗
bilder und Philofophen“ 1). Aber vor allem iſt's nöthig, bie ein-
fachen Lieder des deuten Volles zu fammeln, wie Ramfay und
Percy dies in Schottland und England gethan Haben 2). Aber
nicht bloß unfre eignen Lieber follten wir Deutſche jammeln, fon
dern au die ber anderen Völker. Denn nichts läßt uns fo tief
in den Geift der Völker bliden®). Was Herder hier fordert, das
fucht er unmittelbar darauf zu verwirklichen burd feine „Boltslie
der. Erſter Theil. Leipzig 1778." Zweiter Theil 1779. Seit
Herder's erſtem Auftreten hatten feine Anfihten über Poefte, Bolls-
lied u. f. f. gewaltigen Lärm veranlaßt und neben manchem Beſſeren
aud vieles Verfehrte zu Tage gefördert. Zum Bedeutendſten ge
börte, was Bürger unter ber Meberfrift „Aus Daniel Wunder
lichs Buch“ als einen „Herzensausguß über Volks Poeſie“ im
Jahrgang 1776 des Deutſchen Muſeums veröffentlichte 4). Diefer
begeifterte Aufſatz Burger's veranlafte Friedrich Nicolai zur
Herausgabe feines: „Eyn feyner Heyner Almanach vol ſchönert
echterr liblicherr Volkslieder, Tuftigerr Reyen vnndt kleglicherr Mord-
geſchichte, geſungen von Gabriel Wunderlich weyl. Benkelſengernn
tzu Deſſaw, Herausgegeben von Daniel Seuberlich, Schuſternn
tzu Ritzmück ann der Elbe. Berlynn und Stettynn 1777.“ „Zweyter
1) Ebenb. ©. 424 fg. — 2) Ebend. ©. 426 fg. — 8) Eben
©. 432 ig. — 4) Deutſches Mufeum, Erſter Band, Jänner bie Zunius
1776 ©. 443 fg.
Die germanifche Philologie in Deutfhland von 1748 bis 1797. 288
Jargang“ 1778. Der ſchale Spott hatte die Wirkung, die
Borzüge des einfachen volfsthümlichen Liedes nur noch glänzender
as Licht zu ftellen und zugleich durch die Veröffentlihung ber
ehten Vollslieder, welche der Almanach enthielt, Herder's und
Bürger’ Beſtrebungen Vorſchub zu leiften. Die epodemadende
Stellung, die Herder's Volkslieder in der Geſchichte der deutſchen
Üteratur einnehmen, ift befannt. Die feine, finnige Art, mit der
feine Ueberfegungen den Ton und die Seele des fremden Liedes
wiebergeben, ift muftergültig für alle Beiten, und die meifterhafte
vorrede zum zweiten Band gehört zum Schönſten, was je über
Igrifche Poefie gefagt worden ift. Auch die tiefere Auffafjung und
Eforſchung der deutſchen Poefie fand Hier die lebendigſte An-
vegmg.
Um dieſelbe Zeit aber, in ber Herder den Quellen der echten
Borfie nachgrub, follte die Poeſie ſelbſt in Deutſchland wieder er-
fteßen durch unferen größten Dichter, und es war von ben glüd-
lichſten Folgen für beide Theile, daß Goethe in ein fo nahes
Berhältniß zu Herder geführt wurde. Was Goethes Dichtung,
wie allen geiftigen Beftrebungen, fo insbejondere auch der tieferen
Erlenntniß unfrer Poeſie geworben ift, bies zu ſchildern, gehört
der Geſchichte der deutſchen Literatur an. Hier birfen wir nur
darauf hindeuten, wie Goethe in der erſten Periobe feines Dichtens
vorzugSweife deutſch war. Die tüchtigen Charaktere ver alten deut⸗
ſchen Zeit erfüllen feine Phantafie und ergreifen fein Herz. Götz
von Berlichingen wird der Held feines erften Dramas. Der for-
ſchende Tieffinn des deutſchen Volles findet in ben älteften Frag⸗
menten des Fauſt feinen genialften Ausbrud, und bie barbarifh
geſcholtene Baukunſt des Mittelalters reißt unfern Dichter beim
Anblid des Straßburger Münfters zu begeiftertem Lobe hin. Aber
auch die ältere deutſche Literatur findet an ihm einen warmen Ver⸗
rer, doch nicht fowohl die damals nod wenig gekannte mittel»
alterliche, als die bes fechzehnten Jahrhunderts. Ueber „Hans
Sachſens poetifhe Sendung“ fagt er (1776) das Schönfte, was je
über diefen Dichter gefagt worden ift; und ſchon im Jahr 1771
funmelt er auf Herder's Anregung im Elſaß deutſche Lieder aus
284 Zweites Buch. Viertes Kapitel.
dem Munde des Volkes, die er „als einen Schatz an feinem Her
zen trägt“ 1).
Das Streben nad bem Unmittelbaren und Uxfprünglicen,
wie es von Hamann und Herder angeregt wurde und in Goethe
begeifterten Anklang fand, begegnete ben Anfihten, bie Juſtus
Möfer auf dem Gebiet der Politik und Geſchichte vertrat. Ueberall
ift es ber Zug aus dem Verkünſtelten und Gemachten zum Ur
fprüngligen und Naturwüchfigen. Nicht daß Möſer die fpäter
aufgegebene Abſicht hatte, „alle deutſche Poeten, melde bis zu
Ende des 15. Jahrhunderts gefhrieben haben“, herauszugeben ?),
oder daß er in feinen Patriotiihen Phantafieen ein par nieder
deutſche Minnelieder mittheilte °), gibt ihm feine bedeutende Stelle
in der Geſchichte der germanifhen Philologie, fondern daß er in
allen feinen Schriften, in ber Osnabrückiſchen Geſchichte ſowohl,
als in den Patriotifden Phantafieen in die Sitte und Denkweiſe
des Deutſchen Volles alter und neuer Zeit tiefe und weithin ans
vegende Blide that. Dies macht ihn zum würdigen Genofien
Herder's und Goethe's in der epochemachenden Meinen Schrift:
Bon Deutfher Art und Kunft. Einige fliegende Blätter. Ham
burg 1778.
, So ſchien in den ſiebziger Jahren des 18. Jahrhunderts Alles
im beſten Zuge, um die germanifce Philologie zu einer baldigen
Blüthe zu fördern. Und wirklich fehen wir auch in bem beiden
nachſten Jahrzehnten verfdiedene Gelehrte auftreten, melde bie
mädtigen Anregungen, die von unfern großen Schriftftellern aus
giengen, und ben fid immer mehr anhäufenden gelehrten Stoff in
Verbindung zu fegen ſuchen. In biefer Weife war gegen bas Ente
unferer Periode beſonders Frie drich David Gräter täätig
Geboren im J. 1768 in ber freien Reichsſtadt Schwäbiſch Hall
ftudierte Gräter auf der Univerfität Erlangen Theologie, wurde
1) Goethe's Brief am Herder in: Mus Herders Nachlaß. Her. von $-
Dünger und F. ©. von Herder 8b. I, S. 29. — 2) Möfer's Brief an
Gleim vom 24. Juli 1756, in Möfer’s Vermiſchten Schriften, Thl. II, 1798,
6. 201 — 3) Möfer, Patriot. Phantafiren, Thl. III, (4), ©. 228 ig.
Die germaniſche Philologie in Deutfihland von 1748 Bis 1797. 285
1189 Lehrer am Gymnaſitum feiner Vaterftabt, 1804 Rector biefer
Anftalt, 1818 wurde er Rector und Paedagogarch des Gymnaſiums
zu Um, 1826 als Sector in Ruheſtand verfegt, lebte er feit biefer
it in Schorndorf und ſtarb bafeldft am 2. Auguft 1830 1).
Gräter wurde zu feinen altdeutſchen Stubien von den verſchieden⸗
fen Richtungen der damaligen deutſchen Literatur aus angeregt.
alopſtock, Kretfgmann 2) und Denis 3) begeifterten ihn für bie alt-
nordiſche Boefie, und fo trat er zuerft (1789) in feinen „Norbi-
fien Blumen“ mit Ueberjegungen aus dem Altnordiſchen, ins⸗
beſondere aus der älteren Edda auf. Diefe Ueberfegungen
waren untermiſcht mit Abhandlungen, die mit vieler Wärme
mb nicht ohne Geſchick Gegenftände der nordiſchen Mythologie
behandeln 4). Bugleih aber war Gräter ein enthufiaſtiſcher
verehrer Herders 8) und ſuchte am beffen Hand bie Kenntniß ber
voeſie, insbeſondere auch bie ber deutſchen Vollspoeſie zu förbern.
Für alle dieſe Beſtrebungen erſchien als das erwünſchteſte Organ
eine Zeitſchrift, die den altdeutſchen Studien gewidmet wäre, und
eine ſolche zu gründen, gelang Gräter im J. 1791 in Verbindung
mit dem Archidialonus Chriftian Gottfried Böckh (geb. 1732
zu Räder »- Memmingen bei Nördlingen, geft. in Nörblingen ben
3. Jan. 1792) 6). Die Zeitſchrift erihien vom J. 1791 is 1802
in fieben Bänden unter dem Titel: Bragur ein litterariſches Ma-
gan der beutjchen und nordiſchen Vorzeit, vom vierten Bande
(1796) mit dem Nebentitel: Braga und Hermobe oder neues Ma-
gain fü bie vaterländiſchen Alterthümer der Sprache Kunſt und
1) Neuer Nekrolog der Deutſchen VIII, 2, ©. 969. — Meusel, Gel.
Teutschland II, (5) 8. 633. — 6. Döring in Erf. und Gruber, Allg.
Gufl. J. Section, 78. Thl., ©. 91 fg. — 2) Gräter, Idunna und Her»
me I, 6. 21. — 3) Mich. Denis Literar. Nachlass, her. von Retzer,
U. Wien 1802, 8. 188:— 4) Bgl. das Lob, das Finn Magmusjon biefen
Wfendlungen Gräter’s ertheilt (Jdunna und Hermode 1816, S. 116. 188).
— 5) Bol. Gräter's „Auf Herders Grab“ in Wieland's Teutſchem Merkur
1804. Wieder abgebrudt in Gräter’s Zerfiteuten Blättern, Erfie Sammlung,
Um 1822, ©. 287 fg. — 6) Meusel, Lexikon I, 456. — Bragur II,
Bor. 81. 2; 6. 461g.
286 Zweites Buch. Viertes Kapitel.
Sitten 1). In dieſer Zeitfhrift fanden bie bisher vereingelten Be-
ftrebungen für deutſches Altertfum einen Sammelpuntt. Vor allem
war es Gräter um die Pflege der nordiſchen Literatur zu thım.
Den bobenlofen Phantaftereien gegenüber, die damals noch Glau—
ben fanden, Hatte in hiſtoriſcher Hinfiht Schlöze r's Islandiſche
Kiteratur und Geſchichte (1773) kritiſch aufgeräumt; aber die wid.
tigfte Seite biefer Literatur, die poetifch-mythologifche, Hatte da⸗
durch zumächft mehr verloren, als gewonnen, und Jakob Schims
melmann’s (geb. zu Demmin 1712, preuß. Confiſtorialrath in
Stettin, geft. 1778) hirmverbrannte Isländiſche Edda (1777) war
nicht geeignet, die Sache auf den richtigen Weg zu Bringen. Hier
hat ſich nun Gräter das unbeftreitbare Verdienſt erworben, ein
befieres Verſtändniß der altnordiſchen Poeſie in Deutſchland anzu⸗
bahnen. Nachdem Klopſtock's Hermann's Schlacht in dem Jüng⸗
ling die Begierde nah „ben Eichenkranz des teutſchen Barden”
gewedt hatte, fuchte er fi mit „ben Liedern der alten Barden‘
befannt zu machen. Lange war fein Suchen vergeblich, bis er anf
ber Univerfitätsbibliothef zu Halle, die der Schwede Thunmann
als deren Bibliothekar mit altſtandinaviſchen Büchern ausgeräftet
hatte, fand, wonach ex fi ſehnte. Er warf fi num mit großem
Eifer auf das Studium der altgermaniſchen Sprachen, um bie fir
ber ber alten Stalden in ber Urſprache leſen zu können 2). Seine
Kenntniß ber altnordiſchen Sprache war zwar feine philologild
gründliche ), aber fein poetiſcher Sinn, fein raſtloſes Stubium und
vor allem feine genauere Belanntſchaft mit den Arbeiten der flan-
1) Ueber einen 8. Band des Bragur, der ben Mebentitel: Odina und
Teutona, führte, f. Buch II, Kap. 2. — 2) Gräter, Idunna und fer
mode I, &. 22. — 3) Dies beweifen fhon bie Titel feiner Gärten:
„Braga und Hermode“, „Jdunna und Hermode.“ Dazu das wieberfefrendt
„bie Bragur“ (Bragur II, Borr. Nachſchrift, und S. 459). Bol. aud Kb
ter's eigene Erklärung über feine Spraßflubien, Idunna und Hermode Iı
©. 22. Bragur I, ©. 288. Daf er übrigens in ziemlichem Umfang Ant
diſch verſtand, beweifen troß aller ihrer Mängel feine Neberfegungen und ar |
berweitigen Arbeiten.
Die germaniſche Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 287
dinaviſchen Gelehrten verhalfen ihm zu beſſeren Einfihten. Trotz
feines Zufammenhangs mit den meubeutjhen Barden ſpricht er es
umumtwunben aus: „Barden hatten die Deutſchen nie” !). „Den
Stalden des Nordens horche alfo, wenn du ben Geift der alten
Deutſchen noch erhorchen wilfft“ 2). Wie für das Altnordifhe, fo
war die Zeitjchrift auch für die anderen Zweige ber altveutichen
&iteratur durch Mittheilung von Originalen, Ueberjegungen und
Abhaudlungen förderlich. Beſonders wurde nad) Herder's Borgang
das deutſche Vollslied gepflegt, wie dies von einem ber Mitarbeiter,
Anfelm Elwert (geb. zu Dornberg bei Darmftabt 1761) ſchon
vorher in feinen Ungebrudten Reſten alten Gejangs (1784) ge-
ſchehen war. Gräter’s eigene Abhandlung „über die teutjchen
Voltslieder” (1794) ) Hat fpäter noch die rühmende Anerkennung
Atnim's gefunden 4). Vom vierten Bande (1796) an zog die Zeit-
ſchrift außer den „Alterthümern der Sprache" auch die „ber Kunft
und der Sitten“ in ihren Vereih, und wenn man Gräter's Bor-
tede zu dieſem Bande 5) lieſt, wird man nicht Yäugnen, daß es
hier ſchon fo ziemlich auf dasſelbe abgejehen war, mas man jest
unter dem Namen Culturgeſchichte zufammenzufaffen pflegt. Andrer⸗
feits aber bürfen wir nicht verſchweigen, daß das Fundament alfer
philologiſchen Studien, eine gründliche Kenntniß ber Sprade, bei
den Beftrebungen Gräter's umd feiner Freunde noch fehr zu
fur kam.
Auch für die Bearbeitung der deutſchen Literaturgeſchichte has
ben die letzten Jahrzehnte unſrer Periode manche tüchtige Arbeit
aufzuweiſen. So die bibliographiigen Werke des unermüdlichen
Georg Wolfgang Panzer (geb. zu Sulzbach in der Oberpfalz
1) Bragur I, (1791) ©. 52. — 2) Ebend. ©. 53. Vgl. Bragur I,
6. 95. 96. II, ©. 57. Aber feltfam nimmt es fi baneben aus, wenn
Gräter ſelbſt ſpaterhin eine „Borlefung Über die Rönigeweife ber Barden und
Stalben" mit ben Worten beginnt: „Die Barden unferer eignen Boreltern,
der Teutſchen, find nicht mehr“ Idunna und Hermobe I, (1812) ©. 1. —
3) Braga, Bb. III, ©. 207-284. — 4) Wunderhorn I, (1806) 6. 455.—
5) Sgl. befonders ©. XIX und S. XXII-XXVII.
286 Zweites Bud. Vierte Kapitel.
Sitten *). In diefer Zeitſchrift fanden bie bisher vereingelten Be-
ftrebungen für deutſches Alterthum einen Sammelpuntt. Bor allem
war es Gräter um bie Pflege der nordiſchen Literatur zu thum.
Den bodenlofen Phantaftereien gegenüber, die damals noch Glau-
ben fanden, Hatte in hiſtoriſcher Hinſicht Shlözers Islandiſche
Kiteratur und Geſchichte (1773) kritiſch aufgeräumt; aber die wid.
tigfte Seite diefer Literatur, die poetiſch- mythologiſche, Hatte da
durch zumächft mehr verloren, al8 gewonnen, und Yatob Schim-
melmann’s (geb. zu Demmin 1712, preuß. Confiftorialtath in
Stettin, geft. 1778) hirnverbrannte Isländiſche Edda (1777) war
nicht geeignet, die Sache auf den richtigen Weg zu bringen. Hier
hat fih nun Gräter das unbeftreitbare Werbienft erworben, ein
befferes Verſtändniß der altnorbifhen Poeſie in Deutſchland anzu⸗
bahnen. Nachdem Klopſtock's Hermann's Schlacht in dem Jüng-
ling die Begierde nad „dem Eichenkranz des teutſchen Barden’
gewedt Hatte, fuchte er fi mit „ben Liedern ber alten Barden“
belannt zu machen. Lange war fein Suchen vergeblich, bis er auf
der Univerfitätsbibliothel zu Halle, die der Schwede Thunmann
als deren Bibliothekar mit altſtandinaviſchen Büchern ausgeräftet
hatte, fand, wonad er ſich fehnte. Ex warf ſich nun mit großem
Eifer auf das Studium der altgermanifhen Sprachen, um bie &e
ber der alten Salben in der Urſprache Iefen zu können 2). Seine
Kenntniß der altmordifihen Sprache war zwar feine philologiſch
grünbfihe), aber fein poetifger Sinn, fein raftlofes Stubium und
vor allem feine genauere Bekanntſchaft mit den Arbeiten der ffan-
1) Ueber einen 8. Banb des Bragur, ber den Nebentitel: Odina und
Teutona, führte, f. Bud III, Kap. 2. — 2) Gräter, Idunna und Her
mode I, ©. 22. — 3) Dies beweiſen fon bie Titel feiner Gärifen:
„Braga und Hermobe*, „Jdunna und Hermode.“ Dazu bas wieberfefrene
„bie Bragur“ (Bragur II, Bor. Nachſchrift, und S. 459). Bol. aud rk
ter's eigene Erflärung über feine Sprachſtudien, Idunna und ‚Hermode I,
©. 22. Bragur I, ©. 288. Daß er übrigens in ziemlichem Umfang Altner-
diſch verſtand, beweiſen troß aller ihrer Mängel feine Meberfegungen und ar
berweitigen Arbeiten.
Die germanifche Philologie in Deutſchland von 1748 bie 1797. 287
dinaviſchen Gelehrten verhalfen ihm zu beſſeren Einſichten. Trotz
ſeines Zuſammenhangs mit den neudeutſchen Barden ſpricht er es
ummwunden aus: „Barden hatten die Deutſchen nie“ i). „Den
Slalden des Nordens horche alfo, wenn du den Geift ber alten
Deutſchen noch erhorchen willft“ 2). Wie für das Altnordiſche, fo
war die Zeitfchrift au für die anderen Zweige ber altveutichen
&iteratue duch MittHeilung von Originalen, Ueberjegungen und
Abhandlungen förderlich. Beſonders wurde nad) Herder’s Vorgang
das deutiche Volkslied gepflegt, wie dies von einem ber Mitarbeiter,
Anfelm Elwert (geb. zu Dornberg bei Darmftadt 1761) fon
vorher in feinen Ungebrudten Reſten alten Gejangs (1784) ge
cehen war. Gräter’3 eigene Abhandlung „über die teutſchen
Bollslieder” (1794) °) Hat fpäter noch die rühmende Anerkennung
Atuim's gefunden *). Vom vierten Bande (1796) an zog die Zeit-
ſcrift außer den „Alterthümern der Sprache“ auch die „ver Kunft
und der Sitten“ in ihren Bereich, und wenn man Gräter's Bor-
de zu dieſem Bande >) lieft, wird man nicht läugnen, baß es
hier fhon fo ziemlich; auf dasſelbe adgejehen war, was man jet
unter dem Namen Culturgeſchichte zuſammenzufaſſen pflegt. Anbrer-
feits aber dürfen wir nicht verſchweigen, daß das Fundament aller
Philologifgen Studien, eine gründliche Kenntniß der Sprache, bei
den Beitrebungen Gräter's und feiner Freunde noch fehr au
kurz fam.
Auch für die Bearbeitung der deutſchen Literaturgefhichte ha⸗
ben bie legten Jahrzehnte unfrer Periode mande tüdtige Arbeit
aufzumeifen. So die bibliographiigen Werke des unermüdlichen
Georg Wolfgang Panzer (geb. zu Sulzbach in der Oberpfalz “
1) Bragur I, (1791) ©. 52. — 2) Ebend. ©. 53. Bol. Bragur I,
6. 95. 96. II, ©. 57. Aber ſeltſam nimmt es fi daneben aus, wenn
Sräter ſelbſt fpätergin eine „Worlefung über die Königeweiſe ber Barben und
Stalden“ mit den Worten beginnt: „Die Barden unferer eignen Boreltern,
der Teufen, find nicht mehr· Idunna und Hermobe I, (1812) ©. 1. —
3) ragur, Sb. III, S. 207—284. — 4) Wunderhorn I, (1806) S. 455.—
5) Bgl. beſonders ©. XIX und S. XXII-XXVII.
288 Zweites Buch. Viertes Kapitel.
1729, geft. als Baftor an der St. Sebalduskirche zu Nürnberg
ben 9. ul. 1805) 1), vor allem feine „Annalen der ältern deut
ſchen Litteratur ober Anzeige und Beſchreibung derjenigen Bücher,
melde von Erfindung der Buchdruderkunſt bis MDXX. in deut
ſcher Sprache gedruckt worben find, Nürnberg — 1788” 2), €. 5.
Flögel (geb. 1729 zu Sauer, 1774 Profeffor an ber Ritterala⸗
demie zu Liegnig, geft. 7. März 1788) 3) wandte in feiner Ge
ſchichte ber fomifchen Piteratur ben alideutſchen Schriften (1786)
feine beſondere Aufmerffamteit zu 4). Bon Bervorragender Wich⸗
tigfeit aber waren die Leiftungen Erduin Julius Koch's (geb.
zu Loburg im Magdeburgiſchen 1764, 1786 Lehrer des Griechiſchen
und Lateinifhen am Paedagogium der Realſchule in Berlin, feit
1790 zugleich Prediger zu Stralau, 1795 an der Marienlirde zu
Berlin 5); feit 1815 im Arbeitshauſe zu Creuzburg in Schlefien,
geft. 21. Dec. 1834) 9. Nach dem Mufter, das fein von ifm
vereßrter Lehrer F. A. Wolf für bie Geſchichte der römiſchen Liter
ratur aufgeftelft Hatte 7), gab er in feinem Compendium der deut
ſchen Literaturgeſchichte von ben Alteften Zeiten bis auf Leſſing's
Tod (Erfter Band 1790, 2. umgearb. Ausg. 1795, zweiter Band
1798) ®) eine gebrängte, aber forgfältige und reichhaltige Ueberſicht
über die damals belannten Erzeugniffe fowohl der älteren, als der
neueren deutſchen Literatur.
Aber wenn wir aud den Samen, ben unſre großen Alaſſiler
in ben ſechziger und fiehziger “Jahren geftreut Hatten, allmählich
aufgehen fehen, fo ift doch bie nächſte Folgezeit noch weit entfernt,
den erregten Erwartungen zu entfprechen. Als in ben Jahren 1782
— 85 bie Meifterwerfe ber altdeutſchen Dichtung: Die Nibelun⸗
1) Bil, Nürnb. Gel.-Ser., fortgef. von Nopitſch, VII, 95. — 2) dort. u
Bufäge 1802—5.— 8) Jörbens, Lerifon deutſch. Dicht. u. Profeiften I, 551557.
— 4) Bgl. die Borrede zum britten Band. — 5) Meusel, Gel. Tentschl.
IV (5) 8.175. — 6) Bgl. über Koch's Leben und Bedeutung Hoffman
von Fallersleben im Weimarischen Jahrbuch für deutsche Sprache
us. w. I, Hannover 1854, 8. 58 fg. — 7) Koch, Compendium,
Bd. I (2) Berlin 1795, 8.1. — 8) Rebentitel: Grundrifs einer
Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen.
Die germanifhe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 289
gen, ber Barzival, der Zriftan, im Drud erſchienen, giengen fie
am dem größten Theil auch umfrer geiftoolfften und gebilbetften
bandsleute faft ſpurlos vorüber. Zwar machte ber berühmtefte
deuſſche Hiftorifer des 18. Jahrhunderts, Johannes Müller,
eine Ausnahme von biefer Gleihgültigkeit. Er berichtet über bie
timelnen Theile der Myller'ſchen Sammlung glei nad deren Er-
feinen in den Göttingifhen Anzeigen und erkennt (1783) 1) bie
hohe Bedeutung des Nibelungenliedes, das er mit Homer ver-
gleiht, ohne doch die Vorzüge des Griechen zu überfehen. In fei-
nem Hauptwerk, den Geſchichten ſchweizeriſcher Eidgenoſſenſchaft,
fit er (1786) mit warmer Liebe und für feine Zeit großer Ein-
fit von dem deutſchen Dichtern des 12. und 18. Jahrhunderts 2).
Aber erft in der folgenden Periode follten Johannes Müller’s An-
regungen Frucht tragen, Unter feinen großen Zeitgenofjen ver-
hallt feine Stimme. Nur Scriftfteller untergeordneten Nanges
äußern fich eingehender über die geöffneten Schätze altdeutſcher
Boefie. So der Botaniker und hamburgiſche Bibliothekar Paul
Dieterih Giſeke (geb. zu Hamburg 1741, + daſelbſt 1796) 3) in
einer anerfennenswerthen Schrift über das Nibelungenlied (1795) 4).
Die großen Genien unfres Volles aber haben ſich theils anderen
1) Sött. Anzeigen 1783, ©. 357. Anzeige ber Gneibt eb. 1784, bes
Parcival 1785. Alle biefe Anzeigen wieder abgebrudt in J. von Müller's
fimmit. Werken, Bd. X, Tübingen 1811, S. 45 — 69. — 2) Der Ge:
ſcichten ſchweizeriſchet Eibgenoffenfaft Anderes Bud. Zwehyter Theil, Reipg-
1786, &. 118122. ,S. was in ben göttingifen Anz. 1784, heißt es
Hin S. 121 in Bezug auf das Nibelungenfieb, „über biefes vortreffliche alte
Stũd (und bey weiten nicht mit allem Gefühl, womit es ber Verfaffer ber
Anzeige gelefen) Kurz angemerkt worden if.“ (Zn Müllers Werken eitoas
emeitert Bo. XX (1815) ©. 212—215; Bb. XXV (1817) ©. 307-311).
— 3) 9. Schröder, Lerifon ber hamburgiſchen Schriffieller II, 4 (1854)
6.496 fg. — 4) Ueber der Nibelungen Liet. An den Herrn Joh.
Josch. Eschenburg, von G. Hambnrg 1795. 4. Vielleicht ift er auch ber
G.“, von bem bie Probe einer Bearbeitung ber Nibelungen im Deutſchen
Rufeum 1783, II, ©. 49—73 if. &. Fr. H. von ber Hagen in ber Niber
Imgen Lied, Berlin 1807, ©. 483.
Ranmer, Grid. ter germ. Philofogte, 19
290 Zweites Bud. Biertes Kapitel.
Beftrebungen zugewenbet, theils find fie damals zum deutſchen Al⸗
terthum in ein gerabezu feinbfeliges Verhältniß gerathen. Herder
geht nad) Herausgabe der Volkslieder zu feinen umfafjenderen ger
ſchichtsphiloſophiſchen und theologiichen Arbeiten über 1). Er be
wahrt zwar der altdeutſchen Poefie ein warmes Intereſſe und
fpricht dies von Zeit zu Zeit aus; fo in feinen nad) beiden Seiten
hin fehr treffenden Bemerkungen über die nordiſche Meythologie
und ihren Werth für die neuere deutſche Dichtung (1796. 1803) 2),
in feinem „Andenken an einige ältere deutſche Dichter“ (1793) 3),
mo er unter Andrem eine Grammatil über Otfrids beneidenswerth
zeihe Flexionen wünfcht *) und die „fließende Anmuth und Süßig⸗
keit der alten deutſchen Sprache“ in den Minneſingern beivunbertd).
Aber do hat es ihm „an Luft und Muße gefehlt," „bie langen
epiſchen Gedichte“ des Hohenſtaufiſchen Zeitalter8 zu Iefen 9). Das
Entſcheidende aber war die Abwendung Goethes von ben Beſtreb⸗
ungen feiner Jugend und feine immer ausſchließlichere Hingabe
an das griehifhe und römiſche Altertfum. Diefe Umwandlung
des großen Dichters traf zufammen mit dem Aufblühen der Aaffi-
ſchen Philologie in Deutſchland. Der größte Philologe Europas:
Friedrich Auguft Wolf, follte erſt das klaſſiſche Altertfum
von neuem erſchließen und ben engen Verband unfrer Geiſtesbil
dung mit den Griehen und Römern für immer befeftigen, bevor
wir zu einem einfihtigen Verftänbniß unfrer eigenen beutjchen Ber:
gangenheit gelangen Tonnten. Wir find weit entfernt, unzufrieden
zu fein mit diefem Gang unſrer geiftigen Entwicklung. Wie duch
Windelmann und Goethe in künſtleriſcher, fo find in philologiider
Beziehung durch F. AU Wolf und feine Nachfolger die Deuticen
die hauptſächlichſten Verwalter jenes nie genug zu preifenben Shape |
alter Kunft und Weisheit geworden, am weldem die Menfhheit
1) Bgl. die Nachſchtift zu den Woftsliebern II (1779), &. 314 1. —
2) In den Horen Bd. V (1796) S. 1—28, und in ber braten Bb. ſ.
Stüd 2 (1803) S. 357—866. Beides in Herder's Wfen, Zur ſchönen Liter.
u. Kunſt, Thl. 18 (1830) ©. 109140. — 3) Zerſtreute Blätter. ginfte
Sammlung, Gotha 1793, ©. 165 — 286, — 4) Ebend. S. 11. —
5) Ebend. ©. 209. — 6) Ebend. ©. 217.
Die germanifhe Philologie in Deutſchland von 1748 bis 1797. 291
fih bilden und erfreuen wird, fo lange fie nit in Barbarei vers
fintt. Aber fo viel wir auch von den Griehen zu Iernen Haben,
fo folfte doch nicht das eitele und vergeblihe Beſtreben, mit Ber-
fäugnung der eigenen Volksthümlichleit Griehen zu werden, das
Ziel unfrer Bemühungen fein. Vielmehr foliten wir gerade dur
das hingebende Stubium der Griechen zugleih auf unfre eigene
Voltsthümlichkeit tiefer erfaſſen lernen. So mußte jene Hinmwen-
dung zum klaſſiſchen Alterthum nit nur unſrer Bildung überhaupt,
fondern gerade aud unſrer germaniſchen Philologie die reichſten
Früchte tragen. Aber Beides konnte fie nur dadurch, daß fich gegen
Nie einfeitige und zur Selbſtvernichtung führende Vergütterung des
laſſiſchen Alterthums ein heilfames Gegengewicht bildete.
19*
Drittes Bud).
Von Auftreten der Romantiker bis zum Erſcheinen
von Grimm’s Grammatik.
1797 bis 1819.
Erſtes Aapiiel.
Die Romantiler.
Die Romantiker von 1797 bis 1806.
Wir ſchreiben Hier nicht die Geſchichte der deutſchen Literatur,
fondern bie der deutſchen Philologie. Es iſt deshalb nicht unjere
Aufgabe, uns über bie dichterifhen Erzeugniſſe der Momantifer
auszufprechen und zu zeigen, wie fie zwar weit zurückſtehen hinter
den großartigen Schöpfungen Goethes und Schiller’s, wie fie aber
doch ihres eigenthimlichen Werthes nicht entbehren. Uns Tiegt hier
vielmehr ob, darzuftelfen, in wie hohem Maß die Richtung umd die
Reiftungen der Romantiker der Erforfhung unfrer eigenen Älteren
Voeſie und unfres beutihen Altertfums überhaupt zu gute gelom-
men find.
Wir haben gefehen, wie unfer größter Dichter, Goethe, im
Beginn feiner Laufbahn ſich mit Vegeifterung der deutſchen Borzeit
zuwandte und wie die Dichtungen feiner jüngeren Jahre aus bier
ſem Geift erwachſen find. Es ift befannt, welde Umwandlung in |
den Anſchauungen des Dichters inshefondere dur feinen Aufente
halt in Italien vorgegangen ift, wie er fi mehr und mehr von
Die Romantifer. 293
der deutſchen Vorzeit ab und dem griechiſchen und römiſchen Alters
tum zumandte. Daß die hohe Vollendung der antiken Kunft ben
großen Dichter mit Bewunderung erfüllte, Tag in der Natur ber
Sade, und wir verdanken biefem Verwachſen besfelben mit dem
alten Griechenthum einige feiner herrlichſten Werke. Eine Verken⸗
nmg feiner ſelbſt aber, feines Volles und feiner Beit war es,
wenn ee nun die Bewunderung der Griechen zu folder Ausſchließ⸗
figfeit trieb, daß neben ihnen Nichts mehr beftehen follte. Die
Hefte antiter Baukunſt mußten durch ihre innere Harmonie das
Entzäden des gleichgeftimmten Geiftes erregen. Aber durfte er ſich
dadurch zu höhniſchen Schmähungen ber vaterländiſchen Meifter
hinreißen laſſen 1), für beven Herrliche Werte er felbft wenige Jahre
zuvor dem beutfchen Volt die Augen geöffnet hatte? Es war ein
ganz richtiges Gefühl, daß die Dichtung der Griechen in ihrer Art
einen Grab innerer Vollendung erreicht Hat, deſſen ſich Fein anderes
Bolt rühmen kann. Aber wohin es führen mußte, wenn man ſich
dadur verleiten Tieß, deshalb nun einzig und allein die griechiihe
Dihtung gelten zu laſſen und alles davon Abweichende zit verwer-
fen, das zeigt gegen Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts Goes
thes Theorie und Praris gleichermaßen. Das gewaltigfte und ur-
ſprũnglichſte Wert, das er geſchaffen, das ältefte Fragment feines
Fauft, behandelt er jetzt (1797) mit geringfhägigem Hohn. Er
Nbämt fi) faft, daß er ſich mit biefen „Euftphantomen“ wieder ein»
Üht. Er thut es aber auch nur in Ermangelung eines Beſſern.
Sein eigentlicher Lebensplan geht auf eine wiederholte Meife nad
Ralien. „Sollte aus meiner Reife nichts werden,“ ſchreibt er am
1.Juli 1797 an Schiller, „fo habe ich auf biefe Poſſen mein ein-
iges Vertrauen gejegt.” Und bamit meint er den Fauſt. Ja
auch bie köſtlichen Dichtungen, die aus ber lebensvollen Verbindung
des Antiten und Deutſchen hervorgegangen find, finden jetzt feine
Gnade mehr in feinen Augen. Mit feiner Iphigenie ift er durch⸗
@3 mit zufrieden. Er findet fie „ganz verteufelt Human“ 2).
1) Bgt. ben Brief aus Venedig vom 8. Oct. 1786 in der Staliänifen
Ref, Bodies Wie. 1840, Bd. 23, ©. 100. — 2) Goethe an Sihiller
294 Drittes Buch. Erſtes Kapitel.
Nach der Vollendung von Hermann und Dorothea wählt er fih
einen antifen Stoff: den Tod bes Achilleus, zu epiſcher Bearbeit⸗
ung. Er möchte num Alles abftreifen, was nicht ganz in der Weile
bes Homer ift. „Soll mir ein Gedicht gelingen, das fi an die
Ilias einigermaßen anſchließt,“ ſchreibt er an Schiller (12. Mai
1798), „fo muß id den Alten auch darin folgen, worin fie getadelt
werben, ja ih muß mir zu eigen machen, was mir felbjt nicht be-
hagt.“ Und mas fommt auf dieſe Weiſe zu Stande? — Die
Achilleis, ein Gedicht; von dem Gervinus mit Recht urtheilt, daß
es feine Zeile enthalten follte, die Homer nicht geſchrieben haben
könnte, und in der That leine enthält, die er hätte ſchreiben können ').
Diefer ausſchließlichen Vergötterung ber Griechen gegenüber
regt ſich gegen Ende bes achtzehnten Jahrhunderts das Gefühl,
daß die Poefie nit einem einzigen Volt und einem einzigen Zeit:
alter allein angehöre, daß fie vielmehr cin Gemeingut der Menid-
heit fei, am welchem bie verſchiedenen Völler jedes in feiner Weile
Theil Haben. Insbeſondere richtet diefe Anficht ihren Blick auf die
Poeſie und Kumft der Völker, die nad dem Untergang bes alten
Römerreiches die Gejhide Europas beftimmt Haben. Es find bie
germanifcen und romanischen Völker; und hier wieder ift es vor
zugsweife die Poeſie und Kunft des Mittelalters und die des 16.
und 17. Jahrhunderts, welder die Vertreter der neuen Richtung
ihre Liebe zuwenden. Man hat diefer Richtung, im Gegenfag zur
Haffiigen, den Namen ber romantiſchen gegeben. Ueber feine Er
ſcheinung unfrer Literatur aber Hat ſich das Urtheil fo jehr in E⸗
tremen bewegt, wie über die fo genannten Romantiker. Während
man fie von der einen Seite in den Himmel erhob, fpridt man
ihnen von der anderen nicht weniger als Alles ab. Weder Talent,
d. 19. Jan. 1802, vergligen mit Schiller's Antwort vom 20. Jan. ©. auf
Schiller an Körner ben 21. Jan. 1802.
1) Gervinus, Geſchichte ber deutſchen Dichtung, Bd. V, vierte Nutz.
1853, ©. 434. — Vol über die damalige Stellung Goethe's zum klaſſiſchen
Alterthum: Hermann Hettner, bie romantifhe Schule in ihrem inneren Zu:
ſammenhange mit Götge und Schiller, Braunſchweig 1850, ©. 95 fg.
Die Romantifer. 295
noch Gharakter, weder Renniniffe, noch Urteil follen fie Befeflen
haben. Was aus alle dem zuwörberft hervorgeht, ift, daß wir es
hier mit einer fehr verwidelten Erſcheinung zu thun haben. Und
wie könnte dies auch anders fein bei einer fo gründlichen Verſchie⸗
tenbeit, wie wir fie gleich vom Beginn an bei den einzelnen Häup-
tern der romantiſchen Schule wahrnehmen, und bei ben tief grei-
fenden Ummandlungen, welche mehrere von ihnen im Lauf ber Zeit
durchgemacht Haben? Wie ganz anders geartet ift im Grunde
feines Wefens Tieck als Novalis, und wie weit ftehen beide von
den Brüdern Schlegel ab? Und auch diefe wieder unter fi) Bil-
ten, wie ſich fpäter gezeigt hat, einen Gegenfag ber Naturen. Und
welche Wandlungen ber Ueberzeugung hat Friedrich Schlegel, und
in anderer Weiſe wieder Tie durchgemacht! Man wird fi des⸗
halb zu hüten Haben, nicht das Kind mit dem Bade auszuſchütten
md das Gute mit dem Schlimmen zu verwerfen, oder umgefehrt
das Schlimme mit dem Guten anzunehmen.
Bas gleih von vorn herein die Stellung der Romantiler fehr
verwidelt macht, ift ihr Verhältniß zu dem beiden größten deutſchen
Dichtetn. Wir haben gefehen, daß die Romantik ſich am Ende des
actzehnten Jahrhunderts im Gegenfag zu Goethes ausſchließlicher
dinwendung zu ben Griechen entwidelt. Wan würde aber fehr
itten, wenn man baraus fließen wollte, die Romantifer hätten
die Griechen gering geſchätzt oder Goethe nicht geachtet. Goethe
bildet vielmehr den Mittelpunkt ihrer höchſten Verehrung, und
was die Griechen betrifft, jo gehen gerade die Häupter der roman-
tiſhen Kritik, die Brüder Schlegel, von dem einbringendften Stu-
dium und ber, liebevollſten Bewunderung ber Griechen aus. Wie
m Goethe, fo nehmen die Romantifer auch zu unferem zweiten
großen Dichter, zu Schiller, eine doppelfeitige Stellung ein. Einer»
feits hat man nicht mit Unrecht in Schiller's aeſthetiſchen Schriften
ben Ausgangspunkt für die Theorie ber Romantiler gefunden, und
udrerſeits fteht ihnen wieder unfer größter Dramatiler weit ferner
als Goethe.
Vie zu umfern beiden größten Distern, fo ftehen bie Roman⸗
fifer zu der Enwicllung/ welche die deutſche Philoſophie gegen den
296 Drittes Bud. Erſtes Kapitel.
Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts nahın, in nächſter Bezieh⸗
ung. ber auch Hier find die Verhältnife nit fo einfach, daß
man die Nomantifer ohne weiteres als Mitglieder einer bejtimm-
ten philofophifgen Schule bezeichnen dürfte. Fichte übt auf zwei
ihrer Häupter: Friedrich Schlegel und Hardenberg (Novalis), den
tiefften Einfluß, während die beiden anderen: Tieck und A. ®.
Schlegel troß bes literariſchen und gefelligen Zufammenhangs ihm
innerlich ferner bleiben. Schelling's erfte PHilofophfe fteht in naher
Verwandtſchaft mit den Anfichten ber Romantiker; aber obwohl
Scelling mit den Romantilern nah verbündet ift, fühlen doch
beide Theile den tief gehenden Unterſchied, der fie von einander
trennt. "Wie nah in feiner ganzen Art und Weiſe fteht Schleier⸗
mader ben Romantikern; und doch, wie weit find in der Folgezeit
Schleiermacher's Bahnen von denen Friedrich Schlegel’3 abgegan-
gen, mit dem er anfänglich ein Herz und eine Seele ſchien!
Wir durften diefe Andeutungen über die allgemeine Stellung
der Romantiler nicht übergehen, können fie aber natürlich Bier
nicht weiter verfolgen. Wir wenden uns vielmehr zu einer Dar⸗
ftellung deſſen, was die einzelnen Nomantifer geleiftet Haben, um
die Gründung ber neueren deutſchen Alterthumswiſſenſchaft vorzube
zeiten. Denn als eine vorbereitende müſſen wir ihre Thätigleit
im weſentlichen bezeichnen, als folde aber nimmt dieſelbe in der
Entwidlung unferer Wiffenfhaft, wie des beutfchen Geiſteslebens
überhaupt, eine jehr bebeutende Stelle ein. Was aber die Verir⸗
rungen der Nomantifer betrifft, die wir fo entſchieden verwerfen
wie nur irgend einer ihrer Gegner, fo werden wir im weiteren
Verlauf unfrer Darftellung fehen, wie gerade auf dem Boden unfrer
Wiſſenſchaft diefe Verirrungen ihre pofitive Berichtigung und Wider ⸗
legung gefunden haben.
Ludwig Tied. — W. H. Wadenrober.
Der dichteriſch begabteſte unter den Romantikern, Ludwig
Tied, nimmt auch durch feine die Gründung der deutſchen Phile
Togie vorbereitende Thätigfeit eine der erften Stellen ein. Geboren
zu Berlin im Jahr 1773 wuchs Tied dort in einer Zeit und Um
Die Romantifer. 297
gebung auf, deren profaifche Nüdternheit dem neuen Aufſchwung
der deutſchen Poefie feindjelig gegenüberftand. Es waren die Epi-
genen Leſſing's, die damals in Berlin das große Wort führten,
zum Theil ganz ehrenwerthe Männer, die mande tüchtige Seite
ifteg großen Meifters geerbt Hatten, nur die nicht, durch melde
unfer größter Krititer fi mit unſten größten Dichtern berührt.
In folder Umgebung fühlte ſich Tieck tief vereinfamt, und eine am
Verzweiflung gränzende Schwermuth ergriff fein Gemüth. Was
ihn in dieſer Stimmung aufrichtete, war bie Poefie, vor allem um»
fer größter deutſcher Dichter Goethe. „Die früheren Werke Goe⸗
the3,* fo erzählt er ums felöft, „waren bie erfte Nahrung meines
Geiftes geweien. Ich Hatte das Lefen gewiſſermaßen im Berlichin⸗
gen gelernt. Durch dieſes Gedicht hatte meine Phantafie für immer
eine Richtung nach jenen Zeiten, Gegenden, Geftalten und Begeben-
heiten befommen“ 1). Goethe's Werke wurden, nach mander Stör⸗
ung und Unterbredung, immer wieder ber Troft und bie Freude
des Jünglings und des Mannes, Er verjenkte fih immer mehr
in deren geiftige Schönheit. Vor allem waren es bie Jugendwerke
des großen Dichters, bie den unauslöfchlicften Eindrud auf Tieck
machten 2). Neben Goethe erfüllte bald Shakeſpeare bie Seele bes
jugenblichen Dichters. Sein Stubium vor allen unb daneben bas
der Spanier, insbeſondere des Cervantes, betrieb er auf das eif-
tigſte, nachdem er das Gymnaſium abfolviert und um Oftern 1792
die Univerfität zu Halle, im Herbſt desfelden Jahres die zu Göt⸗
fingen bezogen Batte.
Wenn nun auch Tieck mit allen diefen Studien gewifjermaßen
af dem Wege war zur altbeutihen Poefie, fo blieb ihm dieſelbe
doch noch fremd, bis ein anderer Umftand ihm den Zugang zu ihr
efhloß. Tied's gleichgeftimmter Jugendfreund W. H. Waden-
roder war noch ein Jahr lang in Berlin geblieben, als Tieck um
Oftern 1792 die Univerſttät Halle bezog. In Berlin lebte damals
1) 2. Tied's Säriften. Bb. VL Berlin 1828. Vorbericht 6. VL —
D Bgl. Tiecks Einleitung zu den Gefammelten Schriften von Lenz ®b. I.
Belin 1828. 6. XLIX.
298 Drittes Buch. Erſtes Kapitel.
der Prediger Erbuin Julius Koh, von beffen „Compendium ber
deuten Literaturgeſchichte“ wir früher gefproden haben. Bon
diefem gelehrten Kenner ließ fih Wadenroder Borlefungen über
deutſche Literatur halten, die für feine ganze Richtung von großer
Bedeutung wurden 1). Wadenroder fand nämlich inniges Gefallen
an der altdeutſchen Poeſie und erwähnte dies aud in ben Briefen
an feinen damals in Göttingen’ ftudierenden Freund Tieck. Bon
dem Collegium, das er beim Prediger Koch hört, ſchreibt er ifm
am 4. December 1792: „Da hab’ ich denn mande fehr intereſ⸗
fante Bekanntſchaft mit altdeutf—hen Dichtern gemacht und gejehn,
daß dies Studium, mit einigem Geiſt betrieben, ſehr viel Anziehen
des hat." — „Schon Sprade, Etymologie und Wortverwandt
ſchaften (befonders auch das Wohlflingende der alten Oftfräntifden
Sprade) machen das Leſen jener alten Weberbleibfel interefjant.
Aber auch davon abftrahiert, findet man viel Genie und poetiſchen
Geift darin“ 2). Tied, damals noch ausſchließlich in den Shale
fpeare und die Spanier vertieft, muß in feiner Antwort feinen
Freund vor den altveutjchen Studien gewarnt haben. Denn in
einem folgenden Brief (im Januar 1793) ſchreibt ihm dieſer: „Sei
doch nicht bange, daß ich mit der altdeutſchen Poefie meinen Ges
ſchmack verderbe. Was foll ih anders thun, als mic auf Dinge
legen, die meinen Geift mit weniger erhabenen Ideen nähren!“ —
„Du kennſt übrigens ſehr wenig von ber altdeutſchen Literatur ), wenn
bu bloß die Minnefinger kennſt. Weberhaupt ift fie zu wenig be
kannt. Sie enthält fehr viel Gutes, Intereffantes und Charalte
riſtiſches und ift für die Geſchichte der Nation und bes @eiftes
ſehr wichtig" 4). Oſtern 1798 bezogen die beiden Freunde die
Univerfität Erlangen. Der Sommer, den Tief Bier zubradte,
ward für ihn epochemachend. Die ſchönen fränkiſchen Gegenden ber
Nachbarſchaft boten reihen Naturgenuß, und vor allem erfüllte das
oft beſuchte Nürnberg Tieck und feinen Freund Wackenroder mit
1). Rubolf Köpfe, Ludwig Tied, Thl. I, Leipzig 1855, ©. 125.— Brieſe
am 2. Tied, Bd. IV, Breslau 1864, ©. 228. — 2) Briefe an 2. Zied IV,
©. 228 fg. — 3) So wird zu leſen fein. — 4) Ebend. IV, 6. 29.
Die Romantifer. 289
Segeifterung für alte deutſche Art und Kunft. Hier wurden die
Keime gelegt, die dann in den gemeinfamen Schriften der beiden
freunde, in ben „Herzensergießungen eines Tunftliebenden Klofter-
brudets“ (Berlin 1797), in ben „Phantafien über die Kunft“ -
(Hamburg 1799) und in „Sternbalds Wanderungen“ (Berlin
1198) aufgiengen; die erften Beiden überwiegend von Wadenzober,
ter Sternbald von Tieck allein, aber no in Wackenroder's letztem
bebensjahr von beiden Freunden gemeinfam entworfen '). Hier
wurde nun in zwiefacher Weife Herz und Auge für die altdeutſche
Kunft geöffnet: durch die Aufhebung der Schranfen, welde bie
Kunſt in den Bereich eines einzigen Volles ober einer einzigen
Geſchmacsrichtung einſchließen follten, und durd die warme Liebe
zur deutſchen Kunft. Die „Herzensergießungen eines kunſtlieben⸗
den Kloſterbruders“ erhoben ihre Stimme für „Allgemeinheit, Tor
leranz und Menſchenliebe in der Kunft” 2). „Kunſt,“ Heißt es dort,
„ft die Blume menſchlicher Empfindung zu nennen. In ewig wech⸗
jelnder Geftalt erhebt fie fih unter den mannigfaltigen Zonen ber
Ede zum Himmel empor, und dem allgemeinen Water, ber ben
Edball mit allem, was daran ift, in feiner Hand Hält, duftet auch
von diefer Saat nur ein vereinigter Wohlgeruch. Er erblidt in
jeglichen Werte der Kunft, unter allen Zonen ber Exde, die Spur
von dem himmlischen Funken, der, von Ihm ausgegangen, buch
die Bruft des Menſchen hindurch in deſſen Meine Schöpfungen
übergieng, aus denen er dem großen Schöpfer wieder entgegen»
dimmt. Ihm ift der gothiſche Tempel fo wohlgefällig als der
Tempel des Griechen“ 9). Und fo wird dann mit warmer Liebe
das Gefühl für die vaterländiſche Kunft gewedt. Ein „Ehrenge-
dachtniß unfers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers“ beginnt
mit den Worten: „Nürnberg! Du vormals weltberühmte Stadt!
Die gerne durchwanderte ih beine krummen Gaffen; mit welder
lindlichen Siebe betrachtete ich beine altväterifgen Käufer und
1) Bgl. Rudolf Köpfe, Ludwig Ziel, I, ©. 225. — 2) Herzender:
gefungen eines kunſtliebenden Kiofterbrubers, Berlin 1797, 6. 97. —
9) Een. ©. 100.
800 Drittes Bud. Erſtes Kapitel.
Kirchen, denen die fefte Spur von ımfrer alten vaterländifcen
Kunft eingedrückt ift! Wie innig Tieb’ ich die Bildungen jener Zeit,
bie eine fo derbe, Träftige und wahre Sprade führen! Wie ziehen
ſie mich zurüd im jenes graue Jahrhundert, da di, Nürnberg, bie
lebendigwimmelnde Schule der vaterländifhen Kunft warft, und
ein recht fruchtbarer, überfliegender Kunftgeift in deinen Mauern
Iebte und webte: — da Meifter Hans Sachs und Adam Kraft,
der Bildhauer, und vor allen Albrecht Dürer mit feinem Freunde
Wilidaldus Pirfheimer, und fo viel andere hochgelobte Ehrenmän
ner noch lebten!" 1). So wie in den genannten Schriften beide
Freunde fi der Bildenden Kunft der deutſchen Vorzeit zunvandten,
fo richtete fich gleichzeitig Tieck's Aufmerkſamkeit auf die fo genann-
ten deutſchen Vollsbücher. Auch andere neuere Schriftfteller vor
ihm Hatten deren Stoffe für ihren eigenen Gebrauch verwendet.
Aber aus dem Geſichtspunlt der neueren Kultur und Weltanfiht
hatten fie diefelben in's Komiſche gezogen. Tied dagegen erzählte
in feinen „Vollsmärden herausgegeben von Peter Leberecht (Berlin
1797”) „die Geſchichte von den Heymons Kindern, in zwanzig alte
fränfifgen Bildern“ mit dem ſchlichten Ernſt der alten Zeit, und
er konnte fpäterhin mit Recht fagen: „Mein Verfuh, die gute |
alte Geſchichte in einer ruhigen, treuherzigen Profa, die ſich aber
nicht über den Gegenftand erheben ober ihn gar parobieren will,
wieder zu erzählen, war damals der erfte in Deutſchland“ 2).
Wadenrober nahm auch das gelehrte Studium der altdeutſchen
Kiteratur fehr ernft. Er durchſuchte an feinen verſchiedenen Aufent-
haltsorten die Bibliotheken nach altdeutſchen Schägen und lieferte
feinem Lehrer Erbuin Koch zahlreiche Nachträge und Berichtigungen
zu deſſen Compendium der deutſchen Literaturgeſchichte ). Als er
am 18. Februar 1798 ſtarb, hinterließ er feinem Freund Tiec die
Pflege der altdeutſchen Kımft und Literatur als ein Heifiges Ber
mãchtniß. Tiecs eigene Poefie hatte fi dem Mittelalter zuge
1) Ebend. ©. 109 fg. — 98. Tiefs Sqriſten. Cilfter Band-
Berlin 1828. Borberift, ©. XLII. — 8) Koch, Compendiam der
Deutschen Literatur-Geschichte, Bd.’IL, Berlin 1798, Vorr. 8. II.
Die Romantifer. . 801
mabet und auf dieſem Boden duftenbe Wlüthen getrieben‘). Aber
der aeſthetiſche Katholicismus, der ſich den großen und Haren Ent-
widelungen ber neueren Jahrhunderte feindfelig gegemüberftellte,
war weber echte Meligion, noch wahres Mittelalter. Er mußte
deshalb zu mannigfachen gefährlichen Verirrungen führen, ſowohl
im deben, als in der Wiſſenſchaft. Aber fo wenig er zu billigen
war, fo trug er doch in jener Zeit dazu bei, die Augen wieder
af die Denkmäler unſrer Vergangenheit zu lenken. Seit dem
Jehre 1801 Hatte ſich Tieck befonders viel mit der alldeutſchen
Boefie beſchäftigt 2). Eine Frucht diefer Studien waren die „Minne-
liedet aus dem Schwäbiſchen Zeitalter neu bearbeitet und heraus⸗
gegeben von Ludewig Tieck. Berlin 1808.“ Daß die Ueberfegung
Tiefs mit dem Mafitab unfrer jegigen Kenntniffe gemefien ſehr
mangelhaft ift, verfteht fih vom ſelbſt. Aber diefen Maßſtab an⸗
legen, würden wir nur dann berechtigt fein, wenn jemand jetzt
noch die Tieck ſchen Ueberſetzungen empfehlen ober bie außerordentlichen
Fertihritte Läugnen wollte, welche unſre Kenntniß des Altdeutſchen
ſeit ſechzig Jahren gemacht hat. Daß aber in ber damaligen Zeit
die Teckſchen Ueberfegungen eine fehr geachtete Stellung einnah⸗
men, erfehen wir daraus, daß einer ber grünblichiten damals le⸗
denden Kenner, Bernhard Docen, das Urtheil fällt: „Diefe Nad-
Gibungen (Teck's), Meine Untrenen abgerechnet, Tommen den Ori«
ginafen unter allen ähnlichen Verſuchen am nädften“ ®). Der
Uberfegung der Minneliever ſchickte Tieck eine Einleitung voraus,
in welder er feine Anſichten über bie altdeutſche Poeſie und ihr
berhaltniß zur Poeſie anderer Wölfer und Zeiten niederlegte.
„Sen wir auf eine unlängft verfloffene Zeit zurück,“ heißt es da,
«bie ſich durch @leichgültigfeit, . Mißverftändniffe oder das Nicht ⸗
beachten der Werke der ſchönen Künfte auszeichnet, fo müſſen wir
1) Wie fich das ſpecifiſch katholiſierende Element erft allmäplic in Tied’s
Borfie einniſtete, Hat H. Heltner, bie romantiſche Schule u. |. w., Braun ⸗
queig 1850, S. 36 fg. auseinandergefeßt. — 2) 2. Ziels Schriften.
Cfter Band. Berlin 1828, Vorberit S. LXXVIII. — 3) Docen im
Rein (terarifhen Anzeiger 1807, 12. Mai, Sp. 295.
302 Zweites Bud. Erſies Kapitel.
über die ſchnelle Veränderung erftaunen, die in einem fo Turzen
Beitraum bewirkt hat, daß man fi nicht nur für die Denkmäler
verfloffener Zeitalter intereffiert, fondern fie würdigt, und nicht
nur mit einfeitigem und verblendetem Eifer bewundert, fonbern
durch ein höheres Streben fi) bemüht, jeden Geiſt auf feine ihm
eigene Art zu verftehn und zu faſſen und alfe Werke der verſchie⸗
denften Künftler, fo fehr fie alle für fich ſelbſt das Höchſte fein
mögen, als Theile Einer Poeſie, Einer Kunft anzufgauen und auf
biefem Wege ein heifiges unbefanntes Land zu ahnden und endlich
zu entbeden, von bem alle gerüßrten und begeifterten Gemüther
geweisfagt haben, und dem alle Gedichte als Bürger und Ein
wohner zugehören. Denn es gibt do nur Eine Poefte, bie in
ſich felhft von den früheften Beiten bis in die fernfte Zufunft mit
den Werken, bie wir befigen, und mit den verloren, bie unjere
Phantaſie ergänzen möchte, fo wie mit ben Tünftigen, welde fie
ahnden will, nur ein unzertrennliches Ganze ausmacht” '). Die
alte Zeit erfläre die neue und umgefehrt. Unſere Kenntniß der
italieniſchen, fpanifcen, deutſchen, engliſchen und nordiſchen Poeſie
lehre uns auch das Alterthum richtiger faſſen; „eben wie es unſern
Nachkommen vergönnt ſein wird, noch tiefer in das Geheimniß zu
dringen, wenn die Lieder des Orients ihnen näher gekommen
find“ 2). — „Erfreulich iſt es zu bemerken, wie dies Gefühl des
Ganzen fon jetzt im ber Liebe zur Poeſie wirft. Wenigſtens iſ
wohl noch fein Zeitalter gewefen, weldes fo viele Anlage gezeigt
hätte, alle Gattungen ber Poeſie zu lieben und zu erkennen (Indie
vibuen, bie ſich oft beim erften Anbli zu wiberfprechen ſcheinen)
und von feiner Vorliebe fih bis zur Parteilichteit und Nichterlenn⸗
ung verblenden zu laſſen“ 2). — „Unter diefen günftigen Umftin-
den ift e8 vielleicht an der Zeit, von neuem an bie ältere beutide
Poeſie zu erinnern.“ Man Habe zwar feit Opit und noch häufiger
feit Gottſched mannigfache Verſuche gemacht, die Aufmerkſamkeit auf
bie altdeutſche Poeſie zu lenken. Die Bemühungen VBobmer’d,
1) Minneliedet — her. von 2. Ziel, Berlin 1803, Vort. S. I, —
2) Ebend. S. III.
Die Romantifer. 803
Ldling’s, Eſchenburg's, Myller's, Gräter's, Koch's feien nicht zu
vertennen. Über trogbem fei das größere Publicum immer noch
mit der Altern. deutſchen Zeit unbelannt geblieben. Die Darftellung
der alldeutſchen Poefte, welche Tieck Hierauf folgen läßt, zeigt trotz
aller Unrichtigkeiten, die wir jegt mit leichter Mühe nachweiſen
tümen, wie tief ein verwandter Geift auch bei geringen Hülfsmit-
ten durch liebevolles Studium in das Weſen der alten Dichtung
einzudringen vermochte. Mit rihtigem Blick erkennt Tied die beir
den verſchiedenen Seiten der altdeutihen Poefie. „Wenn wir das
jogenannte Lied der Nibelungen,“ fagt er, „und bie Gedichte aus⸗
nehmen, welche zum Heldenbuche gerechnet werben müffen, jo waren
ohne Zweifel Die Dichter ber Provence die Vorbilder der Deutjchen,
rangojen und Italiener.“ — „Bei den Provenzalen und Franzo⸗
jen finden wir zuerft die Gedichte vom Artus, welde die deutſchen
Nimefänger bald darauf übertrugen und nahahmten.” „Früher ‘),
and zwar um mehrere Jahrhunderte, muß man das Erſte Gedicht
von den Nibelungen fegen, bei welchem es eben fo vergeblich fein
möfte, nach einem einzigen Verfaſſer zu fragen, als bei ber Jlias
Der Odyſſee. Die Nibelungen find ein wahres Epos, eine große
Grideinung, die noch wenig gefannt und noch weniger gewürdigt
it, ein vollendete Gedicht vom größten Umfange. Das Helden
nd und diejenigen Erzählungen, melde bazu gerechnet werden
nüſſen, Haben nod Vieles vom Ton eines epiſchen Zeitalters; es
Kigt ſich in ihnen eine Größe und Exhabenheit, die zumeilen ſich
herabſtimmt und im ihren Schilderungen rauh und barbariſch er-
ifeint; viele Erzählungen erinnern an die Nibelungen, auch find
mande wohl aus dieſen entftanden, und wenn fie fi nicht zu der
tinen Erhabenheit diejes Gedichtes erheben, fo tragen fie doch noch
tele Spuren einer alten Zeit und ergögen durd eine ftarfe und
nämlige Fröhlichkeit, die durchaus dem Gegenftande ihrer Dat
fellung angemeffen iſt· 2). — Tied's Minnelieder und befonders
Vie eben geſchilderte Vorrede dazu machten einen außerordentlichen
—
1) als das 19. und 13. Jahrhundert. — 2) Ebend. ©. VI fg.
804 Drities Bud. Erfies Zapitel
Eindruck. Wir werden ſehen, wie ſie auch für den größten Ge⸗
lehrten unſeres Faches, für Jacob Grimm epochemachend wurden.
Auguf Wilhelm Schlegel. — Friedrich Schlegel.
Wenn Tied durch die verwandte Art feiner eigenen Poeſie ſich
zur altdeutſchen Dichtung hingezogen fühlte, ſo wurden die Brüder
Schlegel durch ihr umfaſſendes Studium der geſammten Literatur
auch dem deutſchen Alterthum zugeführt. Wir ſehen fie in neuer
Weiſe und mit ſehr vervolllommneten Mitteln die Richtung wieder
aufnehmen, welcher Herder die Bahn gebrochen Hatte. Der ältere
der beiden Brüder, Auguft Wilhelm (geboren zu Hannover
1767), war fich diefer Geiſtesverwandtſchaft wohl bewußt, wie wir
aus feiner treffenden Schilderung Herder's ſehen 1). Was er
Herder nachrühmt, daß „feine Muſe gern eine gefelfige Dolmet-
ſcherin der Zeiten und Völfer ift, bie allen Zungen nachzuſingen
und jeden Ton zu treffen weiß“ 2), das gilt in eminenter Weile
von A. W. Schlegel ſelbſt. Schon in einer feiner erften größeren
Abhandlungen, in den „Briefen über Poefie, Silbenmaß und
Sprade," die er im Jahr 1795 in Schillers Horen veröffentlicht,
fpricht er aus, worauf es abgefehen war. Der Kunftrichter fol
„ſich bis zur Weltgeſchichte der Phantafie und des @efühls er-
heben.“ „Welch ein weiter Horizont ift es,“ ruft er aus, „ber alles
uns bekannte Schöne ber Poeſie, was jemals irgendwo unter ben
Menſchen erſchien, in fi faht!" I). — Beide Brüder giengen aus
von einem gründlichen Studium ber griechiſchen und römiſchen Cr
teratur. Auguft Wilhelm hatte feine klaſſiſchen Studien unter
Heyne in Göttingen gemacht; Friedrich war befonders angeregt
durch Friedrich Auguft Wolfs Schriften, vor allem durch die im
Jahr 1795 erſchienenen Prolegomena ad Homerum. An br
griechiſchen Literatur und der geiftvollen Behandlung, die fie durch
Wolf erfuhr, Ternten fie, die Literatur eines Volles nicht als eine
1) 1797. A. ®. von Sählegel’6 Werke, Leipzig 1846, Vd. X, 6.376.
— 2) Ebend. ©. 410. — 3) A. W. von Schlegel's Werke, 8. VI
©. 107.
Die Romantiter. 805
afälfige Maſſe beliebiger Schriftwerke, ſondern als das organiſche
Ergengniß des Volles auffaffen, das fie hervorgebracht hat. In
diem Sinn ift F. Schlegel's geiftvolle „Geſchichte der Poeſie der
Griehen und Römer“ 1) geſchrieben. Neben dem Studium der
Griechen und Römer war es den beiden Brüdern von Anfang an
am eine richtige Würdigung der damals in ihrem höchſten Glanze
fefenden neueren deutſchen Literatur zu thun. In Goethe verehren
fe den gebornen Herrſcher auf bem Gebiet der deutſchen Poefie
und ſuchen fi in deſſen Werke immer tiefer einzuleben. Bon
Säilter’3 aefthetiihen Abhandlungen erfahren fie in ihren theoretie
fhen Anfichten bedeutende Einwirkungen. Auf dem Gebiet der philo-
ſophiſchen Speculation treten fie mit Fichte, dann mit Schelling
md Schleiermacher in nahe Beziehung, auf dem der Poeſie mit
den ihnen verwandten Beftrebungen Tied's und Hardenberg's. Bon
den antiten Klaſſikern ausgegangen, breiten fie ihr Stubium ber
Boefie zunächft auf die Literatur der romanifhen Völfer aus. Für
Dante und Gervantes eröffnen fie ein Verſtändniß, wie e8 bis da-
fin in Deutfchland nicht entfernt vorhanden geweſen war. Bor
allen aber iſt es ein germanifcher Dichter: Shafefpeare, dem Auguſt
Wilhelm Schlegel’ eifrigftes Studium ſich zuwendet. Seine
meifterhafte Ueberſetzung Hat den größten engliſchen Dichter aud zu
nem deutſchen Klaſſiker gemacht.
Alle dieſe Studien wieſen die Schlegel von verſchiedenen Seiten
auch auf die altdeutſche Literatur hin. Aber fo felbtverftändlid,
wie heutzutage, muß man ſich die Sache nicht denken; und fo blieb
ihnen denn auch eine eingehenbere Beihäftigung mit unfrer eigenen
älteren Literatur noch geraume Zeit fern, nachdem fie ſchon bie
umfaffendften Studien fremder Geifteswerfe, alter wie neuer, ges
macht hatten. Zwar einige Kenntniß der mittelhochdeutſchen Dichter
1) Erſien Bandes erfie Abtheilung. Berlin 1798. Ich Tann natürlich,
hier auf diefen Gegenſtand nicht näher eingehen und muß deshalb aud das
Berhältnig von F. Schlegel’ früherer Schrift: „Die Griechen und Römer.
cher Band. Neufrelig 1797” zu ber „Geſchichte der Poeſie der Griechen
und Römer“ unerdrtert laſſen.
Raumer, Geld. der germ. Pfllologie. 20
806 Drittes Bud. Erſtes Kapitel,
läßt fih bei A. W. Schlegel ſchon ziemlich früh nachweiſen. In
den „Betrachtungen über Metrik“, bie vor 1798 geſchrieben find,
macht er die Bemerkung, daß „bei unfern Minnefängern, wenn
wir fie nad) ber heutigen Ausfprade leſen, häufig der Reim, der
doch urſprünglich gewiß richtig war, verloren geht“ 1). Ebenſo ber
ruft er fi in feiner Beurtheilung ber „Beyträge zur weitern Aus ·
bildung der deutſchen Sprache“, die 1797 in der Jenaiſchen allge
meinen Literaturzeitung erſchien, darauf, daß flerionslofe For⸗
men, wie „ein blutend Herz, ein ehern Band“, „durch den gur
ten, alten Befig der Dichter von ben Zeiten der Minnefinger
bis auf die umfrigen“ ſich vertheibigen laſſen. Aber eine tiefere
und eingehenbere Beſchäftigung mit unfrer alfen Literatur ſchreibt
fi Hei den Brüdern Schlegel erft aus ber Zeit Ber, als fie
mit Tied und Novalis in nähere Beziehung traten. Wie fih
bei ihnen voraus fegen läßt, greifen fie nun die Sache meer
als bloße Antiquare, nod als bloße Liebhaber am, ſondem
mit der Wärme und dem Blick genialer Literaturforſcher. Wir
fehen dies gleich aus ihren erften eindringenderen Weußerune
gen, die dies Gebiet betreffen. Ein deutſcher Edelmann hatte
gegen Ende des 18. Jahrhunderts einen Preis von hundert
Ducaten auf die Entdeckung der alten Barbengefänge geſetzt, welde
Karl der Große Hat aufzeichnen laſſen. U. W. Schlegel äußert
ſich darüber im Athenäum 17992) in einer Weiſe, die von einer
für die damalige Zeit nicht geringen Einſicht in ben Gegenftand
zeugt. Es folle fi niemand auf die vergehlie Mühe einlaflen,
jagt er. „Fürs erfte Haben die alten Germanier feine Barden |
1). W. von Sälegefs Werte Dt. VII, ©. 181. Daß biee ‚Br
trachtungen über Metrit. An Friedrich Schlegel“ vor 1798 geſchrieben find,
ergibt fich daraus, daß der Verf. fie für das Gefpräh: „Die Epraden” br
reits Benugt hat, womit das erfie Heft des Athenäums (erſchienen zur Ofter
meſſe 1798) eröffnet wurde. Bol. 3. B. A. W. von Schlegel's Werte Vll.
©. 159 mit ©. 211; oder S. 170 mit ©. 217. — 2) Aıpenäum. Eine
Zeitfgrift von A. W. Schlegel und F. Schlegel, Zweiter Band, Zweit
Stüd, Berlin 1799, ©. 306 fg. Wieder abgebrudt in A. B. von Sqhlegele
Werten, Vd. XII, Leipjig 1847, ©. 39 fg.
Die Romantiter. 307
gehabt, folglich auch Feine Bardengeſänge. Das Wort Barde ift
galliſch, und die heilloſe Verwirrung der galliſchen Völkerſchaften
mit den germaniſchen unter der griedhiihen Benennung der Gelten
it fhon längft für ungültig erfanmt.“ — „Aber wie, wenn ber
Iahalt der auf Karls Befehl aufgeſchriebnen Lieder, in einer
ſpaͤteren Bearbeitung wirflih auf uns gekommen, ſchon längft bes
launt, und das Nachſuchen alfo doppelt vergehlih wäre? Das
Lied der Nibelungen bezieht fi auf burgundiſche Geſchichten
3 dem fünften Jahrhundert; Johannes Müller Cin der Beur⸗
teilung der Müller'ſchen Ausgabe in den Götting. Anz. vom
3.1783) glaubt, die Grundlage ber Fabel ſei ſchon zu Karl's des
Großen Zeiten vorhanden geweſen. Wirklich deutet die herbe Wild-
keit dieſer koloſſaliſchen Dichtungen auf Hohes Alterthum; das ei»
gentlich Nitterlie kann ihnen in der Behandlung aus dem Zeit-
der der Minnefinger, bie wir befigen, erſt angebildet fein“ In
der letten Zeit feines Jenaer Aufenthalts und zu Berlin, wohin
a m Jahr 1802 auf längere Zeit überfiebelte, beſchäftigte ſich U.
W. Schlegel eifrig mit dem Studium ber altdeutichen Literatur.
Bir jehen dies aus ben eingehenden und oft fehr treffenden Be⸗
mertungen, die er in feinen Briefen an Tied macht über deſſen
Mimelieder !), über das Metrum der Nibelungen, in weldem er
„den längeren Vers am Schluß der vierten Zeile als durchaus wer
ſentlich· erlennt 2), über den lateiniſchen Walther von Aquitanien,
teilen nahen Zufammenhang mit dem Nibelungenlieb er fieht und
von dem er jagt, daß er zwar nicht fo alt fei, als der Herausge⸗
ber will, „aber immer noch viel älter als unfer heutiger Text der
Nibelungen.“ „Was aber mir das Wichtige dabet ſcheint“, fügt er
tinzu, „ift die über allen Zweifel einleuchtende Gewißheit, daß ter
lateiniſche Verfaſſer nad) einem deutſchen Gedicht im Styl und aus
dem Zeitalter der Nibelungen gearbeitet und ſolches bloß mit Vir⸗
Siigen Phraſen zugeftugt“ 9). Auf Grundlage dieſer Studien hielt
1) Briefe an 2, Ziet, her. von R. v. Holtei, Mb. IT, Breslau 1864,
&.285 fg. — 2) Berlin 13. März 1804. Ebend. ©. 292. — 3) Berlin
%.8. Sehr. 1804. Ebend. ©. 289. A
308 Drittes Buch. Erſies Kapiiel.
A. W. Schlegel in den Jahren 1802 und 3 zu Berlin feine Bor-
Iefungen über das Mittelalter 1) und über Geſchichte der deutſchen
Poeſie. Er erftattete darin namentlich auch Bericht über das Lie
der Nibelungen und machte damit einen bedeutenden Eindrud auf
die fehr zahlreihe Berfammlung. Unter den Zuhörern befand fih
auch Friedrich Heinrich von der Hagen, der nachherige Herausgeber
der Nibelungen, der eben durch dieſen Vortrag Schlegel’3 zu feinem
Unternehmen angeregt wurde ?).
Friedrich Schlegel, ber jüngere der beiven Brüder, (ge
boren zu Hannover 1772), machte ſich erft etwas fpäter mit ber
altdeutſchen Literatur bekannt, als fein älterer Bruder. Seine
früheften Schriften zeigen noch eine voliftändige Unkenntniß derſel⸗
ben. Dann aber, im Bunde mit feinem Bruder, mit Tief und
Novalis wird er mächtig von der alten deutjchen Kunſt und Dicht
ung ergriffen. Unter feinen im Athenäum 1800 veröffentliäten
„Ideen“, die ſich durch Geiſt und Tieffinn nit weniger auszeich
nen, als durch wiberwärtige Paradogien, findet fi die Weußerung:
- „Der Geift unfrer alten Helden deutſcher Kunft und Wiſſenſchaft
muß der unfrige bleiben, fo lange wir Deutſche bleiben. Der
deutſche Künftler hat keinen Charakter ober den eines Albrecht
Dürer, Keppler, Hans Sachs, eines Luther und Jacob Böhme
Rechtlich, treuherzig, gründlich, genau und tieffinnig iſt diefer
‚ Charakter, dabei unſchuldig und etwas ungeſchickt. Nur bei den
Deutſchen ift es eine Nationaleigenheit, die Kunſt und die Wiſſen⸗
ſchaft bloß um der Kunft und der Wiſſenſchaft willen göttlich zu
verehrten“ >). Und in dem „Geipräd, über bie Poeſie“, das ſich in
bemfelden Jahrgang des Athendums findet, Inüpft Friedrich Säle
gel die größten Hoffnungen für die deutſche Poeſie daran, daß bie
Deutſchen „auf die Quellen ihrer eignen Sprade und Dichtung
zurüdgehn und die alte Kraft, den hohen Geift wieder frei machen
1) ©. Deuiſches Mufeum, der. von F. Schlegel, Bb. II, Wien 181%,
©. 432 {9 — 2) 9. W. Schlegel in F. Schlegel's Deutſchem ufım
8b. I, Wien 1812, ©. 16. Bgl. Briefe an 2. Tied, Ob. II, S. 290. —
3) Athenaum, Band III, Stüd 1, Berlin 1800, ©. 25.
Die Romantifer. 309
dee noch in den Urkunden ber vaterländifhen Vorzeit vom Liebe
der Nibelungen bi8 zum Flemming und Wedherlin bis jegt ver-
kunt ſchlummert“ 9).
Im Jahr 1802 unternahm Friedrich Schlegel eine Neife nad
Paris. Seit diefer Zeit vorzüglih wandte er der Literatur und
Kunft bes Mittelalters, beſonders der altdeutſchen Poeſie und
Sprade feine Aufmerkfamfeit umd Liebe zu2). Im eriten Heft ber
von ihm herausgegebenen Zeitſchrift „Europa“ ſchildert er uns die
Eindrüde feiner Reife. Wir erkennen daraus, wie tief Schlegel
von dem damaligen Elend bes deutſchen Volkes ergriffen war und
wie er den Blick auf deſſen ruhmvolle Vergangenheit richtete und
aus ihr neue Hoffnung für die Zukunft ſchöpfte. Der wunderbar
ſcöne Anbli der Wartburg ruft in ihm die Erinnerung an die
Seiten wach, „da die Poefte Hier in voller Blüte ftand und durch
ganz Deutfhland das allgemeine Element des Lebens, ber Liebe
und der Freude war. Nur der Rhein hat noch einen gleichen Ein-
druf auf mich marhen können.“ — „Wenn man folde Gegenftände
feht, jo fan man nicht umhin, fich zu erinnern, was die Deut-
iden ehedem waren, da ber Mann noch ein Vaterland hatte“ 3).
Nach einem begeifterten Preis des friſchen und poeſiereichen Lebens,
das „die Mitter, die Alten, die Männer des herrlichen Landes“
af Berges Höhen und in Waldesgrüne führten, fährt er fort:
„Diefe Boefie ift nun verſchwunden und auch die Tugend, die mit
derſelben verſchwiſtert war. Statt bes Furor Tedesco, deſſen in
den italieniſchen Dichtern jo oft erwähnt wird, ift nun die Gebuld
wijere erfte Rationaltugend geworden und nebft diefer bie Demuth
zum Gegenſatz jener ehedem herrichenden Gefinnung, wegen welder
noch zur Zeit Kaifer Karl des Fünften ein Spanier, der mit ihm
biefes Sand durchreiſte, die Deutſchen los fieros Alemanes nennt.
Aber was ums betrifft, fo wollen wir feft halten an dem Bilde
1) Athenãum, Band III, Stüd 1, Berlin 1800, S. 86. — 2) $r.
Sqlegel, Geſchichte der alten und neuen Litteratur, Erſter Thl. Wien 1815,
dor. &. XI. — 3) Guropa. Cine Zeitſchrift. Herausgeg. von Ftiedrich
Sqhlegel. Erſten Bandes Erftes Stüd. Frankfurt a. M. 1803. ©. 7.
310 Drittes Bud. Erſtes Kapitel.
oder vielmehr an ber Wahrheit jener großen Zeiten und uns nicht
verwirren laſſen duch die gegenwärtige Armeligfeit, unter welder
diefes große Volt nit weniger erliegt, wie andere minder bebeu-
tende. Vielleicht wird der [hlummernde Löwe noch einmal erwachen
und vielleiht wird, wenn wir es auch nicht mehr erleben follten,
die Tünftige Weltgeſchichte nod voll fein von den Thaten der Deut
föen‘ ). — Am Paris find es Hauptfählih zwei Gegenftände,
bie Friedrich Schlegel’s Thätigfeit in Anſpruch nehmen. Erſtens
und vor allem das Studium der orientalifchen Sprachen und zwei:
tens bie Betrachtung und Erforſchung der mittelalterligen Kunſt
Die epochemachenden Ergebniffe von Schlegel's orientaliſchen Stu
dien, die durch die Einführung des Sanskrit in den Kreis der
deuten Wiſſenſchaft auh für die germanifche Philologie von jo
tiefgreifender Bedeutung wurben, beſprechen wir fpäter in einem
befonderen Abſchnitt. Aber au die andere Seite von Schlegels
Beſtrebungen, die Erforſchung ber mittelalterlichen Kunft, die
ihn nicht bloß während des Parifer Aufenthaltes, fondern and in
den folgenden Jahren in Anſpruch nahm, Hat für die beutide
Geiſtesgeſchichte einen fehr wichtigen Anftoß gegeben. Die großat⸗
tige Vereinigung von Kunſtſchätzen, bie in jenen Jahren zu Paris
ftattfand, veranlaßte Schlegel, feine früheren Dresdner Kımftftubien
wieder aufzunehmen. Er wandte ſich vorzüglich den älteren Sta
Hienern und dann mit wachlender Vorliebe ben altveutjchen Malern
zu. Die Nachrichten von Gemälden in Paris, die er im feiner
Europa gab, und die er dann in berfelden Zeitſchrift auch über bie
Niederlande und Köln aushreitete, haben einen weſentlichen Antheil
an der Gründung der ſeitdem ſo reich erblühenden deutſchen Kunft-
geſchichte. Schon lange zwar hatten die Antiquare ſich mit den
deuten Kunftaltertgümern fammelnd und beſchreibend abgegeben
Aber wenn es ſich um eine finnvolle Auffaffung, um bie Künftieri-
fe Würdigung und um die geſchichtliche Erforſchung der alt
deutſchen Kunft handelte, fo konnte Schlegel damals (1803) mit
Recht jagen: Die altbeutfhe Malerſchule ift noch fo gut als völlig
1) Ebend. ©. 11.
Die Romantiker. 311
unbelannt 1). Schlegel verfenkte ſich mit gleicher Liebe in ben
‚mergrünblichen und verwidelten Tiefſinn“ des Albrecht Dürer,
wie in die entwidelte Formvollendung des Holbein. Was aber
vor allem epochemachend wurde in feinen kunſtgeſchichtlichen Bes
trahtungen, war, daß er die Größe Johann's van Eyd erfannte
und ihn an die Spige ber deutſchen Malerei ftellte, deren Ger
ſchichte durch die „beftimmte und äußerſt einfade Stufenfolge des
&pd, Dürer und Holbein" bezeichnet werde. Neben End wird hier
zum erſtenmal dem deutſchen Bublicum der Preis bes Hemmelink“
verlünbet 2). Eine neue wichtige Erweiterung befommen dann Schle⸗
gels Kunſtanſchauungen, als er in Köln die reihen Schäke ber
dortigen Malerſchule kennen lernt, und vor allem erhält das eben
damals wieder auftaudhende, jet fo berühmte Dombild die höchſten
Wbfprüche 3). — Wie für die Malerei, fo find für die altdeutſche
Baukunſt Friedrich Schlegel's Anregungen von nachhaltiger Wirk-
ung gewefen. Wir haben früher erzählt, wie unfer größter Dich⸗
ter in feinen jüngeren Jahren ber begeifterte Verlünder unfrer
alten Bauhmft und ihrer Herrlichkeit wurde. Wir haben aber
auch gefehen, wie fo ganz er in fpäterer Zeit von dieſen Anſchau⸗
ungen feiner Jugend zurückam; und in diefe Periode ber ausſchließ ⸗
figen Bergötterung des Griehifen von Seite ber Weimariſchen
Kunftfreumbe fällt bie neue Wiederbelebung des Sinns für altdent-
(he Baukunſt durch Friedrich Schlegel. Seine Anfichten darüber
hat er ausgeſprochen in feinent Poetifhen Taſchenbuch für das Jahr
1806. Die Stadt Köln mit ihren Kunſtdenkmälern aus einer lan⸗
gen Meihe von Jahrhunderten liefert ihm vor allen den Stoff zu
feinen Betrachtungen. Wir können Bier nicht näher eingehen auf
Sthlegel's Verſuche, die Formen der altdeutf hen Baukunft zu beu-
1) Guropa Band II. Stüd 2, S. 2. — 2) Europa, Band II, Gtüd 2,
S. 36 fg. Mol. die ſchon frühere rühmende Erwähnung bes „alten Maler
Hemmerlint“ ebend. Band I, Gtüd 1, ©. 154. — 2) Ebenb. Bd. II,
Sid, 2, ©. 134. fg. — Einige ſtarke Nebertreibungen würde man bem er»
Ren Enthuſiasmus noch lieber zu gute Halten, wenn fie nicht bereits mit
inigen Anfichten in naher Beziehung fründen.
312 Drittes Buch. Erſtes Kapitel.
ten und ihren Urfprung zu erfläven. Die Hauptfahe war, daß er
von ber großartigen Schönheit des Kölner Doms wirflih tief er⸗
griffen war und feine Gefühle in begeifterten Worten ausiprad.
In mehr als Einer Beziehung fehen wir die Einficht in unfre
deutſche Vorzeit auch durch befondre Forſchungen A. W. und F.
Schlegel's gefürbert. Aber das Wichtigfte an ihrer Thätigkeit war,
daß fie den Sinn für unfre Kunft weden halfen; daß fie, die
gründlichen Kenner alter und neuer Kiteratur, die von ben Meiften
veradteten Reſte unfrer Vorzeit in ihrer hohen Bedeutung aner⸗
kannten. — Wenn wir num mit unbefangenem Blick die großen
Verbienfte ber Brüder Schlegel hervorheben, fo find wir doch weit
entfernt, ihre Mißgriffe und Verirrungen in Schutz nehmen zu
wollen. Die Brüber Schlegel erfannten den Hohen Werth der
mittelalterlichen Literatur und Kunft und befämpften mit über
Tegenem Geift die Vorurtgeile, welche Unwiffenheit und Seichtig ⸗
keit gegen die großen Erſcheinungen des Mittelalters hegten. Aber
fie überfahen oder verfchwiegen die abfhredenden Schattenfeiten des
Mittelalters 1) und verfannten die unfhägbaren Vorzüge, durch
welche fi trog aller ihrer Gebrechen die neuere Zeit vor dem
Mittelalter auszeichnet. So verjenkte fih endlich Friedrich Schle⸗
gel mit folder Ausſchließlichleit in die Anſchauungen des Mittel
alters, daß er (1808) auch defien religiöfen Glauben annahm und
auf kirchlichem, wie auf politiidem Gebiet die Schöpfungen und
Veftrebungen der neueren Jahrhunderte befämpfte.
Ganz anders als fein Bruder Friedrich verhielt ſich A ®.
Schlegel zu den Erſcheinungen des Mittelalters. In einer fpite
ven Schrift: „Berichtigung einiger Mißdeutungen, Berlin 1828 2),
bat er ſich über fein Verhältniß zum Katholicismus ausgefproden.
1) Wo fi} eine Hinbeutung auf die Schattenfeiten des Mittelalters niht
vermeiden Täft, ba wird fie doch möglichft gedämpft und durd) das umgebende
Licht überſtrahit. So z. B. in A. W. Shlegel’s Vorlefung über das Minel
alter, gehalten in J. 1803 und abgebrudt in Fr. Schlegel’s Deuiſchem Pr
feum Bd. II, Wien 1812, ©. 432 fg. Vgl. baj. ©. 458. — 2) Wieder
abgebrudt in A. W. Schlegel's Werken, Ob. VIII, Berlin 1846, &. 20.
Die Romantiker, 313
So manden harten und ungereditfertigten Ausſpruch über die
neuere Zeit, den ex früherhin getan, hat er Hier zurüdzunehmen.
Was aber die Stellung zur mittelalterlichen Literatur und Kunſt
betrifft, die er in diefen fpäter abgelegten Bekenntniſſen einnimmt,
fo Iäßt ſich nachweifen, daß fie ſchon im den Erzeugniifen feiner
jüngeren Jahre weſentlich diefelbe war. Ex Iehnt nämlich die Zus
muthung ab, daß man entweder ben religiöfen Glauben des Mit-
telalters annehmen ober bie Runfterzeugniffe, die aus diefem Glau-
ben heroorgegangen find, verwerfen müfle. Der Proteftant befinde
fih vielmehr den mittekalterlihen Kunſtwerlen gegenüber in einer
ganz ähnlichen Stellung, wie der Chriſt überhaupt den Erzeugniffen
des aſſiſchen Alterthums. Hier falle e8 Teinem ein, den Bewun⸗
deren der griechiſchen Plaſtik zuzumuthen, entweder die Werke der
antilen Künftler zu verwerfen, oder zu dem olympiſchen Göttern
zu beten 1). Ganz denfelden Gebanten, den er bier im Jahr
1828 äußert, fpriht U. W. Schlegel bereits einunddreißig Jahre
früher in der Beurtheilung von Wackenroder's Herzengergiefungen
eines kunſtliebenden Nlofterbrubers aus, die er im Jahrgang 1797
der Jenaiſchen allgemeinen Siteraturzeitung veröffentlichte. „Wenn
mir," Heißt es bier, „der Forderung gemäß, daß der Betrachter
Rh in die Welt des Dichters ober Künſtlers verfegen foll, fogar
den mythologiſchen Träumen bes Alterthums gern ihr Iuftiges Da-
fein gönnen, warum follten wir nit, einem Kunſtwerke gegenüber,
an riftlihen Sagen und Gebräuden einen näheren Antheil neh-
men, die fonft unfrer Denlart fremd find?” 2).
Die Hiederwerfung Deutſchlaunds durd die Sramofen in dem Jahren 1805
and 1806 und das Erwachen der deutfhen Gefinnung. Fichte. Arndt.
Iahn.
Nachdem dur die Schlacht bei Aufterlig Oeſtreich, durch bie
bei Jena Preußen in den Staub geworfen und buch den Frie—⸗
densſchluß zu Presburg (1805) die Macht Oeſtreich's, durch den zu
1) Beritigung einiger Mifdeutungen 1828. 4. W. Schlegel's Werfe
VL, 6. 223-226, — NA B. Sqlegels Werke X, ©. 365 fg-
314 Drittes Bud. Erſies Kapitel,
Tilſit (1807) die Macht Preußen's gebrochen war, ſchien jeder Wi-
derftand gegen dem franzöfifcgen Unterdrüder für immer unmöglid
gemacht. Aber gerade in biefer Zeit des ſchwerſten Ungläfs zeigte
ſich die unerſchöpfte Lebenskraft des deutſchen Volles. Die Helden
der Befreiungstriege ſchufen die Heere, mit denen fie dann ben
franzöſiſchen Zwingheren aus dem Felde ſchlugen, und ber größte
deutſche Staatsmann gab Preußen eine neue politiſche Grundlage.
In diefer Zeit der größten Zerriffenheit und ſcheinbaren Vernich-
tung unſres Waterlandes erwachte in den Mräftigften und ebelften
Geiftern unferes Volles nur um fo lebhafter das Gefühl ber deut
ſchen Gemeinfamfeit. Se troftlofer aber bie politiſche Gegenwart
mar, um fo mehr mußte fi der Bl auf die gemeinfamen geifti»
gen Güter richten, welche dem deutſchen Volle noch geblieben
waren und an welde fi die Hoffnung der Tünftigen Aufer-
ftefung Mnüpfen ließ. Bor allem ift e8 bie deutſche Sprade, bie
man als das gemeinfame Band erfennt und preift, das alle deut-
fen Stämme umfhlingt. Denn wäre fie nicht geweſen, woran
Hätten ſich die Deutſchen, die fi damals in erbittertem Kampfe
gegenüberftanden, jemals wieder als Genoffen Eines Volles erten-
nen follen? Zugleich aber richtete fi ber Blick aus der trüben
Gegenwart auf bie großen Zeiten der deutſchen Vergangenheit.
Dean erinnerte fih, was das deutſche Volk in früheren Tagen ge
weſen, welde Stellung e8 eingenommen, was es ſeit ältejter Zeit
für die Menfchheit geleiftet habe.
Unter den Männern, die in jener trüben Zeit das beutihe
Bolt durch ihr Wort aufgerichtet und ihm feine große Beſtimmung
in leuchtenden Zügen vorgehalten Haben, find in erfter Linie zu
nennen: Johann Gottlieb Fichte, Ernft Morig Arndt
und Friedrich Ludwig Jahn. Wir Haben hier nicht die Auf-
gabe, das Lehen und die Thätigfeit diefer Männer zu ſchildern.
Wir müffen uns vielmehr begrügen, darauf hinzuweiſen, baß einer-
feits die Belebung bes deutſchen Sinnes aud unfrer Wiſſenſchaft
zu gute kam, und daß andrerſeits gerade biefe Herolbe ber beut-
fen Freiheit den unſchätzbaren Werth ber deutſchen Sprache her
vorhoben. In Fichte's Heben an die deutſche Nation Handelt bie vierte
Die Romantiter. 315
vorzugäweife von ber deutſchen Sprade; unb fo wenig wir auch
jo mande von Fichte's Hier geäußerten Anſichten unterſchreiben
Können, fo folgen wir doch mit Freude den lebendigen und tieffin-
nigen Betrachtungen de3 genialen Mannes. Der Deutſche, meint
a, rede eine bis zu ihrem erften Ausitrömen aus ber Naturkraft
lehendige Sprache, dagegen jeien die neulateiniſchen Sprachen von
den Böllern, die fie ſprechen, nur angelernt und deshalb bloß auf
der Oberfläche fich vegend, im der Wurzel aber tobt. „Welden
mermehlichen Einfluß auf die ganze menſchliche Entwicklung eines
volls“ fagt er, „die Beſchaffenheit feiner Sprache haben möge, der
Sprache, welche den Einzelnen bis in die geheimfte Tiefe feines
Gemũths bei Denken und Wollen begleitet, und beſchränkt oder
beflügelt, welche die gefammte Menſchenmenge, die diefelbe redet,
af ihrem Gebiete zu einem einzigen gemeinfamen Verftande ver-
fäpft, melde ber wahre gegemfeitige Durchſtrömungspunkt der
Sinnenwelt und der ber Geiſter ift und bie Enden biefer beiden
dfo in einander verſchmilzt, daß gar nicht zu fagen ift, zu welcher
von beiben fie felber gehöre; wie verſchieden die Folge diefes Ein-
fluſſes ausfallen möge, da wo das Verhältniß ift wie Lehen und
Tor, läßt fich im Allgemeinen errathen 1).
Einen wie Hohen Werth Arndt auf bie Sprade eines Bol-
les legt, iſt zu befannt, um einer näheren Erörterung zu bebürfen.
Ya feinem berühmteſten Liebe Hat er feiner Anfiht den kürzeſten
Ausdrud gegeben. „So weit die deutſche Zunge klingt,“ das ift
des Deutſchen Vaterland. So fang Arndt in den erften Monaten
des Jahres 1813, zu einer Zeit, als Deutihland von der Karte
Europe’8 verfäwunden war. Die Sprache und ihre innige Ver-
flehtung mit dem Dafein ver Völler hat Arndt während des ganzen
Verlaufs feiner langen Schriftftellerlauffahn immer von neuem bes
fhäftigt. Schon eine feiner früßeften Schriften waren bie „Seen
über die höchſte hiſtoriſche Anficht der Sprache (Roſtock 1805).“
Aus der Zeit von Arndt’ erfolgreichiter Thätigkeit wollen wir nur
1) Reben am die deutſche Nation durch Johann Gottlieb Fichte, Neue
Aufl Leipzig 1824, ©. 108.
316 Drittes Bud. Erfles Kapitel.
hinweiſen auf bie treffenden Bemerhimgen, die in feiner Schrift:
„Ueber Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprade.
1813* 1), enthalten find. „So ift jede Sprade der Ausdrud jedes
Volles,“ fagt er hier 2), „eine gleichfam in beweglichen Typen aus-
gebrüdte Ieferlihe Geſchichte feines Lebens und Weſens. Auf diefe
Weife fieht fie ber Erforfcher und Erkunder eines Volkes an. Das
Bolt ſelbſt aber muß feine Sprache als feine ältefte Ueberlieferung
und als fein Heiligftes Heiligthum ehren und bewahren: feine
Sprade ift aud feine frühefte Geſchichte und fein früheftes Leben,
und fein jüngftes Leben kann nur ein würbiges und glüdlices
Leben werben, in wie fern es mit dem früheften Geift diefer feiner
Sprache in Uebereinftimmung ift, fo wie man nur denjenigen einen
glückſeligen Mann nennen Tann, beffen Jugend umd Mannesalter
mit feiner Kindheit in Gleichmaß und Webereinftimmung fortgebil-
det ward." Nur Einen Zug in Arndt's Weſen möchte id noch
hervorheben, weil er gerade auch für die Art, wie Arndt auf bie
germaniſche Philologie eingewirkt Hat, von Bebeutung war. Es ift
bies feine liebevolle Beſchäftigung mit den flandinavifchen Völtern.
AS ein genauer Kenner ihrer gegenwärtigen Zuftände überfieht er
die Verſchiedenheit zwiſchen ihnen und den Deutſchen nicht. Aber
„verwandt,“ fagt er, „find wir allerdings dem Norden ſehr durch
die Sprade, worin fi, wie in einer geiftigen Kapſel, aud ber
gemeinfame Kern von Sinn, Art und Streben ber Völler am
fierften zu bewahren pflegt“ 3). Außer mit feinen lieben Deut
ſchen Hat er fi mit feinem Volke fo zufammengelebt wie mit den
Nordgermanen der ſtandinaviſchen Halbinſel. Es ift das Ne
germanifhe, was ihn anzieht, und überdies der gemeinſame Pro-
teftantismus. „Es lag aud wohl von jeher ein gewiſſer Prote
1) Ohne Ort. Wieder abgebrudt in E. M. Arndt’ Schriften für und
an feine lieben Deutſchen. Erſtet Theil, Reipjig 1845, ©. 358 — 488, def
ohne bie Beilagen der früheren Ausgabe. — 2) ©. 33. Schriften I, S. 884.
— I) EM. Arndt, Verfud in vergleichender Völkergeſchichte, Leipziig 184,
©. 329.
Die Romantiter, 317
ſtantismus,“ meint er, „lange vor Doctor Martin in dem Kühle
ten, ernjteren und freieren Sinn der nordiſchen Menſchen“ 1).
Friedrich Ludwig Jahn (geboren im Jahr 1778 zu Larız
in ber Priegniz, geftorben 1852 zu Freiburg an der Unftrut) hat
nicht nur durch fein Wort, fondern mehr noch durch die That zur
Kräftigung des deutſchen Volles mitgewirkt, indem er der eigent«
fihe Gründer des deutjchen Turnweſens wurde. Wir haben ihn
und feine &ründung Hier nur von Seiten ihrer Verbindung
mit den deutſchen Sprach⸗ und Altertfumsftudien zu betrachten;
aber gerade dieſe Seite ift von nicht geringer Bebeutung. Jahn
felöft war von Haufe aus Sprachforſcher. Als er während feiner
Univerfitätsftudien zu Halle (1796-1800) Mitglied von Friedrich
Auguſt Wolf's philologiſchem Seminar war, pflegte dieſer Jahn's
Sptachinſtinkt· zu rühmen 2). Schon bevor er Gründer bes
Turmweiens wurde, trat Jahn mit einer philologifgen Schrift auf:
Vereicherung bes Hochdeutſchen Sprachſchatzes verſucht im Gebiethe
der Sinnverwandtſchaft, ein Nachtrag zu Adelung's und eine Nach⸗
leſe zu Eberharb’s Wörterbuh von J. F. 8. Ch. Jahn. Leipzig
1806,” unb durch feine ganze Schriftftellerei, fowohl durch das
Deutfe Volksthum (Lübeck 1810) als die Deutſche Turnkunſt
Gerlin 1816) und feine fpäteren Schriften (Neue Runenblätter.
Roumburg 1828. — Merke zum Deutfhen Bolksthum. Hildburg⸗
haufen 1833) zieht ſich diefe philologiſch- linguiſtiſche Ader. Wir
Innen die fo oft verfpotteten Seltjamteiten und Schroffgeiten
Jahn's fo gut, wie ein Anderer, und find weit entfernt, fie in
1) &bend. ©. 844. ende Bedeutung für die germaniſche Philologie
beflept nicht in feinen Leitungen auf dem Gebiet ber Sprachforſchung, fondern
in feiner begeiflerten Erwedung des deutſchen Sinnes. Daß er als Sprach⸗
jorſcher, troß fo manches tieffinnigen und geiftvollen Gebantens, dod im
Ganzen bie Art und Weiſe feiner Zeitgenoffen teilte, das erfieht man aus
feiner Abhandlung: „Fragen und Antworten aus teutſchen Alterthümern und
teutfer Sprache · im Jahrbuch der Preußiſchen Rhein-Univerfität. I. Bandes
I. u. HI. Heft. Bonn 1819. S. 99—158. — 2) Zriedrich Ludwig Jahn's
eben. Bon Dr. Heine. Pröhle. Berlin 1855.69. .
318 Drittes Buch. Erſtes Kapitel.
Schutz nehmen zu wollen; aber wir laſſen ung dadurch nicht blind
maden für feine Tüchtigkeit. Jahn hat einen lebendigen Stun für
das Volt, feine Denkweife und feine Sprache. Schon im Deut
fen Vollsthum (1810) dachte er an eine Sammlung ber beut-
fen Vollsmärden und Sagen. „Wer fie erzählen will,“ fagt er,
„darf nicht mit Fremdheiten überladen, wie Muſäus; muß einfältig
vortragen wie Stilling und hochgebildet fein wie Goethe '). Vor⸗
teefflich ſpricht Jahn in der Vorrede zur Deutfhen Turnkunſi
(1816) über ben Werth der Mundarten. Sie find „Teineswegs
für bloße Sprachbehelfe zu Halten, für Ausbrudsweifen von niederm
Range, die nur amoch in einem Verſteck und Schlupfwintel des
Sprachreichs aus Gnade und Barmherzigkeit Dulbung genießen.
Im Gegentheil find fie nad altem wohlhergebrachten Recht in ir-
gend einem Gau auf Grund und Boden erb» und eingefeflen."
„Ihre Wohlhabenheit ift ber wahre Sprachreichthum. Ihr be
ſchrankter Bereich ift Samenbet, Gehäge und Schonung von kräf⸗
tigem Nachwuchs.“ „Die Geſammtſprache hat hier Fundgruben
und Hülfsquellen, die wahren Sparbücfen und Nothpfennige de
Spradjfages" ?). — Jahn Hat ſich in den beutfchen Schriftwerken
der verſchiedenſten Jahrhunderte umgefehen und vieles Treffende
daraus feinem treuen Gedächtniß eingeprägt. Legt man aber an
feine eigentlich linguiſtiſchen Anläufe den Maßſtab der ftengen
Wiſſenſchaft, fo wird man fi vor allem zu erinnern Haben, daß
feine Bildung vor die Zeit des großen Umſchwungs fällt, den die
germanifde Sprahforigung duch Grimm's Grammatik erfahren
bat. In feinen fpäteren Schriften hat Jahn bie Trefflichfeit von
Grimm’ Leiftungen nicht verfannt ®), aber fi in eine ganz neue
Bahn zu finden, war ihm fo wenig gegeben, wie feinem älteren
Mitkimpfer Ernft Morig Arndt. Wir werben deshalb in Jahn's
1) Deutſches Volkethum, Lübel 1810, ©. 391. — 2) Die beutfe
Turnkuuſt, Berlin 1816, Vorbericht ©. XLI fg. — 3) Neue Runen-Blät:
ter, Naumburg 1828 Vorr. ©. VII; obwohl ihm „der trefflihe Grimm“ in
feinen grammatiſchen Kunftwörtern „unnöthig und über Gebühr Iateinenzet.”
Bgl. auch ebend. ©. VI.
Die Romantiker. 319
Etmologien nichts Anderes erwarten, als in benen feiner meiften
Altersgenoſſen: neben manchem geiftreihen Blick ein vegellofes und
willlürliches Taſten und Rathen. Aber durch alle Willkür jeiner
Sprahforfgung und durch alle Seltfamfeiten feiner eigenen Wort-
tildungen bricht öfters ein bewundernswerther Sprachſinn, ber den
Rogel auf ben Kopf trifft. Chen deswegen haben ſich mande
Anstrüde Jahn's trog aller dagegen erhobenen Einwendungen un,
aufhaltſam Bahn gebrochen. Weber politihe, noch linguiſtiſche
Bedenlen haben vermocht, der von Jahn eingeführten Benennung
„tunen“ das Bürgerrecht zu entziehen. Und die Wörter: Volls⸗
Ham, voltsthümlich, Volksthümlichkeit, find bereits fo feft mit un«
ferem übrigen Sprachſchatz verwachſen, daß die Meiften fi wun-
dem werden, wenn fie hören, daß biefe Wörter erft in unfrem
Yahrfundert von Jahn geicaffen worden find. Und doch fagt
Rihn ſelbſt noch in feinem 1810 erſchienenen Deutfhen Volls-
um‘); „Uehrigens traue ich ben deutſchen Zeitgenofien fo viel
Avon dem, was in ben Neubildungen Volksthum, vollsthümlich
md Boltsrhümlichteit liegt, daß fie biefe drei Verfuge nicht an-
füßig finden“ 9. — Was Jahn's Thätigfeit eine fo hohe Bedeutung
gibt, war die innige Verbindung bes Turnens mit der vaterländi-
1) 6. 376. — 2) Grimm, Gramm. II, ©. 491 erlärt die Bildung
Boltethum für unorganifh, und Manche haben ſich dadurch beſtimmen
uſai, Vollthum, vollthümlich zu jagen. Aber Grimm felbft kann nicht
umbin, an der angeführten Stelle fortzufahten: »fürstenthum gilt aber
allgemein für fürstthum,« Das heißt: Die Zuſammenſebungen mit thum
Fab zwar fonft eigentliche Eompofitionen, bie ben Stamm des erfien
Boris mit dem zweiten verbinden (wie Herzogthum, Königthum u. ſ. w.);
det Neuhochdeutſche bebient ſich aber des Wortes thum bo aud zu un
ägentlichen Compoſitionen, d. h. folder, in welchen dies Wort einem Caſus
det vorangehenben Wortes angefügt ift, fo dem ſchwach declinierten der fürst,
des fürsten. Fürsten-thum if gebilbet, wie Fürsten-stuhl, Fürsten-
kind u. ff. So wie num Hier ein ſchwachet Genetiv in einem Gompofitum
ait thum ftedt, jo in Volks-thum ein flarfer. Das Eine iſt nicht unor-
gailger, als das Andere; und wir haben mithin nicht nöthig, von ber Form
Ajugehen, die der Schöpfer des Wortes ihm gegeben hat.
820 Drittes Buch. Erſtes Kapitel.
ſchen Geſinnung. Die Jugend rüftig und wehrhaft zu machen zum
Kampf für das Vaterland, das war fein Biel. Und fo gut umd
echt preußiſch Jahn gefinnt war, fo faßte er bod nicht ein ber
ſchränkt preußiſches, fondern das ganze deutſche Vaterland in’s
Auge. Bei aller Bewunderung ber preußiſchen Heldenthaten, wie
fie die Geſchichte des 17. und 18. Jahrhunderts jo glänzend ver-
zeichnet, drang fein Blick doc weiter zurüd in die großartige Ber-
gangenheit des deutſchen Volles. Deutſche Yünglinge und Männer
wolite er bilden rüftig an Seele und Leib und erfüllt von Begei⸗
fterung für das deutſche Vaterland. Wie er felöft, jo follten feine
Turner ihr Vaterland kennen lernen in feiner thatenreichen Ge
fhichte, in feinen Sitten und Einrichtungen, in der uralten Herr⸗
lichteit feiner Sprache und feiner Geiftegerzeugniffe. Die Eröff-
nung bes Berliner Turnplages im Frühling 1811 fteht deshalb
in engfter Beziehung zu der warmen Aufnahme, welde damals bie
altdeutſchen Studien in Berlin fanden. Schon die frühere Thi-
tigfeit der Romantiker Hatte den Boden bereitet. In Berlin hatte
A W. Schlegel in den Jahren 1802 und 8 feine Borlefungen
über Literatur, Kunft und Geift des Zeitalters und über das Mit:
telalter gehalten; und hier trat an ber eben gegründeten Umiverfität
im Jahr 1810 F. 9. von der Hagen als Lehrer ber altdeutſchen
Sprade und Literatur auf. Friedrich Frieſen aus Magdeburg
Jahn's reichbegabter Genoſſe bei ber Ausbildung bes Turnweſens,
war „bei Fichte ein fleifiger Zuhörer gewefen, und bei Hagen in
der Altdeutſchen Sprache“ 1). As dann Hagen, im Jahr 1811
nach Breslau verjegt wurde, trat ftatt feiner Auguft Zeume (geb,
zu Wittenberg 1778, } 1858) mit feinen Borlefungen über das
Nidelungenlied auf. Sein Hörfaal war gefüllt von Jahn's Tur⸗
nern, und die Heine Handausgabe des Nibelungenliedes, die deune
einige Jahre fpäter (Berlin 1815) herausgab, ift neben anderen
„Nichterſtimmen“ durch Jahn's Worte eingeführt: „Der Nibelum
genhort ift das Nibelungenlied“ 2). Den wiſſenſchaftlichen Werth
1) Jahn, in ber meiftergaften Schilderung Frieſen's im Vorbericht zur
Deutſchen Turnfunft (Berlin 1816) ©. VIL — 2) Auf der Rüdjeite dt
Titelblattes.
Die Romantiter. 821
von Zeune'3 Ausgabe wird niemand Hoch anſchlagen, fo wenig als
die erften Anfänge der von Jahn, Zeune und Anderen 1815 ger
fteten Berliniſchen Geſellſchaft für deutſche Sprache 1); aber das
mar es auch micht, worauf es bamals ankam. Die lebendige Be-
gifterung für Deutſchlands alte Herrlichkeit follte den Muth ftäh-
len für die Erkämpfung einer beſſern Zukunft. Mar von Schen-
Imborf hat diefer Stimmung Worte gegeben in feinem ergreifen
den eb vom Rhein.
Die Hänpter der zomantifhen Schule und deren Chätigkeit anf dem Gebiet
der germanifchen Philsisgie in den Jahren 1806 bis 1819,
Erinnern wir uns befien, was wir über bie Thätigkeit gejagt
haben, welche die Romantiter in ben Jahren 1797 bis 1806 für
die Auferweckung unfrer alten Literatur und Kunſt entwidelten, fo
vergegenwärtigen wir uns Ieicht, wie ſehr dieſe Beftrebungen in
ber Zeit der Unterbrüdung zur Wieberbelebung bes deutſchen Sinnes
nitwirlen mußten. Man hat den Romantikern bisweilen vorge-
worfen, daß fie die Kunſt ganz vom Leben getrennt hätten und
daß fie dadurch in bloß aeſthetiſchem Genießen aufgegangen feien.
Giebei iſt jedoch zu bemerken, daß die Romantifer jene Abwendung
vom Lehen der Nation, jenes Aufgehen in künftlerifche Beftrebungen
mit den Heroen der Weimar'ſchen Epoche: mit Goethe und Schil⸗
ie, gemein haben. Aber während Goethe fi durchaus nidt in
feiner ofympifchen Ruhe will ftören laſſen und eben deswegen in
ken Jahren 1806 bis 1818 die Mägliche Role fpielt, die aud) feine
aufrihtigften Bewunderer mit Widerwillen und Verdruß erfüllt 2),
fen wir die Romantiker von inniger Theilnahme an den Scid-
ſalen des Vaterlands und von tiefem Schmerz über die Unter
«” 1) Die fpäteren Leiſtungen biefer Geſellſchaft bürfen übrigens Feineswegs un:
terfhäpt werden. — 2) Daß id; weit entfernt bin, Goethe's Dichtergröße verkleinern
er etwa die bicpterifchen Erzeugniſſe der Romantifer neben die feinigen ftellen
m wollen, brauche ich nicht erſt zu verfichern. Aber Goethe's Benehmen in ben
Rhren 1806 — 18 zu rechiferiigen, wird auch den befigemeinten Verſuchen
nicht gelingen. Hätte das deutſche Bolt in jenen Jahren bie Stimmung
Gorhes geteilt, fo wäre das Jod des franzöfifen Gewallhabers auf une
leſen geblieben.
Raumer, Ge. der germ. Philologie. 21
—
8 REN A
Ol INnsTiTuiion u}
* an
32 Drittes Bud. Erſtes Kapitel,
drüdung des deutſchen Weſens ergriffen. Wir haben die Klagen
gehört, in die fih ſchon im Jahr 1802 Friedrich Schlegel über den
Verfall Deutſchland's ergoß. Auch A. W. Schlegel fpricht ſich ber
reits vor dem Zuſammenbruch Preußen's mit großer Klarheit und
Entſchiedenheit über die Aufgabe der Poefie in ber jammervollen
Lage des Vaterlands aus. In einem Brief an Fouqusé vom
12. März 1806 ſchreibt er: „Die Poeſie, fagt man, foll ein
ſchönes und freies Spiel fein. Ganz reiht, in fo fern fie feinen
untergeorbneten, beihräntten Zmweden dienen fol. Allein wollen
wir fie bloß zum Feſttagsſchmud des Geiftes? Zur Geipielin
feiner Zerſtreuung?“ — „Wir bebürften einer durchaus nicht träu
merifchen, fondern wachen, unmittelbaren, energiſchen und beſonders
einer patriotiſchen Poeſie.“ — „Vielleiht ſollte, fo lange unſere
nationale Selbſtäudigkeit, ja die Fortdauer des deutjhen Namens
fo dringend bedroht wird, die Poefie bei uns ganz der Beredſam⸗
keit weichen ').
Wie ſchwer das Unglüd des Vaterlands auf Tieck's Gemüth
laſtete, das ſpricht der Schluß der ſchönen Reiſegedichte im Som⸗
mer 1806 aus. Krank an ber Gicht war Tieck im Jahr 1805
nad) Ktalien gegangen und hatte dort Genefung und reichen geilti
gen Genuß gefunden. In einer Reihe lebensvoll anſchaulicher &r-
dichte ſpricht er ung die Eindrüde der in jeder Beziehung jo be
glüdenden Reiſe aus. Aber das letzte diefer Gedichte: „Dresden“
ift erfüllt von Sorge und Kummer um das bedrohte Vaterland.
„Und nun der Heimat nahe,“ fagt er, „Befund und kräftig, Was
könne ich Hagen, Da Alles mir Freude Bietet?" — „O wäre
Wahnfinn meine Furcht, Und Kleinmuth meine Angſt: — Bas
fol mir Kraft und Gejundheit, Wenn mein theures, immigft ger
liebtes, Wenn mein Vaterland zum Tode erkrankt?“ 2).
Friedrich Schlegel war bald nad) feinem Webertritt zur rümi.
ſchen Kirche nah Wien gegangen und hatte dort eine Stellung im
öftreihiihen Staatsdienft erhalten. Es war in dem für Oeſtreich
H) A. W. von Shlegel's jümmtl. Werke, Bb. VIII, Leipzig 1846,
©. 144 fg. — 2) Ludwig Tied, Gedichte, Berlin 1841, 6. MT.
Die Romantiter. 323
fo ruhmvollen Jahr 1809, und Schlegel wirkte nach Kräften mit
an der begeifterten Erhebung des Kaiſerſtaats. Man vergefie dabei
nicht, wie damals noch die veridiebenften Elemente zur Abſchütt⸗
hung des frangöfifhen Joches fih die Hand reiten. ber ſchon
in den Jahren 1810 bis 15 ſehen wir Schlegel in Verhältniffen,
die zu feinen Hochfliegenden Idealen von deutſcher Kraft und Herr-
listet wenig paſſen wollen. Die geiftvollen, wenn aud üfters
tinſeitigen Borlefungen über Geſchichte der alten umd neuen Liter
tatur, die er im Jahr 1812 zu Wien gehalten hatte, wibmet er
bei ifrer Herausgabe im Jahr 1816 dem Fürften von Metternich.
vollends nach Herftellung des Friedens wird er immer mehr in
die Nege des öftreichifchen Rüchſchritts verftridt; umd fo mußte es
den Anfhein gewinnen, als wenn die Begeiſterung für die mittel-
alterliche Größe des deutſchen Volkes, mit welcher Schlegel begon-
uen hatte, nur dahin führen könne, in veligiöfer Hinfiht die Re—
formation der Kirche, in politiſcher die großen bürgerlihen Errun-
genfhaften der meueren Jahrhunderte zu bekämpfen. Es war des⸗
halb von unſchätzbarem Werth für die Entwidlung unſrer Wiffen-
ifeft, daß gerade im jenen Jahren (1807 bis 1819) eine neue
Richtung in der Auffaffung und Behandlung des deutſchen Alter-
ums fih Bahn Brad. Schon Görres, ımd in andrer Weife
wieer Arnim und Brentano Tamen, bei aller Verwandtſchaft mit
der früßeren Romantik, doch eigentlih aus einer anderen Gegend
an das Studium des deutſchen Altertfums. Eine ganz neue Grund-
lage aber ſchaffen die Brüder Grimm.
Bir mußten diefes Emporwachſen einer neuen Richtung um
jo mehr ſchon Hier vorläufig berühren, als der Zeit nad die fpär
teren Leiſtungen der Romantiter (1806 bis 1819) mit ben früheren
der Brüder Grimm zufammenfallen. Man muß fi deshalb erin-
nern, daß die Arbeiten ber Romantiler, von denen wir jegt etwas
näßere Rechenſchaft geben wollen, ſich durchkreuzen mit den Schrif-
ten von Hagen, Gürres, Arnim, Brentano und den Brüdern Grimm,
don denen wir erſt in den folgenden Abſchnitten handeln werden.
Ludwig Tied verfolgte auch jegt den Weg weiter, den wir
ihn früßerhin Haben einſchlagen fehen. Er richtete fein Augenmerk
21°
324 Drütes Bud. Erſtes Kapitel.
vorzüglich darauf, die deutſchen Dichtungen des Mittelalters durch
Ernenerungen feinen Zeitgenoffen zugänglich zu maden. Wie in
der früheren Periode die Lyrifer, fo wollte er jetzt das großartigfte
&p08 der deutſchen Vorzeit: das Lied der Nibelungen, in's New
hochdeutſche übertragen. Es handelte fi aber dabei nicht um
eine bloße Ueberjegung, fonbern um eine förmliche Umbictung,
in welder das alte Lied in neuhochdeutſcher Bearbeitung ent-
halten, zugleih aber an pafjenden Stellen von anderen Sagen
durchflochten und ergänzt fein ſollte. Tieck beſchäftigte ſich ſchon
im Jahr 1805 mit der Herausgabe eines folgen Werks; aber
es kam nur ein Heiner Theil davon zu Stande; und erit nah
Tie’8 Tob, im Jahr -1853, wurde ein Brucdftüd davon durch
von ber Hagen veröffentlicht 1). Aehnlich wie mit dem Nibelungen
lieb ergieng es Tief mit feiner Uebertragung des König Rother.
Während feines Aufenthalts in Nom im Jahr 1805 und 6 be
ſchäftigte er ſich eifrig mit den altdeutſchen Handſchriften der Bati-
caniſchen Bihliothel. Vom König Rother nahm er eine Abſchrift
und aus diefer Abſchrift ift der erſte Druck des Gedichts, dem von
der Hagen beſorgte, geflofien 2). Tiecks eigene Abſicht aber gienz
auf eine Erneuerung, und von diefer hat er nur einige Brucftüde
in Arnim’s Zeitung für Einftebler (1808) 3) erſcheinen Laffen. Eine
vollftändige Bearbeitung aber gab Tiek im Jahr 1812 vom
Frauendienft des Ulrich von Lichtenſtein heraus. Wie ber Podie
des Mittelalters, jo wandte Tiet feine Bemüßungen auch der Did
tung der darauf folgenden Jahrhunderte zu. Cine gyruct biefer
Studien war fein 1817 erſchienenes „Deutſches Theater“, eine
Sammlung deutſcher Dramen aus dem 15. bis 17. Jahrhundert,
begleitet von geiftoollen und kenntnißreichen Bemerkungen über die
Entwicklung der deutſchen Schaubühne.
1) Im Neuen Jahibuch der Berlinifchen Geſellſchaſt für Deutſche Epraht
und Allerthumskunde. Her. durch F. H. von ber Hagen, Bd. X, Leip). 1853,
©. 1-14, u. dort S. 14—16 auch Hagen’s Bericht über Tied’s Unterneh:
men. — 2) Deutſche Gedichte bes Mittelalters. Her. v. F. H. von ber de
gen u. Büfging. Vd. I, Berlin 1808, Einleitung zum Rother ©. XII. —
YR.I-5 7
Die Romantiker. 825
Bon einigen der widtigften Arbeiten ber Brüber Schlegel
werben wir in fpäteren Abſchnitten zu ſprechen haben. Sie erſchie⸗
um theils "als befondere Werke, fo die epochemachende Schrift
driebrih Schlegel's über die Sprade und Weisheit der Indier,
deidelberg 1808; theils wurden fie in Zeitſchriften veröffentlicht.
Außer den Heidelberger Jahrbüchern war es vorzüglih das von
sriedrid Schlegel 1812 und 1813 zu Wien herausgegebene
deutſche Muſeum, worin die Brüder jetzt ihre Anſichten nieder⸗
legen. Das Deutſche Muſeum ftelfte fich recht eigentlich die Auf⸗
gabe, „beutfche Sprache und Geſchichte, deutſche Kunſt und Erkennt⸗
miß nach beſten Kräften zu befördern“ 1). Und zwar war es ganz
beſenders darauf abgeſehen, „daß man die vielfachen Schätze unſrer
alten Sprache, Geſchichte und Kunſt immer mehr zu Tage fördern
helfe; nicht bloß für die Gelehrten und einige Liebhaber, ſondern
allgemein zugänglich und verſtändlich für alle, damit eine neue Bes
lung der geſammten deutſchen Sprache, Kunft und Erkenntniß
a3 der urfprüngligen Quelle erfolge‘ 2). Im erften Band bes
Deutfhen Muſeums veröffentlichte Friedrich Schlegel feine Abhand⸗
lung „Ueber nordiſche Dichtkunſt.“ Durch feinen ganzen Bildungs-
gm war er zu ber Ueberzeugung Bingeführt, daß Poeſie und Kunft
ds Aeußerungen bes nationalen Lebens der Völker zu betrachten
fein. In dieſem Sinn gibt er einen Ueberblid über die Geſchichte
der deutſchen Poeſie während bes Mittelalters in den Vorlefungen,
Ne er im Jahr 1812 zu Wien über die Geſchichte der alten und
amen Literatur hielt. Und von diefem innigen Zuſammenhang der
Poefie mit dem Geift und ber Entwidlung der Völfer geht auch
die Abhandlung über nordiſche Dichtkunſt aus. Die Sage und
deldendichtung ift ihm „bie Poefie in ihrer urſprünglichen Geftalt
ff“ In der nordiſchen Edda findet er die urſprünglichſte Quelle
ber germaniſchen Poefie: „Jenes alldurchdringende tiefe Natur-
STÜhL, welches aus den germanischen Sitten und Einrichtungen des
Übens hervorleuchtet · „So viel aud der Einfluß bes Chriften-
1) Deutſches Muſeum, Her. v. F. Schlegel, Zweiter Band, Wien 1812,
S48. — Deutfhes Mufeum, ®b. II, 1812, ©. 272.
326 Drittes Bud. Erſtes Kapitel.
thums und mildere Sitten nachher daran geändert Haben, es ift
viel von jener alten Denkart und Gefühlsweife, wenn gleid in
neuer verwandelter Geftalt geblieben. Durch die ganze Mitterzeit,
dur alle Thaten und Sitten, alle Dichtungen und Gebilde des
Mittelalters geht diefer Grundton gleihfam wie die nordiſche Ader
hindurch, und noch ſchlagen diefe Gefühle in den Herzen aller Bl
ter deutſcher Ahkunft“ ). Mit der Edda bringt Schlegel zunädit
das Nibelungenlied in Beziehung, wobei wir ung zu erinnern ha
ben, daß diefe Abhandlung Schlegel's jünger ift als die früheren
Arbeiten von Wilhelm Grimm, Hagen und Görres. Aber nicht mır
das Nibelungenlied, fondern auch den Shakeſpeare verknüpft er mit
der alten nordiſchen Dichtung. „Was das Wefentlihe darin ift“,
fagt er, „der darin athmende freie Naturgeift, die in umfer aller
Herzen tief eingewurzelte und eigenthümliche nordiſche Gefühlsweile,
das tritt uns viel näher noch im Shaleſpeare entgegen, greift un
mittelbar ein in unfere Welt und wird wieder Leben und Gegen |
wart. Mit Recht ift er deshalb der Lieblingsdichter nicht bloß der
Engländer, fondern überhaupt aller Völker von germaniſcher Ab⸗
Tunft“ 9).
Unter den Arbeiten U. W. Schlegel's aus dieſer Periode
werben wir die Unterfuhungen über den Titurel (1811) und die
Beurtheilung der Grimm'ſchen Altdeutſchen Wälder fpäter noch be
rühren. Hier beſchränken wir uns auf einige Bemerkungen über
die Bruchſtücke, die A. W. Schlegel im Deutſchen Mufeum 1812
„Aus einer noch ungedrudten hiſtoriſchen Unterfuhung über dus
Lied der Nibelungen“ mittheilt. Schlegel ift begeiftert von der
Schönheit und Großartigfeit des Nibelungenlieds. Er ſetzt es weit
über alle anderen deutſchen Dichtungen des Mittelalters und ftellt
& unmittelbar neben den Homer. „Des bunten Schmudes ber
homerifhen Göttergeftalten“, fagt er, „mußte dag Lied der Nibelun⸗
gen freilich enthehren, weil es weſentlich ein chriſtliches Gedicht ift;
dagegen ſchildert es das Walten einer geheimnißvolfen Borjchung“.
— „Was aber die Hoheit der dargeftellten menſchlichen Gemüter
1) Deuiſches Mufeum , Band I, (1812) ©. 167. — 2) Ebend. 6.19.
Die Romantiker. 327
überhaupt betrifft, da bürfte fih die Waage enticjieben auf die
Seite des altdeutſchen Dichters neigen“ 1). Schlegel fordert des⸗
halb, daß das Nibelungenlied „in allen Schulen, die fih nicht
fümmerli) auf den nothbürftigften Unterricht einſchränken, gelefen
und erflärt werde” 2). „Lange“, jagt er, „habt ihr das heranwach⸗
fende Geſchlecht mit füßlicher, aber markloſer Nahrung kläglich ver-
sättelt: der Erfolg ift auch darnach ausgefallen. Verſucht es ein-
mal anders. Führt die Jugend in's Freie hinaus, an den halb
verwitterten Urfels der Sage, wo der mit Eiſen geſchwängerte
Quell der Heldendichtung nod lebendig hervorſprudelt. Da laft
fe einen friſchen Trunk thun“ ®). Seine Erörterungen über die
Entftefung des Nibelungenlicdes Mnüpft Schlegel an die Ausſprüche
Johann von Müller’s an, indem ex ihnen berictigend entgentritt.
&r geht davon aus, „daß wir in unferm Text der Nibelungen
nur die jüngfte Umgeftaltung vor uns haben, daß aber dieſelbe
Dichtung, der Grundlage nach, längſt in andern Geftalten vorhan-
den war“ 4. Solcher Geftaltungen nimmt Schlegel vier an, deren
ütefte ſchon bald nah den Zeiten Attila's und Theodorich's des
Großen entftanden ſei d). Bon der jüngften aber, dem Nibelun-
geulied, wie es auf uns gefommen, fagt Schlegel: „Es kann
nicht früher als in den letzten Jahren des zwölften, nicht fpäter
als etwa in ben erften zehn “fahren des breizehnten Jahrhunderts
abgefaßt fein“ ©). Daß es nicht älter fein lönne, beweiſt Schlegel
daraus, daß die Gedichte aus den früßeren Theilen des 12. Yahr-
hunderts, wie der König Mother und andere, noch fehr ungenau
in den Meimen feien, während des Nibelungenlied fon unter dem
Einfluß der großen Umgeftaltung ftehe, welde die Verskunſt etwa
keit Velded's Eneidt erfahren Habe. Daß aber unjer Nibelungen-
lied „wenigftens im zweiten Jahrzehend bes breizehnten Jahrhun⸗
derts ſchon vorhanden und befannt war”, bemeift Schlegel aus der
Anfpielung, die fih in Wolfram’3 Parzival auf unfere Nibelungen
1) Deutſches Mufeum, Band I, Bien 1812, ©. 14. — 2) Ebeud.
6.2. — 3) Ebend. 6.2. — 4) Ebend. ©. 521. — 5) Ebend.
6.535. — 6) Ebend. ©. 505.
328 Drittes Bud. Zweites Kapitel.
findet 2). Wolfram's Barzival aber fei noch bei Lebzeiten bes Lamb»
grafen Hermann von Thüringen geſchrieben, ber im fahre 1215
farb 2). Wie der Zeit, fo weiß Schlegel auch ber Gegend auf
echt wiffenihaftlihem Wege nahe zu rüden, in welder unfere Ri-
belungen abgefaßt fein müffen. Ex prüft nämlich zu dieſem Behuf
die geographiſchen Kenntniffe des Dichters, und dieſe Prüfung
führt zu dem Ergebriß, „daß der Dichter genauere örtliche Kennt
niffe vom fühlichen als vom nördlichen, und in jenem wieder von
der öftfichen als von der weitligen Seite beſaß“ ®). Bei der
Schilderung der Jagd in den Gegenden des Mfeins geräth er in
offenbare Verwirrung; dagegen weiß er an ber Donau jehr gut Ber
ſcheid. „Die genaue Kenntnig Oeſterreich's beweift, daß der Did.
ter lange hier einheimiſch war“ ). Mit biefem wiſſenſchaftlich
nachgewieſenen Ergebniß aber wollte fi Schlegel nicht begnügen,
fonbern er gieng von ba zu ber Bermuthung über, der Dichter ber
Nibelungen möge wohl Heinrich von Ofterdingen geweſen fein).
AB. SHlegel hattte im Sinn, eine vollftändige kritiſche Ausgabe
des Nibelungenliedes mit wort» und faherfärenden Anmerhimgen
erſcheinen zu laſſen. Diefer Plan aber, den er im Juni 1812, im
Deutſchen Muſeum 9), anfündigt, iſt nicht zur Ausführung ge
tommen.
Zweites Kapitel.
Die altdeutſchen Studien zur Zeit des Auftretens Der Brüder
Grimm.
Wir haben im vorigen Kapitel die Ummandlung geſchildert
welche die Auffaffung unſrer deutſchen Worzeit dur die Romanti-
ter erfahren Bat, und wir haben gefehen, wie die Häupter unfter
romantiſchen Dichtung ſich auch ſelbſt an ber altdeutſchen Forſchung
1) Ebend. S. 514 fg. — 2) Ebend. ©. 520. — 3) Deutſches Pr
ſeum, Zweiter Band, Wien 1812, ©. 14. — 4) Ebend. S. 17. —
5) &beud. II, ©. 19 fg. — 6) Ebend. IL, ©. 366.
Die alideutſchen Stubien zur Zeit bes Auftrelens ber Brüber Grimm. 829
beiheiligten. Gleichzeitig aber nimmt die altgermanifde Specialge-
lehrſamleit ihren weiteren Verlauf, erft unabhängig von «ben Ro⸗
mantifern, bald aber von ihrem Einfluß durchdrungen. Die Ge
kehrten, die wir am Ende ber vorigen Periode auf dem Gebiet
der altdeutſchen Sprache und Literatur befhäftigt fahen, fegen ihre
Thätigfeit au in ber gegenwärtigen fort. Bor alfen ber uner-
müde Gräter. Die legten Bände feines Bragur 1) fallen
ſchon in unſeren Zeitabſchnitt. Dem achten Bande desſelben (1812)
gibt er ben Nebentitel: „Obina und Teutona” 2). In biefem
Bande veröffentlicht Gräter (1812) zum erftenmal das mittelnieder-
landiſche Gedicht Van den vos Reinaerde, das er in der Combur-
ger dandſchrift entbect und (vor 1806) als das Orginal des nie⸗
derdeutſchen Reinele Bos erlannt hatte). Zugleich mit ber Heraus»
gabe des 8. Bandes des Bragur beginnt Gräter noch eine neue
Zeitſchrift . Idunna und Hermobe*, bie es in ben Jahren 1812
5816 auf fünf Jahrgänge bringt. Auch Hier wieder hat er es
in Verbindung mit feinen Mitarbeitern fowohl auf die literariſche,
ala auf die anderen Seiten bes germaniſchen Alterthums abgejehen.
Bor allem aber ift e8 ihm um den Zufammenhang mit dem ſtan⸗
dinaviſchen Norden zu tun. Gr überfegt und erläutert nicht nur
mehrere Lieder der älteren Edda, fondern er ift auch durch feine
Ausgabe der „Helga-Quida Haddingia-Scata“, die 1811 zu
Sqhwãbiſch Hall erſchien, der erfte Deutſche, der ein altnordiſches
Denkmal „zuerft und ohne Vorgänger zu entziffern gewagt hat“ 4).
Im Gefühl feiner Verdienfte weiß er ſich dann freilich nicht darein
3m finden, daß Männer von überlegener Begabung auf den Plan
treten, und verſcherzt namentlich duch feine vornehme Behandlung
der Brüder Grimm 5) für eine Zeit lang bie Anerkennung bes Ver⸗
1) S. o. ©. 285. — 2) Diefe „Obina und Teutona® hat einen breis
foßen Titel, nämli: 1) Bragur. Achter Band. 2) Braga und Hermode.
Fünfter Band. 3) Odina und Teutona. Erſtet Band. — 3) Bragur,
&. VII, ©. 274. — 4) Jounna und Hermobe 1812 ©. 16. In Odine
ub Tentona, Breslau 1812. S. 211 ließ Gräter feine Ausgabe ber Helga-
Quida noch einmal abdruden. — 5) Idunna und Hermobe 1812, Rr. 17.
330 Drittes Bud. Zweites Kapitel.
bienftes '), das er ih um bie Förderung ber beutfchen Wktertjums-
ftubien wirllich erworben hat.
Wie Gräter vorzugsweife für das Altnorbifche thätig war, fo
für das Gothiſche Wilh. Friedr. Herm. Reinwald (geb. zu
Waſungen 1737, geft. ven 6. Aug. 1815 als Bibliothekar zu Mer
ningen) 2) und Joh. Chriftian Zahn (geb. zu Halberftabt 1767,
feit 1798 Pfarrer zu Delig bei Lügen, geit. 25. Mai 1818) ).
Der legtere gab im I. 1805 zu Weißenfels die damals befannten
Ueberrefte des Ulfilas heraus auf der Grundlage von Fulda's Ar
beiten, doch fo, baß er ſelbſt Fulda's gothiſche Sprachlehre vielfach
berichtigte, wãͤhrend Reinwald deſſen gothiſches Gloſſar umarbeitete
Wie für die älteren, ſo geſchah auch für die jüngeren germaniſchen
Sprachen des Mittelalters in jener Zeit ſo Manches: für das
Niederdeutſche durch P. J. Bruns) (f 1814; Gedichte in altplatt⸗
deutſcher Sprache 1798); für das Mittelhochdeutſche durch F. W.
Oetter (f 1824; Wernher's Maria 1802); für das ältere New
hochdeutſche durch G. W. Panzer, ©. Veejenmeyer und Andere.
Aber alle diefe Bemühungen hatten zunächſt nur die Bedeutung
18. Ebeund. 1816, Literar. Beyl. S. 39. In der Ueberſicht deſſen, was bie
1812 auf dem Gebiet ber altdeutſchen Literatur geſchehen iſt (Bragur VIII,
xiv fg.) nennt Gräter bie Brüder Grimm nicht einmal. Doc ſagt er in
bemfelben Bande (©. 275): „die Herrn Grimm, bie ſich durch feltenen Eifer
für das Studium der norbifhen fowohl als aliteutſchen Literatur auszeicpnen.”
— 1) Um J Grimm’s firenges Urteil (Deutsche Mythol. (1) Zuschrift
an Dahlınann 8. XXIX) zu verfiehen, muß man vergleigen, in welgen
Mag Gräter in feinen Zeitſchriften fein eigenes Lob ausbreite. Bgl. Bragur
I, 21. 24. III, 552. Idunna und Hermode I, ©. 22. Ebent. Aupeiger
19. Dec. 1812. Ebend. III und IV, Sir. Bey. ©. 11. — 2) (Hal)
AUg. Literatur- Zeitung 1815, Nr. 232. — 3) Hoffmann, Die deutsche
Philol. 8. 17.— 4) Id führe Hier auch glei an bie gegen Ende unfres
Zeitabſchnitis erfhienenen Ausgaben des Annoliedes von G. W. F. Goldman
(1816) und bes Koloczaer Coder von Joh. Nep. Grafen Mailsth md J
Paul Köffinger (Peſth 1817), fo wie bie gelegentlichen Beiträge zur Kennt:
niß der althochdentſchen Quellen in Jldefons von Arx Geſchichten des Gantens
St. Gallen, Vd. I, (1810).
Die alideutſchen Stubien zur Zeit des Auftretens der Brüder Grimm. 881
daß durch fie das Material für die Wiſſenſchaft der germanifchen
Philologie fi etwas vermehrte. Die Entwidlung diefer Wiffen-
ihaft felbft wurde dur eine Reihe eigenthümlicher Erſcheinungen
bis zu dem Punkte fortgeführt, wo fie durch die Brüder Grimm
eine neue Geftalt befam, und dieſe Erfheinungen wollen wir nun
zunächft in ihren Trägern und deren Leiftungen ſchildern.
Friedrich Heinrih von der Hagen.
Hagen’s und Büſching's Leben.
Friedrich Heinrih von der Hagen wurde geboren am
19. Februat 1780 zu Schmiebeberg in der Ufermart. Nah Ab-
jelvierung des Lyceums zu Prenzlau widmete er fih auf der Uni-
verfität Halle der Rechtswiſſenſchaft. Zugleich aber zogen ihn dort
die Borlefungen des großen Meiſters der klaſſiſchen Philologie
Friedrich Auguft Wolf) an und nährten feine Liebe zu philologi-
(gen Studien. Im Jahr 1808 trat er zu Berlin als Meferendar
in den Staatsbienft. Es waren die Jahre, in denen durd die
Häupter der romantifen Schule fih in Berlin die Liche zu un«
ierer altdeutſchen Dichtung verbreitete. Als A. W. Schlegel im
Jahr 1803 dort feine Vorlefungen über Geſchichte der deutſchen
Boefie Hielt, befand fi Hagen unter feinen Zuhörern und wurde
bier zuerft zur Herausgabe des Nibelungenlieds angeregt ?). Schon
früber war er durch Johannes Müller auf dasſelbe aufmerkſam
gemacht worben ®), und diefer, der in den Jahren 1804 bis 1807
eine anſehnliche Stellung in Berlin einnahm, förderte nun auch
vor allen Hagen’s Beſtrebungen 4). Nah einigen Jahren verließ
Hagen den praftifhen Staatsbienft und widmete fih von da an
ganz dem Studium der älteren deutjchen Literatur. AS im Jahr
1810 die neugegrünbete Univerfität Berlin eröffnet wurde, erhielt
1) Bol. bie Widmung der Hagen'ſchen Ausgabe des Nibelungenlieds vom
I 1810 an F. A Boll. — 2) A. W. Shlegel in Fr. Schlegel’s Deut:
Me ufeum Bo. I, Wien 1812, S. 16. — 3) 8. 9. vom ber Hagen,
riefe in die Heimat, Bd. IT, ©. 338, — 4) Bgl. die Widmung der da ⸗
genen Ausg. bes Nibelungenlieds vom I. 1807 an Johann von Müller.
332 Drittes Bud. Zweites Kapitel.
ex an berfelben eine außerorbentliche Profeffur der deutfchen Sprache
und Literatur und führte fo das Altdeutſche in die Reihe ber Uni
verfitätsftubien ein. 1811 wurde er an bie Umiverfität Breslau
verfegt. Bon hier unternahm er in ben Jahren 1816 und 17
eine Reife durch Süddeutſchland, die Schweiz und Italien, um bie
Bibliothelen diefer Länder für die altdeutſchen Studien auszubeuten.
In feinen „Briefen in bie Heimat aus Deutſchland, der Schweiz
und Italien“, (4 Bände, Berlin 1818— 1821) gibt er ums ein
reichhaltiges Bild von den Eindrüden diefer Reife, fo wie von
ihren gelehrten Ergebniffen. Im Jahr 1821 wurde er ordentlicher
Profeſſor an der Univerfität Berlin, wo er nad) einer Tangjährigen
Wirkſamkeit am 11. Juni 1856 geftorben ift ').
In naher Verbindung mit F. H. von ber Hagen ftand
Johann Guſtav Büſching. Er mar ein Sohn des Geogra-
phen Anton Friedrich Büfhing und wurde am 19. September
1783 zu Berlin geboren. Nachdem er fi auf den Univerfitäten
Erlangen und Halle dem Studium der Rechtswiſſenſchaft gewidmet
hatte, wurde er im J. 1806 als Megierungsreferendar in Berlin
angeftellt. Aber feine Neigung zog ihn zum Stubium ber deut ⸗
fen Alterthümer Hin. Er übernahm daher im J. 1810 das Com⸗
mifforium, die faecularifierten Klöſter Schlefien’s zu bereifen und
deren Handſchriften und Kunftgegenftände zu verzeichnen und zu
übernehmen. Im J. 1811 wurde er Archivar zu Breslau. Seit
1816 war er zugleich Privatdocent, feit 1817 außerordentlicher und
feit 1828 ordentlicher Profeffor der Alterthumswiſſenſchaften an
der dortigen Univerfität und ift am 4. Mai 1829 daſelbſt geſtor⸗
ben ). Büſching erwarb fid) ſowohl in feiner amtlichen Stellung,
als durch einen großen Theil feiner Schriften befondere Berbienfte
1) Die vorfiehenden Angaben über Hagen’s Leben find, wo feine andere
Duelle angeführt ift, aus der Brochaus ſchen Real -Eneylopäbie, 11. Hull,
®b. VII, Leipzig 1866. ©. 562, entnommen. — 2) Die obigen Angaben
find einem Nekrolog Büſching's entnommen, den ber Neue Nekrolog ber Deut
fen, Siebenter Jahrgang 1829, Thl. I, ©. 409 fg. aus ber Bst. 34
1829, Nr. 108 abbrudt.
Die alideutſchen Studien zur Zeit bes Auftretens der Brüber Grimm. 338
um bie Alterthümer Schlefien’s. Seine widtigften Leiftungen auf
dem Gebiet der germaniſchen Philologie unternahm er in Gemein-
(haft mit F. H. von der Hagen. Unter den Schriften, die er
allein herausgab, erwähnen wir die „Wüchentlichen Nachrichten für
Freunde der Geſchichte, Kunft und Gelahrtheit des Mittelalters”
(1817— 1819), das Leben des ſchleſiſchen Ritters Hans von
Schweinichen von ihm feloft aufgefegt (1820 fg.) und „Ritterzeit
und Ritterwefen“ (1823).
driedrich Heinrich von ber Hagen's Arbeiten vom Jahr 1805
Bis zum Jahr 1819. |
Nicht nur duch äußere Anregungen, durch feine Beziehungen
MUB. Schlegel und Lubwig Tieck, fondern auch feiner natür-
ligen Anlage nah, war F. H. von ber Hagen ein Sprößling un
ferer Romantil. Der Geift des deutſchen Mittelalters, wie er fi
in Lunſt und Dichtung, in Denkweife und Sitte ausſpricht, zog
ihn mächtig an. Im Anſchluß mehr an Tier, als an die Schlegel,
wollte er die altdeutſche Poefie unmittelbar genießen. Die Sprade
war ihm hiezu nur Mittel zum Zwed; die Sprachforſchung an ſich
303 ihn weniger an. Wie die Häupter der Romantik richtete Ha-
gen fein Augenmerk keineswegs bloß auf Riteratur und Sprache,
fondern ebenfo auch auf die Bildenden Künfte des Mittelalters, ins⸗
befondere auf bie Baukunſt. Seine „Briefe in die Heimat aus
Deutſchland, der Schweiz und Stalien“ verfolgen mit gleicher Liebe
alle Spuren alter umd neuer deutſcher Kımft, wie fie uns den
Berfaffer als eifrigen Leſer der altdeutſchen Handſchriften auf den
Bibliotheken zeigen. In diefem umfaflenden Sinn gründete Hagen
in Verbindung mit Docen und Büſching das „Muſeum für Alt⸗
deutſche Literatur und Kunſt“, deſſen erfter Band 1809 zu Berlin
efßien und bei deffen zweiten Bande (erftes Heft, Berlin 1811)
ſih die Herausgeber no durch den Zutritt Bernhard Hundesha⸗
gas ergänzten. „Mufil, Bildnerei, Baukunſt, öffentliches und
hlusliches Leben”, ſagen die Herausgeber in ber Vorrede zum erſten
Band, „und was man gewöhnlich unter dem Namen der Alterthümer
begreift, find daher nicht von unferer Betrachtung ausgeſchloſſen,
334 Drittes Buch. Zweites Kapitel.
fondern werden, zum Theil erneut und verjüngt, amd hier noch
eine Zierbe oder anſchauliche Vorftellung gewähren. Unfer Haupt-
gegenftand wird jedoch immer die Sprache, Poefie, kurz, die ge
fammte Literatur und ihre Geſchichte bleiben; ſowohl wegen unferes
vorzügli aut darauf gerichteten Studiums, als auch wegen ihres
reihen, die obigen Gegenftände auf gewiſſe Weije ſchon in ſich
ſchließenden Umfanges.“ Diefer Ankündigung entſpricht dann auch
der Inhalt der Zeitſchrift, jedoch mit einer einzigen charalteriſtiſchen
Ausnahme. Obwohl nämlih unter den Hauptgegenftänden der
Zeitfhrift die Sprache an erfter Stelle genannt wird, enthält bie
felbe dod feine der Sprachforſchung angehörige Arbeit. Die übri⸗
gen Fächer aber find durch werthvolle Beiträge der Herausgeber
vertreten. Unter den wenigen ſonſtigen Mitarbeitern findet fih
auch Jacob Grimm Als eine Fortfegung des Mufeums Tann
man bie von denſelben Herausgebern unternommene „Sammlung
für Altdeutſche Literatur und Kunft” betrachten, die aber troß
manches werthuollen Beitrags nicht über das Erfte Stüd des Er-
ften Bandes, Breslau 1812, hinausgediehen ift.
Das Herausgeben altdeutſcher und altnordiſcher Texte und das
Sammeln literarifher Nachweiſungen bildet das gelehrte Hauptver-
dienft von ber Hagen’s. Einer Meinen „Sammlung Deutider
Volkslieder, — Berlin 1807*, folgten 1808 die wichtigen „Deut-
ſchen Gedichte des Mittelalters, — Erfter Band !), Berlin 1808."
Sie enthalten unter Anderen den erften Drud des Königs Rother.
Beide Sammlungen unternahm Hagen in Gemeinſchaft mit feinem
Freunde Büſching. — Unter allen altdeutſchen Dichtungen aber zog
keine von ber Hagen in fo hohem Maß an, wie die Nibelungen.
Bon feinem erften Eintritt in bie Literatur bi zum Ausgang feine
Lebens widmet er den Nibelungen und ber mit ihnen verwandten
altdeutſchen und altnordiihen Heldendihtung den beften Theil feiner
Tätigkeit. „Und wahrlich nicht, um mic hiermit zu rühmen“, ſagt
ex 1819, „— denn id weiß, wie wenig ich noch geleiftet, wie
manchmal geirrt habe — aber ich darf es wohl befennen: ih
1) Mehr it nicht erſchienen.
Die altdeutigen Stubien zur Zeit bes Auftretens ber Brüber Grimm. 335
habe den beften Theil meines Lebens an dies Werk geſetzt und habe
es gern und freudig gethan und thue es noch, weil ih muß, und
darin einen früß gefuchten Mittelpunkt alles meines Thuns und
Tagewertes, eine unendliche Aufgabe und meinen liebſten Beruf
gefunden zu haben glaube. In ber ſchmachvollſten Zeit des Vater⸗
landes war es mir, mit vielen freunden, ein großer Troft, eine
wahre Herzftärtung und eine hohe Verheißung der Wiederlehr
beutfher Weltherrlichteit, die ums nicht getäuſcht hat“ 1). Mit der
Probe einer Bearbeitung des Nibelungenlieds in ber Zeitſchrift
Cunomia (März 1805) trat Hagen zuerft vor die Deffentlichteit.
Darauf folgte: Der Nibelungen Lied herausgegeben durch F. H.
von der Hagen, Berlin 1807. Es war dies feine Ausgabe bes
nittelhochdeutſchen Grundtertes, aber auch keine Ueberjegung in die
Sprade der Gegenwart, fondern ein Mittelding zwiſchen beiden.
Die mittelhochdeutſchen Wörter werben meiftens ftehen gelaffen,
aber ihre Laute in's Neuhochdeutſche umgeſchrieben. Defters aber
werden auch bie Wörter ſelbſt mit anderen vertauſcht, bald mit
noch gebräuchlichen, bald mit anderen veralteten, bie der Verfafler
für verſtändlicher Hält, als die im Grundtert vorgefundenen. Ge
wiß war dies ganze Verfahren ein verkehrtes, nnd Wilhelm
Grimm 2) Hatte volllommen Recht, wenn er es ſtreng verurtheilte.
Her wir müflen uns erinnern, daß Hagen's Vorbilder, Ludwig
Ted in den Minneliedern und A. W. Schlegel in den Proben
nittelhochdeutſcher Dichtungen, die er dann und wann feinen Ab⸗
handluugen ‚einfliht, ein verwandtes Berfahren eingeſchlagen hat⸗
tm. Und fo gut es war, daß dieſer Zwittergattung ein raſches
Ende bereitet wurde, fo dürfen wir doch nicht verfennen, daß ber-
arige Werke auf bie Zeitgenoffen einen nicht geringen Eindruck
gxmacht haben.
Schon für die eben beſprochene Bearbeitung der Nibelungen
vom Jahr 1807 Hatte ſich Hagen einen beſſeren Grundtert herge⸗
ſtellt als den der Müller ſchen Sammlung, theils durch Conjectur,
1) &. 9. von ber Hagen, Die Nibelungen: ihre Bedeutung für die Ges
gemwart und für immer, Breslau 1819, S. 196, — 2) S. unten.
336 Drittes Bud. Zweites Kapitel.
theils durch Benugung der Prunn» Mündener Handſchriſt '). Dre
Jahr fpäter erſchien dann: Der Nibelungen Lieb im ber Urfprade
mit ben Lesarten ber verſchiedenen Handſchriften herausgegeben
durch F. H. von der Hagen Zu Vorlefungen Berlin 1810. Dieſe
Ausgabe ift F. A. Wolf gewidmet und follte „nad, beftem Wiſſen
und Vermögen eine wirklich und durchaus kritiſche fein, in der rt,
wie wir fie von den Werken des griechiſchen und römiſchen Alter-
tSums Haben“ 2). Aber ber Herausgeber war nicht glikflid, in der
Heritellung feines Textes. Tieck hatte ihm mündlich bie ganz ride
tige Mittheilung gemacht, daß der vordere Theil des Müllerigen
Abdrucks nicht aus dem St. Galler ober genommen fein Linne,
weil er ſich weſentlich von dieſem unterſcheide. Der Anfang einer
Abſchrift des St. Galler Coder, die Hagen von Prof. Scheitli er⸗
hielt, beftätigte Tied’s Mittheilung. Da nun jene vordere Hälfte
des Muller ſchen Abdrucs, nad; Hagen's eigener Angabe, aud) mit
den Bruchftüden, bie Bodmer aus ber Hohenemfer Handſchrift mit
teilt, durchaus nicht ſtimmt, fo folgte mit Nothwendigleit, daß
jene vordere Hälfte des Müller'ſchen Druds aus einer dritten
Handſchrift herrühren müfle Dennoch meint Hagen, es je am
Ende doch das Wahrfcheinlichfte, daß es mit ber Angabe, der Mil:
leriſche Druck rühre aus ber Hohenemjer Handſchrift Hex, im Ganzen
feine Richtigkeit Habe, und demgemäß legt er den Müller'ſchen Tert
zu Grunde, in der Meinung, daß er in dieſem bie „Altefte und
echteſte Handſchrift“, nämlich die von ihm voransgefegte einzige
Hohenenfer vor fih-habe®). Die Frage war freilich vermittelt
genug und wie gemadt, auch bie befferen Köpfe zu verwirten
Kurze Zeit nad) Veröffentlichung feiner kritiſchen Ausgabe erhielt
Hagen Aufklärung über das wahre Sachverhältnißß. Anfangs Ro
vember 1810 theilte ihm Profeffor J. Horner in Zürich den Brief
Bodmer's an Prof. Müller vom 1. Mat 1781 mit, aus melden
ſich ergab, daß Bodmer zwei verſchiedene Hohenemſer Handſchri-
ten benutzt hatte, und daß er Chriemhilden Rache 1757 aus bet
1) Lachmann's D. Bgl. ben Anhang zu Hagen’s- Nib. von 1807,
©. 489 fg. — ©. 596. — 2) Bor. & VI. — 36. X. X.
Die altdeutſchen Stubien zur Zeit bes Auftretens der Brüder Grimm. 887
einen (Lachmann's C), dagegen die an Müller geſchickte Abſchrift
des vorderen Theils ans ber anderen Hohenemjer Handſchrift
(Kahmann’3 A) genommen hattet). In denſelben Jahren kamen
aud die beiden koftbaren Handſchriften, die ans Hohenems ver-
ſchwunden und den Augen ber Forſcher entrüdt worden waren,
wieder zum Vorſchein. "Die letzte Befigerin, eine Gräfin Harrach,
hatte fie (1807) ihrem Abvocaten, dem Dr. Schufter in Prag ge-
ſchenlt. Diefer überließ die eine (Lachmann's A) durch Tauſch ber
Bibliothek in Münden, die andere (Lahmann’s C) verkaufte ex
an einen Hrn. Frifart in Wien, und von biefem erwarb fie, mit
Dülfe der Fürſtin Elife von Fürftenberg, (1816) der Frhr. Joſeph
von Laßberg 2), mit deifen Bücherſchätzen fie (1855) in die Färften-
bergiſche Bibliothet in Donauejdingen kam.
Im Jahr 1816 erſchien die-zweite Auflage der eben beſprochenen
Hagen’fhen Ausgabe des Nibelungenlieds umter dem Titel: Der
Ritelumgen Lied zum erfienmal in ber älteften Gejtalt aus der
St. Galler Handihrift mit Vergleihung der übrigen Handſchriften
herausgegeben duch F. H. von ber Hagen. Zweite mit einem
vollftändigen Wörterbuche vermehrte Auflage. Breslau 1816. —
Hagen jeldft bezeichnet in der Vorrede diefe Ausgabe als „ein gang
neues Buch“ gegenüber der Ausgabe von 1810, und er darf dies
auch mit voller Wahrheit tun. Hier hat er nämlich Gebrauch
gemacht von den oben erzählten Aufſchlüſſen, die fih inzwiſchen
über die Haupthandſchriften der Nibelungen ergeben Hatten. Er
lemmt zu dem Ergebniß, daß bie eine Hohemſer ?), die St. Galler
und die Münchner Handſchrift) „die Nibelungen in einer ge-
meinjamen Darftellung enthalten” und mit „„der Nibelungen Noth""
igfießen 5). Ihnen gegenüber ftehe „eine bebeutend abweichende
Darftelfung“ in der anderen Hohenemjer Handſchrift 9). Ste ent-
1) Sammlung für Altdeutſche Literatur und Kunft. Her. von F. H. v.
der Hagen u. |. w. I. and, 1. Stüd, Breslau 1812, S. 1—14. —
2 Eo wird wohl ber von Dr. Barad (Pfeiffer's Germ. X, 505) mitge
teilte Bericht des Frhrn. v. Laßberg zu verfiehen fein. — 3) Lachmanns A.
— 4) Sahmann’s D. — 5) Vorrede &. VII. — 6) Lachmann's C.
Raumer, Gef. der germ. Philologle. 22
838 Drittes Bu. Zweites Kapitel.
halte nicht nur eine Menge von Stanzen, die ben anderen fehlen,
fondern ändere aud; grundſätzlich, um ben Charakter Chriemhilds
in einem milberen Lichte erſcheinen zu laſſen i). Die Nibelungen
zeigten ſich hier zwar in einer mehr anſprechenden, motivierten, ge
bildeten Geftalt. „Aber“, fährt er fort, „es ift dadurch offenbar auch
die ältere ftrenge Einfachheit, das Kühne, "oft mehr nur Andeutende
und Rhapſodiſche oder vielmehr Nomanzenartige des deutfchen Volls
und Heldenliedes verwifcht” 2). Unfer Nibelungenlied „verläugne‘
nämlih nad Hagen’s Anſicht „feinen Urſprung aus älteren und
anbermeitigen Vollsliedern nicht“ ®). Aber „es rührt im biefer
Geftalt nur von Einem ber, und zwar von einem ber größten
und herrlichſten feiner Zeit, in mweldem fi der neue Mitter-
und Minnefang aufs innigfte mit dem alten Volksliede verquidte
und es mit allem neuen Glanze erhob und verflärte, wie nirgend
anderswo“ *). Hagen ift geneigt, mit A. W. Schlegel auf Hein
rich von Ofterdingen als Verfaſſer unfres Nibelumgenliebs zu
rathen, wenn ſich dies aud nicht zur Gewißheit erheben laſſe )
Lange bevor umfer Nibelungenlieb von diefem Einen gedichtet wur,
habe es übrigens feinen Durchgang dur die lateiniſche Aufzeid
nung gemacht, die ber Paſſauer Biſchof Pelegrin (f 991) aus
mündlicher Ueberlieferung durch feinen Schreiber, Meifter Comad,
von biefer großen Geſchichte hatte abfaſſen laſſen 6). Die ‚echteſe
und ältefte Urkunde” jener herrlichen einheitlichen deutſchen Dichtung
bietet uns nad Hagen's Anfiht die St. Galler Handſchrift und
nädft ihr die kürzere Hohenemſer und die Münchner. „Die St
Galler Handſchrift ift alfo faft wörtlich und buchſtäblich abyr
drudt" ). Aus ben übrigen Handſchriften follen die Strophen,
die wirkliche Zufäge enthalten, mit einem Sternchen bezeidnet ein
gefaltet werben. Was num die Ausführung feines Unternehmens
betrifft, fo ift Hagen auch hier noch fehr weit entfernt von dem,
was wir jegt von einer Ausgabe bes Nibelungenlieds fordert:
1) Vorrede ©. IX. — 2) Borrebe S. X. — 3) vorrede S. A.-
4) Borede S. XVI. — 5) Vorrede 6. XX. — 6) vVorrede 6.1 —
7) Borrebe ©. XXV.
Die altdeutſchen Stubien zur Zeit bes Auftretens ber Brüber Grimm. 339
Aber der Ausgabe von 1810 gegenüber bezeichnet dieſe neue einen
bedeutenden Fortſchritt. Der Abbrud einer ber beften Handſchriften
war ohne Frage fehr danfenswerth. Und aud was Hagen für die
Berichtigung feines Tertes umd für deſſen Ausftattung mit einem
BVörterbuch gethan, gab diefer Ausgabe der Nibelungen trotz vieler
Mängel entſchiedene Vorzüge wor allen bisherigen. Insbeſondere
ift hervorzuheben, daß Hagen Hier bereits „das Grundgefeg” der
altdeutſchen Metrit „andeutet“ 1), umb dadurch ſelbſt einem Forſcher
wie Benecke voraus iſt. Hagen ſpricht zwar aud noch von jambi-
idem, daktylifhem, anapäſtiſchem Sylbenfall und fo fort, erkennt
aber, daß „die Miſchung aller diefer durcheinander zugegeben werden
muß.“ „Die Grumbregel*, fagt er, „ift (für ben Nibelungenvers),
daß ein ſechsfacher Hauptaccent mit ungefähr eben fo viel minder
betonten Sylben abwechſelt“ 2). Und auch das entgeht ihm nicht,
daß „in der Nibelungen «Stange die legte Halbzeile meift um einen
Fuß länger. ift” 3). Ueberhaupt wandte Hagen dem altgermani«
ſchen Versbau nicht ohne Erfolg feine Aufmerkſamkeit zu, wie er
denn bereits im J. 1809 die Alliteration im altſächſiſchen Heliand
tichtig erkannte t).
Seiner Uebertragung des Nibelungenliebes wollte Hagen eine
ähnliche Bearbeitung der anderen Gedichte aus dem Kreis ber
deutichen Heldenfage folgen laſſen. „Der Helden Buch herausgegeben
durch F. H. von der Hagen. Erfter Band. Berlin 1811” blieb
aber ohne Fortſetzung. Es war feine Wiederholung des alten
Heldenbuchs, jonbern eine Sammlung der deutſchen Heldengedichte
aus den älteften dem Herausgeber zugänglichen Handſchriften und
Druden 5), und zwar nad) denſelben Grundfägen Bearbeitet, wie
das Niebelungenlicd von 1807 9).
Hagen’s Thätigfeit für die deutſche dedenpoefe beſchränkte
1) Worte Lachmann's in ber Jen. Literatur-Zeitung 1817, Juli
"Sp. 127. — 2) Der Nibelungen Lieb, Her. durch F. H. von ber Hagen,
1816, Borr. ©. XXVIII. — 3) Ebend. S. XXIX. — 4) Hagen’s ne
dige von Docen's Miſcellaneen in der Jen. LiteraturZeitung 1809, 27. Juli.
— 5) Bor. ©. VII. — 6) Eben. ©. X,
29°
8338 Drittes Bud. Zweites Kapitel.
halte nicht nur eine Menge von Stangen, die ben anderen fehlen,
fondern ändere auf grundſätzlich, um ben Charakter Chriemhild's
in einem milderen Lichte erſcheinen zu laſſen). Die Nibelungen
zeigten fi hier zwar in einer mehr anſprechenden, motivierten, ge-
bildeten Geftalt. „Aber“, fährt er fort, „es ift Dadurch offenbar auch
die ältere ftrenge Einfachheit, das Kühne, oft mehr nur Andentende
und Rhapſodiſche oder vielmehr Romanzenartige des beutfchen Volls
und Helbenliedes verwifcht” 2). Unfer Nibelungenlied „verläugne‘
nämlich nad Hagen’3 Anſicht „jeinen Urfprung aus älteren und
andermeitigen Vollsliedern nicht“ ). Aber „es rührt in biefer
Geftalt nur von Einem ber, und zwar von einem ber größten
und herrlichſten feiner Zeit, in welchem fi der neue Riteer⸗
und Minnefang aufs innigfte mit dem alten Volksliede verquidte
und es mit allem neuen Glanze erhob und verflärte, wie nirgend
anderswo" 4). Hagen ift geneigt, mit A. W. Schlegel auf Hein
rich von Ofterdingen als Verfaſſer unfres Nibelungenlieds zu
tathen, wenn fi dies auch nicht zur Gewißheit erheben laſſe ).
Lange bevor unfer Nibelungenlied von diefem Einen gedichtet wurde,
habe es übrigens feinen Durchgang durch die lateiniſche Aufzeich
nung gemacht, die der Paſſauer Biſchof Pelegrin (f 991) aus
mündlicher Ueberlieferung durch feinen Schreiber, Meiſter Comad
von dieſer großen Geſchichte Hatte abfaſſen laſſen c). Die „ehteite
und älteſte Urkunde“ jener herrlichen einheitlichen deutſchen Dichtung
bietet uns nach Hagen's Anſicht die St. Galler Handſchrift und
nächſt ihr die kürzere Hohenemſer und die Münchner. „Die St
Galler Handſchrift iſt alſo faft wörtlich und buchſtäblich abge
drudt· ). Aus den übrigen Handſchriften ſollen bie Strophen,
die wirkliche Zuſätze enthalten, mit einem Sternchen bezeidnet ein
gefaltet werden. Was nun die Ausführung feines Unternehmens
betrifft, fo ift Hagen auch hier noch fehr weit entfernt von dem
was wir jegt von einer Ausgabe des Nibelungenliebs fordern
1) Vorrebe S. IX. — 2) Vorrede ©. X. — 3) Vorrede ©. IL.-
4) Vorrebe ©. XVI. — 5) Vorrede S. XX. — 6) Bone X —
7) Vorrebe ©. XXV.
Die altdeutfgen Studien zur Zeit des Auftretens der Brüder Grimm. 839
Her der Ausgabe von 1810 gegenüber bezeichnet diefe neue einen
bedeutenden Fortſchritt. Der Abdruck einer der beiten Handſchriften
mar ohne Frage ſehr dankenswerth. Und aud mas Hagen für die
Lerihtigung feines Textes und für deſſen Ausftattung mit einem
Birterfud) gethan, gab diefer Ausgabe der Nibelungen troß vieler
Mingel entſchiedene Vorzüge wur allen bisherigen. Insbeſondere
itt hervorzuheben, daß Hagen Bier bereit „das Grundgeſetz“ der
alideutſchen Metrik „anbeutet“ 1), und dadurch ſelbſt einem Forſcher
wie Benecle voraus iſt. Hagen ſpricht zwar auch noch von jambi⸗
idem, daltyliſchem, anapäſtiſchem Sylbenfall und fo fort, erkennt
über, daß „die Miſchung aller dieſer durcheinander zugegeben werden
m" „Die Grundregel“, fagt er, „ift (für den Nibelungenvers),
dh ein ſechsfacher Hauptaccent mit ungefähr eben fo viel minder
beinten Sylben abwechſelt· 2). Und aud das entgeht ihm nicht,
dB „in ber Nibelungen Stange die legte Halbzeile meift um einen
Fuß länger ift“ >). Ueberhaupt wandte Hagen bem altgermani-
iden Versbau nicht ohne Erfolg feine Aufmerkſamkeit zu, wie er
denn bereit? im J. 1809 die Alliteration im altſächſiſchen Heliand
richtig erkannte *).
Seiner Uebertragung des Nibelungenliedes wollte Hagen eine
aͤhnliche Bearbeitung der anderen Gedichte aus dem Kreis ber
deutſchen Heldenfage folgen laſſen. „Der Helben Buch herausgegeben
durh F. H. von ber Hagen. Erfter Band. Berlin 1811" blieb
über ohne Fortfegung. Es war keine Wieberholung des alten
deldenbuchs, fondern eine Sammlung ber deutſchen Heldengedichte
aus den älteften dem Herausgeber zugänglichen Handſchriften und
Drudend), umd zwar nad denſelben Grunbfägen beatheitet wie
das Niebelungenlied von 1807 6).
Hagen's Thätigkeit für bie deutſche Hefbenposi beichräntte
. 1) Worte Lachmann's in der Jon. Literatur-Zeitung 1817, Juli
Sp. 197. — 2) Der Nibelungen Lieb, Her. durch F. H. von ber Hagen,
1816, Borr. ©. XXVIII. — 3) Ebend. S. XXIX. — 4) Hagen’s An-
dige don Docen’s Mifcelaneen in der Jen. Literatur-Zcitung 1809, 27. Juli.
— 5) Borr. &. VIII. — 6) Ebend. ©. X.
29°
340 Drittes Buch. Zweites Kapitel.
ſich nit auf die deutſchen Werke, ſondern fie erftredte ſich mit
gleidem Eifer auf die jfandinavifhen Dichtungen diefes Sagen:
kreiſes. Dahin gehören: Lieder der älteren ober Sämundiſchen
Edda. Zum erftenmal herausgegeben durch F. H. von der Hagen.
Berlin 1812 ')., Dann: Die Edva-Lieder von den Nibelungen
zum erftenmal verdeutſcht und erflärt durch F. H. von der Hagen.
Breslau 1814. Ferner: Altnordiſche Sagen und Lieder, welde
zum Fabelkreis des Heldenbuchs und der Nibelungen gehören.
Herausgegeben durch F. H. von der Hagen. Breslau (ohne Jahr);
und endlich: Nordifhe Heldenromane, Breslau 1814— 16, ent
baltend die Ueberfegung ber Wilfina-, Niflunga-, Böljunga-, Rag⸗
nar Lodbroks⸗ und Nornagefts-Saga. -
In dem erften der Hier genannten Bücher hat Hagen bie Lieder
der alten Edda, beren Inhalt der deutſchen Heldenjage angehört,
zum erftenmal durch den Drud veröffentliht. „Die Art der
Herausgabe diefer Lieder anlangend“, fagt er, „fo find fie genau
nad der Abſchrift der alten von Müller (über die Aſalehre, ©. 73) |
in's dreizehnte Jahrhundert gefegten Handſchrift der königlichen
Bibliothek zu Kopenhagen abgedruckt, welche ich der Güte Nyerup's
verbante“ 2). Hagen erwarb ſich durch dies Buch das Verdienſt
und bie Ehre, den Tert dieſer eddiſchen Heldenlieder zuerſt durh
den Drud zugänglich gemacht zu haben. Für das Verſtändniß
berfelben that er Hier mod nichts. Die Lieder find faſt ohne
Interpunktion abgebrudt, Nur am Schluß der Strophen fteht ein
Punkt, und dazwiſchen findet fi) ganz vereinzelt Hin und wieder
ein Fragezeichen. Dem Ganzen aber ift eine ausführliche Cinleit-
ung vorausgeihidt über die Geſchichte und "das Verhältniß dieier
nordiſchen und deutſchen Dichtungen und über die Xiteratur der
1) So fautet ber zweite Titel. Voran geht ein Haupttitel: Altmotdijcht
Lieder und Sagen, welche zum Fabeltreis des Heldenbuchs und der Ribelun
gen gehören. Mit einer Einfeltung über die Geſchichte und das Berpälmif
biefer Norbifgen und Deutfen Dichtungen buch; F. H. von ber Hagen.
Berlin 1812. — 2) Lieder der älteren — Edda. Her. durch F. H. von der
Hagen, Berlin 1812. Vorr. S. VIII. fg.
Die alidenlſchen Studien zur Zeit des Auftveiens ber Brüder Grimm. 341
beiden Eden. Das hier Verabſäumte ſollte die zwei Jahre fpäter
erihienene Verdeutſchung und Erflärung eines Theiles biefer Edda⸗
Seder nachholen. Die Ueberfegung ift ftabreimend. Sie ift nicht
ohne Geſchick gemacht, und wenn man den Stand der damaligen
Hülfsmittel 1) bedenkt, wird man die Sprachkenntniß des Ueber⸗
iegers nicht unterfhägen. An Mißgriffen konnte es natürlich bei
änem fo ſchwierigen Unternefmen nicht fehlen, und man würde
met thun, fie dem Verfaſſer zu hoch anzurechnen. Aber charak⸗
teriftifch und keineswegs zu billigen ift e8, daß aud hier wieder
die Anmerkungen faft ausſchließlich fahliher Natur find, und daß
ter Berfaffer oft auch bei den größten Schwierigkeiten nicht das
vedũrfniß empfindet, fih und den Lefern Rechenſchaft zu geben
über feine Auffaffung des Textes. Er verdedt vielmehr öfters bie
Schwierigkeit durch irgend einen allgemeinen Ausdruck oder läßt
auch wohl das dunkele Wort ftilljäweigend ganz aus ?). — In
Bug auf den von Hagen herausgegebenen Grundtert altnorbifcher
Sagen bemerken wir nur, baß er die Völsunga-, bie Ragnar
Lodbroks- und die Nornagests-Saga aus Biörner abbrudt, bie
Blomsturvalla-Saga aber, nad) einer Abſchrift, die ihm Nyerup
keiorgte, zum erftenmal veröffentlicht 3).
Mehr als irgendetwas Anderes erfüllten die Nibelungen Ha-
gen’3 Gemüth. Seine Gedanken darüber faßte er zufammen in der
Schrift: Die Nibelungen: ihre Bedeutung für die Gegenwart und
fir immer. Breslau 1819. Hagen ergießt fi hier in ein begei-
ftertes Lob der Nibelungen, indem er neben manchem Ueberſchwäng⸗
lihen vieles Wahre und richtig Empfundene fagt. Zugleich
aber fucht er auch feinen Gegenftand nad) allen Seiten hin tiefer
zu ergründen. Wir dürfen dabei nicht überfehen, daß Hagen bei
1) Bgl. die Borrede ©. XXI. — 2) Bol. z. B. bie ſchwierigen Siro—
ten Sigurdarkvida II, 3 u. 4, bei benen Hagen nur eine einzige und
wear ſachliche Bemertung macht. Ober Sigurdarkv. I, (Gripisspd) 19, wo
Hagen das skala mit „nicht follt bu“ überfegt, ohne aud nur eine Bes
werbung dazu zu madien. Dder ebend. Str. 8, wo Hagen das Wort gegn
Ohne weiteres ausläßt. — 3) Vorr. ©. V.
342 Drittes Bud Zweites Kapitel.
diefer im Jahr 1819 erſchienenen Schrift die früher veröffentlichten
Arbeiten von %. und W. Grimm, von Görres, Friedrich Schlegel
und Lahmann fon vor fi hat. Auf das Verhältniß zu Lad:
mann kommen wir in einem fpäteren Abſchnitt zurüd. Hier wollen
wir nur noch bes Zuſammenhangs gedenken, in welchen Hagen das
Nidelungenlied mit der ſtandinaviſchen Mythologie ſetzt. Siegfried's
Leben und Tod ift, nach feiner Anſicht, nichts Anderes als das
Leben und der Tod Baldur's des Guten 1), und der Nibelunge
Noth ift der Untergang aller Götter in ber Götterbämmerung ?):
„alſo, jener unter manderlei Namen und Geftalten überall vor-
kommende Ur⸗Mythus von Leben, Tod und Wiedergebint, von
Schöpfung, Untergang und Wiederkehr der Zeiten und Dinge über
Haupt“ 3. Hagen begnügt fi in feinen mythologiſchen Deutungen
nit mit dem Grweisbaren, ſondern er ſchweift auf der Spur
Kanne's in’s unbegrenzt Phantaftiihe. Da ift Siegfried nicht bloß
Baldur, fondern zugleich auch „Nimrod, Nibelot“ und Orion )
gel iſt Atli, aber „zugleich der uralte Atlas“ 5). Und „im Nor
diſchen Heißt au ein Ring ſelber Orm, unfer Wurm, von
welchem, der Sage nad, Worms ben Namen hat, —, von dem
Ur-Worte Ur, weldes Anfang und Ende, Tob und Leben um
fließt” 9. Wir maden natürlich Hagen keinen befonderen Bor-
wurf daraus, daß er auf einer Bahn wandelt, auf der wir jelbit
Jacob Grimm in jüngeren Jahren treffen werben. Aber es war
ein eigener Unftern für Hagen, daß er diefe Dinge gerade noch
in demfelben Jahr zum beften geben mußte, in weldem das Er
feinen von Grimm’s Grammatik diefem Unweſen ein Ende machte.
Noch Haben wir eins ber bebeutenbften Werke Hagen’s zu be
ſprechen, nämlich den von ihm in Gemeinſchaft mit Büſching her
ausgegebenen Literariihen Grundriß der Geſchichte der Deutihen
Poeſie von ber älteften Zeit bis in das fechzehnte Jahrhunder \
(Berlin 1812). Hier führt Hagen, dem die Ausarbeitung des
1) 8. 9. von ber Hagen, bie Nibelungen: ihre Bedeutung u... S.3.
&. — 2) Ebend. ©. 37. 85. — 3) Ebend. S. 37. — 4) Cha
S. 72. — 5) Ebend. S. 89. — 6) Ebend. ©. 66.
Lie alideutſchen Studien zur Zeit bes Auftretens ber Brüder Grimm. 843
Buchs allein angehört !), weiter aus, was er in der Einleitung
zu den Deutſchen Gedichten des Mittelalter 1808 begonnen hatte:
Ein möglichft vollftändiges Verzeichniß aller bis dahin bekannten
baudſchriften und Drude altveutiher Dichtungen. Natürlich hat
ſih feit jener Zeit unfre Kenntniß ſehr vermehrt, unfer Urtheil viel-
fo berichtigt. Wir mögen es deshalb immerhin als einen Beleg
anfüßren, wie niebrig Hagen's kritiſches Urtheil noch ftand, wenn
er den Dimit, Hug - und Wolf- Dietrich dem Wolfram von Eſchen⸗
dad zuſchreibt 2). Aber das vermindert nicht das Lob, das Ha⸗
gen's veihhaltige und grumdlegende Arbeit verdient, und das ihr ſelbſt
von Jacob Grimm, fonft einem ftrengen Beurtheiler von Hagen’s
täftungen, trog mander Ausftellungen zu Theil geworben ift 9).
Docen.
Veit mehr als von der Hagen war ein anderer gelehrter Bor-
läufer Grimm's und Lachmann's auf eigentlich grammatiſch⸗philo⸗
logiſche Thätigkeit angelegt, wenn ſich aud der Umfang feiner
Birfamleit mit der Hagen's nicht vergleichen läßt, nämlich Bern-
hard Joſeph Docen. Geboren zu Dsnabrüd am 1. Det. 1782
als der dritte von fünf Söhnen des dortigen erften anzlei-Secretärs
Philipp Docen, beſuchte er in feiner Vaterſtadt mit Auszeichnung
das fatholifhe Gymnafium (Carolinum), dem damals, feit die Je—
fuiten aufgehoben worden waren, Srancislaner «- Mönde aus Biele-
feld vorſtanden. Er war fleißig und entzog fi, um zu ftubieren,
den Spielen feiner Gejhwifter und Kameraden. Seiner Neigung
für Literatur, die ſchon fehr lebendig war, genügte aber dieſe Schule
fo wenig, daß er beim Mector des proteftantiigen Gymnafiums
Fertlage Unterricht im Griechifhen nahm. Im Jahr 1799 bezog
er, um Medicin zu ftubieren, die Univerfität Göttingen. Bald
aber brachte ihm das anatomiſche Theater von diefer Lebensrichtung
ab, und nun gab er ſich ganz feinem Hange zur Literatur und
1) Hagen, Literar, Grunbriß Vor. &. XVII. — 2) Hagen, Liter.
Gtundriß ©. 6. — 3) Heibelb. Jahrbüder ber Litteratur 1812, Bb. II,
5.80
344 Trittes Buch Zweites Kapitel,
Archäologie Hin. Auf der göttingen'ſchen Bibliothek war er bald fo
einheimifh wie Einer und er beſchwerte ſich ſcherzweiſe über die
Maffe von Büchertiteln, die er im Kopf Berumtrage. Bon. Heyne
wurde er fehr geihägt, und er rechnete nicht ohne Grund darauf,
durch diefen Gelehrten zu einer paſſenden Anftellung empfohlen zu
werben. Im Jahr 1802 ging er nad) Jena. Nach Vollendung
des alademijhen Curſus wandte er fih nah dem Süben, und es
ſcheint, daß er felöft eine Reiſe nach Italien beabſichtet habe, bie
noch fpäterhin einer feiner oft wiederkehrenden und nie erfüllten
Wünſche geblieben war. Indeſſen muß gerade um diefe Zeit ſchon
feine Vorliebe für vaterländifhe ältere Literatur entſchieden geweſen
fein; denn bereit? im Sommer 1803, wo er in Nürnberg und
Altdorf erſchien, ftand er im Verkehr mit E. J. Koh in Berlin,
dem Herausgeber des Compendiums ber altdeutihen Literatur, be
ſchäftigte ſich von Panzer, Siebenkees, Kiefhaber, Nopitſch und An-
deren begünftigt, mit altdeutſchen Handſchriften der Ebner'ſchen
Bibliothek, und war, wahrfceinlih duch Heyne empfohlen, in
brieflicher Verbindung mit Baron Chriftoph von Aretin, damaligen
Vorfteher der Hofbibliothet in Münden. Diefem war, als Docen
im Spätherbft 1803 nad Münden kam, deſſen Mitwirkung kei
feinen vielen fiterarifhen Unternehmungen und bibliothelarifgen
Arbeiten fehr willkommen. Andrerfeits mußte e8 Docen anziehend
finden, fo viele durch die Säcularifation in Münden zufammen-
ſtrömende literariſche Schäge, bejonders des deutſchen Altertfums,
zuerſt unterſuchen und bekannt machen zu können ). Wir werden
ſpäter ſehen, welche Verdienſte Docen ſich in dieſer Beziehung er⸗
worben hat. Vom Juni 1804 an arbeitete er regelmäßig auf der
kurfürſtlichen Hofbibliothek an einer Recenſion ihrer deutſchen, fran⸗
zöſiſchen und anderen Handſchriften. Im Jahr 1806 wurde er
als Scriptor an dieſer Bibliothek angeſtellt und rückte 1811 zum
1) Die biogtaphiſchen Angaben über Docen find (zum Theil woöͤrilich
der Biographie Docen's von Schmeller entnommen [im Neuen Nekrolog der
Deurfgen (Sechſter Jahrgang, 1828. Zweiter Tpeil. Ilmenau 1830).]
|
Die altdeutſchen Gtudien zur Zeit des Auftretens ber Brüder Grimm. 345
Euftos derfelben vor. Docen war ein mufterhafter Bibliothekar;
überall zu Haufe wußte er auf die fpecielfften Fragen fiheren Be-
ſcheid zu geben. Dabei war er ehr gefällig und fogar wenn
Objecte berührt wurden, die er gewiſſermaßen ſich felbft vorbehal-
ten hatte, verjtand er einer gewiffen unwillkürlichen Aengſtlichkeit
Meifter zu werden. Cine Liehhaberei Docen’3 war die bildende
Kunſt. Auch als Dichter hat er fi verfuht, und zwar nicht bloß
in hochdeutſcher, fondern auch in niederdeutſcher Sprade 1). Im
Jahr 1811 wurde Docen Adjunct, 1821 auferordentlihes und
1827 ordentliches Mitglied der Münchner Akademie der Wiſſen⸗
IHaften. Er ftarb am 21. November 1828 au der Abzehrung.
Docen’3 wiſſenſchaftliche Thätigfeit war eine ſehr ausgebreitete.
&r hat jevod fein größeres vollendetes und in ſich zufammenhän-
gendes Werk hinterlaffen, jondern feine Entdeckungen, Forſchungen
md Anfihten in einer Unzahl Hleinerer und größerer Ahhandlun-
gen niebergelegt, die nur zum geringften Theil einzeln gedrudt, der
Mehrzahl nad) in den verſchiedenſten Zeitſchriften zerſtreut find.
So in Kiefhaber's Quartalſchrift (18083 fg.), in der Aurora (Mün-
den 1804 — 7), in Aretin's Beiträgen, im Neuen Literariichen
Anzeiger (Münden 1806 — 8), im Mujeum für Altdeutſche Lite-
tatut und Kunſt, das er in Verbindung mit 3. H. von ber Ha-
gen und Büſching 1809— 1811 herausgab, und in der ſich (1812)
daran anſchließenden „Sammlung für Altdeutihe Literatur und
Kunſt,“ in Schelling's Allgemeiner Zeitihrift für Deutjhe 1818
md vielen anderen 2). Einmal Hat er jelbft den Verſuch gemacht,
feine Heinen Arbeiten zu einem größeren Ganzen zujammenzufafien,
in jeinen Miscelfaneen zur Geſchichte der teutſchen Literatur, neu—
aufgefandene Denkmäler der Spradie, Poeſie und Philoſophie unfrer
1) Ueber feine hochdeutſchen Gelegeneitsgebichte ſ. den Nekrolog ber
Teutfgen a. a. O. ©. 808. In plattdeutſcher Sprade iſt z. B. ein Epilog
m Schiller's Mufen- Almanachen in ſechs Stanzen (abgebrudt in der Aurora,
Win, 1804) u. eine „Rene Vorfielkung des Abſoluten, in plattbeutfchen Reimen“
(In den Miscellaneen II, 258), — 2) ©. bas Verzeichniß in Docen's
!eben im Neuen Nelrolog der Deusfchen, Sechftet Jahrgang, II, ©. 806.
346 Drittes Bud. Zweites Kapitel.
Vorfahren enthaltend (Bb. I und II, Münden 1807). Im dJahr
1809 erſchien eine erneuerte Ausgabe, deren erftem Bande ber Ber-
faffer einen Anhang, Zufäge zu beiden Theilen enthaltend, eis
fügte. — Ueberblidt man biefe weithin zerftreute literariſche Thö-
tigfeit Docen's, fo Könnte man verfucht fein, ihm Zerfplitterung
feiner Kräfte vorzumerfen. Man würde aber unrecht daran thun.
Denn Docen’s Thätigkeit entſprach nicht nur feiner befonderen No-
turanlage, fonbern fie diente auch in höchſt dankenswerther Weile
gerade dem damaligen Stadium unfrer Wiſſenſchaft. Die reichen
verborgenen Schäge aufzufäließen und fie den Forſchern in Nord
und Süd zugänglich zu machen, Vorurtheile zu zeritreuen, irrige
Meinungen zu berichtigen, neue Unterſuchungen anzuregen, darauf
kam e3 in jener Zeit beſonders an. Nach allen diefen Richtungen,
namentlich nad} ber zuerft genannten, hat Docen in höchſt werbienft-
licher Weife gewirkt. Und Hat er aud, wie wir fpäter ſehen wer
den, gerade in manden feiner Hauptarbeiten geirrt, fo ift micht-
beftomeniger aud- da fein redlich und fleißig verfolgter Irrthum
der Anlaß geworden, daß größere Meifter das Wichtige entdect
haben.
Docen gehörte teineswegs zu ben Gelehrten, bie in ben lei⸗
nen Einzelheiten ihrer Wiffenfchaft aufgehen, ohne den Blid zu dem
großen Ganzen zu erheben, das dem Vereinzelten erft feinen Werth
verleiht. Er beflagte, „daß man bisher faft durchgängig fragmen-
tariſch und viel zu unbeftimmt unter den Denfmälern ber früßeren
Zeiten umhergeſchwärmt und jede Kleinigkeit, die eben hervorgezogen
wurde, fon als bebeutenden Gewinn angejehen habe; biefes aber
einzig aus dem Grunde, weil man bei jener unfruchtbaren Geſchäf⸗
tigfeit die unendlich wichtigeren ſchon vorhandenen oder leicht zu
exhaltenden Werke vernachläffigte, und weil ſich nirgends ein deut
liches Hinftreben zu Einem Ganzen, zu einer wahrhaft hiſtoriſchen
Einficht bemerten ließ“ 1). Man dürfe weder, wie das bisher oft
geſchehen, fi ohne Kenntniß des Einzelnen in allgemeinem Theo
vetifieren ergehen, noch dem unerfättlihen literäriſchen Mikrologis⸗
1) Docen, Miscellaneen, Bd. I, München 1807, Vorr. 8. IX.
Die alideutſchen Stubien zur Zeit des Auftreiens ber Brüder Grimm. 347
mus frößnen und den jet ſchon fo überladenen Wuft untauglicher
Kotigen noch mehr anhäufen. „Um beide Abwege zu vermeiden,
gibt es Tein ſicheres Mittel, als fi von den übergebliebenen Wer-
fen der früheren Zeiten, die wie die Ruinen eines großen Tempels
ohne Ordnung und oft verftect genug noch daliegen, eine fo viel
möglih vollftändige Kenntniß zu erwerben, um die zerftreuten
Bruchftüde in den ununterbrodenen Umkreis des Ganges ber teut-
fen Bildung, jedes an den ihm zufommenden Ort zurüdzu-
führen“ 1), "
Beraten wir Docen’3 XThätigfeit nach ihren verſchiedenen
Seiten, fo tritt ung zuerft der Herausgeber bis dahin theils noch
gar nicht, teils mur mangelhaft bekannt gemachter altdeutſcher
Denkmäler entgegen. Dazu bot ihm feine Stellung an der Mün-
dener Bibliothek, in welche damals die uierſchöpflichen handſchrift⸗
lichen Schäge der fäcularifierten öfter und mander anderen
bayeriſchen Bibliothelen zuſammenfloſſen, die erwünſchteſte Gelegen-
keit. Wir können bier natürlich kein Verzeichniß aller von Docen .
belannt gemachten Stüde geben, fondern müſſen uns begnügen,
einige der Hauptfächlichften hervorzuheben. Dahin gehört 3. B. bie
Mittheilung eines Abſchnitts aus dem Bamberger Coder bes Heltand
(1806). Dann die Heinen althochdeutſchen Stüde, die Docen im
eften Band der Mifcellaneen Handſchriften der Mündner Bi
bliothel entnimmt, darunter das Lied auf den heiligen Petrus
und ber freifinger Tert der Exhortatio ad plebem christianam >).
Die Mifcellaneen bringen ferner die erfte Kunde vom Winbberger
Bialter und die erfte Mittheilung daraus. Sein befonberes Augen-
mert wandte Docen ber Menge von althochdeutſchen Gloſſen zu,
welche die Münchner Handſchriften enthalten. Ex fah in ihnen mit
Rect einen der vorzüglichſten Beiträge zu einem gründlichen deut»
ſchen Wörterbud +). Er verkannte nicht, daß die Methode, Gloſſen
1) Eend. S. X. — 2) Miscellaneen II, (1807), 8. 8 fg. — 3) Der
daldatr Test war ſchon von Hottinger in der Hist, Ecclesiast. N. T. ber
iaunt gemacht und von J. @. Eccerd in der Catechesis theotisc. ©. 74
wicherholt worden. — 4) Docen, Miſcell. I, 184.
348 Drittes Buch. Zweites Kapitel,
in ihrer urfprünglichen Folge bekannt zu machen, viel für ſich habe,
aber für die damalige Zeit ſchien es ihm nützlicher, die von ihm
durchgearbeiteten Gloſſen aus Münchner Handſchriften als ein al-
phabetifch geordnetes Glossarium theotisco-latinum feinen Mifcel:
laneen einzuverleiben 1). Hier finden ſich die erften Mittheilungen
aus den reichhaltigen Tegernfeeer Gloffen, die ben Abdruck der
Monfeeer Gloſſen in Bez Thesaurus Aneodotorum in unzäpligen
Fällen ergänzen und berichtigen. Docen entdedte den Mufpilli?),
wenn er au nicht dazu gekommen ift, ihn herauszugeben. Wie
für die althochdeutſche Zeit, fo boten Docen’s Veröffentlichungen
auch für die mittelhochdeutſche den erwünfchteften Zuwachs. Bis
dahin noch nicht gebrudte Tieder aus der Blüthezeit der mittelhod-
deutſchen Lyrik, barunter zwei von Wolfram's Tageliedern 3) —,
den erften Drud ber zahlreichen Strophen bes Wartburgftreits,
welde die Jenaer Handſchrift mehr enthält als die ſ. g. Maneffi-
fe *), und vieles Andere verdanken wir Docen. Sein wictigfter
Yund aber auf mittelhochdeutſchem Gebiet waren die Bruchftüde des
Wolfram'ſchen Titurel, die er in einem Münchner Coder fand ımd
in feinem Erften Sendſchreiben über den Titurel, auf das wir fpäter
noch einmal zurüdtommen werden, im Jahr 1810 veröffentlichte.
Aber auch auf die fpätere Zeit erftredte ſich fein Intereſſe, und
beſonders war es das deutſche Volkslied bes 16. Jahrhunderts,
das er in treuen Abdruden zugänglich madte,d). Docen beſchränkte
fi aber nicht auf die bloße Veröffentlihung alter Schriften, jon-
dern er lieferte auch forgfältige eigene Beiträge zur Geſchichte ber
deutſchen Literatur. Seine „Marginalien zu Hrn. Fr. Adelung's
Nachrichten von altteutjchen Gedichten, welde aus der Heidelbergi-
ſchen Bibliothek in die Vatikaniſche gefommen find“ ©), feine „Zur
11, 158 — 246. — 2) Cont. Hofmann in ben Gigungeberidten
ber Mündener Afab. 1866, 3. Nov. — 3) Mifcellan. I, 100, »Den
morgenblic bi wahters sange erkös« (Wolfram, her. v. Lachmann
1883, 8. 3) und 102: Sine kläwen durh die wolken sint gesiagen
(eb. ©. 4). — 4) Miscellan, I, 118. — 5) Miscellan. I, 247. II, 239.—
6) Zuerft im Neuen Literar. Anzeiger 26. Aug. und 16. Sept. 1806.
Dann erweitert in den Miscellaneen II, 124.
Die altdeutſchen Stubien zur Zeit des Auftretens der Brüder Grimm. 849
füge und Berihtigungen zu E. %. Koch's Compenbium der deutſchen
literatur Geſchichte“ 1), fein „Alphabetiſches Verzeihniß der altteut-
igen Lieder Dichter aus dem ſchwäbiſchen Zeit Puncte“ 2), feine
„Gallerie altveutfcher Dichter“ 3), fein „Verfud einer vollftändigen
Üiteratur der älteren Deutſchen Poefie“ 4), feine Aufjäge „Zur Li-
teratur und Kritik altdeutſcher Gedichte” 5), feine ausführliche Beur-
teilung der Hagen⸗Büſching ſchen Sammlung deutiher Gedichte
des Mittelalters 6) Haben die Kenntniß unver alten Literatur wer
fentlih gefördert. Auf feine Erörterungen über den Unterjdieb
der Minne» und Meifter -Sänger, bei denen er zwar Jacob Grimm
gegenüber den Kürzeren zog, aber doch eben zu deſſen durchſchla⸗
genden Unterjuhungen den Anftoß gab, fommen wir jpäter zurüd.
Docen hatte jehr richtige Anfichten über das, was der alte
deutſchen Philologie noth thue. Vor allem müfje man dafür for-
gen, daß die altdeutſchen Werke in kritiſcher Weife herausgegeben
würden. „Die Herausgabe eines altdeutſchen Gedichts“, fagt er
(1813), „wird durch faft alle jene Erforderniſſe bedingt, welche bei
der Darftellung des Textes eines griechiichen ober römiſchen Auc-
tor8 von Seiten ber exegetiſchen und kritiſchen Einfiht num unter
uns, ſeitdem man in Italien die Werke der Alten buch den Drud
belannt machte, anerkannt und befolgt werben. Bon einem Dent-
male des deutſchen Alterthums, was Jemand nicht in allen feinen
Theilen verfteht, wird er nie eine genügende Ausgabe zu liefern
vetmögend fein — denn bier jo wenig wie bei den Alten, gibt es
auch nur Eine Handſchrift, die wir als den zuwerläffigen Driginal-
tet anertennen könnten“ ?). Die Ausübung diefer Fritiichen Thätig-
1) Angefangen in den Literarifhen Blättern 27. Det. 1804, weiter ge:
führt in den Miscellan. I, 64, im Neuen Literar. Anzeiger 13, Jan. 1807
un in Aretin’s Beiträgen Bd. VI, (1806) 8. 176: Bd. VII, (1806)
8.310, — 2) Neuer Literar. Anzeiger 12. Mai 1807. — 3) Mufeum
für Alideutſche Literatur und Kunft Bb. I, (Berlin 1809) ©. 37 fg. —
4) &bend. ©. 126 fg. — 5) Ebend. Bo. II, (1811) ©. 245 fg. — 6) Als
gemeine Zeitſchrift von Deutfhen für Deutſche, Her. von Schelling, Bd. I,
Nürnberg 1813, ©. 196—264 und ©. 334—422. — 7) Docen's Beur⸗
850 Dritte® Bud. Zweites Kapitel.
keit forbere nicht nur einen großen Fonds an Sprad- und Alter-
thumstenntniffen, fondern „das Wiffen wäre hier unwirkſam, ohne
durd einen Hohen Grad von Scharffinn, Divinationsgabe und das
feinfte Gefühl des Paſſenden belebt zu fein.“ „Nach den Hier auf
geftellten Grundfägen“, fügt er dann Hinzu, „ift freilich noch fein
Denkmal des deutſchen Alterthums herausgegeben worden“ '). In
der Beurtheilung von Hagen's und Büſching's Sammlung deutjcer
Gedichte des Mittelalters, welcher die obenftehenden Ausiprüce
Docen’8 entnommen find, gibt er eine große Menge Berichtigungen
der mitgeteilten Texte, und fo fehr er das Verdienft der Heraus-
geber anerfennt, kommt er doc zu dem Ergebniß, daß „die Her⸗
ausgeber für die vervielfältigte, treue Mittheilung durch den Drud
fehr viel, für bie Lieferung eines richtigen lesbaren Tertes aber
überaus wenig gethan haben“ 2).
Wie wir hier in Docen einen Vorläufer Lachmann's kennen
gelernt haben, fo hat er bereit3 im Jahr 1807 eine Ahnung von
dem, was dann zwölf Jahre fpäter Jacob Grimm in fo großar-
tiger Weife verwirflicht hat. „Die Geſchichte der teutſchen Sprache“,
fagt er in der Vorrede zum zweiten Band der Mifcellaneen, „ver-
langt eine durchaus neue Bearbeitung. So gewiß e8 ift, daß feine
wahre, gründliche Kenntniß unfrer heutigen teutſchen Sprache mög.
lich fei, ohne die ältere, die die Wurzeln und den Stamm derſel-
ben umfchließt, erforſcht zu haben: fo gewiß ift aud, daß, went
überhaupt das Syſtem ber Sprache auf eine geiftvollere und wir-
digere Urt dargelegt werden Tann, wie in den gewöhnlichen Gram-
matifen, in denen die lebendige Erkenntniß ganz untergegangen,
geſchieht, daß, ſage ih, für eine folde finnvollere Behandlung ein
noch faft ganz unbebautes Feld vor ums daliege“ >). Er felöft
hatte im Sinn, „grammatiihe Vergleihungstafeln“ +) und eine
„Theorie ber älteren deuten Sprache" 5) herauszugeben. Aber
theilung der Hagen-Büfging’hen Sammlung in Schelling's Allgemeiner Zeit:
ſchrift I, (1813) &. 201. — 1) Ebend. ©. 203. — 2) Ebend. ©. 356. —
8) Docen, Miscellaneen (1807) Vorrede 8, VII. — 4) Ebend. I, Vor.
8. XII. — 5) Erſtes Senbfereiben über ben Titurel (1810) ©. 68.
Die alideutſchen Stubien zur Zeit des Aufiretens ber Brüber Grimm. 851
wie auf dem Gebiet der Terttritif von Lahmann, fo wurde auf
dem ber geſchichtlichen deutſchen Grammatik von Jacob Grimm das
weit überboten, was Docen hätte leiften können. Es gereicht ihm
mät zum Tadel, daß noch begabtere Männer das erreichten, was
er enftrebte, Sondern wir müſſen rühmend anerkennen, daß er einer
der erften war, welde die Forderungen der deutſchen Philologie
tichtig beurtheilten.
Die Aufindung des älteren Titurel durch Dosen. Docen's und A. W. Sqle ·
gel’s Auſichten über denfelben.
Zu den jhönften Entdedungen jener Jahre gehört die Auffin-
dung des Älteren Titurel durch Docen. Bis zum Jahr 1810
lannte man nur dem jüngeren Titurel, wie er in dem Drude von
1477 vorliegt. Da fand im erften Jahrzehend unſeres Jahrhun⸗
derts Docen auf der Münchner Bibliothek in einer Handſchrift
des Parzival auf vier angebumdenen Blättern eine Reihe Strophen,
deren Inhalt mit Capitelt) 5, 6, 7 und 10 des jüngeren Titurel
übereinftimmt, deren Darftelluug aber in Ausführung, Sprade
md Versbau ſich weſentlich von dieſem unterſcheidet. Docen gab
dieſe Bruchſtüde mit Erläuterungen und einer vorausgeſchickten Un-
terſuchung über ihren Urfprung heraus unter dem Titel: „Erſtes
Sendſchreiben über den Titurel, enthaltend: Die Fragmente einer
Vor⸗ Eſchenbachiſchen Bearbeitung des Titurel. "Berlin und Leipzig
1810.” Mit vichtigem Gefühl erfannte Docen die Vortrefflichteit
diefer Strophen. „Jeder Kunftfreund", fagt er, „der, was der
deutſche Genius in alter und neuer Zeit gebildet, feiner Theilnahme
werth achtet, wird biefe Bruchſtücke mit befonderm Wohlgefalfen
betrachten. Wem auch Lönnte diefer füblihe Glanz und Wärme,
diefe Pindariſch fortftrömende, lyriſche Sprache, und dieſe Großheit
der Behandlung unbemerkt bleiben? Wer wird nit in diefen
Fragmenten ein vorzüglies Zeugnig von dem hohen Genius und
der wahrhaft poetifhen Bildung der alten Sprade wahrnehmen
1) So bezeichnet der Drud von 1477 im Regifter die einzelnen Ab:
ſqhniule.
352 . Drittes Bud. Zweites Kapitel.
und anerkennen?“ 1). „Sn unferm Fragment”, fagt Docen an
einer anderen Stelle, „herrſcht mehr Jugendlichkeit und Friſche, wie
in den ftreng geihloffenen, regelmäßigen Strophen bes größeren
Gedichts“ ). Wie nahe ſcheint ung Docen hier der Entdeckung des
wahren Sadverhalts zu jein, uns, die wir jene Bruchftüde als
das echte Werk Wolfram’, den jüngeren Titurel dagegen als ein
fpäteres mittelmäßiges Produft fennen. Und wirlih war Docen
aud beim eriten Anblick der-Meinung, dieſes Fragment fei „ein
früherer Verfuh von Eſchenbach jelöft“ 3). Bald aber am er von
diefer Anfiht zurüd, und im der That war fie auch im der eben
angeführten Faſſung in ſich ſelbſt widerſprechend. Docen hielt
nämlih, wie damals no alle feine Mitforiher, den jüngeren
Titurel für ein Wert des Wolfram von Eſchenbach. Und von die
fer unrichtigen Grundlage aus führte er den Beweis, daß jene
älteren Fragmente nicht vom DVerfaffer des jüngeren Titurel und
mithin niht von Wolfram von Eſchenbach jein könnten 4). Daß er
diefelben in das Jahr 1189 verlegte 5), beruhte überdies auf einer
irrigen Berechnung 9).
Docen widmete das angeführte Sendſchreiben, in weldem er
die Bruchſtücke des älteren Titurel veröffentlichte, Auguft Wilgelm
Schlegel, „mit dem Wunjd, eine lange Hochachtung gegen den ge
bildeteften Kritifer der Modernen zu beurkunden.“ Schlegel jhried
eine ausführliche Beurteilung von Docen’3 Sendſchreiben in ben
Heidelbergiſchen Jahrbüchern der Literatur vom Jahr 18117). &
ift hoch erfreut über Docen's Entdedung und läßt deſſen Scharf
finn und Gelehrjamfeit alle Gerechtigkeit wiberfahren; aber mit
Docen's Grundanfiht über das Verhältniß der aufgefundenen
Bruchſtücke zum bisher befannten Titurel kann er fich nicht einver⸗
ftanden erklären. Zwar, daß diefe Bruchſtücke älter find als der
1) Docen, Erftes Sendſchreiben über den Ziturel (1810) 6. 11fg —
2) Evend. ©. 5.— 3) Een. S. 4. — 4) Eben. &7—1. —
5) Ebend. S. 12. — 6) Lachmann's Ausgabe des Wolfram, Borreit
©. XXVII, Anm. — 7) Wieder abgebrudt in A. W. von Schlegels fümmt:
lien Werten. Her. von Böding. Vd. XII, Leipjig 1847, ©. 288—321.—
Die alideutſchen Stubien zur Zeit bes Auftretens ber Brüder Grimm. 858
andere Titurel, fteht auch ihm feit. Aber, daß fie „Wor- Eſchen⸗
bachiſch feien, beftreitet er. „Wir müffen hier mit der Vermuth⸗
ung hervortreten”, jagt er, „die vielleicht Manchem gewagt erſcheinen
wird, der ältere Titurel fei unmittelbar von Eſchenbach's Hand,
md der zweite, der bisher alfgemein für ben feinigen gegolten, fei
mm eine Umarbeitung von zwei fpäteren Meiftern. Wir glauben
in dem Bruchftüde die ganze Eigenthümlichkeit des Dichters, ja for
gar feine Seltfamfeit zu erfennen, allein wir wollen uns auf greife
lihere hiſtoriſche Gründe ftügen“ i). Und nun verfucht Schlegel
den Beweis, daß Wolfram feinen Titurel fpäteftens zwiſchen ben
uhren 1210 ımd 1220 gedichtet Habe, und daß wir im ben neu
aurfgefundenen Bruchſtücken Theile diefes Wolfram'ſchen Titurel
kefigen. „Schwerlih wurde vor feinem Tode an eine Umarbeitung
gast, die mad den erften neun Gefängen wieber funfzig Jahre
lang liegen blieb. Dies würde aljo die Vollendung unferes Titurel
guy nahe gegen das Ende bes dreizehnten Jahrhunderts Hinrüden,
und Bloß nach innern Gründen zu urtheilen, ſcheint uns deſſen Tert
mißt älter zu fein“ 2). Diefe Umarbeiter des Wolfram’ihen Werts
haben, nach Schlegel, nicht bloß deſſen vierzeilige Strophe in eine
febengeifige umgewandelt und „dabei bald die hinzugefügten Reime
mit ſichtbarem Zwange herbeigeführt, bald ſchöne Züge weggelaſſen
, mb dagegen müßige und nur nit gar Flidwörter gejegt”, fon-
dern „viele paraphraſtiſche Erweiterungen, viele abſchweifende Ber
traßtungen, worüber dem Lejer ber Faden der Erzählung ent
iölüpft, ſcheinen erft bei der Umarbeitung in das Gedicht gelom-
men zu fein“ 3). Hat fih Schlegel auch darin geirrt, daß er dem
Fingeren Titurel ein vollftändiges Wolfram'ſches Original zu Grunde
liegen Täßt; ausgemacht bleibt, daß er der Erſte geweſen ift, der
etlannt hat, daß ber uns in der Ausgabe von 1477 und allen bis
iett belannt geworbenen Handſchriften vorliegende in fiebenzeiligen
Strophen verfaßte Titurel fein Wert Wolfram’s if. Wie bedeu-
1) Heidelb. Jahrbb. 1811, ©. 1094 fg. (M. W. Schlegels Wie. XI,
EM. — 2) Heibel. I66. ©. 1098, (Sqhlegels Wie. XII, 310). —
3) Heibelb. Job. S. 1087 (Schlegels Wie. XII, 800).
Raumer, Gefh. der germ. Philologie.
364 Drittes Bud. Zweites Kapitel,
tenb aber dieſer Fortſchritt in unferer Kenntniß eines ber größten
altdeutſchen Dichter war, das tritt ung vet Mar entgegen, wenn
wir fehen, wie mit allen Webrigen nicht bloß Docen, fonbern auch
Jacob Grimm vor Schlegel's Erörterungen nicht dem minbeften
Zweifel hegt, daß der jüngere Titurel von Wolfram von Eſchenbach
herrühre ). Was die äſthetiſche Würdigung betrifft, fo ſchlägt zwar
Schlegel, trot feiner Entdedung, den Werth des jüngeren Titurel
immer noch ſehr hoch am?), aber er ift mit blind gegen deſſen
Schwachen, er bezeichnet ausdrücklich die Weitſchweifigkeit als defien
Hauptfehler; er erkennt Mar die gewaltige Ueberlegenheit der ehten
Bruchſtücke 3) ımd ift von ihrer Schönheit entzüdt. Nachdem er
eine Anzahl Proben, darunter die ergreifende Stelle, in welder
Sigune Herzelöuben ihre Sehnſucht nad dem abweſenden Geliebten
llagt, mitgetheilt hat, fährt er fort: „So Hofe und zarte Shän
heiten bebürfen feiner weitläuftigen Zerglieverung und ertragen fe
nit. In jedem Laute athmet ſtolze Kraft und innige Lebensfülle,
und bie begleitenden Rhythmen find wie jauchzende Pulſe, die das
friſche Heldenblut durch jede Ader des Geſanges hinftrömen“ *).
Die einfũhtar⸗ des Sauskrit in dem Artis der dewifhen Sotſchuag dech
Friedrich Schlegel.
Es lann natürlich Hier nit unfre Abſicht fein, eine Geſchichte
des Sansteitftubiums zu ſchreiben. Vielmehr wird es In den ab⸗
ſchnitten, in denen wir uns mit dem Sansteit befchäftigen, bloh
darauf anfommen, die Einwirkung zu ſchildern, welche das Str
dium des Sanskrit auf die germaniſche Sprachforſchung in Deutſch-
land geübt hat. Wir bemerken daher nur beiläufig, daß der erfte
Europäer, der eine Sanskritgrammatik herausgegeben Hat, ein:
Deutſcher war, der Garmeliter Johann Philipp Wesdin, der umter
feinem Ordensnamen Paulinus a Sancto Bartholomaeo im Jahr
1) 3. Grimm, Ueber den alideutſchen Meiftergefang, Göttingen 1811,
©. 59 fg. Bl. auch ©. 88. 179. — 2) Heibels. Jh. ©. 1109 (Edle
ges We. XII, 319). — 3) Heidelb. 366. ©. 1087 (Sqhlegel's Wie ZU,
800). — 4) Heibelb. Job. ©. 1108 Schlegels Wie. XII, 319).
I
i
Die altbeutfcgen Stubien zur Zeit bes Auftretens ber Brüder Grimm. 855
1790 eine Grammatica Samserdamica veröffentlihte, daß aber
der großartige Aufſchwung der indifhen Studien, der eine ber
merhoürbigften Seiten der neueren europäif—hen Wiſſenſchaft bildet,
hauptſächlich von dem Engländer William Jones (} 1794) und der
Gründung ber Aſiatiſchen Geſellſchaft zu Calcutta im Jahr 1784
ausgegangen ift ?). In Deutihland knüpft ſich der Anftoß zu ben
indiſchen Stubien an einen ber Namen, bie uns ſchon in einem
früheren Abſchnitt als bedeutfam für die Entwiklung der germani-
fhen Philologie begegnet find. Friedrich Schlegel gieng im
Jahr 1802 nad Paris und warf fi dort auf das Studium der
orientaliſchen Sprachen, erft bes Perſiſchen, dann im Jahr 1803
unter der Leitung des Engländers Alerander Hamilton?) auf das
des Sanskrit. Hatte ihn ſchon am Perſiſchen die große Aehnlich-⸗
keit mit dem Deutſchen überraſcht, fo wurde er von ber Fornwol ⸗
lendung, dem Reichthum und der Wichtigkeit des Sanskrit für das
ganze Sprach» und Altertfumsftubium wahrhaft bezaubert. „An⸗
füngs“, ſchreibt er am 15. Sept. 1808 aus Paris an Tied, „bat
mich die Kunſt und die perfiihe Sprade am meiften beſchäftigt.
Mein jegt ift alles bieg vom Sanskrit verdrängt. Hier ift eigent-
ih die Quelle aller Sprachen, aller Gedanken und Gedichte des
menſchlichen Geiftes; alles, alles ftammt aus Indien ohne Aus-
nahme. Ich Habe über Vieles eine ganz andre Anfiht und Ein-
ficht bekonnnen, feit ih aus dieſer Quelle fhöpfen Tann“ 3). Im
1) Vgl. Max Müller, Lectures on the Science of Language, fourth
ed. London 1864, p. 161 fg. — 2) ©. F. Scllegers Schrift: Ueber
bie Sprache und Weisheit der Indier, Bor. ©. IV. Daß F. Schlegel wäh:
end des Friebens von Amiens in England geweſen fei, wie man hin und
wieder angegeben findet, flieht im Wiberſpruch mit ben fortlaufenden Berichten,
die er im feinen Briefen an Schleiermader (Aus Schleiermacher's Leben. In
Briefen. Dritter Band) und Tied (Briefe an 2. Tied, Bd. 3, Breslau 1864)
über fein Leben und feine Studien gibt. Bielmehr hielt fih Hamilton im
. Jahr 1803, als Schlegel deſſen Unterricht genoß, in Paris auf. gl. U. ®.
Eqlegel, Indiſche Vibliochet, Exfer Band, Bonn 1820, ©. 6; Zweiter
Band, Bonn 1827, ©. 383 fg. — Nouvelle Biogr. gönerale, Tome 28,
Paris 1858 =. n. Hamilton (Alexandre). — 8) Briefe an 2. Tied,
®. 3, Breslau 1868, ©. 329.
99°
866 Drittes Buch. Zweites Kapitel.
Jahr 1808 veröffentlicht er als Frucht feiner Studien die Schrift:
„Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur
Begründung der Alterthumskunde. Nebſt metriſchen Ueberfegungen
indiſcher Gedichte“ 1). Im erften Bud; biefer Schrift Handelt er
von der Sprache, im zweiten von ber Philofophie, im dritten end-
Kid} fügt er allgemeine hiſtoriſche Ideen Hinzu. In Bezug auf bie
Sprade zeigt er zuerft an einer Meihe von Beifpielen die nahe
Verwandtſchaft, in welher das Sanskrit mit dem Lateinifhen,
Griechiſchen, Germaniſchen und Perſiſchen fteht, und fucht zugleih
den Beweis zu führen, daß die indiſche Form die ältere fei 2). In
feinen etymologiſchen Vergleihungen beftrebt er fih, dem Vorwurf
phantaftiicher Willtür zu entgehen. „Wir erlauben ung dabei Feine
Art von Veränberungs- ober Verfegungsregel der Buchſtaben, ſon⸗
dern fordern völlige Gleichheit des Worts zum Beweife der Ab
ftammung. Freilich, wenn fih die Mittelglieder hiſtoriſch nad
weijen laſſen, ſo mag giorno von dies abgeleitet werden, und
wenn ftatt des Iateinifchen f im Spaniſchen jo oft h eintritt, das
lateiniſche p im der deutſchen Form desſelben Wortes fehr häufig
f wird, und c nit felten h, fo gründet dies allerdings eine Anı-
Iogie auch für andre nicht ganz fo evidente Fälle. Nur muß man,
wie gefagt, die Mittelglieder oder die allgemeine Analogie hiſtoriſch
nachweiſen fünnen; nach Grundſätzen erbichtet darf nichts werden,
und die Uebereinftimmung muß ſchon jehr groß und eimleuchtend
fein, um aud nur geringe Formverſchiedenheiten geftatten zu bür-
fen“ 3). Wir fehen hier. einen großen Fortſchritt gegenüber dem
phantaftiihen, hin» und Herrathenden Gtymologifieren. Zugleich
aber bezeichnet ung dieſe Stelle, wie weit im Jahr 1808 ſelbſt ein
Mann wie Friedrih Schlegel noch entfernt war von der Einfiht,
die wir Raſt umd Grimm verbanten, baß eben jene Megeln der
Umwandlung bie Grundlage der Etymologie Bilden, fo daß oft
gerade die Ungleichheit, nicht die Gleichheit des Lautbeſtandes für
die Identität der Wörter ſpricht.
1) Heidelberg, bei Mohr und Zimmer. — 2) 8. Shlegel, Uche
Sprache und Weisheit ber Inbier. ©. 15. — 3) Ebend. ©. öfg-
Die alideutſchen Stubien zur Zeit des Auftretens der Brüber Grimm. 857
Ein noch größeres Gewicht als auf die Aehnlicfeit der Wur-
zen legt Schlegel auf die Uebereinftimmung des grammatiſchen
Baues. Nachdem er im zweiten Kapitel eine Anzahl von Wörtern
zuſammengeſtellt hat, melde ſich einerfeits im Sanskrit, andrer-
fäts im Lateiniſchen, Griehifgen, Germaniſchen oder Perſiſchen
finden, beginnt er das britte, „Bon der grammatiſchen Structur“
überfjriebene Kapitel mit dem Einwurf: „Könnte man aber nicht
vielleiht diefen ganzen Beweis umkehren und jagen: Die Ber-
wandiſchaft ift auffallend genug und mag zum Theil gegründet
fein, woraus folgt aber, daß die indiſche unter ben verwandten
Eprachen grade bie ältere umd ihr gemeinfchaftliher Urfprung ſei?
Lann fie nicht eben fo gut erft duch Miſchung der andern entftan-
den fein, oder doch dadurch diefe Aehnlichkeit erhalten haben?“
‚Richt zu erwähnen, antwortet Schlegel, daß Vieles von dem ſchon
Angeführten und auch mande andre Wahrſcheinlichkeit dagegen
ſpricht, fo werben wir jegt auf etwas fommen, was die Sade
völlig emtjdjeibet und zur Gewißheit erhebt. Ueberhaupt dürfte die
Sopothefe, welche, was fi in Indien Griechiſches findet, von ben
Seleuciden in Baltrien herleiten zu können meint, nicht viel glück⸗
licher fein als die, welde bie ägyptiichen Pyramiden für natürliche
Iryftallifationen ausgeben wollte. Jener entſcheidende Punkt aber,
der Hier Alfes aufhellen wird, ift bie innere Structur der Spra-
sen oder bie vergleichende Grammatik, welde uns ganz neue Auf-
ſchlüſſe über die Genealogie der Sprachen auf. ähnliche Weife geben
wird, wie die vergleihende Anatomie über die Höhere Naturge-
ſqichte Licht verbreitet hat“ 1).
Wenn nun aud bei der Durhführung im Einzelnen Schlegel
Richtiges und Falſches miſcht, fo Hat er doch in den angeführten
Worten einen ber fruchtbarſten Grundgedanken der ganzen neueren
Sprachforſchung ausgeſprochen, umd auch in der weiteren Ausfühe
tmg finden wir vieles Treffende. „Mit der griechiſchen und römi⸗
iden Grammatik,“ fagt er 2), „ftimmt bie indiſche fo ſehr überein,
1) Eben. ©. 27 fg. — 2) Ebend. S. 35.
858 Drittes Bud. Zweites Kapitel.
baß fie weder von der einen noch von der andern mehr verſchieden
ift, als dieſe beiden es unter fid find.” In Bezug auf die germani-
fen Spragen ertennt Schlegel ganz richtig, daß fie ben Formen
des Indiſchen, Griechiſchen und Lateinifhen immer näher rüden,
je weiter wir in ihr Alterthum Hinauffteigen. Nachdem er einige
grammatiſche Wehnlicteiten des Deutſchen und des Indiſchen be
ſprochen hat, fährt er fort: „Nehmen wir vollends die Grammatit
der ältern Mundarten hinzu, bes Gothiſchen und Angelſächſiſchen
für den beutfen, bes Isländiſchen für den ſtandinaviſchen Zweig
unfrer Sprade, fo finden wir nicht nur ein Perfectum mit einem
Augment, wie im Griechiſchen und Indiſchen, einen Dualis, ge
nauere Geſchlechts⸗ und Verhältnigbeftimmungen ber Participien
und ber Declination, die jegt verloren, fondern auch viele andre
Flexionen, die jegt ſchon etwas abgeftumpft und weniger kennilich
find; die dritte Perfon im Singularis und Pluralis der Zeit
worte zum Beifpiel zeigen fi wieder vollftändig und in voll
tonunner Uebereinftimmung. Es kann mit einem Worte bei ber
Betrachtung diefer alten Dentmahle der germanifgen Sprache nit
der mindefte Zweifel übrig bleiben, daß fie ehedem eine ganz ähn⸗
liche grammatiſche Structur hatte, wie das Griechiſche und Römi-
fe" iy. Ich führe aus dem Beſonderen, was Schlegel über die
deutſche Sprache fagt, nur eine Stelle an, weil fie uns zugleich
hinüberleitet zu einer allgemeineren Betrachtung. „Wird in einer
andern (Gattung) das Imperfectum durch ein angefügtes t gebildet,
fo ift dies freilich eine beſondre Eigenthümlichkeit, eben fo wie das
b im römiſchen Jmperfectum; das Princip aber ift immer noch
dasſelbe, daß nämlich die Nebenbeftimmung ber Bedeutung nad ber
Zeit und andern Berhältniffen nicht durch befondre Worte ober von
außen angehängte Partikeln geſchieht, jondern durch innre Modifir
cation der Wurzel” 2). Dieje Stelle bietet uns den Uebergang zu
dem Verſuch, den Schlegel in ben folgenden Kapiteln macht, ſämmt⸗
lie Sprachen unter gewiffe Hauptgefitspunfte zufammenzufaffen.
1) Ebend. ©. 33 fg. MWgl. die Bemerkung über das Zugrunbelegen der
Älteren Mundart ©. 81. — 2) Ehend. ©. 3.
Die altbeutfcjen Studien zur Zeit des Auſtretens ber Brüber Grimm. 859
Die Gefammtheit der Sprachen zerfällt ihm in zwei große Klaſſen.
„Entweder“, jagt er, „werben bie Nebenbeftimmungen der Bebent-
mg durch innre Veränderung des Wurzellauts angezeigt, buch
Flerion, oder aber jevesmal durch ein eigens Bingefügtes Wort,
was fon an und für ſich Mehrheit, Vergangenheit, ein zufünftiges
Sollen oder andre Verhältnißbegriffe der Art bebeutet; und biefe
beiden einfachſten Fulle bezeichnen auch bie beiden Hauptgattungen
aller Sprache. Alle übrigen Fälle find bei näherer Anſicht nur
Modificationen und Nebenarten jener beiden Gattungen; daher
fer Gegenfag auch das ganze in Rlichicht auf bie Mannigfaltig-
kit der Wurzeln unermeßliche und unbeftimmbare Gebiet der
Sprade umfaht und völlig erfhöpft“ 1). Wie Schlegel ſich das
Bein der Flexion benkt, ergibt ſich ſchon aus ber oben über das
Veutiche Imperfectum angeführten Stelle. Jede Wurzel ift in den
flectiereuden Sprachen „wahrhaft das, was ber Name fagt, und
wie ein lebendiger Keim.’ 9). Diefer Keim entfaltet fih „dur
imere Veränderung“ 2) zur Bezeichnung der verſchiedenen Ber-
halmißbegriffe der Zeit, des Raums, der Beziehungen aller
Art. Schlegel findet das, was er Flexion nennt, nur in den
indogermanifchen Sprachen. Diefe bilden daher bie eine Haupt
gattung der ganzen Sprachwelt, während fänmtliche andere Spra-
en der zweiten Gattung angehören. Schlegel rechnet dahin nicht
mir die einſylbigen Sprachen, wie das Chineſiſche, und die „eben
fo ſchweren als fonderbaren amerilaniſchen Sprachen,“ zu deren
Studium ihm Werander von Humboldt Hülfsmittel verſchafft 3)
fordern auch die ſemitiſchen Spraden. Was er von dieſen, im
Gegenfage zu ben flectierenden inbogermanifden Sprachen, fogt,
läßt uns einen befonders Maren Blick in Schlegel's Anfiht von
der Flexion thun. „Bwar, meint er, Tann ein Schein von Flexion
entftehen, wenn die angefügten Partileln enblih bis zum Unkennt-
lichen mit dem Hauptwort zufammenfchmelzen; wo aber in einer
Sprage, wie in der arabiſchen und in allen, die ihr verwandt
find, die erften und weſentlichſten Verhältniſſe, wie die der Perſon
1) &bend. S. 45. — 2) Ebend. S. 50. — 3) Ebend. ©. 46,
880 Drittes Buch. Zweites Kapitel,
an Zeitwörtern, durch Anfügung von für fih ſchon einzeln bebeus-
tenden Partikeln bezeichnet werden, und der Hang zu dergleichen
Suffiris fih tief in der Sprade gegründet zeigt, da kaun man
fiher annehmen, daß das Gleiche auch in andern Stellen Statt ge
funden Habe, wo ſich jegt die Anfügung ber frembartigen Partikel
nicht mehr fo deutlich unterſcheiden läßt; kann wenigftens ſicher
annehmen, daß bie Sprade im Ganzen zu dieſer Hauptgattung
"gehöre, wenn fie gleich im Einzelnen durch Miſchung oder hunft-
reihe Ausbildung zum Theil ſchon einen andern und höhern Eha-
rafter angenommen hätte“ !), Der Stufengang der nicht flectier
renden Sprachen ift nad Schlegel diefer: Auf der unterften Stufe
fteht das Chinefſche. Im Basfijgen und Koptiſchen „fangen die
angefügten Partileln ſchon an, mit dem Worte ſelbſt zu verſchmel⸗
zen und zu coalefcieren. Noch mehr ift dies der Fall im Arabiſchen
und allen verwandten Mundarten, die zwar dem größern Theile
ihrer Grammatik nad) unläugbar zu diefer Gattung gehören, wäh
rend doch mandes Andre nicht mit Sicherheit darauf zurüdgeführt
werben kann, bie und da fih fogar ſchon eine einzelne Weberein-
ftimmung mit der Grammatik duch Flerion zeigt” 2). Die ara
bifhe und hebräiſche Sprache „ftehen wohl umftreitig auf dem
höchſten Gipfel der Bildung und Vollkommenheit in ihrer Gattung,
ber fie übrigens nicht fo ausſchließend angehören, daß fie fih nicht
in einigen Stüden ber andern etwas nähern follten. Daß aber
diefe Kunft ihnen fpäter, ja zum Theil gemaltiam, auf den alten
toben Stamm angebilvet fein möge, Haben bie vertrauteften Ken-
ner biefer Spraden oft geäußert“ ). Inſofern fie ihre dor
men duch Affiga bilden, ftehen die femitiihen Sprachen fammt
alfen übrigen im unbebingten @egenfag zu ben (indogermaniſchen)
flectierenden Spraden, die ihre Formen nicht duch Affira, ſondern
durch innere Umwandlung ber Wurzel ſelbſt Bilden +). Die ältefte
unter ben Sprachen biefer Klaſſe ift die indiſche. „Daß bie in«
diſche Sprache älter fei als die griechifhe und römiſche, geſchweige
1) Eben. 6.48, — 2) Eben. 6.49 fg. — 3) Ebend. 6.55. —
4) Bgl. auch ebend. ©. 56.
Die altdeutſchen Studien zur Zeit des Auftretens ber Brüber Grimm. 361
denn bie deutſche und perſiſche, fheint aus allem Angeführten 1)
wohl mit Gewißheit hervorzugehen. In welchem Berhältniß, als
die ältefte der abgeleiteten, fie aber eigentlich zu der gemeinfchaft-
lißen Urſprache ftehe, darüber wird fi vielleiht dann etwas Nä-
heres beſtimmen laffen, wenn wir die Vedas in echter Geftalt
funmt den alten Wörterbüdern darüber vor uns haben, welde
bie beträchtliche Verſchiedenheit der Sprade in den Vedas felöft
vom Samſtrit ſchon in frühen Zeiten nothwendig machte“ 2).
An das Aufblühen der indiſchen Studien in Europa knüpft
Friedrich Schlegel die größten Erwartungen. „Möchte das indiſche
Studium, fagt er in der Vorrede 3) zu feinem Wert, nur einige
folge Anbauer und Begünftiger finden, wie deren Italien und
Deutſchland im funfzehnten und ſechzehnten Jahrhundert für das
giiechiſche Studium fo mande fi plöglich erheben und in kurzer
Zeit fo Großes leiften ſah; indem durch die wiedererwedte Kennt
niß des Alterthums ſchnell die Geſtalt aller Wifjenfhaften, ja man
lann wohl fagen der Welt, verändert und verjüngt ward. Nicht
weriger groß und allgemein, wir wagen es zu behaupten, würbe
auch jegt die Wirkung des indiſchen Studiums fein, wenn es mit
chen der Kraft ergriffen und im ben Kreis ber europäifchen Kennt»
nie eingefügt würde.“
IH glaube, daß das Angefüßrte die außerordentliche Bebeut-
ung von Friedrich Schlegel's Buch hinreichend darthut. Wir
haben unfve Meittheilungen fo gewählt, daß fie zugleich aud von
den ſchwachen Seiten Schlegel’s eine deutliche Anſchauung gemwäh-
ten. Im Gegenfag zu dieſen ſchwachen Seiten werden wir die
Sprachforſchung insbejondere durh Franz Bopp eine neue Geftalt
gewinnen fehen. Ueberhaupt gibt Schlegel nur allgemein ausge
ſprochene Gedanken. Die beweifende Durchführung fehlt entweder,
oder fie ift, mo Schlegel fie verſucht, voll von Mißgriffen. Wir
würden daher die Mängel von Schlegel's Bud noch ftärker hervor-
treten fehen, wenn es uns hier geftattet wäre, mehr in die Einzel»
1) Eiche oben. — 2) S. 66 — EX.
362 Drittes Bud. Zweites Kapitel.
heiten der Ausführung einzugehen. Aber troß alle dent wird man
die epochemachende Bedeutung diefer Heinen, aber inhaltsfhmeren
Schrift nicht in Abrede ftellen 1).
Arusid Kanne.
Es währte noch eine Reife von Jahren, bis das von Friedrich
Schlegel in Deutſchland angeregte Studium bes Sanskrit gefunde
wiſſenſchaftliche Früchte trug. Eine geraume Zeit noch wirkte das
Licht aus dem Orient mehr blendend und verwirrend, als erleud-
tend und aufflävend. Einen Beleg für diefe Thatſache liefern die
Schriften Arnold Kanne's. Es ift Hier nicht der Ort, das aben
teuerliche Leben dieſes merhvürdigen Mannes ausführlich zu er-
zählen. Geboren im Jahr 1773 zu Detmold ftubierte er unter
Heyne in Göttingen Maffiihe Philologie, zugleich mit dem orienta-
tigen Sprachen beſchäftigt, lebte dann kümmerlich von feiner Fe⸗
der, bald als gelehrter, bald als humoriſtiſcher Schriftſteller, diente
dazwiſchen als öſtreichiſcher Soldat, wurde befreundet mit Jean
Paul, nahm im Jahr 1806 preußiſche Kriegsdienſte, ward franzö-
ſiſcher Kriegsgefangener, entfprang und trat dann abermals in öft-
reichiſchen Kriegsdienft. Auf Jean Paul's Verwendung ward er
endlich dur Friebrih Heinrich Jacobi Tosgefauft und erhielt im
Jahr 1809 eine Stelle als Profeſſor der Geſchichte am Realinſtitut
in Nürnberg. Im Jahr 1817 wurde er Profeſſor der orieniali⸗
fen Sprachen an ber Univerfität Erlangen und ſtarb bafeldft am
17. December 1824. Diefer fo bewegte äußere Lebenslauf Kannes
ift durchtobt von nod weit größeren inneren Stürmen und Kämpfen,
die ihn zwiſchen hochgehenden wiſſenſchaftlichen Planen und ſtillet
chriſtlicher Entfagung hin und herwerfen, bis er endlich in einem
ernften myſtiſch beſchaulichen Chriftenthum Ruhe findet 2).
1) 2gl. Max Müller, Lectures on the Science of Language,
IV. ed., p. 168 sq. — Theod. Benfey, Geſchichte der Sprachwiſſenſchaft,
1869, ©. 357 fg. — 2) Bgl. bie Selbfibiographie Kanne's in: Leben
und aus bem Leben merfwürbiger und erwedter Ehriften von J. W. Kanne,
Erſter Thl. Bamberg u. Leipz. 1816, ©. 263 fg., und ben Neuen Reftelog
ker Deutfchen, Jahrg. IL, ©. 1240 fg. -
Die altdeutſchen Gtubien zur Zeit des Auftretens ber Brüder Grimm. 868
Kanne's Schriften liegen großentheils nicht auf unferem Bo-
den, aber einige berfelben jind auch für die Geſchichte der germa-
niſchen Philologie von nicht geringer Bedeutung. Im Jahr 1804
gab er eine Schrift heraus „Ueber die Verwandtſchaft der griechi⸗
igen und teutſchen Sprache.“ In dieſer Schrift Hält ſich der Ber-
faffer, abgeſehen von einigen allgemeineren Anſichten über die ger
ſchichtliche Entftehung der Laute, ftreng an die Sache, indem er vor
allem die wichtigſten Santübergänge zwiſchen dem Griedifhen und
Deutigen nachzuweiſen ſucht, und hier gelingt es feinem Scharffinn,
einen großen Theil der Lautwechſel darzutfun, auf denen das
Grimm’sche Lautverfhiebungsgefeg beruft. Kein Sprachforſcher vor
Raſt ift diefer großen Entdeckung Grimm’s fo nahe geweien, als
bereits im Jahr 1804 Arnold Kanne), Wäre Kanne auf diefem
Wege weiter gegangen, hätte er auf ſolche Weife die orientalifchen
Sprachen in ben Bereich feiner Forſchung gezogen, fo würde er
ohne Zweifel eine ber vorzüglichſten Stellen unter unfren wifjen-
ſcaftlichen Sprachforſchern einnehmen. Statt deffen ließ er fih von
der damals herrfchenden titanenhaften Ueberſchätzung ber vorhande-
nen Kräfte nicht nur Hinveißen, den Zuſammenhang aller Sprachen
und Mythen in Einem Anlauf erobern zu wollen, fondern er
glaubte auch, auf diefe Weile die Einſicht in den tiefften Zufammen-
hang der Sprade mit den Dingen, ja in den idealen Zufammen«
hang der Dinge ſelbſt erlangen zu können. In diefem Sinn ſchrieb
a: Erſte Urkunden der Gefhichte oder allgemeine Mythologie.
Zwei Bände. Mit einer Vorrede von Jean Paul. Baireuth 1808.
Dann: Pantheum der älteften Naturphilojophie, die Religion aller
voͤller. Tübingen 1811. Endlich: Syſtem der indiſchen Mythe,
oder Chronus und die Geſchichte des Gottmenſchen in der Periode
des Borrudens der Nachtgleichen. Leipzig ‚1813. Das Ganze
hatte feine Krönung finden follen in einem Bangkofjum, in wel
dem Kanne die oben bezeichneten Erwartungen vollends zu befrie-
digen hoffte. Er vernichtete aber die Handſchrift diefes Wertes, als
1) Man dgl. in ber oben angeführten Schrift S. 111. 122 fg. 205 fg.
209 {g. 230 fg. 237 fg. 21 fg.
864 Drittes Bud. Zweites Kapitel.
fi) feiner die Ueberzeugung bemächtigte, daß dieſe Art, die Wiffen-
ſchaft zu betreiben, dem Chriſtenthum widerſtreite. — Im An—
ſchluß an Schelling's Naturphiloſophie hat Kanne in den angeführ⸗
ten Schriften manden geiftoollen Gedanken ausgefproden. Es
fehlte ihm nicht an einer ausgebreiteten linguiſtiſchen und mytho-
logiſchen Gelehrfamfeit und einer unerfhöpfligen Combinations ⸗
gabe 1). Aber von beſonnener Forſchung, wie fie allein zu halt
baren Ergebniffen führen fann, ift feine Rede. Mythen und
Spraden aller Völker, wie fie dem Verfaſſer mittelbar oder uns
mittelbar gerade zu @ebote ftehen, werden in wild phantaſtiſchet
Weiſe durcheinandergeworfen. Wir bürfen in Kanne's Bücher nur
beliebig Hineingreifen, um uns zu überzeugen, wohin diefe Art von
etymologiſcher Willkür führte, und weil es für die richtige Schätzung
des hohen Werthes, den ſich die wiſſenſchaftliche Etymologie durch
Grimm und Bopp erworben hat, fehr wichtig ift, fih ein anſchau⸗
liches Bild von dem Zuftand zu maden, in weldem fi die Ety⸗
mologie vor dem Erſcheinen von Grimm’s Grammatif und Bopp's
Schriften befand, will ich wenigftens ein Beifpiel von Kanne's
Verfahren mittheilen. In „Erfte Urkunden ber Geſchichte oder
allgemeine Mythologie 1808 &. 573" Heißt es wörtlich: „Dem
mit Daume, plattt. Dume, ift verwandt DT dam das Blut,
DR adam rothe Erde, erfter Menſch, Zuger, - dĩuoc Fett, ur
ſprüngl. Fleiſch, Innos Bol, dep bauen, dewas Leid, dnpsoue-
ros Weltihöpfer, dune gebären, zeugen, wovon noch dedupog ein
Zweigeborner, Zwilling, Ei⸗dam Schmwiegerfohn (wie gener von
revo), Dame die Frau, dama ber zeugende Hirih, desmer
Gott, urſprüngl. Schöpfer, 70T domen stercus, hier, wie immer,
von Worten ber Zeugung und Befruchtung, davon abdomen.“
So war die Sprachforſchung beſchaffen, welche damals die Geiſter
beherrſchte, und nicht bloß Männer wie Görres, wie Friede. Heim.
von der Hagen, fondern auch Jacob Grimm in der erften Periode
1) Mit befonberer Beziefung auf das Germaniſche hat Kanne von biefen
Gaben Gebrauch gemacht in feiner Abhandlung: Germaniſche Trümmer, in
Touqus's Mufen, Jahrgang 1814, ©. 1— 68,
Die altdeutſchen Stubien zur Zeit bes Auftretens ber Brüder Grimm. 865
feiner Tätigkeit Haben von Kanne's Schriften einen unverlenn-
taren Einfluß erfahren 1).
Iofeph Görres.
Der Mann, deſſen Verhältniß zur germaniſchen Philologie
wir jegt ſchildern wollen, gehört nur mit einem Theil jeiner Ler
bensthätigkeit in unferen Bereich, ber größere Theil feiner Wirk-
famfeit Liegt auf anderen Gebieten. Natürlih müflen wir ans
bier auf das beſchränken, was fih auf die von uns behandelte
Wiſſenſchaft bezieht. Geboren zu Koblenz im Jahr 1776 hatte
fih Görres mit Begeifterung den Ideen der franzöfijhen Revo⸗
lution angeſchloſſen. Reifere Einſicht aber und die Entwidlung der
franzöfifgen Republik zum Napoleon'ſchen Kaiſerthum braten ihn
von den franzöfiigen Sympathien ab. Er warf fi num eine Reihe
von Jahren hindurch mit ganzer Kraft auf wiſſenſchaftliche Stu-
dien. Schelling's Philofophie, der er fih zwar nicht unbedingt
auſchloß, von welcher er aber bie tiefiten Anregungen erhielt 2),
bildete ihm das verfnüpfende Band zwiſchen feinen naturwiſſen⸗
ſchaftlichen und geſchichtlichen Studien. Von diefem Ausgangs-
punkt aus vertiefte er fih in die Urgeſchichte und Mythologie der
Bölter. Bor allem aber zog ihn das deutſche Alterthum an. Im
Leben des deutſchen Volles, in feiner Dichtung, feiner Geſchichte,
feinen alten Sitten und Einrichtungen bot fih ihm die Verbindung
dar zwiſchen feinen wiſſenſchaftlichen Forſchungen und feinen neuen
yolitifch- vaterländiſchen Beſtrebungen. Im Jahr 1806 gieng er
nach Heidelberg und hielt dort Vorträge über afiatifhe Mythen⸗
1) Aus bem lehten Lebensjahr Kanne's (1823 — 24), das ſchon jenfeits
der oben gefchilderten Periode (bis 1819) liegt, befigt die Univerfitätabiblio-
et zu Erlangen handſchrifilich den Anfang einer Reubearbeitung des vierzehn
Jahre vorher unternommenen Panglofjums, bie in folder Weiſe ausgeführt
iR, wie fie der Verfaffer vor feiner fireng chriſtlichen Weberzeugung verantwor-
tm zu können glaubte. — 2) Bl. bie im Jahr 1802 geſchriebenen (mit
neuem Titel: Koblenz 1804, zum zweitenmal ausgegebenen) Aphorismen über
ie Kunft von I. Görres ©. 1 u. Bor. ©. IX.
366 Drittes Bud. Zweites Kapitel.
geſchichte. Hier trat er aud in nahen freundſchaftlichen Verkehr
mit Arnim und Brentano und durch diefe mit den Brüdern Grimm
in Kaſſel. Es war die Zeit feines lebendigſten Antheil® an den
altdeutſchen Studien. Sie waren ihm nicht bloß ein Gegenſtand
der Gelehrjamfeit, fondern ein Troft in trüber Zeit. Ohne fih
deshalb von ihnen abzuwenden, warf fi dann Görres in ben
Jahren ber Befreiung ganz auf eine vaterländiſch publiciſtiſche Thä-
tigfeit. Sein Rheiniſcher Merkur“ (1814 — 1816) ift ein ım-
vergängliches Denkmal feiner politifhen Beredſamleit. Bald nad
diefer Zeit findet der thätige Antheil, den Görres an ben altbeut-
fen Studien nahm, feinen Abſchluß, und es fteht ung deshalb
hier nicht zu, die Schidfale diefes merkwürdigen Mannes weiter
zu verfolgen. Wir bemerken nur noch, daß er nad fehr mannig-
fagen inneren und äußeren Erfahrungen im Jahr 1827 als Pro-
feffor an die neu gegründete Univerfität Münden Berufen wurde
und dafelöft am 27. Januar 1848 ſtarb 1).
Die Zeit, aus welcher die Schriften zur altdeutſchen Literatur
herrühren — die Jahre 1806 bis 1817 —, war die fhönfte in
dem Leben des reich begabten Mannes. Den unklaren Tosmopoli-
tiſchen Schwindel feiner Jugendjahre hat er hinter fich gelafien,
und obwohl wir die Keime ber fpäteren römiſch katholiſchen Rich-
tung ſich bereits bilden fehen, treten fie doch noch zurück gegen bie
warme deutſche Gefinnung, bie ihn befeelt. Die erfte Frucht feiner
Beihäftigung mit der älteren deutſchen Literatur war die Schrift:
Die teutfhen Voltsbücher. Nähere Würdigung der ſchönen Hifte
rien⸗, Wetter- und Arzneybüchlein, welde tHeils innerer Werth,
theils Zufall, Jahrhunderte hindurch His auf unfere Beit erhalten
hat. Bon J. Görres. Heidelberg 1807. — In einer allgemeinen
Einleitung befpriht Görres das Wefen der Bücher, von denen et
hier Handeln will. Es find die Schriften, an denen fi) die ganze
Maſſe des Volkes feit Jahrhunderten erfreut. Die wichtigſten und
älteften unter dieſen Volksbüchern find bie erzähfenden. Die „ir
1) Ueber Görreo' Leben finden fich die thatſächlichen Angaben in dem
Artikel „Sörre6” in dem von Weper und Welte herausgegebenen Kirchen: Leri:
ton, &b. IV, Sreiburg 1850, ©. 575 fg.
Die altdeutfchen Studien zur Zeit des Auftretens ber Brüber Grimm. 367
nere im Volle wach gewordene Poeſie“ „hat ſich auf zwiefach ver-
ſchiedene Weife im Volle ſelbſt geäußert” '). Einmal im Volks⸗
Kid. „Eintretend in die Welt, wie der Menſch ſelbſt in fie tritt,
ohne Vorſatz, ohne Ueberlegung und willkürlihe Wahl, das Dafein
ein Geſchenk höherer Mächte, find fie keineswegs Kunſtwerke, fon-
dern Naturwerke wie die Pflanzen; oft aus dem Volle hinaus,
oft auch in dasſelbe hineingefungen, befunden fie in jedem alle
eine ihm einwohnende Gentalität, bort productiv ſich äußernd
und durch die Naivität, die fie in dev Megel darakterifiert, bie
Unſchuld und die durchgängige Verſchlungenheit aller Kräfte in
der Maſſe, aus der fie aufgeblüht, verkündigend; hier aber
durch ihre innere Trefflichkeit den feinen Takt und ben gera-
den Sinn bewährend, der fon jo tief unten wohnt und nur
von dem Befjeren gerührt nur allein das Beſſere ſich aneignet und
bewahrt· 2). Zweitens aber äußerte fih ber Bollsgeift in ben
Boltsfagen. „In den früßeften Zeiten entftanden bie meiften
diefee Sagen, ba wo die Nationen, Hare, frifhe Brunnen der
quellenveihen, jungen Erbe eben erft entjprubelt waren; da wo ber
Menſch gleich jugendlic wie die Natur mit Enthufiasmus und lie
bender Begeifterung fie anſchaute und von ir wieber die gleiche
&ehe und die gleiche Begeifterung erfuhr; wo beide nod nicht all⸗
täglich fich geworden, Großes übten und Großes anerkannten: in
dieſer Periode, wo der Geiſt noch feine Anſprüche auf die Ums-
gebung machte, fondern allein die Empfindung, wo e8 daher nur
eine Naturpoeſie umd Feine Naturgeſchichte gab, mußten nothwendig
in diefem lebendigen Naturgefühle die vielfältig verſchiedenen Tra-
ditionen der mandherlei Nationen hervorgehen, die Fein Leblofes an⸗
etlannten und überall ein Helbenleben, große, gigantiſche Kraft in
allen Weſen jahen, überall nur großes, heroiſches Thun in allen
Erigeinungen erblidten und die ganze Geſchichte zur großen Legende
machten· 3). In alter Zeit wandelten diefe Sagen lebendig als
Gefänge im Leben um. Mit der Erfindung der Schreibkunſt und
ipäter der Buchdruderei aber „büßten fte die äußere poetifche Form
1) Die teutſchen Voltsbüger von I. Görres S. 14. — 2) Ebend.
8.15. — 3) Ebend. ©. 16 fg.
368 Drittes Buch. Zweites Kapitel.
ein, die man als bloßes Hülfsmittel des Gedächtniſſes jegt unnütz
geworben wähnte und daher mit der gemeinen proſaiſchen verwech ⸗
felte* 2). So find aus jenen Sagen die meiften Vollsbücher her-
vorgegangen. Bon viel geringerem Werth find die Iehrenden un-
ter den Vollsbüchern, die „eben ihres innern veflectierenden Cha-
alters wegen durchaus modern find“ 2). Der Verfaſſer daralter
fiert darauf die einzelnen Vollksbücher, fo weit fie ihm Clemens
Brentano's reihe Privatbibliothek darbot 3). Wie in ber allgemeir
nen Schilderung, fo wird man au im Einzelnen das Lob, das
Görres ſpendet, übertrieben, feine Urtheile bisweilen verfehlt finden.
Aber man wird nicht läugnen können, daß er meift einen ſehr
richtigen Taft zeigt. Seine vorzüglihe Aufmerkſamkeit ſchenlt er
der Hiftorie vom gehörnten Siegfried und ber von ben vier Her
monstindern 4), und mit befonderer Ausführlicleit und Chrfurcht
geht er dem Alter und der Verbreitung der Sieben weiſen Meifter
nach d). Das Ganze: Ginleitung, Weberfiht und rücdhlidender
Schluß, ift mit wunderbarer Friſche geſchrieben. „An fih, fagt
Jacob Grimm gegen F. H. von der Hagen, mag man über dieſes
ausgezeichnete Werk immer urtheilen, daß es zu früh comftruieren
"und aus ungleicher Grundlage mit gleicher Sicherheit folgern wolle,
welches Vielen eine ängftlie und manchmal unangenehme Empfin-
dung verurſachen Tann.“ Nur habe Hagen feinen Tadel von der
ganz verkehrten Seite angebracht. „Das ift vielmehr, fährt J
Grimm fort, das Verlehrteſte mit in der Zeit, daß fie das Trefl-
he nicht vein ehren Tann, fondern ihren Tadel daran für weit
höher Hält. Ohne volfftändige hiſtoriſche Ergründung, die ihm in
der kurzen Zeit ohne alle Vorarbeiten nicht möglich war, ift Gör⸗
res in die Wahrheit alter Poefie hineingedrungen. Andere hätten
vermuthlich durd eine Menge von Eitaten und Noten noch nicht
fo hell auf den Grund gejehen“ °).
1) Ebend. ©. 18. — 2) Ebend. ©. 19. — 3) Eben. ©. 3.
— 4) Bgl. ebend. ©. 93 uud 99 mit ©. 310, wo ber Verf. gerade von
biefen fagt, daß fie ‚noch fehr weiterer Beleuchtung bebürfen." — 5) Gbend-
©. 154—173. — 6) Jacob Grimm in der Anzeige von Hagen’s u. [I
Die allbeutfpen Studien zur Zeit bes Auftrelens ber Brüber Grimm. 869
An die „Teutſchen Vollsbücher“ ſchloß fih eine Anzahl von
Abhandlungen an, die Görres unter ber Ueberſchrift: „Der ge
hoͤrnte Siegfried und die Nibelungen“, in ber von Arnim heraus»
gegebenen Zeitung für Einfiedler (April und Mai 1808) veröffent-
lichte. Hier unterfuht er den Zufammenhang unfrer Nibelungen
mit dem ſtandinaviſchen Norden und gelangt zu dem Ergebniß,
daß unfre Heldendichtung auf gothiſchem 1) und fränfifd - burgun⸗
diſchem 2) Boden erwachſen ift, und ba fie den Stürmen ber
deutſchen Völkerwanderung ihre Entftehung verdankt 3). Die nor-
diſche Wilfinafaga, deren Hauptheld Dietrich von Bern ift, ruht
auf deutſchen Gedichten 4) und ebenfo die Heldenlieber der Edda °).
Diefe ganze Sage, zu welcher aud) das lateiniſche Carmen de rebus
gestis Waltharii gehört ©), gründet ſich nit „auf eine Meihe nur
loſe umtereinanber verbundener Romanzen,“ fondern „es fteigt bie
Wahrſcheinlichleit in uns auf, daß ein großes colofjales Gedicht
ie umterliege, in dem die Nibelungen nur ein. Geſang geweſen
find, während Trümmer der andern im Heldenbuche und ſonſtwo
fi erhalten Haben“ 7). „Behalte unbeftritten der Norden feine
Mythe, Teutſchland fein Epos; jene ruht ebenfo unbezweifelbar auf
nordiiher Natur, wie die auf gothiſchteutſcher Hijtorie“ ®).
HM auch jene Annahme eines „coloffalen Gedichts“ verfehlt, fo
ſehen wir doch im übrigen hier Görres mit genialem Scharfblick
die erſten Schritte zur richtigen Auffaffung unfrer deutſchen Hel-
denfage thun. Gr Bleibt aber dabei nicht ftehen, fondern fucht
fefort in den Urfprung aller Poeſie einzubringen. „Im Uxbeginn,
fagt er, ‘war eine Poeſie und eine Zabel, die bildete im Fort⸗
jcritte jedes Volt auf eigene Weife fi und feinen Thaten an“ 9).
„Der Urfprung ber nationellen Poefie fällt zufammen mit dem
Nufeum für Altdeutſche Literatur und Kunft. Heibelb. Jahrbb. 1811, I.
6. 157.
1) Zeitung für Einfiebfer 1808 Sp. 88. 59. — 2) Ebend. Sp. 166.—
I Ebend. Sp. 38. ©. aber aud weiter unten. — 4) Ebend. Sp. 89. —
3) Ebend. Sp. 90. — 6) Ebend. Sp. 160 fg. — 7) Ebend. Sp. 90. —
8) Ehend. Sp. 95. — 9) Ebend. Ep. 95.
Reumer, Geh. der germ. Phllelagie, 24
370 Drittes Bud. Zweites Kapitel.
Urfprung der Nation; wo ihre Geſchichte aus der Naturgeſchichte
hervorgebrochen, da ift der Faden angenüpft, und fie nehmen ihn
durd alle Gänge ihrer Entwidlung mit“ 1). So führt ung bie
germanifge Poeſie nad Aſien, in den Urfig ber Völker hinüber.
In der That geht ein Geſchlecht von Sagen im Orient um, das,
in gerader Linie von benfelben Borvätern abgeftammt, ben gleichen
Familiencharalter mit den nordiſchen Traditionen trägt“ !). Bor
allen find es die Perſer, deren Heldendichtung in Ferdouſſi's Schach
Nameh und fonft „am meiften nordiſche Phyfionomie angenommen
hat“ 9. „Dort fehen wir alle die Hauptmomente der occibentalis
fen Boefie gleihfam vorbildlich angelegt“ 2).
Die Ausgabe des Lohengrin, die Görres, nach Ferd. Gloelles)
Abſchrift, Heidelberg 1813, veranftaltete und den Brüdern Grimm
zueignete, war als erfter Drud des Gedichts ein erwünſchter Bei⸗
trag zur altdeutſchen Literatur. Ueber den Text bemerkt der neuefte
Herausgeber des Lohengrin, Heinrich Nüdert, mit Recht, daß der-
felde völlig unbrauchbar feit). Man wird ſich aber bei befien
Beurteilung zugleich des Zuſtauds zu erinnern haben, in welchem
ſich die altdeutſche Philologie damals überhaupt noch befand. Die
ausführlige Einleitung, welde Görres dem Gedicht vorausjhidte,
enthält neben vielem Willtürlihen und Ueberſchwenglichen mande
treffende Bemerkung. Gleichzeitig mit der Veröffentlichung bes
Lohengrin entwarf Görres ben Plan zu einer „Bibliotheca Va-
ticana Altteutſcher Dictungen“, in welcher er in Gemeinſchaft mit
Ferdinand Glödle die Schätze der vaticaniſchen Bibliothek zu⸗
gänglih machen mollte®). Aber das Unternefmen kam nit zu
Stande.
Den Abſchluß von Görres' thätiger Theilnahme an ben alt-
deutſchen Studien bildeten die Altteutjihen Volls⸗ und Meifterliever
1) Ebend. Ep. 9. — 2) Ebend. Sp. 92. — 3) Sa ſchreibt Gorres
hier den Namen, ober auch (Einl. S. KCHU. XCIV) Gidtle. — 4) Loben-
grin, her. von Heinr. Rückert, Quedlinburg u. Leipsig 1858. Vorr.
8. V. gl. ebend. ©. 207. — 5) S. Göres’ geiftvolle Anfünbigung in
Sräter’s Idunna und Hermode 1812, Anzeiger vom 8. Oftober.
Die alideutſchen Stubien zur Zeit des Auftretens der Brüder Grimm. 871
aus den Handſchriften der Heidelberger Bibliothel. Herausgegeben
von J. Görres (1817). Der Sammler hat es nicht auf eine kri⸗
tiihe Ausgabe abgefehen. Er hat vielmehr, wie er ſich ſelbſt aus-
brüdt, „die alte Rechtſchreibung“, in ber That aber and) die alte
Syrache ber neueren möglichſt glei gemacht. In der ſchönen und
weichhaltigen Ginleitung nimmt er bie Unterfuhungen über ben
Gang der mittelalterlichen Poeſie wieder auf, die er im feinen Teut⸗
{gen Volksbüchern begonnen Hatte. Wir wollen unter vielem An⸗
deren nur auf bie großentheils treffenden Bemerkungen hinweiſen,
die Görres hier über das Verhältnig dev provenzalifcen Lyrik zus
altdeutſchen macht ').
Wir haben bisher den unmittelbaren Antheil geſchildert, den
Görres durch feine Arbeiten an der altdeutſchen Philologie genom⸗
men hat. Wir würden aber ein unvollſtändiges und unrichtiges
Bild von diefem Gelehrten geben, wenn wir nicht wenigftens mit
einigen Worten auch die allgemeinen Anficten besfelben berührten.
Natürlich müflen wir uns auf das Nothwendigfte beſchränken, ba
die Schriften, die wir hier in den Kreis unfrer Betrachtung ziehen,
größtentheils ganz anderen Gebieten angehören als dem unfrigen.
& find vor allem die Mythengeſchichte der afiatifchen Welt (1810)
und Vie Schrift über Glauben und Wiffen (1805). Görres Kat durch
dieſe Schriften, gleichzeitig mit Kanne und Creuzer, für eine tiefere
Auffaſſung der heidniſchen Religionen gewirkt. Zugleich aber zeigt
fi bei ihm, wie Bei feinen Genoſſen, das vergeblie Bemühen,
durch willkũrliches Confteuieren über Dinge zum Abſchluß zu ge-
langen, die man bei weitem noch nicht genügend erforicht hat. Der
Grundgedanfe, von dem Görres ausgeht, ift: „Ein Dienft und
eine Mythe war in uralter Zeit, es war eine Kirche und auch
ein Staat unb eine Sprache“?). Und am Schluß feiner Unter-
ſuchungen fagt er: „So hat es fi denn von allen Seiten ber
währt befunden, was wir im Anfange vorahnend verkündigten,
eine Gottheit nur wirkt im ganzen Weltall, eine Meligion auf
1) Einleitung S. LI fg. — 2) Mythengeſchichte ber afiat. Welt von
3 Gries, Bo. I, ©. 11. =
m Drittes Bud. Zweites Kapitel.
nur herrſcht in ihm, ein Dienft und eine Weltanfgauung in der
Wurzel, ein Gefeß und eine Bibel nur durch alle, aber ein le
bendiges Buch wachſend wie die Gefchlehter, und wie die Gattung
ewig jung“ 1). Um feinen Sag zu erweifen, hat Görres in feiner
Art umfafjende Studien gemadt, und mander geiſtvolle Blid tut
fi ihm auf. Aber wir können uns jegt faum mehr in bie Stim-
mung verfegen, in. ber man folde Probleme mit fo dürftigen Mit-
teln Löfen zu können glaubte, wie fie Görres zu Gebote ftanden.
Wir wiſſen jegt, daß alle mythologifgen Unterſuchungen ‚ohne
firenge und gründliche Sprachforſchung auf Sand Bauen; und
Görres, der ein Hauptgewicht auf die indiſche Mythe Iegt, glaubt,
in dieſe Mythe eindringen zu können, ohne ein Wort Sanskrit
gelernt zu Haben! Die nordifhe Mythologie ift ihm ein Haupt:
gegenftand des Studiums, um fo mehr, da fie feine allgemeinen
Mythenforſchungen mit feinen Anfihten über die altdeutſche Poeſie
verbindet; aber von ber altnordiſchen Sprache verfteht er fo gut
wie niht31 2) Tritt num zu diefem Mangel an gründlichen Sprad-
kenntniſſen nicht bloß eine Vernachläſſigung, fondern eine abſichtlicht
Beratung aller nüchternen und Haren Hiftorifchen Kritik, fo Tann
man fih denken, auf welde Abwege phantaftiiher Willkür dieſe
Art von’Forfhung gerathen muß. Was aber Görses fon tu
mals in paradoger Verhöhnung aller gefunden hiſtoriſchen Kritit
zu leiften vermochte, dafür Tiefert feine Abhandlung über Hunibalds
Chronik 3) den ſchlagenden Beweis.
Adim von Arnim und Clemens Srentans.
Haben wir im vorigen Abſchnitt einen Naturphilojophen und
1) Ebend. Bb. II, ©. 649. — 2) Man muß es Iobenb anerkennen,
daß er die Lieber ber Edda meift nur in der lateiniſchen Ueberfegung der Ko:
penhagener Ausgabe anführt. Die Stelle über Rubbed’s Arlantis (Mythen:
geld. der afiat. Welt I, 209) oder das Citat aus der „Hialmarfage” eben. Il,
573 fg., noch dazu fo, wie es ba gebrudt fieht, beweiſen zur Genüge, daß
bie altnorbifhe Sprache Görted unbefannt war. — 3) In Fr. Schlegels
Deutſchem Mufeum Bd. III, (1813) S. 319 — 345. 508 — 516. 8b. IV,
(1813) 6. 321—349. 357875,
Die alidentſchen Studien zur Zeit bes Auftretens dee Brüber Grimm. 878
Bolitifer als einen feurigen Vertreter ber altdeutſchen Stubien ken⸗
nen Iernen, fo foll uns der gegenwärtige zwei nah befreundete
Dichter vorführen, die fih mit warmer Liebe der Wiederbelebung
der Älteren deutſchen Poefie annahmen. Ludwig Achim von
Arnim (geboren zu Berlin d. 26. Januar 1781, geftorben zu
Biepersdorf in der Mark d. 21. Yan. 1831) :) und Clemens
Brentano (geboren im Thal Ehrenbreitftein den 8. Sept. 1778,
get. zu Aſchaffenburg den 28. Juli 1842) 2), waren in manden
Beziehungen verwandte Naturen, fo verſchieden fie bei näherer Be—
trachtung in anderen erſcheinen. Mit einem überftrömenden Neich-
tum von dichteriſcher Phantafie umd Empfindung ausgeftattet,
ſchloſſen fie fi gegen Ende des 18. Jahrhunderts der damals
herrichenden romantiſchen Schule an. Sie theilten mit deren Häup-
tem die ſchwärmeriſche Verehrung Goethe's 3) und die Liebe zur
älteren deutfchen Poefie. Aber von dem bloß literarifhen Treiben
und der äſthetiſchen Kritik fühlten fie fich mehr abgeftoßen als an»
ggogen. Sie wandten fi vielmehr bald dem wirfligen Volfsle-
ben zu und der Poefie, die diefes durchdringt. Am nächſten noch
ftand ihnen in diefer Beziehung unter ben Häuptern der Romantik
budwig Tieck, defien Vollsmärchen Arnim’s wärmfte Anerkennung
fünden 4). In der Freude am Vollsthümlichen begegneten ſich
Amim und Brentano, und beide fammelten auf ihren Sin» und
Herzügen in Deutihland eifrig alte und neue Volfgliever. In den
uhren 1805 bis 85) lebten bie beiben Dichter zeitweilig zuſam⸗
1) Neuer Nekrolog der Deutſchen, Neunter Jahrgang 1831, Thl. I,
6.88 fg. — Gelehrtes Berlin im J. 1825. Berlin 1826. — 2) Bios
graphifches über Clemens Brentano in GL, Brentano's Gefammelten Schrife
tm, ©. VIII, Sscanffurt a. M. 1855, S. 1-98. — 3) ©. u. U. Arnim's
Lehrgedicht, in der Zeitung für Ginfiebler 1808, 31. Mai, Sp. 144; und bie
Auszüge aus Brentano's Godwi im oben angeführten Biogr. über CI. Bren-
tano ©. 19. — 4) Des Knaben Wunderhorn, Heidelberg 1806, ©. 450. —
5) Arnim's Nachſchrift zum erſten Theil bes Wunderhorns ift unterzeichnet:
Heidelberg im Juli 1805. Der Brief Arnim's an Tied in: Briefe an 2.
Ted, Vd. I, Breslau 1864, ©. 14: Heidelberg, Ende November 1808. In
874 Drittes Bud. Zweites Kapitel,
men in Heidelberg in nahem freundfdaftlihen Besteht mit Görres.
Dort in Heidelberg Yam das einflußreichite Werk der beiden Dich-
ter: Des Knaben Wunberhorn, zum Abflug, und von ebenda
gieng das Unternehmen aus, durch weldes fie die Freunde ber
alten deutſchen Art unter Eine Fahne fammelten: Die Zeitung
für Einſiedler. Heidelberg war wohl dazu gemacht, ein dichteriſches
Gemüth mit alter deutſcher Freude zu erfüllen und zugleich wit dem
Schmerz über den Verluft einer großen deutſchen Vergangenheit,
Es ift uns bei den Schriften von Görres, von Arnim und Bren-
tano bisweilen, als hörten wir den Nedar rauſchen und ſähen die
Trümmer des alten Schlofjes über die prachtvollen Bäume her⸗
abbliden.
Durch Brentano's verwandtſchaftliche Beziehungen erweiterte
fich der Lreis ber Heidelberger Freunde weit über Heidelberg hin⸗
aus in epochemachender Weiſe. Im Jahr 1804 nämlich hatte Sa⸗
vigny, der große Rechtslehrer zu Marburg, Brentano's Schweſter
Kunigunde geheirathet, und fo knüpfte fi die Freundſchaft an, bie
bald Brentano und deſſen geiſtvolle Schweſter Bettina mit Sa
vigny's veichhegabten Schülern Jacob und Wilhelm Grimm ver
band. Beſonders fühlten fih die Grimm von Brentano's Freund
Arnim angezogen. Ihn und Bettina Breutano, die im Jahr 1811
feine Gattin wurde, verband die innigſte Freundſchaft mit ben Bri-
dern Grimm.
Im J 1806 erfien zu Heidelberg: Des Kuaben Wunder⸗
horn. Alte deutſche Lieber gefammelt von 2. U. v. Arnim und
Clemens Brentano !). Es war bie Frucht von Arnim's und Bren⸗
tano’8 regem Sammeleifer. Das Werk ift Goethe gewidmet und
fliegt mit einer Abhandlung Arnim’s: „Bon Bollsliedern. An
Herrn Rapelimeifter Reichardt·. Im J. 1808 folgte eim zweiter
und dritter Band und ein Heft „Kinderlieder“ als „Anhang zum
Wunderhorn“ 2). Die Ahandlung Arnim’s, unterzeichnet „Berlin
Brentano's Gefammelten Schriften, Bd. VIII, ©. 129 m. 131 finden fih
Beiefe Brentano's aus Heidelberg b. 14. Jan. 1805 und 20. Mai 1806. —
1) So ber Bortitel, Auf dem Yaupttitel if} das „gefammelt von“ wegneaffen
und „Achim ausgefgrieben. — 2) Die weiteren Schichale dee Bugs be
Die alideutſchen Gtubien zur Zeit des Auftretens der Brüder Grimm. 375
im Januar 1805”, mit einer „Nadjerift an den Leſer“ aus „Hei⸗
delberg im Juli 1805", ift beftimmt, die Grundanſichten der Her-
ausgeber mitzutheilen. Arnim thut dies in feiner geiftvollen Weiſe,
die bald das Tieffinnigfte mit wunderbarer Klarheit ausſpricht,
bald wieder in bie jeltfamften Grillen verfällt und im geftaltlofen
Nebel fich auflöft. Das Fortleben des Bollkslieds vergleicht Arnim
mit den Wäldern unfrer Berge. „Iſt der Scheitel hoher Berge
mr einmal ganz abgeholt, jagt er, fo treibt der Regen die Erde
finunter, es wächſt da fein Holz wieder. Daß Deutſchland nicht
fo weit verwirthſchaftet werbe, fei unfer Bemühen“ '). Trefflich
ſpricht er über den einfachen, feelenwollen Gejang: „Mit großer
Bravur, jagt er, können wohl bieje vortrefflihen Kunſtſänger
ihren Sram ausſchreien und ausftöhnen, man verjuche fie nur nicht
mit einem Vollsliede, da verfliegt das Unechte; laßt fie auch nicht
mit einander veden, fie fingen wohl noch mit einander, aber mit
dem Sprechen geht ber Teufel 108." — „Wollt ihr Sänger uns
mit der Inſtrumentalität eurer Kehle duch Himmel und Hölle
ängftigen, denkt body daran, daß dit vor euch ein großes phyſila⸗
liſches Kabinet von geraden und krummen hölzernen ımb blechernen
Röhren und Inftrumenten fteht, die alle einen höheren, helleren,
dauerndern, wechjelndern Ton geben als ihr, daß aber das Ab⸗
bild des höchſten Lebens ober das höchſte Leben ſelbſt, Sinn und
Bort vom Ton menjhlid getragen, auch einzig nur aus dem
Munde des Menfchen fi offenbaren könne“ 2). Dem Volle felbft
fat Arnim abzulauſchen, was deſſen Gemüth erfüllt, deſſen Seele
bewegt. Hier begegnet er fi mit Clemens Brentano. Denn ob»
wohl diefer Katholit war, Arnim Proteftant, wollten doch beibe
führen uns Bier nit. Wir wollen nur Kurz Semerken, daß im 3.1819 eine
write Ausgabe des erfien, im J. 1845 eine dritte des erfien und 1846 eine
weite Ausgabe des 2. und 3. Bandes erſchien. Endlich im J. 1854 wurde
derch Ludwig Erf ein vierter Band Hinzugefügt. gl. Hoffmann von Faller:
lesen „Zur Geſchichte des Wunderhotns⸗ in: Weimariſches Jahrbuch für
beutfche Sprache u. f. f. Her. von Hoffmann won Falleroleben und Oskar
Sqade. IL BB. Hannover 1855, ©. 280 fg. — 1) Wunderhorn I ass
6.428. — 2) Ebend. ©. 492 fg.
876 Drittes Buß. Zweites Kapitel.
nichts wiffen von dem bloß äſthetiſchen Chriſtenthum, das bamals
Mode wurde, ſondern giengen ven Spuren ſchlichter Frömmigkeit
nad. Und „ein Streit des Glaubens, ſagt Arnim, wird der Ber
geifterung Wahnfinn, weil da der Streit aufhört, wo ber Glaube
anfängt“ 9). Später hat ſich dann freilich die tiefgehende Verſchie-
denheit beider Männer immer mehr herausgeftellt. Denn Bren-
tano war, trog aller zeitweifen Abirrungen, dennoch eim guter
Katholit, Arnim aber, fo wenig er von feinem veligiöfen Glauben
Weſens machte, durch und duch ein ſchlichter Proteftant 2). Ihr
damaliges gemeinfames Streben faßte Arnim in die Worte zuſam ⸗
men: „Wir wollen wenigftens die Grundftüde legen, was über
unfre Kräfte andeuten, im feften Vertrauen, daß bie nicht fehlen
werden, welde den Bau zum Höchſten fortführen, und Der, wel⸗
cher bie Spige auffegt allem Unternehmen“ ®). Und als er min
das Buch vor fi Tiegen fieht, fagt er in der Nachſchrift an den
Leſer: „Bon biefer unfrer Sammlung kann ih nur mit ungemei⸗
ner Neigung reden; fie ift mir jegt das liebſte Buch, was ich fenne,
nit was mein Freund Brentano und id dafür gethan, ungeadtet
es gern geſchehen, fondern was innerlich darin ift und weht, bie
feifche Morgenluft altdeutſchen Wandels“ 4).
Das Wunderhorn wurde von dem beften Theil bes beutfchen
Bublicums mit ungemeinem Beifall begrüßt. Ganz dem Geift je
ner Zeit entſprechend, waren hier die Beſtrebungen Herder's, bie
biefer dem Volkslied der ganzen Menſchheit zugewandt hatte, im
vaterländifgen Sinn wieder aufgenommen. Auch der Altmeiſter
Goethe fpenbete dem Unternehmen in der Jenaer Literaturzeitung
fein Lob. „Von Rechtswegen, fagt er, follte biejes Büchlein in
jedem Haufe, wo friihe Menſchen wohnen, am Fenſter, unterm
Spiegel, oder wo fonft Gefang- und Kochbücher zu Liegen pflegen,
zu finden fein“ 6). Anbrerfeits aber wurde das Wunderhorn auch
1) Wunderhorn I, (1806) ©. 459. — 2) Bgl. Atnim's Vorrede pi
ben Predigten des Matgefius, Berlin 1818. — 3) Wunderhorn I, (1806)
S. 4603. — 4) Ebend. I, (1806) ©. 464. — 5) Jenaiſche Allgem. Siterstw
Zeitung d. 31. Jan. 1808, ©p. 137.
Die altbeutfcpen Stubien zur Zeit bes Auftretens der Brüder Grimm. 377
anf daS heftigfte angegriffen, am grimmigften von Joh. Heinr.
voß im Cotta'ſchen WMorgenblatt '). Er nennt dasfelbe einen „zus
ſanmengeſchaufelten Wuft, voll muthwilliger Verfälihungen, fogar
mit untergejchobenem Machwerk.“ Diefer Angriff gab Beran-
laſſung zu einem fehr unerquidlichen literariſchen Streit, der fih
in Erflärungen und Gegenerflärungen bis in das Jahr 1810 Hin-
ein fortfegte. Blicken wir jetzt unbefangen auf das Werk zurüd,
fo Könmen wir freilih vom wiſſenſchaftlichen Standpunkt aus Ar-
aim’! und Brentano’s Verfahren nicht billigen. Ste gehen mit
den Texten der von ihnen mitgetheilten Lieder auf das willfürlicfte
um, laffen aus und dichten hinzu, begehen in ihren Quelfenanga-
ben die wunderlicften Mißgriffe und find in ihrer Auswahl nichts
weniger als muftergültig. Dennoch ift das Wunderhorn ein epoche⸗
machendes Bud. Es ift der erfte Vorläufer der bahnbrechenden
Unternehmungen zur Erforſchung der deutſchen Volfsdihtung, wie
fie dann in den Werken der Brüder Grimm und Ludwig Uhland’s
ihren wiſſenſchaftlichen Ausdruck erhalten 2).
Im Beginn des Jahres 1808 unternahm Arnim in Berbind-
ung mit feinen Freunden die Herausgabe eines periobifhen Blattes,
das unter dem Titel: „Zeitung für Einfiebler“, vom 1. April bis
zum 30. Auguft 1808 Hei Mohr und Zimmer in Heidelberg er-
iHien. Das Ganze erhielt dann den Gefammttitel: Tröft Einfam-
kit, alte und neue Sagen und Wahrfagungen, Geſchichten und
Gedichte. Herausgegeben von Ludwig Achim von Arnim. — Hei-
belßerg — 1808. Das Blatt blieb auf einen nur Heinen Leſerkreis
beſchränkt, aber es ift eine ber reichſten Fundgruben für die Ans
fänge der neuen deutſchen Alterthumsſtudien. Hier gab J. Görres
ieine oben beſprochenen Unterfuhungen über den gehörnten Steg-
fried und die Nibelungen, hier werden wir bie Brüder Grimm
1) 1808, Nr. 283. 284. — 2) Schon Toren urtheilte nach beiden
Seiten Hin fehr verfländig über das Wunderhorn (S. deffen Zufäge zu ben
Rifeellaneen 1809). or allem aber vgl. man das Uriheil eines ber erſten
Kenner bes BVolfsliebs, Hoffmann's don Fallersleben, in dem oben angeführ⸗
ten Auffag über das Wunderhorn.
378 “ Drittes Bud. Drittes Kapitel.
einen Theil ihrer Erftlingsarbeiten nieberlegen ſehen; hier begegnet
und zuerft ein Mann mit dicteriien Beiträgen, der fpäter als
Dichter und als Forſcher eine der erften Stellen einnehmen follte:
Ludwig Uhland. Und das Alles reiht fi bier unmittelbar an die
altdeutihen Beitrebungen der älteren Romantiker an. Denn hier
theilt auch wieder Tieck, ben Arnim hoch verehrt 1), die Bruchſtüce
feiner Bearbeitung des Königs Mother mit. Den Uebergang der
alten in die neue Zeit bezeichnet ein Wort Arnim's: „Der blinde
Streit zwiſchen fogenannten Romantikern und fogenannten Claffis
tern endet ſich; was übrig bleibt, das lebt. Unſre Blätter werden
fi mit beiden und für beide beichäftigen. Man lernt das Eigen
thümliche beider Stämme wie in einzelnen Individuen erfennen,
achten, und ſich gegenfeitig erläutern und in feiner Entwickel ung er⸗
Tennen“ 2).
Driffes Kapitel.
Das Sehen und bie Arbeiten der Brüder Grimm Bis zum
Jahr 1819.
L Das eben der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819.
Kein Name fteht fo epochemachend im ber Gedichte der dent ⸗
ſchen Altertfumsmiffenfhaft, wie der Name der Brüder Grimm.
Die Werte Jacob Grimm’s bilden die Grundlage diefer Stubien,
und Wilhelm, fein Bruder, Hat nicht nur ſelbſt durch eine Reihe
muftergültiger Arbeiten unfere Wiſſenſchaft bereichert, fondern fein
ganzes Dafein iſt mit dem bes älteren Brubers fo innig verwachſen
daß fih auch deſſen Erfheinung ohne die Gemeinſchaft mit ihm gar
nit denken läßt. — Ueber das Leben ber beiden Brüber find wir
buch fie ſelbſt unterrichtet. Jeder von ihnen bat nämlich feine
eigene Lebensbeſchreibung in bie „Örundlage zu einer Heſſiſchen
1) Zeitung für Einfiebfer 1808, 14. Mai, Sp. 100. — 32) Zeitm
für Einfiedler 1808, 26. April, Sp. 58.
Des Leben und bie Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 879
Gelehrten, Schriftſteller / und Künftler ⸗Geſchichte vom Jahre 1806
bis zum Jahre 1830 von 8. W. Juſti, Marburg 1831” geliefert;
amd außerdem befigen wir von dem überlebenden älteren Bruder
eine leider unvollendet gebliebene „Rede auf Wilhelm Grimm“ ')
mb von beiden Brüdern noch mande andere gelegentliche Mit-
teilung über ihre Erlebniffe.
Wenn bei allen Menſchen mehr, als die Meiften willen, auf
die Eindrüde der Kindheit ankommt, fo war dies in ganz befon-
derem Maß bei den Grimm der Fall. Ihr ganzes Wefen, ihre
ganze Lebensaufgabe wurzelte in den Eindrüden und Erinnerungen
isrer Jugend. Ich bin der zweite Sohn meiner Eltern, fo er-
Alt uns Jacob (Ludwig Karl) Grimm ?), und zu Hanau
4. an. 1785 geboren. Mein Bater wurde, als ich ohngefähr jechs
Jahre alt war, zum Amtmann nad Steinau an ber Strafe, feinem
Geburtsort, ernannt, und in biefer wiejenreihen, mit ſchönen
Bergen umkränzten Gegend ftehen die Iebhafteften Erinnerungen
meiner Kindheit. Aber allzufrüße fon, den 10. Jan. 1796, ftarh
der Vater.“ „Er war ein höchſt arbeitjamer, ordentlicher, Tiebe-
voller Mann; feine Stube, fein Schreibtiſch und vor allem feine
Schränke mit ihren fauber gehaltnen Büchern, bis auf die roth
md grünen Titel vieler einzelnen darunter find mir leibhaft vor
Augen. Wir Gejhwifter wurden alle, ohne daß viel davon die
Rede war, aber durch That und Beifpiel ftreng reformiert erzogen;
ntheraner, die in dem Mleinen Landſtädtchen mitten unter uns, ob⸗
gleich in geringerer Zahl, wohnten, pflegte ih wie fremde Men-
Ken, mit denen ich nicht recht vertraut umgehen dürfte, anzujehen,
und von Katholiken, die aus bem eine Stunde weit entlegenen
1) Herausgegeben von Herman Grimm mit ber Mebe über das Alter.
Berlin 1863. Wieder abgebrudt in: Kleinere Schriften von Jac. Grimm,
1, Berlin 1864, 8. 163 fg. Ebend. I, 1 fg. Jac. Grimm’s Gelbfio:
grapfie. Ich citiere nach ben erſten Ausgaben. — 2) Juſti ©. 148. Wo
id im weiteren Berfolg dieſes Abſchninss Jacob oder Wilhelm Grimm’s
Worte anführe ohne Himufägung eines Gitats, find dieſelben aus Juſti
©. H3—188 genommen.
380° Drittes Buch. Drittes Kapitel,
Salmünfter oft durchreiſten, gemeinlich aber fon am ihrer bun⸗
teren Tracht zu erfennen waren, machte ih wohl mir ſcheue, ſelt⸗
fame Begriffe. Und noch jegt ift es mir, als wenn ich mur in
einer ganz einfachen, nad) veformierter Weife eingerichteten Kirche
recht won Grund andächtig fein könnte; fo feſt hängt ſich aller
Glaube an die erften Eindrüde ber Kindheit, die Phantafie weiß
aber auch leere und ſchmuckloſe Räume auszuftatten und zu bele
ben, und größere Andacht ift nie in mir entzündet geweſen, als
wie ih an meinem Confirmationstage nach zuerft empfangenem
heiligem Abendmahl auch meine Mutter um den Altar der Kirde
gehen fah, im welcher einft mein Großvater auf der Kanzel geftan-
den hatte. Liebe zum Vaterland mar uns, ich weiß nicht wie, tief
eingeprägt; denn geſprochen wurde eben aud nicht davon, aber es
war bei den Eltern nie etwas vor, aus dem eine andere Geſinn⸗
ung beroorgeleuchtet hätte. Wir hielten unfern Fürften für den
beten, ben es geben könnte, unfer Land für das gefegnetfte unter
allen. — Mit einer Art von Geringſchätzung fahen wir z. B. auf
Darmftädter herab."
Ein Jahr fpäter als Jacob, am 24. Februar 1786 wurde
gleichfalls noch in Hanau fein jüngerer Bruder Wilhelm (Karl)
geboren. Die beiden Knaben, an Alter fo wenig unterſchieden,
wuchſen in innigfter Gemeinfhaft auf. Ihren erften Unterricht er-
hielten fie von einer älteren Schweſter ihres Vaters, einer finder
loſen Wittwe, bie in ihrer Nähe wohnte. Die Tante, eine ver
ftändige, wohlmeinende, aber ernfte und fehr entſchiedene Frau,
Hatte eine Vorliebe für Jacob, ohne jedoch minder theilnehmend
für die übrigen Gejchwifter zu fein. Jacob äußerte feine natür-
lichen Anlagen auffallend früh. Er konnte fon Iefen, bevor ar
dere Kinder anfangen zu lernen. Uber in dem Heinen Steinau
war für den Unterricht der Knaben nur wenig zu holen. Das
Vermögen der Mutter war ſchmal und fie hätte die ſechs Kinder,
die ihr Mann ihr Hinterlich, als er am 10. “an. 1796 ftarh, nur
ſchwer aufziehen fünnen, wenn nicht eine ihrer Schweftern, die bei
der damaligen Landgräfin von Heffen erſte Kammerfrau war, fie
treulich unterftügt hätte. Diefe ließ Jacob und Wilhelm im Jahr
Das eben unb bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 381
1798 1) nad) Kaffel kommen und in Koft geben, damit fie fih auf
dem dortigen Lyceum ausbilbeten. Die Schule hatte damals einige
nicht untüdhtige Lehrer, erhob fi aber doch nicht über eine gewiffe
Mittelmößigfeit. „Der Unterriät, wie er damals auf diefer gut-
fimbierten Schule im Ganzen ertheilt wurde, fagt Jacob Grimm,
iſt mic hernach in mancher Beziehung mangelhaft vorgefommen.
E wurde viel Zeit mit Stunden über Geographie, Naturgeſchichte,
Anthropologie, Moral, Phyſik, Logik und Philofophie (was man
Ontologie nannte) meift nad Ernefti initia doctrinae solidioris
vertfan und dem philologiihen und hiſtoriſchen Unterricht, welche
die Seele aller Jugenderziehung auf den Gymnaſien fein müffen,
abgebrochen.“ Bu ben täglichen ſechs Unterrictsftunden auf der
öffentlichen Schule traten dann noch täglich vier bis fünf Privat-
funden: eine kaum zu ertragende Arbeitälaft. Beide Brüder zeig-
ten ſchon auf der Schule einen eifernen und höchſt erfolgreichen
Fleiß. Aber die übermäßige Arbeit wirkte nachtheilig auf Wil-
helm's Gefundheit. In dem blühenden, raſch aufgewachſenen Jüng⸗
ling entwickelte ſich ein beängſtigendes Bruſtleiden, das ihn zeitle-
bens nicht wieder verließ. Aber „unmittelbar in der Schwächung
des Leibs fühlte ſich fein Geift gefräftigt und früher als gewöhnlich
veifend, Gebuld und Gleihmuth fachten jeine Lebenshoffnung un
ausgefegt an, gaben feinen Gedanken Schwung und flößten ihm
Feinheit des Nachſinnens, Takt der Beobachtungen ein. Was er
damals dachte oder niederſchrieb, würde er auch fpäter noch ebenſo
gedacht und geſchrieben Haben, feiner Ausbildung war aller Sprung
benommen und ein förderndes Ebenmaß verliehen. Um dieſe Zeit
las er nicht allein zur Schonung und Erleihterung, fondern aus
1) 1799 nad Wilhelm's Angabe (Juſti ©. 169), nah Jacob (Juſti
6. 149) 1798. Aber trogdem, daß Wilhelm feine Biographie fpäter ges
hörieben und dabei bie Jacob's vor Augen gehabt hat (Zufti S. 169), ver:
dient Jacob's Bericht den Vorzug, ba fonft alle folgenden von Jacob bis in’s
Eingelmfte verzeicäneten Angaben verrüdt und das Ganze mit dem feſtſtehenden
Endpunkt: Savigny's Reife nach Paris im Sommer 1804, nicht flimmen
Würde,
382 Drittes Bud. Drittes Kapitel,
innerem Trieb umfere großen Dichter und war gleich entſchieden
Goethen zugewandt, während id, der weniger anhaltend im Zur
fammenhang leſen konnte, erft mehr von Schiller eingenommen,
nad und nad au von jenem ergriffen wurbe* 1).
Im Frühjahr 1802 bezog Jacob Grimm die Univerfitit Mar
burg, ein Jahr früher als Wilhelm, der um dieſe Zeit lange und
gefährlich kränkelte. „Die Trennung von ihm, fagt Jacob, mit
dem ich ſtets in einer Stube gewohnt und in einem Bett geichlafen
hatte, gieng mir fehr nahe; allein es galt, ber geliebten Mutter,
deren Vermögen faft zuſammengeſchmolzen war, durch eine zeitige
Beendigung meiner Studien und den Erfolg einer gewünſchten An
ftellung einen Theil ihrer Sorge abnehmen und einen Heinen Theil
der großen Liebe, bie fie uns mit der ftandhafteften Selbftwerläug-
nung bewies, erjegen zu können. Jura ftubierte ih hauptſächlich,
weil mein feliger Vater ein Jurift gewefen war und es bie Mutter
fo am liebſten Hatte.“ „Zu Marburg mußte ich eingeſchränkt leben;
es war uns, aller Verheißungen ungeachtet, nie gelungen, die ger
ringſte Unterftügung zu erlangen, obgleih die Mutter Wittwe eines
Amtmanns war, und fünf Söhne für den Staat groß 309."
„Doch hat es mid; nie geſchmerzt, vielmehr habe ich oft hernach
das Glüd und aud die Freiheit mäßiger Vermögensumftände em-
pfunden. Durftigkeit fpornt zu Fleiß und Arbeit an, bewahrt vor
mander Zerftreuung und flößt einen nicht uneblen Stolz ein, den
das Bewußtſein des Selbftverbienftes, gegenüber dem, was Andern
Stand und Reichthum gewähren, aufrecht erhält. Ich möchte for
gar die Behauptung allgemeiner faſſen und Vieles von dem, was
Deutſche überhaupt geleiftet haben, gerade dem beilegen, daß fie
fein reiches Volt find. Sie arbeiten von unten herauf und
brechen ſich viele eigenthümliche Wege, während andere Völter mehr
auf einer breiten, gebahnten Heerſtraße wandeln.“
In Marburg hörte Jacob Grimm die gewöhnlichen juriſtiſchen
und einige philofophiie Collegia. Die freiere Art des Stubierens,
die damals noch auf den deutſchen Univerfitäten herrſchte, fagte ihm
1) Jacob Grimm, Rebe auf Wilhelm Grimm, Berlin 1868, S. 3 fg
Des Leben und bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 888
fer zu. Auch in fpäteren Jahren hat er fih gegen das viele Ein-
greifen des Staats in die Auffiht der Schulen und Uninerfitäten
erflärt. „Es entfpringt aus den vielen Studienvorſchriften, jagt
a, wenn fie durchzuſetzen find, einförmige Negelmäßigfeit, mit
welder der Staat in ſchwierigen Hauptfällen doch nicht berathen
it“ Im Durchſchnitt betreten jegt die Schüler die Afademie mit
grünbliheren Kenntnifjen, als vormals; aber im Durchſchnitt geht
dennoch daraus eine gewiſſe Mittelmäßigfeit der Studien hervor.
& ift Alles zu viel vorausgefehn und vorausgeordnet, aud im
Kopf der Studierenden. Die Arbeit des Semefter3 nimmt unbe
wußt ihre Richtung nad) dem Examen.“
Unter ben Profefforen, bei denen Jacob Grimm in Marburg
hörte, zog ihn der muntere und gelehrte Vortrag des Nomaniften
Weis an. Aber nit mit den Anderen zu vergleichen und geradezu
epochemachend in Grimm's Leben war feine Begegnung mit Sa
vigny. Wir werben den erft allmählich veifenden Einfluß, den der
große Gründer ber hiſtoriſchen Juriſtenſchule auf Grimm’s gelehrte
Arbeiten gehabt hat, fpäter no im Beſonderen darlegen. Hier
ſprechen wir nur von ben perſönlichen Beziehungen zwiſchen ben
beiden ausgezeichneten Männern. Savigny, geboren im Jahr 1779,
alſo kaum ſechs Jahr älter als Jacob Grimm, ftand damals
in den friſchen Anfängen feiner großartigen Lehrthätigkeit. „Was
lann ich aber, heißt es in Jacob Grimm's Seldftbiographie, von
Savigny's Borlefungen anders fagen, als daß fie mid auf's ge»
waltigfte ergriffen und auf mein ganzes Leben und Studieren ent-
iGiedenften Einfluß erlangten? Ich hörte bei ihm Winter 1802
bis 1808 juriſtiſche Methodologie, fowie Inteſtaterbfolge (das im
Sommer 1802 von ihm gelejene teftamentarifhe Erbreht wurde
aus Heften anderer Studenten abgeſchrieben und nachgeholt); Som-
mer 1803 römische Rechtsgeſchichte, Winter 1808 —4 Inſtitutionen
und Obligationenrecht. Im Jahr 1803 war das Bud) über den Ber
fig erſchienen, welches begierig gelefen und ftubiert wurde.“ Nach—
dem faft ein halbes Jahrhundert feit jener erften Begegnung ver-
floffen war, im Detober 1850, ſchildert ung Grimm in der Feſt⸗
384 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
fhrift, die er zu Savigny's fünfzigjährigem Doctorjubiläum fchrieb,
fein Marburger Verhältniß zu feinem großen und geliebten Lehrer.
Er hebt da zwei Bilder aus ihrem Bufammenleben heraus, das
eine aus ber frühften Marburger, daS andere, das uns hier noch
nicht berührt, aus der fpäteften Berliner Zeit. „Das erſte Bild,
fagt er, fällt in irgend einen Sommertag des Jahrs 1803. Zu
Marburg muß man feine Beine rühren und Treppe auf, Treppe
ab fteigen. Aus einem Heinen Haufe ber Barfüßer Straße führte
mich durch ein ſchmales Gäüßchen und den Wendelftieg eines alten
Thurms der tägliche Weg auf den Kirchhof, von dem ſich's über
bie Dächer und Blütenbäume fehnfühtig in die Weite ſchaut, da
war gut auf und ab wandeln, dann ftieg man an ber Mauerwand
wieder in eine höherliegende Gaſſe vorwärts zum Forſthof, wo
Profeſſor Weis noch weiter hinauf wohnte. Zwiſchen deſſen Be
eich und dem Hofthor unten, mitten an der Treppe, klebte wie ein
Net ein Nebenhaus, in dem Sie Ihr Heiteres, forgenfreies und
der Wiſſenſchaft gewidmetes Leben lebten. Ein Diener, Namens
Bake, öffnete und man trat in ein nicht großes Bimmer, von dem
eine Thür in ein noch Heineres Gemach mit Sopha führte. Hell
und fonnig waren die Räume, weiß getüncht die Wände, tännen
die Dielen, die Fenſter gaben in’s Gießer Thal, auf Wiejen, Lahn
und Gebirg buftige Ausſicht, die ſich zauberhafter Wirkung näherte,
in den Senftereden hiengen eingerahmt Kupferftie von J. ©.
Wille und Baufe, an denen ich mich nicht fatt fehen Tonnte, ſo
freute mid; deren ſcharfe und zarte Sauberkeit. Doch nod viel
größeren Reiz für mid hatten die im Zimmer aufitrebenden Schränte
und im ihnen aufgefteliten Bücher, deren ich Bisher außer Schul
bücdern und des Vaters Hinterlaffenfhaft nur wenige kannte. Ein
zelne Reihen folgten unſrer gewöhnlichen Ordnung, bei andern
war fie umgelehrt, wie man hebräiſch ſchreibt von dev Rechten zur
Linken, und id hörte Sie bie Verdrehung, deren Nothwendigleit
mir nicht einleuchten wollte, erklären und vertheidigen. Man burfte
auf die Leiter fteigen und näher treten. Da belamen meine Augen
zu ſchauen, was fie noch nie erblidt Hatten, Sch entfinne mid,
Das Leben und die Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 385
von ber Thür eintretend an der Wand zur reiten Hand ganz
hinten fand fid auch ein Quartant, Bodmer’3 Sammlung der Minne⸗
fieder, den ich ergriff und zum erftenmal aufihlug, da ftand zu
lien her Jacob von Warte’ und ‘her Kristan von Hamle’,
mit Gediten in ſeltſamem, Halb unverftänblihem Deutſch, das
erfüllte mich mit eigner Ahnung, wer hätte mir damals gejagt,
id würde dies Buch vielleiht zwanzigmal von vornen bis hinten
durchleſen und nimmer entbehren. Bei Ihnen prangte es unnüß
auf dem Brett, Sie haben es ficher mie gelefen, damals aber getraute
meine feimenbe Neigung no nicht, es von Ihnen zu entleihen;
doch blieb es fo feft in meinen Gedanken, daß ich ein paar Jahr
hernach auf ber Pariſer Bibliothek nicht unterließ, die Handſchrift
zu fordern, aus welcher es gefloffen ift, ihre anmuthigen Bilder
zu betrachten und mir fhon Stellen auszuſchreiben. Solde An-
blice Hielten die größte Luft in mir wach, unfere alten Dichter ge
nau zu leſen und verftehn zu lernen. Was rede ih aber von den
Büchern, nicht von dem Mann, dem fie gehörten, deſſen Worte
mid noch mehr ermahnten und heimlich ermunterten als was id)
leſen fonnte? Groß war er gewachſen, damals noch ſchlank, trug
grauen Oberrod, braune blauftreifige Seidenweſte, fein dumfles Haar
hieng ihm ſchlicht herunter, das heute noch die Farbe hält, während
meine brammen Traufen Loden fih ſchon gebleiht Haben. Diejes
lehreuden Mannes freundlihe Zurede, handbietende Hilfe, feinen
Auftand, Heiteren Scherz, freie ungehinberte Berfönlichkeit Tann ich nie
vergefien, wie ftand er vor uns auf dem Katheder, wie biengen wir
an feinen Worten. Meine erfte eingelieferte ſchriftliche Arbei
hatte einen Fall der Collation bei ber Inteſtaterbfolge zu behan«
deln, wollen Sie wiffen, wie die Worte Yauteten, mit welden Sie
mich bewetheilten? Ich Tann fie immer noch auswendig: “nicht
nur volffommen richtig entichieben, fondern auch fehr gut darge
fell” So günftig hat mid nachher fein andrer Mecenfent loben
mögen.” Wenn ich friſchen Athem bei Ihnen gefhöpft Hatte, und
ich mid, ih wußte kaum wie, aus den Schranken gehoben fühlte,
in denen meine ganze Art vorhin Befangen war, ſchritt ich frohge⸗
mut, über Stod und Stein fpringend die Stufen Sinab nad Haus
Reumer, Gef. der gem. Phuclogie.
386 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
in mein Meines Stübchen. Damals Tag meine Seele offen wor
Zonen, ih hätte Ihnen Alles vertrauen können“ ?).
Ein Jahr, nachdem er felbft die Umiverfität bezogen hatte,
holte Jacob Grimm feinen Bruder Wilgelm nah Marburg ab.
Beide Brüder beſuchten fo ziemlich die gleichen Collegia, und auf
Wilhelm erfuhr einen tief greifenden Einfluß von Savigny’3 Lehre
und Umgang. — m Yanuar 1805 machte Savigny, der auf der
Barijer Bibliothek mit ben Vorſtudien für fein berühmte Wert
über die Geſchichte des römiſchen Rechts im Mittelalter beſchäftigt
war, Jacob Grimm den Vorſchlag, ungejäumt nad) Paris zu Tom
men, um ihm dort bei jeinen literariihen Arbeiten zu helfen.
Grimm befann fi nit lange. Nachdem er die Erlaubniß zur
MReije bei jeiner Mutter brieflid) eingeholt, traf er Anfangs Februar
glüdlih in Paris ein. Die Mutter machte ſich mande Sorge
„Ich befand mich aber, jagt Jacob Grimm, vortrefflih aufgehoben,
uud verlebte das Frühjahr und den Sommer auf die angenehmite
und Ichrreicjte Weile. Was ich von Savigny empfieng, übermog
bei weiten die Dienjte, die ich ihm Leiften konute, durch eine öffent
liche Anerkennung derjelben in der Vorrede zum erjten Bande der
Geſchichte des römijchen Rechts hat er mir viele Jahre nacher die
größte Freude zubereitet. Auch ift ein ununterbrochen fortzejegter
Briefwechſel die Folge uuferer näheren Belanntigaft geweſen
Sepiemper 1805 wurde bie Heimreije amgetreten umd (Ende de
Monats traf ih mit Wilhelun, den ich zu Marburg mitgenommen
hatte, gefund und vergmügt bei der Mutter in Kaffel ein, bie um
terdefien, damit fie ihr Alter in ihrer Kinder Mitte ruhig verleben
Bunte, aus Steinau mad Kaſſel geogen war. Um meine Au
ſtelung wurde fi mm noch denſelben Winter beworben. Jqh
mwänjcte Aſſeſſor oder Gecretär bei der Megierung zw werben, aber
Alles war veriperrt, und mit genauer Roth erlangte id) endlich den
Acceß beim Secretariat des Kriegscollegiums und 100 Aıhlr. Ge
halt (ohngefäge Januar 1806). Die viele und geiftlofe Arbeit
1) Das Wert deo Veſibes, eine Mnguiflifhe Abhandlung von D. I-
Cimm, ( In: Kleinere Schriften von J. Grimm, Erster Bd. 8. 115 fg)
Des Leben und bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. WER
mollte mix wenig ſchmecken, wenn ich fle mit der verglich, die ich
ein Vierteljahr vorher zu Paris verrihtete, und gegen bie hemmo-
diſhe Pariſer Kleivung mußte ich in fteifer Uniform mit Puder
und Zopf fteden. Dennod war ich zufrieden und ſuchte alle weine
Rufe dem Studium der Literatur und Dichtkunſt des Mittelalters
auumenben, wozu die Reigung aud in Paris durch Benutzung
und Anficht einiger Handſchriften, fo wie durch den Ankauf feltmer
Büger angefacht worden war. Auf diefe Weiſe verftrich nicht valig
ein Jahr, als ungeahnte Stärme über unſer Vaterland berein-
brachen, vie auch mich beiveffen und aus dem kaum betretenen
Wirtungskreiſe ſtoßen follten.” Das Jahr 1806 Tieferte das heſ⸗
füge Land in bie Hände der Franzoſen. Im Frühjahr 1806 1)
dette and Wilhehn fein Examen beftanden und wahrſcheinlich Hätte
w im Laufe des Jahrs eine Anftellung erhalten, wenn nit das
. ab vom den Franzoſen wäre überzogen worben.
Auch in Jacob's Schiefal griffen die Stürme, die im est
1806 über Norddeutſchland hereinbrachen, entfheidend ein. „Gleich
ua der feindlichen Occupation, fo erzählt ir ung, verwandelte
fih das Departement bes Kriegscollegiums, wobei ih den Dimft
uverfehen Hatte, in eine für’ ganze Rand errichtete Truppenverpflege
ungecommiſſton. Mit der franzöſiſchen Sprache Tonnte ich mir
beſſer als bie Uebrigen Hekfen, und ein großer Theis ber Läftigen
Geſchaſte fiel auf meine Schultern, fo daß id ein halbes Jahr lang
meer Tag noch Abend Ruhe Hatte. Müde, mid mit den franzd»
ſiſhen Commiſſärs und Berwaltungsbeamten, die uns damals Aber
qweunnten, Länger zu befafien, und feit entſchloffen, bei der aen ⸗
besorfiehenden Organiſation um keinen Preis im dieſem Fach an⸗
wetelit zu bleiben, xahm ich, fo bald es angieng, meine Entlaſſung,
fand mich num aber eine Zeitlang wieder außer Dienſten und um ⸗
fühiget als vorher, zur Erleichterung der Muttet and der Geſchwiſter
beizutragen. Ich glaubte um einen Poſten bei ber oͤffentlichen
i W. Grimm in feiner Selbſibiogtaphie (bei Juſti S. 171) ſagt: 1807
Aber der ganze Zuſammenhaug ergibt, daß es 1806 heißen muß.
2*
888 Drittes Buch. Drittes Kapitel.
Bibliothek in Kaſſel werben zu können, da ich mich theils in dad
Leſen von Handſchriften eingeübt, theils buch Privatftubien mit der
Geſchichte der Literatur vertrauter gemacht Hatte, auch wohl fühlte, daß
ich in biefem Fade größere Fortſchritte thun würbe, während mir
bie Erlernung des franzöſiſchen Rechts, in das ſich unfere Juris
prubenz zu verwandeln drohte, ganz verhaft war. Allein die ge
wůnſchte Stelle wurbe einem Anbern zu Theil, und nachdem das
kammervolle Jahr 1807 vergangen und das neue mit ftets ger
tauſchten Ausfihten begonnen war, hatte ich bald den tiefften
Schmerz zu empfinden, ber mic in meinem ganzen Leben betroffen
hat. Den 27. Mai 1808 ftarh, erft 52 Jahr alt, die befte Mut
ter, an ber wir alle mit warmer Liebe biengen, und nicht einmal
mit dem Troſt, eins ihrer ſechs Kinder, die traurig ihr Sterbeben
umſtanden, verjorgt zu wiſſen. Hätte fie nur noch wenige Monate
gelebt, wie innig würbe fie ſich meiner verbefferten Rage erfreut
haben! Ich war durch Joh. von Müller's Empfehlung dem dama-
ligen Cabinetsjecretär des Königs Coufin de Marinville belannt
und als tauglich zur Verwaltung der Privatbibliothel, die in Wil-
helmshöhe aufgeftellt war, vorgefclagen worden. Es muß an an
dern begünftigten Mitbewerbern gefehlt haben, fonft wäre mir
ſchwerlich eine ſolche Stelle, wie es den 5. Juli 1808 wirklich ge
ſchah, zu Theil geworden. Meine Fähigfeit dazu war von Rie
mand geprüft. Die ganze Inſtruction des königlichen Cabinets⸗
ſecretärs beftand in den Worten: Vous ferez mettre en grands
caractöres sur la porte: Bibliothöque pärtieulidre du Roi. Iq
hatte mın alsbald 2000 Franken Gehalt, der ſich mad; einigen
Monaten, vermuthlih weil man mit mir zufrieden war, auf 3000
erhöhte. Nachdem wieder einige Zeit verfloffen war, Tünbigte mir
eines Morgens der König feloft an, daß er mich zum Aubiten
au Conseil d’ Fitat ernannt Habe, doch folle ich bie Bibliothel⸗
ftelle daneben und hauptſächlich befleiden (17. Febr. 1809). Das Amt
eines Aubitors beim Staatsrathe galt "damals für ein befonderes
Süd und führte leicht zu höheren Stufen. Da es überbem meine
Befoldung um 1000 %r. mehrte, fo genoß ich nun einen Gehalt von
über 1000 Reichsthaler, der ich ein Jahr zuvor feinen Pfennig bezogen
Das Leben unb bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 380
hatte, und alle Nahrungsforgen verſchwanden. Dabei war mein
Amt ala Bibliothelar Teineswegs Yäftig, ich Hatte mich Bloß einige
Stunden im ber Bibliothel oder im Cabinet aufzuhalten, konnte
auch während dieſen nach Beforgung des neu Einzutragenden ruhig
für mich leſen ober excerpieren. Bücher oder Nachſuchungen von
Büchern wurden vom König nur felten verlangt, an Andere wurbe
aber gar Nichts ausgeliehen. Die ganze übrige Zeit war mein,
ih verwandte fie faſt unverkümmert auf das Stubium der altdeut⸗
ſchen Poeſie und Sprache.“ Der Staatsrath machte fo gut wie
gar feine Mühe. Der König benahm ſich jeberzeit anftändig und
freundlich gegen Grimm. Mande widrige Zufälle, welche die Heine
Grimm unterftellte Bibliothek betrafen, wurden leicht von ihm ver-
wunden. Auch Wilhelm lebte in jenen Jahren mit dem Bruder
vereint in Kaſſel.
Während fo die Brüber in der Stile fortnßeiteten und nur
von Zeit zu Zeit durch Heinere ober größere Beröffentlihungen
Kunde von ihren gründlichen Forfhungen gaben, knüpfte fih mande
für ihr geiftiges Leben jehr wichtige Verbindung. Wir haben ſchon
früger erzäßlt, wie die Brüder Grimm mit Arnim und Brentano,
den Herausgebern des Wirnderhorns und der Einfieblerzeitung, und
mit deren Freunden in einen regen geiftigen Verkehr traten 1).
Bald follten fie durch die Gediegenheit ihrer Studien ber wiſſen⸗
ſchaftliche Kern diefes ganzen Kreiſes werben. .
Nach der Rückehr des alten Kurfürſten gegen Enbe des Jah⸗
res 1813, bie einen unbeſchreiblichen Jubel erregte, wurde Jacob
Grimm am 23. December 1813 zum Legationsfecretär ernannt, um
den heſſiſchen Gefanbten, einen Grafen Keller, in’s große Haupt»
quartier der verbündeten Heere zu begleiten. So kam Grimm,
nachdem er vom Januar an die Hin⸗ und Herzüge des biploma-
tiihen Hauptlagers mitgemacht Hatte, im April 1814 zum zweiten.
mal nach Paris. „Unterwegs, erzählt er, hatte id; nicht verfäumt,
alle Bibliothelen zu beſuchen, und jeber freie Augenblid in Paris
wurde genußt, um in den Handſchriften zu arbeiten." „Im Som⸗
16. 0. ©. 974,
290 Drittes Bud. Drittes Kapiul.
mer trat ich bie Rückreiſe nach Kaſſel an und räftete mich balb von
neuem zu ber Fahrt nach dem Wiener Congreß. In Wien brachte
ich zu von Octaber 1814 bis Juni 1815, eine Zeit, die auch für
weine Privatarkeiten nit nutzlos verftrih und mir Belanntjſchaft
mehrerer gelehrten Männer verfdaffte Won befonderem Vorteil
für meine Studien war, daß ich mi damals auch mit der ſladi⸗
fen Sprade anfieng befannt zu machen.“ „Kaum war ich zu ben
Geſchwiſtern wach Kafjel Heimgelehrt, als mid, und diesmal eine
Requiſition der preußifchen Behörde, in das zum zweitenmal eroberte
Paris rief, ich follte die aus einigen Gegenden Preußen’s ge
sgubten Handſchriften ermitteln und zurüdverlangen, nebenbei aud
einige Geſchäfte des Kurfürſten beforgen, ber in dem Augenblid
Teinen Bevollmächtigten dort hatte. Zwar jener Auftrag bradte
mid in ein unangenehmes Verhältniß zu den Parifer Bibliothelaren,
bie mich früher fehr gefällig behandelt Hatten. Jetzt aber wurde
einmal Langlds, den id) befonders drängte, fo Bitter, daß er mir
nicht mehr geftatten wollte, auf der Bibliothek zu arbeiten, was ih
ia Nebenftunden immer zu thun fortfuhr; nous ne devons plus
souffrir ce Mr. Grimm, qui vient tous les jours travailler ici
et qui nons enlöve pourtant nos manuserits, fagte er öffentlid.
Ich machte die Handſchrift, die ih eben auszog, zu, gab fie zurüd,
und gieng nicht mehr hin, um zu arbeiten, fondern nur um zu
beenbdigen, was mir aufgetragen worben war.“ „Erft im Decem-
ber giengen meine Geſchäfte glüclich zu Ende, und ich empfieng
fäter zu Kaſſel ein Schreiben bes Fürſten von Hardenberg
(81. Auguſt 1816), das mir die Zufriedenheit mit meiner Verrich⸗
tung bezeugte.“ Nach jeiner Rückehr erreichte Jacob Grimm einen
ſchon Lange gehegten Wunſch, er wurde (den 16. April 1816) zum
zweiten Bibliothefar an der Kaffeler Bibliothek ernomnt, an der
fein Bruder Wilhelm bereits ſeit dem 15. Febr. 1814 als Biblio
thelsfecretär angeftellt war.
DI. Die Arbeiten der Srüder Grimm in der erſten Periode, ihrer
Cpätigkeit 1807 bis 1819.
Wir Haben gefehen, wie die Brüder Grimm, Jacob ber ältere
Des eben und bie Mebeiten ber rüber Grimm bis zum Jahr 1819. 801
und Wilhelm ber jüngere, in inniger Herzenagemeinſchaft mit ein
ander aufwuchfen, wie fie dann beide auf der Univerfitit Marburg
dem Stubium der Rechtswiſſenſchaft oblagen und von dem größten
Rechtslehrer feiner Zeit, Savigny, tiefgehende Anregungen empfien-
gen, und wie fie endlich auch nad Vollendung ihrer Univerjitäts-
jahre mit geringen Unterbrechungen in Kaſſel zufammen lebten und
zuſammen arbeiteten. Und e8 war num nicht mehr bloß das Zuſam⸗
menleben. ſich herzlich Tiebender Brüder, fondern fie waren zugleich
verbunden durch die gemeinfame Lebensaufgabe, die ihr ganzes
Daſein erfüllte: Die Erforſchung des deutſchen Altertfums. Bon
gleicher Liebe zu dieſen Studien waren Beide ergriffen und Einer
arbeitete dem Anderen in bie Hände; ja es herrſchte eine folde
Gemeinſchaft des Geiftes und Herzens zwiſchen ihnen, daß fie einen
großen Theil ihrer Arbeiten gemeinfam als „die Brüder Grimm"
vollendeten und der Dejfentlichteit übergaben. Bei mehr unter
geordneten, auf bereits geebneter Straße einherſchreitenden Leiſtungen
hat man ein ſolches Zufammenarbeiten wohl öfter geſehen; aber
bei wahrhaft bahnbrechenden und [höpferiihen Werken zeugt es nicht
nur von einer Gemeinfamkeit der Gefinnung, fondern auch von
einer Reinheit des Herzens, wie man fie felten findet.
So nahe fi nun aber dur Verwandtſchaft der Begabung
und des Strebens die beiden Brüder ftanden, und fo ſehr fie diefe
Gemeinfamkeit durch das herzlichſte wechjelfeitige Wohlwollen pfleg⸗
ten, fo zeigt ſich doch andrerſeits gleih von ihrem erften Auftreten
an auch die große Verjchiedenheit ihrer Naturen. Wir werden
lpäter, wenn wir die beiden Männer in ihrer vollen Reife vor
ung jehen, diefen Gegenfag zu ſchildern fuchen und weiſen hier nur
vorläufig auf denjelben Fin, um daran die Bemerkung zu nüpfen,
daß die Brüder auch in biefer erften Periode ihres Auftretens
einem richtigen und gefunden Gefühl folgten, wenn fie die Gcmein-
famfeit nit für alle ihre Arbeiten zu erzwingen ſuchten, fondern
mr einen Theil derſelben gemeinfam, andere dagegen getrennt und
jder für ſich ausführten.
392 Drittes Buch. Drittes Kapitel,
Jacob Grimm's Arbeiten von 1807 bis 1811. Das erſte
dffentlige Auftreten Jacob Grimm’s.
Mehrere Jahre fon bevor Jacob Grimm fein erftes Buch
veröffentlichte, betheiligte er ſich als Beurtheiler fremder Leiftungen
und mit hırzen felbftändigen Abhandlungen an gelehrten Zeitichriften.
Es waren zwei ſüddeutſche Blätter, in denen er feine gründlichen
Benterfungen niederlegte: Der zu Münden erſcheinende Neue
literariſche Anzeiger und die Heidelbergiſchen Jahrbücher ber Litera-
tur. Und zwar hat das genannte Münchner Blatt die Ehre, die
erſte Arbeit Jacob Grimm's in feinen Spalten veröffentlicht zu
haben. Im Jahrgang 1806 des Neuen literarifgen Anzeigers
hatte Docen aus der Fülle feiner Gelehrfamfeit „Marginalien*
geliefert zu dem früher erwähnten 1) Buch des jüngeren Adelung
über die altdeutſchen Gedichte, welche aus der Heibelbergifcen
Bibliothek in die Vaticanifhe gelommen find %. Antnüpfend an
diefe Marginalien Docen's gibt der zwei und zwanzigjährige Jacob
Grimm in dem Blatt vom 17. März 1807 des Neuen literariſchen
Anzeigers „Bemerhmgen* über Fr. Adelung's angeführtes Buch. Mit
dem beredtigten Selbftbewußtjein und der vollen Ueberlegenheit,
welde den fünftigen Meifter afnen läßt, tritt er im die Bahr.
- Docen, meint er, hätte ein beftimmteres Urtheil ausiprechen follen
- über dies umkritifche Buch, das zu einem lebhaften Mufter dienen
könne, wie mar Manuffripte nicht zu benugen bat. Und an biefen
geharniſchten Eingang knüpft ſich dann eine Reihe von Berichtigungen
und Zufägen zu dem Adelung'ſchen Bud, die fofort den gründlichen
Gelehrten und ſcharfſinnigen Forſcher verrathen.
Eine zweite größere Arbeit: „Ueber das Nibelungen Liet',
die J. Grimm im Neuen literariſchen Anzeiger vom 14. und
21. April 1807 veröffentlichte, führt ihn mitten in eine der wid
tigften Fragen unferer, ganzen Literaturgeſchichte, indem fie zuerft
1) 8.0. 8.263, — 2) Neuer literar. Anzeiger 26. Aug. und
16. Sept. 1806. Wieder abgebrudt und vervollftänbigt in Docen’s Miscel-
laneen, Bd. II, München 1807, 8. 124—170.
Das Lehen unb die Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 398
eine kritiſche Unterſuchung über den Text unſeres größten Epos
abahnt. Die einzige damals vorhandene "vollftändige Ausgabe
des Niselungenliedes war die Myller'ſche. Grimm's Urtheil über
biefe Ausgabe lautet dahin: „Der Myller'ſche Text ift zufammen-
gelegt ans zwei Manufcripten, ohne kritiſchen Werth, mit vielen
Defecten und Nadläffigfeiten abgebrudt; was aber alles Myller
nicht gewußt at.” Den erften Theil hat Myller, nad} feiner eige-
nen Notiz, aus der Hohenemfer Handſchrift erhalten, das Uehrige
aber abbruden laſſen aus Bodmer's Ausgabe von Chriemhilden
Rode, „doch fpricht er fo, als ob das eine Handiärift wäre.”
Aber Bobmer habe diefe Hälfte des Nibelungenlieds aus dem St.
Galliſchen Eoder genommen '). „Wird gefragt, welche Handſchrift
die ältere, fo dürfte für die Hohenemfifche 2) zu entſcheiden fein,
da, fo weit eine Bergleihung angeht, die Erzählung der andern
weitfäuftiger und mehr in's Anmuthige gehalten ift. Freilich ift
diefe vollſtändiger“ 3). Nachdem dann Grimm eine Anzahl einzel-
ner Defecte und Mißgriffe der Myller'ſchen Ausgabe namhaft ge-
macht hat, berichtigt er die grundfalſchen Vorftellungen über das
Nibelungenlied, die damals noch gang und gäbe waren, weil fie
ſich ſelbſt in ſonſt fo achtungswerthen Büchern fanden, mie Koch's
Compendium. So insbeſondere die Annahme, Konrad von Würz⸗
burg ſei der Verfaſſer des Nibelungenliebs. „Demnach“, ſchließt
Grimm feine bündige Widerlegung, „wäre ber Verfaſſer des Nibel⸗
ungen Liets unbelannt, wie es gewöhnlich bei allen Nationalge-
dichten ift und fein muß, weil fie dem ganzen Wolfe zugehören,
und alles Subjective zurüdjteht” . Ueber eine Tertausgabe, wie
1) Rict aus dem St. Galliſchen, fondern aus dem anderen Hohenemſer
Eoder (Lachmann's C) Hat Bodmer bie zweite Hälfte des Nib. genommen.
Da von dem Dafein biefes Goder um 1807 niemand eine Ahnung hatte, fo
lonnie natürlich auch Grimm nicht darauf Fommen. Erft im 3. 1812 Hat
3.9. v. der Hagen bie Sache hiſtoriſch aufgehellt. S. oben ©. 336 fg. —
9) D. 9. die jegt auf der Bibliothek zu München befindliche, ehemals Hohen»
anfifge; Lachmann’ A. — 3) Reuer liter. Anzeiger 1807, Sp. 227.
4) Chend. Sp. 230 fg.
— —
394 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
man fie wänfgen müffe, ſpricht Grimm fon Hier ſich fo aus:
„Bei den Mängeln ber Mylleriſchen Ausgabe ift es vor allem
nöthig, einen kritiſch berichtigten Tert zu Kiefern. Der Coder von
Hohenems ſcheint der älteſte; er ift aber defect, und am beiten
legte man ben zu St. Gallen zum Grunde. Aber höchſt intereffant,
fat nothwendig ift es, von andern Manuferipten Varianten, wo
fie beutend find, zu liefern. Es ift für die Geſchichte der Poeſie
äußerft lehrreich, zu fehen, wie dasſelbe Gedicht in dem Fortgange
der Zeit mobificiert und verändert wurde, eine Nüdficht, die man
vernachläſſigt und geglaubt Hat, daß das älteſte Manufcript ge
rabezu alle andern unnüg made“ 1).
Eine eingehende Beurtheilung von Hagen's und Büſching's
Deutſchen Gedihten des Mittelalters, die J. Grimm im Jahr
gang 1809 der Heidelberger Jahrbücher lieferte, zeigt ung, wie et
ſchon damals Hagen's Art und Weije gegenüber feine Stellung
nahm. Er verfagt zwar der Gelehrſamkeit und den anderweitigen
Berdienften der Herausgeber feine Anerkennung nicht, zugleich aber
bedt er aud die ſchwachen Seiten ihrer Leijtung mit aller Schärfe
auf?). Er führt dabei nicht nur die Unterſuchung über die Quel-
Ien der von Hagen und Büſching herausgegebenen Gedichte weſent⸗
lid weiter, fondern er zeigt namentlich aud in Bezug auf die Be
handlung ber Terte feinen überlegenen Scharffinn. Es tritt uns
gleich hier die verſchiedene Anficht entgegen, die Grimm von ber
Aufgabe des Herausgebers altdeutſcher Terte hegt. Die weitläufi-
gen Beſchreibungen aller Aeußerlifeiten der Handſchriften weilt er
zurüd. Dafür aber fordert er eine forgfältige und einfichtige Be
handlung der Texte, wozu die bloße Aufzeihnung aller Schreib
fehler und Nadläffigfeiten ber zufällig auf uns gekommenen jungen
und ſchlechten Handſchrift nicht genügt. Insbeſondere weift Grimm
nad, daß der Herausgeber das eigenthümliche Versmaß in dem
zweiten, hier mit Unrecht vorangebrudten Theil des Morolf* niht
ertannt hat, und zeigt, welche Bortheile zur Herftellung eines ver
borbenen Textes die Stellung der Reime in der Strophe bietet.
1) Ebend. Ep. 241. — 2) Heibelb. Jahrbücher ber Lit. 1809, Fünfte
Abtheilung, Zweiter Band, S. 148 — 164. 210 — 224. 249 —259.
Das Leben und die Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 805
Jocob Grimm's Streit mit Docen und Fr. H. von ber Hagen
über die Minnefänger und Meifterfänger.
Gleich in feiner erften veröffentlichten Arbeit, den Bemerk⸗
ungen zu Adelung's Nachrichten im Neuen literarifhen Anzeiger,
hatte Jacob Grimm den Wunſch ausgeſprochen, daß der Text des
Bartburgfriegs „einmal kritiſch conftitwiert und mit Begleitung
eines Commentars herausgegeben würde“, und zugleih den Ger
danken hingeworfen, daß man babei „vortrefflihe Gelegenheit ha-
ben würde, die fo verbreitete, als ungründliche, zum wenigſten
angründlich aufgefaßte Unterjheidung zwiſchen Minne- und Meifter-
gefang von Grund aus zu widerlegen” 1). Nicht lange darauf am
9. Juni 1807 veröffentlichte er in demſelben Blatt einen Aufſatz
unter Ver Ueberſchrift: „Etwas über ben Meifter- und Minnege—
fang“). Diefer kurze, kaum drei Spalten füllende Aufjag ift
höchſt harakteriftifch für Grimm's ganzes Wejen. „ES ift nicht viel
länger, fo beginnt er, als ein Jahr, daß ich mich mit dem Stu-
dium der altdeutſchen Poeſie und deren Geſchichte (welcher genauere
Lenntniß und Einfiht den Aufwand vieler Jahre erfordert) abge-
geben habe; was mir aber darin unter andern beſonders aufge-
fallen ift, war der unbeftimmte, fhranfende Unterjhied, den man
wilden Minne⸗ und Meiftergejang zu machen pflegt, und ber fi
in Compendien und bei jeder anderen Gelegenheit wieder findet.
36 dachte anfangs, es ließe ſich eine feſtere Grenzlinie zwiſchen
beiden Arten ziehen, bin aber darüber auf ganz andere Unterjud-
ungen und Reſultate gerathen. Und da neulich anderswo barauf
gedeutet worden ift, fo halte ich es nicht für unſchicklich, mich jet
darüber, wenn gleich kurz und ohne Beifügung der Beweiſe auszu⸗
laſſen und zu allenfallfigen Widerfprügen aufzufodern. Auch —
fo wie es Bilder gibt, welchen man wohl, ohne weitere Wiffen-
ſcaft vom abgebildeten Gegenftande, ihre Wahrheit anfehen kann,
fo bin ih faft der Meinung, man werde das hier Behauptete fo
1) Neuer Literer. Anzeiger 1807, 24. Märs. — 2) Gbend. 1807,
9. Im. «
396 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
wenig unwahrſcheinlich finden, daß ſich felbft in Jedes eigenem
Stubium überraſchende Beftätigungen bazu ergreifen laſſen mögen.
Sonft eigne ich mir überdem bei biefer Anſicht, ob ich fie fen
für nen Halte, ein deſto geringeres Verdienſt an, als fie mir gar
nicht ſchwer geworden ift, fonbern nad einigen angeftellten Be—
mühungen plöglih und lebhaft vor Augen geftanden Bat, gleih
einer Sache, die lang verfannt geweſen, wozu ich zwar nachher
genug Belege gefunden, fie felbft aber nicht aus zufanmengetragenen
Beweifen, wie ein mühfames Reſultat gezogen habe. Ich behaupte
alfo: Der gemachte Unterſchied zwiſchen Minne- und Meiftergefang
ift null und nichtig und (vielleicht alle) Minneſänger find ſelbſt und
recht eigentliche Meifterfänger geweſen.“ Dies ift ber Kern von
Grimm's Anfiht. Aus dem Folgenden heben wir nur noch her⸗
vor, was Grimm gleich hier über die relative Berechtigung jener
Unterfheidung äußert. „Wenn alfo der Unterſchied zwiſchen Min-
negefang und Meiftergefang wegfällt, fagt er, fo Kann man ben
nod treffend genug bie beiden zur Bezeichnung zweier Perioden in
der Geſchichte der Poefie fortgebrauchen, indem bie erfte ein Be
ftreben umfaßt, bie Natur und Wirkung der Liebe auf das menſch⸗
liche Gemüth und dag Ritterthum in den fünftlichften Formen und
bis zum Ermüden zu ſchildern (morin der völlige Verfall einer
epiſchen Zeit war, und eines epifchen Charakter der Poefte: felbft
bie erzählenden Gedichte durch diefen Hang voll lyriſcher Epifoden),
bie zweite hingegen ſich allein an den zwangvollen Formen genügen
ließ. Nur muß man nicht glauben, daß wie im der zweiten jener
Inhalt untergieng, in ber erften au dieſe Kunft der Reime ge
fehlt Hätte, und daß die erfte Periodifierung vom Inhalt herge
nommen, bie zweite aber von ber Form entlehnt ſei. Kurz, ein
jeder Miinnefänger ift aud ein Meifterfänger, aber man Tann nicht
umlehren.“
Dies find die Grundzüge der Anſichten J. Grimm's über
das Verhältnig des Minne- umd Meiftergefangs, und am biee
zuerſt nur kurz und ohne Beweisführung hingeworfenen Gedanlen
hat fih dann eine mehrjährige wiſſenſchaftliche Fehde angefmüpft,
an welcher fi bie namhafteſten damaligen Vertreter der altbeut-
Das Lehen und bie Arbeiten der Brüber Grimm Bis zum Jahr 1819. 897
ſchen Studien: Grimm, Docen, Hagen, Biüſſching, betheiligten.
Der Gegenftand der Fehde ift ſchon an fih von nicht geringem
itereffe. Es Handelt fih um ein halbes Jahrtaufend aus ber
Geſchichte unferer Poeſie. Es fragt fi, wie find die Lyriler bes
zwölften und breizehnten Jahrhunderts anzufehen, und in weldem
Verhaltniß ftehen fie zu den Meifterfängern des fünfzehnten und
fedgenten. Der Streit gewinnt aber an Syntereffe durch bie käm⸗
pfenden Perſönlichteiten. Zwiſchen den ſchon anerkannten, ja raſch
berühmt gewordenen Vertretern der altdeutſchen Studien, ſehen
wir einen anfänglich noch faſt ganz unbelannten „Kriegsſecretär
Grinm in Kaſſel“ auftauchen, und es dauert nicht lange, fo muß
jeder Einfichtige, mag er über den Gegenftand ſelbſt denken, wie er
wi, fich überzeugen, daß Bier der Mann auf den Plan getreten
ift, deſſen weit überlegener Begabung die Zukunft gehört. Dem
das ift die weit über ben fpeciellen Gegenſtand hinausgehende Be-
deutung biefes Streites, daß fi an die Erörterung der befonberen
Frage über den Minne- und Meiftergefang die Darlegung ber
Anfohten knüpft, die Jacob Grimm über Vollspoefie und Kunft-
poefie und über das Verhältniß beider zur Sage hegte.
Was aber den Eifer betrifft, mit welchem bie fi) gegenüber-
ftehenden Gelehrten fo manchen einzelnen, ung jegt vielleicht weni-
ger wichtig ſcheinenden Punkt durchgeſtritten haben, fo wollen wir
an die Worte erinnern, bie damals der gründliche und ehrliche
Docen in einer feiner Erwiderungen ausgeſprochen Hat. „Freilich
wird es nicht am ſolchen fehlen, fagt er, bie biefe umſtändlichen
Unterfugungen für überfläffig, die Frage überhaupt für unbedeutend
halten. Diefe beventen nicht, daß nur durch das lebhafte Beftreben,
alles Einzelne zu erforſchen und in unſere Gewalt zu Bringen, wir
3n jener grünbliheren Kenntniß des klaſſiſchen Alterthums gelangen
lonnten, bie auf alles Treffliche, was unfere neuere Literatur be»
fit, fo vielfältigen Einfluß gehabt hat; daß wir alfo eben dieſen
Weg nicht ſcheuen dürfen, um von unferm eignen Alterthum eine
beſſere Kunde zu erhalten, der ein gleich wohlthätiger Einfluß aufe
behalten zu fein fcheint. Vorübergehend zwar wird mander Streit
ud mande Arbeit auf diefem Wege jein, aber nicht fruchtlos;
398 Drims Bud. Drittes Kapitel,
was mühjam nad) und nad) gewonnen worben, ftellt nachher fih
frei, zuverläſſig und belehrend für Alle dar; des leiten Beſites
freut fi Jeder, und Keiner fühlt mehr die Schwierigfeiten, bie
man der Erringung auch einer mäßigen Einſicht opfern mußte” !)..
Nachdem X. Grimm feine gedrungenen Säge über Minne
und Meifterjänger hingemworfen hatte, gab gleich in der folgenden
Numer des neuen literarifchen Anzeiger8 vom 16. Juni 1807
Dosen eine Entgegnung. Er weift auf den völlig ſchwungloſen,
Höglihen Mechanismus der handwerksmäßigen Meifterjängerei des
14. bis 16. Jahrhunderts hin und ftellt ihnen bie echte und edle
Kunft der Dichter des 13. Jahrhunderts gegenüber. Da er aber
nicht in Abrede ftelfen Tann, daß and dieſe Dichter ſchon als
„Meijter“ bezeichnet werben, fo madt er den Vorſchlag, die Mer
fter des 13. Jahrhunderts „Meifter- Singer“, die fpäteren bagegen
„Meifter-Eänger” zu nennen. So wunderlih und unbrauchbar
dieſe Namengebung erſcheint, jo läßt fih doch nicht läugnen, daß
Docen gerade in biefem Theil feiner Abhandlung vieles Richtige
vorbringt. „Ueber ihre (der Meifter- Singer) nachherige Ausartung,
fagt er, hier aur Folgendes: Nachdem das Intereſſe an ber Kunſt
fo wie ihre inmere Kraft bald nach dem Anfange des 14. Jahr⸗
hunderts verſchwand, fo erbte fi bie Form auf ben Handwerls ⸗
ftand über; Hier erzeugten fi num alle jene grellen Grjcheimangen,
die jede Production menſchlicher Weisheit endlich herworzubringen
pflegt, nachdem Geiſt und Leben ihres kräftigeren Dafeins ent
wichen ift; man denle an bie veihsftäbtiigen Formalitäten, und
wie jedem beliebt, am viele andere ähnliche Dinge im Leben und
in ber Kunſt“ 2). Ganz mit Recht verwahrt fih dann Docen ge
gen die Folgerungen, die man aus bem Namen, „BRinnefinger‘
siehen Tünnte. Diefer Name fei erſt von Boducer aufgebracha wor
den, und zwar fehr mit Unveht. Denn in der vom ihm mb
Breitinger herausgegebenen „Sammlung von Binwefingerw‘ „Lomme
1) Doren im Mufeum für Alideutſche Piteratur und Kumft her. von
Hagen, Toren und Büfhing, ®b. I, Heft 2, Berlin 1810, ©. 489 fg. --
2) Docen im Reuen liter. Wmeiger 1807, Ep. 37%
Das Leben und bie Arbeiten der Brüder Grimm bie zum Jahr 1819. 899
keineswegs bloß die in aller Welt beſungene Liebe, fondern faft jede
andere Seite der Menjhennatur (die in jenem Zeitalter eine An-
tegung fand) zum Vorſchein“ i). So weit ſpricht Docen im Wer
fentligen vihtige und für die damalige Zeit feineswegs überflüſſige
Anfihten aus. Aber wie er nun im meiteren Verlauf der Ab-
handlung dazu kommt, fi bei einer ſolchen Auffafjung der Sade
in einen Gegenfag zu Grimm zu ftellen, das ift auf dem erften
Bid nicht leicht einzufehen. „Herrn Grimm’s Anjiht, fagt ex,
lehrt, der angenommene Unterſchied zwiſchen beiden [den Minne⸗
und Meifterjängern] in NRüdficht der Form ihrer Gedichte fei null
und nictig; (vielleicht alle) Minnejänger feien recht eigentliche
Deifterfänger geweſen“ 2). Aber dagegen fei zuvörderſt zu erin-
nem, daß Hr. Grimm „durd die Nichtachtung der mannigfaltigen
Berigiebenheit der Gegenftände (des Minne- und Meifterge-
fange) fich felöft den Weg verbaut hat. Hieraus entitand der
weite ungleich größere Fehler, daß von Seiten der Form bie
Sache ohne alle nähere Prüfung von ber Hand gelafjen wurde“ 3).
Darauf antwortet nun Grimm in der Numer vom 27. October
des Neuen literariſchen Anzeiger mit feiner Abhandlung: „Beweis,
daß der Minneſang Meiftergejang iſt.“ Hier tritt Grimm den Ber
weis an für feine früher nur als Ariome aufgefteliten Behaupt⸗
ungen. Wir gehen nicht näher auf den Bier gelieferten Beweis
ein, weil derſelbe danıı eimige Jahre fpäter in Grimm's Buch über
den altdeutſchen Wieiftergefang viel umfaſſender ausgeführt worden
iſt. Die Redaction des Neuen literarischen Anzeiger, welcher
Docen nahe ftand, behandelte Grimm's Zujendung mit gehühren-
der Achtung. „Die Medaction, heißt es in einer vorausgeſchickten
Bemerkung, hielt e8 für zweckmäßig, diefen intereffanten Aufiag des
Hrn. Grimm ungeachtet feiner Länge gleich vollftändig dem Publi»
am mitzutheilen.” Docen's Hinzugefügte kurze Entgegnungen
find nicht ohne Vitterfeit 4), aber doch merkt er recht wohl, von
1) Ebend. Sp. 378. — 2) Ebend. Sp. 374. — 8) Ebenb. in ber
dur Zufall verjpäteten Fortjefung Sp. 535. — 4) Bol. 1. 8. Sp. 686
die Aum. 4.
400 Drittes Bud), Drittes Kapitel,
weldem Schlag fein Gegner ift. Nicht fo Friedrich Heinrich von
ber Hagen. In Nr. 6 vom 9. Februar 1808 des Neuen Fiterari-
ſchen Anzeigers miſcht er fi in ben Streit mit einer Abhandlung:
„Minnelied und Meiftergefang.” „Ohne mir ein fdjiebsricter-
liches Anfehen anzumaßen in dem hierüber erhobenen Streit, jo
beginnt er, wird es doch vergönnt fein, in biefer für die Geſchichte
der altdeutſchen Poeſie wichtigen Sache auch meine umvorgreiflihe
Stimme anzugeben. Ich werde mehr nur meine gegemvärtige
Vorſtellung darlegen; das Urtheil über die Mitftreiter wird dadurch
von felöft Herausfallen.“ Hierauf holt dann Hagen fehr weit aus,
von ben „gewiß echt deutſchen“ Barden kommt er zu den Skandi⸗
naviern und endlich zu ben „Minnefingern, bei welchem Namen in
ihrer fhönen poetifhen Zeit, wo Minne, ob bie irbifche, geiftige
ober himmliſche (caritas), das Alles bewegende Princip war, es
bewenben muß“ 1), und endlich auf den Meiftergefang. Wir wol
Ten durchaus nicht Lingnen, daß Hagen mandes Wahre vorbringt.
Aber nicht nur der hohe Ton, den er Grimm gegenüber an-
ſchlägt?), macht jegt auf ung einen ſeltſamen Einbrud, wenn wir
auf die geiftige Kraft beider Männer und ihre geſammten Leift-
ungen zurüdbliden, fondern aud das theilweife Richtige in Ha
gen's Aeußerungen ift mit einem Uebermaß von Schiefem gepaart.
Sein endliches Ergebniß ift: „Der Meiftergefang ift gan
etwas Neues und Eigenes. Der frühere Minnegefang war [gen
ganz verſchollen und für jenen fo gut wie gar nicht vorhanden,
und ift umd bedeutet in ber That und Wahrheit, im inmerften
Geiſt und Form, fo wie in der Auferen Erfheinung und Umgeb-
ung, durchaus etwas Anderes, Höheres“ °).
1) Neuer lit. Anzeiger 1808, Sp. 88. — 2) Bol. z. B. aufer dem
oben mitgeteilten Eingang Sp. 84 u.: — „fo Heißt das bie Frage in
Nichts verflügtigen, unb beffer wäre geſchwiegen.“ gl. aud ben BSriej
Hagen's an Docen im Mufeum für Altdeutje Sit. und Kunft I, 6. 76,
Ann. — 3) Ebend. Sp. 101 fg. — Ich darf meine Auszüge aus Hagen’s
Abhandlung nicht weiter ausdehnen, bemerke deshalb nur beiläufig noch, dab -
auch in dem Ep. 99 über das VBoltlieb Geſagien ein Stüd Wahrpeit zwilden
Das Leben unb bie Arbeiten ber -Brüber Grimm Bis zum Jahr 1819. 401
Noch gab im Neuen literarifchen Anzeiger Hagen’s Freund
Biihing dankenswerthe thatſächliche Bereiherungen zur Kenntniß
des Meiftergefangs, beſonders aus ben beiden Meifterliederhand-
friften bes Profeſſor Nüdiger in Halle‘). Dann aber zog ſich
der Streit in eine ambere Zeitſchrift hinüber, nämlich in das von
Hagen, Docen und Büſching herausgegebene Mufeum für Altbeut-
{de Literatur und Kunſt. Hier veröffentlihte Docen feine aus⸗
führlide Entgegnung auf Grimm's Annahmen in der Abhandlung:
‚Ueber den Unterſchied und die gegenfeitigen Berhältniffe der Minne-
amd Meifterfänger. Ein Beitrag zur GCharakteriftif der früheren
Zeitalter der beutfchen Poeſie“ 2). Docen geht mit mehr Gründ⸗
lichleit zu Werke, als Hagen; aber es ift oft ſchwer zu fagen, was
er eigentlich bezweckt, ob eine Widerlegung Grimm’, oder ben
Nachweis, daß er glei von Anfang an dasſelbe gejagt habe, wie
Grimm. In einigen Punkten bringt er Grimm entſchieden in’s
Gerränge, und wir werden fehen, daß Grimm fi da genöthigt
fießt, feine Anfichten zurüdgunehmen oder doc einzuſchränken. So
mern Grimm ſchon die Dichter des 13. Jahrhunderts in dem
Sinn als Meifterjänger aufgefaßt Hatte, daß fie „eine gewiſſe Ger
ſellſchaft· gebildet hätten „mit mancherlei Uebereinkunft und Ber
fugniſſen“ 3). Ganz befonders anzuerkennen ift der anftändige und
abtungsvolle Ton, mit dem Docen feinen Gegner behandelt.
dem Itrigen fledt, und daß Hagen überhaupt mit Docen bie Eigenthümlich-
kit teilt, was er in dem einen Gab behauptet, in dem nädjften ganz oder
Yeitweife zutüczunehmen. — 1) Neuer lit. Anz. 1808 Ep. 183 fg. —
D Mufeum für Alideutſche Lit. und Kunft, her. von Hagen, Vüſching und
Deren, 8b. I, Heft 1, Berlin 1809, ©. 73125, und Heft 2, Berlin 1810,
6.445 —490. — 3) 3. Grimm im Neuen liter. Anz. 1807, 27. Oct. —
Kur in der Anmerkung führe ih an, daß Docen (Mufeum für Alideutſche
& u. Kunf I, 16. 100) eine Stelle aus Adelung's Magazin für die
Deufge Sprache (II, 3, ©. 6) beibringt, worin biefer die ,Schwabiſchen
Dichter. für identiſch mit den fpäteren Meifterfängern ertlärt. (S. o. ©. 236).
Docen ſelbſt fügt Hinzu, daß Grimm feine Anfiht ohne Zweifel nicht von
Welung entlehnt habe, umb allerdings heißt es hier, wenn irgendwo: Duo
quum faciunt idem, non est idem.
Raumer, Gejä. der germ. Ppllalsgle. 26
402 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
„Grimm wird daher, fagt Docen am Schluß, tm Fall ihm bie
fernere Behauptung feiner Meinung am Herzen liegt, ſich noth⸗
wendig nad anderen Beweifen umſehen müſſen. Hätte ih ihn,
wiber Wiffen und Willen, irgendwo nicht recht verftanden ober
mißdeutet: fo möge er mit neuer und größerer Klarheit und Be
ſtimmtheit dieſe Seiten feiner Anſicht wieder darlegen. Allein ich
müßte mich ſehr irren, wenn er fie gegenwärtig nicht mehr zu ber
grängen, auszubilden und der geſchichtlichen Wahrheit näher zu
bringen veranlaft werben würde. Auch id; habe feit ber Grfchein-
ung des Grimmifchen Beweiſes das Unrichtige meiner erften Wir
derlegung einſehen gelernt, und bin nunmehr weit entfernt, bieie
als mein endliches Urtheil in umferer ftreitigen Frage anzuerkennen.
Ein Tag lehrt den andern, gilt von jedem Stubinm, und mo
möchte diefes Wort wohl mehr an feinem Plage fein, wie in bem
noch fo unbelannten Gebiet ber altdeutſchen Literaturꝰ“ 1).
Jacob Grimm's erfte ſelbſtändig erſchienene Druckſchrift: „Ueber
den altbeutſchen Meiſtergeſang.“ Unterſcheidung von Ratur
und Kunſtpoeſie.
Was Docen am Schluß feiner fo eben beſprochenen Abhaud ⸗
fung geforbert hatte, daS leiſtete J. Grimm in feinem erften
ſelbſtandig erfhienenen Buch, bas von feiner Seite den Abſchluß
dieſer ganzen literariſchen Fehde bildet. Er hatte deſſen Juhalt
urſprünglich für von der Hagen's Muſeum beſtimmt; da aber zu⸗
fällige Umſtände die Antwort der Berliner Herausgeber verfpäteten,
hatte Grimm inzwiſchen mit ber Dieterichihen Buchhandlung in
Göttingen die felbftändige Publication verabredet 2). So erſchien zu
Göttingen wit der Jahrzahl 1811 (die Vorrede ift unterzeichnet
am 19. Auguſt 1810): „Ueber ben altdeutſchen Meiſtergeſang
Bon Jacob Grimm." Hier gibt nun Grimm über das, was et
zuerſt nur ohne Beweis Hingeftellt, dann bloß Kurz und abgerifien
geftägt Hatte, ansführliche umd einbringende Rechenſchaft. Eine
1) Docen im Muf. für Mtbentfge Lit. und Zunſt Ba IL, He 3
Berlin 1810, ©. 489. — 2) 3. Grimm, Ueber ben altbeuifcen Weiferge
fang, Bor. ©. 8.
Des Leben umb bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 408
Ginleitung, welche ven Verlauf bes geführten Streits barlegt, er⸗
Üfuet das Ganze. Dann folgt eine „Ueberfiht ber Meifterhumft
von Anfang bis zu Ende.” Darauf gibt der Verfaffer die inneren
Beweife für feine Anfiht und widerlegt eingehend die ihm ger
mochten Einwendungen; und baran fließen fih in ähnlicher Art
die äußeren Beweiſe. Im nädften Abſchnitt beipriht Grimm bas
Berhältuiß des Meiftergefangs zur übrigen altveutihen Poefie, und
zwar erftens zur Vollspoeſie und zweitens zu ben erzählenden und
Epruchgedichten. Endlich thut er noch einen Ausblick auf die Poeſie
anderer europäiſcher Völler, nämlich die der Provenzalen, Fran⸗
wien, Niederländer, Skandinaven und Engländer.
In diefer Ausführung fehen wir nun in den tiefen Born, aus
den die erften Gedanken Grimm's fo plöglid und unvermittelt
hervorbrachen. Der ganzen Anſicht über ben Meiftergefang liegt
bie Unterſcheidung von Natur⸗ und Kumftpoefie zu Grumde. „Ich
habe einigemal, fagt Grimm Hier in der Vorrebe, den Unterſchied
wilden Natur- und Kunftpoefie beftimmt vorausgefegt. Die Ver
[Giebenheit deſſen, was unter dem ganzen Volt lebt, von allem
dem, was durch das Nachſinnen der bildenden Menſchen an befien
Stelle eingefeigt werben fol, leuchtet über die Geſchichte der Pocfie,
mb dieſe Erkenntniß allein verftattet e8 uns, auf ihre innerften
Wern zu ſchauen, bis wo fie fid flechtend in einander verlaufen.
E ift, als ziehe ſich eine große Einfachheit zurüd und verſchließe
fi in dem Maße, worin der Menſch nad; feinem göttlichen Trei⸗
ben fie aus ber eigenen Kraft zu offenbaren ſtrebt. Da nun die
Borfie nichts anders ift, als das Lehen ſelbſt, gefaßt in Reinheit
und gehalten im Zauber der Sprache, (melde in fo fern mit Recht
eine himmliſche genannt und ber Profa entgegengeftelit werben
darf), fo theilt fie fi in die Herrihaft der Natur über alle Herzen,
wo ihr noch Jedes als einer Verwanbtin in's Auge ficht, ohne
fe je zu betrachten; und in das Reich des menfchlichen Geiftes, der
fh gleichſam von der erften Frau abſcheidet, als deren Hohe Züge
ihm nah und nad fremb und ſeltſam däuchen. Man kann bie
Raturpoeſie das Leben in ber veinen Handlung jeldft nennen, ein
lebendiges Bud; wahrer Geſchichte voll, das man auf jedem Blatt
26*
404 Drittes Bud. Drittes Kapitel,
mag anfangen zu lejen und zu verftehen, nimmer aber aublieft,
noch durchverſteht. Die Kunftpoefie ift eine Arbeit des Lebens und
fen im erften Keim philofophiiger Art. In den Heldengefängen
veiht nur noch ein Zweig aus der alten Naturpoefie in unſer
Lund herüber, die Freude, das Eigenthum bes Volks. an feinen
geliebten Königen und Herren muß fih, fo zu fagen, non felber
an und fortgefungen haben. Ueber ber Urt, wie das zuge
gangen, liegt der Schleier eines Geheinmiſſes gebedt, an bas
man Glauben haben foll.. Denn die Läugner, die fich bafür
lieber mit einer dürren Wahrſcheinlichkeit behelfen wollen, brin-
gen Syfteme auf, welche man mit Wahrheit widerlegen kann und
nad) denen ihnen Nichts übrig bleibt“ '). „Die. Poefie ift fein
Eigenthum der Dichter und das zu feiner Beit weniger geweſen als
in ber epiſchen, ba fie, ein Blut, den ganzen Leib bes Bolks
durchdrungen. Niemand weiß von Dichtern, geſchweige daß es die
Nachwelt erfahren ſollte, aber bie Sänger ziehen in Haufen herum,
und wen eine tönende Stimme zu Theil geworden, ober wer in
ein treueres Gedächtniß alte Lieber und Sagen nieberlegen kann,
da ihm das Licht der Augen entzogen worden,. der tritt hin vor
König und Volt und fingt für Ehre und Gaben“ 2). Wenn. nun
auch unter diefen Sängern „Erbſchaft und Lehre das. Amt bes Ge
fanges fortpflanzten“, fo fam doch mit bem Kunftgefang der &y
riler etwas Neues auf. „Daß in dem erblühenben Minneſang
fagt Grimm, eine eigenthümlihe Kunft zu walten anfange, habe
ich mic) zu zeigen bemüht und eben damit ben Urfprung des Me
ftergefangs gefegt” ). Der Anfänger biefes Meiftergefanges. ift
Heinrih von Veldeck“); und von da ab verläuft berjele in
drei „Epochen.“ Die erfte Epoche bilden die Lyriler des 18.
Jahrhunderts. „Die zweite Epoche ift fon viel früger vor
bereitet, erſt im vierzehnten Jahrhundert bejonbers herorge
gangen” 5). „Die Fürften ermüden der Minnelieder nad und nad,
das Bolt kann fie nicht brauchen.“ „Der Meifter kehret ſich gan
1) 3. Grimm, Ueber ben altbeutfgen Meiftergefang, ©. 5 ig. —
9) Ebend. ©. 7. — 3) Ebend. ©. 8, — 4) Ebend. ©. 30. — 5) Ebend
©. 31.
Dss Beben umb bie Acheiten ber Brüber Grimm Bis zum Jahr 1819. 408
feinem Gemüth zu, bie Luft, große Momane zu reimen, verliert
fih, aber die Luft, den Weltlauf zu ergründen, bie göttlichen und
menſchlichen Dinge zu betrachten, wird immer reger“ 1). „In der
dritten Epoche, welche ih vom funfzehnten Jahrhundert bis an's
Ende reine, wies es fih num mod; deutlicher aus, daß für bie
Meifterpoefie die Zeit des Hoflebens und Wanderns vorüber.“
„Dagegen gerieth die Kumft in den Bürgerftand allmählich herab,
nicht als ob vorher Teine Bürger derfelben theilhaftig geweſen, fon«
dern weil jego eine Menge aus diefem Stand fie umfaßten und
blühender als je machten, wenn man auf die Anzahl der Ausüben-
den fieht, 2). Das, was diefe drei Perioden auf das engfte ver-
bindet, ift die Gemeinfamfeit der metrifhen Form. „Ich wende
mid nun zu dem, fagt Grimm, wo er auf die Unterjuhung ber
Metra übergeht, was ih für den beften Leitftern unferer Unter»
ſuchung, für das Charakteriftifde des Meifterfangs halte, um da
durch, wofern es der früheren und fpäteren Zeit auf gleiche Art
zukommt, meine Vorftellung zu rechtfertigen" °). Die „Regel“, die
Grimm in dem ganzen Verlauf bes Meiftergefangs wieberfinbet,
iſt die Dreitheiligfeit der Strophe. „In allen Meifterfängen jagt
e, fowohl in den Minneliedern als in denen ber mittleren und
legten Beriode erkenne ich folgenden Grundfag: Die ganze Strophe,
oder das ganze Gefäß, hat drei Theile, davon find ſich die zwei
erften gleich und ftehen in nothwendigem Band, der britte fteht
allein und ift ihnen ungleich“ %. Diefen Say führt dann Grimm
gegen alfe vorgebrachten Einwendungen dur und bejeitigt damit
ein für allemal die Anfiht, die Leffing Hingeworfen und noch Ha⸗
gen feftgehalten hatte, als jet die Dreitheiligteit der Strophe eine
Vefonderheit der Meiſterſänger bes 15. und 16. Jahrhunderts, die
ihnen "direct aus dem Griechiſchen zugefommen fei. Im Verlauf
feiner metriſchen Unterfuhungen fegt Grimm hier beiläufig auch
das Wefen eines von der Dreitheiligkeit ausgenommenen Metrums:
des Leis, in's Mlared). Auch fpriht Grimm in diejer Schrift
1) @bend. S. 82. — 2) Ebend. 6.33. — 3) Ebend. 6.40. —
4) Ebend. S. 48. — 5) Ebend. ©. 68 fg.
zuerft den Gedanken aus, „daß bie Alliteration urſprunglich
ihren Sig in der ganzen Poefte des deutſchen Sprachftanmms ges
Habt hat“ ij. — Ebenſo hebt Grimm. hier zuerft den fir bie alt-
deutſche Poefie fo wichtigen Unterſchied zwiſchen Singen und &a-
gen hervor ?).
Was die äußeren Beweiſe für bie Zufammengehörigteit ber
älteren Minne- und ber fpäteren Meifterfänger betrifft, fo Hält
Grimm zwar an der Annahme feit, daß eine gewiffe Verbindung
auch unter den früheren Meiftern beftanden habe, erlärt aber zu
glei, „eine fo förmliche Geſellſchaft, als fpäter daraus geworben,
in diefer Frühe anzunehmen, fei ihm nie in den Sinn gelommen“ ?).
Bas den Namen betrifft, jo kommt Grimm zu dem Ergebniß:
„Unfere Dichter haben fon im Anfang Meifter geheißen, bie Zeit
zu beftimmen, wenn fte fi den Namen ganz zu eigen gemacht,
fällt aber unmöglig” 4. — Den verſchiedenen Charatter ber
Perioden, die fein einer Meiftergefang durchlaufen hat, wußte
übrigens Grimm recht wohl zu unterſcheiden. „Dritte Periode,
fagt er in einem der früheren Auffäge, bloßer Meiſtergeſang, bloße
leere in langweiligen Allegorien beſchäftigte Form“ 5). In unferer
Schrift wahrt er nun zwar dem ſpäteren Meiftergefang mit Recht
ein geroiffes ſittliches Verdienſt e), ihn aber am poetiſchem Werth
mit dem alten Minne- und Meiftergefang des 13. Jahrhunderts
zu vergleichen, fällt ihm nicht ein. Vielmehr fdildert er dieſen mit
den jhönen Worten: „Diefe Dichter haben ſich ſelbſt Nachtigallen
genannt, und gewißlich könnte mar auch durch fein Gleichniß, als
das des Vogelſangs, ihren überreihen, nie zu erfaflenden Ton
treffender ausdrüden, in weldem jeden Augenblick die alten Schläge
in immer neuer Modulation wieberfommen. An der jugendlichen
feifhen Weinnepoefie hat alle Kunft ein Anfehen der Natürlichleit
gewonnen, und fie ift auf gewiſſe Weife au nur natürlich; mie
bat vorher, noch nachher eine fo unſchuldige, liebevolle, unge
1) Ebend. 6. 166. — 2) Ebend. ©. 197. — 8) Ebendb. 6. 76 4.
Bel. auch S. 118. — 4) Ebend. 6. 101. — 5) J. Grimm im Rem
fiterar. Anzeiger 1807, Ep. 676, — 6) Altbetihe Meifergefang © 9
Das Leben unb bie Arbeiten ber VBrüber Grimm bis zum Jahr 1819. 407
henhelte Poeſie die Bruſt bes Menſchen verlaffen, um ben Boben
ber Welt zu betreten, und man darf in Wahrheit fagen, daß von
feinem dichtenden Wolf die geheimmißvolle Natur des Reims in
folder Maße erlannt und jo offenbar gebraucht worden“ 1).
Als einer der ſchwierigſten Punkte erfeint Grimm felhft bas
Verhãltniß dieſer Tunftreihen und doch fo natürlichen Lyrik zur
Bollspoefie. Unter den einfachſten Liedern befonders ber Alteften
Dinnefänger finden ſich mande, die fih unmittelbar an bie For⸗
men des Bollsgefangs anſchließen. „Man dürfte Tühnlih, fagt
Grimm, einzelne Strophen der einfachen vierzeiligen Lieder in der
Maneſſiſchen Sammlung in die Nibelungen einſchalten, wo fie nidt
fören würden” 2). Da aber Grimm annimmt, aud bie altbeutfche
Nunftpoefte fei auf einheimifhem Boden und Teineswegs „aus
fremder Quelle oder Anregung entfprungen* ®), jo Tann er fi} die
Sache in folgender Weife erflären. „Da ih anmehme, fagt er,
daß der Meifterfang nicht allein bie Sitte der Vollksdichter beibe⸗
halten, fonbern auch fein eigenes Princip aus bem Bollsgefang
geſchöpft und nur äußerlich aufgeftelt und fortgeführt Hat, fo finde
ich es gang natürlich, daß die Form biefer einfachen Sieber an ben
Bollsgefang erinnere“ 4).
Meberall zieht e3 “acob Grimm. zum Vollsthümlichen, Ein
fachen, und wir fehen ihm bei einem großen Theil dieſer Erſtlings⸗
ſchrift weit mehr mit ftrenger Gewiffenhaftigfeit, als mit Bingeben-
der Neigung arbeiten. „Diefer Gegenftand, erflärt er gleih in
der Vorrede, ift einer der trockenſten und verwideltften in der alt-
deutſchen Poeſie überhaupt und in keiner Hinficht dem jchon in der
Arbeit überall erfreuenden und im Nefultat viel reicher lohnenden
Studium der poetiſchen Sagen an Seite zu fegen, weldem id
meine hauptſächlichſte Neigung zugewenbet” 5).
1) Ebend. ©. 37 fg. — 2) Ebend. ©. 141 Anm. — 3) Ebend.
6.12. — 4) Ebend. 6.48. — 5) Ebend. S. 4. i
408 Drittes Buch. Drittes Kapitel.
Jacob Grimm über bie Sage und ihr Berhältnig zur epifgen
Poeſie und zur Geſchichte.
Jacob Grimm's eigentlihes Lieblingsſtudium: bie Erforſchung
der Sage und ihres Verhältniſſes zur epiſchen Poeſie, hat in dem
exiten Abſchnitt feiner wiffenfhaftligen Thätigfeit, vom Jahr 1807
bis zum Jahr 1811, nod zu feiner umfafjenderen Arbeit geführt.
Vielmehr fehen wir ihn emfig beihäftigt, die Quellen der altdeut-
ſchen Kunſtpoeſie: des Minne- und Meiftergefangs, nad allen
Seiten ‚hin durchzuarbeiten. Es wird .aber nicht bloß der Zufall
gervefen fein, der ihn zunächſt gegen feine eigentliche Neigung auf
diefe Bahn trieb und fo lange darauf feithiele. Vielmehr hat es
den Anſchein, als habe er das Bedürfniß gefühlt, fid ‚mit dieſer
ganzen Seite der Poefie gründlich abzufinden, um fi dann deſto
fiherer und ungeftörter feiner wirklichen Liebe: der Erforſchung der
alten Sage, hingeben zu können. Aber wenn auch auf dieſem
- Hauptgebiet Jocob Grimm’s jegt noch feine größere Arbeit zu
Stande kommt, fo befigen wir bafür aus jener Zeit bereits einige
um fo werthvollere Heine, die in dem Neichthum ihrer genialen Ge⸗
drungenheit bie Samenlürner zu. ber folgenden Thätigkeit bes großen
Forfchers darbieten. Schon im Sept. 1807, bald nad, feinem erften
Auftreten, veröffentlichte %. Grimm im -Mündner Neuen literari⸗
fen Anzeiger einen kurzen Auffag: „Won Uebereinftinmmung der
alten Sagen“ 1). Im folgenden Jahr theilte er in ber „Zeitung
für Einfiedler“, in den Blättern vom 4. und 7. Juni 1808 „es
danfen, wie fi die Sagen zur Poefie und Geſchichte verhalten”,
mit. Aus dieſen beiden Auffägen, zufammengenommen mit man
chen anderen gelegentlichen Yeußerungen, 3. ®. in ber Anzeige von
Hagen's und Büſching's Deutſchen Gedichten des Mittelalters im
Jahrgang 1809 der Heidelberger Jahrbüder, fehen wir, wie
früh ſchon fih bei · J. Grimm die Anſichten entwidelt Hatten, die
wir dann jpäter in einigen feiner berühmteften Werke weiter ge
bildet finden. „Die Geſchichte der alten Poefie, fagt Grimm, fol
1) Reuer lit. Anzeiger 1807, 8. Sept, Sp. 568-570.
Das Leben unb bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 400
nichts Anders vorhaben, als die verſchiedene Geftalt zu erläutern
und zu beſchreiben, worin die Sage erſchienen ift, und fie fo weit
als möglich anf ihren Urfprung zurüdzuführen“ 1). „In der erften
Zeit der Völler ftrömen Poeſie und Geſchichte in einem und dem⸗
felben Fluß; und wenn Homer von ben Griechen mit Recht ein
Bater der Geſchichte gepriefen wird, fo bürfen wir nicht Länger
Zweifel tragen, daß in den alten Nibelungen bie erſte Herrlichkeit
deutſcher Geſchichte nur zu lange verborgen gelegen habe“ 2). „Treue
ift in den Sagen zu finden, faft unbezweifelbare, weil die Sage
fi ſelber ausſpricht und verbreitet, und bie Einfachheit der Zeiten
und Menſchen, unter denen fie erhallt, wie alfer Erfindung an fid
fremd, auch teiner bedarf. Daher Alles, was ‚wir in ihnen für
unwahr erfennen, ift es nicht, inſofern e8 nad der alten Anficht
des Volles von ber Wunberbarkeit der Natur gerade nur fo er-
feinen und mit diefer Zunge ausgeſprochen werben kann. Und in
allen den Sagen non Geiftern, Zwergen, Zauberern und unge
heuern Wundern iſt ein ftiller, aber wahrhaftiger Grund vergraben,
vor dem wir eine inmerlihe Scheu tragen, welde in reinen Ge⸗
müthern die Gebildetheit nimmer verwiiht Hat und aus jener ge»
heimen Wahrheit zur Befriedigung aufgelöjet wird“ 9. „Im ven
Sagen Bat das Volk feinen Glauben niedergelegt, den es von ber
Natur aller Dinge hegend ift, und wie e8 ihn mit feiner Religion
verflicht, die ihm ein unbegreifliches Heiligthum erſcheint voll Selig-
machung· 4. „Wenn men Poeſie nichts Anders ift und fein 6)
laun, als lebendige Exfaffung umd Durchdringung des Lebens, fo
darf man nicht erſt fragen, ob buch die Sammlung biefer Sagen
ein Dienft für die Poefte geſchehe. Denn fte find fo gewiß und
eigentlich felber Poeſie, als ber Helle Himmel blau ift; und hoffent-
lich wird die Geſchichte der Poefie noch ausführlich zu zeigen haben,
daß die fämmtlichen Ueberrefte unferer altdeutſchen Poefie bloß auf
einen lebendigen Grund von Sagen gebaut find und der Maßſtab
1) deidelb. Jahtbb. 1809, Fünfte Abtheilung, Zweiter Band, ©. 155. —
9 Being fr @infieler 1808, 7. Jun, &p. 158. — 8) Ebend. Ep- 138g,
— 4) &bend. Sp. 154 fg. — 5) Es ſieht: fagen.
410 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
ber Beurtheilung ihres eigenen Wertes darauf gerichtet werben
muß, ob fie diefem Grund mehr ober weniger treulos geworden
find“ 1). „Ewig nämlich ift unter allen Länder- und Völlerſchaften
ein Unterſchied gegründet zwiſchen Natur⸗ und Kunſtpoeſie.“ m
Epos halfen bie Thaten und Geſchichten durch das ganze Belt fort.
In ber Runftpoefie dagegen gibt ein menſchliches Gemäth fein Su
neres Bloß ?). „Es iſt ungereimt, ein Epos erfinden zu wollen,
denn jebes Epos muß ſich feloft dichten, von feinem Dichter ge
ſchrieben werden. Beweis find die Menge mißlungener Arbeiten
in allen Nationen. Aus dieſer Bollsmäßigleit bes Epos ergibt
ſich aud), daß es nirgends anders entfprungen fein Tann, als unter
dem Volle, wo fi) die Geſchichte zugetragen hat" 3).
So wie im Berlauf der Zeit die Kunftpoefie der Sage und
ber aus ihr fließenden Naturpoefie gegenübertrat, fo ſcheidet fih
anbrerjeits Poefie und Geſchichte. „Nachdem bie Bilbung dazwiſchen
trat und ihre Herrſchaft ohne Unterlaß erweiterte, jo mußte, Poeſie
und Geſchichte fi auseinander ſcheidend, die alte Poeſie aus dem
Kreis ihrer Nationalität unter das gemeine Bolt, das der Bildung
unbefümmerte, flüchten, in befien Mitte fie niemals untergegangen
iſt, ſondern fi) fortgefegt und vermehrt hat, jedoch in zumehmenber
Beengung und ohne Ahwehrung unvermeiblicher Einfläfle der Ge
bildeten · 4. Sage und Geſchichte ftehen im Gegenfah zu einander
Die Sage haltet frei mit Namen, Zeit umd Ort; „an jedem Orte
vernimmmt man fie fo neu, Land und Boben angemefien, daß man
ſchon darum bie Bermuthung aufgeben muß, als fei die Sage
durch eine anderartige Betriebfamleit ber legten Jahrhunderte unter
bie entleguen Geſchlechter getragen worben" 5). „Das ift bie wahre
1) Ebend. Sp. 155. — 2) Bol. ebend. 4. Juni, Ep. 152 —
3) 3. Grimm im Neuen lit. Ungeiger 1807, 8. Sept, Sp. 571, wo dann
zugleich Docen’s Anfiht, als gehöre ber Sagenfreis von Karl bem Grafen
nicht Frankreich, ſondern Stalien an, widerlegt wird, mit Ginmweifung auf die
„vorhandenen aliftanzbſiſchen Romane, wovon das Wenigfte befannt und uw
terjucht if.” — 4) I. Grimm in ber Zeitung für Ginfiehler, 7. Jai
1808, &p. 153. — 5) @bend. Ep. 154.
Das Leben und bie Arbeiten der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 411
Bedeutung des Epiſchen, daß es durchaus vollimäßig fein, in ber
gungen Nation fortleben, und fih, indem es bloß bie Sache ergreift
ud fefthält, mit Vernachläffigung der Zeiten und Benennungen,
bei derfelden Grundlage in einer Mannigfaltigfeit von Geftaltungen
dargeben müffe" 1). Dem gegenüber bringt die Geſchichte auf
„Sicherheit. „Das kritiſche Princip, welches in Wahrheit, feit es
in unfere Geſchichte eingeführt worden, gewiſſermaßen ben veinen
Gegenfag zu diefen Sagen gemadt und fie mit Verachtung ver⸗
foßen hat, bleibt an ſich, obſchon aus einer unvechten Beranlaffung
qadlich ausgegangen, unbezweifelt; allein micht zu fehen, daß es
noch eine Wahrheit gibt außer ben Urkunden, Diplomen und Chro-
niten, das ift höchſt unkritiſch.“ Die Sagen follen num nicht mit
der Geſchichte vermengt werden. „&8 würde thöricht ſein, die fo
mühfen und nicht ohne große Opfer errungene Sicherheit unferer
Geſchichte durch bie Einmiſchung der Unbeftimmtheit der Sagen in
Gefahr zu bringen.“ Aber die Geſchichte foll ihre Dürre und
Lanfeit aufgeben und ſich die innere Lebendigkeit der Sage und ber
epiſchen Poeſie zum Vorbild nehmen, „als die Bewahrerin alles
dertlichen und Großen, was unter dem menſchlichen Geſchlecht vor-
get 2), und feines Siegs über das Schlechte und Unrechte, damit
jeder Einzelne und ganze Völler fih an bem unentwendbaren
ee ee: teöften, ermuthigen und ein Beiſpiel
"3.
Bilgelm Grimm’s Arbeiten von 1807 bis 1811.
Wilgeln Grimm’s erfte Arbeiten 1807 bie 1810.
Die Jacob Grimm, fo begann auch Wilhelm feine wiſſen⸗
ſcafiliche Thätigfeit mit Meineren und größeren Abhandlungen, bie
& in Zeitſchriften veröffentlichte. Auch feine frühften Arbeiten ent«
Hält der Mündner Neue literariſche Anzeiger. Zuerſt ein par
1) 3. @rinmm im Neuen liter. Mnzeiger 1807, 8, Sept. Ep. 568. —
200 Reit: verget. — 8) So glaube ich Die eiwas bunffe Anfrüpfung
Dr Gicle im der Zeitung für Ginfiebler Ep. 156 verfehen zu bücfen.
412 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
Beine: „Einige Bemerkungen zu dem altbeutfäjen 1) Roman Wil⸗
heim von Oranſe“ in der Numer vom 26. Mai 1807, um:
„Ueber bie Originalität bes Nibelungenlieds und des Helden
buch“ 2); dann eine größere: „Beitrag zu einem Verzeichniß ber
Dichter des Mittelalters“ 3). Charalteriſtiſch fir Wilhelm Grimm's
Weſen find die Worte, mit denen er biefe etwas umfangreichere
Arbeit beginnt: „Die Geſchichte ‘der deutſchen Poefle des Mittel:
alters geht ungefähr mit dem 15. Jahrhundert zu Ende. Wenn
es nun wahr ift, daß erft eine völlige Durchdringung und Beherr-
fung des Details mögli macht, gedeihliche Refultate aufzuſtellen,
(wobei auch keineswegs braucht befürchtet zu werben, daß fid bie
Anſicht für das Ganze verliere) fo Tann Niemand bie Sorgfalt,
auch das Geringere und unbebeutend Scheinende in biefer Be
riode zu berüdfictigen, verwerfli finden; Eins fteht mit dem
Andern in Verbindung und Märt ſich gegemfeitig auf.” Im barauf
folgenden Jahr 1808 betheiligte fih Wilhelm Grimm an ber Zei-
tung für Einſiedler dur die erfte Veröffentlihung von ihm übers
fetter altdäniſcher Helvenlieder und Romanzen 9).
In den Heidelbergiſchen Jahrblchern der Literatur vom Jahr
1809 5) lieferte W. Grimm eine ausführlihe Beurtheilung der
Hagen'ſchen Ausgabe des Nibelungenlieds vom Jahr 1807. Diele
Kritik ift beſonders dadurch merhvürbig, daß W. Grimm Hier feine
Anfihten über das Romantifhe und über Weſen und Werth der
verſchiedenen mittelhochdeutſchen Dichtungen niederlegt. „Buerft
alſo, ſagt er, diejenigen Gedichte, die man unter dem Namen ber
Romantiſchen vernünftiger Weile begreifen Tann, find die aus bem
Romanzo überfegten, und hier müffen wir aufrichtig geftehen, dah
wir ſolche keineswegs für jene unübertrefflichen Rittergebichte Halten,
für die fie Häufig ausgegeben werden“ 9). „Eine umbeſchreibliche
i) Die Schreibung „altteutſchen“ wirb von ber Rebaction herrühren; ich
Habe fie deshalb nicht beibehalten. — 2) 1807, d. 28. Juli. — 3) 180,
ben 4. Rov. — 4) Zeitung für Einfiebler 1808, 20. April. 7. Mei
15. Juni. 18. Zuni. 12, Zul. — 5) Heibelb. Jahrbücher, 1809, günte
Abteilung, Erſter Band, ©. 179-189 u. 238252. — 6).Ehenb.-& 10.
Dos Leben und bie Arbeiten. der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 418
Geſchwãtzigkeit drängt fi durch die Geſchichte und treibt fie, mit
Vernichtung jedes Intereſſe, nach allen Seiten Hin, wie Saune oder
Zufall will. Ya, man hat durchgehends den Eindrud, als fei die
Durftellung ber Geſchichte das Außerweſentliche, bloß vorgenommen,
um darüber reden zu können“ ?).. Diefer romantiſchen Poefte fteht
gegenüber als ein. Wefen völlig andrer Art „das Wichtigſte und
Größte im der altdeutſchen Poeſie“: das Nibelungenlied. „Wem
man die Mälleriie Sammlung zur Hand nimmt und lieſt das
Ged der Nibelungen neben den andern, fo erfisunt man, wie es
in.diefe Geſellſchaft gekommen, das. jo groß und fo umenblic viel
hoͤher fteht, daß ihm. Richts von der. romantiſchen Porfte an bie
Seite gejegt ober nur verglien werden Tann.“ „m ihm. wurde
‚halten, was nicht wieder erjegt. werben konnte, das Bild einer
vergangenen Zeit,. in welcher. ein großes Leben frei, herrlich und
dod) wieber jo menſchlich erſcheint“ ?)..
Berglichen.mit dieſen Grundanſichten über bie altveutjche. Poe-
fie, wie fie W. Grimm Bier. dann weiter and im Einzelnen ent»
widelt,. ift fein fpecieller. Tadel des Hagen'ſchen. Nibelungenlievs
jegt von geringerem Intereſſe. Aber für bie Yortentwidlung der
Biffenfhaft war dieſer vernichtende Angriff von ſehr großem
Beth. Grimm erflärt fih nämlich auf das entjchievenfte gegen
die Art von Mobernifteren, wobei „bie alten Formen: bloß in neue
follen verwandelt werben, fonft aber das Ganze unverändert bleibt.”
Denn „jedes Gedicht ift als ſolches ein organiſches Ganzes, jeder
Ausdruc, jedes Wort ift Wbrug ber zum Grunde liegenden Idee
und darf durchaus nicht weggenommen werden ober durch Fremd»
atiges erjeßt, ohne dieſe zu zerftören, ohne einen Widerſpruch mit
dem Anbern; kurz dieſes Mobernifieren ift ein heilloſes Zertrennen
sand Auflöfen“ 3). Die Sprade, die fi Hagen für feine Moder-
nifietung des Nibelungenlieds gefchaffen, „ift eine ſolche, wie fie zu
feiner Zeit gelebt Hat“ 4). „Es ift eine Mobernifterung, bie
ſchlechter ift als das Original, und doch nicht modern“ 5): Nicht
. sbend. S. 180. — 2) Ehend. ©. 183. — 8) Ebend. S. 188. —
4) Ehend. ©. 240. — 5) Ebend. ©. 238
414 Drities Buch. Drittes Kapitel
eine ſolche Weberfegung, fondern eine kritiſche Ausgabe bes Tertes
zu beforgen, fei jet an der Zeit, da ber Abdruck in der Mülleri-
ſchen Sammlung befanntli incorrect und defect ſei 1). Uebrigens
erlennt W. Grimm die Gelehrſamleit Hagen’s vollkommen an.
Was Hagen nebenbei für Verbeſſerung des Textes geleitet, ſei
„bei weiten die glänzendfte Seite des ganzen Werks“ ; und obwohl
er auch die Art von Erläuterungen, wie fie Hagen gibt, ohne
rechtes Princip findet, fliegt Grimm doc feine ausfährlige Re
cenfion mit ben Worten: „Hiermit foll aber Nichts gegen bie
Gelehrjamteit des Verfaſſers gejagt jein, das Bud ift überall mit
Gründlihleit und Neigung bearbeitet und verblent in biefer Hin
ficht alle Achtung.“
Im Anflug an diefe Beurtheilung des Hagen'ſchen Nibelun⸗
genliebes veröffentlichte W. Grimm eine feiner bebeutenbften Arbeiten
in den von Daub und Creuzer herausgegebenen Stubien, nämkd)
die Abhandlung: „Ueber die Entſtehung ber altdeutſchen Poeſie
und ihr Verhältniß zu ber norbifhen‘ 2). Hier wird das bort
Gefagte weiter ausgeführt und durch eingehende Unterfuchungen
über das Verhältniß der vollsthũmlichen deutſchen Poeſie zur nor
diſchen begründet. Wilhelm Grimm geht Hier bereits im Jahr
1808 von ganz Ahnligen Anfichten über die urſprungliche Beni,
nigung von Poefie und Hiftorie aus, wie wir fie früher aus Jocob
Grimm's Bud über den altventihen Meiftergefang mitgetfeilt
haben 3), und daraus entwidelt er feine Anfiht über bie Entftehung
1) &bend. &.249. — 2) Studien. Her. v. €. Daub u. F. Eresger Jahtz.
1808, Heidelb. 1808, &.75—121 u. 216— 288. Man muß fich durch die Jahe:
aahl 1808, verglichen mit der Jahrzahl 1809 des betreffenden Jahrgangs ber
Heibelb. Jahrbüchet an bem wahren Sachverhältniß nicht irre machen laffen.
In ber Vorrede, welde bie Berlagshandlung dem Erſten Heft bes Zaprgungd
1808 ber Gtubien vorauefgidt, wird ausbrüdiid gefagt: „Die zweite U
handlung biefes Heftes über bie Entflegung ber alideutſchen Pocfie ſtehl mit
ber in deu Heidelbergiſchen Jahrbüchern (2r Jahrg. Fünfte Abtheil. Ir Bat)
eingerüdten Beurtheilung des v. Hagen’f—en Ribelungenliebes in genauer ©
tüßrung und liefert zu bem, was bort kurz angebeutet if, ben wolflänbisern
Beweis.” — 3) ©. 0. ©. 403 fg. u. vgl. damit W. Grimm in ben Gtubien
a. a. O. S. 75-77.
Das Leben unb bie Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 415
des deutſchen Heldengefangs und insbefonbere unſeres Nibelungen
lieds. „Bei jeder Nation blidt der Moment einer neuen Grund⸗
bildung, eines neuen Entſtehens duch.” An biefen Moment nüpft
fi die Eutſtehung ihrer Heldendichtung, fo in Frankreich an Karl
den Großen, in Spanien an ben Eid. „Groß umd welterregenb,
wie noch Alles, was aus dem Leben dieſer Nation durchbrechen
tonnte, Kat fi jener Punkt bei den Germanen gezeigt.” Es ift
de gewaltige europäiſche Völferwanderung, an welde fi die Ent,
fiefung ber deutſchen Heldendichtung nüpft. „Wenig Haben die
Geidigtfggreiber von ben Thaten jener Zeiten aufbewahrt.“ „Aber
die Poefie bewahrte es auf. Mas Fremden ober Geiftlicen mit
fremder Bildung, nicht mehr zur Nation gehörig, in ihre trodnen
Bücher aufzuſchreiben unmöglich war, das lebte fort in dem Munde
und bem Kerzen eines Jeden unter bem Boll. Sie erzäßlten ſich
mb den Nachtommen das Leben ihrer Väter, und bald entftanb
eine gewiſſe Klaſſe, die ganz eigends fi dieſem Geſchäfte widmete:
die Sänger. Sie waren gerabe nicht bie Dichter biefer Lieber !) und
nahmen fie auch nicht zu ausſchließendem Befige dem Wolle ad,
aber fie waren beſonders fähig zu dem Abfingen berjelben“ 2).
dm Beweis des Gefagten beginnt dann Grimm, bie Zeugniffe
zu ſaumeln für das Vorhandenfein der deutſchen Heldendichtung in
dem verfchiedenen Jahrhunderten von den Zeiten der Völlerwan⸗
derung an, und legt fo die Keime, aus denen allmählich das wide
figfte Werk feines Lebens erwachſen ift. Bon der deutſchen Helden
poefie felbft iſt uns aus der früheren Periode nur Zweierlei übrig
geblieben: „Die Erzählung im altjähfihen Dialekt von Hilde
brand, wahrſcheinlich ein ſolches Volkslied, befien Inhalt unchytge
niſch vielleicht zur Uebung aufgezeichnet wurde“, und das ganz
nach römischen Muftern umgebildete lateiniſche Gebiht de prima
Atülse expeditione. „Bei dem Bolt inbefien lebten bie Gefänge
fort. In Unwiſſenheit und Unſchuld entfaltete ſich die Poefie im-
wer mehr und zog am ſich, was neuere Begebenheiten, Boltsglaube
1) „Ein Bolbslied dichtet fich ſelbſt·, fagt W. Grimm S. 245, Anm. —
2) &end. ©. 79 fg.
416 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
u f. w. Großes und Reizendes darbot, Alles vermiſchend und ver-
wechfelnd. An jedem Ort mußte fie nah umd nad einheimiſch fein
und darum brachte fie das Entfernte herbei und fegte die Nähe in
geheimnißreihe Ferne, Gegenden, Zeit und Völker umtaufchend“ ').
As nun im zwölften und breizehnten Jahrhundert die Särift
ſchon allgemeiner wurde, „fingen die Sänger an, die Gedihte,
deren Umfang fi immer mehr erweiterte, aufzuzeichnen, und wie
fie jetzt lebten und ausgeſprochen wurden, nad) den Veränderungen
vieler Jahrhunderte hindurch, fo wurden uns diefe Geſänge Altefter
Zeit erhalten. Dies ift umfere Anfiht von der Entftehung des
Nidelungen-Lieds“ 2). „Die urfpränglide Form der Nibelungen,
wie überhaupt einer jeden Nationalpoefie, war das kurze Lieb, oder
mit‘ einem uneigentlichen Ausdrud die Romanze. Wen innere Luft
und Kraft dazu antrieb, d. 5. wer Dichter war, ber befang bie
Helven ber Nation, und weil er fih nicht anders bewegen Tonnte,
nad einem gewiffen Takt, nad einem orbnenden Geſetz. So er
zeugte ſich das Lieb mit Khythmuus und Reim“ 9). „Die bald fih
bildende Klafje von Sängern erweiterte folge Lieder umd verband
fie zu einem größeren Ganzen; etwa wie Herder in richtigem Sim
die Romanzen vom Eid“ 4). „Wie die Lieber bes Volls, fo daner-
ten auch diefe größeren Gebichte fort, ſtets mit dem Fortgange ber
Zeit in veränderter Geftalt. Niemals ftanden fie in irgend eine
feft, und e8 ift eine falſche Anficht, die dag Nibelungen - Lieb im
Ganzen eben fo, wie wir es jegt haben, glei) anfungs und auf
einmal, wie das Werk eines Einzelnen entftehen läßt“ 5). Dies
war „die Entftehung der deutſchen, das heißt aus deutſchem Geilt
entfprungenen Poeſie.“ Einem ganz anderen Boden aber gehört die |
romantiſche Poefie des Mittelalters an. Diefe lernten die Deut
fen von den Franzofen. : „Man fagt gewöhnlich ſchön: damals
Hang eine Poefie durch die ganze Welt; weldes aber nur auf bie
jenigen gezogen werben darf, welche ſich im Ausland damit belannt
gemacht hatten, auf die Nation nicht; eine jede hat fich ihrer eigen
1) Ebend. S. 8%. — 2) Ebend. ©. 4. — 3) Eben. ©. 88. —
4) Ebend. S. 89. — 5) Eben. ©. 90.
Das Leben und bie Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 417
thũmlichen, bei ihr einheimifen erfreut“ 1), „So entitand bie
romantiſche Poefie des Mittelalters in einer geſchloſſenen Gefell-
ſchaft mehr Gebilbeter, Adlicher, zu denen fih auch wohl Fürften
geſellten, weil es ehrenvoll ſchien, ſolch edle Kunſt zu treiben.“
Run iſt zwar „Kunſtpoeſie, d. h. mit Bewußtſein und Abſicht ge⸗
dichtete, in ihrer Idee eben fo vortrefflich, als Natur- ober Natio-
nal-Boefie; denn wenn fie echt ift, ſetzt fie dieſe nur fort, das
heißt, wo diefe untergeht umd ſich micht mehr neu erzeugt, da bildet
fie 3 B. durch Belefenheit erworbenen Stoff in dem Geift der
Nation mit all dem, was ihr eigenthümilich ift, um, damit es ein-
heimiſch werben kann. Hans Sachs ift in diefem Sinn Kunſtdichter
mb Nationaldichter zugleih” 2). Aber nicht fo war e3 mit den
deutſchen romantiſchen Gedichten bes Mittelalters. „Abgeſehen,
daß eine Kımftpoefie überfläffig war, wo die Nationaldichtung noch
lebendig lebte, fo war dieſe romantiſche Poefie nicht nur Kunft-
poefie, fondern auch Manier, gariz außer dem Geiſt des Volks.”
Die langen unrhythmiſchen Rittergedichte „ftanden in einem reinen
Gegenſatz zu der Nationaldichtung. Das Bolt behielt feine Lieder
don Dieterih von Bern und ben Helden“ 8). „Verſchieden, daß
& mehr nit fein kann, ift die Darftellung der romantischen Poefie
und des Nibelungen⸗Lieds. Wie ein großer Geift, ruhig, aber mit
tiefbewegter Bruft erzählt es, was geſchehen, Alles Yäuternd in rei
nem Aether ber Dieitung“ *).
Wie verhält fi nun zur deutſchen Poefie die nordiſche? Wir
müflen uns vor allem erinnern, daß „dieſelbe Sage bei den ver-
fdiebenen Böllern einer Hauptnation ſich verſchieden ausbildete, mit
andern mannigfach verwebte und Namen und Drte verwedhlelte” 9).
Dies weift Grimm beifpielsweife an dev Ditung von König Er⸗
manaricns eingehend nad ©). Auf diefe Art ift der größte Theil
deſſen zu erflären, was der norbifchen und ber deutſchen Poefie ge-
meinfam iſt. Das Verhältniß ber norbifhen Poeſie zur deutſchen
ift namlich im Ganzen betrachtet dies: „Stanbinavien Hat nicht
1) Ebend. ©. 109. — 2) Ebend. ©. 110. — 3) Eben. S. 111.—
4) Ebenb. ©. 119. — 5) Ebend. S. 91 fg. — 6) Ebend. S. 92—99.
Raumer, Geld. der germ. Vhllelogie. EG
416 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
u. f. w. Großes und Reizendes darbot, Alles vermiſchend und ver-
wechſelnd. An jedem Ort mußte ſie nach und nach einheimiſch ſein
und darum brachte fie das Entfernte herbei und ſetzte die Nähe in
geheimnißreiche Ferne, Gegenden, Zeit und Bölfer umtauſchend“ ').
As nun im zwölften und breizehnten Jahrhundert die Särift
ſchon aligemeiner wurde, „fiengen die Sänger an, die Gedichte,
deren Umfang fi immer mehr erweiterte, aufzuzeichnen, und wie
fie jett lebten und ausgeſprochen wurden, nad den Veränderungen
vieler Jahrhunderte hindurch, jo wurden uns diefe Geſänge ältefter
Zeit erhalten. Dies ift unfere Anficht von der Entftehung de
Nibelungen-Lieds” 2). „Die urſprüngliche Form der Nibelungen,
wie überhaupt einer jeden Nationalpoefie, war das kurze Lied, ober
mit‘ einem uneigentlihen Ausbrud die Romanze. Wen innere Lit
und Kraft dazu antrieb, d. 5. wer Dichter war, ber bejang bie
Helden der Nation, und weil er ſich nicht anders bewegen konnte,
nad) einem gewifien Takt, nad einem ordnenden Geſetz. So er
zeugte ſich das Lied mit Rhythmus und Reim“ 9). „Die bald ſich
bildende Klaſſe von Sängern erweiterte folge Lieder und verband
fie zu einem größeren Ganzen; etwa wie Herder in richtigem Sim
die Romanzen vom Eid“ 4). „Wie bie Lieber des Volls, fo dauer
ten auch diefe größeren Gedichte fort, ſtets mit dem Fortgange ber
Zeit in veränerter Geftalt. Niemals ftanden fie in irgend einer
feft, und es ift eine falſche Anfiht, die das Nibelungen - Lieb im
Ganzen eben fo, wie wir es jegt haben, gleich anfangs und auf
einmal, wie das Werk eines Einzelnen entftehen läͤßt“ 5). Dies
war „die Entftehung der deutſchen, das heißt aus deutſchem Geilt
entfprungenen Poefle.“ Einem ganz anderen Boden aber gehört die
romantiſche Poeſie des Mittelalters an. Diefe lernten die Deut
fen von den Franzoſen. „Man fagt gewöhnlich ſchön: damals
Hang eine Poeſie durch die ganze Welt; welches aber nur auf bier
jenigen gezogen werben darf, melde fi im Ausland damit belannt
gemacht hatten, auf die Nation nicht; eine jede hat fich ihrer eigen
1) Ebend. ©. 82. — 2) Ebend. ©. 84. — 9) Abend. ©. 8. —
4) Eben. 6. 39. — 5) Ebend. S. WM.
Das Lehen und bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 417
Hämfien, bei ihr einheimiſchen erfreut“ 1) „So entſtand bie
romantiſche Poefie des Mittelalters in einer geſchloſſenen Gefell-
ſchaft mehr Gebildeter, Ablicher, zu denen fih auch wohl Kürten
gefellten, weil es ehrenvoll ſchien, ſolch edle Kunft zu treiben.“
Rum iſt zwar „Kunftpoefte, d. 5. mit Bewußtſein und Abſicht ge-
dichtete, in ihrer Idee eben fo vortrefflich, als Natur⸗ oder Natio-
nal-Boefle; denn wenn fie echt ift, ſetzt fie diefe nur fort, das
heißt, wo dieſe untergeht und fid nicht mehr neu erzeugt, da bildet
fie 5 B. duch Beleſenheit erworbenen Stoff in dem Geiſt ber
Rotion mit all dem, was ihr eigenthümlich ift, um, damit e8 ein-
heimiſch werben Tann. Hans Sachs ift in dieſem Sinn Kunſtdichter
md Rationaldichter zugleich” 2). Aber nicht fo war es mit ben
deutſchen romantiſchen Gedichten des Mittelalters. „Abgeſehen,
daß eine Kumftpoefie überfläffig war, wo die Nationaldichtung noch
lebendig Yebte, jo war diefe romantiſche Poefie nit nur Kunft-
poefie, fondern auch Manier, gariz außer dem Geift des Volks.“
Die langen unrhythmiſchen Nittergebichte „ftanden in einem reinen
Gegenfag zu der Nationaldichtung. Das Volt behielt feine Lieder
von Dieterih von Bern und den Helden“ 3). „Bericieden, daß
es mehr nicht fein Tann, ift die Darftelflung der romantiſchen Poeſie
und des Nibelungen-Liebs. Wie ein großer Geift, ruhig, aber mit
tiefbewegter Bruft erzählt es, was geſchehen, Alles läuternd in rei⸗
nem Yether der Dichtung” *).
Wie verhält fi num zur deutſchen Poefie die nordiſche? Wir
möflen uns vor allem erinnern, baß „biejelbe Sage bei den ver»
ſchiedenen Völkern einer Hauptnation ſich verſchieden ausbilbete, mit
andern mannigfach verwehte und Namen und Orte verwechſelte“ 5).
Dies weift Grimm beifpielsweife an der Dichtung von König Er-
manaricus eingehend nad) 6). Auf diefe Art ift der größte Theil
deſſen zu erflären, was ber nordiſchen und der deutſchen Poefie ger
meinfam ift. Das Verhältniß der nordiſchen Poefie zur deutſchen
iſt nämlich im Ganzen betrachtet dies: „Skandinavien Hat nit
1) Ebend. ©. 109. — 2) Ebend. ©. 110. — 3) Ebend. S. 111.—
4) Ebend. S. 119. — 5) Ebend. ©. 91 fg. — 6) Ebend. S. 929.
Reumer, Gelb. der germ. Thilolagie. 7
418 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
nur eine ihm allein eigenthũmliche, fondern auch eine mit Germa-
nien gemeinfhaftlih erworbene; jedem Bolt gebührt derſelbe An-
fprud darauf, und wenn daher eine Sage bei beiden angetroffen
wird, fo berechtigt dies nicht, auf ein Erborgen von einer Seite zu
fliegen. Indeſſen mag zur Verwirrung ber Umftand beigetragen
Haben, daß in fpäterer Zeit wirklich deutſche Nationalgebichte in das
Standifhe überjegt wurden“ 1). Die norbifhen Sagen theilt
Grimm in hiſtoriſche und poetifhe. Die hiſtoriſchen braucht er nur
beiläufig zu erwähnen, da fie dem Norden ausſchließlich angehören.
Was dagegen die poetifhen betrifft, fo find die dem Norden allein
zulommenden „von benen zu unterſcheiden, die auch wieder in
Deutſchland gefunden werben. Unter den letzten find diejenigen
gemeint, die auß ben Zeiten ber Völferwanderungen ihre Entiteh-
ung herleiten, wo ein alfjeitiges Drängen die Völker vermiſchte,
unter denen auch nordiſche Helden ftanden. Für ihre Thaten blieb
ihnen billig der Ruhm in dem Gefängen ihres Volks“ 2). Zu
diefem alten Gemeingut der Standinavier und der Deutſchen rede
net W. Grimm den Theil der Helbenlieber der älteren Edda, der
ſich auf die Völfungen und Giukungen bezieht, damals aber noch
nit gebrudt war; dann bie Völſunga und „die Norna Geſters
. Saga.” „Diejes find die Sagen, welde ven Heldenkreis ausführ-
lich behandeln, aber au durch andere zieht die Erinnerung daran
in mannigfahen Anklängen“ 3), „Wie bei uns, fo wurzelt auch
bier die Dichtung in vaterländiſchem Boben, umd Alles ift eigen
thümli entfaltet“ 4). „Bei fo ganz einheimiſcher Geftaltung ber
Poeſie, die nicht die herüberpflangende Kunſt eines Gingelnen geben
Tann, ift e8 [on unmöglih, un ein Abborgen zu deuten. Dann
aber find in dem Norden, wie in Germanien, die frühen Spuren
von ber Eriſtenz dieſer Gedichte gezeigt, daß man den Moment des
Entleihens bis in die Zeit ihrer Entftehung zurüchſchieben müßte‘).
„Vielmehr darf man es fo betrachten, baf beide Völker durch Heer
Züge und Kriege vereinigt eine gemeinfame Poeſie erwarben.”
1) &bend. ©. 220. — 2) hend. S. 236. — 3) hend. S. 29. —
4) hend. ©. 240. — 5) Eben. ©. 241.
Das Lehen und bie Arbeiten der Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 419
Dahin gehören nun auch die däniſchen Bolfglieder, „die unter dem
Titel Kiämpe Viiſer (Kämpfer Lieder) bekannt find“ 1), jo weit fie
mit der deutſchen Sage in Zufammendang ftehen. Sie find, mit
vereinzelten Ausnahmen, feine Ueberfegungen aus bem Deutſchen,
fondern uralte Heldenlieder, wie fie früherhin ſowohl die Deutfchen,
als die Sfandinavier befefen, aber allein die Standinavier erhalten
haben 2).
Bon dieſen wrgemeinfamen Dichtungen unterfdeidet Grimm
die aus dem Deutſchen in das Nordiſche überfegten. Dahin gehört
vor alfem die Wilfina Saga, deren Urfprung und Bufammen-
fetumg Grimm eine ausführlihe Unterfußung widmet 3). Ueber
monde andere Sagen, 3. B. die Blomfturvalla, kann er fein Ur-
theil fällen, da fie noch nicht gebrudt waren. Die zweite Klaſſe
vom nordiſchen Ueberjegumgen, welche der romantiſchen Poefie ange-
hört, behandelt Grimm nur beiläufig, bemerkt aber bereits, daß
vielleicht mandes Verlorene aus diefen Kreifen fih durch die nor-
diſchen Weberfegungen ergänzen laffen werbe ). Am Schluß hebt
er in nachdrücklichen Worten die hohe Wichtigkeit hervor, die das
Studium der fo überaus reichen nordiſchen Poefie habe. „Wir
können Taum etwas mehr von Bedeutung dagegen ftellen, als das
Nibelungen - Lieb, wobei es nur erfreulich, daß gegen bie Vollendung
und Herrlichkeit desfelben dort Nichts gehalten werben kann.” Cine
Anzahl von Ueberfegungen aus dem Altnorbifhen und Däniſchen
find der epochemachenden Abhandlung als Beilagen Hinzugefügt.
Bilgelm Grimm's erfies felbfänbig erfgienenes Bert: Alt
bänifge Heldenlieber 1811.
Am Jahr 1811 erfien zu Heidelberg Wilhelm Grimm's
etſtes felbftändiges Wert: Altvänifche Heldenlieder, Balladen und
Marchen, überfegt von Wilhelm Carl Grimm. Das Bud, ftellt
1) Ebend. S. 243. — 2) Ebend. S. 247. — 3) Ebend. S. 49 —
37. — 4) Us Beifpiel führt W. Grimm ©. 259 die Ereds Saga an,
die belannilich feitdem auch in Hartmann's mittelhochdeutſcher Dichtung wieder
aufgefunden worben if. 2°
420 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
fih eine doppelte Aufgabe. Es will einerjeits ber Verbreitung
echter und volfsthümlicher Dichtung dienen und wenbet fih in bie
ſem Sinn an alle, die Luft und freude am der Poefie haben.
Andrerjeits ift ihm die Poefie und ihre Geſchichte ein Gegenſtand
der Forſchung, und infofern fegt es die Unterfuchungen fort, die in
der oben beſprochenen Abhandlung über das Verhältniß ber alt-
deutſchen Poefie zur nordiſchen begonnen waren. Die Dänen ber
figen einen großen Schat an Vollsliedern, theils Heldenliedern
theils Liebesliedern. Die erfteren waren ſchon von Sörenſen
Bebel im Yahr 1591 und dann vollftändiger von Peter Sy im
Jahr 1695 unter dem Titel Kämpe-Bifer herausgegeben worden;
die Iegteren erfdienen im J. 1657 unter dem Titel: Elslors
Bifer (Liebeslieder) 1), Grimm wählte aus diefen Sammlungen
vierzehn „Helbenlieber“ und ein und neunzig „Balladen und Mär
Gen“ aus und bot fie hier dem deutſchen Publicum im möglicft
treuer Nachbildung dar. In einer ausführlichen Vorrede und
einem Anhang gelehrter Anmerkungen unterfuht er das Ber-
hältniß der altdäniſchen Volkslieder zu den nordiſchen und beit
fen, fo wie zu den Dichtungen anderer Völler und zur voefie
überhaupt. Am wichtigften find ihm bie altdäniſchen Helden⸗
lieber megen ihres augenfälligen Zuſammenhangs mit dem Sa
genkreis unferes Nibelungenliedes. Die Unterfuhung ergibt ihm
das auffallende Reſultat, daß dieſe Lieder mit der urfpräng
lich nordiſchen Dichtung, wie fie in der Völſunga, Norm
geſtur Saga und in der Edda vorliegt, faft gar keine Wehnliheit
haben 2), dagegen bie größte Verwandtſchaft mit ben deutſchen Dich⸗
tungen dieſes Sagenkreiſes zeigen. Dennoch aber Hält fie Grimm
für echte däniſche Originale, weil fie durchaus feine Kennzeichen
von Ueberfegung an fih tragen, wie fi um fo deutlicher ergikt,
wenn man fie mit dem wirklich aus dem Deutſchen überfegten Lied
vom alten Hildebrand vergleiht ). Sole einzelne Heldenliedet
bat auch das deutſche Volt einft beſeſſen. Sie haben ſich in den
1) ®. Grimm’s Borr. zu ben Wltbänifgen Heldenliedern ©. VII iä
— Bel. 0. ©. 101. — 2) Altdan. Heldenlieder ©. 427. — 3) Ei.
©. 488,
Das Leben und bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 421
dentſchen Nibelungen vereinigt, aber die einzelnen Lieber, die biefem
vorangiengen, find in Deutſchlaud verloren. Die altvänifchen Helden-
lieder zeigen uns das Verlorene in einer verwandten Geftalt 1).
Eine andere Seite des vorliegenden Buches bilden die unter
der Ueberſchrift: „Balladen und Märchen", zufammengefaßten Lie-
der. Hier berührt ſich Grimm's Sammlung mit dem, was Arnim
und Brentano im Wunberhorn für das deutihe Volkslied leiſten
wollten. Selbſt das Aeußere des Buchs mit feinem in Kupfer ge
ſtochenen Titel, der von Randzeichnungen in Dürer's altdeutſcher
Weiſe eingefaßt ift, erimmert an dieſe Verwandtſchaft. „Diefe Bal-
laden und Märden, fagt Grimm, werden den Meiften näher ftehen
(als die Heldenlieder), nicht nur wegen ihrer Mannigfaltigteit, fon-
dern auch weil es unmöglich ift, daß diefe Poeſie nicht für jedes
Gemüth einen Punkt Habe, der es berühre und erfreue" 2). „m
den Märchen ift eine Zauberwelt aufgethan, die auch bei ung fteht,
in heimlichen Wäldern, unterirdiſchen Höhlen, im tiefen Meere,
und den Kindern noch gezeigt wird“ 3). „Diefe Märden verbienen
eine befjere Aufmerkamfeit, als man ihnen bisher geſchenkt, nicht
nur ihrer Dichtung wegen, die eine eigene Lieblichleit hat, und die
einem jeden, ber fie in der Kindheit angehört, eine goldene Lehre
und eine heitere Erinnerung daran durch's ganze Leben mit auf
den Weg gibt; fondern au, weil fie zu unfrer Nationalpoefie ge-
hören, indem fi nachweifen läßt, daß fie fhon mehrere Jahrhun⸗
derte durch unter dem Volk gelebt" *).
Was die Verwandtſchaft der altdäniſchen Balladen mit benach⸗
barter Poefie betrifft, jo bemerkt Grimm ihre auffallende Wehnlich-
keit mit den englifen, „ſowohl an Tiefe und Weltanfiht, als in
der äußerlihen Darftellung. Nur ſcheint es, als ob die eng.
liſchen, als fpäter gefammelt, ausgebildeter, aber auch breiter
wären“ 5), „Weniger bemerkbar ift eine Webereinftimmung ber
dãniſchen Lieder mit dem deutſchen. Dieſe erſcheinen in ihrer
1) Ebend. Borr. S. XXII. —- 2) Ebend. Borr. S. XXIV. — 3) Ebb.
Bar. 6. XVI. — 4) Eben. Bor, S. XXVI fg. — 5) Ebend. Bor.
6 IIXL
422 Drittes Bud. Drittes Kapitel,
Sammlung mannigfacher durch die verſchiedenſte Art und Manier
der Dichtung, während jene ſämmtlich eine gewiſſe nationale Eigen-
thümlichkeit ind Familienãhnlichkeit Haben. Wir zweifeln aber nicht,
daß diefe Mannigfaltigteit der Deutſchen durch den Beitrag fpäterer
Jahrhunderte, die verſchiedene fremdartige Einflüffe empfangen, ent-
ftanden fei, wodurch ihre Reinheit geftört und ihre urſprüngliche
Natur verſteckt worden” !). „Wenn man aus der deutſchen Samm-
lung (dem Wunderhorn) diejenigen Lieber herausfceidet, von wel-
Ken man vermuthen darf, daß fie mit den däniſchen won gleichem
ter, mithin vor dem 17. Jahrhundert fon da geweſen find, und
die, wenn man vergleichen will, allein dürfen dagegen gehalten
werben, fo zeigt fi eine unlengbare Verwandtſchaft in dem Geilt
der Dichtung“ 2).
Die gemeinfamen Arbeiten ber Brüber Grimm 1812 bis 1816.
Wir find den Arbeiten Jacob Grimm's und denen feines Bru⸗
ders Wilhelm bis zu dem Zeitpunkt gefolgt, in welchem die „Brä-
der Grimm“ 3) mit ihrer erften gemeinfamen Leiftung vor die
Deffentlifeit traten. Während fie in ben bisher befprodjenen
Arbeiten jeder in feiner eigenthümlichen Weife der Erforſchung bes
deutſchen Alterthums dienten, hatten fie in der Stille gemeinfam bie
Plane gefaßt, die Sammlungen angelegt, durch welche bie Aufgaben
gelöft werden follten, von denen fte im ihren bisherigen Schriften
gewiffermaßen das Programm gegeben hatten. Die deutſchen Märs
en und die deutſchen Sagen wurden geſammelt, mit der Heraus
gabe altdeutſcher und altſtandinaviſcher Dichtungen ein Anfang
gemacht und eine Zeitſchrift gegründet, die allen diefen Zwecken und
der deutſchen Altertfumsforihung überhaupt nad) ihren verſchiede ⸗
nen Seiten hin dienen follte.
1) Ebend. Bor. S. XXXIII. — 2) Ebend. Vorr. S. XXXIV ig. -
3) In ber erfien Zeit ihres gemeinfamen Auftrelens naunten fig Jacob und
Wilh. Grimm „Gebrüder Grimm." So unterzeichnen fie z. B. bie Antün
bigung ihrer Ebda= Ausgabe in Gräter’s Anzeiger zu Idunna und Hermode
vom 18, Jan. 1812. Auf bem Titel ber Ebbalieder ſelbſt (1815) menmen fe
ſich „Brüder Grimm.“
Das Leben und bie Arbeilen ber Yrüber Grimm bis zum Jahr 1819. 428
Die Kinder: und Hausmärden ber Brüder Grimm.
Eima um das Jahr 1808 1) begannen die Brüder Grimm,
die Sammlung von Märchen anzulegen, die dann nad) ſechs Jahren
veröffentlicht wurde unter dem Titel: „Kinder und Haus-Märchen.
Gefammelt durch die Brüber Grimm. Berlin, in ver Realſchul⸗
buchhandlung. 1812.” In ber Borrebe, unterzeichnet „Cafjel, am
18. October 1812”, ſprechen fi die Brüder über Art und Zweck
ihrer Sammlung aus. Was fie ſelbſt geben, ift der mündlichen
Ueberlieferung entnommen. „Alles ift mit wenigen bemerkten Aus-
nahmen, Heißt es in ber Vorrede, fait nur in Heſſen und ben
Moin» und Kinziggegenden in ber Grafihaft Hanau, wo wir her
find, nad) mündlicher Ueberlieferung gefammelt; darum knüpft fi
uns an jedes Einzelne noch eine angenehme Erinnerung. Wenig
Vücer find mit folher Luft entftanden, und wir fagen gern bier
noch einmal öffentfih Allen Dank, die Zeil daran haben“ 2).
Das Streben der Brüder gieng dahin, die Märchen ganz fo zu
geben, wie fie durch den Volksmund überliefert find. „Wir haben
ums bemüht, fagen fie, diefe Märchen jo rein als möglich war
aufzufaffen, man wird in vielen die Erzählung von Reimen und
Verſen unterbrochen finden, die ſogar manchmal deutlich altiterieren,
beim Erzählen aber niemals gefungen werben, und gerabe dieſe
find die älteften und beiten. Sein Umſtand ift hinzugedichtet ober
verfönert und abgeändert worden, denn wir hätten uns geſcheut,
in ſich feldft fo reihe Sagen mit ihrer eigenen Analogie oder Re-
minifcenz zu vergrößern, fie find unerfindlih. In dieſem Sinne
aiftiert noch Feine Sammlung in Deutihland, man hat fie fait
immer nur als Stoff benugt, um größere Erzählungen daraus zu
machen, die willkürlich erweitert, verändert, was fie auch ſonſt
werth fein konnten, doch immer ben Kindern das Ihrige aus den
Händen riffen, und ihnen Nichts dafür gaben." „Wären wir fo
glüdlih geweien, fie in ehem recht beftimmten Dialeft erzählen zu
H Kinder: unb Haus = Märden, Berlin 1812, Bor. ©. VI. —
9) Ebend. ©. Vi fg.
424 Drittes Bud. Drittes Kapitel,
können, fo zweifeln wir mit, würben fie viel gewonnen haben;
es ift hier ein Fall, wo alle erlangte Bildung, Feinheit und Kunft
der Sprade zu Schanden wird, und wo man fühlt, daß eine ge
läuterte Schriftſprache, fo gewandt fie in allem Andern fein mag,
heller und durchſichtiger, aber auch fÄmadlofer geworben, und
nicht mehr feft an den Kern fh fliege“ '). Wo ihnen ein Mär-
chen in einem „redit beſtimmten Dialet“ mitgetheilt wirb, da hal
ten fie an ber Mundart feſt. So in bem Märden „Bon ben
Fiſcher und fine Fru“ 2), „meldes ber felige Runge aus ber
pommerſchen Mundart trefflich niedergeſchrieben“ und das Arnim
den Grimm „im Jahr 1809 freundſchaftlich mittheilte“ ); und
ebenſo geben fie „das wunderſchöne Märchen“ „Ban den Machan⸗
vel-Boom“, das fie von Runge erhielten, plattdeutſch. Aber wo
die Mittheilung nicht in einer „recht beftimmten“ Mundart ger
ſchah, da machen fie die Sprache ſchriftdeutſch; und fie tun bies
in der bewundernswerthen Weife, bie alle munbartlicen Formen
abfteeift unb dabei doch bie ganze Einfachheit beibehalt, durch welche
ſich die Volksſprache von ber Schriftſprache unterſcheidet. Die
Sprade, deren die Grimm ſich zu diefem Zwed bedienen, ift da
duch das Vorbild für alle ähnlichen Unternehuungen geworben.
Den Kindern und bem Boll ihre ſchönen Märchen erzäplen
und erhalten wollen die Grimm durch ihre Sammlung. „Es
war vielleicht gerabe Zeit, dieſe Marchen feſtzuhalten, fagen fie, da
diejenigen, bie fte bewahren follen, immer feltner werden; freilid,
die fie noch wiffen, wiſſen auch recht viel, weil die Menſchen ihnen
abſterben, fie nicht ben Menſchen“ 4)" „Wo biefe Märden noch
da find, da leben fie jo, daß man nicht daran dent, ob fie gut
ober ſchlecht find, poetiih ober abgeſchmackt, man weiß fie und liebt
fie, weil man fie eben fo empfangen hat, und freut fi) baran
ohne einen Grund dafür: fo herrlich ift die Sitte, ja aud das hat
diefe Poefie mit allem Unvergängligen gemein, dag man ihr ſelbſt
gegen einen andern Willen geneigt fein muß.“ „Wir wollen in
1) Ebend. S. XVII fg. — 2) Nr. 19, ©. 68. — 3) Anfang 6X
— 4) Bor. 6. VII.
Das Leben und bie Arbeiten der Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 425
gleichem Sinn Hier die Märchen nicht rühmen ober gar gegen eine
entgegengefeßte Meinung vertheidigen: jenes bloße Dafjein reiht
Hin, fie zu ſchützen. Was fo mannigfah und immer wieder von
neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, das trägt feine Nothwen⸗
digkeit im ſich und ift gewiß aus jener ewigen Quelle gelommen,
die alles Leben bethaut, und wenn es auch nur ein einziger Tro⸗
pfen wäre, ben ein Meines, zuſammenhaltendes Blatt gefaßt hat,
ſo fhimmert er doch in dem erften Morgentoth." Syn biefem Sinn
beſtimmen die Grimm ihr Buch den Kindern und dem Bolte. „Wir
übergeben dies Buch wohlmollenden Händen, fo ſchließen fie ihre
vorrede, dabei denken wir überhaupt an die fegnende Kraft, die in
diefen Tiegt, und wünfchen, daß benen, welche diefe Brofamen ber
Boefie Armen und Genügfamen nicht gönnen, es gänzlich verborgen
bleiben möge.”
Aber mit biefer unmittelbar praktiſchen Seite ift der Zweck,
den die Brüder Grimm bei ihrem Märchenſammeln verfolgen,
nicht erſchöpft. Die Märchen find ihnen zugleih ein Gegenftand
ernfter Forſchung, der mit ihren Unterſuchungen über die Sage, ben
Mythus und die Poeſie der Völker in nächſter Beziehung fteht.
min ihrer äußern Natur, Heißt es in ber Borrebe, gleichen biefe
Dichtungen alfer volks⸗ und fagenmäßigen: nirgends feſtſtehend, in
jeder Gegen, faft in jedem Munde fih ummandelnd, bewahren fie treu
denſelben Grund.” Die Grimm fuchen num, diefe Märchen bis in
das tieffte Altertum des Volkes zurüdzuverfolgen, indem fte die»
felben „mit dem großen Helbenepos und der einheimifhen Thier-
fobel“ in Bufammenhang bringen. Ebenfo berufen fie ſich auf deren
weite Verbreitung unter den verfdiebenartigften Völlern. Die
Märden „erreichen Hierin nicht bloß die Heldenfagen von Sieg.
fried dem Dradentöbter, ſondern fie übertreffen biefe fogar, indem
wir fie, und genau dieſelben, durch ganz Europa verbreitet finden,
fo daß ſich in ihnen eine Verwandtſchaft der edelften Völler offen-
bart* 1). In dieſem Sinn nun ziehen die Grimm in ber Vorrede
und in einem befonderen Anhang am Schluß des Buchs Alles
1) Borr. S. ZI ig.
426 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
heran, was fie an Märchen anderer Völker auftreiben können.
Natirlih kommt ihnen aud Hier nur das in Betracht, was ihrer
Anſicht nad einen wirklich vollsmäßigen Stempel trägt. So für
Frankreich Charles Perrault (geboren 1633, geftorben 1708); für
alien die Nächte des Straparola, befonbers aber ber Pentame
vone des Baſile. Man erfieht aber aus dem bisher GErörterten
zugleich, daß die Grimm mit ihren Vorgängern auf deutſchem Bo-
den nicht viel anfangen konnten. „Muſäus und Naubert, fagen
fie, verarbeiten meift, was wir vorhin Localfage nannten, der viel
ſchätzbarere Otmar nur lauter ſolche; eine Erfurter Sammlung von
1787 ift arm, eine Leipziger von 1799 gehört nur Halb hierher,
wiewohl fie nicht ganz fchlecht zu nennen, eine Braunſchweiger von
1801 unter diefen bie reichſte, obgleih mit ihnen in werfehrtem
Ton. Aus der neuften Büſchingiſchen war für uns nichts zu neh⸗
men, ausbrüdlid aber muß noch bemerkt werden, daß eine vor ein
paar Jahren von einem Namensverwandten A. 2. Grimm unter
dem Titel: Kindermärchen, zu Heidelberg herausgelommene, nicht
eben wohl gerathene Sammlung mit uns und ber unfrigen gar
nichts gemein hat“ 1). Im Gegenſatz zu ihren Vorgängern befan-
deln die Grimm ihre Terte mit der größten Gewiffenhaftigteit und
ſchließen ihnen in den Anmerkungen bie forgfältigften Erörterungen
über abweichende Darftellungen desſelben Märhens und über die
Verwandtſchaft mit den Märden anderer Völfer an.
Kaum zwei Jahre nad) der Herausgabe ihrer Kinder- und
Haus-Märhen konnten die Grimm einen „Zweiten Band“ ald
Fortſetzung erſcheinen Laffen 2). Das Glüd war ihrem warmen
1) Bor. ©. XIX Anm. Ebenda werben auch bie 1813 in Jena bi
Boigt in neuer Titelausgabe erfcienenen Wintermärchen vom Gevatter Johann
mit Ausnahme des ſechſten und zum Theil des fünften für werthlos erflärt. —
2) Iqh bemerfe, daß die erfle im Jahr 1812 erigienene Sammlung neh
nicht bie Bezeichnung: Erſtet Band, hat. Der Zweite Band trägt zwar auf
bem Titel bie Jahrzahl 1815, aber bie Borrebe ift unterzeichnet: „Gafid,
am 30. September 1814.° Da num die Vorrede ber erften Sammlung „am
18. October 1812 untergeidgnet if, fo ergibt fi, daß zwiſchen dem Abſqhlut
der erften und der zweiten Sammlung noch nicht gauz zwei Japıe liegen.
Das Lehen und bie Arbeiten der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 427
Eifer entgegengelommen. Weftfälifhe Freunde hatten plattdeutſche
Mörhen aus dem Fürftenthum Paderborn und Münfter beige-
fteuert. Beſonders wichtig aber war die Bekanntſchaft mit einer
Bäuerin aus dem nahe bei Kaffel gelegenen Dorfe Zwehrn, die den
Grimm eine Menge von echt heſſiſchen Märchen erzählte 1). So
lonnten fie jegt die Nachweiſungen, wie eng diefe Märchen mit der
deutfchen Heldenbichtung und dem „urbeutichen Mythus“ zufammen-
hängen, noch bedeutend vermehren ?). „Wir wollten indes, fagen
fie, durch unfere Sammlung nicht Bloß der Geſchichte der Poefie
einen Dienft erweifen, es war zugleich Abficht, daß die Poefie ſelbſt,
bie darin lebendig ift, wirfe; erfreue, wen fie erfreuen kann, und
darum auch, daß ein eigentliches Erziehungsbuc daraus werde” 3).
Und in welchem Maß ift ihnen diefe Hoffnung in Erfüllung ge-
gangen! Wie erfreut fih Jung und Alt an den Föftlichen Ge-
ſchichten: Vom Sneewittchen, vom Brüderhen und Schweſterchen,
von Hänfel und Gretel, und wie die ſchönen Märchen alle heißen!
Denn fo viele und werthvolle Bereicherungen auch die folgenden
Auflagen erhalten haben, die Märchen diefer erften Ausgabe find
do immer der weſentlichſte Grundſtock des Ganzen geblieben.
Die folgenden Ausgaben der Kinder und Hausmärden wurben
nicht nur duch neu hinzugefammelte Märchen vermehrt, fondern
insbefondere auch durch weitere Ausführung ber in den Anmerkun-
gen ber erften Ausgabe begonnenen Unterfuhungen über die Ges
ſchichte und Literatur der Märchen bereihert. Diefe Unterfuhungen
bilden in der zweiten Auflage (Berlin 1822) einen bejonderen brit-
ten Band. Die Genauigkeit und Treue in ber Nachweiſung und
Wiedergabe der verſchiedenen Darftellungen, die fi von einem
und demfelden Märchen finden, find in dieſen erweiterten Anmer-
kungen wo möglich noch gefteigert. — Bei der erften Ausgabe
der Märchen waren beide Brüber in gleihem Maß thätig, bie
fpäteren und insbefonbere die im Jahr 1856 zu Berlin erſchienene
erweiterte dritte Auflage der Anmerkungen hat Jacob ganz Wil-
1) Rinder» und Haus- Wären, 8b. II, Bor. &. IV fg. — 2) ©. b.
Stelle aus der Bor. S. VI fg. — 3) Borr. ©. VIII.
428 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
helm überlaffen 1). Die Kinder- und Hausmärden find das ver-
breitetſte Buch der Brüder Grimm. Im Jahr 1864 erſchien
davon die achte Auflage, und daneben war eine Meinere Auswahl
bis zum Jahr 1869 in vierzehn Auflagen verbreitet. Und ebenſo
wie diefe Märhenfammlung dem deutſchen Volke einen unerſchöpf⸗
lien Schatz von Poefie geboten hat, ift fie in ihrer gewiſſenhaften
und gründlichen Weife von hoher Bedeutung für die Wiſſenſchaft
gervorden. Denn wenn auch die Folgezeit, wie wir fpäter jehen
werben, bie Anfihten, melde die Brüder Grimm über unfere Mär-
Gen Hatten, nicht unweſentlich berichtigt hat, fo Hat dod auch für
diefe Berichtigung ber treue Ernſt ihrer Forſchung die Bahn ge
brochen.
Die deutſchen Sagen ber Brüder Grimm.
Wenn wir an bie deutſchen Märchen der Brüder Grimm jo
glei die Beſprechung ihrer deutfhen Sagen anſchließen, fo ver
laſſen wir die chronologiſche Reihenfolge ihrer Schriften, um jene
nah verwandten Stoffe nicht auseinander zu reißen. Um biefelbe
Zeit, wie die Märden, hatten die Grimm aud die Sagen be
deutſchen Volkes zu fammeln begonnen 2). Nach zehnjähriger Th
tigkeit veröffentlichten fie unter dem Titel: „Deutſche Sagen.
Herausgegeben von den Brüdern Grimm. Berlin 1816", eine
Sammlung, die zwar nicht denfelben äußerlichen Erfolg, wie die
Märchen, aber einen nicht geringeren Werth als diefe hatte. Der
erften Sammlung folgte im Jahr 1818 ein Zweiter Theil, der das
Unternehmen nad feinen verſchiedenen Seiten hin abſchloß. Das
Gemeinfame und das Unterſcheidende des Märchen, der Sage und
der Geſchichte ſprechen bie Brüder in der Vorrede zum erften Band
der Sagen in den ſchönen Worten aus: „Es wirb bem Menſchen
von heimathswegen ein guter Engel beigegeben, ber ihm, wenn er
1) Vgl. Jacob Grimm's Brief an Franz Pfeiffer vom 19. gebt. 1860
in Pfeiffer's Germania, Jahrgang XI, 2. Heft, Wien 1866, &.249, mb bie
Bibmungen vor ber 7. Aufl. der Märchen, Göttingen 1857. — 2) Deutihe
Sagen (D, Bor. 6. XX.
Das Leben und bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 429
ins Leben auszieht, unter der vertraulichen Geftalt eines Mitwan⸗
dernden begleitet; wer nicht ahnt, was ihm Gutes dadurd wider
fährt, der mag es fühlen, wenn er die Gränze des Vaterlands
überfchreitet, wo ihn jener verläßt. Diefe wohlthätige Begleitung
iſt das unerſchöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geſchichte,
welde nebeneinander ftehen und uns nadeinanber die Vorzeit als
einen friſchen und belebenden Geift nahe zu bringen ftreben. Jedes
hat feinen eigenen Kreis. Das Märchen ift poetiſcher, die Sage
hiſtoriſcher; jenes ftehet Beinahe nur im ſich felber feft, in feiner
angeborenen Blüte und Vollendung; die Sage, von einer gerin-
gern Mannigfaltigfeit ber Farbe, Hat noch das Beſondere, daß fie
am etwas Belanntem und Bewußtem hafte, an einem Ort ober
einem durch die Geſqhichte geſicherten Namen. Aus biefer ihrer
Gebundenheit folgt, daß fie nicht, gleich dem Märchen, überall zu
Haufe fein könne, fondern irgend eine Bedingung vorausſetze, ohne
melde fie bald gar nicht da, bald nur unvolltommener vorhanden
fein würde“ ). „Um alles menſchlichen Sinnen Ungewöhnliche,
was die Natur eines Landſtrichs befigt, oder weſſen ihn die Ge-
ſchichte gemahnt, fammelt fih ein Duft von Sage und Lieb, wie
fih die Ferne des Himmels blau anläßt und zarter, feiner Staub
um Obft umd Blumen jet“ 2). „Weber den Verzug beider zu
fireiten, wäre ungeſchickt; auch foll durch biefe Darlegung ihrer
Verſchiedenheit weder ihr Gemeinfchaftliies überjehen, noch geläug-
net werden, daß ſie in unendlichen Miſchungen und Wendungen in
einander greifen und ſich mehr oder weniger ähnlich werden. Der
Geſchichte ſtellen fi beide, das Märchen und bie Sage, gegenüber,
infofern fie das ſinnlich Natürliche und Begreifliche ftets mit dem
Unbegreiflichen mifchen, welches jene, wie fie unferer Bildung ange-
meſſen ſcheint, nicht mehr in der Darftellung felbft verträgt, ſon⸗
dern es auf ihre eigene Wetfe in ber Betrachtung bes Ganzen neu
hervorzuſuchen umd zu ehren weiß“ 9). „Man Tann ber gewöhn⸗
lichen Behandlung unferer Geſchichte zwei, und auf ben erſten
1) Deutfje Sagen. Her. von ben Brübern Grimm. Berlin 1816,
Borr. S. V fg. — 2) Ebend. ©. IX. — 3) Ebend. &. VII fg.
430 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
Schein fi widerſprechende Vorwurfe maden: daß fie zu viel und
zu wenig von ber Sage gehalten habe. Während gewiſſe Um-
ftände, die dem reinen Elemente der Ießteren angehören, in die
Neihe wirklicher Ereigniffe eingelaffen wırrden, pflegte man andere
ganz gleichartige ſchnöde zu verwerfen als fade Mönchserdichtungen
und Gefpinnfte müßiger Leute. Man verfannte alfo die eigenen
Gelege der Sage, indem man ihr bald eine irdiſche Wahrheit gab,
die fie nicht hat, bald die geiftige Wahrheit, worin ihr Weſen be
fteht, abläugnete* i). Denn die Sage fieht mit anderen Augen
als die Geſchichte, „fie weiß alle Verhältniſſe zu einer epiſchen Lau
terfeit zu fammeln und wieder zu gebären. Es ift aber ſicher jedem
Volle zu gönnen und als eine edle Eigenſchaft anzurechnen, wenn
der Tag feiner Geſchichte eine Morgen- und Mendbämmerung der
Sage hat; oder wenn bie, menſchlicher Augenſchwäche doch nie ganz
erſehbare Gewißheit der vergangenen Dinge, ftatt der jchroffen,
farblofen und ſich oft verwiſchenden Mühe der Wiffenihaft, fie zu
erreihen, in dem einfachen und Maren Bildern der Sage, wer jagt
es aus, durch weldes Wunder gebroden, wiederſcheinen kann“ 2).
Freilich, wo die verbürgte Gefchichte uns die ergeifenden Züge des
wirklich Geſchehenen aufbewahrt Hat, da „fteht ihr jede Sage nach
wie ber Tugend bes wirklichen Lebens jede Tugend der Poefie‘ 9.
„Aber alles, was dazwiſchen liegt, ben unſchuldigen Begriff der
dem Bolfe gemüthlihen Sage verſchmäht, zu ber ſtrengen md
teodenen Erforſchung der Wahrheit aber doch keinen rechten Muth
faßt, das ift der Welt jederzeit am unnügeften geweſen“ 3).
Indem fo die Grimm für die Sage beren eigene Rechte md
Geſetze in Anfpruc nehmen, erklären fie: „Das erfte, was wir
bei Sammlung der Sagen nicht aus ben Augen gelafien haben,
ift Treue und Wahrheit. Als ein Hauptjtüd aller Geſchichte hat
man dieſe noch ſtets betradtet; wir fordern fie aber eben fo gut
aud für die Poeſie und erkennen fie in der wahren Poefie eben
fo rein“ 4). — Als ihre hauptfählihfte Quelle betrachteten bie
1) Deutſche Sagen. Zweiter Theil, Bor. ©. IV. — 2) Cbend. E.V.
— 3) Ebend. — 4) Deutfe Sagen (1) Bor. ©. X.
Das Leben und bie Arbeiten der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 481
Grinm die mündliche, lebendige Erzählung. Zugleich aber arbeir
teten fie bie VBücher durch, in benen fie Etwas für ihren Zweck
u finden Hofften. Die bebeutendfte Ausbeute gewährten ihnen die
Shriften des geſchmackloſen, aber ſcharffichtigen und gelehrten Fo,
hannes Prätorius aus der zweiten Hälfte bes 17. Jahrhunderts 1),
In den langen Zeitraum zwifchen ihm und Otmar's im Jahr
1800 erfhienener Sammlung ber Harziagen fällt kein einziges
Bug von Belang für deutſche Sagen. Mufäus und Frau Nau-
dert lommen nur infofern in Betracht, als fie einige echte Sagen
verarbeitet und bie Neigung darauf bingezogen hatten. Unter den
mmittelbaren Vorgängern ber Grimm hatte Wyß feine Schweizer
ſagen durch eigene Zuthaten entftellt 2), Die Sammlungen von
Viſching (1812) und Gottſchalt (1814) waren noch unvollen⸗
det, und die Grimm glaubten fi deshalb nicht berechtigt, das
wenige Unbelannte, was jene Sammlungen boten, in die ihrige
aufzunehmen. „Wir denlen keine fremde Arbeit zu irren oder zu
fören, jagen fie, fondern wünfgen ihnen glücklichen Fortgang“ 3).
dir die geſchichtlichen Sagen waren natürlich vor allem die hiſto⸗
tigen umd poetiſchen Quellen des Mittelalters durchzuarbeiten.
Die Grimm theilen ihren Sagenſchatz in zwei große Haupt
gruppen. Der erfte Band umfaßt die „mehr örtlich gebundenen“,
der zweite die „mehr gejhichtlich gebundenen“ 4), das ift die,
welche fi unmittelbar am die wirkliche Geſchichte ſchließen“ 5),
Bon den letzteren blieben jedoch die Sagen ausgeſchloſſen, welche
‚im dem eigenen und lebenbigeren Umfang ihrer Dichtung auf
ufere Zeit gelommen find” 6). Dahin gehören vor allen die Sa-
gen, beren Mitte das Nibelungenlieb und das Heldenbuch bilden. Dann
die große Hauptmaſſe des karolingiſchen Sagenkreifes und noch
mande andere”). Der Unterfuhung des Hier ausgeſchloſſenen
größten und wigtigften deutſchen Sagenkreiſes werden wir dann
inter das Hauptwert Wilhelm Grimm’s gewidmet fehen. — Bon
1) Ebend. S.XX fg. — 2) Ebend. S. XXI. — 3) Ebend.
6. XxIII. — 4) Ebend. ©. XVL — 5) Ebend. Theil II, vorr. ©. II.
— 6) Ebend. Theil II, Bor. ©. XI. — 7) Ebend. ©. XIIL
482 Drittes Buch. Drittes Kapitel.
ben deutſchen Sagen ift währenb bes Lebens ber Brüder Grimm
teine zweite Auflage erſchienen. Sie waren aber längft vergriffen,
als die Verfaffer ftarben. Doc erft nach ihrem Tode (1865) er-
ſchien eine neue Auflage.
Wie die Märchen, fo find die deutſchen Sagen ber Brüder
Grimm der Anftoß und das Vorbild für eine lange Reihe zum
Theil fehr vorzüglier Nachfolger geworden. Die Grimm erlann ⸗
ten ganz richtig, daß hier vor allem ein Beifpiel aufgeftellt werben
müſſe. „Die Erfahrung beweift, fagen fie, daß auf Briefe md
Schreiben um zu fammelnde Beiträge wenig ober nichts erfolge,
bevor durch ein Mufter von Sammlung felöft deutlich geworben
fein Tann, auf welche verachtete und ſcheinloſe Dinge es hierbei am
Tommt. Aber das Gefhäft des Sammelns, ſobald e8 einer erıft
lich thun will, verlohnt ſich Bald der Mühe, und das Finden reiht
nod am nädften an jene unſchuldige Luft der Kindheit, wann fie
in Moos und Gebüſch ein brütendes Vöglein auf feinem Net
überraſcht; e8 ift auch Bier bei den Sagen ein leiſes Aufheben der
Blätter und behutſames Wegbiegen der Zweige, um bas Wolf nicht
zu ftören und um verftohfen in die ſeltſam, aber beſcheiden in fih
geſchmiegte, nah Laub, Wiefengras und frifchgefallenem Regen
riechende Natur blicken zu können.“ i.
Die Altdeutſchen Wälder.
Bom Jahr 1818 His zum Jahr 1816 gaben die Brüder
Grimm neben ifren anderen Arbeiten eine Zeitſchrift heraus unter
dem Titel: Altdeutſche Wälder ). Der Zweck der Herausgeber
war, „aus ihrem gemeinſchaftlichen, beträchtlich angewachſenen Bor
rath altbeutfcher Poeſien Materialien mitzuteilen, bie nicht ohne
Abſicht fo vieljeitig als möglich audgelefen werden ſollen“ 3). „It
einmal ber durchdringende Reichthum unferer alten Poeſie anerkannt,
fagen fie, fo wird ſchon viel gewonnen fein“ >). „Es ift uns
1) Ebend. Th. J. Vort. S. XXVI. — 2) BandI, Gaffel 1819. Band TI,
Srankfurt 1815. Wand IIT, Frankfurt 1816. — 8) Altdeutſche Bälber,
Vd. I, Bor. ©. I.
Das Leben und die Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 433
darum zu thun, ein Teitiiches Material zu liefern, wie es vor
gründlichen Kennern beftehen ober fi rechtfertigen zu Tönnen
glaubt" 1). Abhandlungen über die verſchiedenen Begenftände der
deutſchen Alterthumsforſchung follten mit dem Ahbrud der Quellen
wechſeln. Bor allem Andern thue das Sammeln umd Bervielfäl-
figen Roth, wenn eine wahre Geſchichte der Poefie zu Stande
Iommen ſolle 2). Mit Ausnahme einiger wenigen Beiträge von
Docen und von Benecke ift der ganze Anhalt von den Brüdern
Grimm geliefert. Doc haben fie nur eine einzige Arbeit gemein»
ſam unterſchrieben; das Uebrige ift entweder mit Jacob's oder
mit Wilhelm's Anfangsbuchſtaben bezeichnet. Die umfangsreicfte
Abhandlung der ganzen Zeitſchrift find W. Grimm's „Zeugniffe
über bie deutſche Heldenſage“ ®). Hier fehen wir die kurzen An-
fünge, die wir in W. Grimm’s Abhandlung über die Entftehung
der altdeutſchen Poeſie haben kennen lernen, bereits dem Reichthum
vom deffen fpäterem Hauptwerk über die deutſche Helbenfage ſich
nähern. Jacob ftenert grammatifhe, exegetifhe, Tritiide und an⸗
dere Abhandlungen Bei; darunter auch ausführlihe Mitteilungen
über das „Geſellenleben“ aus ber Schrift des altenburgiſchen Con-
vers Frifius H, und „Waibfprüde und SZägerjcreie ®) aus
handſchriftlichen und gedrudten Quellen. Beide Brüder berei-
dern die Kenntniß der altdeutſchen Literatur durch Deröffent-
lichung noch ungebrudter altdeutſcher Terte, und auch Bier beginnt
®. Grimm bereits eine Arbeit, die ihn bis in feine fpäteren Le⸗
beusjahre befhäftigt Hat: Die Herausgabe ber goldenen Schmiede
des Conrad von Würzburg 9). Unter den durch Jacob Grimm
veröffentlichten Texten nehmen bie Mittheilungen aus ber zweiten
Hohenemſer Handſchrift 7) der Nibelungen bie erfte Stelle ein ®).
Bir haben gefehen, daß diefe Handſchrift, aus welcher Bobmer im
1) Ebend. S. UII. — 2) Ebend. S. V. — 3) Ebenb. Band I,
6. 195— 823, unb Nachträge bazu Banb II, ©. 252-277. — 4) Ebenb.
Band I, ©. 83-122. — 5) Ebend. Bd. IN, ©. 97—148. — 6) Ebenb.
Band II, ©. 193—288. — 7) D. i. Hohenems » Lafıberg, jekt in Donaus
hingen (Ladimann’s C). — 8) Altdeutſche Wälder, Bd. Fr ©. 145—180.
Raumer, Geit. der germ. Philelogte,
484 Drittes Buch. Drittes Kapitel.
Jahr 1757 die zweite Hälfte der Nibelungen nebft der Klage hate
abbruden laſſen, längere Zeit verſchwunden und dann im ben Belt
eines gewiſſen Fridart in Wien gelommen wart). Hier unter⸗
fuchte fie Jacob Grimm während feines Anfenthaits zur Zeit dei
Wiener Congreſſes. In der vorliegenden Abhandlung gibt er
näheren Aufſchluß über dieſelbe, zeigt, wie Myller bie zweite Hälfte
der Nibelungen aus diefer, bie erfte aus ber anderen Hohenenter
Handiärift Herausgegeben hat?), umd legt zugleich feine Anfichten
über die Entftehung der Nibelungen dar. Er vewirft A. ®.
Sählege’s Muthmaßung, Ofterbingen ſei ihr Dichter ). „Die
Nibelungen, wie wir fie befigen, find nicht? anders, denn Ichendige,
aus der Vollspoeſie nothwendig, innerlich hervorgehende Umdicht
ung“ 9. „Wenn alſo die Nibelungen bloß eine vollamäßige New
geftaltung unverfiegter alter Grundlagen waren, fo konumt es wie
derum darauf an, ben Grab zu beftimmen, vermöge befien ber
Urheber ihrer gegenwärtigen Geftalt mehr als ein eigentlicher Um
dichter, oder mehr als bloßer Ahapfob, ber die Stäbe des alten
Lieds gefammelt umd wieder gebunden, erſcheine“ d). Obwohl es
ſchwierig iſt, das bereits Vorgefundene vom neu Sinzugefügten
ſtreng zu ſcheiden, fo läßt uns doch eine Vergleichung der Wiltinen⸗
fage mit nmferen Nibelungen einen hinreichend Haren Blid in bie
Entftehung ber legteren thun. Wir erkennen, „daß Safe mb
(was daraus folgt) Lied an anderer Stelle oder zu anderer Jet
bereits in lebendiger, voller Poefie vorhanden geivefen fein müſſe
Bon dieſen Niederjegungen, fo zu fagen zeitlichen Erſcheinungen des
Urftoffs wird jede in Wort und Inhalt eigenthämliche ihre Vorzüge,
wie Schwächen gehabt haben, und es kann anf ben leiblichen Berfofier
der einen ober der andern in den meiften Stüden weniger ber Nam
eines Umdichters als ber eines Umſammlers fallen“ %). Daraus folgt,
„wie wichtig für die genaue Einfiht und Kenntniß der wahren Be
deutung des herrlichen Gedichts gehöre, daß davon alle und jede
vorhandene eigenthümliche Handſchrift volfftändig für ſich und mit
1) ©. o. 6.328. — 2) Altd, Wälder 6,146. — 3) Cbend. 6.150.—
4) &benb. ©. 150 fg. — 5) Ebend. ©. 154. — 6) Ebert. S. 155.
Das Leben und bie Arbeiten der Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 485
andern unvermiſcht gebrudt erſcheine“ 1). Wie mißlich eine Ver⸗
mengung ber verſchiedenen Texte ſei, „bezeugt allem darauf ver⸗
wandten Fleiß zum Trotz die Hagen'ſche Ausgabe“ 2). Durch
Mittheilungen ans ber zweiten Hohenemſer Handſchrift liefert dann
J Grimm einen Beitrag zu der von ihm gewünſchten vollftändigen
Lenntniß ber Nibelungenterte 3).
Die Ausgabe bes Hilbebrandsliebs durch die Brüder Grimm,
Im Jahr 1812 erſchien zu Caffel: „Die beiden älteften beut-
ſchen Gedichte aus dem achten Jahrhundert: Das Lieb von Hilde
brand und Habubrand und das Weißenbrunner Gebet zum erfien
mal in ihrem Metrum dargeftellt und herausgegeben durch bie
Brüder Grimm.“ Beide Denkmäler waren erft vor nicht langer
Zeit von neuem herausgegeben worden: Das Hildebrandslied
durch Reinwald im Neuen Fiterarifhen Anzeiger vom Jahr 1808 4);
das Weffobrunner Gebet duch Gräter im Bragur °) und überfeßt
von Reinwald in Docen’s Mifcellaneen 9) und ebenda erläutert
von Doc ?), Die Brüder Grimm aber förderten nit mır an
fo manden Stellen die Kritik des Textes und die Erklärung, fon-
dern fie führten hier zum erftenmal ihre wichtige Entdeckung durch,
daß beide Denkmäler in alliterierenben Verfen gebichtet find. Was
das Hildehrandslied betrifft, fo hatte fhon im vorangehenden Jahr
(1811) Jacob Grimm diefe Anfiht in Hagen’s Mufeum ausgefpro-
chen ); Hier aber wird fie nun an den Texten ſelbſt im Einzelnen
durchgeführt. Damit war bewiefen, „daß bie Alliteration vor dem Reim
1) Ebend. ©. 160. — 2) Ebend. 161. Nämlich die Hagen'ſche Aus ·
gabe vom 3. 1810. (Bgl. ©. 146 fg.) — 3) Altbeutfehe Wälder, Band IL,
©. 168 fg. Bb. II, ©. 1 fg. — 4) Neuer literar. Anzeiger 1808, 19. Jan.
Bl. Sp. 38 fg. mit „Die beiden älteſten beutfhen Gedichte” — her. durch
die Brüder Grimm S. 10. — 5) Bragur V, 1 (1797), 118 fg. —
6) Mifcellaneen her. von Docen, Bd. II, 1807, ©. 290 fg. — 7) Ebenb.
3. 1, 6. 20 fg. — Bgl. die Grimm'ſche Ausgabe ©. 86. — 8) Mufeum
für Altdeutſche Literatur — her. von F. H. d. ber Hagen u. ſ. w. Bd. IL,
6.314. Bgl. au W. Grimm, Altdän. Heldenlieder ©. 431.
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486 Drittes Bud. Drittes Kapitel,
aud) außer dem ſachſiſchen Stamm in Deutſchland geherrſcht Kat‘ '),
Der größere Theil der Schrift ift dem Hildebrandslied gewidmet
von welchem erſt der „urkundliche Zert”, dann eine „Wieder
beritellung bes Textes“, darauf eine „wörtlihe Weberfegung“
und endlich eine „Umfdreibung“ geliefert wird. Es folgen
dann ausführlie Anmerkungen zur Begründung ber Ueberjegung
und eine Reihe von Abhandlungen über Handſchrift, Sprade
und Alter des Gedichts, über Alliteration und Poefie, über Fort
leben des Lieds, über deſſen Zufammenhang mit dem ganzen Fabel⸗
kreis und bie weiteren Beziehungen der Sage. Der zweite Heinere
Theil der Schrift behandelt in ähnlicher Weife das Weſſobrunner,
ober wie es hier irrthümlich genannt wird, Weißenbrunner Gebet?).
Die Herausgabe ber Ebbalieber burd bie Brüber Grimm.
Schon 1811 in der Vorrede zu ben altdäniſchen Heldenliedern
ündigt W. Grimm an, daß er Hoffe, „durch die Güte bes Herrn
Generals Grafen von Hammerftein“ demnädjft in dem Befig einer voll⸗
ftändigen Abſchrift der noch ungebrudten Lieber ber ſaemundiniſchen
Edda, welde den Cyklus des Nibelungenliebs berühren, „zu fein
und fie den Freunden dieſer Poefie mittheilen zu können” >). In
einer Nachſchrift jagt er dann, daß er jegt im Beſitz ber gehofften
Abſchrift fei und daß er fie gemeinschaftlich mit feinem Bruder von
einer beutjhen Weberfegung begleitet herauszugeben gedenke 4). Die
Brüder waren in ben Jahren 1810 — 12 voll von Planen zur
Herausgabe altgermanifcher Poefieen. Sie beabfihtigten ſchon da
mals eine Ausgabe des in Rom aufgefundenen Reinhart Fuchs ®).
1) Die beiben älteften deutſchen Gedichte u. ſ. f. Vort. — Bl. 6.35 fg
— 2) In Bezug auf das Wefjobrunner Gebet hatte ſchon Gräter in einem Pro⸗
gramm vom 6. Nov. 1807 bie Uebereinftimmung ber Versart mit ber alten nor
diſchen bemerft, und Docen in ber N. Oberb. Lit. Zeit. vom 11. März 1811
bie Alliteration nachgewieſen. gl. Grater's Idunna und Hermode 1818
Anzeiger Nr. 6. Ebend. 1816, Lit. Behl. Nr. 1, ©. 7 fg. Jen. Lit. Zig.
1815, Ergänsungsbl. B, 174. — 3) W. Grimm, Altbänifhe Heldenlicdet
Heibelberg 1811, Borr. ©. XX. — 4) Ehen. ©. 545. — 5) Grhers
Yunna und Hermobe I, Anzeiger Ar. 2, vom 18. Jan. 1812,
Das Leben und bie Arbeiten der Brüder Grimm Bis zum Jahr 1819. 487
Außer den Eddaliedern follte eine Sammlung altnordifher Sagen
erſheinen i), fiir die fie bereits im Jahr 1811 eine Abſchrift ber
Blomfturvalla » ſaga beſaßen 2). Eine „Ausgabe umb Bearbeitung
des angelſächſiſchen Fragments von Yubith und der poetiſchen Um⸗
ſchreibung der Geneſis“ follte die Beobachtungen ergänzen, die fie
am Hildebrandslied gemacht hatten 3). Die Ausgabe des Hilde⸗
brandslieds und des Weſſobrunner Gebets „lag auf dem Wege
zur Herausgabe der eddiſchen Lieber” und „follte eine Probe von
dem ablegen, was fi) die Brüder vorgenommen hatten, an den
Ebdaliedern zu leiſten“ %. Als gewilienhafte Gelehrte vüdten fie
aber mit ihren Planen nur langſam vorwärts, und fo kam ihnen
3. 9. von der Hagen im J. 1812 mit der Herausgabe des Grund⸗
tettes der Eddalieder und 1814 mit deren Ueberjegung zuvor 5).
Grit im Jahr 1815 erſchienen zu Berlin die „Lieber ber 'alten
Eda. Aus der Handſchrift herausgegeben und erflärt durch bie
Brüder Grimm. Erfter Band.“ Mehr als biefer erfte Band ift
nicht herausgelommen. Er enthält ben Grundtert von dreizehn
Helbenliebern der älteren Edda mit kritiſchen, ſprachlichen und fad-
lichen Anmerkungen, und eine boppelte deutſche Ueberfegung berjel-
ben, erft eine möglichft wortgetreue, dem Grundtert zur Seite ge-
ftellte, und dann eine zweite in ſchöner deutſcher Profa. Seit jener
Zeit ift für den Text und die Erflärung der Eddalieder fehr viel
geihehen, und es verfteht ſich deshalb von felöft, daß von umferem
ietigen Standpunkt aus nit Weniges im Text und in ben Er—⸗
Närungen der Brüder Grimm als verfehlt erſcheint. Verfegen wir
uns aber um ein halbes Jahrhundert zurüd, fo werben wir nidt
auftehen, in biefer Arbeit einen Beweis von dem Scharfſinn und
von ben ſchon damals fehr bebeutenden Sprachkenntniſſen ber Bril-
der Grimm zur fehen.
i) S. bie Ankündigung in Gräter's Idunna und Hermode I, Anzeiger
%.2, vom 18. Jan. 1812. — 2) Altbän. Heldenl. S. 440. — 3) Die beiden
Atefgn deutſchen Gebichte u. ſ f, Her. durch bie Brüber Grimm, Gaffel 1812,
Bor. — 4) Ebend. — 5) ©. 0. ©. 0,
438 Deittes Bud. Drittes Kapitel.
Die Ausgabe bes Armen Heinrih von Hartmann vom Aue.
„Der arme Heinrich von Hartmann von ber Aue. Aus ber
Straßburgiſchen und Vaticaniſchen Handſchrift Herausgegeben und er,
Märt durch bie Brüder Grimm. — Berlin 1815” zeigt ung einer
felts, wenn wir ihn mit dem Abdruck in der Myller'ſchen Samms
lung (1784) vergleichen, mie hoch die Grimm fon bamals an
Kenntniß des Mittelhochdeutſchen über ihrem Vorgänger ftehen,
andrerſeits aber liefert er ums ben Beweis, welchen Umſchwung die
Behandlung mittelhochdeutſcher Terte gleich in ben nächften Jahren
durch Lachmann und bie Grimm feldft erfahren Hat. Wir gehen
bier noch nicht auf diefen Gegenftand ein, fondern weiſen lieber
daraufhin, wie treffend fi die Grimm ſchon damals über das
Verhältniß ber höfiſchen mittelhochdeutſchen Dichter ausſprechen. Sie
ertheilen der maßvollen Einfachheit des Armen Heinrich das ver⸗
diente Lob 1) und fahren dann fort: „Die eigene und beſondere
Gabe des Dichters wirt dazu freilich das Ihre mit, und anf
durch feinen wein bricht unverkennbar eine gewiffe Milde und
Geiäjloffenheit durch, die wir weber im Triſtan noch weniger im
Parcifal wahrnehmen. Im Triſtan flieht bie Rede fanft wie im
wein, aber noch lieblicher, anmuthiger, manchmal bi in's fpielende;
der Parcifal ift herber und fehwerer als beide, aber Tühner und
präßtiger. In allen dreien Werken treten uns bie Eigenthümlid-
feiten ber drei größten altdeutſchen Dichter ihrer Zeit guf das
beutlichfte vor Augen: Gottfried's, Hartmann's und Wolfram’.
Das Gedicht vom armen Heinrich iſt zu Mein, ums fich diefen zur
Seite zu ftellen, fteht aber an innerer Gediegenheit zu alfer oberft“?)
Die Uebertreibung, die in ben Schlußworten liegt, wird jegt Nie
manb mehr unterſchreiben. Sonft aber fehen wir die Brüder
Grimm bier bereits in wenigen treffenden Worten die Anficht über
unfere höfiſchen Erzähler ausfpredien, bie jet im Weſentlichen bi |
alten Geſchichtſchreibern unſrer mittelalterlichen Dichtung feftfteht.
1) Bgl. 3. Grimm in ben Heidelb. Jahrbb. 1812, I, 6.49. — 2) Dr
arme Heineid, Her. burd) die Brüder Grimm, Berlin 1815, ©. 138 fg. |
Das Leben und bie Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 499
Die gefonderten Arbeiten Jacob Grimm 6 und Wilhelm
Grimm’s 1811 bis 1817.
Jecob Grimm’s Abhandlung: „Gebanten über Mythos, Epos und
Geſchichte.“ 1813. J
Die Abhandlung, die J. Grimm unter obigem Titel in F.
Sälegel’8 Deutſchem Muſeum 1813 1) veröffentlichte, bietet uns
im Wefentlihen diefelben Gedanken, bie wir in früheren Abſchnitten
aus anderen Schriften Grimm's mitgetheilt haben. Doch tritt ung
Einiges Hier mit befonderer Klarheit entgegen. Wie überall geht
auch Hier 3. Grimm davon aus, daß „Hinter der alten Fabel und
Sage fein eitler Grund, Feine Erdichtung, fondern wahrhafte Dich⸗
tung liegt.“ Die Frage aber, die er unterfuden will, brüdt er
in den Worten aus: „Löſen fi alle Sagen in einfade, immer
einfachere Offenbarungen des Heiligften auf? Sind fie nur ein
wechſelndes file das Unendliche, Unfaßliche ſich neuverſuchendes Wort
und fließen fie, im Schein wandelbar, im Grund unwandelbar,
endlich) in dem Urgedicht zufammen, von dem fie ausgegangen was
ten? Ober aber haben fie fi, wie Gebirgsduft über Fernen tritt,
an die vergangene Menſchenzeit gefegt, gehören fie zu unferer Ge»
ſchichte mit, und find fie gleich diefer ewig hin etwas Neues, Ver-
ſchiedenes, höchſtens Aehnliches?“ 2) Für beide Seiten laſſe ſich
Vieles ſagen, meint J. Grimm. Man müſſe fie deshalb mit einan⸗
der zu vereinigen ſuchen. „Nur dadurch, fagt er, wirb der Wider-
ſpruch verföhnt und gehoben werden, baß man beide Meinungen
vereinbart, d. h. dem Vollsepos weber eine reinmythiſche (göttliche)
noch reinhiſtoriſche (factifche) Wahrheit zufchreibt, fondern ganz
eigentlich fein Wejen in die Durchdringung beider ſetzt. Gott»
ähnlich find alle Menden, allein Gottes Ebenbild wurde erft durch
die That des Menden, der feines Gleichen zeugt, gleihfam zu
jedem geboren Menſchen Herzugerufen und neuerdings mit wieber-
geboren; fo ift auch zu dem Epos eine hiſtoriſche That nöthig, von
der das Volk Iehenbig erfüllt fei, daß ſich die göttliche Sage daran
H Deutſches Mufeum her. von $. Sqhlegel. Dritter Band. Wien 1818,
6.5975. — 2) Ebend. S. 54.
440 Drittes Bud. Delnes Rapite.
fegen könne, und beide find durch einander bedingt gemeien“ !).
Dies führt nun Grimm an einigen deutfchen Beifpielen aus, näm-
lich an der „berühmten Fabel von Wilhelm Tell” 2), und an den
Traditionen „von ber fpinnenden rau Berta“ 3). In diefen Un
terfuhungen bringt Grimm fehr verjhiedenartige Dinge zufanmen
und will fie aus einer und berfelden Quelle ableiten. Tell fällt
nicht nur mit dem engliſchen Schügen Bell, den nordiſchen Totko
und Egill zuſammen, fondern auch mit dem griechiſchen Bellero-
phon ). Frau Berta Ift nicht nur identiſch mit Frau Holle, fon-
dern „wie Holle die Erde, war e8 auch Berta, nad abgeworfe⸗
nem Borfag — Erta, Hertha, Mutter Erde (De-meter, d. i.
Gärmäter“ 9). Aber nach alle dem wendet fi Grimm nachdrüdlich
zu dem Werth des Befonberen zurüd. „Betrachten wir aber num
auch das Wefen ber Poeſie, fagt er, melde Fülle von Sprachleben⸗
digfeit hat ſich zwiſchen ber Urſprache (ber offenbarten) und ben
heutigen Mundarten bewegt; welch ein Wachsthum des epiſchen
Lebens liegt zwiſchen ber göttlichen dee und folgenden Zeiten,
worin fie fi taufendmal wiedergeboren an menſchliche Geſchichten
anknüpftel Die Poefie, das Epos ift mım gerade diefe nährende
Mitte, diefe irdiſche Glüdfeligfeit, worin wir weben und athmen,
dieſes Brot bes Lebens; weiter und freier als die Gegenwart, (bie
Geſchichte, eine vergangene Gegenwart) enger und eingefhräntter als
die Offenbarung (ber zeitlofe Urfprung). In der allgemeinen Sprache
würde fein Dichter fingen können, durch eine allgemeine Mythologie
würden wir ung um unfere Lieber, fo zu fagen um umfere weib⸗
liche Freude am Leben bringen, und follen daher, wenn wir das
Allgemeine und Ewige ergründen wollen, das Befondere, Vater:
ländiſche, Häusliche in ber That unangetaftet ruhen laſſen. Wem
Homer und die Nibelungen uns das Herz bewegen, fo ift gewiß
daß eine mythiſch bewährte gelehrte Miſchung beider es lalt laſſen
müßte oder doch nit fo erfüllen könnte“ 6). — Nach meiner
1) Gbend. 6.55 fg. — 2) Ebend. 6.56 fg — 9) Ebend.
©. 02 fg. — 4) End. 6.59. — 5) Ebend. ©. 67. — 6) Cm.
S. 72 ſo·
Das Leben unb bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 41
Meinung wird eSefeftftehen, daß das Epos, ja jeder rechte Menſch
einen doppelten Theil an fi trage, einen göttlichen und menſch⸗
lichen. Jener hebt die Poeſie über die bloße Geſchichte, (in ber
oft alle Luft niedergebrannt iſt und nur Fable Mauern ftehen)
dieſer nähert es letzterer wieder, indem er fie nie ohne hiſtoriſchen
Hintergrumd läßt und ihr einen frifhen Erdgeruch verleihet, ber
nichts Eingebildetes, fondern etwas Wahrhaftes ift“ 1).
Irmenftraße und Irmenfäule Cine mythologiſche Abhanb-
fung von Jacob Grimm 1815.
Wir beſprechen diefe zu Wien im Jahr 1815 erſchienene Ab⸗
handlung am diefer Stelle nur, um vorläufig ihren weſentlichen
Inhalt anzugeben; auf ihre Methode und ihre Stellung in ber
Entwilung Grimm's werden wir fpäter zurüdtommen. Der Ber-
faffer geht aus von einer Sammlung der Vorftellungen, welde die
verſchiedenen Völler mit dem „ihimmernden Streif zahllofer Fir-
ferne am nachtlichen Himmel“ verbunden haben. Beinah alle
nüpfen daran den mythiſchen Gedanken von Weg und Straße oder
don Ausftreuung 2). Die Drientalen fehen die Himmelsftraße be⸗
freut mit goldener Spreu; bie griehifhen Sagen erkennen darin
verfprügte Milch. „Im Chriftentfum nahm die dee wieder eine
neue Wendung.” „Es herrſchte nunmehr der Begriff von einer
himmliſchen Wanderſtraße vor“, eine „Straße der Seelen“, im
Anſchluß an eine Vorftellung, die auch den antiten Griechen und
Römern nit fremd. war 3). Gottes Boten wandeln auf dieſer
Strafe. So wird fie in Verbindung gebracht mit den wandernden
Pilgrimen und mit St. Jacob, dem Gottesboten; daher heißt fie
Jacobsſtraße. Der Verfaſſer unterſucht nun zuerft die altfranzöfie
ſche Sage 1), dann die deutſche von ring und der nach ihm be
nannten Sternenftraße®). Er wendet fich darauf zu ben Sagen
von berühmten Landſtraßen, umter denen ihm „die altengliſche bei
weitem die wichtigſte“ 6) ift. Unter den vier fagenhaften altengli-
1) &end. ©. 74. — 9) 3. Grimm, Irmenſttahe ©. 7. — 8) Ebend.
&15.— 4) Eben. 6.18. — 5) Ebend. S. 21. — 6) Ebend. & 29,
42 Drittes Bud. Drittes Kapitel.
fen Straßen ift wicher die Ermingfträt bie Wichtigſte. Diefe
Bringt der Verfaffer einerjeits mit Armink (Armer, d. 1. Wanderer,
Bettler) in Beziehung, andrerſeits aber fieht er darin bie deutſche
Iringsſtraße ). Hier knupft fi ihm nun bie berühmte germani-
fe Syrmenfäule an. „Irmin, fpäter Iring, war den germaniſchen
Heiden ein hehrer Gott, König und Herrfher, allmählich wurde er
in dem Epos zu einem großen Menſchenhelden, meil nach einem
nothwendigen Gang der Sage ihre Wiebergeburten ung immer
näher zu rüden pflegen“ 2), „Die Götterbilder und ihre Säulen
ftanden aber auf dem Hauptplag bes Ortes, von dem aus die
Straßen und Thore giengen, an ber Wegicheide und ben Wegen
ſelbſt“ 9. „Natürlich alfo wurben bie Heiligen Säulen zu gleider
Zeit Wegefäulen, woburd wir die Irmenſäule in einem nothwens
digen Zufammenhang mit der Irmenſtraße erbliden" >). Hiemit
ftehen dann wieber „die altdeutſchen Weichbilder der Städte, die
Rolandfäulen am Gerichtsplatz“ ®) in Verbindung. Weiterhin aber
„fällt noch ein neuer Lichtſtrahl in die Dunkelheit der Mythen,
die, fo verſchieden fie aufgewachſen find, gleichen Urfprung Haben.
Hermes wird in ber griehif—en Fabel in die Erflärung der himm⸗
liſchen Milchſtraße verflochten. Hermes aber ift ber Götterbote,
der nit bloß die verfahrenden Seelen mit feinem Stabe, d. i
Wanderftabe, geleitet, fondern aud ein Schützer und Pfleger der
Erdenftraßen, darum ferner der auf ihnen wandernden Reiſenden,
Armen, Bettler und Bagabunden war. Beides fließt aus derſelben
Urſache, daß er Evodıog, Diebhelfer und feldft Dieb fein mußte,
ben Heerftraßen ſowohl als dem Gefindel der Landftürzer, Räuber
und Diebe vorftand. Was find alfo die Hermen (dome?) anders,
als feine an offenen Landwegen errichteten Bildfäulen, genau unfere
Sremenfäulen? Jetzt erft ift es erlaubt, am eine namentliche Ber-
gleichung des Irmin mit Egws zu benfen, die auf feiner Exborg-
ung jenes aus dieſem beruht, fondern tiefere gemeinſchaftliche Ur
fprünge beider vorausſetzt“ *). '
1) &bend. S. 39 fg. — 2) Ebend. S. 41. — 3) Ebend, ©. 45.—
4) Ebenb. ©. 46.
Das Leben umb bie Arbeiten der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 448
Jacob Grimm’s Sammlung altfpanifger Romanzen 1815.
Unter bem Titel silva de romances viejos gab J. Grimm
im Jahr 1815 zu Wien eine ſchon im Jahr 1810 angelünbigte *)
Sammlung altjpanifger Romangen Heraus. J. Grimm ftellte ſich
hier die bis dahin vernachläſſigte Aufgabe, das Urfprünglige und
Ethte aus ber Maſſe der zahlreichen fpäteren Nachahmungen auszufgei-
den und gefondert herauszugeben. Zugleich führte er einen mehr-
fad von ihm beſprochenen Gedanken dur, indem er die Romanzen
nicht, wie dies fonft üblich ift, in kurzen adt- und ſiebenſylbigen
Berfen, fondern in epiſchen Langzeilen abbruden lieh. Wie bes
deutend Grimm aud mit biefer Nebenarbeit eingegriffen hat, das
ergibt ſich ſchon daraus, daß die größten Kenner ber fpanifchen Ro⸗
mangenpoefie Ferdinand Wolf und Eonrad Hofmann, noch nad
vierzig Jahren ihre Sammlung der älteften und vollsmäßigften
ſpaniſchen Romanzen Jacob Grimm widmen, „als bem Erften, ber
die wahrhaft alten und vollsmäßigen Momanzen ber Spanier aus«
zumählen und zu würdigen gewußt hat“ 2).
3. Grimm's Beiträge zur Zeitfrift für geſchichtliche Net
wiffenfaft 1815 bis 1817.
Seit dem J. 1815 gab Savigny in Verbindung mit 6. F.
Eichhorn und J. F. 2. Göſchen bie „Beitfgrift für geſchichtliche
Rechtswiſſenſchaft· Heraus, an ber auch J. Grimm ſich betheiligte.
Aufer einigen Meineren Beiträgen: „Ueber eine eigene altgerng«
nie Weife der Mordſühne“ (1815) %), und: „Etwas über den
Ueberfall ber Früchte" (1817) 4), und einer gelehtten Ueberſicht
über die Literatur ber altnordiſchen Gefege 5) war es nor allem bie
1) Bgt. bie Anfündigung I. Grimm's im Inteligengblatt ber Heidelb.
gRehrbb. 1811, I, ©. 4. — 2) Primavera y flor de romances, — por
Don Fernando Joss Wolf y Don Conrado Hofmann, Berlin 1856.
6. bie Wibmung an J. Grimm und Jam. Geibel. — 5) Zeitſchrift für
geſhicil. Rechtswiſſenſchaft, Bd. I, Berlin 1815, ©. 828—887. —.4) hend.
&. I, 1817, 6.349367. — 5) Ebenb. Mb. TIL, Serlin 1817,
6. 18-128;
444 "Drittes Bud. Drittes Kapitel.
epochemachende Abhandlung: „Bon der Poeſie im Recht“, die 2.
Grimm zu Savigny's Zeitfärift (1816) beiſteuerte ). „Es ift
wohl auch einmal erlaubt, beginnt er, das Recht ımter den Ge
fitspunft der Poeſie zu faffen und aus der einen im das andere
lebendiges Beugniß geltend zu machen. Einen ſolchen Verſuch for-
dert und verlangt jetzo zumal unſer deutſches Alterthum, in welchem
fich von beiden beinahe aus gleichen Zeiten reiche und wichtige
Denkmäler und nach den mannigfaltigen Landſtrichen, die der ger⸗
maniſche Stamm erfüllt hat, begegnen“ 2). „Daß Recht und Poefie,
heißt es dann weiterhin, miteinander aus einem Bette aufgeftanden
waren, hält nicht ſchwer zu glauben. Syn ihnen beiben, fobalb man
fie zerlegen will, ftößt man auf etwas Gegebenes, Zugebrachtes,
das man ein Außergefdichtlices nennen könnte, wiewohl es eben
jedesmal an die befondere Geſchichte anwächſt; in Teinem ift blofe
Satzung noch eitle Erfindung zu Haus“ 9. Dies wird dann näher
ausgeführt mit befonberer Beziehung auf die epiſche Poefie. „Keinem
Dieter gehört das Lied; wer e3 fang, mußte es bloß fertiger und
treuer zu fingen. Eben fo wenig gieng das Anfehen. bes Geſetzes
aus von dem Richter, der kein neues finden durfte; ſondern die
Sänger verwalteten das Gut ber Lieber, bie Urtheiler verweſeten
Amt und Dienft ber Rechte“ 9). Es wird num weiter nachgeiiefen,
tote das altdeutſche Recht nach Anhalt und Form durchdrungen ift
von poetifhen Elementen. Ueberall begegnen uns alfiterierende
NRechtsformeln 6) und die Symbole bes alten Rechts zeugen für
deſſen poetiſche Auffaffung 9). So beginnt Grimm hier feine reich⸗
haltigen, aus der Fülle gründlichſter Kenntniß geſchöpften Samm⸗
lungen für deutſche Rechtsalterthümer. Nicht bloß die bekannten
Vollsrechte und mittelalterlichen Rechtsbücher, ſondern eben fo jeht,
ia faſt noch mehr die Weisthümer und Satzungen einzelner Dorf-
(haften, die altüberlieferten Gebräuche, die in ben Sagen und
Märchen des Volles zerftrenten Züge uralter Rechtsanſchauung
1) end. Vd. II, 1816, ©. 3599. — 2) Ebend. Bb. IL, 6.251.
— 8) Ebend. Vd. II, ©. 37. — 4) Ebend. vd. I, 6. WM. — 5) Ede.
8. II, 6. 40 fg. — 6) Ebend. Wh. I, ©. 74 fg.
Das Leben und bie Arbeiten ber Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 445
möffen ihm den Stoff liefern. Und das Alles wird mit dem Anu—⸗
hauch jener Friſche behandelt, welde die erften Ergüffe genialer
Anſchauungen auszuzeichnen pflegt.
Kleinere Arbeiten Jacob Grimm's und Wilhelm Srimms
1811 bis 1816.
Neben ihren größeren ſelbſtändigen Arbeiten fuhren die Brüder
Grimm fort, in Beurtheilungen fremder Werke ihre Anfichten aus-
zuſprechen. Für die Geſchichte ihrer Entwidlung find diefe kritiſchen
Nebenarbeiten öfters von großem Werth, und wir werben uns
ihrer zu dieſem Zweck mehrfach bedienen. Hier bemerken wir nur,
daß es auch in ben Jahren 1811 bis 1816 vorzugsweiſe die Hei-
delbergiſchen Jahrbücher waren, in denen bie Brüder Grimm ihre
Urtheile nieberlegten. Wir heben aus benfelben hervor die um—⸗
faffenden Necenfionen Jacob Grimm’s über Hagen’s Muſeum für
altdeutfche Literatur und Kunſt (1811), uber Hagen's Literariſchen
Grundriß zur Geſchichte der deutfhen Poeſie (1812), über Bü-
fhing’s Ausgabe des Armen Heinrich (1812), über den Lohengrin
von Görres (1813), über Lachmann's Schrift über bie urfpränglice
Geftalt der Nibelungen (1816) und über Benedce's Bonerius (1816)
und die Recenſionen Wilgelm’s über Hagen's Heldenbuch (1811),
über P. E. Müller's Aechtheit der Afalehre (1811) und über
Rühs Edda (1812) umd defien Schrift über den Urfprung ber i8-
Undiihen Poefte aus ber angelſächſiſchen (1814). Dieſen kritiſchen
Arbeiten in den Heidelberger Jahrbüchern fügen wir nod hinzu bie
Beurteilung von Raſt's isländiſcher Grammatik, die J. Grimm in
der Halliſchen Allgemeinen Siteraturzeitung vom Jahr 1812 ver-
Öffentlichte %).
1) Als id) im J. 1865 das Kapitel Über das Leben unb bie Arbeiten
der Brüber Grimm bis zum J. 1819 ſchrieb, mußte id mir das Material
wähfen zuſammenſuchen. Jebt liegt es in Müllenhoff6 und Sqherer's ſorg⸗
tiger Ausgabe von Jac. Grimm's Recenſionen und vermiſchten Auffäden
(Berlin 1869) zu bequemer Benutung vor.
46. Drittes Buch. Drittes Kapitel.
IM. Kücblik auf Iacob Grimm’s Aufichten und Leikungen während der
erhen Periode feiner Thätigkeit 1807 bis 1819.
Wir haben die Darftellung von J. Grimm’s Thätigfeit hin⸗
abgeführt bis zum Schluß ihrer eriten Periode. Blicken wir noch
einmal zurüd auf Grimm's Arbeiten aus dieſer Zeit und ſuchen
wir uns deren Vorzüge, wie deren Mängel zu vergegenwärtigen.
Die ſchlummernde Liebe zu unfrer alten Poefie war in Grimm ger
wet worben durch ben Vorgang ber Romantiter. Tied’s Mime
Heber und beffen „Hinveißende Vorrede“ dazu hatten ihn auf die
deutſchen Minnefinger „gefpannt gemacht“ i). Aber Bald belehrt
ihn ein gründliches Studium, daß die Sache noch ganz anders an
gefaßt werben muß. Er vergift zwar nit, was er den Roman
tifern verdankt. „ES gehört mit zu dem Vorteilen ber neuen
Schule, fagt er 1807, daß fie das Studium der altdeutſchen Ge
dichte wieder in Anregung gebracht und ihren Werth ausgeſprochen
hat“ 2). Aber er durchſchaut au die Schwächen ber Romantiler
in ihrer Behandlung der altdeutſchen Gedichte. „Won Tiecs
Sammlung (der Minnelieder), äußert ev 1812, verbient bloß das
Lob ihrer Wirkung unter den Zeitgenoffen und die Vorrede auf
die Nachwelt zu kommen“). Doch aud die Richtung, welde die
Häupter ber romantiſchen Schule eingejhlagen hatten, fagte Grimm
nit zu. Es war nicht das Mittelalter, am wenigften ber ſpeci⸗
fiſche Katholicismus bes Mittelalters, was ihn anzog, fonbern das
Deutſche in den Erſcheinungen des Mittelalters. Dem Deutſchen
aber wandte fi feine Forſchung zu nicht Bloß im Mittelalter,
fondern ebenfo in ben Zeiten bes deutſchen Heidenthums, bie dem
Mittelalter vorangiengen, und im benen Luther's, bie ifm nad
folgten. Hier liegt die hohe Bedeutung der Arbeiten, durch welhe
die Brüder Grimm ſchon in ber erften Periode ihrer Thatigleit
eine neue Epoche dev Wiſſenſchaft anbahnten.
1) 3. Grimmes Selbſtblographie in 2. W. Jufi’s Grundlage zu eine
Heflligen Geiepriengeigigte, Marburg 1881, ©. 152. — 2) 3 Gran
tim Mündener Reuen Literer. Unzeiger 21. Apr. 1807, Ep. HL. — 93
Grimm in ben Heibelb. Japıhb. 1812, ©. 850.
D
Das Lehen und die Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 447
Weit inmiger, als mit ben Häuptern der romantiſchen Schule
befreundete fi Grimm mit dem Nachwuchs der älteren Romantik,
vor allen mit Arnim, dem echt deutſchen Edelmann, ber rende
und Leid feines Volls in treuem Herzen trug und in beffen Bruft
bie Boefie des Volkes wieberflang. Aber auch zu Görres, wie er
damals war, 309 es ihn hin. Wie Hod er ihn fhägte, hat er
mehrfach ausgeſprochen 1). Es war die warme Liebe zum deutſchen
Bolte und deſſen alter Eigenthümlichleit, was die beiden Männer
zuſannnenführte. Aber noch ein anderes Element zieht Grimm zu
Goͤrres. Grimm hat fih nie zufammenhängend mit der fpecula>
tiven Philofophie beſchäftigt. Aber der Tiefſinn der philofophiigen
Auffaſſung, die fi) damals von Schelling ausgehend über viele
geiftvolfe Männer verbreitete, hat mitteldar auch ihn ergriffen. Der
Einfluß, den Görres und Kanne in biefer Beziehung auf Grimm
übten, ift am fo erflärliher, als au das diefen entgegengejegte
Element in Grimm's Entwidlung: Savigny’s klare hiſtoriſche
Auffaffung des Rechts, in naher geiftiger Verwandtſchaft zu Schel-
ling's Philoſophie ftand. Auf dies letztere Verhältniß gehen wir
hier noch mit ein. Wir werben fpäter darauf zurückkommen.
Hier wollen wir nur über den Zufammenhang Grimm’s mit der
Art von Raturphilofophie, wie fie ſich in Görres barftellte, bemer-
ten, daß er neben den tieffinnigen und berechtigten Seiten biefer
Auffoffungsweife auch deren großen und verberblihen Gefahren
nicht entgieng. Mit Görres, Creuzer, Kanne und anderen For⸗
fern jener Tage erhebt fih Grimm über die feihte Meinung, bie
in den Mythen ber Völler nur fabelhaften Unſinn oder Betrug der
vrieſter fieht. Er fpürt ihrem tiefen Gehalt und ihren uralten
Bufammenhängen nad. Aber wie bie genannten Forſcher, fo er-
gibt auch er fi einem zügellos phantaftiihen Gombinteren, das
ohne ſichere Methode das Verſchiedenartigſte zuſammenwirft. Er
lobt Görres’ Einleitung zum Lohengrin mit ihrer wüſten Ver⸗
mengung alles Denkbaren ?), ja er fegt das von Görres Begon-
1) Heibelb. Jahrbb. 1811, & 157. 1813, ©. 859. Nod 1815 Hat
Grimm feine Sammlung altfpanifger Romanzen Görres gewidmet. —
9) deidelb. Jahtbb. 1818. ©. 849.
448 Drittes Bud. Drittes Kapitel
nene noch weiter fort‘). Ebenſo leiftet er im feinen felbftänbigen
mythologifhen Arbeiten das Unglaubliche in phantaſtiſcher Zuſam⸗
menwürfelung des Verſchiedenartigſten. In der Schrift über bie
Irmenſtraße geht Grimm von einer Bufammenftellung der ver-
fchiedenhrtigften Völker aus und gelangt dann zu Reſultaten wie
dem, daß Theben mit sieben einerlei fei und anbrerfeits wieder
in tief bebeutfamer Weife mit bem hebräiſchen theben (Stroh,
Spreu) zufammenhänge, und daß man „felöft unfere, mit Syring
identiſchen Sibich zu ber böfen Zahl sieben ftellen” und „in ihm
den böfen Hund und Wolf, den mondſchlingenden Dieb Diebsgott,
und Typhon herausheben“ dürfe 2).
Man fieht, die ſichere Methode einer gründlichen Sprachforſqh⸗
ung, bie ben Arbeiten Grimm’s aus der folgenden Periode ihr
laſſiſches Gepräge gibt, fehlt hier noch gänzlih. Aber, wird man
fragen, wie ift die möglich, da doch auch die bisher beſprochenen
Arbeiten Grimm's eine feltene und ausgebreitete Sprachkenntniß
zeigen? Um ſich hierüber klar zu machen, iſt es vor allem erfor-
derlich, zu unterſuchen, von welcher Art bis dahin bie Sprach⸗
kenntniſſe Grimm's gemeſen find. Ganz unbeſtreitbar hat fih
Grimm ſchon während dieſer erſten Periode ſeiner literariſchen
Thãtigkeit ſehr umfaſſende Sprachkenntniſſe erworben. Trotz aller
Verſtöße, die wir jetzt feinen Ausgaben altgermaniſcher Sprad-
bentmäler mit leihter Mühe nachweiſen, werben wir doch, went
wir ums in die damalige Zeit verfegen, nicht läugnen, daß feine
Lieder ber alten Edda ein ernftes Studium bes Altnordiſchen, fein
Hildebrandslied eine damals nicht gewöhnliche Kenntniß des At-
hochdeutſchen und Altniederdeutſchen, fein Armer Heinrich und fein
Antheil an den Altdeutſchen Wäldern, fo wie feine Kritifen in den
Heibelberger Jahrbügern eine umfaſſende Beſchäftigung mit dem
Mittelhochdeutſchen bezeugen. Außerdem Bat er an ber Hand ber
Barifer Manuftripte Altfranzoſiſch) und mit Hilfe ber wenigen
1) @bend. ©. 855 fg. zu Gorres Einleitung zum Lohengrin &. XV.
XVI. — 2) I. Grimm, Irmenſttahe und Irmenfäule, Wien 1815, ©.59. —
3) J. Grimm, Jrmenfrafe, Wien 1815, ©. 18. ©. 30.
Das Leben und die Arbeiten der Brüder Grimm bis zum Jahr 1819. 449°
damals zugänglichen Quellen Provenzaliſch getrieben 1). Für feine
Kenntniß des Altſpaniſchen legt feine Silva de romances viejos
Zeugniß ab. Auch fallen die Anfänge feiner eingehenderen ſlavi⸗
ſchen Studien bereits in die Zeit feines Aufenthalts zu Wien in
den Jahren 1814 und 15%). Uber fo viel auch Grimm ſich da-
mals ſchon mit der Sprache als folder zu ſchaffen macht, ber
eigentliche Hauptzweck feines Sprachenlernens ift nod das Stublum
der Poefie; hiezu foll ihm die Erlernung der mannigfaltigften
Spraden als Mittel dienen. Wir haben öfters ſchon bemerkt, wie
bedeutend Grimm’s Leiftungen auf diefem Gebiet, wie überraſchend
richtig oft feine Blide in die Geſchichte der Dichtung auch damals
ſchon waren. Bon diefer Seite gewinnt die Kritik und Erklärung
der altgermaniſchen Texte bereit fein lebhaftes Intereſſe, und wir
haben mehrfach gefehen, wie weit er in diefer Beziehung manchem
angefehenen Zeitgenofien, 3. B. von der Hagen, fon damals vor⸗
aus war. Wie. weit er freilich auch hierin noch hinter feinen eigenen
ipäteren 2eiftungen und denen Lachmann's zurüd blieb, das erkennt
man, wenn er in der Ausgabe des Armen Heinrich (1815) aus-
drũcllich auch die Schreibung der Handſchrift nicht verändern will 9).
Ubrigens haben allerdings aud rein grammatifche Fragen ſchon da-
mals für Grimm Intereffe, wie man aus feiner Beurtheilung von
Raſk s Anleitung zur islandiſchen Sprache aus dem Jahr 1812 4),
aus feinen grammatiſchen Erörterungen mit Benecke in den Alt
deutſchen Wäldern 5) und den ebenbort veröffentlichten „Grammar
tigen Anſichten“ (1813) erfennt‘). Ja wir finden in Grimm’s
damaligen Arbeiten ſchon jo mande tiefe Blide in das Wefen der
b 3. Grimm, Ueber den altbeutfpen Meiftergefang, Gött. 1811,
&. 143 fg. — 2) I. Grimm's Selbfibiographie bei Zufii ©. 159. Beſchafugt
mit den ſiaviſchen Sprachen Hat fic übrigens I. Grimm auch früher ſchon,
wie man aus feiner Beurteilung von Raſt's Vejledning in ber Hall. Lit.
Zig, 1812, d. 7. Gebr, Sp. 259 ſieht. — 3) Der arme Heinrich, her. durch
die Brüber Grimm, Berlin 1815 ©. 142. — 4) Halliige Allgem. Literatur
Zeitung 1812 d. 3. Febr. fg. — 5). Alideutſche Wälder, Bd. I, 1813,
&.178 fg. — 6) Ebend. ©. 179 fg.
Raumer, Gehß. der germ. Poifelogle. 29
450° Drittes Bud. Drittes Kapitel.
Sprache umd ihren Bau. Was er in der Abhandlung „Bon ber
Poeſie im Recht“ (1816) über den Zufammenhang beider in der
Sprache fagt, deutet bereit3 auf Grimm’s fpätere großartige Forſch-
ungen bin. „Alles was anfänglih und innerlid) verwandt ift,
heißt e8 da, wird fi bei genauer Unterſuchung als ein foldes
ftet3 aus dem Bau und Wefen der Sprache jeldft rechtfertigen
laſſen, in ber immerhin die regſte, Iebensvollfte Berührung mit
den Dingen, bie fie ausdrüden foll, vorſchlägt. Und fo reicht die
aufgeftellte Verwandtſchaft zwiſchen Recht und Poefie ſchon in die
tiefften Gründe aller Spraden Hinab* '). Mit melden Scharf
finn Grimm ſchon in jenen Jahren in den grammatifchen Bau der
Sprade eindrang, das bezeugen feine Bemerkungen über bie Ent
ſtehung bes norbifhen Paffivs aus dem Verwachſen des Refleriv
pronomens ber britten Perfon mit dem Verbum (1812) 2) md
über ben Zufammenhang der Perfonalendungen des griechiſchen
Verbums (pas, cas, zas) mit den brei Perfonalpronominibus,
zuerſt ausgefproden in der Beurteilung von Raſk's Vejledning
1812 3) und weiter ausgeführt und aud auf das ws ber Berba in
pa bezogen in ben Altdeutſchen Wäldern 1813 %). In fo manden
weſentlichen Punkten finden wir Grimm ſchon damals auf dem
richtigen Wege. Die „anfänglihe Gemeinſchaft aller germaniſchen
Völfer fei für die Sprache Längft erwieſen, für den Mythus hödft
wahrſcheinlich zu machen“, äußert er 1812 5). Will man weiter in
die uralten Zufammenhänge der Völlker zurüdgehen und z. B. Zeus
mit Odin vergleichen, fo „hält es, fagt Grimm 1815, ſehr leicht,
ſolche allgemeine Säge, wie aud in der Geſchichte der Urſprache,
überall wahrzunehmen. Sie haben aber gar fein Verdienſt, fe
1) 3. Grimm, Bon der Poefie im Recht, in ber Zeitſche. für geſchichtich
echtswiſſenſchaſt, Bb. IT, (1816) ©. 30. — 2) Hal. Literaturgeitung 1812.
d. 7. gebt, Sp. 258 fg. — 3) Hall. Literatur » Zeitung 1812, d. 7. Gebr.
Sp. 259. — 4) I. Grimm, Grammatiſche Anfihten, in ben Altdeutſchen
Wälbern Band I, (1813) ©. 186. — 5) Die beiden älteften deutſchen Ge
dichte — Her. durch die Brüder Grimm, Gaffel 1812, ©. 35.
Das Leben und die Arbeiten ber Brüber Grimm bis zum Jahr 1819. 451
fern fie nicht im Stande find, die ganze lebendige Reihe aller
Nittelglieder nachzuweiſen“ 1).
Nach alle dem wird man es nur geredtfertigt finden, wenn
J Grimm ſchon vor dem Jahr 1819 für einen der erften Kenner
der altgermaniſchen Sprachen umd Literaturen galt. Aber wie ftand
es in Wahrheit mit feiner damaligen Sprachforſchung, wenn wir
fie mit dem Maßftabe mefjen, den Grimm felbft uns durch feine
ipäteren bahnbrechenden Werte an die Hand gegeben hat? Trotz
der einzelnen ganz ‚richtigen Blide, die wir angeführt haben, erhob
ſich Grimm's Spradforihung damals nicht über die regellos phan-
taſtiſche Willkür, mit der fie von Kanne und ähnlichen Etymologen
betrieben wurde. Grimm ſelbſt beruft fih mehr als einmal mit
Beifall auf Kanne ?). Und in der That unterfKeidet ſich fein Ber-
fahren nicht weſentlich von dem biefes Gelehrten. Wir könnten die
Beweife für diefe Behauptung in Menge beibringen, beſchränken
uns aber darauf, zu den bereit weiter oben mitgetheilten Beifpie-
len nur noch ein einziges hinzuzufügen. In den „Gedanken über
Mythos, Epos und Gedichte” (1813) meint Grimm, „daß von .
der Grundform all oder ell (melde das ſchnelle, eilende, ge-
ichnellte, ſcharfe ausbrüdt und noch in Ahle subula, isländ. alr,
aneglſ. äle, engl. awl, und dem isländ. aull, öl Pfeil übrig ift) die
unzähligen Bildungen: Pfeil, Bil, —, Beros, Biel, Tel, telum,
le (fern), rail, Strahl, nail, Nagel, Nadel, Stachel, Adel,
Egel, Igel u. ſ. w. herftammen.” Und dazu heißt es dann in
einer Anmerkung: „Am richtigſten betrachtet man die meiften An-
fangsconfonanten als gleihgültige Vorjäge vor den Wurzelvocal“ 3).
Man fieht, Hier Handelt ſich's nicht um vereinzelte etymologiſche
Mißgriffe, fondern um eine grundverfehrte Auffaffung des ganzen
Gebiets. Und wie tief mußte diefe willkürlich phantaftische Behand-
1) 3. Geimm, Jemenftraße, Wien 1815, ©. 35. — 2) I. Grimm in
5 Sälegers Deutſchem Mufeum TIT, (1813) ©. 64. Die beiben älteften
deutſchen Gedichte (1812) ©. 67. Irmenfirafie (1815) ©. 15. 59. 62. Alt
beutfhe Wälder I, (1813) ©. 16. — 3) I. Grimm in F. Sqlegel's Deut:
fhem Muſeum TIT, (1813) ©. 61. I
452 Drities Buch. Viertes Kapitel.
lung ber Sprade auf alle anderen Gebiete von Grimm's Forjſch⸗
ung einwirfen! Aber gerade hier vollzieht ſich gegen das Ende der
jegt behandelten Periode die große Wendung in Grimm’s Studien,
die feiner ganzen Forſchung und der gefammten deutſchen Alter-
thumswiſſenſchaft eine neue Grundlage gab.
Biertes Kapitel.
Die Wendung zu ſtrengerer Wiſſenſchafilichteit 1815 bis 1818.
Auguf Wilhelm Sqlegel's Benrtheilung der Altdentfgen Wälder 1815.
An’ einer Beurtheilung der Altdeutſchen Wälder, die in ben
Heidelberger Jahrbüchern 1815 erſchien 1), ſprach A. W. Schlegel
ſeine Anſichten über die altdeutſchen Studien und über die Behand⸗
lung derſelben durch die Brüder Grimm aus. Er hat kein Auge
für die geniale Tiefe, die ſich trotz aller Mängel auch in den
früheren Schriften der Brüder Grimm fund gab, umb verhennt
* deren eigentliche Bedeutung. Aber bie ſchwache Seite an ben Ar-
beiten 3. und W. Grimm's durchſchaut er mit großem Scharfblick
und dedt fie fhonungslos auf. Wir wollen ung hier nicht auf
halten bei den theils richtigen, theils verkehrten Bemerkungen, die
er über Epos, Sage und Märchen macht, ſondern fogleid; zu dem
wichtigften Theil der ganzen Beurtheilung, zu Schlegel’s Angriff
auf J. Grimm’s Bisherige Sprachforſchung übergehen. Mit ſchärj⸗
fter Vitterfeit greift er die „babyloniſche Sprachverwirrung“ in
Grimm's Etymologien an, und nachdem er Grimm's Behauptung:
„nemo nicht contrahiert aus ne homo, fondern ho ein bloßer
Vorſatz, und mo foviel als mas, mans, Mon“, ſpottend widerlegt
hat, führt er fort: „Darüber werben alle Kenner einverftanden
fein, baß wer folde Etymologien an das Licht bringt, noch in den
erſten Grunbfägen der Spradforigung ein Fremdling ift“ 2). So
1) Heibelb. Jahrbb. 1815, ©. 721-766. Wieder abgebrudt in 1. ©.
Eqhlegels ſammtlichen Werten, Band XII, ein 1847, ©. 3:48. —
9) Heibelb. Jahrbb 1815, ©. 738.
Die Wendung zu firengerer Wiffenfchaftlichfeit 1815 bis 1818. 458
ummmmwınben verdammt Schlegel Grimm's damalige Sprachforſchung,
obſchon er im anderen Beziehungen den Grimms „einen nicht ge-
ringen Scharffinn, eine ausgebreitete Belejenheit, einen unermüd-
Iihen Fleiß in Aufſpürung aud bes Unbemerkteften“ zuerlennt 1).
Was Schlegel vor allem auch von der deutſchen Philologie
fordert, ift ſtreng philologiſche Methode und dieſe wieder ift ihm
nur möglich auf dem Grund der Grammatil. Nah ausführlicher
Erörterung einer Stelle in Wolfram's Barcival fährt er fort: „Die
Entifferung eines einzigen Verjes könnte unfern Leſern fo vieler
Umſtändlichkeit nicht werth zu fein ſcheinen. Allein die Philologie
hat immerfort mit folden Mlleinigfeiten zu thun; fie ſchämt fi
deſſen nicht bei den geringften Ueberreſten des claffifchen Alterthums:
warum ſollte fie e8 bei den altdeutſchen Denkmalen? Alle Beihäf-
tigung mit ihnen bleibt ganz unerſprießlich, fo lange man fie nicht
gehörig verfteht. Dazu ift ſcharfe Kritik, ſprachkundige Genauigkeit
md gründliche Auslegungskunft erforberlih, -und hierin ift, einige
rühmlige Ausnahmen abgerechnet, noch faft gar nichts geleiftet
morden“ 2). Zu einer folhen Auslegung und Tertkritit find aber
vor allem gründliche grammatiſche Kenntniffe unbedingt notwendig.
„&8 wäre ein fehr erwünſchtes Geſchenk für alle Freunde unferer
alten Dichter, jagt Schlegel, wenn ein gründlicher Gelehrter, wie
Hr. Benede, eine deutſche Sprachlehre des dreizehnten Jahrhunderts
liefern wollte. Man kann es nicht genug wiederholen, bie Be—
ſchaͤftigung mit den alten einheimifhen Schriften kann nur durch
Anslegungskunft und Kritit gedeihen; und wie find diefe möglich
ofne genaue grammatiſche Kenntnig? Die Schwierigkeiten eines
folgen Unternehmens find freilich nicht gering, wegen der vegellofen
Screibung ungelehrter Abſchreiber, wegen bes Mangels an pro»
feifen Schriften aus diefem Zeitraume, endlich wegen der Unzu-
verläffigfeit der bisherigen Ausgaben“ 3). Man fieht, Schlegel hat
über den Gegenftand gründlich nachgedacht. Cr weiß auch fehr wohl
Veſcheid darüber, wo bis bahin für die altgermaniide Grammatik
etwas gejhehen war. „Für die Geſchichte unferer Grammatik, jagt
1) &bend. ©. 722. — 2) Ebend. ©. 734. — 3) Ebend. S. 748.
454 Drittes Bud. Viertes Kapitel.
er, ift bisher durch Ausländer mehr geleiftet worden, als durch
deutſche Gelehrte. Wir nennen hier vorzüglich außer Hides und
Lye eine holländiſche Schrift: Gemeenschap tussen de Gottische
Spraeke en de Nederduytsche, von Lambert ten Kate. Sie
umfaßt nicht die ganze gothiſche Grammatik, fondern bloß die Con⸗
jugation und Declination, dieſe find aber meiſterlich behandelt“ 1).
Insbeſondere rühmt Schlegel an Ten Kate, daß er die germaniſchen
ftarfen Verba erfannt habe. „Wie lange werben die deutſchen
Spradlehrer fortfahren, fagt er, wie Adelung eine Menge Zeit-
wörter als unregelmäßig zu verfennen, . die nur kunſtreicher vegel-
mäßig find als die übrigen und zu einer zweiten Konjugation ge
hören? Schon Hides (Thesaur. Ling. septentrion. II, p. 71)
warf einen Wink darüber Hin. Lambert ten Kate hat den Sat
durchgeführt, die ſämmlichen Beitwörter des Ulfilas nach Klaſſen
geordnet und ihre Analogie bis in die feinften Verzweigungen nad:
gemiefen“ 2).
Die Necenfion Schlegel’s erihien im 3. 1815. Gleich in den
nächſtfolgenden Jahren legt Grimm den Grund zu feiner deutſchen
Grammatik, deren erfter Band 1819 herauslam. Ohne Zweifel
war die große Wendung in Grimm’s Forſchung die Entwidelung
eines in den Tiefen feiner eigenen Anlagen ruhenden Keims. er
aber möchte den Zufammenhang von Schlegel’3 Aeußerungen mit dem
endlich zum Durchbruch gefommenen Entſchluß des großen deutſchen
Grammatikers läugnen? Schlegel hat ſich fpäter mit größter An-
erfennung über Grimm’s Grammatik ausgeſprochen 3); und Grimm
ſchreibt zwanzig Jahre nach jener ſcharfen Kritik Schlegel’s an
Lahmann: „Gegen Schlegel find Sie fortwährend hart; faſt zu
zu jehr. Ih banfe ihm immer noch die im meiner Jugend durch
ihn empfangene Anregung“ 9). j
1) Ebend. ©. 744. Ten Kate's ſpäteres Hauptwerk (f. o. ©. Ud ig
ſcheint Schlegel entgangen zu fein. — 2) Ebenb. ©. 745. — 3) In einm
Briefe an W. von Humboldt vom 21. Dec. 1822. A. W. Sqhllegers Br
®b. XII, ©.403. — 4) W. Scherer, Jacob Grimm, Berlin 1865, S. 70. -
Bol. aud den achtungsvollen Brief I. Grimm’s au A. W. Shhlegel vom
Die Wendung zu firengerer Wiffenfhaftlichleit 1815 bis 1818. 455
Georg Friedrich Benehe's frühere Arbeiten.
Auf felbftändigem Wege, obwohl fpäter nah befreundet mit
den Brüdern Grimm, Hat George Friederich Benede bie
Bahn zu einem richtigen Verftänbnig der mittelhochdeutſchen Dichter
gebrochen. Geboren am 10. Yuni 1762 zu Möndsroth im Für-
ſtenthum Dettingen, wohin fein Großvater aus Braunſchweig ges
zogen war, erhielt er feine erfte Bildung auf der Schule zu Nörb-
fingen und fpäter auf dem Gymnafium zu Augsburg, wo fein ge-
lehrter Oheim, Freiherr von Tröltſch, der ſich eifrig mit dem alt-
deutſchen Rechte beihäftigte, eine erlefene Bibliothek befaß, deren
laitaliſche Werte Benede’s Aufmerlſamkeit zuerft auf bie frühere
Geftalt der deutſchen Sprache Ientten. Er bezog 1780 die Univer-
fät Göttingen und wurde dort der Schüler des berühmten Haffifchen
Philologen Heyne. Auf Heyne’s Empfehlung ward ew-1789, bei
der Göttinger Univerfitätsbibliothet angeftellt. 1829 wide er zum
Vihliothefar, 1836 zum Oberbibliothefar an berjelben befürbert.
Auglei erhielt er 1805 eine auferordentlihe, 1814 eine orbent-
liche Brofeffur der Philofophie an der dortigen Umiverfität. Seine
Vorlefungen betrafen vorzüglich die engliſche Sprache, deren grüß-
ter Kenner in Deutihland er war, und die altdeutſche Literatur.
Als hochbetagter Greis ftarb er zu Göttingen am 21. Auguft 1844 1).
Seine literariſche Laufbahn begann Benecke mit Arbeiten auf
dem Gebiet der engliſchen Literatur. Es konnte kaum eine beſſere
Vorbereitung für die Erforihung des mittelhochdeutſchen Sprad-
ſchatzes geben als die genaue und forgfältige Behandlung des Eng-
lügen, deren ſich Benede als hochgeachteter Lehrer diefer Sprache
befleigigte. Am Engliſchen Yernt man, wie häufig das Deutſche
3. Det. 1832 in dem Verzeichniss der von A. W. v. Schlegel nachge-
Iassenen Briefsammlung v. Ant. Klette, Bonn 1868, 8. XI fg. —
1) Die obigen Angaben über Benede’s Leben find theils dem Artikel Benede
im erſten Band des Gonverfations:Lerifons ber neueften Zeit und Literatur,
Airgig 1832, entlehnt, tHeils dem Neuen Nefrofog ber Deutſchen, 22fer
Yasıgang, Weimar 1846, ©. 602 fg.
466 Drittes Buch. Viertes Kapitel.
und das Englifhe diefelden Wortkörper bewahrt haben, während
die Bebeutungen desſelben Wortes in den beiden Sprachen bald
ftäfer, Bald feiner auseinandergegangen find. Die erfte jelbftän-
dige Arbeit Benede's auf altdeutihem Gebiet waren bie Beyträge
zur Kenntniß der altdeutihen Sprache und Literatur, Erſter Band,
Theil I, Göttingen 1810. Sie enthielten Ergänzungen zu Bod—
mer's 1758 erihienenen Minnefingern aus der zu Bremen aufbe⸗
wahrten Abſchrift des Parifer Coder, die Goldaft beſeſſen hatte.
Man erfannte daraus die Willfür, mit der Bodmer feine Vorlage
behandelt hatte, und zugleich zeigte die vom Herausgeber beigefügte
Interpunktion deſſen gründlices Verftändniß feines Textes. Sechs
Jahre ſpäter (Berlin 1816) erſchien Benecke's Ausgabe von Bo—
nerius Edelſtein 1). Hier legte Benede zuerſt ſeine Anſichten über
das Verhältniß der mittelhochdeutſchen Sprache zur neuhochdeutjchen
dar und gab zugleich in dem beigefügten Wörterbuch eine treffliche
Probe von der richtigen Auffaſſung des mittelhochdeutſchen Wort-
Tages. Die 1757 zu Züri erihienene Ausgabe von Bonerius
Fabeln ſei vergriffen, fagt er im Vorberiht, und dann fährt er
fort: „Zwar Hat Herr Hofrath Eſchenburg erft vor einigen Jahren
eine Ausgabe diefer Fabeln veranftaltet; allein fein Abfehen war,
feiner ausdrüclichen Erklärung zufolge, vorzüglich auf ſolche Leer
gerichtet, welche durch die alte Sprache zurückgeſchreckt werben,
während bie gegenwärtige Ausgabe einzig und allein für ſolche de
fer beftimmt ift, welde duch die alte Sprade angezogen werden,
und welde wünſchen, den alten Dichter in jeiner eigenthümlicen
Geftalt kennen zu lernen. So wie es aljo bort darauf ankam, daß
Alles Allen verſtändlich fei, fo kam es hier darauf an, daß Alles,
fo viel als möglich, echt jei“ 2). Man kann den Gegenjag zwiſchen
dem bisherigen Dilettantismus und ber beginnenden Wiſſenſchaft
nicht treffender ausdrücken, als es in biefen Worten geſchieht.
1) Der edel stein getichtet von Bonerius. Aus Handschriften
berichtiget und mit einem Wörterbuche versehen von George Frie
derich Benecke. Berlin 1816. — 2) Vorbericht des Herausgebers
8. VIIL fg.
Die Wendung zu frengerer Wiffenigaftlifeit 1815 bis 1818. 457
Ueber die Art, wie der Tert eines altdeutſchen Gedichts zu behan⸗
dein fei, fagt Benede dann weiterhin viel Richtiges. Aber zur
Erreichung des Zieles ftanden ihm weder die geiftigen, noch die
äußerlien Mittel damals ſchon zu Gebote. Die Löfung diefer
Aufgabe war feinem großen Schüler vachmann vorbehalten. Das
beigegebene Wörterbuch dagegen ift nad) Anlage und Ausführung
epochemachend, indem e3 den Anfang der wahrhaft wiſſenſchaftlichen
mittelhochdeutſcheu Lerikographie bezeichnet. Die Kenntniß des Altdeut-
ſchen ift nach Benecke's Anficht keineswegs leicht zu erwerben !). „Es
bedarf eifrigen Forſchens und ſtets wacher Aufmerkſamkeit, um mit
jedem Ausdrude den richtigen und Haren Begriff zu verbinden“ 2).
Denn oft ift „zwar das Wort in der Sprache geblieben, aber
tie Bedeutung hat fi) geändert” 3). Nach diefen Anfichten ver-
führt dann Benecke in dem beigefügten Wörterbuch in eben fo feiner,
als gründliche Weife und liefert dadurch die erjte von feinen grund-
legenden Arbeiten zum richtigen Verſtändniß des mittelhochdeutfchen
Wortſchatzes. Benecke's Leiftungen wurden von Jacob Grimm
freubig begrüßt. „Recenſent, jagt Grimm in feiner Anzeige* von
Benecke's Bonerius 1816, erinnert fi) feiner einzigen Schrift im
Fade der altdeutſchen Literatur (und will am wenigften feine eige-
nen Arbeiten davon ausnehmen), worin mit folder Sicherheit die
Bedeutung einzelner Wörter und der Sinn ganzer Säge angegeben
wäre” 4),
Rarl Lahmann’s Anfänge.
Karl (Konrad Friedrih Wilhelm) Lachmann wurde geboren
am 4. März 1793 zu Braunſchweig, wo jein Vater eine Prediger-
ftelle an der St. Andreas- Kirche bekleidete. Er jtammte aus der
Atmart, wo feine Ahnen feit Jahrhunderten Prediger waren.
Auf fein Vater hatte 558 zum Jahre 1792 als Felbprediger in
preußiſchem Dienft geftanden. Seine Mutter, eine geborene von
Üben, Tochter eines preußiſchen Majors, verlor Lachmann ſchon
1) Eben. S. XIV. — 2) Ebend. ©. XVII. — 3) Ebend. ©. XV.
— 4). Grimm in den Heibelberg. Jahrbb. 1816, ©. 307.
458 Drittes Buch. Biertes Kapitel.
im zweiten Lebensjahr; fie ftarb am 31. Yan. 1795. Den erften
Unterricht erhielt Lachmann von feinem Vater, der ungemein ſtreng
ja hart mit feinen Kindern war. Unfittlicfeit war ihm umd wurde
ihnen ein Greuel, jede Unredlichkeit wurde als eine verabfchenungs-
würdige Niebrigfeit geſchildert. Lernen, namentlih bie alten
Sprachen, war das oberfte Princip der Erziehung. Im J. 1800
trat Lachmann in bie Quinta des Ratharineums zu Braunſchweig
ein. Bis zum März 1809 war er Schüler dieſes Gymnaſiums,
das bamals unter der Leitung Konrad Heuſinger's, deffen Lad-
mann fi) ſtets mit großer Pietät erinnerte, in hoher Blüthe ftand.
Mit eminentem Erfolge betrieb Lahmann das Studium der grie
chiſchen und lateiniſchen Klaſſiker, fo wie Geſchichte, Geographie und
neuere Sprachen; Mathematik und Natnrwiſſenſchaften dagegen
brach er über das Knie. Daher ehrten und liebten ihn auch ſeine
philologiſchen Lehrer, nicht fo „die Pedanten in Zahlen- und Na-
turbemonftration.”* Nach feinem Abgang vom Gymnaſium bezog
Lachmann Oftern 1809 die Univerfität Leipzig, um dort Theologie
und "Philologie zu ftubieren. Er hörte hier unter Anderen auf
Gottfried Hermann. Im Herbſt desfelben Jahres gieng er nad
Göttingen. Hier ſetzte er zwar ben Beſuch theologiſcher Borlefungen zu⸗
nüchſt fort, bald aber gewann die Philologie volfftänbig die Oberhand.
Heyne, deſſen Vorlefungen er hörte und an deffen philologiſchem Semi-
nar er ſich betheiligte, erkannte zwar Lachmann's Befähigung, aber in
die eregetifche Akribie und ftrengere Kritik der jüngeren Schule fonnte
er ſich nit vet finden. Fruchtbarer für Lachmann war Diffens
Unterriät. Am meiften aber förderte ihm der Umgang mit be
gabten gleichftrebenden Jünglingen, mit Joſias Bunfen, Eruſt
Schulze, Brandis und Anderen. Lachmann's Hauptitubium waren
die griechiſchen und lateiniſchen Klaſſiker, vor allen ſchon damals bie
römiſchen Dichter. Doc) beſchränkte er feine Studien nicht hierauf,
fondern trieb mit Eifer neuere Sprachen, befonders Italieniſch und
Engliſch, letzteres unter Benecke's Leitung. Eutſcheidend aber für
Lachmann's ganzes Leben war es, daß Venede fein Lehrer im At-
beutf hen wurde, das von ba am neben ber Haffiihen Philologie
den Kern feiner Studien bildete. Im J. 1815 unterbraden bie
Die Wendung zu- firengerer Wiſſeuſchaftlichleit 1815 bis 1818. 459
Beltereigniffe Lachmann's gelehrtes Leben. Beim Ausbruch des
Kriegs gegen ben zurückgekehrten franzöfifhen Kaiſer trat er als
freiwilliger Jäger in das preußifche Heer ein. Aber erft nachdem
die Entſcheidung ſchon gefallen war, wurde die Wbtheilung, der er
angehörte, nad) Frankreich geführt. Lachmann hat auf dieſe Weife
den zweiten Zug der Preußen nad Paris mitgemacht, aber zu
feinem großen Verdruß, ohne je vor den Feind gefommen zu fein.
Nah Auflöfung feines Detachements begab fih Lachmann nad
Berlin und fand dort bald eine Anftellung als Collaborator am
Friedrich - Werberihen Gymnafium. Im Srühling 1816 Habili-
tierte er ſich zugleih an der Berliner Univerfität. Die ftatuten-
mäßige Borlefung vor der Facultät hielt er über die urfprüngliche
Form des Nibelungenliedes. Sie erſchien unmittelbar darauf unter
dem Titel: „Karl Lachmann über die urfprüngliche Geftalt bes
Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin 1816." In demielben
Frühjahr wurde Lachmann's Meifterftüc auf dem Gebiet der antifen
Tertkeitif, feine Ausgabe des Properz veröffentliht. Zu Vorlefun-
gen an der Berliner Univerfität am Lachmann damals nicht, denn
ion im Sommer 1816 wurde er als Oberlehrer am Fridericia⸗
num zu Königsberg angeftellt. Hier verbanden ihn die altveutichen
Studien beſonders mit feinem Amtsgenofien Karl Köpke. Er
betheiligte fi an defien Ausgabe von Rudolf's von Montfort Bar-
Iaam und Joſaphat (1818) und wandte gemeinfame Studien dem
Balther von der Vogelweide zu, ben Köpfe herausgeben wollte ).
Obwohl Lachmann ſich als einen vorzüglihen Lehrer an den oberen
Klaffen eines Gymnaſiums bewährte, jo fonnte diefe Stellung doch
nur eine vorübergehende für ihn fein. Am 17. Januar 1818
wurde er zum außerorbentlihen Profeffor an der Umiverjität Kö-
nigsberg ernannt 2).
Bis hieher führen wir an biefer Stelle die Lebensgeſchichte
1) Köpfe Hat nur eine Probe jeiner Ausgabe in Büſching's Wöcent:
icen Nachtichten Bb. IV. (1819) ©. 12 fg. veröffentlicht. — 2) Die obir
gen Angaben über Lachmann’ Leben find entnommen aus Karl Lachmann
eine Biographie von Martin Hertz Berlin 1851.
458 Drittes Buch. Biertes Kapitel.
im zweiten Lebensjahr; fie ftarb am 31. Yan. 1795. Den eriten
Unterricht erhielt Lachmann von feinem Vater, der ungentein ftreng,
ja hart mit feinen Kindern war. Unſittlichkeit war ihm und wurde
ihnen ein Greuel, jede Unreblichteit wurde als eine verabſcheuungs⸗
würdige Niebrigfeit geſchildert. Lernen, namentlih bie alten
Sprachen, war das oberfte Princip ber Erziehung. Im J. 1800
trat Lohmann in die Quinta des Katharineums zu Braunfchweig
ein. Bis zum März 1809 war er Schüler dieſes Gymnaſiums,
das damals unter der Leitung Konrad Heuſinger's, deſſen Lad.
mann ſich ftetS mit großer Pietät erinnerte, in hoher Blüthe ftand.
Mit eminentem Erfolge betrieb Lachmann das Studium der grie
chiſchen und lateiniſchen Klaffiter, jo wie Geſchichte, Geographie und
neuere Sprachen; Mathematit und Naturwiſſenſchaften dagegen
brach er über das Knie. Daher ehrten und Tiebten ihm auch feine
philologifchen Lehrer, nicht fo „„die Pedanten in Zahlen- und Na-
turbemonftration.“* Nach feinem Abgang vom Gymmafium bezog
Lachmann Oftern 1809 bie Univerfität Leipzig, um dort Theologie
und "Philologie zu ftubieren. Er hörte hier unter Anderen auch
Gottfried Hermann. Im Herbft desfelden Jahres gieng er nah
Göttingen. Hier fette er zwar den Beſuch theologiſcher Vorleſungen zu-
nädjft fort, bald aber gewann die Philologie vollftändig Die Oberhand.
Heyne, deſſen Vorleſungen er hörte und an deſſen philologiſchem Semi-
nar er ſich betheiligte, erfannte zwar Lachmann's Befähigung, aber in
bie eregetiſche Afribie und ſtrengere Kritik der jüngeren Schule konnte
er ſich nicht recht finden. Fruchtbarer für Lachmann war Diffen’s
Unterriät. Am meiften aber fürberte ihn der Umgang mit ber
gabten gleichftrebenden SJünglingen, mit Joſias Bunſen, Ernft
Schulze, Brandis umd Anderen. Lachmann's Hauptjtubium waren
bie griechiſchen und lateiniſchen Klaffiter, vor allen ſchon damals die
römiſchen Dichter. Doc beſchränkte er feine Stubien nicht Hierauf,
fondern trieb mit Eifer neuere Sprachen, befonders Italieniſch und
Engliſch, letzteres unter Benecke's Leitung. Eutſcheidend aber für
Lachmann's ganzes Leben war e8, daß Benede fein Lehrer im Alt-
deutfchen wurde, das von da an neben der klaſſiſchen Philologie
den Kern feiner Stubien bildete. Im J. 1815 unterbraden die
Die Wendung zu firengerer Wiffenfchaftlichfeit 1815 bie 1818. 459
Beltereigniffe Lachmann's gelehrtes Leben. Beim Ausbruch des
Kriegs gegen den zurückgelehrten franzöfiigen Kaiſer trat er als
freiwilfiger Jäger in das preußiſche Heer ein. Aber erſt nachdem
die Entſcheidung ſchon gefallen war, wurde die Abtheilung, der er
angehörte, nach Frankreich geführt. Lachmann hat auf diefe Weife
den zweiten Zug ber Preußen nah Paris mitgemadt, aber zu
jeinem großen Verdruß, ohne je vor den Feind gefommen zu fein.
Rah Auflöfung feines Detahements begab fih Lachmann nach
Berlin und fand dort bald eine Anftellung als Collaborator amt
Friedrich» Werder'ſchen Gymnaſium. Im Frühling 1816 Habili»
tierte er fi zugleih an der Berliner Univerfität. Die ftatuten-
mäßige Vorlefung vor der Facultät hielt er über die urſprüngliche
Form des Nibelungenliedes. Sie erihien unmittelbar darauf unter
dem Titel: „Karl Lahmann über die urfprünglihe Geftalt bes
Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin 1816." In demfelben
Frühjahr wurde Lachmann's Meifterftüd auf dem Gebiet ber antiken
Terttritif, feine Ausgabe des Properz veröffentlicht. Zu Vorlefun-
gen an der Berliner Univerfität Fam Lachmann damals nicht, denn
ihon im Sommer 1816 wurde er ala Oberlehrer am Fridericia-
num zu Königsberg angeftellt. Hier verbanden ihn die altdeutſchen
Studien befonders mit feinem Amtsgenofien Karl Köpfe. Gr
betheiligte fi an deffen Ausgabe von Rudolf's von Montfort Bar-
laam und Joſaphat (1818) und wandte gemeinfame Studien dem
Balther von der Vogelweide zu, den Köpfe herausgeben wollte ').
Obwohl Lachmann fi als einen vorzüglihen Lehrer an ben oberen
Kafjen eines Gymnafiums bewährte, fo konnte diefe Stellung doch
nur eine vorübergehende für ihm fein. Am 17. Januar 1818
wurde er zum außerordentlihen Profeſſor an der Univerjität Kö—
nigsberg ernannt 2).
Bis hieher führen wir an bdiefer Stelle die Lebensgeſchichte
1) Köpfe Hat mur eine Probe jeiner Ausgabe in Büſching's Wöcent:
igen Nachtichten Bd. IV. (1819) ©. 12 fg. veröffentlicht. — 2) Die obi⸗
gen Angaben über Lachmanu's Leben find entnommen aus Karl Lachmann
eine Biographie von Martin Hertz Berlin 1851.
460 Drittes Buch. Viertes Kapitel.
Lachmann's. Was feine diefer Zeit angehörenden Arbeiten auf dem
Gebiet der germaniſchen Philologie betrifft, fo werben wir noch
einmal auf fie zurüdfommen, wenn wir Lachmann's Leiftungen in
einem fpäteren Abſchnitt zufammenfafiend ſchildern. Hier wollen
wie nur einige Pımkte hervorheben, durch welche Lachmann gleich
bei feinem erften Auftreten weentlih in die Entwidlung der ger-
maniſchen Philologie eingegriffen hat. Nur beiläufig erwähnen
wir, daß Lachmann den erften Band von Peter Erasmus Müllers
Sagaenbibliothet des ſtandinaviſchen Altertfums aus der däniſchen
Handſchrift überjegt (Berlin 1816) herausgegeben und dadurch dies
trefflihe Buch fon vor feinem Erſcheinen in däniſcher Sprade
(1817) in Deutihland eingebürgert hat. Die brei Arbeiten, in
denen fi Lachmann's geiftige Bedeutung glei bei feinem erſten
Auftreten anfündigte, waren die fon erwähnte Schrift über die
urſprüngliche Geftalt des Gedichts von der Nibelungen Noth (1816),
mit der er Hagen's Annahme von einem einzigen Dichter der⸗
felden entgegentrat, die Mecenfion von Hagen's Nibelungen und
Benede's Bonerius im Jahrgang 1817 der Jenaiſchen Literatur:
zeitung und die Verbefjerungen, die er F. K. Köpke's Ausgabe von
Barlaam und Joſaphat (1818) Hinzufügte. Den Inhalt der erft⸗
genannten Schrift werben wir im folgenden Buch im Zuſammen ⸗
bang mit Lochmann's fpäteren Arbeiten über bie Nibelungen ber
ſprechen. Hier bemerken wir nur, daß fie glei bei Lachmann's
Eintritt in die gelehrte Laufbahn die Verbindung der Tlaffiihen
Philologie mit ber altdeutſchen vollzog. Auch Jacob Grimm er
kannte fofort die Bedeutung „diefer Heinen, aber recht ausgezeid-
neten Schrift“, wie er fie (1816) nennt, und ftimmte ihr im We
ſentlichen bei 1). Lachmann's Beurtheilung von Hagen's zmeiter
Ausgabe (1816) des Nibelungenlieds und Benede's Bonerius
ſpricht fih (1817) nicht nur über den Tert der Nibelungen aus,
fondern fie enthält zugleih die ſchon ziemlich entwidelten Keime
von vachmann's kritiſchen, metriſchen und grammatiſch⸗orthographi⸗
1) 3. Grimm's Recenſion ber oben beſprochenen Schrift Lachmann's in
ben Heibelb. Jahrbb. 1816, S. 1089 — 1096."
Die Wendung zu rengerer Wiſſenſchaftlichteit 1815 bis 1818. 461
ſchen Lehren in Betreff ber mittelhochdentſchen Dichter überhaupt.
‚Den Resarten einer einzigen Handſchrift folgen, fagt er, und nur
ihte Schreibfehler aus anderen befjern, Heißt doch gewiß noch nicht
eine kritiſche Ausgabe liefern* 1). Das einzig richtige Geſetz lautet
vielmehr nad) Lachmann: „Wir follen und wollen aus einer hin⸗
reichenden Menge von guten Handſchriften einen allen diefen zum
Grunde liegenden Text darftellen, der entmeber der urfprünglide ſelbſt
fein oder ihm doch ſehr nahe fommen muß“ 1). „Wenn wir fleißig
find, lönnen wir manche unſerer Gedichte gleich beim erften Drude
in einer weit beſſeren Geſtalt liefern, als es bie erften Herausgeber
der Klaſſiler mit dieſen gethan Haben; ja es ift gewiß, fo parabor
es auch llingen mag, daß die Kritik in unferen alten Schriftftellern
weit fierer gehen und viel mehr ausrichten kann, als in ben
Schriften des Haffiihen Alterthums“ 2). Was Lahmann dann
weiter über mittelhochdeutſche Lautlehre und Metrik erörtert, iſt
unbedingt das Gediegenſte, was Bis dahin über dieſe Gegenſtände
gejagt worden iſt. Weber die mittelhochdeutſche Metrik gibt er hier
bereits bie erften Grundzüge feiner fpäterhin bis in's Feinſte aus⸗
gebildeten Lehren 3). „Das Publicum, meint er ſchließlich, hat
überhaupt im allgemeinen noch wenig mehr gethan als urtheilen;
zum Lernen iſt 6i8 jegt nur ein ſchwacher Anfang gemacht“ 4).
Wie diefe Kritik, fo lafien Lachmann's Verbefferungen zu Köple's
Ausgabe des Barlaam (1818) 5) den überlegenen Meifter des Faches
auf jeder Seite erkennen. Grammatiihe Auseinanderfegungen von
ſolcher Gediegenheit, wie bie hier gegebene über diu und die ©) oder
die in ber oben beſprochenen Kritik befindliche 7) über mittelhoch-
deutfhes z und s wird man anberweitig vor bem Erſcheinen von
Grimm’ Grammatik vergeblich ſuchen. ö
1) Jen. allgem. Literatur - Zeitung 1817, Julius, Sp. 114. —
2) &bend. Julius, Sp. 119. — 3) Ebenb. Julius, Sp. 197. — 4) Ehe.
JIalius, Sp. 142. — 5) Barlaam u. Jojaphat Her. von F. K. Kbpke, Berlin
1818, 6.421436. — 6) @benb. ©.485. — 7) Jen. Allg. Literatur-
Zeitung 1817, Jul, ©p. 122.
462 Drittes. Bud. Viertes Kapitel,
Stan; Bopp’s erſtes Auftreten 1816.
Wenn wir in Lachmann's Arbeiten glei von Anfang an ben
beilfamen Einfluß der antil⸗klaſſiſchen Philologie und ihrer ftrengen
Methobe auf die altdeutſchen Studien erbliden, fo follte dieſen faft
gleichzeitig auch noch von einer ganz anderen Seite eine epode-
machende Förderung zu Theil werben. Wir haben im einem frühe
ven Abſchnitt Friedrich Schlegel's Berdienft um bie Einführung
des Sanskrit in die deutſche Wiſſenſchaft geſchildert. Aber fo wer
fentlih das Verdienſt biefer erften Anzegung war, und fo tiefe
Blide Schlegel in die Bedeutung feines Gegenftands gethan hat,
fo war dod das wiſſenſchaftliche Eindringen in den neu gefundenen
Schatz und feine wirkliche Aufiäliefung und Verwerthung für die
Forſchung einem anderen Gelehrten vorbehalten, dem Gründer der
vergleienden indogermaniihen Grammatit: Franz Bopp. Ge
boren am 14. Sept. 1791 zu Mainz legte Franz Bopp bet
Grund feiner wiffenfhaftlihen Bildung auf dem Gymnaſium zu
Aſchaffenburg, wo ihn vorzüglich der ältere Windifhmann für das
Studium der orientalifhen Sprachen begeifterte. Im Herbft 1812
gieng er nad Paris und wibmete fi) Hier, unterftägt vom der
königlich bayeriſchen Negierung, dann in London und Göttingen
eine Reife von Jahren hindurch dem Stubium ber orientaliſchen
Sprachen, insbejonbere des Sanskrit. Im Jahr 1821 wurde er
Profeſſor der orientaliſchen Sprachen an ber Univerjität Berfin,
an welder er fortan als einer ihrer berühmteften Lehrer wirkte ').
Er ftarb am 23. Oft. 1867. — Den Grund zu feinen epode:
madjenden Arbeiten legte Bopp in feiner 1816 zu Frankfurt am
Main erfhienenen Schrift: „Ueber das Conjugationsſyſtem der
Sanstritfprage in Vergleichung mit jenem ber griechiſchen, la
teiniſchen, perſiſchen und germaniihen Sprache. — Heraus
gegeben und mit Vorerinnerungen begleitet von Dr. 8. J. Win
diſchmann.“ Sowohl die Vorerinnerungen Windiſchmann's, ald
1) Franz Bopp, der Begründer der vergleichenden Sprachwiſſenſchaft.
Von Adalbert Kuhn, in: Unfere Zeit, Leipgig, Vrochaus, IV, 1 (1868)
©. 780 fg. — Windifämann, Vorerinnerungen zu Franz Bopp, über das
Conjugationsſyſtem der Sansekritſprache, Frankfurt a. M. 1816,
J
Die Wendung zu frengerer Wiſſenſchafilichteit 1815 bis 1818. 468
die ganze Anlage von Bopp's Schrift laſſen uns den Zuſammen⸗
hang erkennen, in welchem Bopp's Beſtrebungen mit Friedrich
Schlegels Buch über die Sprache und Weisheit der Indier ftehen.
Bie Schlegel, jo läßt auch Bopp auf die gelehrte Erörterung eine
Anzahl überfegter Proben aus indiihen Werken folgen; und der
Mann, der ihn zu feinem Studium des Sanskrit antegte, der
ältere Windifhmann, war in Streben und Gefinnung Friedrich
Shlegel nah verwandt. Auch blieb Bopp bis in fpätere Jahre
in dankbar freundſchaftlichen Beziehungen zu. bem Lehrer feiner
Jugend 1). Aber gerabe darin zeigt ſich die Selbftändigfeit Bopp’s,
dab er trotz biefes Zufammenhangs mit Friedrich Schlegel gleich
in diefer erften Schrift feine unabhängigen Bahnen einfchlägt.
Darin zwar fehen wir Bopp mit allen tieferen Geiftern einver-
fanden, daß es ihm nicht Bloß um dieſe oder jene Einzelheit
zu thun ift, fondern daß er feine Gaben der Sprachforſchung „ſo⸗
glei vom Anbeginn mit der Abſicht widmet, auf biefem Wege in
das Geheimniß des menſchlichen Geiftes einzubringen und demfel-
ben etwas von feiner Natur und von feinem Geſetz abzugewinnen“ 2).
Aber in der Erforſchung des Thatſächlichen geht Bopp mit größter
Befonmenheit und ſtreng wiſſenſchaftlicher Nüchternheit zu Werke,
und fo wird er der Gründer der vergleichenden indogermaniſchen
Grammatil. Seine Unterfuhung beginnt Bopp mit einer Erör⸗
terung „über Zeitwörter im Allgemeinen“, barauf läßt er eine
Darftellung der „Conjugation der altindifen Sprache“ folgen,
und was er bier gefunden, wendet er dann in bejonderen Kapiteln
auf die Conjugation der griechiſchen und lateiniſchen Zeitwörter
und auf „bie Conjugation der perſiſchen Sprache und der alten
germanifgen Mundarten" an. Die Anfihten, zu denen Bopp
durch feine Unterjuhungen geführt wird, bilden in einem Angel-
punkt der grammatiſchen Forſchung einen Gegenfag zu benen
1) Bl. €. 3. H. Windiſchmann, die Ppilofophie im Fortgang ber Welt:
gefgichte. GErfter Teil, erfte Wihlg. Bor. S. Vz zweite Abih. Erfläcung
(S. In. — 2) Windiſchmann's Borerinnerungen zu Bopp über das Gonjus
gationsfoftem ber Sanskritſprache ©. II. \
464 Drittes Buch. Viertes Kapitel.
Friedrich Schlegel's. Wir haben gejehen, daß Friedrich Schlegel
die Flexionen der indogermaniſchen Sprachen durch innere Um-
wanblung ber Wurzel felbft fi bilden läßt; und zwar ftellt er die
indogermanifchen Sprachen als flectierende gerade in Bezug auf
die Bezeichnung der Perfonen in dev Conjugation in Gegenſatz zu
den Spraden, melde die Berfon an Zeitwörtern durch Anfügung von
Affiris bezeichnen. Nun ſpricht fi zwar auch Bopp in Betreff des
Sangkit dahin aus: „Unter allen uns befannten Spradien zeigt
fi) die geheiligte Sprache der Indier als eine der fähigften, die
verſchiedenſten Verhältniſſe und Beziehungen auf wahrhaft organiihe
Weife durch innere Umbiegung und Geftaltung der Stammfglbe
auszubrüden.” „Aber“, fährt er fort, „ungeachtet dieſer bewun⸗
derungswürdigen Biegfamfeit gefällt e8 ihr zuweilen, ber Wurzel
das verbum abstractum einzuverleiben, wobei fi ſodann bie
Stammſylbe und das einverleibte verbum abstractum in bie
grammatiſchen Functionen des Zeitwortes teilen“ '). Und auf
diefem Wege gelangt nun Bopp ſchon im diefer Erftlingsfchrift zu
einer Reihe feiner wichtigſten Entdedungen. Ex findet im indiſchen
zweiten Futurum 2) und, dem entſprechend, im griechiſchen Futurumꝰ)
die Wurzel as; und ebenfo im lateiniſchen Futurum auf bo die
ſanskritiſche Wurzel bhü (Iateinif fu) ). Er erkennt im Indi⸗
cativ bes Iateinifhen Imperfects - bam die Wurzel bhd, im Eon-
junctiv · rem (= sem) die Wurzel as d). Und fo führt er noch
in einer Reihe von Fällen Flexionen des indogermanifchen Zeit
worts auf Zufammenfegungen mit dem Verbum abstractum zurüd.
Aber eine der wichtigſten Entdedungen wird ihm erft im Verlauf
der Arbeit Har. In einem Binzugefügten „Naditrag* gibt er die
Erflärung: „Es ſcheint mir feinem Zweifel mehr umtermorfen zu
fein, daß die Buchſtaben, die ih in dieſem Verſuche Kennzeichen der
Perſonen zu nennen pflegte, wirflihe Pronomina feten. Schon aus
der griechiſchen und lateiniſchen Sprache ließ ſich dies muthmaßen; die
Kenntniß des Alt⸗Indiſchen bringt es, meiner Meinung nad, zur
1) Bopp, über das Gonjugationefufiem ©. 7. Vgl. &.8 unten u. 1.
2) Ebend. ©. 30. — 3) Ebend. ©. 66. — 4) Ebend. S. 96. —
5) Ebenb. ©. 98.
Die Wendung zu frengerer Wiſſenſchaftlichteit 1815 bis 1818. 485
Gewißheit. Wenn der Genius der Sprache mit bedachtſamer Bor-
fiht die einfachen Begriffe der Perjonen mit einfahen Zeichen dar⸗
geitellt hat; wenn wir ob defien weifer Sparfamleit diefelben Ber
griffe an Zeit- und Fürmörtern auf gleiche Weife ausgebrüdt
finden, fo erhellet daraus, daß der Buchſtabe urfprünglich Bedeutung
hatte, und daß er feiner Urbedeutung getreu blieb. Wenn ehebem
an Grund vorhanden gewefen, warum mam, mid, tam, ihn
beißt, und nicht legteres mich, und erfteres ihn: fo ift e8 gewiß
aus demfelben Grund, daß nun Bhavami, id bin, und bhavati,
er ift heißt, und nicht umgefehrt. Wenn das Zeitwort wegen
mannigfacher Nebenbezriffe, die durch bedeutſame Flexion auszu⸗
drüden ihm zukommt, nicht auch die allzuwichtigen Begriffe der
Berfonen durch eigene Mittel — durch innere Biegung — auszu-
drüden vermochte, wenn es ſich desfalls Zeichen beigefellen mußte,
deren Bebeutung feinem Zweifel Raum ließ: fo fonnte es mit
Recht Feine andere Buchſtaben wählen, als bie, welde feit dem Ur-
fprung der Sprade die ihm auszubrüdenden Begriffe mit volfftän-
diger M arbeit barftellten“ 1).
Unterfuhungen über die Urfprünge und die Entwidlung ber
indogermanijchen Sprachen kommen natürli an fi ſchon, wie den
übrigen Sprachen der Familie, fo aud den germanifchen zu gute.
Aber Bopp hat überdies jeine Forſchung glei von Anfang an mit
befonderer Vorliebe den germanifchen Sprachen zugewenbet. Vor
allen fefjelt ihn das Gothiſche. Er glaube, Sanskrit zu leſen,
wenn er den ehrwürdigen Ulphila Iefe, fagt er in einem Brief an
Windiſchmann, feine Sprache halte fo zu jagen die Mitte zwiſchen dem
Sanskrit und dem Deutſchen und jer enthalte manche echt indiſche
Borte, die im Deutſchen ſich verloren haben 2). — Bei der Beur-
teilung deffen, was Bopp in diefer Erſtlingsſchrift ſpeciell über
die germanifchen Sprachen gibt, müſſen wir uns vor allem erin⸗
1) Ebend. ©. 147, Die Art, wie Bopp dieſe Anficht einführt, zeugt
dafür, baf ihm I. Grimm's fon früher veräffentlihte Erklärung ber Ver⸗
balendungen aus ben Perfonalpronominibus nicht befannt war. — 2) Win-
diſchmann's Vorerinnerungen zu Bopp, über das Conjugationsſyſtem, ©. X.
Raumer, Beit. der germ. Phllelogie. 30
466 Drittes Bud. Viertes Kapitel.
nern, daß dieſelbe im Jahr 1816 erfjienen ift, das Heißt: vor ber
erften Ausgabe von Grimm's Deuter Grammatik. Wir werden
dann der feldftändigen Forſchung Bopp's alle Ehre angedeihen
laſſen, zugleich aber aud ums überzeugen, welden Umſchwung auf
dieſem Gebiet Grimm’s Grammatit hervorgerufen hat. Bopp er-
fennt in der Reduplication der gothiſchen rebuplicierenden Praete
rita den Zufammenhang -mit dem ſanskritiſchen Perfectum; aber er
fieht darin ein nur dem Gothifhen angehöriges Perfectum, das
den anderen germanifchen Spraden abgehe. „In ben übrigen
germanischen Mundarten, fo wie aud im Perſiſchen, fagt er, wird
das Perfect und Plusquamperfect umſchrieben“ '). Bon diejem
Perfectum“ jcheidet Bopp das germanifhe Imperfectum“, das
nad ihm auf doppelte Art gebildet wird, nämlich entweber „von
dem part. pass. in t ober d“ (3.8. „sokida, machoda“*) 2), ober
durch Veränderung de3 Stammvocals, z. B. „Angelſ. fandon, wir
fanden; Goth. bandum, wir Banden; Isländ. gafum, wir gaben“).
Richtig erkennt Bopp, gegen Fulda und mit theilweifer Verbeſſer⸗
ung ber Anfihten von Hides, daß das gothiſche Paſſivum (hai-
tada, aflötanda u. f. f) mit dem Participium Paffivi nichts zu
thun hat, fondern eine felbftändige, dem Activ entſprechende Flexion
ift 4). Dagegen verkennt er völlig den Urſprung des altnordiſchen
Baffivs, indem er es, wie das lateinifhe, aus einer Zuſammen ⸗
fegung mit der Wurzel as (esse) erflären will). Cine ſchöne
Entdeckung, die ſich als richtig bewährt hat, bietet auch hier der „Nad-
trag.“ Hier nämlich erkennt Bopp in den gothiſchen Formen
sökid&dun, sökidedi u. |. f. „die Verbindung der Wurzel sök
1) Bopp, Über das Gonjugationsfgflem &. 121. — 2) Ebend. 6.118.
— 8) Ebend. 6. 120. Durch Vergleichung mit ©. 144 (bundun)
vermuthe id in fandon und bandum Drudfehler für fandon und bandam.
Uederfaupt find bei Beurtheilung ber Einzelheiten in dieſer Crflingefhrift
Bopp's zwei Umſiände nicht außer Acht zu laffen: erſtens, da dem Verj- et
damals nur ſehr mangelhafte altgermaniſche Texte zu Gebote ſtanden; und
zweilens, daß ber Correcior, ber wohl gewiß ein Anderer war als ber Ber:
faffer, eine reichliche Saat von Drudfehlern hat flehen laſſen. — 4) Ghend-
©. 122-131. — 5) Bol. ebend. ©. 132 mit ©. 108 fg.
Die Wendung zu frengerer Wiffenfdaftiichfeit 1815 bis 1818. 46T
mit dem Praeteritum bes Halfszeitworts thun, ungefähr, wie
wem man im Deutichen fagte: ſuchet haten, ſuchethäte“ ?).
Der Gefammteindrud von Bopp's erfter Schrift, fo weit fie
das Germaniſche betrifit, ift der, daf der Verfaſſer au den ger-
manifchen Sprachen feinen eindringenden fpradvergleihenden Scharfe
finn bereits Hier zu gute Tommen läßt, daß aber die Erforkgung
der germaniſchen Sprachen ſelbſt damals noch auf einer zu niebri-
gen Stufe ftand, um dem vergleichenden Linguiften mehr als ver-
tinzelte richtige Blicke zu geftatten. Drei Jahre nad Bopp's
Schrift über das Conjugationsſyſtem der Sangkritſprache, im Jahr
1819, erſchien der erfte Band von Grimm’s Deutſcher Grammatik
in erſter, abermals brei Jahr ipäter, im Jahr 1822, in zweiter
gänzlich umgearbeiteter Auflage. Dies epochemachende Werk bietet
dam auch Bopp’s Forſchung auf germaniſchem Gebiet einen neuen
feften Boden 2). Aber eben weil Bopp zwar Grimm’s Leiftungen
mit größter Anerlennung aufnimmt, dabei aber feinen eigenen auf
noch umfaffenderer Grundlage errichteten Ba feldftändig fortführt,
werben wir ihn im Stande fehen, Grimm's Ergebniſſe in wichtigen
Punkten zu berichtigen und weiterzubilben.
Hänftes Kapitel.
Die germanifihe Philslogie in den Niederlanden, England, Schoit⸗
land und Stanbinabien 1797 bis 1819 Weit.
In den Niederlanden fette au in dieſer Zeit der fleikige
Elignett feine achtungswerthe Tätigkeit fort. Uber weder
1) Ebend. S. 151. — NP) Bopp felbft ſpricht fich über dies Verhältnig
in der Varzebe zu feiner Bergleihenben Grammatif aus Indem er bort
ſeine gnglifhe Umarbeitung ber Schrift über das Eanjugationsjyem ber. Sand
trilprache (Analytical Comparison of the Sanscrit, Greek, Latin and
'Teutonic Languages, in den Annals of Oriental Literature, Lond.
1820) und deren Weberfegung in Seebode's Archiv erwähnt, fügt er Hinzu:
.Grimm's meifterhafte deuiſche Grammalit war mir leiber bei Abfaſſung dev
engliſchen Umarbeilung nod nicht befanut geworben, und id; konnte damals
für die altgermanifcgen Dialekte nur Hidcs und Fulda benuten.“
30*
488 Drittes Bud. Fünftes Kapitel,
lignett, no der veihbegabte Willem Bilderdijf” (geb. zu
Amfterdam 1756, geft. am 18. December 1831) vermochten einen
neuen Aufſchwung der germaniftifchen Studien hervorzurufen. Doch
wird bes Letzteren Schrift über das Geſchlecht der Nennwörter
(1805) immer ein Beweis feines Scharffinns und feiner geiftvollen
Auffaffung bleiben. "
In England erwarb fih Sharon Turner burd feine Ge
ſchichte der Angelſachſen (1799- 1805) das Verbienft, wieder ein
lebhafteres Intereſſe für diefe Periode der engliſchen Geſchichte zu
erweden. Neben ifm waren James Ingram md J. J. Cor
npbeare auf dem Gebiet der angelfähfiichen Literatur thätig, und
George Ellis und Joſeph Ritfon bereicherten unfere Kennt
niß der älteren engliſchen Poeſie. Auch in Schottland regte fih
ein lebendiges Intereſſe für bie einheimiſche Sprache und Literatur,
Neben Anderen bemühte fih hier Schottland’S berühmtefter Dichter
Walter Scott um die Herausgabe der alten engliſchen umd
ſchottiſchen Poefien. Auch einer unfrer Landsleute, He in rich We
ber, entwidelt in dieſem Kreife eine verdienftliche Thätigkeit. Ein
Wörterbuch der ſchottiſchen Sprade verfaßt (1808) Kohn Ja
miefon?).
Eine befonders eifrige und erfolgreiche.Pflege aber fanden auch
in unferem Zeitabſchnitt die altgermanijhen Studien in Standina-
vien. In Dänemark werden die großen Unternehmungen fortgejegt,
deren Anfänge wir in einem früheren Abſchnitt beſprochen haben.
Es erfeint 1818 ber zweite Band ber rhythmiſchen Edda zu or
penhagen, welder bie altgermanifchen Heldenlieder enthält mit er⸗
läuternden Anmerkungen und einem Speeimen Glossarii. Ebenſo
findet die begonnene Ausgabe der Heimskringla und die Thätigkeit
für Veröffentlichung und Erläuterung altnordiſcher Sagaen ihren
Fortgang. Nicht nur für das Altnordiſche, fondern für die Erfor⸗
ſchung der germanifgen Sprachen überhaupt ift ein däniſcher Ge
1) Bgl. den Brief Walter Scotl's an einen ber beiben Grimme vom
29. Apr. 1814, mitgeipeilt von Herman Grimm in Macmillan’s Magasine
1868, Jan., p. 268 fg.
Die germ. Philol. in den Rieberl., Engl., Schottl. u. Staub. 1797 bis 1819. 469
lehrter biefes Zeitraums: Rasmus Kriftian Raſk, von folder
Bedeutung, und fein Einfluß auch auf die Entwidlung der Sprach⸗
forſchung in Deutſchland fo tiefgreifend, daß wir ihm einen beſon⸗
deren ausführlicheren Abſchnitt widmen werben. Unter den übrigen
dãniſchen Gelehrten jener Zeit nimmt eine hervorragende Stelle
an Peter Erasmus Müller (geb. zu Kopenhagen 1776, 1801
Brofefjor der Theologie dafelbit, geft. den 16. Sept. 1834) durch
feine Unterfuhungen über die Echtheit der Afalehre (1812) und
über die Glaubwürbigfeit von Saxo's und Snorri's Quellen (1823),
beſonders aber durch feine trefflihe Sagabibliothet (1817—1820).
Einem isländiſchen Gelehrten, dem als Archivar zu Kopenhagen
lebenden Grimr Jonsſon Thorkelin (geb. 1752, + 1829)
verdante jene Zeit eine der allerwichtigiten Veröffentlichungen, nämlich
die erfte Ausgabe des angeljächfiichen Heldengedichts Beovulf, bie
e im J. 1815 zu Kopenhagen unter dem Titel: De Danorum
Rebus Gestis Secul. III et IV. Poema Danicum dialecto
Anglosaxonica, bejorgte. Dem Verdienft ber erften Veröffent⸗
fiung eines fo widtigen Denkmals mag man bie feltfamen An-
ſichten des Herausgebers über Däniſch und Angelſächſiſch zu gute
halten. Ein andrer begabter Forſcher, der ſich, wie um das ſkan⸗
dinaviſche Alterthum, ſo auch um den Beovulf mannigfach bemüht
hat, war der geiſtvolle und gelehrte, wenn auch öfters wunderliche
Nik. Frederik Severin Grundtvig (geb. zu Udby 1788,
lebte meiſt zu Kopenhagen). Unter den übrigen Gelehrten, die ſich
in dieſem Zeitabſchnitte (1797 — 1819) neben den ſchon früher ge-
nannten 1) um die altnordiſche Literatur verdient machten, find
beroorzuheben Börge Thorlacius (f 1829) und Erich Chri-
fian Werlauff. — In Schweden regte fih um biefe Zeit
gleichfalls ein lebhafter Eifer für Erforſchung des ffandinavifchen
Alterthums. Bor allen ift hier zu nennen der tief denkende Ge»
ſchichtſchreiber Schwedens Erit Guftaf Geijer (geb. zu Nan-
füters Bruk 1783, geft. 1847). In Berbindimg mit Arvid
Auguft Afzelius (geb. 1785) gab er eine trefflihe Sammlung
6.0.8. 196 fg.
470 Drittes Bud. Funfies Kapitel.
ſchwediſcher Volkslieder (1814—1815) Heraus. Sein Genoſſe A.
zlius aber warf fih unter Mafl’s Leitung auch auf das Studium
des Islandiſchen unb veröffentlichte in Verbindung mit feinen
Meifter (Stocholm 1818) eine vorzüglige Tertausgabe der Sü-
mundiſchen Edda.
Rasmus RKrikian Kafk.
Der Gelehrte, zu deſſen Leben und Arbeiten wir man über
gegen, nimmt in ber Geſchichte unjrer Wiſſenſchaft eine ber erjten
Stellen ein. Durch das Erſcheinen von Grimm’s und Bopp's
epochemachenden Werken find Raffs Verdienſte bald in den Hin-
tergrund gebrängt worden. Um fo mehr aber ift eine Gedichte
der Wiſſenſchaft verpflichtet, dieſe Verbienfte in das rechte Licht zu
ftellen.
1. Raffs Leben.
Rasmus Kriftian Raſk wurde am 22. November 1787
in dem Heinen Ort Braendekilde, eine Meile von Obense auf der
Inſel Fühnen, geboren. Sein Vater gehörte dem Bauernftande an,
erhob fi aber durch eine gewiffe Bildung über feinen Stand.
Schon in zarter Kindheit zeichnete ſich Raſt dur ein außerorbent-
liches Gedächtniß aus, und da der Vater ziemlich viele Bücher ber
faß, entwidelte fi bei Raſt, ſchon ehe er in die Lateinfchule kam,
die Luft am Lefen. Im J. 1801 fam er auf die Schule in Obense.
Da ihm bei feiner ungemöhnlichen Begabung die Schularbeiten
leicht von der Hand giengen, jo blieb ihm Zeit genug, um nebenber
feinen Lieblingsftubien obzuliegen. Diefe nahmen bald eine gar
beftimmte Richtung: Er trieb Isländiſch. Die beften Lehrer ber
Anftalt, die den Ernft feines Studiums und feine hohe Begabung
erfannten, ermunterten und förderten ihn im feinen Beſtrebungen
Bon bleibendem Einbrud für fein Studium des Altnordiſchen wat
+3, als er im Jahr 1805 aus der Hand feines trefflichen Rectors
%. Heiberg die drei erften Theile der Heimskringla als Schulpreis
erhielt. Bon da an war das Jsländifhe fein ernftes Stubinm.
Aber das einzige Hülfsmittel, das er zum Stubium biefer Sprache
Die germ. Philol. in ben Nieberl., Engl., Schottl. u. Sand. 1797 bis 1819. 471
hatte, war die Heimskringla felbft, der Tert mit der Ueberſetzung.
Durch forgfältiges Sammeln der vorkommenden Beifpiele ſchuf er
fih feloft eine isländiſche Grammatik. Auf ähnliche Weife Iegte
er fih ein isländiſches Wörterbuch an, worin er nit nur bie
Bedeutungen der Wörter, fondern auch ihre Etymologie, fo wie
ihren Zufammenhang mit dem Angelſächſiſchen und anderen Spra-
den barzuftellen ſuchte. Denn feine Studien beſchränkten ſich
nicht auf das Isländiſche, fordern breiteten ſich allmählich aud auf
das Angelfähfifhe, Gothiſche, Deutſche, Faerbiſche, Grönländifce,
ja auf die Sprache im allgemeinen aus. Auch feine Unterſuchungen
über die däniſche Rechtſchreibung begann er ſchon auf ber Schule.
Aber das Altnordiſche blieb ftets fein Liehlingsfah. „So lange
das Leben währt, ſchrieb er im Juni 1805 an einen feiner Freunde,
wird es mein Troft und meine Freude fein, diefe Sprache zu ken⸗
nen und in ihren Schriften zu fehen, wie unfre Voreltern Leiden
ertragen und muthig überwunden haben. Du barfft glauben, ich
verwunderte mich im Anfang vielleicht mehr als du darüber, daß
unfre Voreltern eine fo vortreffliche Sprache haben Tonnten, und
daß wir, Bei benen nach meinem Dafürhalten die Wiſſenſchaften
viel Höher geftiegen waren, eine weit ſchlechtere haben.”
Im Jahr 1807 bezog Raſt die Univerfität Kopenhagen. Bon
Nyerup, feinem fühniſchen Landsmann gefördert, fette er Hier fein
friges Studium des Altnordiſchen fort. Bon befonderem Vortheil
war ihm dabei die Bekanntſchaft mit dem gelehrten Kenner ber
altnordiſchen Poefie, Jon Olafsſon. Schon im Jahr 1809 ſchrieb
Raſt feine erfte bebeutendere Schrift, die 1811 zu Kopenhagen er-
ſchienene Anleitung zur isländiſchen Sprade. Darauf wandte er
ſich, durch P. E. Müller aufgefordert, ber Herausgabe bes islän-
biigen Wörterbuchs zu, das ber Islander Biden Haldorſen hand
ſchriftlich Hinterlaffen hatte. In großer Dürftigfeit und nur fehr
ſpaͤrlich unterftügt ließ fi Raſt nicht Kindern, feine Sprachſtudien
unermũdlich zu erweitern und zu vertiefen. Er beſchäftigte ſich,
außer mit den europäiſchen Sprachen, mit manchen ber allerent-
legenften afiatiſchen, namentli mit ben malayiſchen. Bor allem
aber blieb fein Eifer dem Isländiſchen zugewandt, bas er im Um⸗
472 Drittes Buch. Fünftes Kapitel.
gang mit Finn Magnusſon umd anderen Sysländern wie ein Ein
geborener ſprechen und ſchreiben lernte. Er begann auch bereits,
das Islandiſche in wiſſenſchaftlicherer Weiſe, als es bisher ger
ſchehen war, mit anderen Spraden zu vergleichen: Studien, ans
denen feine epochemachende, im Jahr 1814 vollendete; 1818 zu
Kopenhagen erſchienene Unterjußung über den Uriprung ber alten
nordiſchen oder isländifgen Sprache hervorgegangen iſt. Im Jahr
1812 wurde Raſt Amanuenfis an der Kopenhagener Univerfitäts-
bibliothel. In demjelden Jahr machte er mit Profefior Nyerup
eine antiquarifde Reife nah, Schweden und Norwegen. Schwediſche
und lappiſche Sprachſtudien, fo wie die Herausgabe von Ohthere's
und Wulfftan’3 angelſächſiſchem Reiſebericht waren die Frucht dieies
Ausflugs. — Im Sommer 1813 wurde Raſt ein lange gehegter
Wunſch erfüllt. Dur Unterjtügung einiger Privatleute fonnte er
eine Reife nad) Island unternehmen. Er blieb dort bis zum Jahr
1815. Die Natur des Landes, jo mie die Sprade und die Sit-
ten jeiner Bewohner boten feiner Beobachtung reihen Stoff. Ueber
Schottland und Norwegen zurüdgelehrt, trat er die ihm während
feiner Abwefenheit zu Theil gewordene Stelle eines Unterbibliothe ⸗
tars an der Univerfitätsbihliothel zu Kopenhagen an. Aber inzwie
ſchen hatten ſich feine Gedanken nad) einer anderen Seite gewendet.
Die oben erwähnte Schrift über den Urfprung der alten nordiſchen
Sprade, die er während feines Aufenthaltes auf Island im Jahr
1814 volfendet Hatte, wurde von ber königlichen Geſellſchaft ver
Wiffenfhaften in Kopenhagen mit dem Preis gekrönt und fand
überhaupt eine jo günftige Aufnahme, daß in Raſt der Gedanke
erweckt wurde, ob e3 ihm nicht möglich fein möchte, eine Reiſe
nad) Aſien zu unternehmen, um bort den ältejten Quellen der jlan-
dinaviſchen und ber mit ihnen verwandten Sprachen nachzuſpüren ).
Ein edelmüthiger Beförderer der Wiſſenſchaften, der Geheime Rath
Vulow, verihaffte ihm diefe Mögliäleit, indem er ihm im Och
ber 1816 zu einer wiſſenſchaftlichen Reife nach Afien die Summe
1) Spt. aufer Petersen p. 32 fg. auch die Vorrede zu Rask's Under-
sögelso om det gamle Nordiske eller Islandske Sprogs Oprindelse.
Die germ. Philol. in ben Riebest., Engl., Schottl. u. Stand. 1797 bis 1819. 478
von 2000 Reichsbancothalern zuſicherte. Die däniſche Regierung
legte dann, auf Betrieb von Raſt's gelehrtem Freunde P. E. Mül-
ler, eine namhafte Summe zu, die fie fpäter während Raſk's Aufent-
halt in Afien auf freigebige Weife noch weiter vermehrte. Raſt
wünſchte feinen Weg nad) Afien: fo zu nehmen, daß er ſich, vor
jeinem Eintritt in den fremben Welttheil, in den durchreiſten euro»
päiſchen Ländern mit allen zu jeinem Unternehmen nöthigen Kennt
aifen nad) Kräften ausrüftete. Er gieng deshalb im Herbſt 1816
zunächſt mach Schweden. Während jeines Aufenthalts in Stodholm
hielt er Vorleſungen über die von ihm jpäter (1819) veröffentlich-⸗
ten Specimina Literaturae Islandicae, und bejorgte die eriten
hitiihen Ausgaben der proſaiſchen und der rhythmiſchen Edda;
letztere im Verbindung mit Arvid Aug. Afzelius. Außerdem ver:
danlen noch zwei weitere bedeutende Arbeiten ihren Urſprung Raſk's
Aufenthalt in Stodholm, nämlich feine Angelsaksisk Sproglaere
tlligemed en kort Laesebog, die 1817 zu Stodholm in däni-
iger Sprade erſchien, und eine Umarbeitung feiner 1811 heraus-
gegebenen Vejledning, die er 1818 in ſchwediſcher Sprache veröffent-
lichte ). Verſuche feiner Freunde, ihm in Schweden feftzuhalten,
lehnte ex ab. Im Februar 1818 verlieh er Stodholm und begab
#6 nah Abo in Finnland, wo er fih hauptfählih mit dem
Studium des Finniſchen befhäftigte. Am 27. März 1818 traf er
in Petersburg ein. Hier verweilte er bi zum 13. Juni 1819, in
das umfafjendfte Studium europäiſcher und afiatiiher Sprachen
vertieft. Er treibt Ruſſiſch, Armeniſch, Arabiſch, Perſiſch, indem
er ſich, ſo viel als möglich, der Beihülfe von Eingebornen, die er
in Petersburg kennen lernt, bedient. Am 18. Juni 1819 brach
er von Petersburg auf und reiſte über Moſkau, Aſtrachan und
Vilis, am Ararat vorüber, nad Erivan, wo er am 18. März
1820 anlangte. In Aſtrachan hatte er ſich unter Leitung eines
verſers im Perfiihen vervolffommnet, in Tiflis die Elemente des
1) &ie erigien unter dem Titel: Anvisning till Isländekan eller
Nordiska Fornspraket, af Erasmus Christian Rask. Fran Danskan
öfversatt och omarbetad af Författaren. Stockholm 1818,
474 Drittes Bud. Fünftee Kapitel.
Turkiſchen und Georgiſchen gelernt. Sein Aufenihalt in Perfien,
wo er bie berühmieften Stätten ber Neuzeit und bes Altertfums:
Teheran, Isfahan, die Auinen von Perjevolis, beſuchte, dauerte
etwa ein Haldes Jahr. Am 29. September 1820 erreichte er
Bombay. Hier begann ein newer Abſchnitt in Raſt's Studien. Ex
trat den indiſchen Sprachen näher, tried Sanskrit und Hindoſtaniſch,
wurde mit Feueranbetern befannt und fuchte fi des Zend und des
Pehlevi zu bemächtigen. Unter mannigfaltigen Schickſſalen, Krant-
heit und Schijjbrud, Geldbedrängniß und liberaler Aushülfe von
daniſcher und englifcher Seite jehen wir nun Raſt über zwei Jahre
lang Indien durchkreuzen, raſtlos befüäftigt mit dem Stubium der
verſchiedenſten indiſchen Sprachen, ſanskritiſcher und nichtſanskriti⸗
ſcher, tobter und lebender. Unter ben verſchiedenen Schriften, bie
er während ſeines Aufenthalts in Indien verfaßte, erwähnen wir
nur die äußerſt wichtige Om Zendsprogets og Zendavestas
Aelde og Aegthed (lieber das Alter und die Echtheit der Zenb-
ſprache und bes Zenbavefta), die er ben 3. October 1821 volfen-
dete ) umb bie im Jahr 1826 in den Schriften der ſſandinaviſchen
Kiteraturgefellichaft zu Kopenhagen gebrudt erſchien?). Am 1. Dec.
1822 verließ Haft Indien. Er machte die Nüdreife zur See um
das Cap ber guten Hoffnung. Am 5. Mai 1828 langte er in
Kopenhagen an.
Es begann nun für Haft eine Zeit ſchwerer Prüfungen. Sein
Ruhm als Sprachforſcher war Über Europa verbreitet, aber er
ſuchte vergebens in eine Stellung zu kommen, bie ihm geftattet
hätte, einen Hausftand zu gründen und in forgenfreier Lage die
Ausbeute feiner Studien der Welt mitzutheilen. Während er auf
den vericjiebenften Gebieten der Sprachforſchung, europäiſchen und
aſiatiſchen, raſtlos tHätig war und die Wiffenfchaft mit einer um
unterbrochenen Reihe eingreifenber Arbeiten bereidherte, mußte er
von manden Seiten ben Vorwurf hören, daß man fich mehr von
1) Peierſen p. 79. — 2) Wieder abgebrudt in Samlede—Afhandlin-
ger af R. K. Rask, Anden Del, Kopenhagen 1836, p. 360398. (Teuih
durch von ber Hagen).
Die germ. Philol. in ben Rieterl., Engl., Scpottl. u. Stand. 1797 bis 1819. 475
einer afiatiſchen Reife veriprocen habe. Wir nennen unter feinen
mannigfachen Schriften aus biejer Zeit nur die wichtigften von
denen, bie ſich auf die germaniſchen Sprachen beziehen. Im Jahr
1825 erſchien zu Kopenhagen jeine Frisisk Sproglaere udarbejdet
efter samme Plan som den islandske og angelsaksiske (Frie-
ide Sprachlehre, ausgearbeitet nad) bemfelben Plan wie bie is⸗
landiſche und angeljſächſiſche) 1). Mit befonderem Eifer wibmete
ſich Raſt ben Arbeiten der Geſellſchaft für altnordiſche Literatur.
US Borfigender der Gejellihaft hatte er namhaften Antheil an der
Herausgabe ber drei erften Bände ber Fornmannasdgur; den
Schluß des jechiten Bands und den ganzen fiebenten beforgte er
alleine. Bei ber Herausgabe der Faereyingasaga beforgte er
hauptſãchlich die Redaction bes faeröifhen Tertes. Er gründete die
ielãudiſche literariſche Gefellihaft und beiheiligte ſich lebhaft an den
vom ihr herausgegebenen Schriften. Endlich arbeitete er noch, nicht
lange vor feinem Abſcheiden, feine kurzgefaßte isländiſche Sprad-
lehre aus. Und alle diefe Schriften auf dem Gebiet der germani-
fen Sprachen bilden nur einen Theil von Raſk's Gefammtthätig-
teit. Aber feine äußere Stellung entſprach nicht feinen wiſſenſchaft⸗
lichen Leiftungen. Als er im Jahr 1825 einen ehreuvollen Auf
nad Edinburg ausihlug, wurde er zum Profefjor der Literaturge-
ſchichte mit beſonderer Rüdfiht auf die aſiatiſche Literatur an der
Univerfität Kopenhagen ernannt, jedoch ohne materielle Verbeſſer⸗
ung feiner Lage. Endlich gelangte er zu ber Stelle, bie er feit
vielen Jahren wünſchte, zur Profefjur der orientaliihen Sprachen
an der Univerfität Kopenhagen. Als er die Ernennung erhielt,
brach er im Gefühl der Krankheit, die an feinem Innern nagte,
in die Worte aus: „Ich fürchte, es ift zu ſpät.“ Und es war
zu ſpät. Am 14. November 1832 erlag er der Schwindſucht.
2. RafPs Leiftungen.
Aus dem Abris, den wir im Vorangehenden von Raſt's Leben
gegeben Haben, erfieht man, daß Raſt's gelehrte Tätigkeit ſich weit
1) Deutſch von . 3. Buß, Freiburg im Besg. 1834.
476 Drittes Buch. Fünftes Kapitel.
über das Gebiet hinaus erftredte, deſſen Geſchichte wir hier zu
ſchreiben Haben. Bei einem Geift wie Raft hängt num zwar Alles,
was er treibt, innerlich zufammen, und wir werben deshalb auf
Manches berühren, was nur mittelbar zu den germanifhen Sprad-
ftubien in Beziehung fteht; aber unfre eingehendere Darftellung
müffen wir natürlih auf das Gebiet der germaniſchen Spraden
beſchränken. — Raſk's eingreifende Thätigfeit auf dem Gebiet ber
germaniſchen Sprachforſchung fteht in nächſter Beziehung zu dem
größten Meifter des Faches, zu Jacob Grimm. Unter allen Bor-
gängern Grimm's nimmt Raft an Scharffinn und Grünblichkeit die
erſte Stelle ein. Seiner von alfen hat Grimm jo vorgearheitet
wie Raft, der manden von Grimm's ſchönſten Entdecungen bereits
ganz nahe war. Wir können deshalb aud einen fehr bedeutenden
Einfluß Raſt's auf Grimm nachweiſen, und an diefem Einfluß ber
mißt fi vorzugsweiſe die Stellung, die Raff für unſere Aufgabe:
die Geſchichte der deutigen Wiſſenſchaft, einnimmt. Wir werden
bemgemäß bie Thätigfeit Raſt's in zwei Perioden ſcheiden, von
denen die eine bem eigentlich epochemachenden Auftreten Grimm’
vorausgeht, während die andere diefem Auftreten erſt nachfolgt.
Das Werk, durch weldes Grimm eine neue Epoche begründet, ift
die Deutſche Grammatif und von dieſer wieder vorzugsweiſe der
Erſte Band. Bei biefem Erſten Band von Grimm’s Grammatit
aber haben wir die merkwürdige Eriheinung vor uns, baß die
erfte Ausgabe und die gänzlich umgearbeitete zweite ji in den
Ruhm theilen, eine neue Epoche in ber Wiſſenſchaft begründet zu
haben. Die erfte erigien im J. 1819, die zweite im J. 1822.
Die Erörterung der Frage, welde Schriften Raſtk's Grimm ſchon
bei Bearbeitung jeiner erften Ausgabe, welche erft bei der zweiten
benugen konnte, veriparen wir auf bie Darſtellung von Grimm's
Grammatit. Hier begnügen wir uns, Raſt's Arbeiten in zwi
Hälften zu ſcheiden, von denen die erſte die Schriften umfaßt, bie
vor bem Jahr 1822, das Heißt, vor der zweiten Ausgabe des eriten
Teils von Grimm's Grammatik herausgegeben, bie zweite aber
die, welde erft nad) dieſem Zeitpunkt, vom Jahr 1822 bis 1832
erſchienen find.
Die germ. Pilot. in ben Rieberl., Engl, Schottl. u. Skand. 1797 bis 1819. 477
1) Raffs Forſchungen auf bem Gebiet ber germanifgen Spras
Gen bis zum Jahr 1822.
Us Raſt im Jahr 1811 mit jeinem erften größeren Wert, der
Anleitung zum Isländiſchen, hervortrat, hatte er ſich bereits durch
eine Reihe Heinerer Arbeiten bekannt gemacht. Schon diefe Arhel-
ten zeigten, wie fehr Raſk in der gründlichen Kenntniß der ger-
maniſchen Sprachen, zumal der nordifhen, feinen Vorgängern über-
legen war. Insbeſondere bewies er dies dem damals berühmteften
deutſchen Grammatiler, Adelung, gegenüber in jeinen „Bemerkun-
gen über die ffandinavifhen Sprachen, veranlaßt durch den zweiten
Theil de3 Adelung'ſchen Mithridates*, welche er in der zu Kiel er-
iHeinenden Zeitung für Literatur und Kunft im Jahr 1809 ver-
öffentlihte 1). Was er hier über den Bau und die Stellung der
fandinavifgen Sprachen furz andentete, daS legte er dann zwei
Jahre fpäter (1811) in ſeiner Vejledning til det Islandſke eller
gamle Nordiſte Sprog ?) ausführlih dar. In der umfafjenden
Borrede zu diefem Werk bezeichnet Raſt feinen Standpunkt. Ex
ift ein begeifterter Verehrer des Altnordiihen, preift beffen hohe
Vorzüge und begründet deſſen Unentbehrlichkeit für alle jfandinavifche
Sprach⸗ und Alterthumsforſchung. Die Sprahfamile, welder die
Mandinavifhen Spraden angehören, theilt fih nad Raſk zuerft in
wei HauptHlaffen, die nordiſche (ſtandinaviſche) und deutſche (ger-
maniſche), demnächſt theilt ſich Ießtere wieder in zwei Unterarten,
Nieder- und Oberdeutih 9). Alle jkandinavifhen Spraden, die
dãniſche ſowohl als die ſchwediſche, ſtammen von der altnordiſchen.
Dieſe altnordiſche Sprache war in früheren Jahrhunderten mit nur
ſehr geringen Unterſchieden *) über das ganze ſtandinaviſche Gebiet
verbreitet und hat fih im Wejentlihen auf der Inſel Island er-
halten. Den Beweis für die frühere ſprachliche Einheit des flandie
1) Wieder abgedrudt in Samlede tildels forhen utrykte Afhandlin-
ger af R. K. Rask, III. Del, Köbenhavn 1838, p.445 fg. — 9) D. i..
Anleitung zur isländifgen ober alten noidiſchen Sprache. — 3) Raſt, Be:
mertungen u. ſ. f. 1809, Saml. Afhandl. 3, 453. — Bejledning, 1811,
doriale, p. XVII. — 4) Vejlebning, 1811, Zortale, p. XXXII.
478 Drittes Bud. Fuluftes Kapitel
naviſchen Gebiets führt Raſt theils aus ben Angaben ber Sagaen
und Geſetzbücher, theils aus den Reſten der alten däniſchen Sprache,
aus ben Eigennamen und der übereinftinmenden Sprache der Runen-
ſteine ). Das Isländiſche Hat fih zwar feit jenen früheren Jahr⸗
hunderten in einigen Punkten geändert, im Großen und Ganzen
aber kann man es als identiſch mit der alten Grundſprache betrad-
tem?), deren Töchter das Schwediſche und Dänifche find. Raſt ber
handelt im Haupttheil feines Werl „die alte llaſſiſche Sprache,
wie fie fi) bei Snorri, in der Eigla umb anderen guten Sagaen
findet.” „Doch find die wenigen Abweichungen der neueren Sprade
nicht Übergangen, fondern an ihrer Stelle in ber fehlten Abtheilung
behandelt· 3). Da das Däntfe vom Altnordiſchen ſtammt, fo ift
leicht einzufehen, daß jeber, welcher eine gelehrte Kenntniß feiner
dänifhen Mutterſprache befigen will, mit dem Altnordiſchen belanni
fein muß; „und wir haben ſicherlich alle Urſache, zu beflagen, dab
die Meiften, wenn nicht Alle, welche eine däniſche Sprachlehre oder
Sormenlehre verfaßt haben, dieſer wichtigen Kenntniß ermangelten.
Eine Sprachlehre follte nämlich nicht ſowohl befehlen, wie man die
Worte bilden folle, als vielmehr beſchreiben, wie fie gebildet und
verändert zu werben pflegen und, wo möglich, warum und woher
diefer Brauch gelommen ift, und was etwa für einen anderen Brauch
ſprechen könnte; denn fo allein Tann man zulegt entſcheiden, was
das Richtigſte ift. Aber dies kann, was das Daniſche und Schwer
diſche Betrifft, unmöglich befriedigend ausgeführt werben ohne ger
naue Kenntniß der Stammiprade; denn Hier allein findet man
meiftens den legten Grund und erften Urſprung der im jenen
Sprachen num herrſchenden Erjheinungen“ %). Wir fehen Hier Raſt
fon ganz auf dem richtigen Wege ber geſchichtlichen Spracforid-
ung. Was bie bänifhe Sprache betrifft, fo Hindert ihn fein flan-
dinaviſcher Patriotismus nit, den großen Einfluß anzuertemen,
den das Dänifhe vom Deutihen erfahren hat. Das Dänifce it
1) Bejlebning, 1811, Sortale, p. XX fg. -- 2) Beilebming, 1811
doriale, p. XLI. — 3) Bejlebning, 1811, Fortale ©. XLI. — 4) Beil
ning, 1811, dortale, p. XVI,
Die germ. Philol. in ben Nieberl., Gngl., Schottl. u. Stand. 1797 bie 1819. 479
ihm zwar, umd mit Recht, eine in ihrem Grundbau weſentlich nor⸗
diſche Sprade, aber das alte Norbife wurde in Dänemark ſchon
feit lange duch das Deutſche geftört, und fo entftand eine große
Gäfrung oder Verwirrung in der Sprache, die mehrere Jahrhun⸗
derte lang währte, bevor das alte Nordiſche fih mit dem eindrin«
genden und perſchieden gearteten Deutihen vereinigen fonnte, um
wieder eine eigene neue Sprache zu bilden, das Daniſche, das als
ine Miſchung von beiden anzufehen tjt 1).
Raſt hat bei feiner grammatiſchen Bearbeitung ber altnorbi-
ſchen Sprache nur fehr unvolltommene Vorgänger gehabt. Wenn
vom den veröffentlichten Werten die Rede ift, fo fann man im
Grunde nur einen Cinzigen nennen, nämlich den Isländer Runol⸗
phus Jonas. Was feit deffen isländifher Grammatit, das heißt
feit dem Jahr 1651, bis auf Raſt erſchienen ift, beſteht nur in
Auszügen ober wenig vermehrten neuen Ausgaben von Runolf's
Bud 2). Es feine, bemerkt Raſt, gleihjam ein Zauber in dem
Titel von Runolf Jonjens Schrift („Recentissima antiquissimae
linguse septentrionalis incunabula“) zu liegen, da fie nun wirt⸗
lich über anderthalb Jahrhunderte recentissima -gebliehen fei 3).
Raft war deshalb vorzugsweiſe auf feine eigenen Kräfte angemiejen.
&r hatte die altnordiſche Sprache zu erforihen begonnen ohne alle
grammatiihen Hülfsmittel, fi feloft aus den Quellen die Gram⸗
matit ausgezogen, die Materialien geſammelt und darauf fein Sy
ftem gegründet, bevor er eine ber älteren Sprachlehren zu fehen
belam. Dann erft fuchte er aus feinen Vorgängern Gewinn zu
sieben, doch war derſelbe nur eim fehr mäßiger ). Er behandelt
feinen Gegenftand in ſechs Abſchnitten. Im erften, den er als
Vorbereitung bezeichnet, fpriht er von der Ausſprache und ber
Rechtſchreibung; der zweite behandelt die Formenlehre, der dritte
die Wortbildung, der vierte die Syntar, der fünfte die Verslehre,
endlich der ſechſte die munbartlihen Verſchiedenheiten. In Bezug
1) Bejlebning, 1811, Fortale, p. 1 fg. — 2) ©. 0. ©. 108 fg. — Bol.
Raft, Bejlebning, 1811, dortale, p. XXIV fg. — 3) Ebend. p. XKXVL
— 4) @bend, p. XL.
480 Dritte Bud. Fünftes Kapitel.
auf die Lautlchre ift ſchon das bezeichnend, daß Raſt fie Hier
noch als eine bloße Vorbereitung zur eigentlichen Spradlehre
betrachtet und ausdrücklich erflärt, fie fei, ebenfo wie ber letzte
Abſchnitt, nur der Vollſtändigkeit wegen hinzugefügt, ohne
ftreng genommen zum Syſtem zu gehören. Gr behandelt fie
dann au vorzugsweife als cine Anleitung zur richtigen Aus
ſprache des Isländiſchen; auf ihre Wichtigkeit für die Etymo⸗
logie nimmt er nur ganz beiläufig Rüdfiht. Für feinen Zwed
Bietet er in diefem Abſchnitt fehr viel und läßt das dürftige Kapitel
des Nunolphus Jonas De literis weit hinter fi. — In der
Formenlehre unterfucht Raſt insbejondere den Bau des Verbums
mit eindringendem Scharfſinn. Im Anflug an den Schweden
Botin !) erfennt er, daß die |. g. unregelmäßigen 2) Berba der
germanifhen Sprachen gleichfalls einer beſtimmten Regel folgen
und daß fie gerade die älteften Thatwörter der nordiſchen Spraden
enthalten. Er faßt jie deshalb in eine einzige Konjugation zuſam⸗
men, welde er die zweite nennt, während die erfte außer Grimm's
ſchwachen Verbis auch die mit dem Präteritum auf ri und Grimm’s
Präterita mit Praefensbedeutung (ann, unnum u. ſ. f.) umſchließt.
In der Hauptſache, der richtigen Beurtheilung der ftarken Berba,
fehen wir Raſt auf demfelben Wege, den Hundert Jahre vor ihm
der Niederländer Ten Kate jo glücklich gebahnt hatte ?). Mir
dürfen hier dem trefflihen Werke Naff’s nicht weiter in's Einzelne
folgen und bemerken nur noch, daß auch die übrigen Abteilungen
desſelben reih an ſcharfſinnigen und treffenden Bemerkungen find
und daß in diefem Buch zum erftenmal eine wahrhaft wiſſenſchaft ⸗
liche Anleitung zur Erlernung der altnordiihen Sprache gegeben
war. Die zweite Bearbeitung, bie Raſt 1818 in ſchwediſcher
Sprache Herausgab, enthält nit nur viele Erweiterungen und
Berbefferungen im Einzelnen, fondern fie bietet in manchen Haupt
ſtücken eine durchgreifende Umgeftaltung. So geht Raſt hier vid
1) Raft, Vejledning, 1811, ©. 110. 134. Bl. (Botin), Srenske
Bpräket (2), Btokholm 1792, &. 129. 151. — 2) D. $. Grimm's Harte
Babe. — 8) S. 0.6. 141g.
Die germ. Philol. in ben Nicderl., Engf., Schottl. u. Stand. 1797 Hi 1819. 481
tiefer als in der erften Ausgabe auf die Lautlehre und insbeſondere
af die Erörterung des Lautwandels ein. Seiner zweiten Haupt
conjugation (Grimm’s ftarfen Verbis) gibt er eine anders geord-
nete Klaſſeneintheilung. Am meiften aber geftaltet er feine erfte
Hauptconjugation um. Er theilt fie jest in drei Klaſſen, deren
erfte im Imperfectum hat adi (kalla, kalladi), die zweite di ohne
Veränderung des Stammvolals (brenni, brendi), die dritte di
mit Veränderung des Stammvokals (tel, taldi), — Im Anſchluß
an feine altnordiſche Grammatik ſchrieb Raſt feine angelſächſiſche
Sprachlehre (1817). In Anordnung und Behandlung folgt er
der erfteren, und zwar mit einer für feine Zeit ſehr tüchtigen Bes
herrſchung des angelſächſiſchen Sprachftoffs. Die Practerita mit
Vraeſensbedeutung führt er jetzt nicht mehr als dritte Klaſſe der
ſchwachen Berba auf, fondern er bezeichnet fie lieber als „abwei—
ende”, weil fie fo gering an Zahl und unter ſich felbft fo ver-
ſchieden feien '). Noch will ich auf einen ſcheinbar nur äußerlichen,
aber doch, wie wir fpäter fehen werden, merfwürdigen Umftand
aufmerfiam machen. Mafl’s erfte Anleitung zum Isländiſchen (die
Bejledning 1811) war mit deutfhen (danske, gotiske) Buchftaben
gedrudt, und zwar erflärt fih Raſt dort ausdrücklich für die An—
wendung diefer Buchftaben 2). Dagegen bedient er fih nicht nur
in der ſchwediſch gefhriebenen Anvisning till Isländskan (1818),
fondern auch in der däniſch abgefaßten angelſächſiſchen Sprachlehre
(1817) der Iateinifhen Lettern, und zwar, wie er fagt, aus reif-
Tier Ueberlegung, weil die fo genannten däniſchen Buchſtaben gar
feine däniſchen, fondern nur von den mittelalterlien Münden ver-
derbte Tateinifche Buchſtaben feien 9).
Im Jahr 1818 erfhien zu Kopenhagen Raſt's epochemachende
Undersögelse om det gamle Nordiske eller Islandske Sprogs
Oprindelse (Unterſuchung über den Urfprung der alten nordiſchen oder
1) Ebend. S. 60. Ebenſo behandelt er in der Anvisning till Isländs-
kan (1818) 8. 146 snda, eneri u. |. f. ale „abweichende. — 2) Vejled⸗
ning 1811, p. 8. — 3) Bl. die weitere Ausführung und Raſt's Be
zufung auf Gatterer in ber Angelsaksisk Sprogl. 1817, Fortale, p. 44.
Raumer, Ceſq. ber germ. Pfllelogle, 31
482 Drittes Bud. Fünftes Kapitel,
tBländifchen Sprade). Raſt hatte diefe von der föniglich däniſchen Ge⸗
ſellſchaft der Wiſſenſchaften gekrönte Preisſchrift während feines Auf-
enthalts auf der Inſel Island ausgearbeitet und im J. 1814 nad) Kopen-
hagen gefandt, aber erft nad) dem Antritt feiner großen aſiatiſchen
Neife wurde fie, während feiner Abwefenheit, in Kopenhagen zum
Drud befördert. Wir müffen diefe Beitbeftimmungen feſt im Auge
behalten, um die Stellung richtig zu würdigen, welde Raſks
Schrift in der Entwicklung unferer Wifjenfhaft einnimmt. Nadr
dem Raſt in einer vortrefflihen Einleitung gezeigt hat, wie wir
nur mit Hülfe der Sprachforſchung das tiefe Dunkel allmählich
lichten können, das die Urzeit der menſchlichen Geſchichte bebeit,
entwidelt er im erften Hauptftüd meifterhaft das Weſen und die
Aufgabe der Etymologie. Nur auf dem Boden der vergleichenden
Sprachforſchung laſſen fih Haltbare Ergebnifje gewinnen '). Die
Sprachvergleichung muß fih aber nicht auf das Leritalifche beſchrän⸗
fen, fondern fie muß fih außerdem auf deu grammatifchen Bau
der Sprade erftreden. Sprachbau und Wortvorrath find die beir
den Haupttheile, mit denen es die vergleichende Sprachforſchung zu
thun hat?). Die Vergleihung des Sprachbaus führt zu viel
ſicherern Ergebniſſen, als die des Wortſchatzes, weil bei dieſem
fpätere Entlehnung möglich ift 2). Die Sprade, welche die kunft
reichſte Grammatik Hat, ift die urfprünglichfte und der Quelle am
nächſten 3). Bei der Vergleihung der Wörter hat man vor allem
die Gefege der Lautübergänge aufzuſuchen und an dieſe Gejege hat
man fih dann beim Etymologifieren ftreng zu halten‘). Man
muß aber feine Vergleihungen nit auf die gejchriebenen Zeigen
bauen, fondern auf die richtige Ausſprache 5). Darauf handelt Rail
im zweiten Hauptftüd von den germaniſchen Spraden, die er unter
der Bezeichnung „gotiſch“ zufammenfaßt, jo daB dann das Nor
diſche (Standinavifge) und das Germaniſche die beiden Haupt:
ftämme des Gotiſchen bilden. Das Germaniſche theilt ſich dann
wieder in Sächſiſch ( Frieſiſch, Holländifch, Plattdeutſch, Angelfähfiih,
1) Rask, Undersögelse, 8.31. — 2) Ebend. ©. 34. — 3) Eben.
©. 35. — 4) Ebend. ©. 18. 36. 47. — 5) Ebend. ©. 56,
Die germ. Philol. in den Nieberl., Engl., Schottl., u. Stand. 1797 bie 1819. 488
Engliſch) und Deutſch (Möſogotiſch, Hochdeutſch) 1). Im dritten
Hauptſtũck ſucht Raſt die Quelle der „gotiſchen“ und insbeſondere
der isländiſchen Sprache nachzuweiſen, indem er die verſchiedenen
Sprachen ihrer geographiſchen Lage nach durchgeht und ſie mit dem
Gotiſchen“ vergleicht. Da findet er im Grönländiſchen ?), Kelti-
fgen >), Vaſtiſchen ) und Finniſchen 5) gar keine ober doch nur
eine ganz geringe Aehnlichkeit mit dem „Gotiſchen.“ Dagegen
zeigt das Slaviſche, von deſſen Ban Raſt eine etwas eingehendere
Darftellung gibt ©), eine auffallende Verwandtſchaft mit dem
„Gotiſchen“ ); und nod weit mehr ift dies der Fall mit dem
Rettifchen ©), deſſen Titauifchen Zweig Raſt zum Zwed ber Sprad-
vergleichung näher zergliedert ). Aber doch ift das Lettiſche nicht
die Quelle des „Gotiſchen“, ſondern beide weiſen auf eine gemein⸗
ſame ältere Quelle: das Griechiſche und Lateinifche, zu deren Betrach⸗
tmg Raſt num übergeht 1). Er faßt fie unter dem Namen
‚tHrakih” zufammen, indem er fie als die füblichiten Zweige des
großen thrakiſchen Stammes anfieht, deſſen übrige Sprößlinge uns
verloren feien. Die nahe Berwandtihaft der beiden antiten Spra-
en mit den „gotiſchen“ meift er ſowohl am Wortihag, als am
grammatifhen Bau nad. Was den Wortſchatz betrifft, fo finden
fi ſo viele verwandte Wörter, daß Megeln für den Lautwechſel
daraus abgeleitet werden Können !t). Solde Regeln ftellt nım Raſt
auf, und bier ift es, wo er der bald darauf von Grimm erwieſenen
Rautverfchiebung fo nahe kommt 12). Wir verfparen aber die nähere
Darftellung von Raſt's Entdecung auf den Abſchnitt, in welchem
wir Grimm’s Geſetz beiprechen werden. Die Webereinftimmung
des Sprachbaus meift Raſt an den Flexionen ſowohl der Declina-
tion als der Conjugation nad und macht hier eine große Menge
ſcharffinniger und trefiender Beobachtungen. Wir Heben daraus
1) Ebend. 6.64.65. — 2) Ebend. ©. 75 fg — 3) Ebend.
6. 76 fg. — 4) Ebend. ©. 93 fg. — 5) Ebend. S. 95 fg. — 6) Ebend.
6.118 fg. — 7) Ebend. ©. 143. — 8) Ebend. 155 fg. — 9) Ebend.
ET — 10) Ebend. 6.189 fg. — 11) Ebend. S. 161. —
12) send. ©. 169 fg. .
1
482 Drittes Bud. Fünfıes Kapitel,
islãndiſchen Sprache). Raſt hatte diefe von ber Königlich däniſchen Ge⸗
ſellſchaft der Wiſſenſchaften gekrönte Preisſchrift während feines Auf-
enthalts auf der Infel Island ausgearbeitet und im J. 1814 nad} Kopen-
hagen gejandt, aber erft nad dem Antritt feiner großen aſiatiſchen
Neife wurde fie, während feiner Abweſenheit, in Kopenhagen zum
Drud befördert. Wir müffen diefe Zeitbeftimmungen feft im Auge
behalten, um die Stellung richtig zu würdigen, welde NRaffs
Schrift in der Entwidlung unferer Wiſſenſchaft einnimmt. Nach⸗
dem Raſtk in einer vortrefflihen Einleitung gezeigt hat, wie wir
nur mit Hülfe der Sprachforſchung das tiefe Dunkel allmählich
lichten können, das die Urzeit der menſchlichen Geſchichte bebedt,
entwidelt er im erften Hauptftüc meifterhaft das Weſen und die
Aufgabe der Etymologie. Nur auf dem Boden der vergleichenden
Sprachforſchung laſſen ſich haltbare Ergebniffe gewinnen !). Die
Spradvergleihung muß fi) aber nicht auf das Lerikalifche beſchrän⸗
ten, fondern fie muß fi außerdem auf den grammatiſchen Bau
der Sprache erjtreden. Sprachbau und Wortvorrath find die beir
den Haupttheile, mit denen es bie vergleichende Sprachforſchung zu
thun hat 2). Die Vergleihung des Sprachbaus führt zu viel
fiherern Ergebniffen, als die des Wortſchatzes, weil bei dieſem
fpätere Entlehnung möglich ift 2). Die Sprade, welche die lunſt⸗
reichſte Grammatik hat, ift die urfprünglichfte und der Quelle am
nächſten 3). Bei der Vergleiung ber Würter hat man vor allem
die Gefege der Lautübergänge aufzuſuchen und an diefe Gejege hat
man fih dann beim Etymologifieren ftreng zu halten‘), Man
muß aber feine Vergleihungen nit auf die geſchriebenen Zeichen
bauen, fondern auf die richtige Ausfprade 5). Darauf handelt Rait
um zweiten Hauptftüd von den germanifhen Sprachen, die er unter
der Bezeichnung „gotiſch“ zufammenfaßt, jo daß dann das Nor⸗
diſche (Standinavifhe) und das Germanifhe die beiden Haupt:
ftämme des Gotifhen bilden. Das Germaniſche theilt ſich dann
wieber in Sächſiſch (Frieſiſch, Hollandiſch, Plattdeutſch, Angelſächſiſch
1) Rask, Undersögelse, 8.31. — 2) Ebend. ©. 34. — 3) Ebd.
©. 35. — 4) Ebend. ©. 18. 36. 47. — 5) Ebend. ©. 56,
Die germ. Philol. in ben Niederl. Engl., Schottl., u. Stand. 1797 bie 1819. 488
Engliſch und Deutſch (Mifogotifc;, Hochdeutſch) ). Im dritten
Hauptſtück ſucht Raſt die Quelle der „gotiſchen“ und insbeſondere
der isländiſchen Sprache nachzuweiſen, indem er die verſchiedenen
Sprachen ihrer geographiſchen Lage nach durchgeht und fie mit dem
Gotiſchen“ vergleiht. Da findet er im Grönländifgen ?), Kelti-
ſchen 3), Vaſtiſchen 4) und Finniſchen d) gar feine oder doch nur
eine ganz geringe Wehnlichleit mit dem „Gotiſchen.“ Dagegen
zeigt das Slaviſche, von deſſen Bau Nafl eine etwas eingehendere
Darftellung gibt 6), eine auffallende Verwandtſchaft mit dem
„Gotifhen“ ); umd noch weit mehr ift bies der Fall mit dem
bettiſchen ®), deſſen litauiſchen Zweig Raſt zum Zweck der Sprad-
vergleihung näher zergliedert 9). Aber doch tft das Lettiſche nicht
die Quelle des „Gotiſchen“, fondern beide weilen auf eine gemein-
fame ältere Quelle: das Griechiſche und Lateiniſche, zu deren Betrach⸗
tmg Raſt nun übergeht 9). Gr faßt fie unter dem Namen
‚thrafifch” zufammen, indem er fie als die ſüdlichſten Zweige des
großen thrakiſchen Stammes anfieht, deſſen übrige Sprößlinge ung
verloren feien. Die nahe Verwandtſchaft der beiden antiten Spra-
den mit den „gotiſchen“ meift er fowohl am Wortihag, als am
grammatifchen Bau nad. Was den Wortihag betrifft, fo finden
fih fo viele verwandte Wörter, daß Megeln für den Lautwechſel
daraus abgeleitet werben können !1). Solde Regeln ftellt num Raſt
auf, und bier ift es, wo er ber bald darauf von Grimm erwiejenen
Rautverfchlebung fo nahe tommt 12). Wir verſparen aber bie nähere
Darftellung von Raſt's Entdeckung auf den Abſchnitt, in welchem
wir Grimm’s Geſetz beipreden werben. Die Uebereinftimmung
des Sprachbaus weift Raſk an den Flexionen ſowohl der Declina-
tion als der Eonjugation nah und madt hier eine große Menge
ſcharffinniger und treffender Beobachtungen. Wir Beben daraus
1) Ebend. 6.64.65. — 2) Ebend. S. Tg — 8) Ebend.
6. 78 fg. — 4) Ebend. ©. 98 fg. — 5) Ebend. ©. 95 fg. — 6) Eben.
©. 118 fg. — 7) Ebend. ©. 143. — 8) Ebend. 155 fg. — 9) Ebend.
Ef — 10) Ebend. 6.189 fg. — 11) Ebend. S. 101. —
12) Ebenb. ©. 169 fg. .
31
484 . Drittes Buch. Funftes Kapitel.
nur hervor, daß er die gothiſche neutrale Endung ata, die deutihe
es im lateiniſchen ud (aliud) wiedererfennt und diefe .mit dem
griechiſchen o (dxelvo), das ftatt od ftehe, zujanmenftellt 1);
daß er in dem altnordifhen Accuſ. Plur. der Mafculina (fiska,
blinde) durch Vermittlung des gothiſchen ans (fiskans, blindans)
den griechiſchen Accuſ. Blur. auf ovg („ftatt oyc“) erfennt 2); dab
ex den altnordiſchen Dativ Pluralis auf um durch Vermittlung
des litauiſchen ms mit dem lateiniihen bus zuſammenbringt >);
daß er in dem m des angelſächſiſchen oom, dem n des deutſchen
ich bin das ps des Griechiſchen fieht ‘). Das Ergebniß Raifs
ift, daß Standinavier und Germanen (b. h. Deutſche, Engländer
u. ſ. f.) nit von einander abftammen, fondern Beide Zweige des
großen thrakiſchen Vollsſtammes find, deſſen ältefte Ueberreſte wir
im Griechiſchen und Lateinifchen befigen. Wenige Werke bieten jo
viel Neues von bleibendem Werth, wie diefe Schrift Raſt's. Sie
hat neben Bopp's Conjugationsfyftem der Sanskritſprache (1816)
und Grimm’s Grammatik (1819) der vergleidenden Sprachforſchung
die Bahn gebogen. Ihre Schranke findet Raſt's Einficht im dieſer
Schrift noch da, wo er über die Gränzen der europäiſchen Spra-
Ken Hinaushlidt. Vom Sanskrit und Zend meint er, es feien
gewiſſe Achnligteiten zwiſchen diejen Sprachen und den „gotiſchen“
nicht zu läugnen, doch meift mur mittelbare durch die thrakiſche
Sprade 5). Die unmittelbare Quelle des Isländiſchen feien fie
jedenfalls nicht, und es ſei deshalb Sade der griechiſchen Sprad-
forfgung, zu unterſuchen, woher die thrakiſche Klaſſe wieder ihren
wahren Urfprung hat ©). Da aber keiner der Männer, welde diefe
Vergleichungen angeftelit Haben, Gothiſch, Isländiſch und Sanskrit
verftanden hat, jo kann man das, mas fie auf eine Anzahl ähn⸗
licher Wörter und ganz vereinzelte grammatiſche Uebereinftimmungen
gegründet haben, nur für eine vorgefaßte Meinung oder aufs
1) Ebend. ©. 189192. — 2) Gbend. ©. 25. — 3) Cbend.
©. 208 fg. (ogl. ©. 127). — 4) Ebend. 258. — 5) Ebend. S. 304.
6) Eben. ©. 305.
Die germ. Philol. in ben Nieberl., Engl., Schottl. u. Skand. 1797 6i8 1819. 486
höchſte für eine unerweisliche, obwohl nicht ungereimte Muth⸗
maßung erflären 1).
Noch müffen wir der großen DVerdienfte gedenten, die Raſk
fh durch feine Ausgaben der beiden Edda 2) (1818) um den Tert
diefer Hauptwerke der altnordiſchen Literatur erworben hat.
DRaff8 Arbeiten auf bem Gebiet der germanifhen Spragen
feit bem Jahr 1822.
Auch in den letzten zehn Jahren feines Lebens (1822 —
1832) war Raſt als Sprachforſcher unermüdlich thätig. Seine
Arbeiten erſtrecken ſich weit über das Gebiet hinaus, mit weldem
mir uns hier befchäftigen. Aber aud unter den außerhalb unferes
Kreifes liegenden Arbeiten Raſt's find mande für unfere Wiffen-
ſchaft mittelbar von großer Bebeutung, 3. B. die epochemachende
Abhandlung über das Alter und die Echtheit der Zendſprache und
des Zendavefta (1826) ?). Unter den Echriften, die dem germa-
niſchen Gebiet angehören, heben wir hervor den ſcharfſinnigen Ver⸗
ſuch einer wiſſenſchaftlichen däniſchen Rechtſchreibung (1826) *) und
die frieſiſche Sprachlehre (1825) 9). Die legtere fließt fi, wenn
auch mit manden Abänderungen, im Wejentlihen doch ganz den
Anfihten über den germanifgen Sprachbau an, die Raſt ſchon
1811 in feiner Anleitung zur isländifhen Sprache aufgeftellt Hatte.
Ton einem Einfluß der inzwiſchen erfhienenen Grimm'ſchen Gram-
matif ift nichts zu bemerfen. In einer ausführlichen Beurteilung
von Raſt's Buch, die in den Göttingifhen gelehrten Anzeigen
1) Ebend. S. 304. Man überfehe hiebei nicht, daß Raſt's Under-
sögelse zwar nach Bopp’s 1816 erfhienenem Gonjugationsfgftem der Gand-
tritſprache herausgegeben (1818), aber vor demfelben (1814) geſchrieben if.
— 9 Die Edda Saemundar gab »ex recensione Erasmi Christiani
Raske Arv. Aug. Afgelius heraus. — 3) Wieder abgebrudt in Raſt's
Samlede Afhandlinger II, 1836, 8. 360-393. — 4) Forspg til en
videnskabelig dansk Retskrivningslasre, erfdienen als I. Bind ber
Tidsskrift for nordiek Oldkyndighed, Kj@b. 1826. — 5) Frisisk
Sproglaere, Kobenhavn 1825, ”
486 Drittes Buch. Fünftes Kapitel.
(1826) erſchien, ftellt Grimm feine Anfichten denen Raſk's gegen-
über. Raſt empfand dies ſehr übel und erwiderte Grimm's Be
merkungen in einer fehr erbitterten Weife (1826) ). Diefer Er-
wiberung ließ er dann noch (1830) eine Beurtheilung der beiden
erften Bände von Grimm's Grammatik folgen 2). Alle dieſe ki-
tifchen Ergüffe des fonft fo verdienten Sprachforſchers machen einen
höchſt peinlichen Einbrud. Wie überall, fo zeigt er auch hier gründ⸗
liche Kenntniffe auf vielen Gebieten und ſcharfe Beobachtungsgake.
Er Hat nicht felten im Einzelnen gegen Grimm Recht; ja er be
rührt auch mit richtigem Blick die ſchwächeren Seiten von Grimm's
Methode. Aber er hat feine Ahnung von Grimm's Bedeutung.
Gegen das Bahnbrechende von Grimm's Forſchung ift er voll
Tommen Blind, und ebenfo verſchließt er fi gegen deſſen ſchönſte
Entdedungen. Bis an fein Lebensende (1832) bleibt Raſt feſtge⸗
bannt auf dem Stanbpunft, den er vor bem Erſcheinen von Grimm’s
Grammatik eingenommen hatte 9).
1) Im der daniſchen Zeitſchrift Hermod; wieder abgebrudt in Rajts
Samlede Afhandlinger III, 1838, 8. 198 — 234. — 2) Im Lonboner
Foreign Review, March 1830. Wieber abgebrudt in Raſt's Saml. Af-
handl. II, 1836, 8. 442—462. Manches in diefer Beurteilung deutet ſchein⸗
bar auf einen anberen Verfaſſer als Raſt. So ©. 443 »our om —
Hickese; S. 449 »our modern English«; ©. 456 »the system of the
Danish professor« ; ober wenn ©. 445 Raſt's angelſächſ. Sprachlehre >=
very remarkable production« genannt wird. Aber da biefe Kritif nicht
nur unter Raſt's Abhandlungen aufgenommen ift, ſondern aud) in dem Ber:
zeichniß feiner Schriften (Saml. Afh. III, Fortale 8. 48) auedrüclich Reſt
qugejprieben wird, fo Mnnen wir feine Berfafferfehaft eiber nicht in Abree
flellen. — 3) gl. 5. 8. A. Grammar of the Anglo-Saxon Tongus, —
by Er. Rask. A new edition enlarged and improved by the author.
Translated from the Danish by B. Thorpe, Copenhagen 1R90, pre
face, postscriptum p. LVII. Tann p. 68. 86, — Ferner Kortfatted
Vejledning til det oldnordiske eller gamle islandske Sprog ved R-
Rask 1832; Tredje Oplag, Kßbenhavn 1854, Forord; bann 3. V.
S. 51.
Die neuhochdeuiſche Säriftfpr. u. d. Volfsmunbarten 1797 bis 1819. 487
Sechſtes Aapitet.
Die Bearbeitung der neuhochdentichen Schriftiprahe und ber deut⸗
ſchen Voltsmunbarien in ben Jahren 1797 bis 1819.
Die Thätigfeit Adelung’s, die wir im vorigen Buch befpro-
den haben, reicht tief hinein in den gegenwärtigen Zeitabſchnitt.
Die zweite Ausgabe feines deutfhen Wörterbuch erſcheint in den
bren 1783 bis 1801, und an biefe knüpfen bie gleichzeitigen
Bemühungen um die deutfche Schriftiprahe an. Der belannte Pä-
dagog Joachim Heinrih Campe (geb. 1746 zu Deenfen im
Braunſchweigiſchen, geft. zu Braunſchweig am 22. Oct. 1818) 1)
verband fi im J. 1797 mit mehreren Kennern ber deutſchen
Sprache zur Herausgabe eines „beutichen Wörterbuchs zur Er-
gänzung und Berichtigung des Abelungifden" 2). Das Wert kam
as Mangel an Theilnahme von Seite des Publicums und durch
die Erkrankung mehrerer Mitarbeiter zunächft nicht zu Stande >).
Aber Eampe feldft arbeitete an dem von ihm übernommenen Theil
eifrig fort, und fo entftand fein im J. 1801 zu Braunfchweig ers
idienenes „Wörterbuh zur Erklärung und Verdeutſchung der un«
ferer Sprache aufgebrungenen fremden Ausdrücke.“ Cinige Jahre
ipäter vereinigte fih Campe mit Theodor Bernd und Joh.
Gottlieb Radlof zur Herausgabe eines vollftändigen „Wörter
buchs der deutſchen Sprache“), das 1807 bis 1811 in fünf
großen Quartbänden zu Braunſchweig erihien. Campe hatte bei
feinen lexilaliſchen Arbeiten ein boppeltes Biel im Auge. Erſtens
1) Zörbens, Lerikon deutſcher Dichter und Profaiften I, 279 — 293. —
A. Hm. Niemeyer in der Allgem. Enchel. Her. von Erf und Gruber Thl. XV,
6.47 9. — 2) ©. bie Anfündigung und Probe desjelben in: Beiträge zur
weitern Ausbilbung ber deutſchen Sprache von einer Geſellſchaft von Sprache
freunden. Neuntes Stüd, Braunſchweig 1797, ©. 3— 108. Die Namen
der Mitarbeiter daſ. ©. 17 fg. — 3) ©. die Vort. zum erfien Bb. von
Gampe's Wörterb. der deutſchen Sprache S. IV. — 4) Bgl. über die Ent:
fehung diefes Werkes und ben Antheil, ben bie einzelnen Mitarbeiter daran
hatten, Campe's Borr. zum erfien Bd. ©. VI fg.
488 Drittes Bud. Sechſes Kapitel.
wollte er dem engherzigen Begriff Adelung's von der ,hochdeutſchen
Mundart“, wie wir ihn im vorigen Buch geſchildert haben, einen
umfaffenderen entgegenftelfen 1). Er nimmt deshalb eine Menge
von Wörtern auf, denen Adelung das Bürgerrecht verjagt hatte;
und da Campe und feine Mitarbeiter auch ſonſt fleißig nachſam⸗
meln, jo bieten fie mehr als doppelt fo viele Wörter als Adelung.
Zweitens aber geht Campe's Beſtreben darauf, die deutſche Sprache
von Fremdwörtern zu reinigen. Mit einer Abhandlung über die
fen Gegenftand gewinnt er einen von der Berliner Alademie aus
geſetzten Preis?). Seine Grundfäge find troß aller Uebertreibun⸗
gen doch verftändiger als die fo mander anderer Puriften, und
wenn es ihm auch an Tiefe und Gründligkeit fehlt, fo trifft fein
nüchterner Verſtand doch öfters das Richtige. Wie Campe, fo gieng
Joh. Heinrih Voß damit um, Adelung’s Wörterbuch durd ein
befferes zu erfegen. Seine ausführliche Beurtheilung Adelung's
(1804) 3) trifft die ſchwachen Seiten desſelben mit fchneibender
Schärfe, verfennt aber deſſen wirkliche Verdienſte. Weit tiefer
griff Voß ein auf dem Gebiet der deutjhen Metrik durch feine
1802 erſchienene „Beitmeffung der deuten Sprache”, worin er die
Grundfäge darlegte, nad) denen er felbft den deutſchen Vers ber
handelte. Unter ben lerxilaliſchen Arbeiten diefes Zeitraums erwäh-
nen wir no Theodor Heinfins „Vollthümliches Wörterbuch
der deutſchen Sprade für die Geſchäfts- und Leſewelt“ (1818 —
1822). Das Gebiet der deutſchen Synonymik erhielt in unferer
Periode eine werthoolle Bereiherung durch Joh. Auguft Eher
hard's (geb. zu Halberftabt 1739, 1778 Prof. der Philofophie zu
Halle, geft. den 6. “ar. 1809) 4) „Verfuch einer allgemeinen beut-
1) Bgl. die angeführte Vorrede, und bie Abhandlung Campe's: „Was
iR Hochdeutſch?“ in den Beiträgen, Erſtes Stüd, 1795, ©. 145. — 2 Tit
Abhandlung iſt (theilweiſe und mit einigen Veränderungen) wieder abgedruci
vor Campe's Wörterbuh — zur Verbeutigung u. ſ. w. — 3) In ber Jen
Lit. -Zeitung 1804, Nr. 24 — 40. Bol. Adelung's Gegenerflärung in ber
Leipziger Lit.- Zeitung 1804, Intelligenzbl. Stück 15. — 4) Jördent,
eeriton VI, 80 fg.
Die neuhochdeutſche Schriftfpr. u. d. Vollemundarten 1797 bis 1819. 489
ſchen Symonymik in einem tritifch - philofophifhen Wörterbuche der
finnverwandten Wörter der hochdeutſchen Mundart“ (1795—1802).
Eine Ergänzung diefes Werts lieferte (1818 — 21) Ehrenreih
Maaß (Brof. in Halle, + 1828).
Einen befonderen Eifer wendet man in diefer Zeit der „Rei—⸗
nigung und Verbefferung der deutſchen Sprade” zu. Mit Kennt
niß und Verſtand ſchrieb K. W. Kolbe (geb. zu Berlin 1757, den
größten Theil feiner Lebenszeit in Deffau, geft. den 13. Yan.
1835) 3) „Ueber den Wortreihthum der deutſchen und franzöfifchen
Sprade und beider Anlage zur Boefie" (1806), und „Ueber Wort»
mengerei“ (1809). Mit rührendem Eifer, aber unglaublicher Ver⸗
tennung feines Gegenftandes müht fih Chriftian Hinrich
Wolke für das Befte feiner „herlichen Mutterſprache“ und „eines
geliebten Vatervolles“ ab. Geboren zu ever im J. 1741, wurde
er 1774 Baſedow's rechte Hand bei Errihtung des befannten Def-
fauer Philanthropins. Bis in fein hohes Lebensalter mit pädas
gogiſchen umd fpradligen Experimenten beſchäftigt, ftarb er am
8. Jan. 1825 zu Berlin 2). Sein Hauptwerk auf unferem Gebiet
ift fein „Unleit zur deutschen Geſamtſprache oder zur Erkennung
und Berichtigung einiger (zu wenigst 20) taufend Spradfehler in
der hochdeutschen Mundart; nebft dem Mittel, die zahllofen, —
in jedem Jahre den Deutschfhreibenden 10 000 Jahre Arbeit oder
die Unfosten von 5 000 000 verurfahenden — Schreibfehler zu ver-
meiden und zu erjparen“ (1812). Wir wollen hier nicht auf die
zahlloſen Sonderbarfeiten des Verfaſſers in Orthographie, Wort
bildung und Verdeutſchung eingehen, fondern nur feinen Grundges
danfen hervorheben, weil er uns mehr, als irgend etwas, zeigt,
was damals, — fieben Jahre vor dem Erſcheinen von Grimm’s
Stammatit —, auf bem Gebiet der Spradweisheit noch möglich,
war. Wolfe ift nämlich alles Exrnftes der Anſicht, daß ein einzelner
„tatiger, Tentnisvolfer, mit Berftand, Sprah- und Schönfin bes
gabter Man, Kenner der Deutschin, bifen [den deutſchen) Wortbau
1) Neuer Nekrolog der Deutſchen, Jahıg. 1835, I, ©. 66 fg —
2) Chend., Jahrg. 1825, ©. 28 fg,
490 Drittes Bud. Sechſtes Kapitel.
nad) einerlei echtdeutschen, d. i. natur⸗ unb vernunftgemäsen For⸗
men vorzunemen und feine Wortgebilde aufzuftellen“ habe. Da-
durch „bereitet er das Mittel, unfre — von gants Unwissenden
begründete, von Unfundigen meisfterlof zufammengeflifte, nad
einem bunfeln Gefühl gefhaffene Sprache zu einem mit fich über
einftimmigen, widerſpruchloſen Kunsſtwerke zu machen, gar nicht,
um dife von Einem erleuchteten Verftande erzeugte und zur Wis
bergeburt beförberte Sprache gleich einzufüren, fondern fi nur als
Muster zur freien, almäligen Nachamung für die Zeitgenossen und
tre Nachkommen aufzuftellen. Dis Werk, weltbauähnlich, da Ein
Berftand es, wi in Einem Gus, erſchuf, wird fi nur durch
neue Vorteile, Schönheiten und Volkommenheiten ſehr merflih
von der Sprache unterfcheiden, welche bis dahin der unfundige und
fteiffinnige Vielkopf gröstteils zufammengeftült Hat“ '). Mit mehr
Kenntniß der deutſchen Sprade, als Wolfe, aber doch aud mit
wunderlichen Borausfegungen wollte Radlof fi der Verbefferung
unferer Sprade annehmen in feinen „Trefflichkeiten der ſüdteutſchen
Mundarten zur Verjhönerung und Bereicherung ber Schrift
Sprade“ ?) (1811).
Die grammatifhe Bearbeitung der neuhochdeutſchen Schrift
ſprache fand aud in unferer Periode (1797—1819) zahlreiche Ver⸗
treter. Den Anlaß zur Herausgabe deutſcher Grammatiten gab
jegt, wie früherhin, das Bedürfniß des Unterrichts. Eine deutſche
Regierung, die bayeriſche, fühlte dies Bedürfniß fo lebhaft, dab
fie ihm (1807) durch Ausjegung eines namhaften Preifes fir eine
den Anforderungen der Gegenwart entfpredende deutſche Grammar
tif abzuhelfen fuchte 3). Aber ihre Abſicht blieb unerfüllt 4). Unter
den deutſchen Grammatifern jener Zeit nennen wir Theodor Hein
fius (in Berlin), Joſ. Wismayr (in Münden), Georg Mid. Roth
1) Wolfe, Anleit, 1812, S. 181. — 2) Bgl. . B. S. 91 —
3) ©. das Auefgreiben in der Hallifhen Lit. Zeitung 1807, Znteligembl.
Num. 78. — 4) Bgl. über ben Berlauf biejer ganzen Angelegenheit Radlof,
Ausführlige Schreibungslehre, Franff. a. M. 1820, Bor. — Auf bien
Vorgang bezieht fih Grimm, Gramm. I, (1) Bor. S. XII.
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Die nenhochdeutſche Schriftſpr. u. d. Voltsmunbarten 1797 bis 1819. 491
(m Frankfurt am Main), Georg Reinbek (aus Berlin, fpäter in
Stuttgart), Heine. Bauer (in Potsdam), Wild. Harnifd (in Bress
lau), Bhil. Steineil (in Stuttgart), endlih Joh. Ehriftian
Anguft Heyfe (in Magdeburg). Alle diefe Grammatiker hatten
ihren zum Theil weit ausgebreiteten Wirkungskreis. Aber nur der
zuletzt genannte, nämlich Heyfe, erreichte einen ähnlichen Einfluß,
mie vor ihm Adelung. Wir werden deshalb im folgenden Buch
auf ihn zurüdtommen. Gier bemerken wir nur noch, baß gerabe
für die neuhochdeutſche Grammatik von befonderer Wichtigkeit ber
frankfurtiſche Gelehrtenverein für deutſche Sprache“ wurde, ben der
ſcharffinnige und verdiente Georg Friedr. Grotefend (geb. zu
Minden 1775, 1808 am Gymnaſium zu Frankfurt am Main ans
geftelft, 1821 Director des Lyceums zu Hannover !), geft. den
15. Dec. 1853) 2) im J. 1817 gründete 3).
Wie die Schriftſprache, fo fanden auch die deutihen Mundar⸗
ten in unferem Zeitraum nicht wenige Bearbeiter. Die mundart-
liche Poefie nahm gerade im jener Zeit einen neuen Aufſchwung
durch Joh. Heine. Voß’ plattveutiche und Peter Hebel's alleman-
niſche Gedichte (1803). Neben ihnen könnten außer dem Nürnber-
ger Grübel (F 1809) nod eine Reihe Anderer genannt werben, bie
fi} in den verſchiedenen deutſchen Mundarten dichteriſch verſuchten.
Aber wir ſchreiben hier nicht die Geſchichte der mundartlihen Dicht⸗
ung, fonbern die der mundartlichen Forſchung. Doc geht gerabe
auf diefem Gebiet öfters Beides Hand in Hand. Unter den vielen
Beiträgen zur Kenntniß der beutihen Mundarten, bie theils als
felbftändige Werke, theils in Zeitſchriften erfchienen, heben wir her»
vor Franz Joſ. Stalder's Verſuch eines ſchweizeriſchen Idioti⸗
lons (1812) und deſſen Schweizeriſche Dialektologie (1819), Joh.
Friedr. Schütze's (geb. zu Altona 1758, geſt. 1810) Holfteini»
ſches Idiotikon (1800— 1806) und Matthias Höfer’s Volls-
ſprache in Defterreih (1800) und Etymologiſches Wörterbuch der in
1) Converſations-Lex. der Gegenwart, Bd. II, Leipz. Brodaus 1839,
6. 564 fg. — 2) Brodauf. Eonv-Ler. (11) VII, 457. — 3) Bol. Ab⸗
Hanblungen des frankf. Gelehrienvereins u. f. f. Erſtes Stüd, 1818.
492 Drittes Buch. Giebentes Kapitel,
Oberdeutſchland, vorzügli aber in Defterreih üblichen Mundart
(1815). Verſuche, einen Ueberblid über ſämmtliche deutſche Mund⸗
arten zu gewinnen, wurden gemadht von Severin Bater, im
Anſchluß an Adelung’s Mithridates, im feinen Proben deutſcher
Voltsmundarten (1816) und von Joh. Gottlieb Radlof in
den „Spraden der Germanen in ihren ſämmtlichen Mundarten
dargeftelft und erläutert durch die Gleichniſſ- Meden vom Stemanne
und dem verlorenen Sohne“ (1817), denen er dann fpäter (1821)
nod einen Mufterfaal aller deutſchen Mundarten folgen ließ.
Siedentes Kapitel.
Nüdblic.
Wir haben geſehen, wie gegen den Ausgang des achtzehnten
Jahrhunderts die Romantiker den Blick in unſre Vergangenheit
wieder öffneten. Wir haben das große Verdienſt, das die Roman
tifer fi dadurch erwarben, rühmend anerkannt, zugleich aber auf
die Gefahren Hingewiefen, die mit einer folden Verherrlichung des
Mittelalters, wie wir fie bei den Romantikern finden, unausweid-
lid) verbunden waren. Wir haben dann aber weiter gefehen, wie bie
deutſche Philologie, obwohl auf dem Boden der Romantik ermadr
fen, doch das Kranfhafte diefer Richtung mehr und mehr abftreifte,
indem fie ihre Neigung nicht dem Mittelalter, fondern dem Deut
ſchen aller Zeiträume zuwandte. Nichts führt uns dieſen Unter
ſchied fo Har vor Augen, als die Stellung, die unfer größter Dich
ter einerfeits zu den Romantikern und andrerfeits zu unſrer ge
waltigften altdeutſchen Dichtung einnahm. Wir erinnern uns, wie
Goethe gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts ſich einer
ausſchließlichen Vergötterung des Griechenthums in die Arme warf.
Aber ein Geift von fo gefunder umd unerſchöpflicher Naturkraft
tonnte in diefer erfünftelten Cinfeitigfeit nicht verharren. Wohl
blieben ihm bie Griechen in Kunft und Poefie das Höchſte, und
wer wollte dem, vichtig verftanden, widerſprechen? Aber fein Blid
erweiterte ſich auch wieder für die Schöpfungen anderer Bälle.
Zwar das krankhafte Katholifieren der Romantiker widerte ihn an
Rüdblid, 493
Wohl aber erkannte fein ungetrübter Blick das Tüchtige und Ge-
ſunde in unſrer altdeutſchen Heldendihtung. Im Jahr 1807 bes
ſcaftigt ſich Goethe eingehend mit dem Nibelungenlied; er lieſt es
einem Kreis edler Damen aus dem Grundtert improviſierend in
neuhochdeutſcher Sprache vor !). Seit dieſer Zeit hat ihn das In⸗
tereſſe an „unfern herrlichen Nibelungen“ 2) nicht mehr verlaffen,
wern er auch nachdrücklich vor einer Vergleihung mit der JIlias
warnt ?). Und noh im hohen Greijenalter (1829) thut er den
Ausſpruch: „Das Klaſſiſche nenne ih das Gefunde, und das Ro—
mantiſche das Kranke. Und da find die Nibelungen Hafjiih wie
der Homer, denn beibe find geſund und tüchtig“ 3).
Die Niederwerfung Deutſchlands dur die Franzojen gab dem
Studium unferer alten Sprade und Literatur eine erhöhte Bedeut-
ung. Dan wendete fih den Zeiten zu, in denen Deutihland groß
und herrlich gewefen war, um won dort Troft für das Elend der
Gegenwart und Stärkung für das Ningen nach einer beſſeren Zu⸗
hmft zu gewinnen. Dies ift der Geift, von dem wir bie deutſchen
Patrioten in den Jahren 1806 bis 14 erfüllt fehen. Auch begann
man ſchon zu ahnen, welhen Schat für die Bildung der deutſchen
1) Goethe Annalen, 1807, Wfe. 1840, Bb. 27, ©. 249. Bol. eb.
©. 267, und Briefwechſel zwiſchen Goethe und Kuebel, Thl. I, Leipz. 1851,
©. 338 fg. — 2) Goeihe, Noten u. ſ. w. zum Weft:öftlichen Divan (1819),
Be. 1840, 8b. 4, ©. 232. — 3) Edermann, Geſpraeche mit Goethe, (2)
1,6. 92. Bgl. aud Goethe, über Simrod’s Ueber. bes Nib., in dem
Wien 1840, Bd. 32, ©. 273 fg. — 4) Vgl. die oben (S. 327) angeführte
Weuperung U. W. Schlegel’. — Dann F. A. Gotthold (in Küſtrin) in ber
Rexen berlinifen Monatfepeift, 1809, Jar. ©. 52 fg. — K. Beffeldt, Ober
lehrer am Gymnaf. zu Tilfit, Bon dem Verhäliniß alıbeutfher Dichtungen
zur voltsthümlichen Erziehung, Königeberg 1814. — Ueber Evers in Aarau
dgl. Graͤter's Idunna und Hermode, Unz. 26. Sept. 181%. — Ueber Gotth.
* Heine. Schubert in Nürnberg ſ. deſſen Selöflbiograpgie II, 1 (1855), S. 326fg.
— Hier erwähnen wir aud, daß einer ber gründlichſten Kenner des griechi⸗
fen und römifgen Altertum, 8. W.Göttling, ſich als ein begeifterter Ber:
chtet des Nibelungenlieds ausfprad. (Ueber das Geſchichtliche im Nibelun:
gealiede. Bon K. W. Götting, Rudolſiadt 1814, S. 5 fg. ©. 48 fg.)-
494 Drittes Bud. Siebentes Kapitel,
Das warme, aber zum Theil noch dunkle Streben, fih ber
deutfhen Vergangenheit geijtig zu bemächtigen, entwidelte ſich alls
mählih immer mehr zu einer echt wiſſenſchaftlichen Erforſchung un
fereg Altertfums. Aus ber geiftvollen Wiederentdeckung unfrer
mittelalterlihen Kunft, wie wir fie bei den Häuptern der Roman
tit finden, bilden fi die Beſtrebungen der Brüder Boifferde
für Geſchichte der deutſchen Mahleret und ber deutſchen Baufunft
heraus, und diefe Veftrebungen Haben wieder die bedeutungsvolifte
Rückwirkung auf die Gründung der neuen deutſchen Kunft durch
Cornelius.
Wie die ſeitdem nicht vaftenden und zu immer größerer Voll
tommenheit fortgefhrittenen Arbeiten auf dem Gebiet der deutjchen
Kunſtgeſchichte in jener Zeit ihren Urſprung haben, fo wurde in
den legten Sahren unſerer Periode ein neuer Eifer für die Er
forſchung unferer politiſchen Geſchichte erwet. Der größte beutfhe
Staatsmann, der die Grundlagen zum Wiederaufbau Preußens ger
Tegt Hatte, der Freiherr vom Stein, wurde aud der Neugrünber
unſerer deutſchen Geſchichtsforſchung, indem er (1816 fg.) mit fer
ner unerihütterlihen Thatkraft die Sammlung der deutſchen Ge⸗
ſchichtsquellen betrieb, die als Monumenta Germanise historica
unter &. 9. Perg’ einſichtsvoller Leitung das Fundament der
deutſchen Geſchichtsforſchung geworden find. Gleichzeitig aber nahm
das Studium des deutjhen Rechts und feiner Geſchichte durch 8.
3. Eichh orn einen neuen Aufſchwung.
In diefem Zufammenhang müffen wir die Arbeiten der Bri-
der Grimm in den Jahren 1806 bis 19 betrachten. Sie nehmen
eine ber erften Stellen ein in ber Wiedererfennung bes deutſchen
Alterthums. Noch aber fehlt ihnen der ftreng wiſſenſchaftliche Bo-
ben. Lachmann, Bopp und Raſt arbeiten, jeder im feiner Weil,
auf beffen Gewinnung hin. Ihn in feinem ganzen Umfang zu ge
twinnen und dadurch der germanifhen Philologie für immer ifre
Stellung im Kreife der Wiſſenſchaften zu fihern, war dem Werte
beftimmt, zu beffen Schilderung wir num übergehen: Jacoh
Grimm’s deutſcher Grammatik.
Biertes Bud.
Die germanifche Philologie vom Erfheinen von Grimm’s
Grammatik bis zur Gegenwart.
1819 bis 1869.
Erſtes Kapitel.
Die Brüder Grimm 1819 bis 1840.
1. £eben der Brüder Grimm 1819 bis 1840.
Bus Wert, daS die neue Periode begründete, deren Ger
ſchichte wir in dieſem Buche ſchreiben wollen, war 3. Grimm's
deutſche Grammatik. Ehe wir aber an die Darftellung dieſes
epochemachenden Werkes gehen, müſſen wir zuvor das Xeben ber
beiden Brüder während diefer ihrer fruchtbarſten Periode mit eini-
gen Worten ſchildern. Wir Haben fie im vorigen Buch verlaffen,
nachdem Wilhelm Grimm 1814 Secretär an der Bibliothek zu
Kaſſel, Jacob 1816 zweiter Bibliothefar am derſelben Anftalt ge-
worden war. So lebten fie eine Reihe von Jahren in fehr be-
ſcheidenen Verhältniffen ein ftilles, dem Dienft der Wiſſenſchaft ge
weihtes Leben. Wilhelm gründete (1825) einen ſchönen und be—
glücten Hausftand durch feine Verheiratfung mit Dorothea Wild,
der Tochter des Apothekers Rudolf Wild in Kaffel 1). Jacob hatte
H Herman Grimm, ber geiftreihe Verfaſſer von Michelangelo's Leben,
iR das Altefte von W. Grimm’s brei Kindern.
496 Viertes Bud. Erſtes Kapitel.
600 Thaler Befoldung, Wilhelm 300; die warfen fie zujammen
und lebten davon '). Seht, wie von Jugend auf, ftanden die beir
den in „brüderlicher Gütergemeinſchaft; Geld, Bücher und angelegte
Colfectaneen gehörten ihnen zufammen“ 2). Diefem eingezogenen
Forſcherleben entfprang 3. Grimm's gewaltigftes Wert. Im J. 1819
erfien der erfte Band der deutſchen Grammatik, 1822 deſſen
gänzlich umgearbeitete neue Ausgabe, 1826 der zweite, 1831 der
dritte, 1837 der vierte Band; dazwiſchen 1828 die deutſchen Rechts⸗
alterthümer, 1835 die deutfche Mythologie. Auch Wilhelm's Haupt
wert: Die deutſche Heldenfage (1829) gehört biefer Periode an.
Und unter welden äußeren Verhältniffen find dieſe bahubrechenden
Werke entftanden! Nah dem Tode des Kürfürften Wilhelm I.
(1821) wurde die Bibliothek unter den Befehl des Oberhofmarſchall-
amts gejtellt, und diefe Behörde kam auf den Einfall, zum Behuf
einer nothwendigen Controffe müffe ihr binnen kurzer Zeit eine
Abſchrift des gefammten Katalogs eingereicht werben. So mußten
J. und W. Grimm in der Blüthe ihrer wiſſenſchaftlichen Thätig-
keit anderthalb Jahre lang die edelſten Stunden auf diefe gänzlih
unnütze Abſchrift verwenden. Denn „Schreiber waren feine da“ 3).
„Und doc lebe ich getroft umd vergnügt“, ſchreibt J. Grimm in
jener Zeit ermuthigend an Hoffmann von Fallersleben. „Mein
Stübchen ift wohl noch enger als Ihres; der Stühle habe ih nur
drei (zwei überflüffig); ftörender Arbeiten die Laft liegt auf mir.“
„Es ſcheint heute”, fo fügt er in einer Nachſchrift bei, „eine milde
Frühlingsſonne, und Gott ift fo gut; fein Sie auch von biefem
Frühling am heiter und zufrieden, man fann fi dran gewöhnen,
und das ift eine der ſchönſten Gewohnheiten" ). Endlich aber
teieb man die ſchnöde Zurüdjegung diefer unvergleichlichen Männer
fo weit, daß aud bie ungerftörbarfte Geduld reißen mußte. As
im J. 1829 der erfte Bibliothekar ftarb, ließ man J. Grimm, der
1) Jac. Grimm's Brief an Hofjmann von Fallersleben vom 6. Mir
1826 in Pfeiffer's Germania XI, 500. — 2) I. Grimm, Selbfbiogr., bei
Juſti ©. 163. — 3) 3. Grimm an Hoffmann a. a. D. 6.49. —
4) Ebend. S. 500.
Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 497
feit 28 Jahren im Dienft war, nicht im deffen Stelle vorrüden,
ſondern man ſchob einen’ andern ein. In demſelben Jahr noch er⸗
hielten die Brüder einen ehrenvollen Ruf nach Göttingen, und fo
ſchwer ihnen der Abſchied von ihrer Hefitihen Heimath wurde, folg⸗
ten fie dem Ruf umd traten Neujahr 1830 ihre Göttinger Stellen
an, Jacob als orbentlicher Brofeffor und Bibliothekar, Wilhelm
als Unterbibliothefar 1).
Das Leben in Göttingen ftellte den Brüdern eine neue Aufe
gabe. Sie follten als Lehrer ‚auftreten, was fie bis dahin no nie
gethan Hatten und was fo fpät erft begonnen, felten zu gelingen
legt. Aber bie umergleihlihe Beherrſchung ihres Stoffs, bie
ſtrenge Gewiſſenhaftigkeit in der Erfüllung ihres Berufs und bie
warme Liebe zu ihrer Wiſſenſchaft und zur alademiſchen Jugend
hieß fie diefe Hindernifje überwinden. Jacob las über deutſche
Grammatik, über deutſche Rechtsalterthümer, über deutſche Litera-
turgefhichte, über die Germania des Tacitus, eine Vorlefung, die
zugleich die Grumdzüge ber deutſchen Medtsaltertfümer und ber
deutfhen Mythologie umfaßte. Es war ein überwältigendes Ge
fuhl, Hier den Meifter des Fachs feine großen Entdedungen in an⸗
ſpruchloſeſter Form, aber mit der Unmittelbarkeit des Selbſtdurch⸗
lebten vortragen zu hören. Wilhelm las über mittelhochdeutſche
Dichtungen. Leider war er durch zunehmende Kränklichkeit, die ſich
einigemal bis zu ſchwerer Gefahr ſteigerte, öfters verhindert, die
angefündigten Vorleſungen zu halten. Obwohl durch das doppelte
Amt, an der Bibliothel und auf dem Katheder, ſehr in Anſpruch
genommen, behielten die Brüder doch Zeit genug übrig, um an
ihren wiſſenſchaftlichen Unternehmungen fortzuarbeiten. Mehrere
ihrer hauptſächlichſten Werte kamen in Göttingen zu Stande: Von
J Grimm der dritte und vierte Band der Grammatik, die deutſche
Mythologie (1835) und der Reinhart Fuchs (1834), von Wilhelm
die Ausgabe des Freidank (1834). So lebten die Brüder in der
Fülle der ausgiebigften Arbeit und im angenehmften und gewinn⸗
teihften Verlehr mit Collegen wie Benede, Dahlmann, Otfrid
1) 3. Grimm’s Selbſtbiogr., bei Jufti ©. 161.
Raumer, Geä. der germ. Philologie. +32
ws Vieties Wh. (rien Bapitzl.
Müler, Gerotnws, ala plöglich ein Gveiguiß ciutrat. has dieſen
ganzen fihänen Dofein ud zugleich der Wläthe bes Univecität
Göttingen ein Cude machte. Als König Exrnft Auguß ben hanaz
verichen Thron beitteg, exflärte er durch Patent vous 1. Rev. 1887
dad Gtaotögrumdgefeh des Ganden für aufgehoben. Dichem Nechts⸗
beuch gegenũher fühlten hie Brüder Grimm ſich dunch ihr Gewiſſen
gedrungen, im Verein mit ihren Collegen Dahlmmm, eruins,
Ewald, W. Weber und Albreqht eine ernfte, aber ehrerbietige Ein-
gabe am das Caratoxium ber Univerſität zu richten, worin fie er
Härten, daß fie ſich buxch ihren auf das Stantögeunbgefei geleifie
ten Eid fortwährend nerpffichtet Halten müßten 1). Die folge mer,
daß jene fieben ausgegeichneden Gelehrten ſofort ohne Urtheil anh Bet
ihrer Stellen entjegt und drei vom ihnen: Dahlmann, J Grimm
und Germinus, weil fie ihre Erklärung aud Anderen nügeifeilt
hatter, gebaten wurde, binnen drei Tagen bie Uninerfttät und bes
Konigreich zu verlaffen 9. J. Grimm hat ums non feiner Abſet⸗
ung und Berbannmug eine ewgreifenbe Schilberumg. gegeben 2, Sie
ASt una einen tiefen Blid thun in das herrliche Gemüth mad ben
nannhaften Ehexadter des großen Gelehrten. Grimm war lein
Bolitider, aber ein beusfer Man im vollen ſchönſten Siam des
Worte „Mein Leben, jagt er, infomeit feine Schidjale von
meiner Gemütksort uud Gefinmung abhängen, usixhe ſull eb su
gefaͤhedet in umabläffigem Dieufte ber Wifſenſchaft verfloffen fen“
„Was ift es denn für ein Ereiguiß, das an bie abgelegene Aumuner
meiuer einförmigen und harmloſen Beihftigungen ſchlagt, einbringt
und mid, herauswirft? Wer, nor einem Jahre noch, hätte mir
die Möglichkeit eingeredet, daß eine zurückgezogene, unbeleidigende
Eriſtenz beeinträätigt, geleidigt wab verlegt werben könnte? Der
Grund iſt, weil ich eine wom Band, in das ich aufgenonunen wor⸗
den war, ohno alles mein Zuthun, wir auferlegt Pflicht wiht
brechen wollte, und als bie drohende Auforderung as wich trat,
1) Zur Berfiimbigung von Dahlmam, Bafel 1838, &.35. — 9) Gbent.
©. 71. — 3) Jacob Grimm über feine Entfaffung, Bafel 1898, Wieber
abgebrudt in: Kleinere Sehriften.von 3. Grimm, Ba. I, (1884), 8. 25-52.
Die Brüber Orunm 1819 Die 1840. 41%
das zu chun, was ich ohne Meineld nicht them kounte, niche zus
derte, der Stimme meines Gewiſſens zu folgen.“ „Die Welt iſt
voll von Männern, bie das Rechte denken und lehren, ſobald fie
über handeln ſollen, von Zweifel und Kleinmuth angefochten wer⸗
den und zurũckweichen.“ „ch ſehe das Takte Lächeln derer, die fich
bie Klugen nennen“; — „habe ich doch ſelbſt ſagen hören, ein Eid
ix politiſchen Dingen bedeute nicht viel, oder auch, der aufgelegte
& binde eben nicht, man erfülle ihn fo weit man Luft Habe.
ns, denkt der Eine, daß ſich Veranlafjung findet, eine liberale
Berfaffung mangunverfen, wer es gelingt, ſo Heilige bes Zweck bie
Mittel; wir Haben ein höheres Hecht, das bie diechte dad Mad
werts wicht zu achten braucht. Was Himmert mich die Politat,
weint bes Andere, wenn fis mic in meiner Behaglichkeit ober in
weinen gelehrten Arbeiten ſtört. Aber fo ſehr ift bie Meligiofität
nicht verfätounden, daß nicht Viele, bie eiwas Höheres als weltliche
Angkeit. leunen, bie volle Schwere des Grumdes mit mir im tiefe
fen Herzen empfinben. &s sit wu innm, de anf de Ge
walt gegenüber ein Gewiſſen haben.“
So lehrte Jacob Grimm im December 1837, ohne Ricter-
ſpruch aus dem Lande verbannt, bem ev wit volles Hingabe gedient
hatte, in die alte heſſiſche Heimath nad Kaſſel zurüd. Wilhelm
folgte einige Zeit fpäter mit feines Familie nach; und fo lebten
mn die Brüder, wenn auch umter ganz amberen Verhältniſſen,
wieder mehrere Jahre in der Hauptfiabt ihres engeren Baterlandes.
2. Zacob Grimm’s Arbeiten von 1819 bis 1840.
1. Die deutſche Srammatik.
Als Jacob Grimm fein dreifigftes Lebensjahr überſchritt,
lonnte er bereits auf eine Reihe bedeutender, ja zum ‘Theil epoche⸗
machenber Leiftungen zuwüdhliden. Er zählte unter die anerlannteften
Dieifter der dentſchen Sprach· und Alterthuntsforſchung. Aber während
im gewöhnlichen Berlanf der Menſch nad Erreichung diefes Zieles
anf dem Wege zu verharren pflegt, den er bis dahin mit Glüd
und Beifall eingehalten hat, fehen wir in Jacob Grimm eine der
32*
500 Viertes Bud. Exfes Kapitel.
feltenen und großartigen Erſcheinungen, daß ein ſchon berüßimter
Schriftſteller die Mängel feines ganzen bisherigen Treibens durch⸗
{haut und, wie von vorne anfangend, fid eine neue Bahn brit.
Schon während der früheren Periode hatte Grimm fid eifrig auf
mit Sprachſtudien beſchäftigt, ja er hatte fon fo manche ſchöne
Beobachtung auf diefem Gebiete gemacht. Aber dies alles blieb
vereinzelt und ohne Zuſammenhang und Tonnte deshalb keinen feften
Halt bieten gegen die willfürliche Behandlung des Uebrigen !). Da
erkannte Grimm, baß bier der Punkt fei, von bem aus ber ganzen
germanifen Alierthumsforſchung eine feſte wiffenfcaftlige Grunb-
Tage geihaffen werben müſſe. Der Gedanke, daß Hier von Seite
ber deutſchen Gelehrten etwas nachzuholen fei, ftand zwar niht
vereinzelt. Während nad; anderen Seiten bin, für Herausgabe
altdeutſcher Quellen und die lerxikaliſche Bearbeitung älterer germa-
niſcher Sprachen, die Deutſchen fih neben die übrigen Völker ftellen
durften, Hatten fie die grammatiſche Erforſchung ber älteren germa-
niſchen Sprachen faft ganz verabfäumt. Sie hatten nichts aufzu⸗
weifen, was fi aud nur entfernt mit ben Leiftungen von Hide,
Ten Kate oder Raſt Hätte vergleichen laſſen. Es mar deshalb
natürlich, daß in den Männern, die fi mit neuer Liebe der alt-
deutſchen Literatur zumandten, das Verlangen nad) einer gramma ⸗
tiſchen Bearbeitung ber älteren germanifhen Sprachen ſich regte.
Aber was auf biefem Gebiet vor Grimm in Deutſchland wirllich
geleiftet wurde, war, abgefehen von manchen nur beiläufig gemachten
guten Beobachtungen ?), völlig unbedeutend. So im achtzehnten Jahr ⸗
hundert Zulda’sund Michaeler's, im neunzehnten Steinheil’s (1812) 9),
Mone's (1816) 4) und J. W. Pfaff's (1817) 9) Anläufe. Aber
1) ©. oben ben Rüdblid auf Grimm’s erfle Periode S. 446 fg. —
2) gl. das oben ©. 461 über Lachmann Geſagte. — 3) Lehrgebiude
ber deutſchen Sprache, mit einer Geſchichte biefer Sprade überhaupt, und
jedes Rebetheiles insbefondere, von F. €. P. von Steinheil, Prof. am fgL
Gymnaſium zu Stuttg. Stutig. 1812. — 4) Franc. Jos. Mone, De
emendanda ratione grammaticae Germanicae libellus. Heidelbergse
1816. — 6) Algemeine Umriſſe ber germanifhen Sprachen. Bon J. ®-
Pfaff, Prof. in Nürnberg, Nürnb. 1817.
Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 501
nachdem die Deutfchen fo Yange zurücgeblieben, traten fie num
plöglih an die Spige der Forſchung, als im Jahr 1819 zu Göt-
fingen erſchien: Deutſche Grammatik. Bon Jacob Grimm.
Erſter Theil.
J. Grimm erfaßte ſeinen Gegenſtand mit einem Ernſt und
einer Gründlichkeit, wie er bis dahin noch nie behandelt worden
war. In Savigny's „Lehre, fagt er in der köſtlichen Bueignung
am biefen feinen großen Meifter, lernte ich ahnen und begreifen,
was es heiße, etwas ftubieren zu wollen, fei e8 die Rechtswiſſen⸗
ſchaft ober eine andere” 1). So fern die Stoffe der beiden großen
Gelehrten: römiſches Necht und deutſche Grammatik, ſich zu ftehen
fdeinen, und fo grundverſchieden ihre Naturen waren, fo nahe be
rühren fie fi in ber Art, wie fie ihren Gegenftand auffafjen.
„Meine bisherigen Arbeiten, fagt Grimm in der angeführten Wid⸗
mung an Savigny, von benen Sie ftets unterrichtet geweſen find
und an welden Ste immer Antheil genommen haben, ſchienen mir
doch zu gering ausgefallen, ober bloße Sammlung voher Stoffe,
deren Wichtigfeit künftig einmal gezeigt werben Tarın, zu wenig
mein eigen, als daß id} fie zu einem Maßſtab meiner Dankbarkeit
und Anhänglickeit hätte brauchen dürfen. Ich ſchlage auch gegen-
wärtige® Buch, deſſen Mängel nicht verborgen bleiben werben,
nur etwas höher an, weil es mich größeren Fleiß gefoftet hat, und
weil ihm ein gewiſſes Verbienft nit entgehn Tann, infofern in
einem ungebauten Feld es zugleich leichter und ſchwerer ift, Ente
dedungen zu machen. Man nimmt mit ber erften, halbwilden
Frucht vorlieb, da fie an der Stätte, woher fie kommt, nicht er-
wartet wurde, aber ihr wohl bie Mühjfeligfeit des unbefahrenen
Weges anzufehen ift, auf bem ich fie einbringe. Sollte e8 hiermit
auch anders ftehen, fo verjehe ich mich doch zum voraus, daß Sie
meinem Verſuch, von diefer Seite Her in umfer deutſches Alter-
tum Bahn zu brechen, fein Recht geſchehen Yaffen, und den Ger
1) An — Savigny 6. III der erfien Ausgabe des erſten Bandes von
Grimm's Gramm. In der zweiten Ausg. fehlt dieſe Witmung, in bie britte
if fie wieder aufgenommen.
5OR Biertes Buch. Erſtes Repitel.
danlen billigen werben, einmal aufzuſtellen, wie auch in ber Grem⸗
mat! die Unverletlichteit und Nothwendigteit der Geſchichte
anerfannt werden müfe* 1). Nicht die Sprache zu meiflern,
fondern durch gewifjenhaftes Studium und liebevolle Hingabe ihrem
geheimnißvollen geſchichtlichen Gang auf die Spur zu fommen, ift
die Aufgabe, die Grimm ſich ftellt. „Seit man die dentſche Sprache
geammatif zu behandeln angefangen hat, beginnt er bie Vorrede
feines Wertes, find zwar ſchon bis auf Adelung eine gute Zahl
Bücher und von Adelung an bis auf heute eine noch faft größere
darüber erſchienen. Da ich nicht in diefe Reihe, fondern ganz aus
ihr heraustreten will, fo muß ich gleich vorweg erflären, warm
ich die Art und den Begriff deutſcher Sprachlehren, zumml der in
dem letzten halben Jahrhundert belannt gemachten und gutgeheiker
nen für verwerflih, ja für thöricht Halte. Man pflegt 'allmählich
in allen Schulen aus dieſen Werken Unterricht zu erthellen und fie
feloft Erwachſenen zur Bilbung und Entwicklung ihrer Sprachfer ⸗
tigleit anzurathen. Eine unfäglie Pedanterei, bie es Mühe koſen
würde, einem wleder auferftandenen Griechen ober Römer nur ber
greiflich zu machen“ 2). „Den geheimen Schaden, den biefer Un
terricht, wie alles Ueberflüffige, nach ſich zieht, wird eine genanere
Prüfung bald gewahr. Ich behaupte nichts anders, als daß da
durch gerade die freie: Entfaltung des Gpraßbermögens in ben
Kindern geftört und eine herrliche Anftalt der Natur, melde uns
die Rede mit der Muttermild eingibt und fie in dem Befang des
elterlichen Haufea zu Macht kommen Iaffen will, verkannt werbe
Die Sprache gleich allem Natürlichen und Sittlichen iſt ein unver
merktes, unbewußtes Geheimniß, welches fi in ber Jugend ein
pflanzt und unfere Sprachwerlzeuge für die eigenthükichen vater ⸗
ländifgen Töne, Biegungen, Wendungen, Härten oder Weichen
beftimmt; auf biefem Eindrud beruht jenes unvertifgliche, fehnfärh
tige Gefühl, das jeben Menſchen befüllt, dem in der Frewide feine
Sprache und Mundart zu Ohren fallt.” „Sind aber dieſe
Sproglehren ſelbſt Täufhung und Irrthum, fo ift der Beweis
1) Ebend. ©. III fg. — 2) Grimm, Gramm. I di), Bor. & IL
Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 308
ſchon geführt, weiche Frucht fie in uuſeren Schulen bringen und
wie fie die von ſelbſt treibenden Kmofpen abſtoßen ftatt zu et»
fliegen. Wichtig und unbeſtreitbar ift hier auch bie von Vielen
gemachte Beobachtung, daß Mädchen und Frauen, die in der Schule
weniger geplagt werben, ihre Worte reinlicher zu reden, zierlicher
zu fegen und naturlicher gu wählen verſtehen, weil fie fih mehr
nad) dem Tontuenden inneren Bebürfniß bilden, die Bilbfamdeit und
Verfeinerung ber Sprache aber wit bem Geiftesfortſchritt über
haupt ſich von ſelbſt einfindet und gewiß nicht ausbleibt. Jeder
Deuiſche. der fein Deutſch ſchlecht und vecht weiß, d. 5. ungelehrt,
darf fich, nach dem treffenden Ausdrus eines Franzofen, eine ſelbſt⸗
gene, lebendige Grammatik nennen und kuhnlich alle Sprach ⸗
weiſterregeln fahren laſſen“ ). „Vor ſechshundert Jahren Hat
jeder gemeine Bauer Volllommenheiten und Feinheiten ber deutſchen
Sprache gewußt, d. 5. täglich ausgeibt, von denen ſich bie beiten
heutigen Sprachlehrer nichts mehr trüumen Laffen; in ben Dich ⸗
ungen eines Wolfram's von Eſchenbach, eines Hartmann's von
Aue, die weder von Declination, noch von Conjugation je gehört
haben, vielleicht wicht einmal leſen und ſchreiben konnten, find noch
Unterſchiede beim Subſtautivum und Verbum mit folder Meinlic-
teit und Sicherheit in des Biegung und Setzung befolgt, die wir
erft wach und nach auf gelehrtem Wege wieder emtdeden wmüfjen,
aber nimmer zurädführen bürfen, denn die Sprache geht ihren
naahinberlichen Gang“ 2). Wir können aber dieſen Gang nir⸗
gends In foldem Umfang beobachten wie am Deutſchen. Denn
„fein Bolt auf Erden hat eine ſolche Geſchichte für feine Sprade,
wie das beutie. Zweitauſend Jahre veichen vie Quellen gurüd
in ſeine Vergangenheit, in dieſen zweitauſenden iſt lein Jahrhun⸗
dert ohne Zeugniß und Dentmal* 3). „Das grammatiſche Stu⸗
dium kann kein anderes, als ein ftreng wiſſenſchaftliches, und zwar
der verſchiedenen Richtung nach entweder ein philoſophiſches, kriti⸗
ſches oder hiſtorijches fein“ *). „Von dem Gedanken, eine hiſtoriſche
1) Chen. S. X fg. — 2) Ebene S. X. — 8) Ebend. S. XVII. -
4) Cem. ©. ZI.
504 Viertes Bud. Erftes Kapitel,
Grammatik der deutſchen Sprache zu unternehmen, ſollte fie auch
als erfter Verſuch von zufünftigen Schriften bald übertroffen wer-
den, bin ich lebhaft ergriffen worben. Bei ſorgſamem Lefen alt-
deutſcher Duellen entdedte ih täglich Formen und Vollkommen⸗
heiten, um bie wir Griechen und Mömer zu neiden pflegen, wenn
wir bie Beſchaffenheit unferer jegigen Sprache erwägen; Spuren,
die noch in dieſer trümmerhaft und gleichſam verfteint ftehen ge
blieben, wurden mir allmählich deutlich umd die Uebergänge geläft,
wenn das Neue fih zu dem Mitteln reihen konnte und das Mittele
dem Alten die Hand bot. Zugleich aber zeigten fi bie über
raſchendſten Aehnlichleiten zwiſchen allen verſchwiſterten Mundarten
und noch ganz überſehene Verhältniſſe ihrer Abweichungen. Dieſe
fortſchreitende, unaufhörliche Verbindung bis in das Einzelnſte zu
ergründen und darzuſtellen, ſchien von großer Wichtigkeit; die Aus-
führung des Plans habe ih mir fo vollftändig gedacht, daß mas
ich gegenmwärtig zu leiften vermag, weit dahinten bleibt“ 1). Die
bisherigen Etymologen haben zu ſchnell gebaut. „Wird man fpar-
famer und fefter die Verhältniffe der einzelnen Sprachen ergründen
und ftufenweife zu allgemeineven Bergleijungen fortſchreiten, fo it
zu erwarten, daß bei der großen Menge unfern Forſchungen offener
Materialien einmal Entdeckungen zu Stande gebracht werben fön-
nen, neben denen an Sicherheit, Neuheit und Meiz etwa nur bie
der vergleihenden Anatomie in der Naturgefdichte ftehen“ 2). Iſt
erft einmal die Geſchichte unferer Sprache und Poefie fruchtbarer
entiidelt, fo wird fie jelöft auf die griechiſche und Iateinifhe Ge⸗
lehrſamleit wohlthätigen Einfluß äußern 9). Aber auch abgefehen
davon, und ohne „der ungeläugneten Trefflichkeit griechiſcher und
fonft für Maffiich gehaltener Muſter“ 9) Abbruch thun zu wollen,
müffen wir in unferer eigenen Vorzeit den uns am nächften liegen-
den Gegenftand erfennen. „Ich bin des feiten Glaubens, jagt
Grimm, felöft wenn der Werth umferer vaterländifchen Güter,
Denkmäler und Sitten weit geringer angenommen werben müßte,
1) Ebend. ©. XVIL — 2) Ebend. 6. XII. — 3) BWibmung an
Saviguy S. IV fg. — 4) Ebend. ©, IV.
Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 505
als wir ihn gerecht und beſcheiden vorausſetzen bürfen, daß dennoch
die Erlenntniß des Einheimiſchen umfer die würbigfte, die Heilfamfte
und aller ausländiſchen Wiſſenſchaft vorzuziehen wäre Auf das
Baterland find wir von Natur gewieſen und nichts anderes vermögen
wir mit unſern angeborenen Gaben in folder Maße und fo fiher
begreifen zu lernen“ 1). „Die vechte Poeſie gleicht einem Men-
ſchen, der fi tauſendfältig freuen kann, wo er Laub und Gras
wachſen, die Sonne auf» und niebergehen fieht; die falſche einem,
der in fremde Länder fährt umd fi) an ben Bergen ber Schweiz,
dem Himmel und Meer Italiens zu erheben wähnt; fteht er nun
mitten darin, fo wird fein Vergnügen vielleicht lange nicht reichen
an das Maß des Daheimgebliebenen, dem fein Apfeldaum im
Hausgarten jährlich blüht und die Finken darauf ſchlagen“ 2).
Daß Grimm den volfftändigften Gegenfag gegen Adelung und
deſſen Genoſſen bildet, brauchen wir nad) den angeführten Stelien
nicht weiter zu erörtern. ber wir fehen aus ihnen auch, worin
ber wefentliche, alles Einzelne überragende Unterſchied zwiſchen
Grimm und den großen Sprachforſchern befteht, die wir in früheren
Abſchnitten gefchildert Haben. Auch Raſt und Ten Kate find zwar
nit ohne Sinn für Poeſie. Aber die Poefie tritt bei ihnen weit
urüd Hinter den Scharffinn des Philologen. Grimm aber ift
bei allem Scharffinn eine durch und durch poetifche Natur. Die
Boefie ift es, was ihn zuerft und vor allem anzog. Bon ihr aus
tommt er zur Sprachforſchung. Was ihn in der erften Periode
feiner Thätigfeit ganz erfüllt Hatte, das gibt er in ber zweiten nicht
auf, fondern er nimmt es geläutert und vertieft in den ftrengen
Ernft feiner Forſchung mit hinüber. Nur dann verftehen wir
Grimm und den großartigen Zujammenhang, der alle feine Leiſt⸗
ungen umfhließt, wenn wir ung erinnern, baß er das Wahre
mb Bleibende in den Beſtrebungen der Romantiter mit der Schärfe
der wiſſenſchaftlichen Forſchung vereinigt hat.
Treten wir nun dem Inhalt bes bahnbrechenden Werkes näher.
Auf die Widmung an Savigny und die inhaltveiche Vorrede folgten
1) @bend. — Cbend. 6, VII.
506 Vieries Buch. Erſtes Rapitel.
im der erften Ausgabe (1819) „Einige Hauptfäge, bie id) ans der
Geſchichte der deutſchen Sprache gelernt Habe“ 1); darauf eine
„Einleitung in die gebrauchten Quellen und Hülfamittel“ 2). Nach-
dem dann noch bie für die Anführung der weſentlichſten Quellen
gebrauchten Abkurzungen verzeichnet find, gebt ber Verfafler ſofort
zur Darftellung der Declinationen über. Er behandelt aber unter
dem gemeinfamen Ramen „Dentich 3) folgende Sprachen: Gothiſch
Alte Hochdeutſch, Alt - Niederdeutſch, [nnd zwar A.) Alt-Säaͤchſich
B.) Angelſachfiſchl; Alt⸗ Frieſtich; Alt ⸗Nordiſch; Mittel · Hofe
deutſch; Mittel ⸗ Niederdeutſch, lund zwar A.) Miittel-Sachſich
B.) Mittel-Englifch, C.) Mittel⸗Niederländiſch] ; Neu-⸗Nordiſch, ſnam⸗
lich A.) Schwediſch, B.) Dänifh]; Nen ⸗ Hochdeutjch; Ne-Rieder
landiſch; Neu-Engliſch. Der Aufſtellung der Parabignten, zum
Zeil mit reichlichen Quellenbelegen, folgt dann eine ausfuhrliche
„Grläuterung der deutſchen Declination des Subftantins“ 4). a
berfelben Art wird hierauf bie Declination des Adjectivums, ber
Bahlwörter, ber Eigennamen, bes Pronomens durchgegangen d).
Deu zweiten Haupttheil bildet die Flexion des Verbums, bie in
derſelben Weiſe durch bie verfgiebenen Sprachen mit Ginzwgefügten
Erläuterungen durchgeführt wird, wie die Deelination, mr baf
Bier noch zwei beſondere Abſchnitte Hinzugefügt werben, nämlich
erſtens „Bergleiungen aus fremden Sprachen“ %), und zweitens
„Vergleihung der Eonjugation und Declination“ 7).
In wenigen Jahren war das Werk vergriffen, und ſchon 1822
erihien eine zweite Ausgabe In welchem Maß dieſe „zweite
Ausgabe” umgeſtaltet war, ſpricht Grimm glei im Beginn ber
Borrede aus. „Es hat fein langes Vefinnen geloftet, jagt et, den
erften Aufſchuß meiner Grammatil mit Stumpf und Stiel, wie
man jagt, niebergumähen; ein zweites Kraut, dichter und feiner,
it ſchnell nachgewachſen. Ylüten und veifende Früchte Läpt es viel
H end. 6. XVI-xXXVn. — 2) 6. AKKVII-LXRIX —
3) Byl. I. Orimm's Wertäeibigung dieſes Sprachgeteauche in feinen Buhl:
altertgümern Vorr. S. VII fg. — 4) 6. 181--187. — 5) & 18.
— 6) &. 604-616. 644650. — 7} & 617-692,
Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 507
lit Hoffen.“ In ber That Haben wir in biefer „zweiten Aus⸗
gabe“ großemtheils eim ganz neues Wert nor uns. Ich übergehe
hier alle übrigen Wenberungen und bemerle nur das Eine, daß
dieſe zweite Ausgabe ein umfangreihes „Erites Buch. Bon ben
Vuchſtaben· (&. 1 595) bem „Zweiten Bud. Bon den Wort
Biegungen“ vorausſchidt, umb gevabe biefes erfte Buch, von dem in
ber früheren Ausgabe noch Feine Spur vorhanden war, enthält zum
Zeil die berfignteften Gntbedungen Jacob Grimme.
Bei der Ausarbeitung feiner deutſchen Grammatik kannte und
benutte Grimm faft alles irgend Brauchbare, was bis dahin auf
dem Gebiet der germaniſchen Sprachforſchung erſchienen war ſowohl
in Bezug auf die Herausgabe ber alten Sprachquellen, ala auf die
grammatifche und Ierifalifhe Behandlung der germaniſchen Spra-
den‘). Wenn es num auch zu’ den Eigenthümlichleiten Grimm's
gehörte, überalt unmittelbar ans den Quellen zu arbeiten, fo ver⸗
fußt fich doch ambererfeits von ſelbſt, baf er einen bebeutenben
Einfluß von Seiten feiner Vorgänger erfuhr; und bie Geſchichte
der Wiſſenſchaft Hat nachzuweiſen, in melden Verhältniß bas Neue,
das er brachte, zu dem ftand, was ſchon vor ihm vorhanden ger
weien wor. Ein Mann, wie Grimm, erfährt natürlich Einflüſſe
von den verfdiebenften Seiten, und wir müßten anf bie ganze
Bisher entwickelte Gefdjichte unferer Wiſſenſchaft verweifen, wenn
wir fagen follten, was alles mittelbar ober unmittelbar auf Grimm
eingewirkt hat: Wber dennoch laſſen fi wohl die Vorgänger ber
ihnen, die auf Grimm's grammatiſche Forſchungen einen beſon⸗
ders tief greifenben Einfluß geübt Haben. &s finb, abgeſehen
von Bopp's und Lachmann's bis zum Jahr 1818 erſchienenen
Atbeilen, vorzüglich) Ten Kate umd Nofl. Was Raſt beieifft,
fo Gaben wir berelts früher die Darſtellung feiner Reiftungen fo
eingerichtet, daß wir bie Schriften, Die vor 1828 erſchienen find,
von denen getrennt hielten, bie einer fpäteren Zeit angehören 2).
Var Auſchluß daran werben wir nun näher zu exürtern haben,
1) Bsl. die Finleitung in hie gebrauchten Quellen und Hälismitieh”
in Grimm's Gramm. I (1) S. XXXVII—LXXIZ. — 2) ©. o. 6.4768
‘
508 Viertes Bud. Erſtes Kapitel.
welche Schriften Raſt's Grimm ſchon bei der erften Ausgabe feiner
Grammatik (1818 — 19), melde erſt bei ber zweiten zugänglid
waren, und welden Einfluß fie auf jede der beiden Bearbeitungen
geübt haben. Die Unterſuchung diefer Fragen Hat fi aber nicht
lediglich an bie Jahrzahlen zu halten, in denen bie betreffenden
Schriften erſchienen find. Denn bei der Langfamleit bes bamaligen
Verlehrs und ber verhältnigmäßigen Wögelegenheit von Grimm's
Aufenthaltsort dauerte e8 ſehr lange, bis ein in Dänemark oder
gar in Schweden erfchienenes Buch dem deutſchen Gelehrten zu
Geſicht kam. Theils ans beftimmten Angaben, theils aus ber Ber
ſchaffenheit von Grimm’s Wert ſelbſt erfennen wir, daß Raſrs
Schriften zu den beiden Ausgaben von Grimm's Grammatit in
folgendem Verhältniß ftehen:
Bon den größeren Werken Raff’s kannte Grimm, als er die
erfte Ausgabe des erften Theils feiner deutſchen Grammatik ſchrieb
nur die 1811 erſchienene Vejledning til bet Islandſte eller gamle
Nordiſte Sprog '). Er rühmt fie in der Vorrede (S. LXXVI).
Die Undersögelse om det gamle Nordiske eller Islandske
Sprogs Oprindelse ?), obſchon fie bereits 1818 erſchienen ift, hatte
Grimm bei Ausarbeitung der erften Ausgabe noch nit. Er erhielt
fie erft gegen dg8 Ende feiner Arbeit und erfannte fofort ihre
große Bedeutung. „Unterdeffen, jagt er in der Vorrede 9), bat
Raſk's treffliche, mir erft beinahe nad) der Beendigung dieſes Buchs
zugekommene Preisſchrift weitreichende Aufſchlüſſe über bie vielfeitige
Berührung der beutjhen mit ben lettiihen, ſlaviſchen, griechiſchen
und lateiniſchen Sprachen geliefert; beſonders anziehend ift die Ver
"mittlung beutjher und flavifher Formen in dem lettiſchen und
lithauiſchen Stamm aufgehellt und für die frühere Geſchichte, mo
Gothen mit andern im Dunkel liegenden Völkern jene Gegenden
bewohnten, von größter Bedeutung. Derſelbe Gelehrte bereift
gegenwärtig einen Theil des ruſſiſchen Aſiens und wird ums eine
Ausbeute wichtiger Entdeckungen über die Sprachen ber bort woh⸗
1) Anleitung zur isfänbifgen ober alten nordiſchen Sprache. —
2) „Unterfuung über den Urfprung ber alten nordiſchen ober ielandiſchen
Spaß” — 8) 6. XVII.
Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 509
nenden Völlerſchaften und ihr Verhältniß zu dem ſlaviſchen und
deutihen Stamm zurückbringen; frühere Neifende Haben bloß nad
Burzeln ſammeln können, wer des innern Baues der Sprachen
tundig ift, vermag ungleich fiherer und fruchtbarer zu Werke zu
gehn. Inſoweit ih mit Najt’s Anfihten von ber Beſchaffenheit
der alten deutſchen Sprachen übereingetroffen war, mußte mir
daraus bie erfreulichſte Beftätigung der Nichtigkeit meiner Unter
juchungen hervorgehen; hiſtoriſche Stubien führen nothwendig zu
ahnlichen Reſultaten, wie unabhängig von einander fie auch ange⸗
ftelft gewefen fein mögen. Ueber das Verhältnß der europäiichen
Sprachen unter einander bin ich durch die raſtiſche Schrift beträcht⸗
lich gefördert worden; da mein Buch mehr die durchgeführte Auf-
ftelung des Einzelnen bezwedte, wird Hoffentlich auch Raſk mande
willtommene Ergänzung und Betätigung, zumal was die ihm
größtentheils unbekannt gebliebene alt» und mittelhochdeutſche
Mundart angeht, daraus ſchöpfen.“ Bezeugt uns die ſchöne und
unbefangene Art, wie Grimm bier Raſt jeine Anerkennung zu
Theil werden läßt, einerjeits, daß wir Uebereinftimmungen zwiſchen
der erften Ausgabe von Grimm's Grammatik und Raſt's Under-
sögelse nicht von einer Benutzung ber Raſtiſchen Schrift durch
Grimm ableiten dürfen, fo weiſt fie uns andrerſeits darauf hin,
wie bedeutend. biefe Schrift für die Weiterentwidlung von Grimm's
Anfihten wurde, und biefer Einfluß der Raſtiſchen Schrift tritt
uns dann beutli. in ber zweiten Ausgabe ber Grimm'ſchen Gram⸗
matif entgegen. — Noch zwei andere größere Werke Raſt's tragen
eine Jahrzahl auf dem Titel, die älter ift als die erfte Ausgabe
von Grimm's Grammatik, nämlih die angeljähfiihe Sprachlehre,
die 1817, und die zweite, umgearbeitete Anmeifung zur isländiſchen
Sprache, die 1818 erſchienen ift. Beide find in Stodholm heraus-
gelommen, und ſchon daraus erflärt ſich Hinreichend, daß fie Grimm
bei Ausarbeitung der erften Ausgabe no nicht zugänglich waren.
Von Raſt's angelſächſiſcher Sprachlehre bemerkt dies Grimm aus⸗
drücllich. „Eine gewiß Alles, was in England feloft dafür ge-
ſchehen ift, Hinter ſich laffende angeljähiiihe Grammatik, fagt er,
hat Raſt kürzlich, in däniſcher Sprade zu Stodholm druden laſſen;
10 Viertes Bud. Erſtes Kapitel.
zu meisumm Seibwefen Babe ich mir bis jetzo Tin Gremplar eines
Hülfsweittels verſchaffen können, defien ih fo benöthigt geweien
wäre" 2). Daß bie in ſchwediſcher Sprache geſchriebene zweite
Bearbeitung ber Anweiſung zum Jslandiſchen Grimm bei ber erjien
Ausgabe noch wicht gu Gebote fianb, erſehen wir daraus, deß
Grinm bie 1811 erſchienene Bellebuing anführt, ohne ber 1818
bexansgegebenen Umarbeitung wit einem Wort Erwähnung zu
ihun 2) Aber beide Bücher finb dann auf die zweite Ausgabe von
Grimm's Grammatik ‚nicht ohne Einfluß geblieben.
Ans biefer Grörterntig ergibt fih, daß unter Naft's Schriften
amt die Anleitung zum Yaländifchen (1811) Einfluß auf die erſte
Ausgabe von Grinum's Graumatil gehabt haben kann. Dieier
Eiaſluß befhrämft fi ſo ziemlich auf das Altaordiſche, für welches
Grimm Raſk's Leitungen auch ansdrüdlich vühmend hervorhebt )
Die wehentlichſte Cinwirkung Raſts dagegen zeigt ſich erſt in
Grinuns zweiter Ausgabe (1822). Einen verhältnißmäßig water:
geordneten Umſtand wollen wir mus beiläufig berühren. Wie
Maffs Beileiming (1811), jo iſt auch die erfie Ausgabe von
Grimm's Grammatik mit |. g. deutſchen Buchſtaben gedrudt. In
der zweiten (ſchwediſchen) Bearbeitung (1818), fo wie im der
Oaniich geſchriebenen) angeljächfihen Sprachlehre (1817), exlärt
fig Haft im ber emtichiebewften Weife gegen bie deutſchen (däniſchen)
Buchtaben und wählt ftatt ihrer bie lateiniſchen. Denſelben Wechſel
laßt Grinun im ber zweiten Ausgabe der Grammatik (1822) eintwe-
ten, und daß et es aus denſelben Gründen wie Raſt geihan, beweiſen
feine Worte in der dritten Ausgabe ). Aber ben wejentlichten
1) Grimm, Gramm. XL I (Grfe Ausg.) Gin. &. LXXVIL —
2) @send. 6. LXXVU. — 3) Eben. ©. LXXVIL. — 4) Ball.
Grivem, Gramm. I, (3) ©. 26 fg. mit Rask, Angelsaksisk Sproglere
Fortale 8. 44. S. o. S. 481. — Zugleich mit ber Veriauſchung ber beut-
ſchen Schrift gegen bie lateiniſche nahm Grimm eine Eigenchülmlichteit an, bie
diel won fi reden gemacht hat: die Wefeitigung ber großen Hefangebuih:
Naben ber Gauptwörter. In ber 1. Musg. der Grammauik (18 10) freibt
@ die Hanperdeiet wech mit großen Mnfangetmihftaben, in der zweiten (1892
wit Einen.
Die Veiber Grimm 1819 bio 2840. 51
Genfluh anf Geism’s zweite Ausgabe übt Maffs Preisfärikt über
den Urſprang des Isländiſchen. Wie fehr Grimm biefe amsge-
vihmete Arbeit ſchadte, Haben wir oben gejehen‘). Ohne Zweijel
war es dieſe Schrift, welde bie weitaus größte Wenderamg ber
weiten ‚Ausgabe von. Grinan’s Grammatit vevanlaßt hatı bie
Vorausſeadung einer whfaflenden Unterſuchung der „Buchſtaben.“
Natürlich mußte Grimm die. Wichtigkeit der. Laute für die gefchicht-
liche Granuuatik ahnen. Auch war er duch Ten Kate?) nade
drũdlich darauf hingewieſen. Aber dennoch beginnt er in der erſten
Ausgabe ſofort mit den Flexionen; eine „allgemeine Unterſuchung
‚der Laute“ verſpricht er im „Nachtrag“ des erſten Theils für den
künftigen zipeiten ). Daß abex bei Grimm bie Ueberzeugung zum
Durchbruch Tam, die ganze geſchichtliche Grammatik fei mit einer
umfafjenden Unterſuchung der Laute zu beginnen, das war ohne
Zoeifeh eine Folge ber einbringenben Bemerkungen und Beobad-
tungen, die Raſt in feiner Preiaſchrift über die Wichtigfeit ber
Rautlehre und über die vegelmäßige Lautvertretung macht. Wir
find zu diefer Annahme um fo mehr berechtigt, als auch das wich⸗
tigfte Stück von Grimm's Lautlehre — fein berühmtes Gefeg der
Lautverſchiebung — im naher Beziehung zu Beobachtungen ſteht,
die Raſt in feiner Preisfhrift mitteilt. Grimm ſpricht fein Geſetz
wit den Worten aus:
Roch merkwürdiger als die Ginftimmung der Liquidae uud
Spiranten 4) ift die Abweichung der Lippen-, BZungen- und Kehl⸗
laute nieht allein wen ber gothiſchen, fondern auch von ber althoch⸗
deutſchen Einrichtung, Nämlich genau wie das Altgochdeutige in
allen drei Graben von ber gothiſchen Orbuung eine Stufe abwärts
vjanlen ift, war bereits das Gothiſche ſelbſi eine Stufe nom ber
beiniſchen (griechiſchen, ineiigen) herabgewichen. Dias Gothiſche
H S. o. S. Eh. — 96.0 ©. 148 ig. — 9 Grimm, Gramm.
re), S. 658. Bol. 6. 688. 060. Ato Grimm biefem „Nachtrag“ ſchrieb,
tedie er Brise Mails Poriskhrift. MyL bie eben ©. 508 amgehährte
Stelle aus Grimm's Borrede: „beinahe nad der Beendigung biejes Buchs.“
— 4) Nämlich ber eben vorher beſprochenen antifen mit ben beutjchen.
512 Viertes Buch. Erfles Kapitel.
verhält fih zum Lateiniſchen gerade wie das Althochdeutſche zum
Gothiſchen. Die ganze für Geſchichte der Sprade und Strenge
der Etymologie folgenreihe zweifache Lautverſchiebung ftellt fid ta-
bellariſch ſo dar:
gie.P. B. F. T. D. Th. B.6. Ch
go. F. P. B. | Th. T.D. X. d.
alt. B.(V.)F. | DZT G.Ch.K*))
Nach einer Zwiſchenbemerkung über das gothiſche h folgt dann eine
große Menge von Belegen für das aufgeftellte Geſetz, aus denen
wir zur Verdeutlichung je einen Fall für jeden Lautübergang her-
ausheben wollen. I. P. F. B, V. rA&og, goth. fulls, alt. voll.
L. B, P. F. cannabis, altnordiſch hanpr, alth. hanaf. II. Ph.
B. P. fero, goth. bafra, alth. piru. IV. T. Th. D. tu, goth.
thu, alt. du. V. D. T. Z. ducere, goth. tiuhan, alth. ziohan.
VI. Th. D. T. 9uy@ene, goth. daühter, alt. tohtar. VIL K.
H, 6. H, G. caput, goth. häubith, alth. houbit. VII. G. K.
Ch. genus, got. kuni, alth. chunni. IX. Ch. G. K. zer,
goth. gans, alth. kans.
So Grimm's berühmtes Geſetz. Bon namhafter Seite aber
ift fpäterhin ausgefproden worden, nicht Grimm habe dies Geſetz
entdedt, fondern es finde fich bereit bei Mafl. Wie verhält es
fi nun damit? or allem ift feftzuftellen, daß, wenn es fih
um einzelne Beobachtungen handelt, die dann wieder in Grimm's
Geſetz zur Verwendung fommen, wir weit über Raſt zurüdgeben
müffen. Schon Aventin (1533. 1566) macht die Beobachtung, daß
die Nieberländer „p allein brauchen, wo das Oberland pf hat“,
die Sachſen t, wo bie andern Deutfchen s haben (Watter, Wafler) ?).
Der Verfaſſer der Anmerkungen zum Williram in Merula's Aus
gabe (1598) bemerkt, daß das z in ber Sprache bes Williram fuft
überall in ein niederländiſches t umgewandelt worben fei?). Me
chior Goldaft jammelt (1604) zahlreiche Beiſpiele für den Wedel
bes griechiſchen und lateiniſchen p mit deutſchem ft). Franciscus
Junius (f 1677) macht die Beobachtung, daß griechiſches k, latei⸗
ID Gramm. I, (9,5. — 9 6.0.6.8. 96.60 -
4) ©. 0. ©. 56, Anm. 4.
Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 518
riſhes o bem gothiſchen und angelſächſichen h etymologiſch entfpre-
den‘). Daniel Morhof wiederholt (1682), wie es ſcheint, unab⸗
hangig dieſe Beobachtung und fügt bie weitere hinzu, daß deutſches
g lateiniſches h vertritt?). Endlich Arnold Kanne 3) weiſt (1804)
nah die etymologiſche Uebereinftimmung des germaniſchen f mit
geiehifchem 7 *), bes germaniſchen b mit griehifgem 9, Iateini-
füem #5), bes hochdeutſchen z mit plattveutjhem t, griechiſchem d%),
des hochdeutſchen t mit plattdeutſchem d 7), des germaniſchen h mit
griehifhem x ®), des germanifen g mit griechiſchem 2°), bes ger-
manifhen k mit griehifgem y'%). Dies Alles freilih noch mit
vielem Halbwahren und ganz Irrigen vermifht. Ohne feine Vor⸗
gänger zu erwähnen, höchſt wahrfdeinli ohne fie zu kennen, gibt
Raſt in feiner Preisfhrift (1818) eine Zufammenftellung der Laut-
übergänge vom Griechiſchen und Lateinischen zum Jsländiſchen 11).
In diefer Zufammenftellung verzeichnet er, mit einigen Belegen,
den Uebergang von lateiniſch⸗- griechifch 7 zu isländiſch f, t zu
th, kzuh; dyut,yauk; 9 zu b, 5 zu d, x zu g. Bon b
bemerkt er, daß es meiſt beibehalten werde. Hier ſind nun unbe⸗
ftreitbar die ſämmtlichen Elemente zu Grimm's Lautverſchiebungs⸗
geſeg gegeben, fo weit fid dasſelbe auf das Verhältniß ber grie-
Gifgelateinifgen zur älteren germanifchen Kautftufe bezieht. Es
wird auch Kaum einem Zweifel unterliegen, daß der Blick auf Raftg
Bufammenftellungen Grimm zur Entdeckung der griechiſch⸗germani⸗
ſchen Lautverſchiebung geleitet hat. Aber die Entdeckung ſelbſt Hat
nicht Raſt, fondern Grimm gemadt. Das Weſentlichſte in Grimm’
Entdeckung befteht in zwei Punkten: Erſtens darin, daß hier ein
Yautwanbelgefeg vorliegt, das alle Organe gleichmäßig beherrſcht,
das alfo durch denſelben Vorgang p zu f; t zu th und k zu h
1 S. 0. S. 127. — 9 ©. 0. 6158. — 3) ©. 0. 6.368, — 4) Ar
nolb Kanne, Ueber bie Verwandiſchaft der griech. und teutſchen Sprache,
Leipn. 1804, ©. 111 fg. — 5) Ebend. ©. 122 fg. — 6) So ch. ©. 205
nad} Mafgabe ber gefammelten Beiſpiele. Kanne's eigene Sqhlußfolgerung ift
jedech verkehrt und verworten. — 7) Ebend. ©. 209. — 8) Ebend. S. 230.
9) Ebend. S. 287. — 10) Ebend. S. 241. — 11) Rask, Undersögelse
0.8.7.8. 169. .
Raumer, Seſch. der germ. Phlielogle. 8
514 Viertes Bud. Etſteo Kapitel,
umwanbelt, und ebenſo durch einen zweiten Vorgang b zu p, d
zu t, g au k; endlich durch einen britten im fich ſelbſt gleichmäßigen
Vorgang p zu b, 9 zu d, x au 69). Zweitens barin, daß ber-
felde Vorgang, der das Griechiſche mit dem Gothiſchen verknüpft,
fi vom Gothifgen zum Althochdeutſchen wiederholt. Weder von
der einen, noch von ber anderen Erſcheinung hat Raſk eine Ahnung.
Nirgends findet ſich bei ihm eine derartige Aeußerung, die Grimm's
Entdedung vorhergienge; ja er verräth ganz unzweideutig, daß ihm
nichts dergleichen in den Stun lam, dadurch, daß er am bie oben
angeführten Lautwechfel ohne Unterbrehung einen anberen (ben
griechiſchen Spiritus afper und isländiſch 3) anknüpft 2), der mit
ber vorliegenden Frage nichts zu thun hat. Aber mod mehr!
Raſt Hat Grimm’s Grammatit im Jahr 1830 ausführlich und
ſehr feindfelig recenfiert. Hätte er geglaubt, Grimm Babe feine
epochemachende Entbedung ihm entwendet, fo würbe er dies ohne
Zweifel geltend gemacht haben. Aber davon finden wir Feine Spur.
Vielmehr begnügt fi Raſt, Grimm's ganze Lautlehre als zu aus
fuhrlich, zu fpitfindig 3) und zu abstrus zu verhöhnen 4). Er hat
mithin, ſelbſt nachdem fie vorlag, Grimm's große Entdeckung feiner
Beachtung gewürdigt!
Dies führt uns auf eine der weſentlichſten Seiten, bund die
Grimm fih von Raſt unterſchied. Auch Naft beſchäftigt fig mit
Sprachvergleichung. Aber jo bedeutend feine Verbienfie auf diefem
Gebiete find, fo war doch fein Sinn weit mehr auf die fharfe und
genaue Darftellung der einzelnen Sprache gerichtet. Hier zeigt er
fi unläugbar-auf einigen Gebieten Grimm überlegen. Durd das
eindringende Studium der wirklich gegebenen Spraden, insbeſon
dere auch ber lebenden Ausſprache, weiß er bisweilen Grimm's
1) Wohlgemerkt! Nur jeben ber brei Vorgänge für ſich bezeichnen wir
oben als einem und bemfelben Geſetz unterworfen; bie Frage über ben Bu:
fammenhang ber drei Vorgänge unter einander laffen wir hier offen —
2) Rask, Undersögelse, 8. 170. — 3) »Nice.« Zn Verbindung mit
abstrusee wird nice wohl mit „Ipitfinbig" zu geben fein. Zugleich be:
zeichnet es das Meinlie, Unbebeutende. — 4) Rask, Samlede Af-
handlinger II, 8. 450.
Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. ‘515
ſchwãchere Seiten geſchickt aufzudelen. Aber Grimme Befikt eine
Gabe, durch die er berufen war, weit über Raſt hinaus Epoche zu
machen: Den genialen Blick in bie Zuſammenhänge ber Sprachen
verbunden mit der treuften Erforſchung ihrer hiſtoriſchen Cutwic⸗
lung. Dadurch daß er den Ummandlungen aller einzelnen germani-
ſchen Sprachen Schritt für Schritt nachgeht und zugleich ihren
gemeinfamen Grundbau geſchichtlich zu erforfhen ſucht, gelingt es
ihn, die Wege zu entbeden, auf melden fih bie germaniſchen Spra-
den in der ung zugängligen Beit entwidelt Haben, und eben bies
befähigt ihm dann, ſichere Schlüffe zu ziehen auf bie vor mfrer
geſchichtlichen Kenntniß Tiegenden Zufammenhänge der Gproden.
Das find die Unterſuchangen, von benen Raſt nichts willen will
und die er als „vorhiftorifc—he“ verfpottet 1). Gerade hierin aber
zeigt ſich uns ber Kernpunkt von Grimm's Sprachforſchuug; auch ia
dem befonderen Fall, von dem wir hier ausgegangen find. Es Legt
bei Wortforffungen, fagt Grimm, weniger an ber Gleichheit oder
Aehnlichteit allgemein» verwandter Gonfonanten, als an der Wahr
nehmung des hiſtoriſchen Stufengangs, welcher ſich ‚nicht verrüden
oder umdrehen läßt“ 2). Wir dürfen bie Fruchtbarleit dieſes Ger
dankens hier nicht weiter verfolgen und bemerken zur noch, daß
Grimm beide Stufen feines Lautverfhiehungsgefeges din eine
folge Fülle ſelbſtentdeckter Belege ftägt, daß Raſt's par Beiſpiele
dagegen ſehr bürftig erſcheinen.
H In den Gegenbemertungen gegen Grimm’s Anzeige von Raſt's
friefifher Sprachlehre (1826). Raſt führt Hier Grimm’s Worte über Raſt's
Berfagren in folgender Weife an: „Solche hiſtoriſche (rettere forhisto-
riske) Unterfuhungen meibet ber Verf. in ben meiflen Fllen.“ Jeg
forudswtter nl. at Leeseren af en Sproglere helst Önsker at vide,
hvorledes Sproget er, og ikke hvorledes Forf. indbilder sig det har
veret förend det blev til, eller dog förend det blev skrevet. (Bask,
Saml. Afhandl. II, 217). Dieſe Worte bezeichnen bie Schwäche Rojee,
Grimm gegenüber; zugleich aber weifen fie richtig auf eine Gefahr Hin, wel
Ser Grimm nicht immer entgangen if. Jene Anfiht Hat Übrigens Raft ſchon
vor dem Erſcheinen von Grimm's Grammatik ausgeſprochen in feiner An-
vian. till Isl. 1818, 8,160. — 2) Anm. 2 zur Lautverſchiebung in Grimm's
Stumm. I (2) ©. 588, .
33
516 Biertes Bud. Erſtes Kapitel.
Wir Tönnen natürlich nicht daran denken, in dieſer kurzen
Darftellung ben Reichthum von Grimm’s grammatiſchen Ent-
dedungen erfhöpfen zu wollen. Wir müfjen ums vielmehr darauf
beſchränlen, einige ber hauptſächlichſten hervorzuheben. Grimm’s
Methode bei ber Behandlung der Flexionen ift dieſelbe, bie wir
bei ber Lautlehre geſchildert Haben. Ueberall ift es ihm um hiſto⸗
riſche Entwidlung des Neueren aus bem Xelteren zu thun. Er
geht deshalb aus vom Gothiſchen, das in ben meiften Fällen die
volltommenften Formen bewahrt hat. Daran ſchließt er bie Fle⸗
tionen der nächjftälteften germanifhen Spraden: des Althochdeut⸗
ſcheu, Altſächſiſchen, Angeljähfiigen, Altfrieſiſchen und Altnordiſchen.
Dann folgen die mittleren Sprachen: Mittelhochdeutſch u. ſ. w.
Endlich die neueren. Schon biefe Anorbnung bietet Grimm den
unfhägbaren Vortheil, daß eine Menge von trämmerhaften Er
ſcheinungen in ben fpäteren Sprachen fi wie von ſelbſt aus den
älteren erflärt. Gleich bei ber Declination kommt Grimm auf
eine vichtigere und einfachere Eintheilung, als die bisherigen Gram-
matiler, indem er bie gothiſche Declination zu Grunde legt. „Die
deutſche Declination“ tHeilt fi ihm danach „vorerft in zwei Haupt
Hafien, in bie ftarke und ſchwache“ 1). „Das Kennzeichen dieſer
unvolltommneren [dev jhwaden] Declination ift der in allen Ca⸗
ſus, außer dem ſtets auf einen Vocal endigenden Nominativ Sing,
hervortretende Conſonant n” 2). Die Unterabtheilung der ftarten
Declination wird „lediglich dur die vorherrſchenden Vocale ber
ftimmt. Syn ber erften regiert a ober o, in der dritten m, in
ber vierten i“ 9). Die zweite Declination „ift genau betrachtet und
urſprünglich der erften gleich, indem fie Bloß Ableitungen vermit-
telft des Vocals i umfaßt“ 8). Wir werben in einem fpäteren
Abſchnitt fehen, daß die Annahmen Grimm's über bie ſtarke und
ſchwache Declination durch Bopp's umfafjendere Sprachvergleichung
eine bedeutende Abänderung erfahren haben. Aber wenn man ſich
Überzeugen will, welchen gewaltigen Fortſchritt Grimm’s Anjihten
1) Grimm, Gramm. I (l) 6.139. — 2) Ebend. S. 14. —
3) Ebend. ©. 138.
Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 517
über bie germaniſche Declination bezeichnen und wie ſehr fie die Grund⸗
Inge für bie weitere Forſchung gebilbet haben, fo Braudt man fie
nur mit den unmittelbar vorher veröffentlichten Arbeiten Raft’s 1)
zu verfleihen. Weit bedeutender nod find Grimm's Unterſuchun⸗
gen über das Berbum. Auch hier haben wir Raſt auf richtigerem
Wege gefunden, als die meiften feiner ſtandinaviſchen Vorgänger.
Aber weit mehr noch, als Rat, ift ein anderer Forſcher hier als
Vorläufer Grimm's zu bezeichnen, nämlich Ten Kate ?). Wie Ten
Kate, jo flieht auch Grimm in den ablautenden Beitwörtern bie
Grundlage ber germanifhen Spraden ?). Er bezeichnet ihre Ab⸗
beugung als die „ftarfe ‚Sonjugation“, die bis dahin „regelmäßig“
genannte (ich liebe, ich liebte u. f. f.) als die „ſchwache.“ Die
ſtarke Conjugation „enthält Yanter einfahe kräftige Wurzeln, die
ſchwache Hingegen meiftens Ableitungen, aljo fpätere, aus jenen
Wurzeln erft entfprumgene Verba“ 4). Die ſtarke Gonjugation
bildet ihr Praeteritum durch den Ablaut, bie ſchwache „behilft ſich
mit äußeren Mitteln“ ). Die Lehre vom Ablaut und bie vom
Umlaut, der etwas ganz Anderes ift als der Ablaut, gehören zu
den glängenbften Ergebniffen von Grimm's Forſchung. Der Ab-
laut ift die Veränderung bes Wurzellauts im Praeteritum ber
ſtarken Eonjugation, er ift „die Seele der eigentlichen älteften Con-
ingationsform" 9.. Dagegen ift der Umlaut die Umwandlung
eines Vocals durch ein darauf folgendes i oder u”). Das Go-
thiſche Hat noch gar keinen Umlaut ®). Die hochdeutſchen Sprachen
haben den durch i bewirkten Umlaut, der im Althochdeutſchen noch
ſehr eingeſchränkt ift 9) und ſich erft im Mittelhochdeutſchen immer
weiter ausbreitet 10). Aehnlich iſt es in ben altnieberbeutfchen”
Spraden 1), Das Altnordiſche endlich Hat außer dem buch i
1) ©. befien Anvisning till Isländekan 1818, 8. 65, und Angel-
saksisk Sproglere 1817, 8. 20 fg. — 2) Grimm, Gramm, II, 8. 67
Anm. Bol. 0. 6.141 fe — 8) Grimm, Gramm. II, 8.5. —
4) Grimm, Gramm. I (1), 6.558. — 5) Ebend. J (1), S. 558. —
6) Ebend. ©. 546. — 7) Ebend. S. 168. — 8) Ebend. ©. 131. 562. —
9) Ebenb. ©. 158. — 10) Ebend. ©. 175 fg. — 11) Ebend. 161. 574.
518 Biertes Bud. Erfies Kapitel.
bewirlten Umlaut auch den durch u bemirkten 1). Obwohl Grimm
in der erften Ausgabe noch Feine befonbere Lautlehre gibt, erör⸗
tert er doch eingehend bie Erſcheinungen des Umlauts und des
Ablauts in ben betreffenden Abſchnitten ber Declination und Con
jugation. Beide Erſcheinungen konnten auch früheren Forſchern
nicht verborgen bleiben, und namentlich lag im Mltmorbifden die
umlautwirtende Kraft des i und des u Far vor Augen So
finden wir fie denn aud von Raſt bemerkt 2). Aber von einer
richtigen Erlenntniß dieſer Erfheinung und von der Einſicht in
ihre durchgreifenden Wirkungen ift Raſt noch weit entfernt. Um⸗
laut und Ablaut find ihm mod unter bem gemeinfamen Namen
„Omlyd* vereinigt und führen ihn dadurch an entſcheidender Stelle
irre 9). Hier zeigt fih fo recht die Ueberlegenheit von Grimm’s
Methode. Daburh daß er alle germaniſchen Sprachen vergleihend
zuſammenfaßt, indem er vom Gothiſchen als dem Uxfprüngliäften
ausgeht und dann Schritt für Schritt zu ben jüngeren Sprachen
fortſchreitet, ergeben ſich ihm bie ſchönſten Entdeckungen wie von
ſelbſt. Auch Raſt war diefer Methode auf ber Spur, aber ftatt
ihr weiter nachzugehen, tft er ihr felt dem Höhepunkt, ben jeine
trefflihe Preisſchriſt bezeichnet, mehr und mehr abgeneigt gewor⸗
dent). Es Yam aber noch ein befonderer Umftand hinzu, der
Grimm in eben dem Maß zum Vorteil, wie Raft zum Nactheil
gereichte. Bon vorzügligem Werth nämlich war Grimm bei allen
feinen Forſchungen die ftätige Folge, in welcher ſich bie gothifcen
Formen durch die althochdeutſchen hindurch allmählich zu ben
mittelhochdeutſchen umbilden. Raſt aber, ber ſich der verihie
denſten aftatifen unb europäiſchen Sprachen mit berfelben Leid
tigfeit bemaͤchtigte, Bat es gleichwohl verfämäßt, auch nur die
Elemente des Althochdeutſchen und Mittelhochdeutſchen zu lernen )
H @bend. ©. 168 fg. 576. — 2) Bask, Anvisning till Isländskan
1818, 8.48 fg. — 2) Rask, Angelsaksisk Sproglere 1817, 8. 60,
verglichen wit ©. 53, — 4) Bol. 3. B. Raſtis Modbemserkninger gegen
Grim's Niyeige feiner friefifgen Sprachlehte in RefPs Samlede Afhand-
linger III, & 217. — 5) So unglaublich bie obige Behauptung Mingen
Die Brüder Grimm 1819 bis 1840, 519
Gerade die gründliche Erforſchung bes Althochdeutſchen und Mittel-
hochdeutſchen aber bahnt Grimm vorzugsweife ben Weg zur Er⸗
jenntniß der Entwidlung ver germaniſchen Spraden. — So feßen
mir nım bei Grimm bie ſtarke Eomjugation bie ihr zukommende
erſte Stelle einnehmen, während Rat fie no im Jahr 1826 als
„unregelmäßig“ ber ſchwachen als ber „regelmäßigen“ nachſtellen
will *) und noch 1830 die ſchwachen Verba für die Grundlage des
germanifchen Berbalfyftems erflärt 2. — Die Reihenfolge der
ftarten Eonjugationen hat Grimm mehrmals geändert. Er konnte
auf vein germaniſchem Gebiet laum zu einem ſicheren Princip ge
langen. Aber eine ſehr ſchöne Entdecung gab ihm Aufſchluß über
eine merkwůͤrdige Klaſſe ſtarlet Verba. Er fand nämlich, daß die Berda,
melde im Gothiſchen ihr Praeteritum durch Nebuplication Bilden
(haita, haihait u. ſ. f.), in ben übrigen germanifchen Sprachen dieſe
Nebuplication in einen ſcheinbaren Ablaut zufammengezogen haben ®}
(Althochdeutſch heizu, hiaz; mittelhochdeutſch hoiso, hiez; nen-
hochdeutſch: Heike, hieß u. ſ. w). So war für alle germaniſchen
Sprachen die Neduplication als Bezeihnung der Vergangenheit
mag, jo ift fie dennoch buchfäbli wahr. Wir entnehmen Raſt's Unkenutniß
des Alt- und Mittelhochdeutſchen nicht nur aus ber auffallenden Dürftigkeit,
in die ſich Raſt's Bemerkungen über das Hochdeutſche verlieren, wo es gölte
über das Neuhogdeutfche zurüdzugreifen, ſondern er kat feine Unwiſſenheit
auch pofitiv beuttundet. In den öfters ſchon angeführten Modbemerkninger
gegen Grimm ift es ihm ganz unbegreiflih, was Grimm mit einer Unter:
ſcheidung von e und 8 wolle, und feine Begründung dieſes Nichtbegreifene
iR noch haarſträubender als das Nichtbegreifen felbft. (Baml. Afhandl, III,
83.225 fg.). Statt von Grimm zu lernen, verhögnt cr ihn >med al sin
mittelhochd. Lerdom« (Eben. &. 227; vgl. auch ©. 221.)
1) Rask, Samlede Afhandlinger. III, 8. 239. — 2) A Gram-
mar of the Anglo-Saxon Tongue by Er. Rask. A new Edition
enlarged and improved by the Author. Translated from the Danish
by B. Thorpe, Copenhagen 1830, Raſt's Postseriptum zu Thorpe's
Preface p. LVIL — 3) Grimm, Gramm. I (1), ©. 554. — ©. 558
iR die gothiſche Rebuplication im Weſentlichen richtig aufgefaht. ©. 408
hatte fie Grimm noch verfannt.
520 Biertes Bud. Erftes Rapitel.
erwiefen. — Wie für bie ſtarken, fo waren für bie ſchwachen Gon-
jugationen Grimm’s Entdeckungen epochemachend. Seine Lehre
vom Umlaut zeigt Ähm den Weg, die ſchwachen Gonjugationen aller
germanifgen Spraden in richtiger Weife auf bie drei gothiſchen
6, d, ai) zurüdgufügten %). In ber erften Ausgabe (1819) trennt
er noch die kurzſylbigen (nasja) von den langſylbigen (sökje), fo
daß er vier ſchwache Eonjugationen erhält; in der zweiten (1822)
faßt er fie mit Recht in Eine Conjugation zufammen. Auf Grund
Inge feiner einbringenden Erforſchung des ftarken und des ſchwachen
Verbums gelingt es Grimm endlich auch, bie eigenthumlichen Zeit-
wörter, bie in allen germanifchen Spraden eine Miſchung ber ftarfen
und der ſchwachen Eonjugation barzuftellen ſcheinen, völlig aufs Klare zu
bringen. Schon Hides hatte an einem berjelben (vait, vitum) bie
Form des Practeritums erfannt, feine Beobachtung aber nicht
weiter verfolgt 2). Raſt bemerkte (1811) die Aehnlichteit, welche
die Gegenwartsform diefer Wörter mit der Vergangenheitsform
feiner zweiten Klaſſe (Grimm's ftarter Conjugation) hat ®). Aber
erſt Grimm wies in durchgreifender Weiſe nad), daß dieſe Zeit-
wörter regelrechte Praeterita beftimmter Ablautreihen find, beren
ſtarles Praeteritum mit Praefensbedeutung ein zweites und zwar
ſchwaches Praeteritum zur Bezeichnung ber Vergangenheit bildet 4).
Im Jahr 1826 erſchien der zweite, 1831 der dritte Theil von
Grimm’s Orammatil. Beide Theile (1808 Seiten) füllt das „Dritte
Bud. Von der Wortbildung.“ Diefer Ausdrud ift aber hier im
weiteften Sinne gefaßt. Denn es behandelt dieſes Buch in zehn
Kapiteln 1) die Bildung dur Laut und Ablaut, 2) die Ab
keitung, 3) die Bufammenfegung, 4) die Pronominalbilbungen,
5) die Adverbia, die Praepofitionen, Gonjunctionen und Inter⸗
jectionen, 6) das Genus, 7) die Comparation, 8) bie Diminsution,
9) die Negation, 10) Frage und Antwort. Wir können Bier na
türlich die gewaltige Maſſe biefer beiden Bände nicht im Einzelnen
1) Grimm, Gramm. 1 (1), ©. 564 fg. 571. 578. 518 m. f.w. Me
vergleiche mit Grimm’s einfagen Sägen bie Gonfuflon Rafre. — 2) 6. o.
6.188. — 3) Bejlebning ©. 124. — 4) Grimm, Gramm I (1), 6.5501
Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 521
darlegen, fondern müffen uns auf einige allgemeinere Betrachtungen
einſchränken. Was ung zuerft in die Augen fällt, ift ber ſtaunens⸗
werthe Meichthum des angefammelten Stoffes. Wie ſchon im erften
Bande, fo geht auch in dieſen beiden Grimm darauf aus, für alle
wigtigeren Erſcheinungen die Beifpiele in den einzelnen Sprachen,
fo weit e8 ihm wmöglid) ift, vollftändig zu ſammeln. Es ergeben
fih aus dieſem SHineinarbeiten des geſammten Spradftoffes in bie
Grammatik die merhwürbigften Blide in das Verfahren und ben
Entwicllungsgang der einzelnen Spraden. Bilbungsmittel, welche
die eine Sprache in weiteftem Umfang verwendet, Yäßt bie andere
nafverwandte faft unbenugt. So fehlt bie Partikel ga, ge (ge-
brauchen, Ge-schöpf u. f. f.), die in allen übrigen germaniſchen
Sprachen eine Unmaffe von Wörtern bildet, im Nordiſchen faft
ganz 1). Erſt durch eine folde Kenntniß der Bildungsweifen, deren
fih die einzelnen Sprachen bedienen, zufanmengenommen mit der
ftrengen Lautwandellehre, tie fie Grimm im erften Buch aufftellt,
ergibt fih die Möglicfeit einer wiffenfhaftlihen Etymologie. Es
ift nun feine Rede mehr von einer oberflächlichen Vergleichung
jüngfter Wortgebilde nach bloßer Aehnlichkeit des Klangs, fonbern
jedes Wort iſt zuvörderſt Schritt für Schritt auf feine älteſte ung
zugängliche Form zurüdzuführen und diefe dann in ihre wurzel⸗
haften und ihre nur ableitend hinzugefügten Beſtandtheile zu zerlegen.
Erſt wenn auf dieſe Art der Kern des Wortes geſchichtlich heraus⸗
geſchält ift, kann am eine Vergleichung mit fremden Sprachen ger
dacht werden, und nur dann Bat eine folde Vergleichung wiflen-
ſchaftlichen Werth, wenn fie auf beſtimmten, jene Sprachen ver»
Tnäpfenben Lautwandelgeſehen beruht.
Eine der wefentlihften Seiten an Grimm’s Sprachforſchung,
die fein ganzes Wert durchdringt, ganz befonders aber in dieſen
Bänden zu Tage tritt, ijt der tiefe Sinn für die Poefle ber
Sprache. Nur wer biefen beftgt, konnte Grimm’s ſinniges Kapitel
über das Genus fehreiben. Ohne bie eigenthünlihen Vorzüge ber
füngeren Sprachen zu verlennen, fühlt fi Grimm doch vor allem
1) Grimm, Gramm. II, 8. 733,
522 Biertes Bud. Erſies Kapitel.
zu ber älteren Spradje hingezogen, im welder ber poetiſche Trieb
noch lebendig waltet. „Die wurzelreiche ältefte Sprade, fagt er,
erfreut ſich Tebendiger Namen und Wörter, für deren nothwendige
und geheime Beziehungen ihr eine Fülle von Ahlauten und Zlerionen
zu Gebote ftehen. Die fpätere, indem fie Wurzeln aufgibt, Ab⸗
laute fahren läßt, ftrebt durch Förderung der Ableitungen und Zu
fammenfegungen Beweglichkeit und Deutlichfeit des Ganzen zu ver-
vollfommmnen“ ij. So fehr nun auh im Folgenden Grimm bie
Vorzüge der jüngeren Sprachen anerfennt, fo geht doch durch fein
ganzes Werk, fo wie durdy alle feine Arbeiten, ein tiefer Zug
geiftiger Verwandtſchaft mit der poefievollen Sprachbildung unferes
Alterthums.
m Jahr 1887 erſchien der vierte Theil der Grammatik, wel⸗
Ger das vierte Buch: die Syntar beginnt. Er behandelt (auf
964 Seiten) den einfachen Sat, und zwar im erften Abſchnitt das
Verbum im einfachen Sag in fünf Kapiteln, nämlih 1) das Ger
nus Verbi, 2) den Modus, 8) das Tempus, 4) den Numerus,
5) die Berfonen; darauf im zweiten Abſchnitt das Nomen im eine
fachen Sag in acht Kapiteln, nämlich 1) Begriffe" des Nomens,
2) Genus und Numerus, 3) das perfönliche Pronomen, 4) die
übrigen Pronomina, 5) die Flexion, 6) die Cafus, 7) den abſo⸗
Inten Cafus, 8) Adverb und Adjectiv. Auch auf dem Gebiet ber
Syntar bricht Grimm eine neue Bahn, indem er ſich nicht bamit
begnügt, die Syntar irgend eines beftimmten Zeitraums als etwas
fertig Gegebenes barzuftellen, fondern bie geſchichtliche Entwidlung
der ſyntaltiſchen Verhältniffe vom Gothiſchen herab durch die älteren
und mittleren germanifchen Sprachen bis auf die neueften vor
Augen legt, und das Alles wieder mit einer ſtaunenswerthen Fülle
des beigebrachten Stoffes. Ein fünfter Band ſollte noch vom meht-
fagen Sa, von der verbindenden Conjunction und von der Wort
folge Handeln). Aber Grimm ift darüber hingeſtorben, und fo
fteht num das gewaltige Wert unvollendet da, wie unfre herrlichen
alten Münfter.
1) Grimm, Gramm, II, 8.4. — 2) Grimm, Gramm. IV, 8. 2.
Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 523
2. 3. Grimms Deutfge Rechtsalterthümer 1828.
Ein Werk über deutſche Rechtsalterthümer gehört als foldes
nicht der Geſchichte der Philologie 1) an, fondern ber Geſchichte dev
Rehtswiſſenſchaft. Es ift deshalb nicht ber ftofflihe Inhalt, fon
dern die Art, wie Grimm feinen Stoff behandelt, was uns ber
rechtigt, auch dies Werk in einer Geſchichte der germaniſchen Ppilo-
Togie zu beipredien. Wir haben in einem früheren Abſchuitt ge⸗
ſehen, wie Grimm in feiner Abhandlung „Von der Poefie im
Recht· (1816) die nahe Verwandtſchaft des altdeutſchen Rechts weit
der altbeutjchen Poefie nachweiſt 2). Dasfelbe Ziel verfolge er in
feinen 1828 Yeransgegebenen Deutſchen Rechtsalterthümern, mir
jegt mit viel veiheren Mitteln und auf ber feften ſprachlichen Grunde
Inge, die er inzwiſchen durch die deutſche Grammatik gewonnen
hatte. Es iſt vorzüglich das „finnliche Element ber deutſchen
Rechtsgeſchichte“ ®), für welches Grimm „Materiolien, fo viel er
ihrer habhaft werden Tonnte, vollftändig und getreu fammeln“
wollte. Dies finnlihe Element zeigt fi einerfeits in den Sym⸗
bolen ober „ber bildlichen Vollbringung eines Geſchäfts“ 4); anbrer-
feits in den ſprachlichen Formen, deren fih das Recht bedient,
Diefe Formen haben es im altdeutſchen Recht nicht auf ver⸗
fianbesmäßige ftreng juriſtiſche Beſtimmungen abgefehen, fonbern
fie bedienen fi der volleren poetiſch ſinnlichen Ausdrucsweiſe.
Sie zeigen deshalb auch ſehr häufig bie ber altgermaniſchen Poefie
gemeinfame Alliteration. Für alle diefe Dinge bietet Grimm's
Bert die reichhaltigſten Sammlungen aus den Quellen aller Jahre
hunderte von Tacitus Germania bis auf die Gegenwart mit uns
ermeßlicher Gelehrſamkeit und finnvoller Freude zuſammengeſtellt.
Eine Hauptquelle bilden „die Weisthümer des deutſchen Rechts,
ihrem Weſen und Gehalt nad völlig vergleichbar ber gemeinen
vollsſprache und den Volksliedern. Diefe Rechtweiſungen durch
)6.0.61- 3) S. o. S. 448 ſg. — 8) J. Grimm, Deutfhe
Rechtealierthüũmer, Vort. ©. VIL — 4) I. Grimm, Rechtsalterthümer
6. 109, °
524 Viertes Buch. Erſtes Kapitel,
ben Mund bes Landvolls machen eine höchſt eigenthümliche Er-
ſcheinung in unferer alten Verfaffung, wie fie ſich bei feinem an-
dern Voll wiederholt, und find ein herrliches Zeugniß der freien
und edlen Art unferes eingebornen Rechts. Neu, beweglich und fih
ſtets verfüngend in ihrer äußeren Geftalt enthalten fie Iauter her⸗
gelommene alte Rechtsgebräuche und darunter ſolche, die Tängft
keine Anwendung mehr litten, die aber vom gemeinen Mann gläus
big und in ehrfurchtsvoller Scheu vernommen wurden. Sie Kin
nen durch die lange Fortpflanzung entftellt und vergröbert fein,
unecht und falſch find fie nie. Ihre Uebereinſtimmung untereinander
und mit einzelnen Zügen alter, ferner Geſetze muß jedem Beobach⸗
ter auffallen und weiſt allein fon in ein hohes Alterthum zuräd.
Es ift geradezu unmöglich, daß die poetifchen Formeln, deren bie
Weisthümer voll find, in den Jahrhunderten ihrer Aufzeichnung
entiprungen fein ſollten“ 1). In biefer Weiſe Altes und Neues
aus Nehtsaufzeihnungen und Gedichten zufammenftellend behandelt
Grimm erft in einer Einleitung die Formen und Symbole des
Rechts, dann in ſechs Büchern 1) den Stand, 2) den Haushalt,
3) das Eigenthum, 4) die Gevinge, 5) bie Verbrechen und 0) das
Gericht. Das Wort „bentih* nimmt Grimm in feinen „Deutfhen
NRechtsalterthümern“ in bemfelden Umfang wie in feiner , Deutſchen
Grammatik“, jo daß es auch das Skandinaviſche und Angelſächſiſche
mit umfaßt?). Die Bearbeitung der deutſchen Rechtsalterthumet
hat Grimm zu befonderer Freude gereiht®), und er iſt ihr and,
fo weit e8 irgend feine Zeit erlaubte, bis an fein Lebensende zu
gethan geblieben. Schon in ber Vorrede zur erften Ausgabe (1828)
fagt ee: „Wird der ſchmale langgewundene Steig, den id bier
eingeſchlagen Habe, der aber an ftilfe Pläge führt und an fteile Ab⸗
hänge, von welden herunter unerwartete Ausficht tft, der Nachfolge
werth erachtet, fo will ich Feine Tritte fparen, um ihn zugaͤnglichet
au maden“ 4).
1) Ebend. Borr. &.IX. — 2) Ebend. Vorr. S. VII fg. — 3) Eben.
Vorr. zur zweiten Ausgabe (1854) ©. XIX, — 4) Ebend. Borr. S. XVIIL
Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 525
3. Jacob Grimm’s Deutſche Mythologie 1835,
Schon in ber erften Periode feiner Thätigfeit haben wir J.
Grimm öfters mit mythologiſchen Forſchungen beſchäftigt gefehen.
So namentlih in feiner 1815 erſchienenen Abhandlung über Ir⸗
menfiraße und Irmenſäule. Seit jener Zeit war auf dem Gebiet
der deutſchen Mythologie jo Manches von Anderen verſucht wor-
den. Wir erwähnen darunter ıdie feltiamen Schriften Katl
Barth's über „Hertha und über die Religion der Weltmutter im
alten Teutſchland⸗ (1828) und „Die Kabiren in Teutſchlaud⸗
.(1832), und H. Leo's Abhandlung über Odins Verehrung in
Deutſchland (1822). Das umfaſſendſte Wert auf dieſem Gebiet
war Franz Joſeph Mone's (geb. 1796 zu Mingolsheim bei
Bruchſal, 1822 Ord. Profeffor in Heibelberg, 1827 in Löwen,
1885 Archivdirector in Karlsruh) 1): Geſchichte des Heidenthums
im nördlichen Europa, das in ben Jahren 1822 und 23 als fünf-
ter und ſechster Theil von Creuzer's Symbolik und Mythologie
der alten Völler erſchien. Mone geht von den Anſichten aus, die
Görres und bie Brüder Grimm in ben Jahren 1807 bis 15 über
Mythus, Sage und Märchen ausgeſprochen Hatten. Aber fo ſehr
er ſich au vornimmt, „die Slaubensforfhung vom Einzelnen an—
zufangen, nicht vom Allgemeinen“ und „zuerft ben Glauben eines
Bolles grũndlich aus ſich felber aufzuftellen” 2), fo gelangt er doch
auf der von Greuzer eingefälagenen Bahn fehr raſch zu allgemeinen
Ergeöniffen. Er begnügt fih nicht damit, in ber Sage und im
&pos mit ben Brüdern Grimm mythiſche Elemente anzunehmen,
ſondern er „erflärt veligiöfe Grundgebanten als das Wefen ber
Sage, und bieje als eine verkörperte Ueberlieferung heidniſcher Bild⸗
ung und Religion“ 3). „Der Begriff der Sage" war ihm, „daß
fie veligiöfe Ueberlieferung in irdiſchem Gewande fei‘ ). So
wurde erft die Sage zu Mythologie und die Mythologie ſelbſt wie
1) Real·Encytlopãdie, Reipzig, Brodhaus (11) X, 329, — 2) Mone,
Gesch. des Heidenthums im nördl. Europa I, Vorr. 8. VIL —
3) Ebend. II, ©. 318. — 4) Ebend. II, ©. 308.
526 Vierles Bud. Erſtes Kapitel.
der zu einigen allgemeinen theologiſch fpeculativen Sägen verflüh-
tigt; und Grimm konnte mit Recht von Mone, den er übrigens
„einen redlichen und begabten Forſcher“ 1) nennt, fagen: „m
Mone's Werl erfreut die wieder pofitiv geworbne Betradtumg;
aber fie leidet unter dieſes Verfaſſers Eigenheit, feine Ergebniſſe,
ſeien fie haltbar ober unhaltbar, reif oder unreif, gleich von vornen
berein fertig abzuthun; feine nicht felten finnige, allein ſpröde
Sombination beraubt fi dadurch aller wachſenden Beweglichleit
und ber Leſer mag ihr nicht folgen“ 2).
Nach diefen in Mitte liegenden Arbeiten erſchien im Jahr
1835 die „Deutfhe Mythologie von Jacob Grimm‘
Wie die deutihe Grammatik, jo erlebte auch dies epochemachende
Werk nach einigen Jahren (1844) eine neue fehr erweiterte und
theilweije umgearbeitete Ausgabe, von ber dann wieder im J. 1854
ein neuer Abdruck nöthig wurde). Wie verhält ſich num Grimm
zu feinen Vorgängern, und wie verhalten fi) vor allem feine
eigenen epodemmadenben Arbeiten aus ber reifen Periode zu ben
verihollenen Anlöufen feiner früheren Zeit? Die Antwort ergibt
RS in einem einzigen Wort: Zwiſchen Grimm’s früheren unytholo⸗
giſchen Arbeiten und feiner Deutſchen Mythologie liegt die Deutſche
Srammatit. Die befonnene, daS Ganze orbnend durchdringende
Sprachforſchung befreit Grimm nicht nur von ber früheren will
Türfigen und haltlofen Etymologie, fondern fie gibt auch feiner
Übrigen Forſchung eine nene fefte Grundlage. Grimm feldft hat
dies Mar erkannt. „Wenn das grammatiie Studium zu nichts
Hülfe, fpreibt er 1822 an Hoffmann, fo macht's befoamener. Mone
mit dem beiten Willen gibt uns unverbaute, rohe Mythologit, daß
mich ſs um bes verhungten fhönen Stoffs oft efelt“ 4).
1) J. Grimm, Deutsche Mythol. (2) Borr. 6. XXIII. — 2) Ebend.
(1) Borr. ©. KXIX. — 3) Einiges iſt in ber 2. umb 3. Ausgabe megge-
blieben. So ber umfangreiche Anhang: „Aberglaube“, dem die erfe Ausgabe
©. XXIX— CLXII hat; und flat ber umfafenden Zufhrift am Dahlmann
bietet die 2. Ausgabe eine neue ausführliche Vorrede. — 4) In Pfeifler's
Germania XI, 8. 382,
Die Brüber Grimm 1819 bis 1840, 627
Die Bezeichnung „deutih“ nimmt Grimm in feiner „deutſchen
Mothologie“ in einem engeren Umfang als in der ,deutſchen Gram⸗
matif" und den „deutſchen Rechtsalterthümern.“ Während in die
fen das Wort „deutſch“ das Skandinaviſche mitumfaßt, hat Grimm
von feiner „deutiden Mythologie" die Darftellung ber flandinavi-
ſchen abſichtlich ausgeſchloſſen. Nicht als wenn Grimm bie nahe
Verwandtſchaft der ſtandinaviſchen und deutſchen Mythologie läug⸗
nen wollte. Es iſt im Gegentheil eine Hauptabſicht Grimm's,
deren urſprüngliche Einheit nachzuweiſen. Wie die nordiſche Sprache
„mit in den Kreis ber übrigen deutſchen Dialekte gezogen werben
muß“, fo gehören auch nordiſcher und deutſcher Glaube auf das
engfte zufammen. Diefe Zufanmmengehörigfeit gibt für die Sprache
und die Rechtsalterthümer jetzt jedermann zu. Aber „für den heid⸗
niſchen Glauben, jagt Grimm, hat man eine andere Meinung ger
faßt, weil feine Quelle in Skandinavien reichlich, in Deutihland
ſparſam fließt. Diefe ſehr begreifliche Verſchiedenheit ift zu der
doppelten Folgerung gemißbraut worden, um ben Urfprung ber
nordiſchen Mythologie ftehe es verdächtig, und das übrige Deutich-
land ſei götterlo8 geweſen.“ — „Niemals hat eine falſche Kritif
ärger gefrevelt, indem fie wichtigen, unabwendbaren Zeugniffen
trogte und bie naturgemäße Entwicklung nahverwandter Voller
ſtaͤmme läugnete. Um fie aber auszurotten, habe ich wohl einge
ſehn, daß ich nicht von einer Darftellung der nordiſchen Fülle,
vielmehr der deutſchen Armuth ausgehend, Aehren Iefen mußte,
feine Garben ſchneiden durfte. Erſt aus folgen Aehren und ihren
Körnern Habe ih Nahrung zu gewinnen und Schlüffe zu ziehen
gewagt; es ift dadurch aller Beſonderheit, wie ih hoffe, das Recht
gewahrt worben. Denn Eigenthümlices und Abweichendes tritt
bier nicht anders wie in der Sprache ein, und feiner habhaft zu
werden, hat den höchſten Reiz. Größer aber als bie Abweichung
ift die Webereintunft, und das früher befehrte, früher gelehrte
Deutſchland kann die unſchätzbaren Aufſchlüſſe über den Zufammen-
hang feiner Mythentrümmer dadurch dem reicheren Norden vergel⸗
ten, daß es ihm ältere hiſtoriſche Zeugen für die jüngere Nieder⸗
ſchreibung an die Hand liefert." — „Bweierlei feftzuhalten, daran
528 Viertes Bud. Erſtes Kapitel.
iſt es Hier gelegen: daß bie nordiſche Mythologie echt fei, folglis
auch die deutſche, und daß bie deutſche alt ſei, folglich aud bie
nordiſche“ 1). Auf diefe Art jet Grimm überall die ſtandinaviſche
Mythologie voraus und greift nur da in fie Hinüber, wo es gilt,
die weſentliche Uebereinftimmumg oder auch den durch bie Eigen
thümlichleit der Stämme und Zeiten bebingten Unterſchied der
deutſchen und ber ſtandinaviſchen Mythologie zu zeigen. Für die
deutſche Mythologie wird „neben den lateiniſchen Beugniffen, die
von ber Nömerzeit anheben und durch das ganze Mittelalter fih
erftredfen“, von Grimm „auf Vollsfagen überall Fein Meines Ge
wit gelegt, und lohnende Ausbeute as ihnen gewonnen."
Ihren Werth bezeichnet das Verhältniß Heutiger Volksmundarten
ganz genau, in welchen fi uralter Wortftoff, den die gebildete
Sprache Längft ausgeſchieden hat, in Menge findet. Es ift wahr,
die feineren Formen der Wörter find zu Grund gerichtet, die ger
naueren Fugen des Mythus geiprungen, allein die Wahrheit der
Grundbedeutung Tann ſich unverborben bewahrt haben. Befonbers
wichtig aber, ja entſcheidend ift hier die Analogie des Abſtands
deutſcher, däniſcher und ſchwediſcher Vollsſagen von ben älteren
Mythen. Wandelt eine neunordiſche Ueberlieferung die Götter in
Rieſen, fo darf fie eine deutſche zu Teufeln herunterdrücken, und
Saro mag wiederum eine Mittelſtufe zwiſchen ſpäterer Traditlon
bezeichnen und der Edda“ 2). In ber Verwerthung dieſer verein⸗
zelten und trümmerhaften Ueberlieferungen beweiſt nun Grimm
neben der tiefſten Gelehrſamleit einen durchdringenden Scharfſinn
und eine wahrhaft wunderbare Combinationsgabe. Und dieſe Com⸗
binationsgabe geht jetzt nicht mehr willkürlich in's Wilde, ſondern
ſie iſt gezügelt durch eine nüchterne, auf feſten Geſetzen ruhende
Sprachforſchung. So dienen ſprachliche Unterſuchungen, die mit
der Meiſterſchaft des großen Grammatilers das ganze Gebiet der
germaniſchen Sprachen methodiſch umfaſſen, ben meiften Abſchnitten
zur Grundlage. In dieſer Weiſe werden erſt die allgemeineren
1) Grimm, Deutsche Mythol. (1), Wibmung an Dahlmiann S. Vfg-
— 1) Ein. 6. VI.
5
Die Brüder Grimm 1819 bis 1840. 529
Beziehungen des Glaubens und des Cultus: Gott, Gottesbienft,
Tempel, Briefter unterfucht; dann die Götter und Göttinnen des
deutſchen Glaubens nachgewieſen; hierauf zu den Helden, weiſen
Frauen, Wichten, Elfen und Niefen übergegangen. Es folgen
dann einzelne Seiten des heibnifchen Glaubens: Schöpfung, Ele
mente, Bäume und Thiere, Himmel und Geftirne, Tag und Nacht,
Sommer und Winter, Zeit und Welt, Seelen, Tod, Schiefal und
Heil, Berfonificationen, Ditkunft, Gefpenfter, Entrüdung, Teufel,
Zauber, Aberglaube, Krankheiten, Kräuter und Steine, Sprüde
und Segen. Wir geben diefe einfache Aufzählung des Inhalts,
um ben Neichtfum des Werts vor Augen zu ftellen. Dar⸗
auf, „ein Syftem zu entdeden · in ber altbeutfejen Mythe, geht
Grimm nicht aus). „Bor der Verirrung, fagt er, die fo häufig
dem Stubium ber nordiſchen und griechiſchen Mythologie Eintrag
gethan, ih meine die Sucht, über halbaufgebedte hiftorifhe Daten
philoſophiſche oder aftronomifge Deutungen zu ergießen, ſchützt
mich ſchon die Unvollftändigkeit und der Iofe Zufammenhang des
Wettbaren. Ich gehe darauf aus, getreu umd einfach zu ſammeln,
was bie frühe Verwilderung ber Völker felft, dann ber Hohn
und die Schen der Chriften von dem Heidenthum übrig gelafien
haben, und wünſche nichts, als daß meine Arbeit für einen Anfang
weiterer Forſchungen in dieſem Sinn gelten könne“ 2).
Wir wifjen recht wohl, daß Grimm auch hier in feinen Com⸗
binationen bisweilen zu kühn geweſen ift, daß er mande feiner
Quelfen verfannt hat, daß er Bin und wieder für urſprünglich
dentſch nimmt, was eine fpätere Unterfuchung als aus ber Fremde
eingeführt erwieſen hat, daß ihm die tiefere Kenntniß des indiſchen
Alterthums noch abgieng, wie fie in der Folgezeit durch das Stu⸗
dium der Vedas eröffnet worben ift. Aber das Alles kann den
unfägbaren Werth feines bahnbrechenden Werts nit herunter
drüden. Denn wer wird Forderungen an ein Wert ftellen, die
zu feiner Zeit nod gar nicht zu erfüllen waren? Wir müffen
dasſelbe an ber Stelle betrachten, die e8 in ber Entwicklung ber
1) &bend. S. XXV. — 2) Grimm, Dentsche Mythol. (1), 8. 9
Raumer, Geh. der germ. Phllologle. 3
530 Biertes Bud. Erſtee Kapitel.
Wiſſenſchaft einnimmt, und ba fteht-e8 vor uns riefengroß Allem
gegenüber, was bis bahin über deutſche Diythologie gejchrieben
worden war: eine wahrhaft neue Schöpfung. In einer Beziehung
aber wird es für immer eins ber großartigften Erzeugniffe der
deutſchen Wiſſenſchaft bleißen, nämlich durch bie tief poetiſche
Geiſtesverwandtſchaft des Verfaſſers mit feinem Gegenftande.
In Grimm's deutſcher Mythologie teitt der heidniſche Glaube
unferer Borfahren zum erftenmal wieder fo vor unfer Auge, wie
ee wirflid war, und dadurch wird dem bisherigen unflaren Hin-
und Herreden für immer ein Ende gemacht. Wir fehen, daß der
deutſche Glaube ein dem altnordiſchen verfchwifterter, wenn auch
eigenthünlich entwidelter Bolytheismus war. Durch die Einführ-
ung des Chriſtenthums wurde feine Entwidlung früh unterbroden,
und die deutſche Weyehologie „hat deshalb nicht geleiftet, was fie
Hätte leiften können. Auch Sprache und Poeſie waren empfinblid
geftört umd gehindert, allein fie dauerten und konnten neuen Trieb
gewinnen; ber heidniſche Glaube blieb in der Wurzel abgeſchnitten
feine Ueberbleibſel durften fig nur in andrer Geftalt verftoßlen
bergen. Roh und rauh muß er erfdeinen, doch das Rohe Bat
feine Einfachheit, das Mauhe feine Treuherzigkeit. In unſrer heid-
niſchen Mythologie treten Vorftellungen, deren das menfhlihe
Herz hauptſaͤchlich bedarf, am denen es ſich aufrecht erhält, ftart
und vein hervor“ !). Aber bei aller Wärme, mit der Grimm den
heiduiſchen Glauben der germaniſchen Völler darſtellt, ift er doch
durchaus nicht blind gegen die unermeßlichen Vorzüge des Epriften-
thums. „Bielgötterei, fagt er, ift, bedünkt mic, faft überall in be
wußtloſer Unſchuld entiprungen, fie Hat etwas Weiches, dem Gemäth
Zuſagendes; fie wird aber, wo der Geift fich fanmelt, zum Mono⸗
theisnus, von welgem fie ausgieng, zurüdfchren“ 2), „Wir
dürfen annehmen, wenn ſchon das Heidenthum noch eine Zeit lang
lebendig hätte wuchern, gewiſſe Eigenthümlichteiten der Völler, die
ihm ergeben waren, ſchärfer uud ungeftörter ausprägen können
daß doch ein Keim bes Verderbens und der Verwirrung in ihn
1) Deutsche Mythol. (2) Vorr. 8. XLI. — 2) Ebend. &. XLV.
Die Brüber Grimm 1819 bie 1840. 581
ſelbſt lag, welder es ohne Dazwiſchentritt ber chriſilichen Lehre
xtrũttet und aufgeliſt haben würde. Ich vergleiche das Heiden-
thum einer ſeltſamen Pflanze, deren farbige, duftende Blüthe wir
mit Verwunderung betrachten, das Chriſtenthum der weite Strecken
einnehmenden Ausſaat des nährenden Getraides. Auch den Heiden
feimte der wahre Gott, der ben Chriſten zur Frucht erwuchs“ 1).
„Der Sieg des Chriftentfums war ber einer milden, einfachen,
geiftigen Lehre über das ſinnliche, grauſame, verwildernde Heiden-
thum 2),
4. 3. Grimme Reinhart Fuchs und Übrige Arbeiten von 1819
bis 1840,
Wir haben die drei großen Hauptwerle J. Grimm’s: die
Grammatik, die Rechtsalterthümer und die Mythologie, Hinter ein«
ander beſprochen. Zwiſchen die Rechtsalterthümer und die Mytho-
logie fällt aber ber Zeit nad; nod ein anderes wichtiges Wert
I. Grimm’s, fein Reinhart Fuchs (1834). Außer ber erften
Beröffentlihung des lateiniſchen Isengrimus (aus dem Anfang
des 12. Jahrhunderts) gibt Grimm bier den mittelhochdeutſchen
Reinhart in einem befjeren Tert, als dem im der Ausgabe bes
Roloczaer Coder (1817), und den mittelniederländiſchen Reinsert
in einem befjern, als dem Gräter’s (1812), und überdies eine An-
zahl kleinerer der Thierfage angehöriger Stüde. Das Wichtigſte
aber find die vorausgeſchidten umfafjenden Abhandlungen über das
deutſche Thierepos. Durch eine eindringende Unterfuhung der la⸗
teiniſchen, altfranzöfiichen, mittelhochdeutſchen, mittelniederländifchen
und niederdeutſchen Dichtungen vom Fuchs Reinhart gelangt Grimm
zu dem Ergebniß, daß die Erzählungen vom Fuchs Reinhart (d. i.
Raginhard, Rathskundiger) von uralt germaniihem Urſprung
find, daß fie mit den Franken in das nördliche Gallien eingezogen
und dort mündlich fortgepflanzt worden find, bis fie im 12., 13.
und 14. Jahrhundert ſich in eine reihe Fülle altfranzöfiicher Dichtun ⸗
gen ergoffen. Aus den franzöfiichen Dichtungen ftammen dann wieder
1) Deutsche Mythol. (2) &. 6. — 2) Ebend. ©. 4.
Pr
582 . Viertes Bud. Erſtes Kapitel.
bie mittelhodcheutſchen und mittelniederländifchen und aus letzteren der
niederdeutſche Reineke Vos. Aus derjelden epiſchen Ueberlieferung Haben
die Iateinifchen Dichtungen Isengrimus am Anfang und Reinardus
um die Mitte des 12. Jahrhunderts geſchöpft. So bilden ber Fuchs,
der Wolf und ihre Genofjen die Träger eines Thierepos, das ähn:
lich wie die epiſche Heldendichtung von Jahrhundert "zu Jahrhun⸗
dert fortgepflanzt die mannigfaltigſten, Geſtalten annimmt und tief
im Geiſt des germaniſchen Volles wurzelt. Hier ſchließt ſich die
Thierdichtung einerſeits der Sprache an, wie ſie Grimm in der
Grammatik darlegt, andrerſeits bereitet fie den Uebergang zur My:
thologie vor. „Die Poefie, nicht zufrieden, Schidjale, Handlungen
und Gedanken der Menſchen zu umfaffen, hat au das verborgene
Leben der Thiere bewältigen und unter ihre Einflüffe und Gejeke
bringen wollen. Erſten Anlaß hierzu entdeden wir fon im der
ganzen Natur der für fich ſelbſt betrachtet auf einer poetiſchen
Grundanſchauung beruhenden Sprade. Indem fie nicht umhin
Tann, allen lebendigen, ja ımbelebten Weſen ein Genus anzueignen
und eine ftärfer oder leifer daraus entfaltete Perſönlichkeit einzu
räumen, muß fie diefelde am deutlichſten bei den Thieren vorherricen
laſſen, welche nit an den Boden gebannt, neben voller Freiheit der
Bewegung, bie Gewalt der Stimme haben und zur Seite des
Menſchen als mitthätige Geihöpfe in dem Stillleben einer gleich
ſam leidenden Pflanzenwelt auftreten. Damit ſcheint der Urſprung
faft die Nothwendigleit der Thierfabel gegeben“ 1). In ber finnig:
ften Weife verſenkt fih dann Grimm in die mannigfaltigen Be
ziehungen, welde den Menſchen mit den Thieren verbinden. „Tie
früheren Zuftände menſchlicher Geſellſchaft Hatten aber dies Band
fefter gewunden. Alles athmete noch ein viel frifcheres ſinnliches
Naturgefühl” 2). „Mir ift, als empfände ich noch germaniſchen
Waldgeruh in dem Grund und der Anlage diefer Lange Jahrhun⸗
derte fortgetragenen Sagen“ °). Selbſtverſtändlich verwarf Grimm
die Entſtehung der Reinhartdichtungen aus einer ſatiriſchen Ber
1) Reinhart Fuchs, Von Jacob Grimm, 1834, 8. I. — 2) Ent.
©. 2. — 3) Ebend. S. COXCIV.
Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 583
Meibung hiſtoriſcher Perſönlichkeiten, wie fie no vor Kurzem Mone
in feiner Ausgabe bes Reinardus (1832) wieder durchzuführen ge-
ſucht Hatte !). Doch ftellte er nicht in Abrede, daß einzelne ſatiriſche
Anfpielungen auf beftimmte Perfonen fi in das Thierepos, dem
fie urſprünglich fremd waren, eingeſchlichen Haben 2). "Den Zuſam⸗
menhang der germanifhen Thierfage mit ben Thierdichtungen an-
derer Völfer läugnet Grimm nicht. Aber er führt ihn, in fo weit
er wirflih das Weſen der Sage berührt, auf Urverwandtſchaft
zurück ). Die Sage vom Fuchs umd vom Wolf „hat ihr eigen⸗
thümlich deutſches Recht, das ihr nicht verfümmert werben foll,
noch durch eine auffallende, Berührung mit ber Fabelweisheit des
Orients Schmälerung erleiden kann.“ Doch ftellt Grimm nidt in
Abrede, „daß einzelne andere Fabeln in der That für uns morgen«
landiſchen Urfprung haben“ +). Ebenſo ift es befannt, daß im
auf des 18. und 14. Jahrhunderts die Fabeln, bie fih um ben
Namen Aeſop's gruppieren, in bie germaniſchen Sprachen über»
gingen. „Wie zu erwarten fteht, unter diefen Fabeln find meh-
tere aus bem Kreis bes Fuchſes und Wolfs, und einige noch an
die einheimiſche Dichtung grängende; fie Haben ſich aber faft alle
von ihr geſchieden gehalten und fo wenig damit vermengt, wie bie
ängeführten Sagen von Alerander, Troja und Aeneas mit der
nibelungiſchen ober kerlingiſchen Heldenfage* 5).
Sechs Jahre nah feinem Erſcheinen erhielt Grimm’s Rein⸗
hart Fuchs nod einen wichtigen Nachtrag. Grimm hatte nämlich
die mittelhochdeutſche Dichtung, die dem 12. Jahrhundert angehört,
nur in einer Ueberarbeitung bes 13. herausgeben können; ber ur⸗
ſprũngliche Tert ſchien verloren. Da fanden fih im %. 1839 als
Umſchläge von Rechnungsbüchern in Kurheffen Blätter einer Hand-
ſchrift aus dem Ende des 12. Jahrhunderts, welche Bruchftüde des
unüberarbeiteten Reinhart enthielten. Hoch erfreut gab fie Grimm
mit einigen weiteren Zuthaten heraus (1840) in einem Sendſchrei⸗
1) Ebend. ©. CCLIE fg. — 2) Ebend. ©. CCLVI fg. — 3) Ebend.
©. CCLXVI fg. COLXIX. COLXXIK. — 4) Ebend. ©. CCLXXXI. —
5) Cbend. ©. CCLXXI.
534 Viertes Bud. Erftes Kapitel.
ben an Lachmann, dem er aud feinen Meinhart Fuchs gewid⸗
met hatte.
Die wahrhaft ftaunenerregende Thätigkeit J. Grimm's wäh-
rend jener Jahre feiner höchſten Kraft fand neben ben bisher be
ſprochenen großen Arbeiten noch Zeit, unferen Quellenporrath durch
Herausgabe verfdiedener alter Denkmäler zu bereichern. m
3. 1880 veröffentlichte er aus ber Abſchrift des Franciscus Junins
die dem 9. Jahrhundert angehörende althochdeutſche Ueberſetung
von 26 lateinischen Kirchenhymnen. Im J. 1888 gab er im Verein
mit Schmeller „Lateiniſche Gedichte des X. und XE Jahrhunderts”
heraus, worin außer dem XTert des Waltharius und einiger fleis
neren Stüde die reichhaltige Borrede und bie Einleitung zum Wal ⸗
tharius von Grimm herrühren. Gndlih im J. 1840 veröffentlichte
Grimm zwei der älteften angelſächſiſchen Gedichte: Andreas und
Elene, wiederum wit einer wertvollen Einleitung und mannig ⸗
fachen Erläutermgen. Zugleih befprah Grimm fortlaufend die
bebeutendften Erſcheinungen auf dem Gebiet feiner Wiſſenſchaft in
den Göttingifchen gelehrten Anzeigen und anderen Zeitſchriſten ').
Unter den vielen und zum Theil fehr eingehenden Mecenfionen, die
Grimm in diefem Zeitraum ſchrieb, will id nur die ſchöne und
veihhaltige Anzeige über Berthold's Predigten (1825) 2) hervorhe⸗
ben. Nebenbei aber griff er auch über den Bereich der germani-
fen Sprachen hinaus, indem er ſich eingehend mit dem Serbiſchen
beſchäftigte, angeregt durch die Veröffentlihungen von Wuk Ste
phanowitſch, deſſen ſerbiſche Grammatif er (1824) in's Deutihe
überjegte und mit einer Vorrede begleitete.
Wilhelm Grimm's Arbeiten von 1819 bis 1840. Berſchieden
heit Jacob Grimm’s und Wilhelm Grimm'e.
Schon in einem früheren Abſchnitt Haben wir gefehen, wie J.
und W. Grimm trog aller Gemeinſamkeit doch wieder in mander
1) @ejammelt in: Becensionen und vermischte Aufsätze von Jac.
Grimm, Erster Thl. Berl. 1869. — 2) Wiener Jahrbucher Bo. 32. (Jr
der eben angeführten Sammlung 6. 296 fg.).
Die Brüber Grimm 1819 bis 1840. 585
Hinficht ſehr verſchieden geartet waren. Diefe Verſchiedenheit mußte
natürlich immer ſchärfer hervortreten, je mehr bie Brüder ſich zu
voller Reife entwidelten. J. Grimm war eine durchaus urfprüng«
fihe Natur, voll Kraft und Leben, immer bereit, in die Tiefe des
Gegenftands hinabzutauchen. Im Gefühl unerſchöpflicher geiftiger
Mittel wagt er ſich an die ſchwierigſten und großartigfien Aufgaben:
die Erforſchung des gefammten deutſchen Sprahbaus, des altdeut⸗
fen Rechts und des altdeutſchen Glaubens. Aber er arbeitet im
Bunde mit dem Geifte, aus dem fein Gegenftand hervorgegangen
iſt. Es ift etwas in ihm von derſelben Kraft, die Sprade, Recht
und Mythus geſchaffen Hat. Mag ihm daher auch manches allzu
Hüßne Wagniß im Einzelnen mißglüden, im Großen und Ganzen
bricht er ſich die richtige Bahn. Ganz anders Wilhelm Grimm.
Von der genialen Kraft Jacob's befigt er nur ein geringeres Maß.
Aber mit feinem Geift baut: er fih im engeren Kreiſe an. „Seine,
ganze Art war weniger geftellt auf erfinden als auf ruhiges,
fiheres in fi Ausbilden* '). Was er dann auf dieſe Weife er-
greift, das behandelt er mit einer Gründlichkeit und Sauberfeit,
die feine Arbeiten als wahre Mufter ihrer Gattung erſcheinen laſſen.
Schon im Stil kündigt ſich diefe Verſchiedenheit der Brüder an.
Jacob's Sprache ift bisweilen rauh, bisweilen eigenmädtig ab-
weichend vom hergebracht Gültigen, aber fie ift durch und durch
urfprünglih und eben deswegen von unnachahmlicher Friſche. Sinn⸗
ih) belebt in jedem Ausbrud trifft fie ohne viele Umſchweiſe den
Nagel auf den Kopf. Dagegen ſchreibt Wilhelm mehr den vein-
lien, einfach maßvollen Stil, wie ihn Savigny im Anſchluß an
Goethe in die Wiſſenſchaft eingeführt hat. Diefer verſchiedenen Ra-
tur Wilhelm Grimm’s entſpricht die Art feiner Arbeiten. Es find
teils Unterfuhungen auf einem, mit den Leiftungen Jacob's ver-
glichen, engeren Gebiet, tHeils find es Ausgaben mittelhochdeutſcher
Dichtungen. Der erfteren Gattung gehört daS bedeutendfte Wert
W. Grimm’s an, feine im %. 1829 erfdienene Deutſche Helden-
1) I. Grium’s Rebe auf Grimm, in J. Grimm's Kleineren Schriften
1, 172
‚
686 Vieries Bud. Erftes Kapitel.
ſage. Sie iſt die reife Entwiclung ber verwandten Arbeiten, bie
wir in dem erſten Abſchnitt über bie Brüder Grimm erwähnt ha⸗
ben ). Inzwiſchen war (1816) Lachmann's Schrift „über bie ur-
ſprüngliche Geftalt bes Gedichts von ber Nibelungen Noth“ er
ſchienen. W. Grimm hatte fie (1817) 2) öffentlich beurtheilt, und
daran hatte fi) (1820 fg.) ein eindringender Briefwechſel der bei⸗
den großen Kenner unfrer Heldendichtung gehüpft, worin fie fih
fomohl über die Verſchiedenheiten, als das Uebereinftimmende ihrer
Anfihten in's Klare zu fegen fuchen ®). Die veifite Frucht feiner
Forſchung: Die deutſche Heldenfage hat dan W. Grimm (1829)
Lachmann zugeeignet. Die in den altdeutſchen Wäldern begonnene
Bufammenftellung der Beugniffe für die deutſche Helbenjage erſcheint
hier fehr bereichert und erweitert. Letzteres befonders dadurch, dab
bier nicht mehr bloß die äußeren, fondern auch die inneren Zeug
niffe über die deutſche Heldenfage gefammelt werden, das heißt, die
Ausfagen, melde die Diätungen bes Fabelkreiſes felbft über ihre
Quellen enthalten. Die ſämmtlichen Zeugnifje find Hier in drei
Perioden geſchieden und mit nur wenigen abfihtligen Ausnahmen
chronologiſch geordnet‘). Auf dieſe Weife tritt uns ber Vortheil
seht Mar vor Augen, ben die Unterfuhung bes Epos und ber
Sage bei den Deutſchen vor den übrigen Völfern voraus bat, daß
wir nämlich „die Veränderungen der Sage in Dentmälern beob-
achten können, welde von ben erften Spuren bis zu dem völligen
Verſchwinden den Raum von etwa taufend Jahren einnehmen“ ®).
„Für uns, fügt W. Grimm harakteriftifch hinzu, liegt die Mahn
ung darin, innerhalb diefer Gränze und vorerft ohne Rücſicht auf
andere Völker, die Nefultate zu ſuchen, welche ſich aus Betrachtung
eines fo glüdlichen Verhältnifjes ergeben müſſen.“ Auf die chrono⸗
logiſche Zuſammenſtellung und Erörterung ber einzelnen Zeugniſſe
1) &. 0. ©. 483. — 2) In der Leipz. Lit. Zeitg 1817, Nr. 94. 95.
— 3) In ber Zeitschr. für deutsche Philol. von Höpfner u. Zacher, Il,
8. 193 fg. (1869) und 8.843 fg. (1870) if dieſer hochſt intereffante Brief
wechfel gebrudt erjchienen. — 4) W. Grimm, Deutſche Heldenjage 1829,
Bor. S. V. — 5) Ebenb. ©. 386,
Die Brüber Grimm 1819 bie 1840. 537
lt W. Grimm eime eingehende Abhandlung über Urfprung und
Fortbildung der Sage ımb bes Epos folgen. Durch die gründ-
fihfte und gemifjenhaftefte Bergliederung der einzelnen Dichtungen
wird Schritt für Schrift die Umbildung nachgewieſen, welche bie
Sage im Lauf der Zeit erfahren Kat. Wir fehen, wie durch die
Beränderumg ber Sitte und Lebensanfhauung,. durch Fallenlaſſen
alter Beziehungen und Einflechtung von neuen, durch Verknüpfung
von Sagen, die früherhin ohne Verbindung waren, eine durch⸗
greifende Umgeftaltung ber Sage ftattgefunden hat. Das Alles
aber geſchieht ohne die Abſicht, Neues erdichten zu wollen, in der
„nicht bloß in der früheften Zeit, fondern noch bei ben gebilbetften
Dichtern des Mittelalters herrihenden Ueberzeugung von der voll»
Iommenen Wahrheit der Ueberlieferung” 1). Bei ber Yortpflanzung
und Ausbildung der epifen Dichtung haben wir bie Ueberliefer-
ung durch den Mund der Sänger und die ſchriftliche Aufzeichnung
zu umterfcheiden. In ber älteren Zeit kann nur von mündlicher
Ueberlieferung die Mebe fein. Das „Singen nnd Sagen“ ber
Dieter war früßerhin nicht unterfhieden, „die Begriffe von Ges
fang und Rede lagen ſich vielmehr fo nah, daß häufig einer ben
andern erſetzte; das zeigt das nordiſche qveda, das beides heißt,
fingen ımd fagen“ 2). Durch forgfältige Sammlung und Prüfung
der Zeugniffe über die münblie Ueberlieferung und bie jhriftliche
Aufzeihnung kommt W. Grimm zu dem Ergebniß: „Während die
auf Feine Schrift ſich ftügenden Sänger, wie man der Natur der
Sache nad) glauben darf, Türzere Lieber fangen, etwa von dem
Umfange der ebbifchen, deren Stoff fie nach Wohlgefallen ausmähl-
ten und begränzten, und welde daher, in beftändiger, lebendiger
Fortbildung Begriffen, von ſelbſt in einem cylliſchen Kreis ftanden,
machte die Schrift, welche überhaupt die epiſche Ausführlichteit be»
günftigte, größere Compofitionen, Zufäge, Ueberarbeitungen, eigen-
mächtige Verknüpfungen, und dergleichen nicht ganz unſchuldige
Einwirkungen, ſelbſt die Anwendung einiger Gelehrſamkeit mög⸗
A“). „Ruhend und in eine fefte Form gebunden, bürfen mir
1) &benb. ©. 397. — 2) Ebend, ©. 374. — 3) Ebend. ©. 379.
588 Viertes Buch. Erſies Kapitef.
uns das Epos zu feiner Zeit denken. Vielmehr herrſcht in ihm
der Trieb zur Bewegung und Umgeftaltung, ja ohne ihn würde es
abfterben, wenigftens die Kraft lebendiger Einwirkung verlieren“ ').
Was die Frage betrifft, ob der Urfprumg der Sage mythiſch oder
hiſtoriſch fei, fo erflärt ſich W. Grimm gegen Beides. Er be
trachtet es „als ausgemacht, daß bie geſchichtlichen Beziehungen,
welche die Sage jetzt zeigt, erſt ſpäter eingetreten ſind, mithin die
Behauptung, daß jene Ereigniffe die Grundlage geliefert, aller
Stügen beraubt ift” 2). Ebenſo aber verwirft W: Grimm auch
die Borftellung eines mythiſchen Urſprungs, wonach „bie Helden,
welde die Dichtung in geſchichtlichem Scheine auftreten läßt, früher
bin Götter waren, verkörperte, ſinnbildlich aufgefaßte Ideen über
Erſchaffung und Fortdauer der Welt“ 3). Dieſe Anfiht „muß zu
unerweisbaren Borausfegungen ihre Zuflucht nehmen“ 3). Grimm
bat „Iein Beifpiel von der Umwandlung eines Gottes in einen
bloßen Menſchen gefunden“ +). Der Glaube an überirdiſche Dinge
wird immer ein weientlihes Clement des Epos bilden. „Keinem
Gedichte, wenn es wahrhaft bejeelt ift, fehlt innere Bedeutung oder
eine fittlihe Erkenntniß. — Aber nichts berechtigt uns bis jegt zu
der Bermuthung, daß die deutſche Heldenfage aus Erforſchung
göttliher Dinge oder aus einer philofophiihen Betrachtung über
die Geheimmifje der Natur hervorgegangen fei und in einem fin
bildlichen Ausdrud derfelden ihren eriten Anlaß gefunden habe. Sie
feloft Hat, fo weit wir zurüdhliden können, ſich allezeit neben ver
Geſchichte ihren Play angewieſen“ 5). Neben den Liedern von dem
Gott Thuifto (Tac. Germ. 2) beftanden Helbenlieber, dergleichen
jene waren, welche die Thaten des Arminius feierten (Ann. I, 88).
Jedenfalls Hat man vor ber Entſcheidung jener allgemeinen Fragen
zuvörderſt die genaufte Unterfuhung des gegebenen Sagenſtoffs
vorzunehmen, um Altes und fpäter Hinzugefügtes zu unterjqhei ⸗
den). „Ich entfage gern dem Vortheil, fo beginnt W. Grimm
feine Unterfuchungen, eine vorausgewählte Anfiht in die Mitte zu
1) Ebend. ©. 396. — 2) Eben. S. 397. — 3) Ebend. S. 38. —
4) &benb. ©. 898. — 5) Ebend. 399. — 6) Ebend. ©. 398,
Die Brüber Grimm 1819 bis 1340. 539
fteflen, ober mit dem glänzenden Schwerte eines ſinnreichen Ein-
fol auf den Knoten loszuhauen. Ich theile hier eine Reihe von
Beobachtungen mit, die aus Betrachtung der Denkmäler ſelbſt her-
vorgegangen find und bie mir tauglich fcheinen, Aufklärung über das
Weſen der Sage zu geben. Auf diefem Wege follen wir, glaube
id, dem noch unerforſchten Ziele näher rüden, und dieſer Verſuch
wird verdienftlic fein, wenn er nur von der Richtigkeit des Weges
überzeugt“ '). — Neben dieſer Hauptarbeit, die ſich durch fein gan-
38 Leben Kindurchzieht, fand W. Grimm in den Jahren 1819 His
1840 noch Zeit zu einer Reihe anderer bebeutender Leiftungen. In
feinen Unterfuhungen „Ueber deutſche Runen“ (1821) wies er die
Verwandtſchaft und das Verhältniß des norbifchen, deutſchen und
angelſächſiſchen Runenalphabets nad. Eine reichhaltige Fortſetzung
diefer Forſchungen veröffentlichte er 1828 in den Wiener Jahr⸗
büchern ber Literatur 2). Seine hauptſächlichſte Thatigkeit aber
wenbete er der kritiſchen Herausgabe mittelhochdeutſcher Dichtungen
zu Wie auf dem Gebiet der Sagenforfhung, fo berührte er fi
auch Hier insbeſondere mit Lachmann's epochemachenden Leiftungen.
In feiner Ausgabe von Ruolandes liet (1838) gibt er außer dem
forgfältig behandelten Text eine eindringende Unterfuchung über die
altfranzöſiſche Sage von Roland und feinen Genofjen und über das
Berhältniß der diefer Sage angehörenden Dichtungen. Vridankes
bescheidenheit (1834) erhält durch die Fritifche Abwägung ber oft
weit angeinanbergehenden Handſchriften eine neue Geftalt, nnd die
ausführliche Einleitäing gibt biefem trefflihen alten Spruchgedicht
feine Stellung in ber Geſchichte des Sprichwortes. Auf die am
Schluſſe ausgeſprochene Vermuthung, Hreidank ſei Walther von ber
Bogelweide, kommen wir fpäter zurüd. Hier erwähnen wir noch
W. Grimm’s trefjlihe Ausgaben des Nofengarten (1836) und des
Grave Ruodolf (1828) 3), fo wie fein forgfältiges Facfimile bes
Hildebrandslieds (1830).
1) &bend. ©. 337. Cine „zweite vermehrte und verbefferte Ausgabe“
von ®. Grimm’s Heldenfage Seforgte 1867 K. Müllenhoff. — 2) Auch ein:
zeln erfgienen. — 3) Zweite erweiterte Ausgabe 1844.
0 Biertes Buß. Zweites Kapitel.
Zweites Kapitel.
Die mitforſcher der Brüder Grimm.
Mit dem Erſcheinen von Grimm's Grammatit (1819) beginnt
ein neuer Zeitraum in der Geſchichte der germanifchen Philologie.
In diefem Wert finden bie ausgezeichneten Forſcher, bie fih ſelb⸗
ftändig neben Grimm herangebilbet haben, eine ſichere Grunblage
für ihre Beftrebungen. Bor allen ift e8 Lachmann, der Grimm freus
dig die Hand bietet, und neben ihm Benece, Scheller, Uhland,
jeder in feiner eigenthümlichen Weiſe für die Forſchung thätig und
doch alle innig verbunden für ven Einen großen Zwei. Im An
ſchluß an diefe bahnbrechenden Forſcher aber tritt nun bald auf
eine Schaar reich begabter jüngerer Mitarbeiter hervor, fo daß das
weite Gebiet der germaniſchen Philogie im Laufe weniger Jahr
zehnde einen veiheren Anbau findet, als in ben bisher verfloffenen
Jahrhunderten.
1. Aatl Ladmann (18191851). 6.5. Benehe (18191844).
Seit 1818 außerordentlicher Profefjor an der Univerfität Kö
nigsberg vertrat Lachmann neben Lobec die klaſſiſche Bhilogie, zu
gleich aber hielt er Vorleſungen über altdeutſche Grammatik und
mittelhochdeutſche Dichter. Obwohl bereits einer der erften Kenner
des Alt- und Mittelhochdeutſchen widmete Lachmann während jener
Jahre (1818— 24) diefen Sprachen ein fortgefetes umermübliches
Studium. Alles Gebrudte und was er von handſchriftlichem Ma
terial erreichen Konnte, unterzog er nad) allen Seiten Hin einer im
mer erneuten Durcarbeitung. Für den Sommer 1824 nahm «
Urlaub, um bie Bibliotheken Mittel- und Sübbeutiglands für fein
Bwede auszubeuten. Er gieng zunächſt nad Berlin, von da nad
Wolfenbüttel, Kaffel, wo er die Brüder Grimm aufſuchte, Min
den und St. Gallen. Ein reicher Schatz von Abſchriften und Ber
aleichungen war die Frucht diefer Reife). Am 27. Febr. 1825
1) ®gl. Iwein (2) 8. 860.
Die Mitforfger der Brüber Grimm. 541
wurde Lachmann zum außerordentlichen, am 27. Juni 1827 zum
ordentligen Profeſſor für das Fach der klaſſiſchen und der deutſchen
Philologie an der Umiverfität Berlin ernannt. Mit größter Ge
wiffenhaftigfeit ift er hier feinem Lehrberuf nach deſſen beiden
Seiten hin bis an fein Lebensende nachgekommen, und obwohl feine
ganze Art nit auf den Beifall großer Zuhörermaſſen berechnet
war, hat er doc durch die ſtreng wiſſenſchaftliche Behandlung feines
Gegenftandes und bie Heranbilbung treffliher Schüler als Univer⸗
fitätslehrer kaum weniger gewirkt, wie als Schriftſteller. Gegen
Ende des Januar 1851 wurde Lachmann von heftigen Schmerzen
im linfen Zußgelent befallen. Es jentwidelte fi eine gefährliche
Entzündung. Der Fuß mußte abgenommen werden. Lachmann
ertrug Alles mit ruhiger Ergebung. Aber es war feine Rettung
mehr. Am 13. März 1851 endete dies reiche, arbeitsvolle Leben 1).
Lachmann's wiſſenſchaftliche Thätigleit erftredt ſich über weite
Gebiete, von denen nur ein Theil in unſeren Bereich fällt. Die
antik klaſſiſche Philologie verdankt ihm nicht weniger, als die ger⸗
maniſche, und von jener aus hat er feine Bemühungen auch auf
den Grundtert bes Neuen Teftaments und die Bearbeitung römi-
ſcher Rechtsquellen ausgebreitet. - Aber cr war weit entfernt von
der planlofen Zeriplitterung des bloßen Polyhiſtors. Vielmehr
wurden alfe feine Arbeiten zufammengehalten durch das Band ber
kritifchen Methode, beven einzelne Anmwendungen fie nur bildeten.
Der unterfeidende Grundzug von Lachmann's Textkritik war bie
ſtreng hiſtoriſche Sichtung der handſchriftlichen Quellen, aus benen
wir unferen Text jhöpfen. Der Kritiker hat das Verhältniß der
Handſchriften genau zu unterſuchen, und indem er fo ber Entftefung
des Ueberlieferten rückwärts nachgeht, gewinnt er „auf dem Wege
hiſtoriſch⸗methodiſcher Forſchung den älteften und bezeugteſten Text,
der fi durch die Ueberlieferung erreichen läßt“ 2). Doc} ift dieſer
Text noch keineswegs der wahre. Vielmehr Hat da, wo bie Ueber⸗
lieferung irrt, die Emendation einzutreten. Aber nur nad) gewifjen-
1) ®gl. Karl Lachmann. Eine Biographie von Martin Hertz.
Berlin 1851. — 2) Hertz, Lachmann, 8. 194.
542 Viertes Buch. Zweites Kapitel.
baftefter Unterſuchung der Weberlieferung findet die Emendation
ihre Stelle. Diefe Grundfäge der Textkritit wendete Lachmann
gleichmäßig auf die klaſſiſche, wie auf die germaniſche Philologie
-an, und gerade auf biefe Verbindung der llaſſiſchen und der ger-
maniſchen Philologie gründet ſich die epochemachende Stellung, bie
Luhmann in der Entwidlung der germanifhen Philologie ein-
nimmt. Aber Lachmann war nicht bloß der Mitfhöpfer ber rich⸗
tigen Methode auf dem Gebiet der philologifhen Kritik, fondern er
war aud in eminentem Maß mit all ben Gaben ausgeräftet, die
zu einer glüdlichen praftifden Anwendung jener Methode erfordert
werden. Erinnern wir uns nun, wie grundlich vachmann's Kennt
niffe im Altveutfhen ſchon am Begim umfrer Periode (1819)
waren und mit welcher Strenge gegen ſich felbft er nichtsdeftoweni ⸗
ger zu lernen fortfuhr, fo können wir uns denken, mit welder
Ueberlegenheit er den bloßen Dilettanten auf bem Gebiet bes Alt-
deutſchen gegenüberftand. Das Bewußtfein dieſer Weberlegenheit
fpricht ſich bei Lahımann in einer allerdings ſchroffen Weiſe aus,
aber es ift nicht feine Perfon, bie er dabei im Auge hat, fonbern
das Junutereſſe der Sade, die Gründung einer neuen Wiſſenſchaft.
Als er im J. 1820 feine Auswahl ans den Hochdeutſchen Dichtern
des dreigehnten Jahrhunderts herausgab, zog er die ſcharfe Gränze
zwiſchen unberufener Pfuſcherei und redlicher Forſchung. „Bollen
Unmwiſſende lehren“, jagt er in der Widmung an Benede '), „bie,
von michtiger Luſt angereizt, arbeitfheuen Liebhabereifer und wohl⸗
gemeinte, aber eitele und erfolglofe Betriebſamkeit fi als Verdienſt
anrechnen: die Verachtung ihrer Schüler ftürze fie, die jeto leicht
zu durchſchauen find, von dem Stuhle des Hochmuths. Wir haben
Urſach genug, endlih durch unverbroffene tüchtige Arbeit bie fo
lange und nicht mit Unrecht verweigerte Achtung ber Zeitgenofien
uns zu verdienen." Daß diefe Strenge nöthig und Heilfam war,
das erkennt man leicht, wenn man fieht, welche Dinge damals
mod, und felbft Jahre lang nad dem Erſcheinen ber Grimmſchen
1) Auswahl aus den Hochdeutſchen Dichtern des breigeßnten Jehrhun-
berts von K. Lachmann. Berlin 1820, ©. XXL
Die Mitforfher ber Brüder Grimm. 543
Grammatik, von viel genannten Männern zu Markte gebracht wur
den ). Doc wollen wir felbftverftändlic mit diefer Rechtfertigung
des großen Gelehrten nicht jedes feiner ſchroffen Urtheile gut-
heißen. — In jener Widmung feiner Auswahl (1820) entwidelt
Lachmann, wie auf dem Wege ftrenghiftoriiher Kritit von der
Screibung der Handihriften zum Text des Dichters zu gelangen
fü. Denn „die Dichter des dreizehnten Jahrhunderts vebeten, bis
auf wenig mundartliche Einzelheiten, ein beftimmtes unmandeldares
Hochdeutſch, während ungebildete Echreiber fih andere Formen
der gemeinen Sprache, theils ältere, theils verderbte, erlaubten“ 2).
Der Herausgeber foll ſich mit allen Rede- und Versgebräuchen
feines Dichters volllommen vertraut machen. Dann muß „aus
einer hinlänglichen Anzahl von Handſchriften, deren Verwandtſchaft
und Eigenthümlichkeiten der Kritiler genau erforſcht hat, ein Tert
fih ergeben, der im Kleinen und Großen dem urfprünglicen des
Dichters oder feines Schreibers jehr nah kommen wird“ 3). So
vorzüglih vachmann's „Auswahl* (1820) ihre Aufgabe Löfte, fo
war do „am ſtrengkritiſche Behandlung bei Auszügen aus fo viel
verſchiedenen Dichtern nicht zu denken“ *), um fo weniger, als auch
die nöthigen Hülfsmittel noch fehlten. Erſt fünf Jahre fpäter ver-
wirklichte Lachmann feine Anſprüche am die lritiſche Bearbeitung
eines mittelhochdeutſchen Werts in feiner Ausgabe von Hartmann’s
wein. In feiner am 31. März 1825 unterzeichneten Vorrede
durfte ex mit vollem Recht diefe Ausgabe den erften Verſuch nen-
nen, ein altdeutſches Gedicht Tritifch zu behandeln. Und es war ein
meifterhaft gelungener Verſuch, die Frucht von vachmann's viel-
jährigen einbringenben Forfhungen über den Sprachgebrauch und
1) BgL. Lachmann's Recenfion von Mone's 1821 erſchienenem Dtnit in
ber Jenaischen Allgem. Literatur - Zeitung, Jan. 1822, Sp. 97 — 124.
Bas dort Ep. 105 fg. zufammengeftellt wird, find night einzelne Verſehen,
fondern es if der Beweis vollſtändiget grammatiſchet und feritalif—er Unz
wiffengeit. Und wenn es fo bei einem durch mande fpätere Arbeit verbienten
dorſqhet beſtellt war, wie mag es ba erſt bei der großen Maffe der Mitfpreipen:
mollenden auögefegen haben! — 2) Auswahl, 1820, &. VIII. — 3) Ebend.
S. X. — 4) Ebend. ©. VII.
544 Viertes Bud. Zweites Kapitel,
bie Metrik ber mittelhochdeutſchen Dichter. Lachmann Hatte ih zur
Herausgabe bes Iwein mit feinem würbigen Lehrer VBenede ver
bunden. Während Lachmann bie kritiſche Herſtellung bes Tertes
beſorgte, fielen die erflärenden Anmerkungen überwiegend Benede
zu. Diefer hatte feit Herausgabe des Bonerius (1816) 1) nicht
geraftet, fondern durch eine Ausgabe von Wirnt's von Gravenberg
Wigalois mit Anmerkungen und Wörterbuch (1819) fi auf die
Arbeit am Iwein trefflich vorbereitet. Seine Erläuterungen zum
mein find wirklich mufterhaft und verdienen volllommen das Lob,
das Lachmann Benede ſpendet, daß er mit Sinn unb beſcheidener
Sorgfalt zuerft ein ganz neues Verftänbniß ber mittelhochdeutſchen
Boefie eröffnet habe ?). Später (1883) ließ Benede fein „Wörter
buch zu Hartmannes wein“ folgen, das ben Grund zur mittel
hochdentſchen Lexikographie Iegte, indem es nicht bloß einzelne ım-
verftänblic gewordene Wörter erklärte, fondern ben ganzen Sprach⸗
ſchatz des Gedichts in allen feinen Beziehungen wohlgeorbnet dar⸗
bot. Durch das Zuſammenwirken mit Beuece Hatte fih bie
Herausgabe bes wein bis zum Jahr 1827 verzögert 3). Das
ẽrſcheinen desſelben bildet für die Behanblung mittelhoibentider
Texte eine ähnliche Epode, wie Grimm's Grammatik für bie Er⸗
forkgung ber germaniſchen Sprachen überfaupt. Denn in ber
kritiſchen Herftellung altdeutiher Terte war Lachmann's methodiſch
geübter Scharffinn auch Grimm überlegen, und es ift ein erfrew
licher Anblid, wie die beiden bebentenden Männer ihre verſchiedenarti ⸗
gen Borzüge wechſelſeitig anerfennen und fi einander unterftägen.
„Sole ausführlige und rüchhaltsloſe Mittheilungen, als mir fur
mann gemacht hat, jagt Grimm (1822) in der Vorrede zur zweiten
Ausgabe der Grammatik 4), muß man an fi erfahren haben, um
ihren Werth zu begreifen, denn fie belehren, treiben am und ftören
doch nicht das zur Arbeit nöthige innere Gefammeltjein, fondern
man meint, buch fich ſelbſt fortzulernen.” „Er war zum Heraus
1) 6. 0. ©. 456. — 2) Iwein (2) 1848, Vorr. 8 II. — 9m
3. 1848 etſchien eine neue ſehr vervollfommnete Ausgabe, 1868 eine britte. —
4) 8. XIX.
Die Mitſorſcher der Brüder Grimm. 545
geber geboren, jagt Grimm (1851) in feiner Rede auf Lachmann 1),
feines Gleichen hat Deutſchland in biefem Jahrhundert noch nicht
gefeßn.” Und wiederum, mit welder Beſcheidenheit ſpricht Lad
mann von Grimm’ Grammatik. „Uns ift die Dreiftigfeit under
greiflich, fagt er (1822) in der Necenfion von Mone's Otnit, daß
einer jet, ohne Neues und Wichtiges vorzubringen, deutſche Gram⸗
matif lehrt, jegt, da wir eben die zweite Ausgabe bes Grimmi⸗
{hen Werls erwarten, bie uns alle zur Sam bringen wird über
unfere Unwiſſenheit“ ). Und ein anderes mal (1827). erklärt er,
welchen Gewinn er für feine Tertbehandlung aus „I. Grimm’s
neuen und nod immer wunderbar ſcheinenden Entbefungen“ gez0-
gen Babe °).
Auf den Iwein folgte noch in bemjelben Jahr (1827) eine
andere bahnbrechende Arbeit vLachmann's, feine Ausgabe des Wal,
ter von ber Vogelweide. Es gehörte mit nur Lachmann's kriti⸗
fer Scharffinn, fondern auch fein eindringendes Studium ber
mittelhochdeutſchen Dichter in allen Eigenthumlichteiten der Sprache
und ber Metrik dazu, um „den reichſten und vielfeitigften unter den
Xieberbihtern bes breigehnten Jahrhunderts in würdiger Geftalt
wieber erſcheinen zu laffen“ ). Lachmann widmete fi diefer Ar-
beit mit beionderer Freudigleit. „Uhland's eben ſo lebendige als
genaue Schilderung Walther’s (1822) Hatte die Aufmerfamfeit der
Empfängligen auf s neue geweckt“ 4); Benede, I. u. W. Grimm
und Uhland fürderten das Unternehmen auf jede Weiſe; und was
Lachmann ſchon bei diefer erften Ausgabe hatte thun wollen 5), das
führte er bei der zweiten (1848) aus: Er widmete fie „Lubwig
Upland zum Dank für deutſche Gefinnung, Poeſie und Forſchung.“
Schon das nahe Verhältniß zu Uhland würde hinreichend beweifen,
wie fehr man Lachmann verkennt, wern man ihn für einen bloßen
1) Berlin 1851, 8. 16. — Vgl. auf Grimm’s Witmung des Reinhart
Fuße an Lachmann. — 2) Jen. Allg. Literatur - Zeitung, 1822, Jan.
Sp. 106. — 3) ort. zum Walther 1827, 8, I. — 4) Sahmann’s
Bort, zum Walıher 1827, S. II. — 5) S. Lahmann’s Brief an Uhland
vom 4. Rov. 1843 in: Ludwig Uhland. Eine Gabe für freunde. Zum
26. April 1865. ©: 314.
Raumer, Seid. der germ. Philologie. 35
546 Viertes Bud. Zweites Kapitel
Verſtandesmenſchen Hält. So ſehr auch bie kritiſche Schärfe des
Verſtandes das Hervorſtechende feines Weſens war, fo beſaß er
doch zugleich einen feinen Sinn für Poefie. Dies ſpricht fih aus
in ber treffenden Charakteriftif der mittelhochdeutſchen Dichter, die
er in feiner Auswahl (1820) 9) gibt, in feiner Schilderung des
bingebenben „einfach wahren und unſchuldigen Verftänbnifles‘ der
Boefie (1843) 2), in feiner Vorrede zum Walther und vor allem
in feiner begeifterten Verehrung Wolfram’s von Eſchenbach. Dieſem
tieffinnigen und ſchwierigen Dichter waren Lachmann's nächſte Be
mühungen gewidmet. Schon in ber Auswahl (1820) hatte er
feine Bewunderung für ihn ausgefproden. Nach langen und gründ⸗
lien Vorarbeiten gab er 1833 Wolfram’3 Werke heraus: Den
Barzival, den Willehalm, die Lieder und die Mündener Bruchſtüce
des Titurel. Denn daß nur diefe, nicht aber ber jüngere Titel,
Wolfram's Werk feien, hatte Lahmann ſchon (1820) in der Aus
wahl geäußert, und in der Vorrede zu ſeinem Wolfram legt er es
näher dar. Durch Lachmann's Ausgabe ift Wolfram von Eſchen⸗
bach eigentlich erft zugänglich geworden. Denn fie gibt gegenüber
den äußerſt mangelhaften Myller'ſchen und Caſparſon'ſchen Duden’)
nicht nur einen kritiſchen, fondern überhaupt erjt einen lesbaren
Text. Mit vollendeter Meiſterſchaft verfolgt Lachmann hier fein
Biel, „daß uns möglich gemacht werben follte, Eſchenbach's Gedichte
fo zu leſen, wie fie ein guter Vorleſer im der gebilbetften Gefell-
ſchaft des dreigehnten Jahrhunderts aus der beften Handſchriſt vor-
getragen hätte“ 4). Erklärende Anmerkungen hat Lachmann feiner
tritiſchen Herftellung des Textes nicht beigegeben, obwohl er fie für
die Zukunft keineswegs verrebet 5). Nichtsdeſtoweniger hat er auf
für die Erleichterung des Verſtändniſſes ungemein viel geleiſtet
Seine wohldurchdachte Interpunktion bildet eine fortlaufende Er⸗
läuterung, bie ten Lefer ganz unvermerkt über eine Unmaffe von
Schwierigkeiten hinweghebt.
1) Widmung an Benede ©. III fg. — 2) Vorr. zur 2ien Ausgabe
des Iwein ©. III fg. — 3) ©. o. ©. 260. 263. — 4) Lachmann's Bor:
rede zum Wolfram, 1833, S. VI. — 5) Ebend. ©. XI.
Die Mitferjher ber Brüder Grimm. 547
Eine Frucht von Lachmann's eindringendem Studium der alte
und mittelhochdeutſchen Dichter und zugleich wieber die Grundlage
feiner Zeitifchen Tertausgaben waren feine Entdeckungen auf dem
Gebiet der altdentſchen Metril. Er berichtet ums ſelbſt über den
Gang feiner Studien: „Im Februar 1818 begann ih ein um⸗
faſſendes Reimwörterbuch über ben größten Theil der erhaltenen
erzaͤhlenden Gedichte und Lieder anzulegen, wodurd ich das Regel⸗
tete in den Wortformen und ihrer Quantität, nebft dem Eigen⸗
thümlichen vieler einzelnen Mundarten und Dichter, genau kennen
Iernte. Im Winter 1823 und 24 ward die althochdeutſche Vers⸗
hunft mit Aufzählung aller Beiipiele bis in’s Kleinſte vollftändig
ewörtert, babei die Umbildung oder Verfeinerung ber gefundenen
Regeln in ben Werfen der forgfältigften Dichter des breigehnten
Jahrhunderts erforſcht· 1). Don feinen Eutdeckungen, bie ſich
natürlich durch feine kritiſchen Arbeiten forticreitend erweiterten
amd vertieften, hat Lachmann nur einen Theil im Zufammenhang
veröffentlicht in feiner grundlegenden Abhandlung „Ueber althod-
deutſche Betonung und Verskunſt“, (gelefen in der Berliner Ala-
demie dev Wiſſenſchaften 1831 und 82, herausgegeben im deren
Abhandlungen 1834). Das Uebrige findet fid teils in den An⸗
merbungen zu Lachmann's Tertausgaben zerftvent, theils hat er es
my mündlih in feinen Collegien vorgetragen 2). Den Kern der
altdeutſchen Metrik faßt Lachmann in die Worte zufammen: „Der
deutſche Vers, beſonders der ältere, bis gegen das ſechzehnte Jahre
fundert, wo die romaniſche Form überwiegt, hat eine beftimmte Zahl
düße, das heißt Hebungen, bie in höher betonten Silben beftehn als
je bie nachfolgende Senkung; und die Sentungen vor ober zwiſchen den
Hebungen dürfen auch ganz fehlen. Die Eigenthümlichleit aber ber
alt- und mittelhochdeutſchen Verſe beſteht num in zweierlei: 1) We
zwiſchen zwei Hebungen bie Senfung fehlt, muß die Silbe lang
fein dur; Vocal oder Confonanten. Und zu diefem durchbrechen⸗
den Princip der Quantität kommt 2) die rhythmiſche Beſchränkuug,
1) Iwein (2) 1843, 8. 360. — 2) ©. Lachmann’s mittelhoch-
deutsche Metrik in Pfeiffer's Germania 1857, 8. 105 fg.
35°
548 Biertes Bud. Zweites Kapitel,
daß mur der Auftakt allenfalls mehrere Silben zuläßt; bie übrigen
Senkungen dürfen nur einſilbig fein“ 1). Bon dieſer einfachen
Grundlage aus entwidelte Lachmann die Geſetze der alt- und mit,
telhochdeutſchen Metrit für die verſchiedenen Zeiträume und für die
bebeutendften Dichter bis in's Gingzelnfte Binein, und wo man
früher nur voße Willie gefefen Hatte, da zeigte ſich eine Feinhen
und Gefegmäßigleit bes Versbaus, an welche die Boefie der neue
ven Jahrhunderte kaum hinanreicht.
Abfichtlich Haben wir bis hieher eine Thätigfeit Lachmann's
verfpart, bie fi durch fein ganzes gelehrtes Leben Kinburdgieht:
feine Arbeiten über die Nibelungen. Gleich fein erftes Auftreten
bezeichnete Lachmann durch feine berühmte Schrift: Ueber die urfpäng-
Vie Geſtalt des Gedichts von ber Nibelungen Noth, Berlin 1816.
Die Wolfifgen Forſchungen über bie urfpränglige Geftalt ber
Homerifchen Gefänge Teiteten Lachmann auf eine gleiche Unterfuhung
bes Gedicht3 von den Nibelungen. Ich glaube nämlich, fagt er
im Eingang feiner Schrift, und werde in bem Folgenden zu ber
weifen ſuchen, daß umfer jo genanntes Nibelungenlieb, oder beftinm-
ter, bie @eftalt desſelben, in ber wir es, aus dem Anfange des
breizehnten Jahrhunderts ung überliefert, leſen, aus einer noch
jest erfennbaren Zufammenfegung einzelner romanzenartiger Lieder
entftanden fei” 2). Wir befigen belanntlich außer unferem ftropfir
fen Nibelungenlied 3) ein zweites nah mit ihm verwandte Ge
dicht in höfiſchen Reimpaaren: die Klage. Aus der Vergleichung
dieſes Gedichts mit ber zweiten Hälfte der Niehelungen „ergibt fih,
wie es Lachmann ſcheint, fehr beftimmt, daß ber Werfafler der
Klage viele von ben Liedern der legten Hälfte unferer Nibelungen
in einer, dem Inhalte nad wenigftens, im Ganzen nur felten ab
weichenden, bald.mehr, bald weniger vollſtändigen Geftalt vor fih
1) Lachmann, Ueber althochdeutsche Betonung und Verskunst
(1831), Historisch-Philologische Abhandlungen der k. Akad. der
Wissenschaften zu Berlin 1834. 8. 235. — 2) Lachmann, Ueber bie ur:
fprüngt, Geſtalt u. ſ. w. S. 3 fg. — 3) Ih bediene mid der allgemein
üblichen Benennung unferes Gedichts, ohne damit ber Unterfudhung irgendwie
"vorgreifen zu wollen.
Die Witforfher der Brüder Grimm. 549
hatte, Hingegen einige andere auch wieder gar nicht kannte“ 1). Da
wir für die erfte Hälfte ber Nibelungen fein anderes Gedicht be⸗
fiten, das in fo nahem Verhältniß zu diefem Theile ftände, wie
die Mage zu dem zweiten, fo muß bie Unterfuhung bier in ans
derer Weife geführt werden. Erſtens aber zeigt fi im erften
Tpeil der Nibelungen „überall weniger Ausgebildetes und ein
firengeres Beibehalten der alten Form; weshalb in diefem Theile
auch auf anfdeinend Meine Punkte weit mehr gebaut und vielleicht
fogar noch mehr in's Einzelne gehende Refultate, als in der zweiten
Hälfte des Gebichts, können gewormen werden“ 2). Und zweitens
lommt uns bier ein äußeres Zeugniß fehr glüdlih zu Statten.
Ich meine, fagt Lachmann, die jegt in Münden befindliche zweite
Hohenemfer Handſchrift des Liedes, deren Vergleihung auch in ber
zweiten Hälfte, wo ihre Lesarten noch unbefannt find, vielleicht
eine neue Seite fir unfere Unterfuhung darbieten möchte. Es ift
ausgemacht, daß die erfte Hohenemfer Handſchrift das Gedicht in
einer augenfcheinlich fpäteren, befonders in vielen Punkten gemil-
derten Weberarbeitung liefert. Und wenn ich nun fage, daß, wie
diefe Handſchrift eine fpätere, fo die andere eine frühere Necenfion
umferes Liedes enthalte, das in der Sanct-Galliihen, mag die
Handſchrift ſelbſt jünger oder älter, als die zweite Hohenemfer fein,
in der höchſten Blüthe fteht und den Grad der Vollkommenheit,
den gerade jenes Beitalter der damaligen Geftalt des Liedes geben
lonnte, erreicht Kat: fo foll das, denke ih, niemand wundern, der
bei der Vergleichung beider in den mannigfaltigen Wenderungen
und Zufägen der Sanct- Galler Handſchrift eine meiftentheils ab-
ſichtliche Tünftlihe weitere Ausbildung der noch weniger glatten und
geſchmücten Form in der anderen erfannt hat“ ). Mit dem, was
1) Sahmann a. a. D. ©. 59. — 2) Ebenb. ©. 67 fg. — 3) Ebend.
©. 68. Zur Erläuterung obiger Stelle bemerfe ih, daß bie „zweite Hohen
emſer Hanbfcprift“ die nachmals von Lachmann Burg A bezeichneie ift, von
welcher Damals nur ber durch Myller (1782) veröffentlichte erſte Theil Lade
mann zu Gebote ftand. Dagegen ift „bie erſte Hohenemfer Hanbferift" Lach:
mann's C.
850 Viertes Bud. Zweites Kapitel.
uns fo bie äußeren Gründe an die Hand geben, ſtimmen nad
Lahınann in überraſchender Weife auch die inneren. „Dabei ift
‚ nun aber, fährt er an ber obigen Stelle fort, jehr auffallend und
bemertenswerth, daß man keineswegs überall in der Sanct-Baller
Hanbirift, fondern nur in einigen Aventüren fehr viele, in an-
deren nur wenige und in manchen gar Zeine neuen Strophen findet;
woraus denn doch zum allerwenigiten erhellt, daß ber geſchidte
Urheber der Sanct ⸗Galler Recenſion einen Unterſchied zwiſchen je
nen Liedern bemerkte, von denen er einige vieler Veränderungen
und Zufäge, andere nur einer geringen Nachhülfe bedürftig glaubte.
Wenn nun gerade diefelben Lieder auch an anderen Kennzeichen
mit denen Inhalt oder Darftellung behaftet wären, ſich von den
übrigen verſchieden zeigten, fo möchte fih auch daraus Mandes
für die weitere Erörterung unferer Frage ergeben. Es fei erlaubt,
bier in voraus das Reſultat anzuzeigen, daß gerade in ben Liedern,
welde in der Sanct⸗ Galler Recenfion feinen bebeutenden neuen
Zuwachs erhalten Haben, fih am Häufigften die Hand bes früheren
Orbners, deſſen Arbeit uns das Hohenemſer Manuffript Iiefert,
zu eriennen iſt), und baf insbefondere, um glei etwas ganz
Einzelnes anzuführen, alle Strophen mit inneren Reimen theils
dem Orbner, teils dem Sanct- Galler Berbefferer, aber nie ber
urſprünglichen Geftalt ımferer Lieder angehören" 2). Durch Nah
weifung eingefobener Steffen, fo wie mamigfacher Widerſprüche
und Unebenheiten im Innern des Gedichts ſucht Lachmann feine
Anſicht zu erhärten. Aber, ſagt er ſchließlich, „auf vollſtändige
Nachweiſung der Veränderungen jedes Liedes machen wir feinen
Anſpruch, deren man ſich ſelbſt dann noch nicht vergemiffert halten
bürfte, wenn auch alle erkennbaren Wenderungen genau und voll.
ftändig gezeigt wären“ 3). Endlich berührt Lachmann nod die
Frage, „ob bei der Zuſammenfügung unferer wie der Homeriſchen
Lieder die Diaffeuaften Zufammendang und Folge nad einem vor-
handenen, wenn auch kürzeren Gedichte, das aber den ganzen Ju⸗
halt der Geſchichte befaßte, oder nur nad; Anleitung der Sage ber
1) 2ies: gibt. — 2) Ebend. ©. 69. — 3) ©. 84.
Die Mitforfeher der Vrüber Grimm. 551
ſtimmten.“ Er beantwortet fie dahin, die Kritik werde ſich ver-
bunden Halten, „deutlich und beftimmt zu erklären, daß jene Frage
jegt durchaus Feiner Löſung mehr fähig ſei“ 1). Seine Anficht über
das Verhältniß unferes Epos zu Einem Dichter, faßt Lachmann
zum Schluß feiner Schrift in die Worte zufammen: „Bei den
mannigfaltigverfchiebenen Verbindungen, in die einzelne Theile un-
ferer Nibelungengeſchichte in anderen und anderen Geftalten der
Sage geſetzt worden find, muß man enblih ben, welcher Kriem-
hildens Nahe an Siegfried’ 3 Ermordung dur Hagen und ihren
Bruder Günther gehrüpft, für den eigentlißen Dichter des beut-
ſchen Epos erflären. Wenn aber gefragt wird, mit was jedem
wahrſcheinlich důnke, fondern was ſich ftreng erweifen laffe, wer
will dann zu beftimmen wagen, ob fi in einem einzelnen größeren
Gedichte, oder nur in der Sage, wenn auch nur eines Theiles von
Deutſchland, die weniger bei jener Verbindung weſentlichen Um⸗
ftände zufammengefunden und in biefem Sinne, nah Grimm’s
freilich ſehr wunderlichem Ausbrude, das Nibelungenlied fi unbe⸗
wußt felber gebichtet Habe, oder von Einem Dichter geſchaffen fet?
Ehen fo wenig mag es aber auszumachen fein, ob bie Homeriſchen
Lieber nach einem urſprünglichen Gedichte geordnet, ja vielleicht
möglicher Weife zum Theil als Abſchnitte eines Jedermann be
fannten größeren Gedichts gefungen feien, oder ob die einfache Fa-
bel der Odyſſee und bie nicht mehr zufammengefegte der Ilias nur
dureh die Sage ſich neben ben einzelnen Liedern erhalten habe. Wir
wollen die Völler glücklich preifen, in denen Sage und Vollsge⸗
fang ſich zu ſolchen großen poetiſchen Bildungen geftalteten, und
den Dichtern danken, die ben Zorn des Adilles und Odyſſeus
Rüdtehr, und den tragiſchen Wechſel von Freude und Leid in Kriem⸗
hildens Gedichte, in fo herrlichen Werken verewigten, daß noch
fpäte Jahrhunderte fi an ihnen erfreuen und fräftigen mögen“ 2).
Diefe erfte Schrift Lachmann's legt den Grund zu alle feinen wei-
teren Unterfuhungen über die Nibelungen. Noch aber fpriät er
ih Hier in Bezug auf die wirkliche Zerlegung des Gedichts in ein-
6.89. — 26.871.
562 Biertes Buch, Zweites Kapitel.
zelne Sieber und deren Ausführbarkeit nicht entſchieden ans, laßt
aud das Ganze als ſolches in feiner Größe beſtehen. Mit ber
Zeit aber glaubte fi) Lachmann durch feine wachſende Kenntniß der
mittelhochdeutſchen Poefie und insbeſondere ifrer Metik, fo wie
durch eine genaue Vergleichung ber Hohenems - Münchener Hand-
ſchrift (A) der Nibelungen in den Stand gejet, bie Herſiellung
der alten Vollslieder, aus deren Sammlung und Weberarbeitung
unfer Gedicht entftanden fei, zu unternehmen. Im J. 1826 gab
er auf Grund der Hohenems-Miündener Handſchrift (A) Heraus:
der Nibelunge Not mit der Klage in der Alteften Geſtalt mit ben
Abweichungen ber gemeinen Lesart. Im J. 1886 ließ er feinen
tritiſchen Commentar „Zu ben Nibelungen und zur Klage“ folgen,
worin er bie Zerlegung des Gedichts durchführte. In der zweiten
Ausgabe feiner Nibelunge Noth (1841) machte er dann die ange
nommenen urjprünglichen Lieder und beren Fortfegungen, fo wie
bie eingefgobenen Strophen, theils durch verfiebenen Drud, theils
durch kritiſche Zeigen kenntlich ). Das Ergebniß Lachmann's war
folgendes · Die Hofenems-Dündener Handſqhrift (A) „fteft allein
allen übrigen Handſchriften mit dem offenbar älteren Text entge
gen“ 2). „Jedes Wort, das nicht in A fteht, hat feine größere
Beglaubigung als eine Conjectur“ 9). Diefer ältefte handſchriftlich
aufbewahrte Tert hat dann eine erweiternbe und ausglättenbe Ueber⸗
arbeitung erfahren, bie uns in ber St. Galler Handſchrift (B)
vorliegt, und eine zweite, welde die Hohenems ⸗ Laßbergſche Hanb-
ſchrift (C) bietet. Das Zerriffene und öfters Unzuſammenhängende
in dem Zert der Handſchrift A rührt chen daher, daß hier noch
nicht fo viel geſchehen ift, um bie urfprünglichen Lieber in Zuſam⸗
menbang zu bringen, wie in B und C. ben deshalb bietet A
eine fo gute Handhabe, um die Nähte der alten Lieder zu erlennen.
Natürlich aber erhalten dieſe äuferliien Anhaltspunkte erſt ifre
wahre Bedeutung durch bie innere Kritik, bie ſich ſowohl auf ben
D 4. Ausg. (6. Abdr. des Textes) 1867. — 2) Der Nibelange
not, her. von Lachmann, Berlin 1826, Vorr. 8. VL — 3) Ei.
6. vl.
Die Mitforfeher ber Brüder Grimm, 553
Inbalt, als auf die Form der einzelnen Strophen zu richten hat.
Mit Hülfe aller diefer Mittel ſchält Luhmann zwanzig urfprüng-
liche Bolfslieder aus unſerem Gedicht heraus, von denen zwei ohne
ihren Anfang uns überliefert find. Dieje Lieber haben ſchon, be
dor fie aufgefhrieben wurben, mannigfache Zufäge erhalten, zwi»
fen den Jahren 1190 und 1210 aber hatten fie die Geſtalt, wie
wir fie in unferem Gedicht lefen‘). Um das Jahr 12102) Kat
dann ein „Anorbner“ 3) diefe Vollslieder gefammelt ımd fie durch
nhlreiche Hinzugefügte Strophen zu dem Ganzen verbunden, das
wir in Handſchrift A vor uns haben. Dies find die Grundlagen
von Lachmann's Kritik der Nibelungen, wie er fie feldft öffentlich
ausgeſprochen hat. Wir werben fpäter fehen, daß erft nad Lach⸗
mann’8 Tode noch ein weiteres nicht unwichtiges Moment feiner
Nidelungenkritit zum Vorſchein kam. Hier wollen wir nur no
erwähnen, daß mit ben befprodenen Arbeiten Lachmann's noch
zwei andere in naher Beziehung ftehen. Erſtens nämlich feine Ab⸗
handlung: „Kritit der Sage von den Nibelungen“, die 1829 in
Niebuhr's Rheiniſchem Muſeum für Philologie erſchien 1). Lach⸗
mann ſondert hier die verſchiedenen Beſtandtheile der Sage und
gelangt zu dem Ergebniß, daß Siegfried urſprünglich ein Götter⸗
wefen war, und zwar benft man bei ihm natürlich fogleih an ben
nordifhen Baldur. Doc) foll diefe Vergleichung „feine rohe Iden⸗
tification” fein®). Die zweite hieher gehörige Abhandlung ift die
von Lachmann 1883 in der Berliner Akademie gelefene über Singen
und Sagen °). Strophifie Ditungen wurden urſprünglich gejun-
gen. „Hingegen hırze Meimpaare ohne ſtrophiſche Abtheilung find
ganz fiher im 12. und 13. Jahrhundert nur gejagt und gelejen“ 7).
„Höchſt mertwürbig ift aber, daß in ben ausgebilbetften Darftellun
gen deutſcher Sagen in ſtrophiſcher Form, in den Nibelungen und
1) Zu den Nib. 1836, 8. 8. 5. 6. — 2) Eben. &. 1. — 3) Ebend.
©. 5. — 4) Wieder abgebrudt bei Lachmann: Zu den Nibelungen 1836,
8. 383 fg. — 5) Ebend. ©. 344. — 6) In ten Historisch-philol. Ab-
bandlungen der K. Akad. der Wiss. zu Berlin. Aus dem J. 1833.
Berlin 1835. 8. 105 fg. — 7) Ebend. S. 109.
554 Biertes Bud. Zweites Kapitel.
im Alphart, in Kudrun, nur das Sagen und durchaus Fein Sin⸗
gen vorkommt" 1). Wir müſſen deshalb in ber Blüthezeit ber höfi-
ſchen Poefie ‚auch in dem Vortrage der (ſtrophiſch voltsthünlicen)
erzählenden Gedichte eine der höfiſchen Bildung entſprechende Ber-
änderung annehmen, daß fie nämlih nun mehr geſagt und vorge⸗
leſen als gefungen und vermuthlich richt einmal vorzugsweiſe von
den Fahrenden vorgetragen wurden“ 2).
Außer den beſprochenen haben wir noch zwei werthvolle kriti⸗
ſche Arbeiten Lachmann's zu berühren: feine Ausgabe des Ulrich
von Lichtenſtein (1841), zu welder Theodor von Karajan erflür
ende Anmerkungen lieferte, und feine Abhandlung über brei Brud-
ftücte niederrheiniſcher Gedichte (1836) 3). So überwiegend Lad
mann’3 Arbeiten dem Gebiete der Kritit angehören, fo war er doch
nicht minder au ein Meifter auf bem der Gxegefe. Er bewies
dies in den zahlreichen erflärenden Bemerkungen, die ex feinen kri⸗
tiſchen Commentaren einfügte, im&befondere aber durch feine vor
teefflihen Abhandlungen über das Hildebrandslied (1833) +) und
über ben Eingang des Parzivals (1835) 5).
Wie den Werten ber älteren deutſchen Literatur, fo wandte
Lachmann gegen das Ende feiner Laufbahn auch denen der neueren
feine kritiſche Thätigleit zu. Von ben Berlegern aufgefordert über-
nahm er im J. 1887 „bie Durchſicht und Herausgabe ber ſammt⸗
lichen Leſſingſchen Werke‘ %). Er fah aber dieſe Aufgbe nicht als
eine bloß untergeorbnete Lohnarbeit an, wie bies bis dahin ge
wöhnlich geſchehen war, ſondern er ſetzte ſich eime kritiſche Textaus⸗
gabe ſeines Autors zum Ziel. Zu dieſem Behuf brachte er erſtens
eine zwedmäßige Anordnung in das Chaos ber früheren Ausgaben
von Leſſing's Werfen, und zweitens legte er den Texten bie Origi⸗
1) Ebend. S. 111. — 2) Ebend. ©. 114. — 3) Philos.-hist, Ab-
handlungen der K. Akad. der Wiss. zu Berlin. Aus dem J. 1886,
Berlin 1838. — 4) Hist-philol Abhandlungen der K. Akad. der
Wiss. zu Berlin. Aus dem J. 1833. Berlin 1835, 8. 198 fg. —
5) @benb. aus bem 9. 1885, Berlin 1887, 8. 227 fg. — 6) Beris,
Lachmann, 8. 168.
Die Mitforfer der Brüber Grimm. 555
nalbrude zu Grunde und verfah fie mit den nöthigen kritiſchen
Bernertungen 1). In den Jahren 1838 bis 1840 erſchienen auf
diefe Weife „Leffings ſämmtliche Schriften herausgegeben von Karl
Lachmann.“ So hat Lachmann au auf diefem Gebiet, deſſen
Wichtigkeit ſeitdem immer mehr zur Anerfennung gelommen ift, die
Bahn gebroden.
2. Iohann Andreas Schmeller.
Es war ein überaus glüdliches Zufammentreffen der Umftände,
daß Grimm's Forſchung, wie fie durh Lachmann's philologifchen
Scharfſinn eine wejentlige Ergänzung in Betreff der Textkritik ge-
wann, gleichzeitig auch noch von einer anderen fehr wichtigen Seite,
nämli in Bezug auf die Unterfugung der Vollsmundarten, eine
wahrhaft epochemachende Bereicherung erhielt. Aus ganz anderen
Berhältnijfen heraus und von einem anderen Ausgangspunkt,
als % Grimm, Hatte Johann Andreas Schmeller
die Erforſchung feiner heimatlihen Mundart begonnen. Geboren
zu Tirſchenreuth in der Oberpfalz am 6. Auguſt 1785 als
der Sohn eines braven, aber armen Korbflehters, wuchs Schmel-
ler auf in dem Dörfhen Rimberg nörblih von Pfaffenhofen
in Altbayern. Dahin nämlich war der Vater ſchon im zweiten
Lebensjahr des ‚Knaben übergefiedelt. Da keine Schule in dem
Heinen Orte war, fo unterrichtete der Vater ſelbſt neben feiner
Arbeit den Sohn im Lejen, Schreiben und Rechnen. Bald aber
nahm fi der treffliche Pfarrer des benachbarten Dorfes Rohr, .
Anton Nagel, des Knaben an und verfhaffte ihm die Aufnahme
unter die Schüler des Kloſters Scheiern. Hier lernte Schmeller
die erften Elemente des Lateins; aber bei dem Einbrud der Fran⸗
zofen im J. 1796 zerftreuten fi die Schüler, und als nad dem
Borüberziehen des Triegerifhen Unwetters das Seminar wieber er»
öffnet wurde, nahın der Abt bes Klofters trotz der heißeften Bitten
Schmeller nit wieder auf. Doch fein Vater verzichtete nicht auf
die Hoffnung, den Sohn einmal als Geiftlihen zu jehen. Mit
1) ©. Lachmann's Selbſtanzeige bei Hertz, Lachmann, Beil. B, 8.
XV fg.
556 Viertes Bud. Zweites Kapitel,
Mühe brachte er die nothbürftigften Mittel zuſammen, um ihn
(1797—99) auf dem Gymnaſium in Ingolſtadt zu erhalten. Sm
%. 1799 gieng ber junge Schmeller nad Münden und vollendete
dort auf Gymnaſium umd Lyceum bie allgemein bildenden Studien,
indem er fi feinen Unterhalt in angeftvengter Thätigfeit durch Pri⸗
vatunterricht erwarb. Es war die Zeit, in welder der allgemeine
Umſchwung der Gelfter auch nad Althayern einzubringen begann
Schmeller’s ftrengem Wahrheitsfinn widerftrehte es, einen Beruf
zu ergreifen, dem er fi nicht mit voller Ueberzeugung Hätte, wid-
men lönnen. Er gab deshalb den Gebanten, Priefter zu werden,
auf. Aber während er nad einem anderen Lebensberuf fuchte, be⸗
gann er an aller Bücherweisheit irre zu werben. Es ſchien ihm,
als werde er nur in bem einfachen Beruf des Landmanns Ruhe
und- Befriedigung finden. So gieng der gründlich gebildete abfol-
“ vierte Lyceift (1808) in fein väterlihes Dorf, um Bauer zu wer-
den. Allein bald zeigte fi, daß er ber geiftigen Beſchränkung fo
enger Berhältniffe entwachfen war. In feiner ländlichen Zurüdge
zogenheit ſchrieb er eine Abhandlung „Über bie naturgemäßefte Art,
Kinder, die eine von der Schriftſprache abweichende Mundart rer
den, im Schreiben und Lefen zu unterweifen.“ Schon von ben
Knabenjahren an Hatte er das Unterrichten praktiſch geübt; als
Schüler des edlen Cajetan Weiller auf dem Lyceum zu Münden
hatte er bie hohe Bedeutung bes Erzieherberufs würdigen lernen;
fo erfannte er nun feine Rebensaufgabe darin, Xehrer und zwar
vorzugsweiſe Lehrer der Mutterſprache zu werben. Er machte ſich
auf und wanderte (1804) in bie Schweiz zu Peſtalozzi, dem großen
Neformator des Erziehungsweſens. Bei diefem, der eben im Be
geiff war, von Burgdorf nach Münchenbuchſee zu ziehen, fand er
jebod feine Verwendung, und als auch verſchiedene andere Verſuche,
eine Stelle als Lehrer zu finden, fehlſchlugen, ließ er fid für ein
ſolothurniſches Megiment in ſpaniſchen Dienften anwerben. Faſt
zwei Jahre Hatte er fo, erſt als Gemeiner, dann als Corporal, in
Tarragona zugebradit, als eine günftige Wendung feines Geſchices
eintrat. Einer ber Offiziere des Regiments, ber Hauptmann Boitel,
Tieß ſich von dem jungen Gorporal Unterricht im Engliſchen erthei⸗
Die Witforfer der Gräber Grimm. 557
len und war nicht wenig übervafcht, einen ebenfo begeifterten Ber-
ehrer der Peſtalozzi ſchen Methode in ihm Tennen zu lernen, wie
er jelöft war. Bald wurden die beiden Männer nah befreundet.
Boitel verſchaffte Schmeller zunächſt eine Verwendung an der Ne
gimentsſchule zu Tarragona, und als Kurze Zeit darauf eine könig⸗
liche Probeſchule nad; Peſtalozzi ſchen Grundfägen in Madrid er-
richtet werben ſollte, da wurde Hauptmann Voitel zu ihrem Dir
sector und Schmeller (17. Rov. 1806) zu deſſen erftem Gehülfen
ernannt. Schmeller hatte bier außer ber ſpaniſchen Sprade, bie
er fih während feines Aufenthalts in Tarragona volllommen an-
geeignet Hatte, aud das Franzöſiſche, Engliſche und Deutſche zu
kehren. Die Anftalt nahm einen glänzenden Aufiäwung; allein der
Beginn der fpanifgen Unruhen hatte (1808) ihre Auflöfung zur
Folge. Schmeller, ber. ſchon 1807 feinen Abſchied als Soldat er-
halten Hatte, gieng (1808) nad) Yverbon zu Peſtalozzi und grün
dete Bald darauf in Verbindung mit feinem Freunde Samuel Hopf
eine Privatlehranftalt zu Baſel, die bis zum J. 1813 beſtand.
Us Schmeller (Der. 1818) nad; Bayern zurüdlehete, war bies
vor hurzem durch den Wieder Vertrag ber deutſchen Sache beigetre-
tem. Schmeller beſchloß, feine Kräfte der Vertheidigung des Bater-
Iandes zu weihen. Am 20. San. 1814 wurde er zum Oberlieute-
nant im freiwilligen Jägerbataillon des Illerkreiſes ernannt. Ber
vor er einrückte, befuchte Schmeller noch einmal feine Eltern. „Es
war feine Bahn von Gundamsried nach Rimberg“, ſchreibt er in
feinem Tagebuch vom 8. Jan. 1814, „der nach zehn Jahren Wie
derlehrende brüdte bie erften Fußſtapfen in den Schnee. Alles ſchien
mir bebeutungsvoll ein jeltenes himmliſches Feſt zu feiern. Am
fteilen Pfad, wo ich einft die von Nagel geliehenen Dichter leſend
gegangen war, wo id} beim Scheiven vor zehn Jahren im tiefiten
Behmutgegefühl ſaß, fand ich wieder fill. Die Schweiz und
Spanien, Tarragona und Voitel, Madrid und Anduja Tagen zwi
fen damals und jest. Ich gieng nach Rimberg heim und ftatt
in Ried ober Pfaffenhofen, war ich in Tarragona, Madrid und
Bafel geweſen. — O unbeichreißbares Gefühl! — Ich ſah hinab
auf die wohlbelannten lieblichen Hütten — noch ftanden fie alle,
558 Viertes Bud. Zweites Kapitel.
wie einft. Hinauf, Hinein, mit pochendem Herzen gellopft. — G
iſt zu; durch's Senfterhen geſehen, — es ift niemand darin. Um
das Häuschen herum — eine entblätterte Rebe bekleidet bie Of
feite, hinten ift eine mir neue Thür, ein neues Gemüßgärthen,
der Stall voll Thierftimmen, wohl mit Stroh verwahrt. Die
Nachbarin kommt, kennt mich, fagt, die Eltern feien nach Rohrbach
auf ber erften Meſſe (Primiz). — Auf der eriten Meſſe! Gerade
an biefem Tage meiner Zurüdtunftl Schmerzenvoll werden fie
denken, wenn unfer Sohn nidt ein ungerathener wäre, fo hätten
wir dieſe Freude auch an ihm erleben können. — Bei der Nad-
barin wartete ich num, bis ich wirklich meine lieben Eltern kommen
ſah. Mit lautem mweinenden Schreien rief die Mutter: O mein
Andrel, mein Kind! Dann ftanden fie wortlos eine Zeit lang,
mid in ihren Armen haltend. Dann wieder Thränen und lautes
Weinen ber Mutter. „Mein Find, fo fol ich dich benm doch noch
einmal ſehen!““ O mir war · das Herz zum zerſpringen. Aehn⸗
Uches Habe ich noch nie empfunden. Dann in die väterliche Stube.
„„So fei mir denn willlommen unterm väterlichen Strohdach!““
fogte ber Bater mit einem Blid gen oben, ber mid anbeten made.
O Gott, fein gewaltigerer, heiligerer Priefter für mich, als mein
Bater! Welche Fülle echter begeifterter Neligiofitätl „„Mles durch
Gott, für Gott. Wir find oft umfonft, fagte er,. nach Scheyern,
Freyfing, Landshut gegangen, nein! nicht umfonft, weil Gott es
fügte.” Wohl vergab er mir, daß ich ihm nicht das Gluc ver
ſchafft, auch einen geiftlihen Sohn zu Haben. „Du haft ja beir
nen freien Willen, fagte er, und Gott hat es fo haben wollen.’ —
Die tiefe, rührende Anhängligfeit an Eltern und Heimath, bie ans
Diefen Worten Schmeller’s ſpricht, ift ber Boden, auf dem feine
Sprahforigung erwachſen iſt. „Wie ein Neuerer“, ſchreibt er
ans Rimberg ben 27. Janner 1814, „von Griehenlaud's und
Rom's Großheit begeiftert, im Athen's und Rom's Umgebung um ⸗
herwandelt, ſo ſehe ich in der Sprache, in den Sitten dieſer Dör⸗
fer ehrwürdige Ueberreſte und Mahnung an die Zeit der Siegfriede
und Chrimbilden in Menge. Wahrhaftig mit frommer Aufmerl ⸗
ſamkeit belauſche ich die feit einem Jahrtauſend rein und eigene
Die Mitjorſcher der Brüber Grimm. 559
thümlich bewahrten Töne und Worte dieſer einfachen Hütten. Cine
eigene Negelmäßigteit waltet in den Ausſprachgeſetzen diefer heimath -
lichen Mundart, welche als eine der älteſten Urkunden für den
ganzen deutſchen Sprachbau erhalten ift.“
Das bayeriſche Reſerveheer, zu welchem die freiwilligen Jr
gerbataillone gehörten, kam während des Feldzugs von 1814 nit
zum Ausrüden. Schmeller ſtand mit feinem Bataillon in emp
tem. Er benutzte die ihm gewordene Muße zur Ausarbeitung feiner
erſten ſelbſtändig erihienenen Druchſchrift: „Soll es Eine allge
meine europäifche Verhandlungs- Sprache geben?“ Auch der zweite
frangöſiſche Feldzug im %. 1815 war durch die Schlacht bei Belle
Alliance bereits entſchieden, bevor ber Heerestheil, bei dem Schmel-
ler ftand, auf dem Kampfplatz anlangte. Schmeller lonnte daher
den Mari durch Frankreich und eine längere Einguartierung in
diefem Lande zum Studium ber franzöfiihen Mundarten benugen.
Bald nad) der Rücklehr aus Frankreich begann Schmeller's epoche⸗
machende wiſſenſchaftliche Thätigfeit, Wir Haben gefehen, wie ihn
die Beobachtung feiner heimathlihen Mundart und ihr Verhältniß
zur gejammten deutſchen Sprache ſchon von frühauf beſchäftigte.
Aus der Fremde zurüdgefehrt, nahm er dieſe Studien mit neuer
Ruft wieder auf. Während fein Bataillon in Salzburg ftand, ließ
er fi (Anfang 1816) Urlaub geben, um die Schäge der Münchner
Bibliothel für feine Zwede zu benugen. Hier lernte er Schlichte⸗
groll, Scherer und Docen kennen. In der Münchener Alademie
der Wifjenfhaften war bereit? ein reger Eifer für Erforſchung der
deutſchen Sprache und insbejondere ber bayerifhen Mundart vor⸗
handen. Wir haben in einem früheren Abſchnitt die verbienjtlichen
Leiftungen Docen’s gefildert. Der ehrwürdige bayeriſche Hiftori-
ter Lorenz von Weftenrieder (f 1828) veröffentlichte im
J. 1816 fein Glossarium Germanico -Latinum vooum obsole-
tarum primi et medii aevi, inprimis Bavaricarım. Der Bih-
liothelar Joſeph Scherer (F 1829) gieng mit ber, Herausgabe
der altſächſiſchen Evangelienharmonie und der Ausarbeitung eines
bayeriſchen Idiotikons um. Diefen Männern blieben Schmeller's
gründlige Studien und feine ausgezeichnete Befähigung für derar⸗
560 Bieries Buch. Bweiles Kapitel.
tige Arbeiten nicht Tange verborgen, und namentlich war es Schere,
der Alles aufbot, um Schmeller für die Bearbeitung ber bayeri-
ſchen Mundarten zu gewinnen. Durch feine Verwendung erhielt
Echmeller einen ſechsmonatlichen Urlaub, und bald darauf eftimmte
ihm der Kronprinz Ludwig von Bayern auf zwei Jahre einen jährlichen
Geldzuſchuß von fünfhunbert Gulden zum Behuf einer wiſſenſchaftlichen
Bereifung des Königreichs zur Unterfuhung feiner Mundarten. Mit
Freude ergriff Schmeller die dargebotene Gelegenheit zur Ausführung
feiner Lieblingsplane, und nad den grünblicften Vorbereitungen und
fünfjägriger angeftrengter Arbeit erſchien im J. 1821 fein erfes
größeres Wert: Die Mundarten Bayerns grammatifch dargeſtellt
Mit großer Sorgfalt und Umſicht behandelt Schmeller hier die Laute
und Formen der bayerifgen Mundarten und fügt dann zum Schluß
eine Anzahl wohlgewählter Dialeltproben bei. Aber noch braudte
es ſechs weitere Jahre des ununterbrodenen Sammelns unb Zu
bereitens, bis im J. 1827 der erfte Band von Schmeller's Haupt
wert an's Licht trat unter dem Titel: „Bayerifhes Wörterbug.
Sammlung von Wörtern und Ausbrüden, die in den lebenden
Mundarten fowohl, als in der Altern und älteften Provincial-
Litteratur des Königreichs Bayern, befonders feiner Altern Lande,
vorkommen, und in der heutigen allgemein -beutjgen Schriftiprade
entweder gar nicht, oder nicht in denſelben Bedeutungen üblich find,
mit urlundlichen Belegen, nah den Stammſylben etymologiid-
alphabetiſch georbnet.” Im J 1828 erſchien ber zweite, 1836 der
dritte, 1887 der vierte Theil, der das ganze Wert ſchloß.
Seit dem Auftrag, bie bayeriſchen Mundarten zu erforfhen,
geftalten fih auch Schmeller's äußere Verhältniſſe günftiger. Der
Urlaub, den er als Oberlientenant erhalten hatte, wurde ihm fer-
nerhin verlängert. Im J. 1284 ernannte ihn die Mündener Aa
bemie der Wiſſenſchaften zu ihrem Mitgliebe. 1826 wurbe er er-
mähtigt, Vorleſungen an der Mündener Univerfität zu halten.
Er eröffnete dieſelben 1827 mit der Antrittsrede: „Ueber das
Studium der altveutfgen Sprade und ifter Denkmäler." Im
3%. 1828 wurde er außerordentlicher Profeffor der altdeutichen
Sprache und Literatur, 1829 Guftos an der Hof- und Staat
Die Mitſorſcher der Brüber Grimm. 51
bibliothek, 1844 Unterbibliothelar, endlich 1846 orbentlidher Pro⸗
feffor der altdeutſchen Sprache und Literatur. In allen dieſen
Stellungen erfüllte Schmeller feine Verpflichtungen mit muſterhafter
Gewiſſenhaftigkeit. Der von ihm begrundete Handſchriftenkatalog
der Münchener Bihliothel 1) iſt ein bleibendes Denkmal feines auf⸗
opfeenden Fleißes. Seine Wirkfamfeit an der Univerfität wurde
1829 durch Mafmann's Anftellung unterbrochen, erft im J. 1846
nahm er fie wieder auf). Schmeller's Iekte Lebensjahre wurden
dur einen unglücklichen Zufall verbittert. Auf einer Neife durch
Tirol im Herbft 1847 brach er am Jaufen bei Sterzing das Bein.
Die ſchmerzvolle Kur des zuerft verlannten Bruches vermochte nicht,
die Folgen des unglüdjeligen Ereigniffes zu befeitigen. Geiftig un.
gebrochen, aber körperlich hinſiechend verlebte Schmeller bie folgen-
den Jahre, bis ein raſch verlaufender Choleraanfall am 27. Juli
1852 feinem Leben ein Biel fegte?).
Schmeller's Studien erſtredten fi nicht nur über ben ganzen
Bereid) der germaniſchen Sprachen, ſondern fie giengen auch noch
weit über dieſen Bereich hinaus. So beſchäftigte er ſich namentlich
ſehr eingehend mit ben ſlaviſchen Sprachen. Aber den Mittelpunkt
1) Die deutschen Handschriften der k. Hof- und Staatsbibliothek
za München nach J. A. Schmeller’'s kürzerem Verzeichnias. Thl. I
und II. München 1866. Bgl. daſelbſt ben Vorbericht bes Herausgebers
8. Halm; und außerdem Konr. Hofmann’s Vortrag über Schmeller’s amtliche
Tätigkeit auf der k. Slaatebibliothet (Mündener Gel. Anzeigen 1855, Nr.
14—16), unb Ant. Ruland in Naumann's Serapeum XVI, (1855), Nr. 4.
3. 24. Bol. aber auch $. Bögmer chend. XVI (1855), Wr. 18. 19. —
2) Zwei -Borlefungen Schmiller's über deutſche Grammatit theilt (nad
einem Gollegienhefte Rodinger’s) Ant. Birlinger mit in Herrig’$ Archiv für
das Studium der neueren Sprachen, Bd. 37 (1865) 8. 358 fg. —
8) Die thatſachlichen Angaben Über Schmeller's Leben find folgenden Scheif-
ten entnommen: Lebensffizge Schmeller’s. Won Bibliothekar Föringer. Mün-
en 1855. — Rede von Sr. von Thietſch, In ben Münchener Gelehrten An-
wigen 1858, Nr. 8 fg. — Der Artifel Schmeller in Brodhaus’ Eonverjations-
Leriton ber neueſten Zeit und Literatur, Ub, IV, (1834) ©. 173—175.
(Rah Föringer a. a. D. ©. 6 eine abgefürzte Mutoblogrpgie Sämeller’s).
Rammer, Gchd. der germ. Pfllelegie.
562 Viertes Bub. Biweites Kapitel.
feiner Thatigkeit bildete bie Erforſchung ber fühbentfcien Volle
munbarten. Aufgewachſen in ländlicher Abgeſchiedenheit als Sohn
eines arınen Kürbenzäuners *) hieng er mit der ganzen Innigkeit
feines veichen Gemuths an ber Sprade und Sitte bes Bolles.
Und hier Ing auf der Ausgangspımkt feines Forſchens, ala ſich
feine eminente Begabung für die Unterſuchung der menfelicen
Sprache mehr und mehr entwidelte. Die ältere deutſche Sprache
309 ihn anfänglich durchaus nicht an. Er hielt fie, durch Adelungs
Autorität beftimmmt, für barbarifh. Die vollen Endungen waren
ihm entweder „wilftärliche "Anhängfel“ oder „verftanblofe Rad
affungen lateiniſcher Grammaticalformen.“ Höchſtens intereffierte
ibm „das crude Material ihrer Ausdrũcke.“ „Ich ſah alſo in dieſen
Sprachalterthüumern, fo berichtet er uns ſelbſt, nur ben rohen
Sörper, weil id ihnen einmal Teinen Geift, d. i. feinen Tebenbigen,
ftrengen, nothivendigen Grammaticalismus zutraute und aljo einen
folgen auch nit in ihnen ſuchte. Nur das Xufpären und Ber
folgen der wunderbaren geiftigen Gliederungen und Gelente, bie
tw conjequenten Grammaticalismus einer Sprache liegen, vermag
den damit befdäftigten Gelft zu reizen und zu vergnügen. Bo
diefer Reiz nicht ift, da Hört alles Intereſſe auf. Es gab deumach
eine Zeit, wo ich diefe Ueberbleibfel des Alterthums mit völliger
Gleichgültigleit, ja mit einer Art von Ekel betrachtete. Mittler:
weile Hatte ih doch nicht laſſen können, (unbefriedigt, wie ich war,
dur Adelung's Ausiprüde), über die feftere Begründung oder *|
Vereinfachung mandes Satzes in der Grammmatit der dentfhen
Sprache nachzudenken. Mit Ueberraſchung fah ich oft, baf da, me
die Bücherſprache ftarr und tobt jeder Erklärung aus ſich felhft
widerſtrebte, die im Munde des Volles für ſich fortlebende gemeine
Sprache die erhellendſten Aufſchluſſe bot. Die herfömmlid vor
1) Schmeller's Bayer. Wörterbud) II, (1828), 327: „Der Kürbenzäuner,
der aus Holz: und Wurzel: Schienen Kürben fliht, zäunt. (Unter allen Ger
werben ift dieſes unfdeinbare dem Verfaſſer des b. Wörterbuchs bas chrwir
digRe, denn es ift das eines Bald achtzigiährigen Chrenmennes, Dem er fin
Dafein und feine erfte Erziehung verbanft).“
Die Witforfer der Brüder Grimm. 568
! nehme Geringſchatzung biefes Feldes der Spracherſcheinung konnte
“mich von da an nicht weiter abhalten, beſonders aufmerkſam auf
dasſelbe zu fein. Bald lehrte es mich eine Reihe von Analogieen
mb Gefegen, von denen in der Bücherſprache nur wenige Spuren
vorhanden find. Von biefer, in die Ohren fallenden Wirklichteit
ausgehend, wandte ih mic nun aufs neue zurüd zu jenen miß⸗
lannten Alterthümern, und fieh, e8 zeigte ſich eine Uebereinſtimm⸗
ung, die meinen Zweifeln über die Wahrheit und Echtheit der
grammatifchen, in diefen Reften des Altertfums erhaltenen Formen
ein Ende und mir dieſe Weberbleinfel zum Gegenftand eines neuen
und des für den Geiſt anziehendften Studiums machte. Ich fah,
wie fehr ich die organifche Natur der Sprache darin verfannt hatte,
daß ich glaubte, das, was war, müſſe durch das, mas ift, erflärt
und gemeiftert werden, ftatt das ewige Geſetz alles Organismus
zu bedenken, nad) weldem alles, was ift, nur aus bem, was
war, hervorgegangen fein Tann.” „Auf biefem Standpunkt befand
ich mid, fährt Schmeller fort, als Jacob Grimm’s deutſche
Grammatik erſchien. Ausgeftattet mit ganz außerordentlichem Ta-
Ient für Forſchungen nicht bloß diefer Art, war diefer Mann viel
früger und gleih von oben herein zur vollen klaren Anſchauung
deflen gelommen, wozu id mid erft von umten auf mühfam em⸗
porzuaxbeiten ſuchte. Was ih aus dem manmigfaltigen, vielfach
verfiegten oder trüben Bächen bes wirklichen Volkslebens in man⸗
cherlei Gauen dentſcher Zunge auf bie nicht bequemfte Weiſe zu-
ſammentrug, das ſchöpfte er bequemer und reiner aus ben ſchrift⸗
lichen Quellen felöft, die dem gemeinfamen Urfprung, von weldem
alle dieſe weitzertheilten Bäche ausgegangen find, um zehn bis
fünfzehn Jahrhunderte näher liegen. Statt auf einem einzigen
Wege fortzufchreiten, der bei befangener Ausfiht, eh er zurüdge
legt ift, immer feine rechte, innere Sicherheit vor ber Gefahr des
Sichverlierens gewährt, umfaßte Grimm gleich das ganze vor ihm
liegende Gebiet, rüdte mit der möglicften Umſicht auf allen Wer
gen zugleich vorwärts, und auf folde Art wurde gefunden und bis
zur Evidenz nachgewieſen die organiſche Einheit des germanifchen
Sprachſtammes umd der durchgehende Parallelismus, unter welchem
36*
564 Viertes Bud. Zweites Kapitel
feine Aeſte von Knoten zu Roten auseinanbertreten. Durch bie
überraſchenden Reſultate, bie er in feinem großen, noch nicht ge
ſchloſſenen Werte über die deutſche Sprache im weiteſten Sinne
miebergelegt Hat, findet ſich die nächſte Gegenwart in Harem Zu-
fammenhang mit ber entfernteften Vergangenheit“ 1), Man kam
Schmeller's Verhältniß zu Grimm nicht treffender ſchildern, als &
hier von Schmeller felbft geſchieht. Bewundernswerth aber war
es, mit welder Energie und Begabung nun Schmeller auf die
großen Entdefungen Grimm's eingieng. In kurzer Zeit war er
einer der erfien Kenner auch der altgermaniſchen Sprachen. Und
gerade diefe Verknüpfung ber beiden entgegengejeßten Enden ber
Forſchung ift das Epochemachende in Schmeller's mumbartligen Ar-
beiten. Auf ber einen Seite ſchöpft er aus bem Iehenbigften Ber
kehr mit dem Volke. Gr fieht den Leuten anf den Mund und
faßt mit feinem Obr die gehörten Laute auf, für deren Beſonder⸗
heiten er fid durch Meine Ahänderungen ber gewöhnlichen lateini⸗
ſchen Buchſtaben ein neues Bezeichnungsmittel ſchafft. Mit ein-
gehendem Verſtändniß und finnigem Gemüth ſammelt ex bie eigen-
thümlichen Ausdrüde und Nebeweifen des Volles und läßt uns bar
dur tiefe Blicke in beffen Sitten und Gewohnheiten thun. An
dererſeits aber durchforſcht er für feinen Zweck bie Denkmäler aller
älteren germaniſchen Sprachen, gebrudte und ungebrudte; und na-
mentlich bieten ihm hier die handſchriftlichen Schäge der Mündener
Bibliothek ein unerſchöpfliches Material. So wird fein Bayeriſches
Wörterbuch eine eben fo reihe Fundgrube für die ältere Spradk,
wie für die neuere Mundart. Und das Alles fteht nicht etwa als
roher Stoff unvermittelt neben einander, fondern es wirb anf bie
einfachfte Weife, Bald dur) die bloße wohlüberlegte Anordnung
bald durch überraſchend ſcharfſinnige Gombination in Verbindung
gebracht.
Wenn auch Schmeller's größtes Verdienſt in feinem Bayeri-
hen Wörterbuch) Tiegt, fo nimmt er doch zugleich unter ben Her-
1) Schmeller, Weber das Stubium ber altdeutſchen Sprache und ihrer
Denkmäler, Münden 1827, ©. 7 fg.
Die Mitforfger der Brüber Grimm. 565
ausgebern älterer germaniſcher Sprachdenkmäler eine der erften
Stellen ein. Er ift es, dem man bie lange und ſehnlichſt erwartete
Herausgabe ber altfächfifhen Evangeliendichtung verdankt. Unter
dem Titel: Heliand. Poema Saxonicum seouli noni, ließ Schmel-
ler im J. 1880 zu Münden den Tert des Werkes erſcheinen. 1840
folgte das ungemein forgfältig gearbeitete Gloſſar. Diefe wahrhaft
„ uftergültige Leiftung bildet bie Grundlage alfer nachfolgenden alt-
ſachſiſchen Stubien. Wit derſelben Sauberkeit veröffentlichte Schmel-
ler 1841 zum erftenmal volfftändig und kritiſch aus dem St. Gal-
ler Coder die früher nur mangelhaft befannt gemachte 1) althoch⸗
deutſche Weberfegung der Evangelienharmonie des Ammonius oder
Tatianus. Unter den übrigen Tertausgaben Schmeller’8 heben wir
noch hervor das von Docen entdedte, von Schmeller (1832) zuerft
herausgegebene alliterierende althochdeutſche Gedicht auf den jüngften
Tag, dem Schmeller den Titel Muspilli gab; die Benedictbeurer
&ederhandfhrift bes 13. Jahrhunderts (1847); die Jagd des Haba-
mar von Laber, ein ſchwieriges Gedicht aus dem 14. Jahrhundert
(1850); und endlich die in Gemeinſchaft mit X. Grimm (1838)
herausgegebenen Lateiniſchen Gebichte des X. und XI. Jahrhunderts,
unter welchen Schmeller die Bruchſtücke des Ruodlieb angehören.
Ale diefe Ausgaben find mit werthvollen Einleitungen, einige auch
mit eingehenden Erläuterungen verjehen. Außerdem veröffentlichte
Schmeller eine Neihe gehaltvoller Abhandlungen in den Schriften
der bayerifchen Afademie der Wiſſenſchaften. Wir nennen darunter
die „über die Nothwendigkeit eines ethnographiſchen Gejammtna-
mens für bie Deutſchen und ihre nordiſchen Stammverwandten“
(1826, gedrudt 1835), worin ſich Schmeller für den Gefammtna-
men Germanen erflärt; die über Wolfram’3 von Eſchenbach Hei-
math (1837); die über ben Versbau in der alliterierenden Poeſie
befonders der Altfachfen (1839); die über Quantität im bayriſchen
und einigen andern oberdeutſchen Dialekten (1830, gedrudt 1835);
endlich die über die fogenannten Cimbern der VII und XIII Com-
munen auf ben Venediſchen Alpen und ihre Sprache, (gelefen 1834,
16. o. ©. 176, 180.
566 Biertes Bud. Zweites Kapitel.
gebrudt 1838). An die zuletzt genannte umfangreiche Abhandlung
ſchloß ſich Schmeller's fogenanntes cimbrifches Wörterbuch, das ift
deutfches Idiotilon der VI und XII Communi in den venetia-
niſchen Alpen, an, das erſt nad Schmeller's Tode von Joſeph
Bergmann (1855) Herausgegeben wurde. Die forgfältigfte Un
terfuhung an Ort ımd Stelle und die umfaflendfte Kenntniß der
ganzen einfhlägigen Literatur fegte Schmeller in ben Stand,
zum erftenmal eine wiſſenſchaftlich probehaltige Darftellung jener
merhoürbigen deutſchen Spradinjeln zu geben 1). Co fehen
wir Schmeller nad) den verſchiedenſten Seiten Hin thätig. Aber
wo wir ihm aud begegnen, da find Schlichtheit und Buverläffig-
feit die Grundzüge feines Weſens.
3. Ludwig Ahland.
In Ludwig Uhland finden wir brei Richtungen vereinigt,
die fonft getrennt zu fein pflegen. Er ift Dichter, Vollsvertreter und
wiſſenſchaftlicher Forſcher. Aber biefe drei Beftrebungen Taufen bei
ihm nicht etwa bloß zufällig neben einander her, fondern fie haben
ihre gemeinfame Wurzel in dem Geift und Gemüth des reichbegabten
und charaltertüchtigen beutihen Mannes. Wir haben Hier nur
uhland den Forſcher zu ſchildern, und nur in dieſer Beziehung
wollen wir zunäcft einen Turzen Ueberblick über fein Leben geben
Ludwig Uhland wurde geboren zu Tübingen am 26. April
1787. Schon 1801 bezog er die Umiverfität Tübingen, um Juris⸗
prubenz zu ftubieren. Seine Neigung wäre auf Philologie gegan ⸗
gen. Aber alle Lehrftellen des Landes wurben damals noch mit
Theologen beſetzt. So verband er mit einem geroiffenhaften Be
trieb feines Berufsfaches die Studien, zu denen ihn die Neigung
309. Er las mit Eifer die antiten Klaſſiler. Aber wunderbat
ergriff ihn, was ihm von ber altgermanifchen Sage zu Handen lm:
der Saro Grammaticus, das Heldenbuch und beſonders das latei⸗
1) Eine namhafte Anzahl anderer Verdffentlihungen Schmeller's mäffen
wir Hier umerwäßnt laſſen. Ein chronologiſches Verzeichniß von Sqhmellere
Arbeiten gibt Fringer a. a. O. S. 39-55.
Die Witforfer der Brüder Grimm. 587
nifhe Gedicht von Walther und Hildgund. Des Knaben Wunder
born führte ihn (1805) in das Vollslied ein. Auch Herder's
Bollslieder ımd Percy’s Reliques wurden ihm nun befannt, und
ex beichäftigte ſich mit dem Engliſchen und Franzöſiſchen, dem Spa-
nifgen und den ſtandinaviſchen Sprachen, um bie alten Lieber im
Urtegt leſen zu fönnen. Uhland's Studien und Uhland's Dichtung gien-
gen Hand in Hand. Es war die Zeit der Romantik; doch fühlte ſich
Upland vorzugsweiſe zu der neuen Richtung der Romantik hingezogen,
die ihren Ausbrud in Arnim's Einfteblerzeitung fand. Im April
1810 erwarb fi Uhland die jwriftiihe Doctorwürde zu Tübingen
und glei im folgenden Monat trat er eine Reife nad) Paris an, um
fih dort in ber Kenntniß des franzöfiichen Rechts zu vervolllommnen.
Er verabfäumte dieſen offiziellen Zwed feiner Reife nicht, feine
Hauptthätigfeit aber war den Muſeen und vor allem der Biblio⸗
thek zugemendet. Hier beihäftigten ihm die altdeutſchen und bejon-
ders die altfranzöfifgen Handſchriften, und aus biefen Studien
gieng (1812) feine epochemachende Abhandlung über das altfran-
zoͤſiſche Epos !) hervor. Auch knüpfte fih dort auf dem Boden
gemeinfamer Beftrebungen Uhland's Freundſchaft mit einem der
größten unferer philologiſchen Krititer, Immanuel Belter, der neben
feinen berühmten Haffiichen Arbeiten aud die romaniſche Philologie
mit Liebe pflegte. Am 26. Yan. 1811 verließ Upland Paris und
tehrte in feine Heimath zurück, 1812 wurde er Secretär beim
Yuftizminiftertum in Stuttgart, 1814 gab er jedoch diefe Stellung
auf umd Fieß ſich ebendort als Advocat nieder. Wir dürfen bier
weber Uhland's Tätigkeit für die Herftellung der alten württem-
bergiſchen Verfaſſung (1815. 1816), no feine Wirkamteit als
Vollsvertreter (1819—25) ſchildern. Wir bemerken nur, daß feine
furchtloſe Vertretung der Freiheit und des Rechts die Urſache war,
1) In Fouqus's und Neumann's Mufen, Berlin 1812, Drittes Omartat,
©. 59 fg. Dazu: Proben aus altfranzöfiihen Gebichten, im folgenden Quar-
tal. Das Ganze mit Uhland's handſchriftlichen Zufäpen und Verichtigungen
wieder abgebruct in deſſen Schriften zur Sisisr der Ditung und Sage "
IV (1889) ©. 327 fg.
568 Biertes Vuch. Erſtes Kapitel,
daß er fo fpät die feinen Gaben entſprechende öffentliche Anftehung
erhielt und daß er berfelben fo Bald wieder entzogen wurde.
Gegen Ende des Jahres 1829 nämlich wurde Uhland eine aufer-
ordentliche Profeffur der beutihen Literatur an der Untverfität Tü-
Dingen übertragen. Daß man ben bereits zweiunbvierzigjährigen
berühmten Dichter nur zum außerordentlichen Profefjor ernannte,
war um fo auffalfender, als Uhland fi damals ſchon nicht mr
durch die erwähnte Abhandlung über das altfranzöfiie Epos, fon
dern auch durch feine ſchöne und gründliche Schrift über Walther
von ber Vogelweide (1822) als Forſcher einen ſehr geachteten Na-
men erworben hatte. Uhland fühlte fih als Lehrer der afabemi-
fen Jugend in feinem Element. Mit größter Gewiſſenhaftigleit
und tieffter Sachkenntniß las er im Sommer 1830 über Geſchichte
ber deutſchen Poefte im 18. und 14. Jahrhundert 1), woran fih
im Sommer 1831, die Geſchichte der deutſchen Dichttunſt im 15.
und 16. Jahrhundert ?) anreiste. Im Winter 1891 auf 32 ud
im darauf folgenden Sommer trug Uhland bie Sagengeſchichte der
germaniſchen und romaniſchen Völker vor). In allen feinen
Vorleſungen erfreute er ſich einer ſehr zahlreichen und mit Kiebe
folgenden Zuhbrerſchaft, und mander begabte Forſcher iſt durth
uUhland's Vorträge für die germaniſche Philologie gewonnen wor-
den. Aber Uhland's Wirkfamfeit als Univerjitätslehrer follte nicht
lange währen. Am 8. Juni 1882 wählte ihn Stuttgart in bie
württembergiihe Kammer ber Abgeorbneten. Paul Pfizer's Motion
gegen bie Bundesbeſchlüſſe vom 28. Juni 1832, welcher and U
land beiftimmte, veranlaßte die Negierung, die Kammer im Mär
1883 aufzulöfen. Uhland wurde von neuem gewählt, und als ihm
die Negierung den Urlaub zum Eintritt in die Kammer verweigerte,
brachte er fein ihm theures Amt zum Opfer und kam um Gntlaffung
von feiner Profefur ein. Bis zum J. 1838 fehen wir Uhland nım
1) Diefe Borlefungen find Herausgegeben durch A. v. Keller und @. &
Holland in Uplanb's Sqriften zur Geſchichte der Dichtung und Sage Ed. I,
” Stuttg. 1865 und Mb. II, 1866. — 2) Her. durch W. 2. Holland chend.
®b. II, (1866). — 3) Her. durch A. von Keller, ebend. Bb. VII (1868).
Die Mitforfer ber Brüber Grimm. 569
im Verein mit ben trefflichſten Männern als württembergifhen
Volksvertreter thätig. Aber fo gewiſſenhaft er auch feinen Pflichten
als Vollsvertreter oblag, fo ließen ihm bie Landtagsverhandlungen
doch Zeit, ım auch feine Lieblingsſtubien fortjegen zu Können. Wir
fehen ihn damals (1834 und 35) vorzugsweife mit der nordger⸗
manifchen Mythologie beſchäftigt, und eine Frucht biefer Studien
itt fein 1886 erfäjienener Mythus von Thor. Im J. 1839 kehrte
Uhland nad; Tübingen zuräd, und nun konnte er ſich eine Reihe
von Jahren hindurch ungeftört feinen Forſchungen Hingeben. Sein
Aufenthalt in Tübingen ift nur unterbroden von Meifen buch
Deutſchland und die Schweiz, die er zum Zwed feiner Arbeiten
und in der lebendigen Freude an Natur und Gedichte unternimmt.
& tritt mit den namhafteſten Forſchern in brieflihen und perſön⸗
lien Verkehr, mit J. und W. Grimm, mit Lachmann, Schmeller,
W. Wadernagel, Franz Pfeiffer und K. Müllenhoff. Der Germaniften«
tag zu Frankfurt (1846) führt ihn mit einem großen Theil der Fach-
genofien perſönlich zufammen. Ex arbeitete in biefer Zeit an einem
Hauptwerk feines Lebens, an feinem Volkslied. 1844 und 45 gab
ex den Exften Band feiner Alten hoch- und nieberbeutfchen Vollslieder
Heraus, welcher die Terte und ben Nachweis ihrer Quellen enthält,
Aber dies ruhige Forſcherleben Uhland's follte noch einmal buch
politiſche Stürme unterbroden werden. Das Jahr 1848 griff
auch in Uhland's Leben tief ein. Er wurde von ber wirttember..
giſchen Regierung in bie Verfammlung ber ſiebzehn Vertrauens⸗
männer entjenbet, welde der Bundesverſammlung Vorſchläge zur
Revifion der Bundesverfaſſung machen follte, und bald darauf
wurde er von bem Wahldezirt Tübingen » Rottenburg zum Age
ordneten in das deutſche Parlament gewählt. Uhland ſchloß ſich
dort feinem politiſchen Club an, aber feinen ernſt und offen aus⸗
geſprochenen Ueberzeuguugen nad} gehörte er in ber beutfchen Frage
zur großbeutfchen, in den inneren Angelegenheiten zur demokratiſchen
Partei. Doch mochte man Uhland's politiſche Anſichten theilen
ober nicht, der Lauterkeit feines Charalters und feinem echt deut⸗
ſchen Sinn Tonnte niemand feine Hochachtung verſagen. Um Uhr
land's politifche Stellung zu verftehen, muß man alle feine übrigen
8570 Viertes Bud. Zweites Kapitel.
Lebensäußerungen: feine Dichtung und feine Forſchung, mit in Ber
tracht ziehen. Dann erfennt man, welche Anficht er vom Volle
und insbeſondere vom deutſchen Bolfe hatte, und wie wenig die
gewöhnliche Parteiſchablone im Stande ift, Uhland's Wefen zu er-
ſchöpfen. Mit der Treue, die den Grundzug feines Charakters
bildete, folgte Uhland der Verlegung des Parlaments nach Stute
gart und blieb bis zu beffen gewaltfamer Auflöfung (18. Juni
1849) bei der Fahne feiner Partei. Schmerzlid ergriffen von dem
Scheitern feiner politiſchen Hoffnungen zog er fi (1849) wierer
nad Tübingen in das Privatleben zurüd. Mit alter Liebe pflegte
ex bier das Studium ber beutihen Sage und Dichtung. Das
Erſcheinen von Pfeiffer’ Germania (1856 fg.) veranlaßte ihn,
einzelne Früchte feiner Forſchungen zu veröffentlichen. Aber ber
Reichthum feiner gelehrten Thätigkeit ſollte erſt nad feinem Tode
zum Vorſchein kommen. Am 13. November 1862, — drei Jahre
nah Wilhelm und ein Jahr vor Jacob Grimm, — wurde Uhland
aus dem Leben abgerufen 1).
Die wiſſenſchaftliche Aufgabe, die Uhland's Leben erfüllte, war
die Erforfhung der germanifchen Poeſie. Was ihn aber vor
zugsweiſe anzog, waren nidt ſowohl die beſtimmten dichtenden
Perſonlichleiten, in denen die Poeſie in literariſch gebildeten Zeit-
altern fi verkörpert, als vielmehr die allgemeinen Quellen
aller Boefie, wie fie zumal im der Jugendzeit das ganze Bolt
durchſtrömen. Die Grundlage von Uhland's Forſchung bildet des⸗
bald feine Darftellung der germaniſchen Sage, wie er fie in feiner
Sagengeſchichte der germanifchen und romaniſchen Bölfer (1831. 32)
gegeben hat. „Der literarifhen Ausbildung und dem Hervortreten
ſchriftſtelleriſchet Perſönlichteit, fagt er dort, geht überall ein Zeit:
alter voltsthümlicher Ueberlieferung voran. Dieſe verſchiedenen
Zuftände find Erzeugniß und Ausdruck der innern Geſchichte des
geiftigen Völterlebens. So lang alle Kräfte und Richtungen des
1) Die thatſachlichen Angaben über Uhlanb's Leben find entnommen dem
trefflichen von feiner Wittwe herausgegebenen Bud: Ludwig Uhland. Eine
Gabe für Freunde. Zum 26. Mpril 1865. Ms Handſchrift gebrudt.
Die Mitforfer der Brüder Grimm. 571
Geiftes im der Poefie gefammelt find, blüht bas Meich der lebendi⸗
gen Sage; jo bald bie geiftigen Thätigfeiten ſich nad verſchiedenen
Seiten der Erkenntniß zu fondern beginnen, entfaltet fi die Liter
rate“ 1). — „Die Sage der Völler ift hiernach weſentlich Volks⸗
poefie; alle Boltspoefie aber ift ihrem Hauptbeftande nad fagenhaft,
fofern wir unter Sage die Meberlieferung durch Erzählen, das
epiihe Element der Poefie, zu verftehen pflegen” 2). — „Der
Drang, der dem einzelnen Menſchen inwohnt, ein geiftiges Bild
feines Wefens und Lebens zu erzeugen, ift auch im ganzen
Böltern, als folden, ſchöpferiſch wirlſam umd es ift nicht bloße
Nedeform, daß die Völker dichten. Eben in diefem gemeinfamen
Hervorbringen haftet ber Begriff der Vollspoeſie und aus ihrem
Urfprumg ergeben fi ihre Eigenfchaften. Wohl Tann auch fie nur
mittelft Einzelner fi äußern, aber bie Perſönlichkeit der Einzelnen
ift nit, wie in der Dichtkunſt literariſch gebildeter Zeiten, vorwie⸗
gend, fondern verſchwindet im allgemeinen Volkscharalter. Auch
aus ben Zeiten der Vollsdichtung haben fi berühmte Sängerna-
men erhalten und, wo biefelbe noch jet blüht, werben Beliebte
Sänger nambaft gemacht. Meiſt jedoch find bie Urheber ber
Sagenlieder unbelannt oder beftritten, und die Genannten feldft,
auh wo bie Namen nicht in's Muthiſche fi verlieren, er⸗
feinen überall mm als Vertreter der Gattung, bie Einzel»
nen ftören nicht die Gleichartigkeit der poetiſchen Maſſe, fie
pflanzen das Weberlieferte fort und reihen ihm das Ihrige nad
Geift und Form übereinftimmend an, fie führen nicht abgefonderte
Werke auf, jondern fhaffen am gemeinfamen Ban, der niemals bes
ſchloſſen ift“ 3). „Eine bedeutende Abftufung und Ungleichheit ber
Geifteshildung ift aber im dieſem Jugendalter eines VBoltes nicht
wohl gebenkbar; fie Tann erft mit der vorgerüdten künſtleriſchen
und wifjenfhaftligen Entwidlung eintreten‘ 4). „Und fo Bleibt
zwar bie Thätigleit der Begabteren unverloren, aber fie mehrt und
fördert nur umvermerkt das gemeinfame Ganze“ 4). Aus biejen
Geficgtspunkten gibt Uhland mit gründlichſter Sachkenntniß eine
1) uhland's Schriften zur Geſchichte der Dichtung und Gage. Bd. VII,
©. 3. — 2) Ebend. S. 4. — 8) Ebend. ©. 4 fg. — 4) Ebend. ©. 5.
572 Biertes Bud. Zweites Kapltel.
umfafjende Darftellung der nordiſchen, deutſchen und romaniſchen
Sage. Er beginnt mit der Götterfage und geht dann über zur
Heldenfage. In Bezug auf biefe erflärt er ſich gegen Mones
Anſicht, daß die Heldenfage nur eine umgewandelte Götterfage ſei
„Allerdings finden wir, fagt er, in der Geſchichte der Sagen häufig
auch den Hergang, daf die Göttermythen menſchlich umgeftaltet
werden. — Aber jener Hergang ift Teineswegs ber allgemeine
ober vorherrſchende. Wo überhaupt die Sage zu einer vollen Aus
Bildung gelangt ift, werben wir bie höhere und bie irdiſche
Welt, Göttliches und Menſchliches, gleichzeitig beſtehen und mannig-
fa in einander greifen fehen. Auch die Heldenfage ift dann nidt
ohne Götter, immer zeigt fie im Hintergrunde den Götterhimmel,
und bie einzelnen @öttergeftalten treten freundlich ober feindlich
wirkend in bie irdiſche Handlung ein; aber nur aus dem gleicher
tigen Vorhandenfein zwei verſchiedener Welten kann dieſes Berhält-
niß hervorgehen. So bilden Götterfage und Heldenjage zuſammen
ein Ganzes, aber fie find nicht identiſch“ 1).
Als einen Theil der Sage betrachtet Uhland ben Göttermy
thus, umd biefem Gebiet gehören zwei feiner bedeutendſten Arbeiten
an: „Der Mythus von Thör nad) norbifgen Quelfen* (1836) und der
erſt nach Uhland's Tod (1868) Herausgegebene Odin. Ausgehend von
der nothwendigen Verbindung der Mythenforſchung mit der Sprad-
forſchung führt Uhland feine Unterſuchungen auf. ber Grundlage einer
eindringenden Kenntniß des Altnordiſchen. Schon „die unverkennbate
Bedeutſamkeit der mythiſchen Namen“ 2) fordert eine genaue Be
kanntſchaft mit dev Sprache, welder diefe. Namen angehören. Aber
der Name „gewährt doch nur dann eine fihere Mythendeutung
wenn das Wefen, dem er angehört, auch durch feine Erſcheinung in
Lied und Sage bemfelben wirklich entſpricht“ 2). Diefer Erſchein⸗
ung geht nun Uhland in den nordiſchen Quellen ebenfo grumdlich
als geiftvoll nad. Die Mythen find „aus dichteriſch ſchaffendem
Geiſte Hervorgegangen. Sie können darum auch nur mit poetifchen
1) Ebend. ©. 87. Vgl. ©. 889 fg. — 2) uhland's Sqhriſten zu
Geſchichte ber Dichtung und Sage, 8b. VI, ©. 7.
Die Mitforfher ber Brüder Grimm. 673
Auge richtig erfaßt werben, diefem aber werben ſie ſich bei näherem
Anblick immer voller und lebendiger entfalten“ 1). Es ift wenig
damit gethan, den Wechſel der Jahreszeiten, bes Lichtes ımd Dun-
kels u. |. w. in den Mythen nachzuweiſen. „Man würbe unter
der finnbilbliien Verhütung doch oft nur die befannteften Natur⸗
erſcheinungen wieberfinden. Die Hauptſache ift hier ehen das ſchöne,
ſinnreiche Bild, die lebendige Handlung“ 2). Die mythiihe Sym-
bolik Hat ſich bei verſchiedenartigen Völkern ganz verſchieden ange
laſſen, und ber Erflärer Hat deshalb je bie Eigenthlunlichteit ber
befondern Bötterlehre zu beachten. „Der Drang bes menſchlichen
Geiftes, ſich mittelft der ihm eingeborenen Vermögen ber Außen-
welt zu bemädtigen, ift in philoſophiſchen Zeitaltern vorzugsweiſe
durch bie Meflerton, in poetifchen durch bie Einbildungskraft thätig.
Bie die Natur felöft ihre Spiegel hat, Im Waffer und in ber
Luft umd im Auge des Menſchen, fo will aud die Dichterfeele von
den äußeren Dingen ein Gegenbilb innerlich Bervorbringen, und
dieſe Aneignung für ſich ſchon iſt ein geiftiger Genuß, ber ſich auch
andern Betrachtern des Bildes mittheilt. — Das Innere des
Menſchen aber ſtralt nichts zurück, ohne es mit ſeinem eigenen
Leben, ſeinem Sinnen und Empfinden getränkt und damit mehr
oder weniger umgeſchaffen zu haben. So tauchen aus dem Borne
der Phantaſie die Kräfte und Erſcheinungen der unperſönlichen
Natur als Perſonen und Thaten in menſchlicher Weiſe wieder auf.
Die nordiſche Mythologie zeigt dieſen Hergang in allen Graden
der Belebung und Geſtaltung, und wer ſie in ihrem eigenen Sinne
würdigen will, muß dieſer Wiedergeburt im Bilde, als ſolcher ſchon,
ihre ſelbſtändige Geltung einräumen. Gleich den Kräften und Er⸗
ſcheinungen ber Natur find aber auch die des Geiſtes in den Mythen
perfönlid geworben; ſelbſt die abgezogenften Begriffe, namentlich
die Formen und Verhältniffe ber Zeit, Haben ſich als handelnde
Weſen gefaltet. Indem fo einerjeits die Natur durch Perfonifie
cation beſeelt wird, andrerſeits ber @eift durch dasſelbe Mittel
äußere Geftaltung erlangt, werben beibe fähig, auf dem gleichen
1) &benb. S. 8. — 2) Ebend. ©. 8 fg.
574 Biertes Buch. Zweites Kapitel,
Sthauplatze ſinnbildlicher Darſtellung zuſammenzutreten“ 1). Bir
können hier nicht weiter verfolgen, wie Uhland dieſe Grund⸗
ſatze auf die Mythen von Thör und Odin anwendet, und bemerlen
nur, daß er in ſeinen beiden Abhandlungen den größten Theil der
nordiſchen Mythen im ſinnigſter Weiſe zu deuten ſucht. Wie Uh⸗
land in feinen nordiſchen Mythenforſchumgen den urſprünglichen
Glauben der germanifhen Völker auf Grundlage ber älteften flan-
dinaviſchen Quellen zu ergründen fuchte, fo knüpfte er eine Reihe
anderer werthvoller Unterſuchungen an bie Ueberlieferungen feiner
näheren Heimath. „Wenn die Forſchung von meiner nädjften
Heimat ausgeht, fagt er im feinem erften Beitrag zur ſchwäbiſchen
Sagentunde, fo verzichtet fie deshalb nicht darauf, weitere Kreiſe
zu ziehen. Es ift aber im Gebiete der Sagen immerhin rathjam,
den Blid in das Allgemeine und Entlehene an ber genauen Beob⸗
aiftung des Beſondern und Heimifcen zu jfärfen* 2.
An bie Erjorſchung der Sage jchloß ſich bei uhland die In
terſuchung und Darſtellung ber altdeutſchen Poeſie. Hier iſt uh⸗
land zwar auch ein Meiſter in der Schilderung der beſtimmten
dichtenden Perſönlichteit, wie er dies ſchon durch feinen ,Walther
von der Vogelweide“ (1822) bewies. Aber fein hauptfädlicftes
Augenmerk ift auf die im ganzen Volle lebende Poefie gerichtet.
&o find in feinen Vorlefungen über bie Geſchichte der altdeutſchen
Poeſie (1830 und 31) zwar auch die Bemerkungen über die einzel
nen großen Dichter vortrefflih, aber die Hauptfache ift ihm doch,
zu zeigen, wie bie im Volle überlieferten Sagen fi dichteriſch ger
ftaltet Haben. Natürlich; bilden deshalb die Gebihte aus ben deut-
fen Sagentreifen den weſentlichſten Theil von Uhland's Darftell-
ung. Gr berichtet über ihren Inhalt und ihre Form und unterfuht
die Art ihrer Entſtehung. Indem er fih mit W. Grimm’s Auf
faſſung ber deutſchen Heldenfage auseinanberjegt, findet er das
hiſtoriſche Glement derſelben bedeutender, als Grimm zugeben
wollte 3). Anbrerfeits betont ex das mythiſche Element und bringt
1) Ebend. &.9. — 2) Germania, her. von Frans Pfeiffer I (18561
8.1. — 3) uhland's Säriften zur Geſchichte der Dichtung und Sage,
®. 1, 6. 136,
Die Mitforfher der Brüder Grimm. 875
den Sagenkreis der Nibelungen mit odiniſchen ), den der Amelun«
gen mit perfiihen Mythen 2) in Beziehung. Aber jo forgfältig er
fowohl den geſchichtlichen, als den mythiſchen Spuren nachgeht, fo
findet er doch in beiden wicht das eigentliche Wejen des Epos.
Weder von geſchichtlicher, noch von mythiſcher Seite, jagt er, Hat
fih und der wahre und volle Gehalt bes deutſchen Heldenliedes
erihloffen. Das Gejhihtlihe fanden wir nur in Durchgängen
und Umriſſen erkennbar, das Mythiſche verdunkelt und mißverſtan⸗
ben. Gleichwohl ift diefe Heldenfage nicht als verwittertes Dent-
mal alter Volksgeſchichte ober untergegangenen Heidenglaubens
ftehen geblieben, fie ift im längft befehtten Deutſchland lebendig
fortgewachſen, im dreizehnten Jahrhundert in großen Dichtwerken
aufgefaßt worden, hat noch lange nachher in ber Erinnerung des
Volles gehaftet und fprich® noch jetzt verftänblic zum Gemüthe.
Die Erklärung ift einfach, wenn wir fie im Weſen des Gegenftan-
des ſuchen. Unfere Sagenmelt ift weder Geſchichte, noch Glaubens⸗
lehre, fie foll auch feines von beiden für fih fein. Sie ift Poeſie,
und zwar biejenige Art derfelben, die wir als Volksdichtung be-
zeichnet und deren Haupterfheinung wir im Epos gefunden
haben. Ihr Lebenstrieb muß baher eim poetiſcher, er muß in
der Natur ber Vollspoeſie gefeimt fein. Eine zum Epos aus⸗
gebildete Vollspoeſie ftellt als folhe das Gefammtleben des
Volles dar, aus dem fie hervorgegangen ift. Ste umfaßt alfo
zwar auch Volksgeſchichte und Volksglauben, aber fie vergei-
ftigt jene und veranſchaulicht diefen, fie nimmt dieſelben umge
ſchieden von den übrigen Beziehungen des Lebens“ 5). In Bezug
auf das Nibelungenlied erllärt Uhland: „Was Hier, wo wir von
der Gompofition der Helbenlieder handeln, biefem Gedichte fo beſon⸗
dere Bedeutung gibt, ift der Umftand, daß e8 vor alfen andern
ben beftimmten Eindrud eines Kunftganzen madt. Eben darum
ſtellt fi bei ihm die Frage nach dem Dichter am natürlichſten und
dringendften hervor“ *). Diefe Frage beantwortet nun Uhland
nad fjorgfältiger Erwägung aller Umftände dahin: „Von einem
OD Eben. S. 141 ig. — 2) Ebend. S. 164 fg. — 3) Eben.
©. 211 fg. — 4) Ebend. ©. 433.
876 Biertes Bud. Biweites Kapitel,
Dichter bes Nibelungenliebes lönnen wir nicht fpredien, fofern wir
unter einem ſolchen ben Erfinder feiner Fabel oder auch ben ge
ftaltenden Bearbeiter eines vorher noch nicht poetiſch zugebilbeten
geſchichtlichen ober fagenhaften Stoffes veritänben. In langer,
lebendiger Fortbildung war ber poetiſche Inhalt des Liedes, Hand
lung und Charakteriftit, ſchon vollendet; ihr Dichter war allerbings
nit ein einzelner, fonbern bie längſt tm Volle wirkende dichteriſche
Geſanmikraft. Gleichwohl kann ums aud) ein bloßer Orbner nicht
zufrieden ftellen“ i). Bei ber ſchriſtlichen Auffaſſung der He
denſage zum Behuf des Vorleſens war es im Allgemeinen nicht
auf das bloße, wörtliche Aufſchreiben der in mumdlicher Ueberliefer-
ung vorhandenen Lieber und Sagen abgejehen, fonbern wer ſchrieb
oder dictierend ſchreiben ließ, Hatte irgend einen Bwed, bie Sache
weiter zu führen, für feine Beit wirkfam zu machen 2). Daß aber
ber „Orbner“ bes Nibelungenkiebes nicht bie in ber Weherlieferung
vorhandenen romanzenartigen Lieber bloß zuſammenſtellen und da⸗
bei nur bie ihm nöthig ſcheinenden Verknüpfungen und Ergänzungen
anbringen wollte, bavon zeugt die Beſchaffenheit des Wertes ſelbſt)
Was nah Wegräummg jener Vernüpfungen übrig Bleibt, kann
niemals in ſolcher Geftalt als Lieber in vollsmäßiger Ueberliefer ⸗
ung gelebt haben ®). Durch bas Ganze aber geht ein einheitlicher
Geiſt, ſowohl objectiv in der Darftellung der Zeitfitte, als „in ber
durch das Gange verbreiteten fubjectiven Stimmung“ %). „Anbeut-
ungen ber Zukunft finden wir als zum epiſchen Stile gehörig auch
in andern und ältern Gedichten. Aber biefer ahnungsvolle Hauch
durch das Ganze, biefe Verkündigung des Unheils vom Anfang an,
die Vorausſchauung in der träumenden Seele, die immer näher
rudende und bei jebem Vorſchritt wieder durch einen Wehelaut an
gerufene Erfüllung, dieſe Weife iſt nur dem Nibelungenliede eigen.
Und warım Bat denn and Feines von allen andern Gedichten
dieſes Kreiſes jene Aumuth, jene ans dem friſcheſten und Ichenbige
ften Gefühl erzeugte Wahrheit, bie jebes Wort durchdringt und
1) &bend. ©. 441. — 2) Ebenb. ©. 448. — 3) Cbend. 6, 44. —
4) Ebend. 6. 447.
Die Mitforfger der Brüder Grimm. 877
beſeelt?“ 1) „Wie follen wir aber einen Ordner nennen, befien
Geiſt auf folge Weife die alte Sage in fih auffaßt und zuräd-
ſpiegelt?“ — Nicht nur in der Sprache des Mittelalters würbe er
als tihtaere zu bezeichnen fein. „Auch wir werden im Sprach⸗
gebrauch umfrer Zeit fein Hinberniß finden, ben Ordner, bem wir
folge Eigenſchaften zuſchreiben, gerad heraus einen Dichter zu nen-
nen. Er ift, um es kurz zu bezeichnen, nicht der Dichter der Sage,
aber der Dichter des Liedes, wie es als ein Ganzes vor ung liegt“ 2).
Die reichhaltigen Borlefungen über Geſchichte der deutſchen Dicht⸗
Kunft im fünfzehnten umd ſechzehnten Jahrhundert, die Uhland im Som-
mer 1831 hielt ®), Yeiten ung hinüber zu einem feiner Hauptwerke,
den Alten hoch⸗ und niederdeutſchen Volksliedern. Uhland hat dieſer
Arbeit einen vieljährigen raſtloſen Fleiß gewidmet. Er wurde nicht
mũde, durch Reiſen und Brieflihe Anfragen fein Material zu ver-
vollftändigen, und fo lange ihm noch irgend eine Quelle entgieng,
zauderte er mit ber Veröffentlihung. Glüdlicherweife fegte er dieſer
faft übertriebenen Gewiffenhaftigfeit infofern ein Ziel, daß er im
J. 1844 wenigftens bie Liederſammlung ſelbſt Herausgab. Er
ſchöpfte nit aus mündlicher Ueberlieferung, ſondern „aus älteren
Urkmden, aus Handſchriften und Druden vom fünfzehnten bis in's
ſiebenzehnte Jahrhundert” 4). Er wußte vet wohl, daß feinen
Vollsliedern dadurch „hie und ba der romantiſche Duft von den
ügeln geftreift wurde, daß fie leibhafter, geſchiqhtlicher, ſelbſt ger
lehrter anzufehen” waren. „Doch find fie eben bamit, fährt er -
fort, wahrer und echter geworben, wie fie aus dem Leben ihrer Zeit
hervorſprangen“ 5). Durch dies ftreng geſchichtliche und forgfältig
teitifche Verfahren Uhland's Haben wir erft eine Mare und richtige
Borftellung vom Weſen bes Vollslieds erhalten. Der Lieberfamm-
kung wollte Uhland noch eine Abhandlung über die deutſchen Volls⸗
1) Ebend. S. 447. Das Leiste find Worte W. Grimm’s, Heldenfage, S. 368,
— 2) Wend. ©. 448. — 3) Herausgegeben von W. 2. Holland in Ufe
land's Schriften zur Geſchichte der Dichtung und Sage Bb. II (1866), —
4) Alte hoch⸗ und nieberbeutfhe Wolfslieber er. v. Uhland. Abthl. I, Vorw.
©. VIL— 5) 2ubwig Upland. Zum 26. Apr. 1865, ©. 326.
Raumer, Get. der germ. Philologie. 37
578 Wierted Bud. Biweites Kapitel,
lieder und Anmerkungen zu den einzelnen Liedern folgen laſſen
Über ehe er das Wert zum Abſchluß brachte, ſchied er aus bem
Leben. In feinem Nachlaß fand fi nebſt den Anmerkungen zu
einem großen Theil der einzelnen Lieder i) die Einleitung zu jener
Abhandlung und außerdem die Abſchnitte: „Sommer und Winter‘,
„Fabellieder“, „Wett- und Wunſchlieder“, „Liebeslieder“ 2). Ohne
Frage gehören diefe Arbeiten zum Reifiten und Vorzüglicften, mas
Uhland gefrieben hat. Noch einmal jeden wir ihn hier das Jüngfte
mit dem Aelteſten nerfnüpfen, aber, wie immer, nicht durch geift-
reihe Einfälle, fondern durch forgfältige geſchichtliche Unterſuchung
Was das Weſen des Vollslieds betrifft, fo tritt er der früherhin
verbreiteten Anficht entgegen, „als gehöre bie Zerriſſenheit, das
wunderliche Meberjpringen, der naive Unfinn zum Weſen eines ech⸗
ten und gerechten Vollslieds.“ „Schon die befiere Beſchaffenheit
andrer Lieber gleichen Stils weiſt darayf Hin, daß auch ben mm
zerrütteten die urſprüngliche Einheit und Klarheit nicht werde ge
fehlt haben“ 3). Dies ergibt ſich um fo gewiſſer, alg man be
geſchichtlicher Verfolgung der Zertvexberbniffe ſehr wohl nachweiſen
Kann, durch welche Umftände die alten Texte zerrüttet worben find).
Das Schönfte aber in diefen Abhandlungen ift der tiefe und früde
Siun, mit dem Uhland in unfer Vollsleben einbringt. „Inden
nun gezeigt worden, fagt er am Schluffe ber Einleitung, daß bie
deutſchen Vollslieder aus dem Vollsleben zu erläutery und zu a
gängen feien, fo Fonnte ſich zugleich bemertlih machen, daß ad
umgetehrt das Volt ohne Beiziehyng feiner Poefie nur ymmellftän
dig erkannt werde. Wenn die Sonne hinter den Wolken ficht,
Tann weber Geftalt noch Farbe der Dinge vollfommen Kerwortseim;
nur im Lichte der Poefie kann eiue Zeit klar werben, deren Beir
ſtesrichtung weſentlich eine poetiſche war. Das bürftige, einförmige
Daſein wird ein völlig andres, wenn dem friſchen Sinne bie gane
1) Uhland's Schrifien zur Geſchichte der Dichtung und Sage, Bb. IV,
1869, ger. von W. 2. Holland. — 2) Herausgegehen von Fram Peifier in
Upland's Schriften zur Geſchichte der Dichtung und Sage, Gd. III (1866). —
3) Ebend. S. 7. — 4) Ebend. ©. 6.
Die Mitforfger der Vrüber Grimm. 878
Natıre fih befreundet, wenn jeder geringfügige Befitz fabelhaft er-
glänzt, wenn das prumflofe Feſt von innerer Luft gehoben ft; ein
armes Leben und ein reiches Herz“ i). So greift bei Uhland bie
Siehe zum dentſchen Bolfe und das Stublum der altdeutſchen Poefte
feft in einander. „Eine Arbeit biefer ftilfen Art, ſchreibt er über
feine Vollsliederforſchungen am 31. December 1849 an Hafler in
Um, ſetzt ſich freilih dem Vorwurf aus, daß fie in ber jegigen
Lage des Vateriandes nicht an ber Zeit fei. Ich betrachte fie aber
nit lediglich als eine Auswanderung in bie Vergangenheit, eher
als ein rechtes Einwandern in die tiefere Natur des deutſchen Volls⸗
lebens, an befien Geſundheit mar irre werben muß, werm man
einzig die Erſcheinungen des Tages vor Angen hat, und deſſen ed»
leren reineren Geiſt geſchichtlich Herzuftellen, um fo weniger unmäg
ſein mag, je trüber und verworrener bie Gegenwart fich anläßt“ 2).
Und am 7. October 1850 an Moriz Haupt: „Mitten in ber
Schwüle biefer zerrütteten Zeit laſſen es doch jene Brummen aus
der Tiefe des deutſchen Weſens niemals gänzlih an Labſal und Er-
frifäung fehlen“ 3).
4. Die auderen Mitforfher der Brüder Grimm.
Wir haben in ben vorangehenden Abſchnitten drei hervorragende
Männer von jehr verſchiedener Art beſprochen: Lachmann, Schmel⸗
ler und Uhland. Auch die übrigen Mitforiher der Brüder Grimm
zeigen eine auferorbentlihe Mannigfaltigfeit der natürlichen Bes
gabung und bes geiftigen Entwidlungsganges. Gerade diefe fi
wechſelſeitig ergänzende Verſchiedenheit aber follte unſerer Wiſſen⸗
ſchaft weſentlich zu ſtatten kommen.
Bevor wir das neu herauwachſende Geſchlecht der durch Grimm
und Lachmann gewedten Forſcher beſprechen, müffen wir erft einiger
Männer Erwähnung thun, deren Anfänge noch in bie vorige Per
riode zurückreichen. Hier haben wir zuerft einen Dann zu nennen,
der au in ber jekigen Periode feine Thätigleit auf bem Gebiet
1) Eend. ©. 15 fg. — 2) Ludwig Uhland. Zum 26. april 1868.
©. 41. — 3) Ebend. ©. 412.
37
580 Bieries Bud. Biweites Kapitel.
der altdeutſchen Literatur vaftlos fortfegte, nämlich Friedr. Heinr.
von der Hagen. Im J. 1821 als Ordentlicher Profeſſor an
die Univerfität Berlin berufen, wo er 1856 ftarb, wibmete er
feine Zeit Hauptfäglih der Herausgabe altdeutſcher Dichtungen.
Außer vielen kleineren Arbeiten gehören biefer Periode folgende
Hauptwerte Hagen’s an. Erſtens eine dritte Auflage feines Nibel-
ungenlieds in ber Urfprade. Diesmal mit dem zweiten Titel:
„Der Nibelungen Noth zum erftenmal in ber älteften @eftalt aus
der St. Galler Urſchrift mit den Lesarten aller übrigen Hand
ſchriften.“ Breslau 1820. Die Sammlung ber Lesarten ift na
türlich bei weitem nicht volfftändig und bie ſprachliche Behandlung
bes Textes leibet immer noch an vielen Gebrechen. Aber „auher
einer gründlichen und ausführlichen Abhandlung über bie Geſchichte
bes Liebes, über bie Handſchriften und ihr Verhältniß, endlich über
die Einrichtung der neuen Ausgabe, erhalten die Leſer Hier zumäcit
einen faft durchaus urkundlichen Text, lesbar und verftänblid bis
auf wenige Stellen, in der Schreißmeije einer fehr guten Hand
ſchrift, die in einigen Punkten mit Sprachkenntniß noch geregelt
if.” So lautet (1820) Lachmann's anerfennendes Geſammturtheil
in einer Kritit des Hagen'ſchen Werts, in welcher er bann ben
Fehlern und Schwächen besfelsen mit gründlicher Schärfe zu Leibe
geht 1). Insbeſondere ift die Sorgfalt zu rühmen, mit der Hagen
das Verhaltniß der Handſchriften unterfugt. Der Hohenems «Laf
berg’fchen als „der Nibelungen Lieb“ ftellt er die übrigen als „ber
Nibelungen Noth“ gegenüber). Die Hohenems-Müncener nennt
er „bie mangelhaftefte”, weil ihr „59 Lieber“ fehlen), dennoqh
aber meint er, „fie ftamme, bei manden Auslafjungen und Ber
fegen, wohl zunächſt aus ber älteften Urkunde“ 4). Auch hier (1820),
wie bis an fein Ende, Hält übrigens Hagen an ber Ueberzeugung
feft, daß „unfer Nibelungenlied von Einem großen und eblen, auf
1) Jen. Allg. Literatur-Zeitung, 1820, Ergänzungeblätter Nr. 70fg.
Neben ber größeren Ausgabe Hagen’s erſchien in demfelben Jahr (1820) auh
noch eine Heinere. — 2) Einl. ©. XLVII, LI. — 8) @bend. ©. XXXIX —
4) &benb. 6. XLIV.
Die Mitforſcher der Brüder Grimm. 581
ber ganzen Höhe feiner herrlichen Zeit ftehenden Dichter verfaßt
iſt⸗ ). Die zweite Hauptarbeit Hagens aus diefer Periode ift
„Der Helden Buch in der Urfprade”, das er herausgab in Ber,
bindung mit Aloys Primiffer (geb. zu Innsbruck 1796, geft,
als Euftos ber Ambrafer Sammlung in Wien am 25. Juli 1827) 2),
Der erfte Band des Werkes erfhien zu Berlin im J. 1820 und
enthielt außer dem Nofengarten den erften Drud des Viterolf und
der Gudrun. So trat dies nur in ber Ambrafer Handſchrift er-
haltene, von Aloys Primiffer (1816) entdeckte ) und ſeitdem fo
berũhmt gewordene Gedicht, deſſen Hohen Werth Hagen ſogleich
erkannte, zuerſt im bie Oeffentlichkeit. Der zweite Band (1825)
gibt zum erftenmal das f. g. Helbenbuch des Kafpar von der Moen
aus ber Dresdener Handſchrift, ebenfo zum erftenmal Dietrichs
Ahnen und Flucht zu den Heunen und bie Ravenna⸗Schlacht, und
außerdem einen neuen Abdruck des Hürnen Seyfried nad) Georg
Wachter's Nürnberger Ausgabe 4). — Wie dem Nibelungenlieb,
fo blieb auch der übrigen deutichen Heldendichtung Hagen's Thätig-
keit bis an fein Lebensende gewidmet. So ließ er 1855 feinem
erſten Heldenbuch ein zweites folgen, daS wieberum ſehr werthvolle
Beiträge zur deutſchen Heldendichtung enthält. Darunter Alphart’s
Tod, eins ber ſchönſten Gedichte aus dem Sagenkreife Dietrich's
von Bern, zum erftenmal veröffentlicht. — Neben der beutfhen
Heldenpoefte wandte Hagen auf ben aus franzöfiichen Quellen
ſchöpfenden mittelhochdeutſchen Dichtern fein Intereffe zu. Im
J. 1828 gab er zu Breslau Gottfried's von Straßburg Werke
heraus, den Triſtan mit den Fortſetzungen Ulrich's von Thürheim
und Heinrich's von Freiberg, wozu Hoffmann von Fallersleben
noch die Brucftüde einer älteren deutſchen Triſtandichtung von
Eilhart von Oberge fügte. — Aber nit bloß bie erzählende
1) Einleitung S. XXVIII. — 2) Neuer Nekrolog der Deutſchen, Jahr:
gang 1827, ©. 1180. — 8) J. G. Büfging’s Wöcentlige Nachtichten Ob. I,
Bresl. 1816, ©. 46. 889. — 4) Ein vorangehenber Titel bezeichnet bies
ganze Helbenbuch als: Deutſche Gedichte des Mittelalters her. v. F. H. dr
ber Hagen und I. ©, Büfing. Zweiter Band.
582 Viertes Bud. Zweiies Kapitel,
Dichtung. beihäftigte Hagen, fondern fait in gleichem Maß aub
die lyriſche. Viele Jahre bereitete er. das umfafjende Unternehmen
einer Herausgabe aller mittelhochdeutſchen Lyvifer vor, bis endlich
im 3.1888 das Wert erſchien unten dem Titel: Minnefinger. Deutihe
Liederdichter des zwölften, dreizehnten und viergehnten Jahrhunderts,
aus allen bekannten Handiriften und früheren Druden gefammelt
und berichtigt, mit. ben Lesarten berfelben, Geſchichte des Lebens der
Dichter und ihrer Werke, Sangweifen der Lieder, Reimverzeichniß
der Anfänge, und Abbildungen: fünmtliher Handſchriften, von
Friedrich Heinrich von der Hagen, Leipzig, vier Bände in Quart
Hagen verfuhr dabet fo, daß er zuerft die „Maneſſiſche Sammlung
aus ber Parifer Urſchrift, nach G. W. Raßmann's Vergleichung
ergänzt und hergeſtellt· abdrucken ließ und dieſe dann „aus ben
Jenaer, Heidelberger und Weingarter Sammlungen und den übti-
gen Handfhriften und früheren Druden“ vervolfftändigte. Was
das Wert fonft bietet, ift in dem oben angeführten, Titel enthalten.
Endlich beſchäftigte ſich Hagen auch viele Jahre hindurch mit der
Sammlung. der kleineren gereimten deutſchen Erzählungen aus dem
12. bis 14. Jahrhundert, die er. dann in drei Bänden (Stuttgart
und Tübingen 1850) unter dem Titel herausgab: „Gefammtaben
teuer. Hundert altdeutſche Erzählungen: Nitter- und Pfaffen-
Mären, Stadt- und Dorfgeſchichten, Schwänke, Wunderfagen und
Legenden.” Die Sammlung gab vieles noch nicht Veröffentlichte,
wenn auch das auf dem Titel ftehende: „meift zum erſtenmal ge
druckt“, übertrieben war 1). Bon befonbevem Werth find die reich
haltigen Nachweiſungen, die Hagen über bie „Geſchichte der einzel⸗
nen Erzählungen” gibt. — Faſſen wir ſchließlich unfer Uxtheil über
Hagen's Leiftungen zufammen, fo werden wir feinen bedeutenden
Berbienften, feiner. warmen. Liebe zur Sache, feiner barans. enb
fpringenden anregenden Thätigfeit, feinem Sammlerfleiß alle Ge⸗
rechtigleit widerfahren laſſen. Wenige Gelehrte Haben fo viele
Denkmäler unferer alten Literatur herausgegeben wie Hagen; noch
1) Vgl. Franz Pfeiffer's Veurtheilung von Hagen's Wert in den Dkün
jener Gelehrten Anzeigen 1851, I, Sp. 673.
Die Mitſorſcher ber Brüder Grimm. 588
wenigeren iſt es vergönut gewefen, fo viele wichtige Werke zum
erfienmal zu veröffentlicgen. Aber fo verdienſtlich dieſe Bereicher⸗
ung unferes Materials war, fo wenig genägen Hagen’s Ausgaben
den firengeren Anforberimgen ber philologifchen Kritif. Gerade bie
ſpecifiſch philologiſchen Gaben find ihm bei aller Liebe zur Litera-
tur und bei alfen fonftigen Talenten nur in geringerem Maß zu
Theil getvorden: Diefer Mangel mußte natürlich; immer auffälfiger
hervortreten, je mehr ſich bie germaniſche Philologie durch Grimm's
Grammatit und Lachmann's Kritik zur Wiſſenſchaft geftaltete. Sm
Grinmm’s: Grammatik hat fih der gereifte Mann noch in fehr' acht»
ungswerther Weiſe Hineingenrbeitet. Aber Lachmann's Forderungen
zu erfüllen, war er von Natur außer Stande. Wenn! man fid
erinnert, mit welcher Meiſterſchaft Lachmann das kritiſche Verfahren:
für die Behandlung altdeutſcher Texte feſtſtellte, fo macht es einen’
peinlichen Eindruck, zu ſehen, wie Hagen außer Stande, den neuen:
Anforderungen zu genügen, fi mit einer Art von Troß gegen die
gewonnene richtige Methode verſchließt '). Kam num dazu ber Ge-
genſatz zwiſchen Hagen: und Lachmann in Bezug auf das Nibelums
genlied und eine tiefgemurzelte und nicht unbegründete Abneigung
der Brüber Grium gegen Hagen, fo erklärt fi bie einfame und
zurũckgeſchobene Stellung, die diefer verdiente Gelehrte in’ feinen
ſputeren Lebensjahren einnahm.
Wir haben / hier zunächſt noch zwei andere Forſcher zu nennen,
deren Anfänge in bie vorige Periode zurückreichen: Mone und
den Freiherrn von Laßberg. Von Mone führen wir außer dem
ſchon fräher: Erwähnten?) an’ die Quellen: und Forſchungen zur
Geſchichte der teutjchen Literatur und Sprache (1830), bie Ausgabe
des Reinardus Vulpes (1832), die „Unterfuhungen zur Geſchichte
der teatſchen Heldenſage“ (1886)} bie Weberficht der nieberländifchen
Bolls- Literatur. älterer Zeit (1838),. endlich die‘ „Alttentfchen
Schauſpiele“ (1841) und bie „Schaufpiele des Mittelalters (1846).
Auch vereinigte fih Mone (1834) mit Hans Freiheren von
1) 88. darüber Ftanz Pfeiffer in ber oben angeführten Beurtheilung
von Hagene Geſammabenteuer Sp 700 fg. — 2), S. 0: ©. 525.
584 Viertes Bud. Zweites Kapitel.
Auffeß zur Herausgabe bes von dem letzteren (1832) gegründeten
Anzeigers für Kunde des deutſchen Mittelalters" — Joſeph
Freiherr von Laßberg wurde geboren am 10. April 1770 zu
Donaueſchingen. Nachdem er ſeit 1789 den Furſten von Fürſten⸗
berg als Forſtmann gedient hatte, zog er ſich 1817 von den Ge⸗
ſchäften zurück und lebte ſeitdem ganz dem Studium der älteren
deutſchen Literatur und Geſchichte, erſt auf feinem reizenden Landſit
Eppishauſen im Thurgau, dann ſeit 1888 auf dem ſchönen alten
Schloß zu Meersburg am Bobenfee. Hier übte er eine wahrhaft
patriarchaliſche Gaſtfreundſchaft. Bon nah und fern kamen bie
Freunde der altdeutſchen Literatur, unter ihnen namentlich Upland 1),
um°ben vitterlihen Greis und bie literarifhen Schäge, bie er um
ſich verfammelt Hatte, kennen zu lernen. Seine Bibliothek. war
eine ber koftbarften, die ſich je im Beſitz eines ſchlichten Privat-
manns Befunden hat. Sie zählte 278 Handſchriften 2), und ber-
unter bie berühmte Handſchrift O bes Nibelungenliebes. Nach Laß
berg's Abſcheiden (15. März 1855) kamen feine Büderihäge in die
Bibliothek des Fürften von Fürſtenberg zu Donaueſchingen. Noch
Hei Lebzeiten Laßberg's Hatte ber Fuͤrſt bie Bibliothel gefauft, aber
deren Benutzung ihrem bisherigen Vefiger auf Lebenszeit belaffen).
Unter Laßberg's gelehrten Veröffentlichungen machen wir Bier nur
namhaft feinen „Lieder Saal. das ift: Sammelung altteutfier Ge
dite, aus ungebruften Quellen“, befjen vierter Band ben erſten
Abdruck des Hohenems» Lafderg’fhen Nibelungentertes enthält.
Schon 1820—25 gebrudt, aber vom. Herausgeber nur verſchenlt,
lam biefe wichtige Sammlung erft 1846 in den Buchhaudel.
Mit dem Erfeinen von Grimm's Grammatik (1819) und
Lachmann's Ueherfiebelung nad Berlin (1825) begann fig ein
neues Geſchlecht von Forſchern auf dem Gebiet der germauiſchen
Philologie heranzubilden. Obwohl natürlich alle ben Einfluß von
1) Drieſwechſel zw. Laßberg und Upland, her. von Franz Pfeiffer, Bien
1870..— 2) K. A. Barack, Die Handschriften der fürstl. Fürstenberg.
Bibliothek su Donaueschingen, Tübingen 1865, Vorw. 8. V. —
3) Augsburg. Mgem. Zeitg. 1855, Ar. 81 Beil. — Sr. 194 Beil.
B
| Die Mitforfer ber Brüber Grimm. 585
Luhmann’ Arbeiten erfahren, fo Tann man biefe Forſcher doch
feiben in folge, die als Schüler Lachmann's zu bezeichnen find,
amd in folde, bei denen dies nicht der Fall ift; und zwar ift hier
nicht immer ber perſönliche Unterricht Lachnann's das Entſcheidende,
ſondern auch der Anſchluß an feine Art umb Weiſe. Unter ben
Gelehrten, deren Tätigkeit in ben “Jahren 1819 His 1840” beginnt,
heben wir zuerft einige hervor, bie, obſchon mit Lachmann in Bes
rührung gelommen, doch nicht deſſen Schule beigezählt werden kön⸗
nen, nämlich Hoffmann von Fallersleben, Maß mann und
Graff.
Heinrich Hoffmann wurde geboren am 2. April 1798, zu
Fallersleben im ehemaligen Churfürſtenthum Hannover. Im
%. 1816 bezog er die Univerfität Göttingen, um Theologie zu
ftubieren, vertaufchte jedoch dies Studium bald mit dem der Phi⸗
lologie. Angeregt durch 3. G. Welder, warf er fi mit Vorliebe
auf das Studium der Archäologie und wollte ſich vorbereiten zu
einer Reife nad) Italien und Griechenland. Da lernte er durch
einen günftigen Zufall auf ber Kaffeler Bibliothek Jacob Grimm
lennen. Ich fand ihn eben beſchäftigt mit feiner Grammatik“,
fo erzählt uns Hoffmann ſelbſt. „Mehrere Bogen lagen bereits
gebrudt vor. Ich ſah und erftaunte, eine neue Welt gieng mir
auf, ic wurde nachdenklich und ſchwankend in meinen Plänen.“
„Den anderen Tag fahen wir uns wieder auf der Bibliothel. Jetzt
lernte ich auch feinen Bruber Wilhelm kennen.“ „Ms id mit Ja⸗
cob zuſammen die Treppe hinab gieng, erzählte ih ihm, daß ich
nad Italien und Griechenland zu reiſen beabfidtigte, um dort an
Ort und Stelle die Weberbleibfel alter Kunſt zu ftubieren. „„Liegt
Ihnen Ihr Vaterland nicht näher?““ fragte er darauf in einem
herzlichen, Tiebevolfen Tone. Ich höre die Worte noch heute, bie
Worte vom 5. September 1818. Noch auf der Meife entſchied id
mich für die vaterländiſchen Studien: deutſche Sprade, Literatur⸗
und Kulturgeſchichte, und bin ihnen bis auf dieſen Augenblick treu
geblieben" i). Won Göttingen überfiedelte Hoffmann im J. 1819
1) Mein Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen von Hoffmann von
Sallersteben, ®b. I, Hannover 1868, ©. 125.
586 Biertes Bud. Zweites Kapitel,
nad Bonn Auf ber dortigen Univerſitätsbibliothel entdedte er
Brudftüde einer Handſchrift von Otfrid's Evangelienbuch. Ihrer
Veroͤffentlichung (1821) fügte er ein VBruciftüc des mittelnieder⸗
länbifchen Romans Renout van Montalbaen und eine Ueberfiht
über bie Denkmäler der mittelniederländiſchen Dichtung Hinzu:
Trefflich vorbereitet, unternahm er hierauf im J. 1821 eine Reiſe
nad Holland. Ein mehrmonatliher Aufenthalt in diefem Lande
gewann ihm die Zuneigung Bilderdijl's 1) und anderer bebeutenber
Gelehrten, und feine Forfhungen auf den dortigen Bibliotheken
boten die Mittel zu feinen epochemachenden Reiftungen auf dem Ge
biet, der älteren niederländiſchen Siteratim 2). Nach einem längeren
Aufenthalt in Berlin (1821—1828), wo er ſich bes lebhaften Ver⸗
kehrs mit Hartwig von Meuſebach erfreute, erhielt Hoffmann (1823)
eine Stelle an der Central Bibliothek in Breslau ?). Auf Grund
lage feiner bedeutenden gelehrten Arbeiten wurbe er 1830 zum
außerorbentlihen *), 1885 zum ordentlichen Profeffor der deutſchen
Philologie 6) am der Untverfität Breslau ernannt. Als er aber in
feinen „Unpolitijgen Liedern“ die damaligen Zuftände Deutſchlands
angviff, wurde er (1843) aus feinem Amt als Profefior ohne Pen-
fton entlaffen 9, Es folgte mın ein langes und unftätes Wartder-
leben. Ein mehrjähriger Aufenthalt: in Weimar (1854—1860)- bot
auch feine dauernde Befriedigung. Endlich bereitete bie Ernennung
zum Bibliothelar des Herzogs von Ratibor in Corvey (1860) dem
viel geprüften Gelehrten: wieder eine ruhige Stätte). — Wir
haben Hier Hoffmann von Fallersleben weder als Dichter;, noch als
Politiker zu ſchildern. Nur fo viel. ſei uns zu bemerken erlaubt
daß Hoffmann's Dichten. ſich mit feinen germaniſtiſchen Stuben
auf das näcfte berührt. Was aber Hoffmann den Politiker ber
trifft, fo wird fein Lebenslauf jedenfalls dazu dienen, das / Vorur⸗
theil zu befeitigen, daß bie Liebe zur altdeutſchen Literatur eine
1) Vgl. Brieven van Mr. Willem Bilderdijk aan A. H. Hoffmann
van Fallersleben. Rotterdam 1837. — 2) Bgl. Hoffmann, „Mein Lehen“
u. ſ. f. I, 258-297. — 3) Ebend. 1,386, — 4) Ebenb IL, 181. —
5) &benb. II, 296. — 6) Ebenb. IV, 32. — 7) Ebendi VI; 908.
Die Mitforfger ber Vrüber Grimm. 887
reactionäre Geſinnung vorausſetze. — Hoffmann's gelehrte Thatigkeit
erſtrectt ſich vorzugsweiſe auf zwei Seiten: Die Herausgabe ger⸗
maniſcher Sprachdenkmale und die literaturgeſchichtliche Forſchung.
Die Gebiete, denen er feinen Fleiß zuwendet, find ſehr mannig⸗
facher Art. Doc tritt eins derfelden infofern in den Vordergrund;
als Hoffmann auf ihm unter aller deutſchen Gelehrten ohne Wi⸗
derſtreit bie erfte Stelle einnimmt: Die Erforſchung ber älteren
nieberlänbifhen Literatur. Den größten Theil feiner dahin gehöri«
gen Arbeiten hat Hoffmann in feinen „Horse Belgicas“ nieder-⸗
gelegt, die in ben Jahren 1830 bis 1862 in zwölf Theilen er⸗
ſchienen und die werthvollſten Beiträge zur Kenntniß der älteren
nieberlänbifchen Literatur enthalten. Gleich zum Eingang gab er
(1880) eine bibliographiſch⸗ literariſche Abhandlung „De antiquiori-
bus Belgarum literis“, die alles, was wir bis dahin über diefen
wichtigen Biweig ber germaniſchen Piteratur beſaßen, weit Hinter
fi ließ, und die er feloft dann fpäter (1857) in einer noch ſehr
bereicherten zweiten Ausgabe zu einer „Ueberficht ber mittelnieder⸗
ländiſchen Dichtung“ umgearbeitet Hat. Die folgenden Theile ver-
öffentlichen eine Reihe mittelnicderländifcher erzählender Dichtungen
und Schaufpiele mit Anmerkungen und Gloffaren, legen den
Grund zu einem Glossarium Belgicum, machen bie feltene älteſte
Sammlung niederländifher Sprichwörter durch einen neuen Ab⸗
druck zugänglid), und geben eine reiche Ausbeute an nieberlänbi»
fhen Volksliedern. Dieſen legten wandte Hoffmann feine beſon⸗
dere Vorliebe zu, fo daß er die 1883 zum erſtenmal erſchienene
Sammlung im %. 1856 mit vielen Vereiherungen zum zweiten .
mal herausgeben Tonnte. Schon als er bie erfte Ausgabe ver-
öffentlichte, Hatte ſich Hoffmann in die Spradje und den Tor biefer
Dichtungen in ſolchem Mafe eingelebt, daß er zwei von ihm ſelbſt
gedichtete altholländiſche Lieder unter die übrigen einfchieben Tonnte,
ohne daß jemand bie Unechtheit bemerkte. Ya einer ber erften ein-
heimiſchen Kenner der altniederländifchen Literatur, Willens in
Gent, nahm (1848) ohne alles Arg dieſe Gedichte Hoffmann’s in
feine Sammlung alter. vlaemiſcher Lieder auf !), Später (1852) 2)
yy Horae Belgicae, P. VII, p. V. — 2) Ebend. p. IV 2q.
588 Biertes Buch. Zweites Kapitel.
bekannte fi Hoffmann als Verfafler, Tieß fie (1856) in der zwei⸗
ten Ausgabe feiner Niederländiſchen Vollslieder weg, hatte fie aber
inzwiſchen (1852) mit noch 28 anderen von ihm gedichteten alt,
niederländiſchen Liedern ımter feinem Namen von neuem abbruden
laſſen *). Eine fo tiefe und umfaffende Kenntniß der älteren nie
derländiſchen Literatur hatte fi Hoffmann natürlich nur mit Hälfe
wiederholter Neifen nad Holland und Belgien erwerben Tönnen.
In jenen Ländern fanden feine Leiftungen bie größte Anerkennung.
So füllten fie nit bloß eine weſentliche Lücke in den Studien der
deutſchen Germaniften aus, ſondern Hoffmann's Eifer für bie alt
niederlandiſche Dichtung wecte aud) In deren Heimath bie erkaltete
Liebe zu dieſen Studien, wie dies ber größte dortige Kenner bes
Atnieberländifcgen, Profeſſor M. de Vries in Leiden, mit warmen
Worten bezeugt ?). Nah verwandt feinen niederländiſchen Studien
waren bie Bereiherungen, welche die mittelnieberbeutiche Literatur
Hoffmann verdankt: die erfte Veröffentlichung des niederdeutſchen
Schaufpiels Theophilus aus dem 15. Jahrhundert (1853. 1854),
cine neue Ausgabe bes Meinefe Vos (1834), ber nieberbeutide
Aeſopus (1870) und bie ältefte niederdeutſche Sprichwörterſamm⸗
lung von Tunnicius (1870). Neben feinen niederländiſchen und
niederdeutſchen Arbeiten widmete ſich Hoffmann mit nicht geringe
rem Eifer auch ben hochdentſchen Sprachen. Beſonders verbanft
ihm die Kenntniß des Althochdeutſchen ſehr wichtige Bereicherungen.
Auch hier iſt es hauptſächlich das Auffinden und Herausgeben von
Sprachquellen, wodurch ſich Hoffmann verdient macht. Im J. 1897
entdedt er zu Valenciennes die ſeit Schilter's Tagen verlorene
Handſchrift des Ludwigslieds von neuem und gibt fie in Gemein
ſchaft mit Willens Heraus °). Schon vorher (1827) Hatte
1) Horse Belgicae P. VIII, (1852). In P. XII ber Horae Bel-
gicae (1862) fügte Hoffmann noch neunzehn weitere don ihm gebictete al:
niederlandiſche Lieder bei. — 2) In der Wibmung feines großen Middel-
nederlandsch Woordenboek (1864) an Hoffmann von Fallersleben. —
8) Ueber die merkwürdige Geſchichte der Entdectung und fein Berhältuiß u
Willems Elnonensia (Gand 1897) eigen Hoffmann in feinem Leben II,
20 — 25.
Die Mitforiger der Brüder Grimm. 589
williram's Paraphraſe des Hohen Liebes in doppelten Terten aus
ber Breslauer und Leidener Handſchrift herausgegeben. Auch hier
waren es vor allem die gelehrten Reiſen durch einen großen Theil
Deutſchlands, insbefondere Deftreihs, die Hoffmann's unermüdlichem
Spürfinn eine reihe Ausbeute gewährten. Wir nennen bier nur
das althochdeutſche Gedicht, das Hoffmann unter bem Titel Meri-
garto (1834) veröffentlihte, dann feine Althochdeutſchen Gloſſen
(1826) und bie Fragmente der älteften hochdeutſchen Ueberfegung
des Evangeliums Matthäi aus dem achten Jahrhundert, bie Ste-
phan Endlicher C} 1849) auf der Wiener Bibliothek auffand und
gemeinfam mit Hoffmann (1834) herausgab. Einen großen Theil
feiner Entbedungen veröffentlite Hoffmann in zwei ſehr werth«
vollen Sammelwerten, den „Fundgruben für Geſchichte deutſcher
Sprache und Literatur (I. 1830. II. 1837) und den „Altdeutſchen
Blättern“, die er in Gemeinſchaft mit Moriz Haupt (I. 1836. IT.
1837—1840) herausgab. Hier findet namentlich; auch bie deutſche
Dichtung des 12. und 18. Jahrhunderts widtige Bereicherungen.
Unter Hoffmann’s zahlreichen literaturgeſchichtlichen und bibliogra-
phiſchen Schriften ift vor allem feine Geſchichte des deutſchen Kir⸗
chenlieds bis auf Luthers Zeit (1882, und ſehr vermehrt 1864) zu
nennen. Auch aus feinen literaturgeſchichtlichen Schägen gab Hoffe
mann Vieles in zwei Sammelwerfen vereinigt, in dem „Weimari»
ſchen Jahrbuch für deutſche Sprache, Literatur und Kunft“, das er
mit Oskar Schade (1854— 1857) herausgab, und in den „Find»
Yingen. Zur Geſchichte deutſcher Sprache und Dichtung“ (1860).
Unter ben rein biblographiſchen Schriften Hoffmann’s Heben wir
hervor das „Verzeichniß ber Altdeutſchen Handſchriften ber I. f.
Hofbibliothek zu Wien" (1841). Auch auf oberbeutichem Gebiet
richtete ſich Hoffmann’s Aufmerffamkeit mit Vorliebe auf bas
Boltsthümlie. „Unfere voltstäimligen Lieder“ (1859) 1) geben
mũhſame und genaue Nachweiſungen über die Lieder neuerer Dice
ter, bie unter dem Volle die weitefte Verbreitung gefunden Baben.
„Die deutſchen Geſellſchaftslieder bes 16. ımb 17. Jahrhunderts“
1) Die erſte Ausgabe im Weimarifjen Jahrbuch VI (1857).
590 Wieries Buch. Zweites Kapitel.
(1844) achmen ſich einer kulturgeſchichtlich wichtigen Gattung an.
Die „Shlefiigen Volkslieder mit Melodien. Aus dem Bunde
des Volles gefammelt“, (1842) waren neben vielen anderen auf
Schleſien bezůglichen Schriften ein bleibendes Denkmal von Hoffe
mann's Aufenthalt in diefem Lande. Auch das Mundartliche hatte
für Hoffmann einen beſonderen Reiz. Dichtete er doch felbft „Ale
manniſche Lieber“ (1826) und betheiligte ſich vielfach an der mund-
artlichen Forſchung, namentlih durch eine Darftellung feiner hei⸗
mathlichen Fallerslesener Mundart (1858) 1). Noch Haben wir
ſchließlich ein Wert Hoffmann’s zu erwähnen, das die Grunblinien
unferer Wiffenfhaft bieten follte: „Die deutſche Philologie im
Grundriß. Ein Leitfaden zu Vorlefungen“ (1836). Hoffmann
faßt „bie deutſche Philologie" als „das Studium des geiftigen
Lebens des beutfchen Volkes, infofern es ſich durch Sorache und
Kiteratur kundgibt“ 2). Er behandelt feinen Gegenſtaud zwar nur
bibliographiſch aber mit geoßer Umfiht und Zuverläffigfeit, und
eine lehrreiche Vorrede gibt Auskunft über fein Verfahren 3).
Bon einer gang amberen Seite als Hoffmann kam Hans
Serdinand Maßmann au die altveutfhen Studien heran.
Geboren am 15. Auguſt 1797 zu Berlin, wo fein Vater ein ftred-
ſamer und gefäieter Uhrmacher war, beſuchte Maßmann das
Friedrich Werderſche Gymnaſium daſelbſt in der Zeit, in der Jahn
den Berliner Turuplatz gründete. Jahn's Weſen machte auf den
iungen Maßmann einen unauslöfgligen Eindrud. Deutſch zu fein
in Wort und That, wurde fortan Biel feines Strebens. Im
J. 1814 bezog er die Univerfität Berlin, um Theologie zu ſtudie ⸗
ven. Aber fon im folgenden Jahr (1815) unterbrach er feine
Studien und machte als freiwilliger Jäger ben Feldzug nah
1) Sonderabbrud aus Frommann’s Dentfgen Wumbarten, V (1858). —
2) Vor. 8. V. — 3) Wir Haben hier natürlich mur die hauptfächlichhen Ar
beiten Hoffmaun's hervorheben Können. Ein vollſtändiges Verzeichnth feiner
Eqriſten (bis 1868) gibt: Hoffmann von Fallersleben 1818—1868 Funf-
zig Jahre diohterischen und gelehrten Wirkens bibliographisch dar-
gestellt von J. M. Wagner. Wien 1869,
Die Mitjſorſcher der Brüder Grimm. 39
Feankrei mit. Von 1816 bis 18 ftnbierte er dann abwechſelnd
in Jena und Berlin. Ein eifriges Mitglied der neugegründeten
Burſchenſchaft nahm er Theil an der Begeifterten Feier ber dent⸗
fen Reformation, die am 18. Oktober 1817 zugleich mit bem
Jahrestag der Schlacht bei Leipzig auf der Wartburg begangen
wurde. Als die Aufgabe feines Lebeus betrachtete Makmansı, für
eine echt deutſche, körperlich und geiftig gefunbe Erziehung ber
Jugend zu wirken, und namentlich fah er im Turnweſen einen
weientlihen Beſtandtheil einer ſolchen Erziehung. Nachdem er
mehrere Jahre (feit 1818) in Breslau, Magdeburg und Nürnberg
als Jugendlehrer thätig geweſen war, kehrte er nad) Berlin zurück
„uunmehr feine früh und ſtets mit Liebe gehegten hiſtoriſchen Sta⸗
dien der Mutterjprache beftimmter aufzunehmen" 1). Im 3. 1824
machte er eine „ſprachwiſſenſchaftliche Reife“ durch das weſtliche
Deutſchland, um die Bibliotheken für ältere Deutſche Literatur aus⸗
zubeuten. Zwei Jahre danach (1826) wurde er Turnlehrer au
ber abetten-Anftalt zu Münden, und 1828 erhielt er ven Auf⸗
trag, „eine öffentlihe Turnanftalt für die Schulen der Hauptſtadt
zu errichten.“ Zugleich Hielt er Vorlefungen über ältere deutſche
Literatur vor Studierenden und Künftlern. Im J. 1829 wurde
er zum auferorbentlihen, 1835 zum ordentlichen Profefjor an der
Univerfität ernannt. 1842 nahm er einen Ruf na Berlin au
als Leiter des neu einzurichtenden preußiihen Tuxnweſens und
Profeſſor an der Uuiverfität 2). Maßmann's gelehrte Tätigkeit
war eine fehr mannigfaltige. So weit fie in unferen Bereich fülft,
bezog fie ſich hauptſächlich auf das Gothiſche, Mittelhochdeutſche und
Althochdeutſche. Eine Reihe bedeutender Denkmäler verdankt Maß ⸗
mann ihre erſte Veröffentlichung durch den Druck. So ber He
rander des Pfaffen Lamprecht (1828) 3), und die übrigen Gedichte
1) Raßmann's Selbfibiographie in: Adolph von Gchaben, Gelehrte
Dänen, Münden 1824, 6. 70. — 2)_Bgl. außer ber oben angeführten
Selbſibiogtaphie den Artikel Mafmann in Brodgaus Real» Encyllop. (11)
9, 927. — 3) Denkmäler Deutſcher Sprache und Literatur aus Handſchriften
des 8. bis 16. Jahrhunderts zum erflen Male herausgegeben von H- 8.
Maßmann. Münden — 1828, ©. 16— 75,
692 Biertes Bud. Zweites Kapitel.
des 12. Jahrhunderts, welde die ſtraßburg⸗ molsheimiſche Hand»
ſchrift entHält (1887) i), der Eraclius (1842), der Alexius (1843).
Ebenſo eine Anzahl Heinerer althochdeutſcher Denkmäler, bie Maß⸗
mann vereinigt mit ben bereit3 veröffentliten unter dem Tiel:
„Die deutſchen Abſchwörungs⸗, Glaubens-, Veiht- und Betformeln
vom achten bis zum zwölften Jahrhundert“, 1839 herausgab. Vor⸗
zugsweiſe aber find es zwei Gegenftände, die Maßmann's germa⸗
niſtiſche THätigfeit viele Jahre hindurch in Anfpruc nehmen: Die
Mefte des Gothiſchen und die f. g. Kaiſerchronik. Im J. 1838
zeifte er im Auftrage des Kronprinzen Marimilian von Bayern
nad Jtalien, um bie gothiſchen Sprachreſte auf den Bibliotheken
zu Mailand, Rom und Neapel zu unterſuchen. Die Frucht dieſer
Reife war die erfte Veröffentlihung von Brucftüden einer gothie
fen Auslegung des Evangeliums Johannis (Münden 1834) und
eine vorzügliche neue Ausgabe der gothiſchen Urkunden von Neapel
und Arezzo (1887). Endlich nad; vieljähriger Vorbereitung er
ſchien: „Ulfilas. Die Heiligen Schriften alten und neuen Bundes
in gothiſcher Sprache. Mit gegenüberftehendem griechiſchem und
lateiniſchem Texte, Anmerkungen, Wörterbuch, Sprachlehre und ger
ſchichtlicher Einleitung von H. F. Maßmann. Stuttgart 1857."
Wie auf den Ulfilas, ſo verwendete Maßmann auf die Herausgabe
der Kaiſerchronik eine lange Reihe von Jahren in muhevoller Ar⸗
beit. Schon auf ſeinen gelehrten Reiſen im J. 1824 hatte er ſein be⸗
ſonderes Augenmerk auf bie Handſchriften biefes Wertes gerichtet und
bereits 1825 die Herausgabe desſelben angefünbigt. Aber erft in
den Jahren 1849 bis 1854 gelangte ber Entſchluß zur Ausführ ⸗
ung, weil immer neues handſchriftliches Material den urſprünglichen
Plan erweiterte und bereicerte. Nun aber war es dem Heraus⸗
geber auch möglich gemacht, ſowohl die verſchiedenen Bearbeitungen
des Kertes zu erkennen, als aud das Ganze mit mühfamen und
werthvollen Unterfugungen über die Entftehung und das Forilchen
bes Wertes zu begleiten.
1) Quedlinburg und Leipsig 1837.
Die Mitforfher ber Brüber Grimm, 598
Wie Mafmann, fo am auch Eberhard Gottlieb Graff
von Seite der Pädagogik zu den altveutfhen Stubien. Geboren
am 10. März 1780 zu Elbing widmete fih Graff (1797) zu Rd-
nigsberg der Vorbereitung zum Lehramt, wurde 1802 Lehrer am
Gymnaſium zu Jenkau, 1805 gründete er eine Töchterſchule zu El⸗
Bing, Yam dann aber 1810 als Schulrath zur Megierung in Ma-
vienwerder und fpäter (1814) in gleicher Eigenſchaft nach Arnsberg
und Koblenz. Er nahm fih mit großem Eifer bes Unterrichtswe⸗
ſens an und veröffentlichte (1817) wohlgemeinte, wenn auch keines⸗
wegs Mare und praktiſche Vorſchläge zu deſſen fundamentaler Um-
geftaltung 1). Im J. 1813 war er Mitglied des Central-Comitss
unter dem Freiherrn vom Stein. Schon als Pähagog hatte er
die Wichtigkeit der deutſchen Sprade für Erziehung und Unterricht
mehr und mehr kennen lernen. Als er im J. 1820 wieber in
feine Heimath verfegt wurde, und zwar anfangs ohne Amt, warf
er fi) ganz auf das gelehrte Studium der deutfhen Sprade. Die
eben erſchienene Grimm'ſche Grammatit bot ihm dazu die Grund⸗
Inge und der perfönlihe Umgang mit Lachmann in Königsberg bie
fierfte Leitung 2). 1823 erhielt er die Doctorwürbe, 1824 eine
Brofeffur der deutſchen Sprahe an ber Univerfität Königsberg.
Im 5%. 1830 gab er alle amtliche Thätigkeit auf und lebte fortan
mit Genehmigung der Regierung ganz feinen gelehrten Arheis
ten zu Berlin, wo er nad langen Kränkeln am 18. Oktober
1841 ſtarbꝰ). Obwohl Graff fih mit den verſchiedenen älteren
germanifen Sprachen bekannt machte, ja feine Studien auch über
die Grenzen des Germanifhen hinaus auf dag Sanskrit erftredte,
fo Hatte er ſich doch glei beim Beginn feiner Forſchungen ein be
ſtimmites Gebiet zur Bearbeitung ausgefuht: Das Athocbeutiäl.
1) Bgl. darüber K. Bormann, Graff als Pädagog, im Neuen Jahrbuch
der Berliniſchen Geſellſchaft für Deutſche Sprache, Bd. V (1843), S. 67 ig. —
2) Graff, bie althochdeutſchen Präpofitionen, Widmung an Grimm, ©. IV fg.
Bal. Hertz, Lachmann, Berl. 1851, $. 50. — 8) Sr. $. von ber Hagen,
Erinnerung an E. ©. Graff, im Neuen Jahrb. ber Berlin. Geſellſchaft für
Deutfdge Sprache. Bb. V (1843), ©. 58 fg.
Rammer, Gef. ber germ. Phulolegie. 38
584 Vierte Bud. Zweites Kapitel.
ESchon im J. 1821 begann er die Sammlung eines althochdentſchen
Sprachſchahes '), und auf bie Ausarbeitung biefes Werkes find von
da an mittelbar oder unmittelbar alle feine Beſtrebungen gerichtet.
Im 9. 1824 gab er als Vorläufer feines fünftigen Sprachſchates
eine Schrift über bie althochdeutſchen Praepofitionen heraus, die
Jacob Grimm gewidmet ift und die beffen vollen Beifall erntete?).
In den Jahren 1825 bis 27 machte Graff mit preußiſcher Unter
ftägung eine gelehrte Reife durch Deutſchland, Franlreich, bie
Sqhweig und alien, um aus ben Handferiften ber Bibliothelen
Material für feinen althochdeutſchen Sprachſchatz zu ſammeln. Die
Früchte diefer Reiſe veröffentligte er tHeilweife in einer Zeitigrift:
Diutiska. Denkmäler deutiher Sprache und Literatur, aus alten
Hanbiäriften zum erſten Male teils Herausgegeben, theils nad
gewiefen und befrieben.“ Drei Bände 1826 — 29. Graff gikt
bier zwar auch ſchätzbare Beiträge zur mittelhochdeutſchen Literatur,
die wichtigſte Stelle aber nehmen die vielen bier zum erftenmal
veröffentlichten althochdeutſchen @loffen ein. Im J. 1831 gab
Staff den Tert von Otfrid's Evangelienbuch unter dem Titel:
Krist, weit beffer heraus, als man ihn Bis bahin beſeſſen hatte. 1887
ließ er bie althochdeutſchen Bearbeitungen bes Boethius, bes Mar⸗
cianus Capella und von Ariftoteles xernyoglas und wege dam-
velas, 1839 die Windberger und Trierer Interlinearverſionen der
Palmen folgen. Aber alle diefe Bemühungen betrachtete Graff
nur als Hülfsorseiten für fein Yauptwert: Den althodbeutigen
Sprachſchat. WS es endlich fo weit war, daß bie Veröffentlichung
desſelben hätte Beginnen Können, fanb fih fein Verleger, ber bie
großen Koften des Druds daran zu wagen bereit gewefen wäre
Da trat ber preußiſche Kronprinz Friedrich Wilhelm (der nachmalige X
nig Friedrich Wilhelm IV.) in's Mittel und übernahm die Koften ber
Veröffentligung auf feine Kaffe. So konnte im J. 1834 ber erfte
Theil von Graff's althochdeutſchem Sprachſchatz erigeinen. Im
1) Graf, Althochd. Sprachschats I, Vorr. 8,I. — 2) 3. Grium
an Hoffmann von Fallersiehen d. 28. Aug. 1824, in Pfeiffer's Germanis
ZI, 886.
Die Mitforſcher der Brüder Grimm. 505
3. 1886 folgte ber zweite Theil, 1837 der dritte, 1838 ber vierte,
1840 ber fünfte. Vor Volfendimg des fechften Theiles, welcher das
ganze Werk abſchließen follte, ſtarb Graff. Diefer Theil wurde aus
Groff3 Papieren, fo weit biefelden reichten, und mit Benutzung
von Schmeller’s Sammlungen durch Mafmann (1842) heraus
gegeben. Auch fügte Maßmann (1846) einen felftändigen alpha
betiſchen Inder über das ganze Wert Hinzu. Graff hatte nämlich
die althochdeutſchen Wörter nicht nach dem Alphabet georbnet, fon
dern nach Wurzeln, und auch diefe find nicht nach unjerem Alpha
bet aufgeftelft, ſondern fo, daß bie vocaliſch anlautenden ven Anfang
machen, dann J und W, darauf 2, R, M, N, dann die Labialen,
die Gutturalen, die Dentalen folgen, fo daf die mit S anlauten«
den Wörter den Schluß bilden. Das Auffinden wird aber noch
mehr erſchwert dadurch, daß Graff öfters althochdeutſche Wörter
unter Sanskritwurzeln bringt, unter denen fie niemand fucht. Diefe
Säwierigfeit des Gebrauchs und fo mande Ungenauigkeiten und
Verfehen, die fih Graff beim Leſen der Handſchriften Kat zu
Schulden kommen laſſen, hat man dem Werk nicht felten zum Vor⸗
wurf gemacht. Aber alle diefe Mängel zugegeben, ift Graff's ums
fangreiches Lebenswert doch ein höchſt verdienſtliches. Es bietet
nad zwei Seiten Hin ein Hülfsmittel, wie es vor Graff auch nicht
amäherungsweife vorhanden war. Erſtens gibt e8 die Wörter der
eigentlichen althochdeutſchen Literatur mit einer veihen Anzahl von
Belegen aus Otfrid, Notler, Iſidor u. f. w., und zweitens ſam⸗
melt es den größten Theil der überaus zahlreichen althochdeutſchen
Gloſſen in einer folden Weife, daß es eine, wenn auch mit Bor
fit zu benutzende Grundlage für die ganze hochdeutſche Wortfor⸗
ſchung bildet.
Lachmann's Ueberſiedelung nad Berlin bezeichnet einen
Wendepunlt in der Entwidlung der altveutfcen Studien, indem
diefer Meifter der philologifhen Kritit nun eine fürmlide Schule
gründete für die methodiſche Behandlung der altdeutſchen Literatur.
Sein Einfluß griff um fo tiefer ein, als er mit feinen begabteften
Schülern auch in einen regen perfönlihen Verkehr trat. Einen
geſellſchaftlichen Vereinigungspunlt für bie gründlichſten Vertreter
38°
806 Viertes Bud. Zweites Kapitel.
der alidentſchen Stubien bildete damals daB Hans des Präfbenten
Karl Hartwig Gregor von Menſebach in Berlin. Gebe
ven am 6. uni 1781 zu Wodftebt bei Artern Hatte Meuſebeqh
in @öttingen und Leipzig bie Rechte ftubiert und war nad man
nigfachen juriſtiſchen Beamtungen in Dillenburg, Trier und Rob
Teng zulegt Praſident bes rheiniſchen Caſſationshofs in Berk
geworden. Seit dem J. 1842 aus bem Staatsbienft getreten,
finb er am 2. Aug. 18471). Die Mufeftunden, die ifen fein
praltiſcher Beruf lieh, hatte Meuſebach von früh an dem Gtubime
der beutfejen Literatur gewidmet. Sein naͤchſtes Biel war, bie in
Drud erſchienene deutſche Literatur bes 16. bis 18. Jahrhunderts
in möglichfter Vollſtändigheit zu ſammeln. Er verfolgte biefes Ziel
mit ſolcher Sachtenntniß, Aufopferung und Beharrlichkeit, daß es
ihm gelang, eine Bibliothek zuſammen zu bringen, die tm Bezug anf
die deutſche Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts nicht ihres gei⸗
Gen hatte 2). Nach feinem Tode iſt diefelbe von ber preufifchen fer
gierung für die königliche Bibliothek in Berlin angelauft worben.
Meuſebach war aber nichts weniger als ein bloßer Büderfammler.
Boll Geiſt, Scharffirm und Humor wandte er vielmehr das lebhef ⸗
tefte Intereſſe der Literatur felbft zu, und namentlich waren es bie
feiner eigenen Natur verwandten Erſcheinungen, vie ihn wor allem
anzogen: Johann Fiſchart und das deutſche Volkslied. Zeitlebens
bat er für beide Zwecke geſammelt, ohne doch je zum Abſchluß za
gelangen. Was wir auf wiſſenſchaftlichem Gebiet von ihm beſihen
Fund einige Kritiken, die ebenfo feine profunde Beleſenheit, wie fer
nen geiftreichen Humor bezeugen, die eine über Halling's Ausgabe
von Fiſcharl's Gluchaftem Schiff ®), bie andere eim humoriſn⸗
ſcher, auf feinem Gebiet berechtigter Angriff anf Grimm’ Grm
1) Brochaus, Real-Encytlop. (11) X, S. 187 fg. — 2) Mt. Die
deutschen Sprichwörtersammlungen nebst Beiträgen sur Cliarasteri-
stk det Meusebach'schen Biblivthek: Bine bibliogr. Skizze von Julios
Yachbt. Leips, 1853: — 3) (Hallische) Allein. Literatur-Zeitung,
1829, Mürs, Nr. 55 fg. — 4) Zur Recenfion ber beutjden Granimatil.
Untoiterlegt heranehegeben von Jacob Grimm. Caſſel, 1826.
Die Mitforfeper der Brüber Grimm. [77
Dean wie mit Lachmann, fo ftand Meuſebach auch mit Jacob und
Bädeln Grimm in freundſchaftlichem Verkehr. Grimm’s Rechtsal⸗
terthünger find ihm gewidmet.
Der erfte bebeutende Schüler, ben Lachmann in Berlin gewann,
war Wilpelm Wadernagel. Geboren zu Berlin am 23. April
1806 widmete ſich Wilhelm Wadernagel auf der Uninerfität Berlin
in ben Jahren 1824 bis 27 unter Lachmann's Leitung dem Stu⸗
dium der Philologie und zwar vorzugsweiſe ber beutichen. Gleich
feige erften gelehrten Arbeiten, die Spiritalia theotisca (Vratis-
laviae 1827) und das Wefjobrunner Gebet und die Weflobrunner
Gloſſen (Berlin 1827) zeigten den ſcharffinnigen und umfichtigen
Zorjcher. Aber weder dieſe, noch feine darauf folgenden Arbeiten
vermochten ihm den Weg zu einer Anſtellung in Preußen zu bah⸗
nen. Nachdem er 1828 bis 30 in Breslau privatifiert, dann fich
von neuem in Berlin aufgehalten Hatte, folgte er 1883 einem Hufe
nach Bafel als Lehrer der deutſchen Sprache und Literatur an ber
Univerfität und am Pädagogium. Bald darauf, im J. 1887, ex⸗
biekt er durch Ehrengeſchenk das Baſler Bürgerrecht und wurde
1854 in den Großen Rantonsratf, 1856 in ben Stadtrath gewählt.
Allgemein verehrt und geliebt ftarb Wadernagel am 21. Dec.
1869 ?).
W. Wadernagel war ein Mann von ebenfo tiefer, als amd
gebreiteter Begabung: Ein treffliher Jugendlehrer, ein ausgezeich⸗
neter Gelehrter, ein finniger Dichter, gleich tüchtig an Geift, wie
an Charakter. Was er immer beginnt, Alles faßt er mit derſelben
Treue, berfelben Gewiſſenhaftigleit an. Seine gelehrte Thätigfeit
erſtredt ſich auf ſehr verſchiedene Gebiete, aud über ben Bereich
hinaus, deſſen Darftellung uns hier zunächſt obliegt. Durch eine
Neige von Abhandlungen und Einzelſchriften bat er fih an der
Hanfte und kuliurgeſchichtlichen Forſchung betheiligt. Wir nennen
darunter nur beifpielsweife „Die deutſche Glasmalerei“ (1855), „Die
goldene Altartafel von Bafel“ (1857), „Weber bie mittelalterliche
1) Brochaus, Real-Euchtlop. (11) XV, 210. — Zur Erinnerung an W.
Wadernagel. Bafel 1870.
Sammlung zu Bafel” (1857), endlich ben köſtlichen Vortrag über
Gewerbe, Handel und Schifffahrt der Germanen (1858) 1). Aber
auch auf bem Gebiet der Philologie in dem engeren Sinn, in wel
chem wir das Wort bei unferer Darftellung faffen, ift W. Waders
nagel's Thätigfeit eine fehr weit greifende. Um uns den inneren
Zufammenhang diefer fo mannigfaltigen, aber überall mit gründ⸗
lichſter Sachkenntniß ausgeführten Arbeiten Har zu maden, ber
fprechen wir zuerft Wadernagel’s Hauptwerk. Dies ift fein Deut,
ſches Leſebuch nebft den bamit in Verbindung ftehenden Arbeiten:
dem Wörterbuch und ber „Geſchichte ber beutfchen Literatur.”
Das Leſebuch erſchien zuerft im J. 1885. Im J. 1861 erlebte
der erſte Theil, das altdeutſche Leſebuch, die vierte ſehr vervoll⸗
tommnete Ausgabe. Dieſer erſte Theil umfaßt das Gothiſche, Al
hochdeutſche, Mittelhochdeutſche und deſſen Fortſetzungen bis in den
Beginn des 16. Jahrhunderts. Die folgenden Bände, welche
Proben der deutſchen Poeſie und Proſa ſeit dem J. 1500 geben,
erſchienen 1847 in neuer Auflage. W. Wadernagel's Leſebuch iſt
nicht, wie manche andere derartige Bücher, eine raſch aus An⸗
deren zuſammengeraffte Compilation, ſondern es iſt ein Merl
ſelbſtändigſter gelehrter Arbeit, wie es nur dem Meiſter des
Fachs gelingen Tann. Nicht nur find die einzelnen Stück
mit größter literaturgeſchichtlicher Umſicht ausgewählt, fondem
die Behandlung ber Terte zeigt auch überalf ben gründlichen
Kenner der Sprache und kritiſchen Philologen. Das beigefügte
Wörterbuch ſchloß fi in ber erften Bearbeitung genau an das
Leſebuch an und bilbete durch feine zahlreichen Anführungen einen
vortrefflien Commentar zu demfelben. In der neuen Bearbeitung
(1861) ift e8 über biefen beſchränlteren Geſichtskreis hinansgefärt,
ten, indem es ſich, mit Hinweglaſſung der Citate, zu einem ge
drängten mittel- und althochdeutſchen Handwörterbuch erweitert hat.
Der Kenner bemerft leicht, daß bie hier dargebotenen Ergebniſſe
auf den umfaffendften Vorarbeiten ruhen Schon im J. 180
hatte W. Wadernagel im Verein mit Hoffmann von Fallersleben
1) In Haupte Zeitschrift für deutsches Altertkum IX (1859)
8. 530— 578.
Die Mitforfper der Brüder Grimm. 599
ein vorzügfies „Wloffar für das XII. — XIV. Jahrhumdert“
herausgegeben ), un feine in bemfelben Jahr veröffentlichte „lexi⸗
tographiid-fgntactifhe Abhandlung. über bie mittelhochdeutſche Ne
gationspartifel ne ift ein mufterhafter Worläufer eines mittelhoch⸗
beutfchen Wörterbuchs. An einem folgen Kat denn auch W.
Wadernagel viele Jahre gearbeitet, und eine Frucht biefer Arbeit
ift das feinem altdeutſchen Leſebuch beigegebene Wörterbuch, das In
trefflicher Weife die ſcharfe und Mare Entwidlung der Bebeutungen
mit einer maßvoll geübten Etymologie verbindet. — Ein zweites
Bert W. Wadernage?s, das ſich feinem Leſebuch anſchließt, iſt die
Geſchichte der deutſchen Literatur.” Auch Hier Hatte Wadernagel
feit Yange nad) den verſchiedenſten Seiten hin vorgearbeitet. So
ift feine „Geſchichte des deutſchen Herameters und Pentameters“
(1831) ein wichtiger Beitrag zur Geſchichte der deutſchen Metro,
während die Abhandlung über dramatiſche Poefte (1838) von der
hiſtoriſch⸗ aeſthetiſchen Seite der Literaturgeſchichte ben Weg bahn,
und bie über Bürger's Lenore (1835) eine einzelne anziehende
Frage gründlich erörtert. Im J. 1848 begann dann Wadernagel
bie Herausgabe feiner deutſchen Literaturgeſchichte, bie von ben Als
teften Beiten beginnt und mit bem 1855 erſchienenen vierten Heft
bis in den Anfang bes 17, Jahrhunderts reicht. Der Verfaſſer
bezeichnet feine Literaturgeſchichte als „ein Handbuch“, und gerade
ber dadurch geftellten Aufgabe wird er im ausgezeichneter Weiſe
gerecht. Durch bie glücliche Gruppierung des Stoffes und bie
einfach ſchmudloſe, ftreng wiſſenſchaftliche Form ber Darftellung
weiß er eine große Fülle von Thatſachen auf einen engen Raum
zufammehzubrängen, ohne doch je dunkel oder unlesbar zu werben.
Dabei iſt fein Wert nichts weniger als eine bloße Anhäufung
rohen Stoffs. Vielmehr erhalten wir überall im Einzelnen bie
Ergebniffe einbringender felbftändiger Forſchung, und durch bas
Ganze ziehen fih verknüpfen die Gedanken, bie der Verfaffer aus
der Entwidlung ſowohl ber Sprache, als ber Literatur zu gewinnen
1) Im ben Fundgraben für Geschichte deutscher Sprache und
Litteratur, I, 347 fg.
600 Viertes Buch. Zweites Kapitel.
ſucht. Auf die Epit der althochdeutſchen, die Lyrik der mittelhod-
deutſchen Jahrhunderte folgt der neuhochdeutſche Zeitraum mit dem
Drama und der Proſa '). Dabei „in ber Sprache, in den Trägern ber
Literatur, in deren Stoffen und Arten überall ein Fortſchritt zum Ums
faffendften und Allgemeinften“, immer mehr ein Aufnehmen aller Bor-
zeit und Fremde. So ift die deutſche Literatur „auf dem Weg, und
vielleicht | hon nah am Ende des Wegs, eine Weltliteratur zu wer
den" 2). — Diejelden Gaben, die W. Wadernagel in feinem Lie
buch und deffen beiden DBegleitern, dem Wörterbuch und der Liter
turgeſchichte, zeigt: kritiſch-⸗philologiſche Schärfe, gewiſſenhafte Treue
ber Forſchung und ein feiner Sinn für die Erſcheinungen der Sprache
und Literatur, treten ung entgegen in einer Reihe anderer bedeu⸗
tender Leiftungen. Ws kritiſcher Philolog beſpricht er die Hand
ſchriften der Bafler Univerfitätsbibliothet (1836), gibt er den
Schwabenfpiegel (1840), das Biſchofs- und Dienſtmannenrecht von
Bafel (1852), ven Vocabularius optimus (1847), und im Berein
mit Max Rieger den Walther von ber Vogelweide (1862) heraus
Seine Ausgabe altfranzöfifcher Lieder und Leiche (1846) verbreitet
durch die beigegebenen Abhandlungen ein neues Licht über den Zu
ſammenhang der provenzalifhen, altfranzöfifcen, deutſchen und ita-
lieniſchen Lyril. In feinem letzten Wert: „Johann Fiſchart von
Straßburg und Baſels Antheil an ihm“ (1870), gibt er eindrin ⸗
gende Unterſuchungen über das fo dunkle Leben bes großen Humo-
riften. Auf der anderen Seite Hären feine linguiſtiſchen Abhand-
lungen wichtige Fragen der Sprachgeſchichte auf. So gibt die Abhand-
lung über die Nachahmung der Thierjtimmen: „Voces varise
animantium® (1867) einen bebeutenden Beitrag zur älteften, die
über die Umbeutfhung fremder Wörter (1861) zur vergleichsweiſe
jüngften Entwidelung der Sprache, während die Unterſuchungen
über „Sprade und Sprachdenkmäler der Burgunden“ (1868) °)
unfere Kenntniß der älteften germanifhen Sprachzuſtände erweitern.
1) W. Wackernagel, Gesch. der deutschen Litter. III (1855)
8. 362. — 2) Ebend. ©. 368. — 3) We Beigabe zu €. Binbing’s Dur
gunbifsromanifcgem Königreich, Thl. I.
Die Witforfer der Brüber Grimm. 601
Ueberali aber finden wir dieſelbe Sorgfalt, Schärfe und Be
leſenheit 1).
Der zweite bebeutende Schüler Lachmann's, Moriz Haupt,
Hat nicht im eigentlihien Sinn bes Worts Lachmann's Unterricht
genoſſen; aber der Schule Lachmann's gehört er nichtsdeſtoweuiger
fo fehr an, wie nur irgend einer. Geboren zu Zittau am 27. Juli
1808 ftubierte Haupt in den Jahren 1826 His 30 unter Gottfried
Hermann’s Leitung in Leipzig Philologie. Nachdem er dann län
gere Zeit in Zittau privatifiert hatte, habilitierte er fi 1887 an
ber Univerfität Leipzig. 1848 wurde er zum Ordentlichen Pro⸗
feſſor der deuten Sprache und Literatur ernannt. Er entwidelte
als Univerfitätslefrer eine jehr erfolgreihe Thätigkeit ſowohl auf
dem Gebiet der deutſchen, als auf dem der klaſſiſchen Philologie.
Aber im J. 1850 wurde er auf Grund feiner Theilnahme an der
nationalen Bewegung ber Jahre 1848\und 49 von ber k. ſächſiſchen
Regierung feines Amtes entfegt. Doch die preußiſche Regierung
öffnete feiner ausgezeichneten Lehrgabe ein neues Feld, indem fie
ihn im J. 1853 an Lachmann's Stelle als ordentlichen Profeffor
der klaſſiſchen Philologie nad Berlin berief?). — Haupt Hat in
feiner ganzen Geiftesart die nächte Verwandtſchaft mit Lachmaun,
und bie perſönliche Begegnung mit biefem älteren Meifter, 1884
in Meuſebach's Haufe ®), mußte deshalb den nachhaltigften Ein⸗
drud auf ihn machen. Es entwidelte ſich bald ber innigfte Verkehr
zwiſchen beiden Männern, ber fih allmählich zur vertrauteften
Freundſchaft geftaltete. Wie Lachmann, fo verband Haupt die Mafe
file Philologie mit der germaniſchen und wie jener, fo faßte auch
Haupt vor allem die Tritifch - hiſtoriſche Feſtſtellung ber Texte in's
1) ®ir Haben Hier natürlich nur bie Haupiwerfe W. Wadernagel’6 bes
ſprechen unb einzelne feiner kleineren Schriften als charakteriſtiſche Beifpeile feiner
Tätigkeit hervorheben können. Ein volftändiges Verzeichniß feiner überaus
aahlreigen Arbeiten geben J. G. Wacernagel und 2. Sieber in ber Zeitschr.
für deutsche Philol. von Höpfner u. Zacher II, 3 (1870) 8. 337348.
— 2) Brodhaus, Real: Encyklop. any VII, 708°fg. — 8) Herts, Lach-
mann, 1851, 8. 244.
602 Viertes Buß. Zweites Kapitel.
.
Auge. Wir müffen hier zur Seite liegen laſſen, was Haupt auf
dem Felde der klaſſiſchen Philologie, namentlich für die römiſchen
Dichter geleiftet hat. Auf germaniihem Gebiet war neben Lad.
mann’3 Rath und Beifpiel der Verkehr mit Hoffmann von Fallerd-
leben für Haupt mannigfach anregend '). In Verbindung mit ihm
gab er 183640 bie Altdeutſchen Blätter heraus, eine Sammlung
von bisher unveröffentlichten altdeutſchen Dentmälern und wiſſen⸗
ſchaftlichen Unterfuhungen und Notizen. Die größten Verdienſte
erwarb fi) Haupt durch kritiſche Herausgabe mittelhochdeutſcher
Dichtungen. 1839 veröffentlihte er zum erftenmal Hartmann’
Exec, 1840 den Guten Gerhard des Rudolf von Ems; 1842 gab
ex die Lieder und Büchlein und den armen Heinrich bes Hartmann
von Aue heraus, 1845 den Winshelen, 1851 bie Lieder Gottfried's
von Neifen, 1858 die des Neidhart von Reuenthal. Alle biefe
Ausgaben find mit einer Sorgfalt, einer Sprachkenntniß, einem
Scarffinn in Handhabung fowohl der handſchriftlichen, als com
jecturalen Textkritik durchgeführt, die fie den Arbeiten Lachmann's
würdig an bie Seite ftellen. So hat dem auch Lachmann biefen
feinen Freund und Schüler zum Erben und Vollender feines Iite-
rariſchen Nachlaſſes eingefegt. Die Sammlımg ber älteften mittel
hochdeutſchen Lyriker in reinlichen Texten hat Lachmann begonnen,
Haupt im J. 1857 unter dem Titel: Des Minneſangs Frühling,
vollendet. Wo von Lachmann's wichtigften Arbeiten: dem Walther,
dem Wolfram, den Nibelungen, neue Ausgaben nöthig wurden, ba
fiel deren Beforgung Moriz Haupt anheim. Ein ſehr weientlihes
Berbienft endlich erwarb fih Haupt durch die Gründung feiner
Zeitfeift für deutſches Alterthum (1841), auf welche wir fpäter
noch einmal zurückkommen werben. "
Noch Haben wir einen Schüler Lachmann's zu beſprechen, ber
fih dann feine eigenthümliche Lebensbahn gebrochen hat: Karl
Simrod. Geboren zu Bom am 28. Aug. 1802, wibmete fih
Simrock feit 1818 erft zu Bonn, dann zu Berlin der Rechtswiſſen⸗
ſchaft. Daneben aber betrieb er mit Vorliebe, in Berlin unter
1) Hoffmann von Fallerbleben, Dein Leben, II (1868), ©. 248. 275 fg-
Die Mitforfger der Wrüber Grimm. 608
Lachmann's Leitung 1), das Studium der älteren deutſchen Litera⸗
tur. Nach längerem Privatifieren habilitierte er fi für dies Fach
an ber Univerfität Bonn und erhielt im J. 1850 bie ordentliche
Profeſſur der altdeutſchen Literatur dafeldft 2). Stmrod’s Thäs
tigfeit wendete ſich hauptſächlich zwei Seiten zu: der Ueberfegung
altdeutſcher Dichtungen und ber deutſchen Mythologie. Selbſt Dichter
und mit ganzer Seele dem deutſchen Alterthum zugethan, weiß
Simrod fih völlig in bie Stimmung und den Ton der alten
Dichtung zu verfegen. Was aber gleih feine erfte, in ihrer Art
epochemachende Leiftung: feine UWeberjegung des Nibelungenlieds
(1827), vor den vorausgegangenen Verſuchen auszeichnete, war
feine Mare und bewußte Erfenntniß bes durchgreifenden Unterſchieds
zwifchen dem Mittelhochdeutſchen und Neuhochdeutſchen. Bei einem
möglichft rihtigen und genauen Verſtändniß bes mittelhochdeutſchen
Ausdruds ſuchte er den Sinn des alten Dichters in wirklich gutem
Neuhochdeutſch wiederzugeben. Simrod’3 Ueberfegung des Nibelun-
genliebs fand bie günftigfte Aufnahme; im J. 1869 erlebte fie bie
zwanzigſte Auflage. Dem Nibelungenlieb ließ Simrock in Gemein-
ſchaft mit W. Wadernagel (1833) die Ueberfegung des Walther
von ber Vogelweide folgen. 1842 überfegte er Wolfram's Parzi-
val und Titurel, 1848 die Gudrun, 1852 Gottfried's Triftan, 1858
den Wartburgfrieg, 1867 den Freidank. So ſehr Sinrod auch bie
höfiſchen Dichter zu [häten wußte, fie reichten ihm nicht an das Nibe⸗
lungenlied, „ein Gedicht von der tiefften und mächtigſten Wirkung,
ein Gedicht, dem ſich unter ben höfiſchen weder der Parzival noch
der Triſtan vergleichen darf“ 3). Das Nibelungenlied machte er
deshalb auch zum Gegenftand feiner unabläffigen wiſſenſchaftlichen
Studien. Eine Frucht diefer Studien war (1858) die Schrift
über die Nibelungenſtrophe und ihren Urfprung. — Simrock bes
ſchränkte ſich aber nicht auf bie mittelhochdeutſche Zeit, fonbern er
wagte ſich auch an bie alliterierenden Dichtungen der älteren Periode.
1) Hertz, Lachmann 8, 89. 244. — 2) Brodhaus, Renl-Encykiop.
(11) XII, 716 fg. — 3) Das Nib, Über. von Gimrod, zwanzigfe Aufl.,
Stuttg. 1869. Cinl. ©. XXI. Bıl. ©. VL.
04 Vierte Bud. Ziveiied Kapitel.
Ju J. 1856 erſchien feine Ueberſetung des Heliaud, 1869 die des
Beowalf, und fon früher (1851) die der Edda. Auch Hier ver
dient das Geſchick, mit dem Simrock die faft unüberwindlichen
Scrvierigleiten bewältigt hat, die größte Anerkennung. Die Weer-
ſetzung ber Edda leitet ums hinüber zu Simrock's zweiter Leiftung,
der deutſchen Mythologie. (Ein Lieblingsſtudium Simrocks bilden
adanlich die vollsthümliche Erzählung, wie fie ſich in Märchen und
Sagen und in den ſ. g. Volksbüchern ausſpricht. Dahin gehören
Simrocks „Rheinfagen“ (1887), feine Deutſchen Marchen (1864),
feine Ausgabe der deutſchen Volksbücher (1889 fg.), und die Quel⸗
len des Shalfpegre in Novellen, Märchen und Sagen (1831).
Hören Abſchluß finden diefe Studien in dem „Handbuch ber best:
fen Mythologie mit Einfluß der nordiigen" (1855; dritte ſeht
vermehrte Auflage 1869). Denn in der deutſchen Mythologie fieht
Simrock den Urfprung unferer Sage und Dichtung. „Die Ge
ſchichte, ſagt er, muß dem Boll, wenn auch nur in Geſtalt ber
Sage, gegenwärtig Bleiben, wenn es nicht vor ber Zeit altern ſoll
Bor allem gilt das von umferer Mythologie," denn auch bie Götter
Ihre, der alte Gottesdienſt ift Poefte, die älteſte und erhabenſte
voeſie der Völker, und wie bie frähefte Quelle ber umfern, bie
Edda, Urgroßmutter bebentet, die Urgroßmutter aller beutfchen
Sage und Dichtung, fo ift in der deutſchen Mythologie eine voeſie
miebergelegt, bie in allen deutſchen Herzen anklingt, weil fie das
lautere Gold unferes eigenen Sinnes ift, unſer beftes und älteftes
Erbe, das wir nicht verwahrlofen follen“ 9).
Hiermit Haben wir die hauptſächlichften Genoſſen ber Brüder
Grimm geihildert. Wir haben ihre Thötigleit fogleih bis zum
Ende verfolgt, um unſre Darftellung nicht zu unterbrechen. Das
jüngere, erft fpäter Hinzugetretene Geſchlecht von Forſchern behalten
wir einem anderen Abſchnitt vor. . Hier aber mällen wir noch
einige Arbeiten aus den erften Jahrzehnden nad; dem Erſcheinen
von Grimm's Grammatik kurz erwähnen. Mittelhochdeutſche Hel-
dendichtungen gaben heraus O. F. H. Schönhuth, F. F. Oehhele,
1) x. Sumroc, Handbuch ber Deutchen Mytfologe (3) 1869, ©. II
Die Mitforfher ber Brüder Grimm. 608
E. Inl. Lechtien, 2. Eitmüller, Aolf Ziemann. Der zuletzt ge
warnte veröffentfichte and; (1888) ein zwar noch ſehr mangelhaftes,
aber doch in damaliger Zeit willfommenes mittelhochdeutſches Wör-
terbuch. Den Triften gab heraus E. von Groote (1891), ben
Suchenwirt (1827) Aloys Primiffer, den Nenner (1833) ber Bam-
berger biftoriiche Verein, eine Auswahl aus Berthold's Predigten
(1824) Chr. F. Ming. P. E. Müller’3 Unterfuhungen Aber das
Berhältniß ber nordiſchen und deutſchen Heldenfage bearbeitete in
felsftändiger Weife ©. Lange (1832). — Beiträge zur Kenntniß
des älteren Nieberbeutfchen (und Mitteldeutſchen) gaben (1832 fg.)
F. Wiggert und (1831) TH. Yof. Lacomdlet. Für das Angelſach⸗
fie waren J. M. Lappenderg und H. Leo thätig. Der Ichtere
wirkte zugleich in fehr verbienftliher Weife als Untverfitätslchrer
für die Verbreitung altgermanifher Kenntniffee ©. Ch. F. Mohr
nite, 2. Gieſebrecht, Ferd. Wachter, 2. Ettmüller, €. F. Köppen,
% 2. Studach beſchäftigten fi mit den ſtandinaviſchen Literaturen.
W. Bäumlein unterfuhte (1833) die Entftehung bes gothiſchen
Alphabets. — Was in dieſer Zeit für das ältere Neuhochdeuiſche
geſchah, war meift noch mangelhaft. Wir wollen dem ſchon früher
Erwähnten Hier nur no bie von bem Nürnberger Hector J.
Adam Göz beforgte Auswahl aus Hans Sachs (1829 fg.) 1) und
A. Gebauer’3 Bemühungen um die Dichter des 17. Jahrhunderts
(1828 fg.) hinzufügen. — Bon hohem unmittelbarem Werth für bie
germaniſche Philologie waren die Arbeiten mehrerer Nechtögelehrten
und Hiftorifer. Wir dürfen uns natürlich hier nicht näher auf
diefe Gebiete einlaffen und erwähnen deshalb nur beiſpielsweiſe €.
©. Homeyer’s Sachſenſpiegel (1827 fg.). Unter ben Hiftoritern
aber ift Hier vor allen zu nennen Friedr. Chriſtoph Dahl
mann (geb. zu Wismar 1785, 1829—1837 Prof. in Göttingen,
1) Das allerdings ſqwierige Unteruchmen einer wiſſenſchafulich gendgens
den und zugleich buchhändleriſch möglichen Ausgabe bes Hans Sache hat bis
jest noch nicht feine Ausführung gefunden. Unter ben älteren Verſuchen ver ⸗
best dex wit dem 1. Wb. in's Stoden gerathene von J. H. Häslein (Rürnd.
1781) Yervorgehoben zu werben. Vgl. aber auch unten Rap. 7.
606 Viertes Bud. Zweites Kapitel.
+ zu Bonn am 5. Dec. 1860). Ms Forſcher, Freund und Che
alter war er der würdige Genoſſe der Brüder Grimm. Syn feinen
meifterhaften Unterfuchungen über Saxo Grammaticus (1822),
denen er dann noch Erläuterungen zu Aelfred's Germania umb eine
Ueberfegung von Are's Isländerbuch folgen ließ, bringt Dahlmann
von Seiten ber ſtreng geſchichtlichen Forſchung in das germauiſche
Mtertfum ein, um das Sagenhafte aus der Geſchichte gründlich
auszuſcheiden; do miht um Sage und Dichtung ihres Werthes
au berauben, fonbern um fic als bas, was fie find, in ihrer vollen
Würde beftehen zu laſſen 1). Hier treffen von entgegengefegten Aus
gangspunkten Dahlmann und Jacob Grimm zufammen, und biefer
Tonnte deshalb feine deutſche Mythologie feinem Wandigewn wid ·
men, als Dahlmann.
Drittes Kapitel.
Das Sanskrit und befien Einwirkung auf bie Erforſchung ber
germanischen Sprachen.
1. Stanz Sopp.
Wir Haben in einem früheren Abſchnitt Bopp's Leiftungen bis
zum Erſcheinen von Grimm's Grammatik verfolgt. Was mm
auch fernerhin Bopp befähigte, ſelbſt einen Forſcher wie Grimm
weſentlich zu ergänzen, war außer feinem ſprachvergleichenden
Scharfſinn vor allem feine gründliche Kenntniß des Sanskrit. Das
Sanskrit bietet in feinem Lautfyftem, zumal auf dem Gebiet des
Vocalismus, Erjgeinungen von fo ungetrübter Urſprünglichkeit, daß
ſelbſt die älteſten europäiſchen Schweſterſprachen erft von bort iht
Licht empfangen. Ebenſo bewahrt das Sanskrit eine folde Voll⸗
konunenheit ber alterthümlichen Flexionen, daß viele Erſcheinungen
1) ©. 3. Dahlmann, dorſchungen auf dem Gebiete der Geſchichte, W-T,
tona 1822, ©. 195. 829 fg.
Das Sanskrit u. beffen Einwirkung auf d. Erforſch. d. germ. Sprachen. 607
anf euroͤpiſchem Gebiet erft durch bie Vergleichung mit dem
Sanskrit verftänblich werden‘). Zu dieſen Vorzügen ber Sprade
ſelbſt kommt dann ferner der fehr wichtige Umftand, daß das
Sanskrit feit einer Langen Reihe von Jahrhunderten duch einhei⸗
miſche Grammatiker mit bewundernswerthem Scharfſinn und in einer
von der europätfcen fehr abweichenden Weife bearbeitet worden ift 2).
Bopp wandte, nad feinem erften Auftreten mit einer ſprach⸗
vergleichenden Schrift, feine Bemühungen zunächſt der grammati«
ſchen Bearbeitung der Sanskritſprache jelft zu. Durch feinen
Unterriät wurde Berlin neben Bonn, wo Auguft Wilhelm
Schlegel für Ausbreitung des Sanskrit wirkte, die hauptſächlichſte
Pflanzſtätte des Sanstritftubiums in Deutſchland. Durch eine
Neihe von Lehrbühern und braugbaren Tertausgaben aber er⸗
ftredte Bopp feine Wirkjamteit weit über den Bereich feines Ber-
liner Lehrſtuhls Hinaus. Den größten Einfluß unter biefen von
Bopp geſchaffenen Lchrmitteln Hat ohne Zweifel feine im Jahr
1834 zu Berlin erfdienene „Kritiide Grammatif der Sanstrita-
Sprade in kürzerer Fafjung“ gehabt, melde im J. 1868 die vierte
Auflage erlebte. Aber jo wichtig Bopp’s Thätigleit auf dem ber
fonderen Gebiet des Sanskrit war, fo hat er doch feine hauptſäch-
lichſte Bedeutung als Begründer ber vergleichenden indoeiropätf—en
Grammatil. Was er in feinem oben beſprochenen Erſtlingswerk
begonnen hatte, das führte er dann zunächſt in einer Reihe ein
zelner Abhandlungen weiter, in denen er theils bie bereit ge
wonnenen. Ergebniffe noch fefter begründete, theils die Wiſſenſchaft
durch eine Menge newer Entdedungen bereicherte. Wir erwähnen
hier als beſonders wichtig für die germaniihe Sprachforſchung bie
Abhandlungen, die Bopp vom Jahr 1823 His zum Jahr 1831
unter ber Ueberfhrift „Wergleihende Zergliederung des Sanskrit
und der mit ihm verwandten Sprachen“ in der Berliner Akademie
der Wiſſenſchaften gelefen hat, und namentlich die ausführliche Kritif
1) Ueber bie Bebeutung bes Sanskrit für bie Sprachforſchung dgl. Tpeo«
dor Benfep, Geſchichie der Spraqhwiſſenſchaft S. 857 fg, — 2) Ebend .
6.35 .
608 Bieries Bud. Drittes Kapitel.
über Grimm's dentſche Grammatit, bie Bopp im April imd Mei
1827 in ben Berliner Jahrbüchern für wiſſenſchaftliche Kritit er-
feinen Tieß, umd die Beurtheilung von Graff's althochdeutſchem
Sprachſchatz, die er in berjelden Zeitſchrift im Februar 1885 ver-
öffentlichte. Die beiben zulegt genannten Arbeiten gab dann Bopp
in erweiterter Geftalt als beſonderes Buch Heraus unter dem Titel:
„Bocalismus oder fprachvergleichende Kritiken Über J. Grimm's deutſche
Grammatil und Graff's althochdeutſchen Sprachſchatz mit Begrändung
einer neuen Theoriedes Ablauts. Berlin 1836." Das Geſammtergebniß
feiner Forſchungen über ben Bau der indogermaniſchen Sprachen aber
legte Bopp nieder in feinem Hauptwerk: „Vergleichende Grammatit
bes Sanskrit, Zend, Griechiſchen, Lateiniſchen, Litthauiſchen, Gotfi-
ſchen und Deutſchen“, Berlin 1838 bis 1852. In den Jahren
1857 bis 1861 erſchien bie „Bweite gänzlich umgearbeitete Aus-
gabe” diefes epochemachenden Werts, in welcher der Verfaſſer den
oben genannten Sprachen auch noch das Armeniſche und Altſlavi-
ſche hinzufügte i). Der erſte Band dieſer zweiten Ausgabe (Berlin
1857) handelt vom Schrift- und Lautſyſtem, von den Wurzeln und
von ber Bildung ber Caſus; der zweite (1859) vom Adjectivum,
von den Zahlwörtern, von den Pronominibus und vom Berbum,
der britte (1861) feßt die Erörterung des Verbums fort und geht
dann zu ber Lehre von ber Wortbildung über.
Sollen wir nun in ber Kürze die wictigften Ergebniſſe zu-
ſammenfafſen, durch melde Bopp's Arbeiten die germanifge Sprad+
forſchung bereichert Haben, fo ift vor allem hervorzuheben, daß auch
abgefehen von den wichtigen Entdedungen, die Bopp im Einzelnen
gemadt hat, fein Gefammtrefultat von. unberehenbarer Wichtiglet
für die germaniſche Philologie war. Was man nämlich bis bafin
1) D. h. auch auf dem Titel und mit ber Abficht, biefe Sprachen durh
weg in ben Kreis der Unterſuchung zu giefen. Denn Berüdfigtigung hat
das Altſlaviſche ſchon in der erfien Ausgabe gefunden und zwar in fehr auf:
gebiger Weile. Bol. in bee 1. Ausgabe S. 820 — 861 den Abſchuin über
die „Bildung der Caſus im Atflavifhen.” — 1868 fg. erfhien eine dritt
Ausg. von Bopp’s Vergleichender Grammatif.
Das Sandkrit u. deſſen Einwirkung auf d. Erforſch. d. germ. Sprachen. 809
nur an vereinzelten Beiſpielen beobachtet hatte, bas Hat Bopp durch
den ganzen Bau der indogermaniſchen Spraden durchgeführt und
dadurch den unumſtößlichen Beweis geliefert, daß alle dieſe Sprachen,
vom Ganges bis nad; Island, eine einzige große Familie bilden,
deren fümmtlihe Zweige aus einem Stamm hervorgewachſen
find. Was insbeſonbere die germanifhen Sprachen betrifft, fo iſt
es in hohem Maß erfreulich, zu verfolgen, wie in deren Ergründs
ung ſich Grimm und Bopp in die Hände arbeiten, und wie beibe
Männer, fo verſchieden ihre Ausgangspunfte find, fih in ber
Meberzeugung begegnen, daß die Leiftungen des einen auch dem an⸗
deren zu gute kommen. Gleich in der erften Ausgabe der deutſchen
Grammatik ſpricht fih Grimm über dies Verhältniß aus. Won
Naffs Unterſuchungen über den Urfprung ber isländiſchen Sprade
fagt er bort: „Daß er bie perſiſche und indiſche Sprache aus ber
Reihe feiner Forſchungen abſichtlich ausgeſchloſſen Hat, gereicht diefen
gewiß zum Vortheil und ihm zum Lob; denn ſich beſchränken thut
jeder Arbeit wohl, wenn man von bem Innern, d. h. hier dem
Einheimiſchen ausgehen will und foll. Die Ringe der Verwandt
haft, welde die ſlaviſche, lateiniſche und griechiſche Sprade um
umfre deutſche herum bilden, find engere umd ber Aufgabe näher
gelegene, als die weiteren bes Perſiſchen und Indiſchen. Aufſchlüſſe
aber, wozu ums die allmählich wachſende Bekanntſchaft mit ber
reinſten, urfprünglichften aller biefer Sprachen, nämlich dem Sans-
krit berechtigt, erſcheinen darum nicht geringer, fondern als Schluß-
ftein der ganzen Unterfuhung überhaupt, und fie hätten feinen
befferen Händen anvertraut werben können, als denen unferes
Landsmannes Bopp.“ So urteilte Grimm bereits im Jahr
1818, als ihm von Bopp noch Nichts vorlag als das 1816 er-
ſchienene Conjugationsſyſtem der Sanskritſprache und die Beur⸗
teilung von Forſter's Sanskrit ⸗Grammatik in den Heidelberger
Jahrbüchern von 18181). Wie ſehr andererſeits Bopp von der
1) Stimm, Deutſche Gramm. Erſter Thl., Göttingen 1819, Vorrede
(unterzeichnet: d. 29. September 1818) S. XIX. — Bl. auch Grimm's
Aeußerungen fiber bie maßgebenbe Wichtigkeit des Sanslrit in ber Borrede zum
weiten Theil ber Grammatif (1826) ©. V fg.
Raumer, Gefd. der germ. Philologie, 39
619 Vieries Bud. Dritieo Kapitel,
epochemachenden Bedeutung der Griman’fhen Forſchungen durqh⸗
drungen war, das ſpricht er au mehr als einer Stelle ſeiner
Schriften aus. So äußert er z. B. in der Vorrede zu feinem
Hauptwerk: „Huf das Germaniſche iſt hierbei ganz worgäglide
Sorgfalt verwendet worden, und es mußte dies gefchehen, wenn
nad Grimm's vortrefflihen Werke noch Erweiterungen und Be
richtigungen in ber theoretiſchen Auffaflung feiner Verhältnif-
Formen gegeben werben, neue Verwandtſchafts⸗Beziehungen aufge
dest, ober bereits erlannte ſchärfer begränzt, und bei jedem Schritte
der Grammatik die Rath gebende Stimme ber afiatifchen wie der
europäifen Stammfcweltern fo gesan wie möglich beobachtet
werben follte” *).
Von Bopp’3 Entdedungen Tommt zunörberft alles das au
den germaniſchen Sprachen zu gute, mas Bopp in Bezug auf bie
Entſtehung der grammatiſchen Formen gefunden hat. Gerabe Hier
hat die Forſchung bie älteften uns nod zugänglichen Geftaltungen
der indogermanifgen Sprachen zu Grunde zu legen, und es läßt
ſich deshalb auf einem vergleichsweiſe fo jungen Gebiet, wie das
der germanifgen Spraden, wenig ausrichten ohne Hinzuziehung
der älteren Schweſterſprachen. Wenn nun au bei Gatgifferung
der grammatiſchen Formen nod Vieles dunkel und unſicher ift, fo
hat fi doch Anderes der eindringenden Forſchung bereits hin⸗
reichend erfäloffen. Ich erinnere beifpielsweife an den Zuſanmen ⸗
hang ber Perjonalenbungen bes Verbums mit den entſprechenden
Perfonalpronominibus, den Bopp bereits im Jahr 1816 gemuih⸗
maßt ) und dann in den beiden Ausgaben ber Vergleichenden
Grammatik weiter begründet hat.
In ber Lautlehre war es vorzüglich der Vocalismus, der durch
Bopp's Unterfuhungen eine neue Geftalt erhielt. Obwohl Grima
innerhalb des germaniſchen Gebiets auch den Vocalen eine einbrin-
gende und umfafjende Darftellung gu The werben ließ, fo war
1) Bopp, Vergl. Gramm. Berlin 1833, Borr. S. XIV. — Bel auf
Bopp's Anzeige von Grimm’s Gramm, in ben Berliner Jahrbügern für will.
Kritit 1827; beſonders Sp. 253; 2545 725. — 2) ©. 0. S. 465.
Das Sanetrit u. beffen Cinwirkung auf d- Grfarkh, &. germ. Sprachen. 611
8 ihm doch durch bie Modes der aermantihen, ja ber europaiſchen
Sprachen überhaupt vumðglich gemacht, in das Weſen bes Vocalismus
fo Huf einzudringen, wie ihus bies in vieler Beziehung beim Gone
ſonantismus geglüdt if. Mie Vocale ber germaniſchen Sprachen,
jelbit die bes Gothiſchen, find in manden Punkten fon zu weit
von bes urfpränglicgen Geftalt abgewichen, um ber Unterſuchnug
eine genügende Grundlage zu Kieten; und auch das Griechiſche und
Lteiniſche gewähren hier keine hinreichende Aushülfe. (rt das
Sanskrit bietet bie Aufihläffe, welche die europäiſchen Sprachen
verfogen. Namentli die Umwandlung, welche das» ſowohl in
den germanifen Sprachen, ala im Griechiſchen und Lateiniſchen
an vielen Stellen erfahren hat, verdedt ben urſprünglichen Bau
der Sprache in ſolchem Maß, daß auch der größte Scharffinn das
Richtige wicht Hätte finden Knuen ohne Beipülfe bes Sauskrit, has
weade Hier eine Hohe Uriprünglihleit bewahrt hat. Das a ift
über nit nur an ſich der mwictigfte Mocal, ſondern es gewinnt
ung dadurch am Bebentung, daß es andereu Vocalen als Element
der Steigerung vorangeſchidt wich. So bildet im Sauskrit a-+i,
Wlommengegogen in $, bie erſte Steigerung bes i; a + u, zus
aumengezogen in d, bie erfte Steigerung bes u. Tritt noch ein
8 vor diefe erſte Steigerung, jo erhalten wir bie zweite Steiger-
ug, namlich a + a + i, gufammengegogen ni; a +a + m,
wrfammengegogen iu Au. Der Vocal a zeigt nur bie zweite Steir
Wernng und wird durch dieſelbe zu A Die indiſchen Grammatiler
Haben bie erſte dieſex Steigerutgen Guna (Tugenb), bie zweite
Vriddhi (Wachsthum) genannt, Ale dieſe Erfgelmmgen finbex
fü aun and in ben suzapliigen Schweſterſprachen bes Sauskrit,
aber durch die mannigfaltigen Trübtingen bes urfprünglichen a häufig
verdarilelt. Kin nicht geringer Theil von Bopps Cutdedungen
wit auf feiner ſqarffinnigen Zergliederung bes Vocalismus, wie
wir dies im Folgenden noch öfters fehen werben. Hier will ik
nur das Eine bemerfen, daß Grimm's Forſchung zwar innerhalb
der germaniſchen Sprachen zu einer forgfältigen Berüdiätigung
and des Vocqlismus geführt Hatte, daB aber für bie etymologilche
Po
612 Viertes Bud. Drittes Kapitel.
Vergleichung germaniſcher Wörter mit griechiſchen, lateiniſchen u. |. w-
erſt Bopp ben Vocalen ihr Recht verſchafft Hat.
Die Erforſchung der germaniſchen Flexionen verdankt Bopp
in ihren beiden Haupttheilen: der Declination und ber Conjuga⸗
tion, fehr bedeutende Fortſchritte. Seiner Eintheilung der Decli⸗
notionen in ſtarke und ſchwache hatte Grimm in der zweiten Ausgabe
der Grammatik eine andere Auffaſſung zu Theil werben laſſen, als
in der erften d. Er Hatte in der erſten Ausgabe das m ber ſchwa⸗
Gen Declination als eine „Bwifchenfdjiebung“ betrachtet. Doc; war
ex bereit auf der richtigen Spur, indem er die Declination des
gothiſchen namd, namins mit dem lateiniſchen nomen, nominis
aufammenftellte. Sm ber zweiten Ausgabe (1822) erklärt er bas
n ber ſchwachen Delination für ein „Princip der Bildung“ im
„Bufammenftoß mit dem der Flexion“, und läßt den Nominativ
des ſchwachen Maſculins blöma für blöm-an-s ftehen. Er ver-
gleicht damit Yateinif homo, hominis; sermo, sermonis; fans
feit, ’sarma (felix), Genet. ’sarmanas. Diefe richtige Annahme
Grimm’s führt dann Bopp dur genauere Berglieberung der
Sanstritbeclination zu volltommener Gewißheit 2). Wie bei ber
ſchwachen Declination, fo fehen wir Grimm auch bei der ftarfen ber
reits auf dem richtigen Weg. Aber ein Punkt bleibt ihm dunkel,
und indem Bopp gerade biefen fehr wichtigen Punkt mit ſcharffin ⸗
niger Benügung bes Sanskrit aufhellt, fällt auf die ganze germa⸗
niſche Declinatton ein neues Licht. Grimm ſcheidet beim Subftan
tivum vier Declinationen. Er fieht nicht nur, daß der charalteri ⸗
ſtiſche Buchſtabe feiner dritten Declination (gothiſch m. sunus; f.
handus; n. faihu) u ift, fondern er erkennt auch als charakteriftie
ſchen Buchſtaben feiner vierten Declination (gothifh m. halgs; f.
ansts) ganz richtig das i. Ja nad einer Stelle in ber zweiten
Auflage des erften Bandes feiner Grammatit könnte man glauben,
1) Bf. Grimm, Gramm. I, Erfte Ausg. ©. 147 mit I, Zweite Ausg.
©. 817 fg. ©. 892 fg. — 2) Bopp in ben Zahıbüdern für wifl. ri.
1927, Sp. 726 fg., und dann völlig durchgeführt in ber Vergleichenden
Grammatit.
Das Sanskrit u. deſſen Einwirkung auf b. Erforſch. b. germ. Sprachen. 618
Grimm Habe au das Wefer feiner erften Declination (gothiſch
m. fisks, f. giba, n. vaurd) Bereits durchſchaut. Er fagt dort
nämlich: „Die Verſchiedenheit ber einzelnen Declinationen beruht
auf den Vocalen, nicht den Conſonanten. Ste zeigt fih am deut⸗
lichſten im Subftantioum, weniger im Abjectivum, tritt aber auch
im Pronomen hervor. Wiederum ift fie unter den drei Geſchlech⸗
term vorzüglich Beim Maſculinum entwickelt. Zum Kennzeichen
der vier männlichen Declinationen mag ber gothiſche Accuſativ Plus
ralis Maſculini dienen, welcher in ber erften a, in ber zweiten ja,
in ber britten u, in der vierten i gibt” 1). Hat num Grimm hier
nicht deutlich erkannt, daß der Vocal a in feiner erften Declination
dieſelbe Rolle fpielt, wie u in ber dritten, i in ber vierten? Man
ſollte es benfen, und uns, die wir ben wahren Bufammenhang ber
Sache Tennen, mag e3 leicht fo erſcheinen. Dennoch aber war es
nicht ber Fall. Wir fehen dies aus der Art, wie Grimm feine
erfte Declination behandelt. Er ift ganz nahe daran, fie als A-
Declination zu erkennen. Das i im Genetiv Singularis fällt ihm
auf, er hält es aus Gründen, bie er auf dem Boden ber germanifchen
Spraden gewinnt, für unorganiſch. Die ältere Flexion bes Altſächſiſchen
(fiso, Genetiv fiscas) führt ihn darauf, das is bes Gothiſchen auf
ein zu Grunde Tiegenbes as zurüdzuführen. Aber feiner erſten
Declination überhaupt ein Thema, bas mit a fließt, zu geben
und bemgemäß den Nominativ Singularis fisks für entftanden
aus fisk(a)s zu erfläven mit unterbrüdtem a, dazu ift Grimm
nicht gelommen. Vielmehr hat diefen Schritt erft Bopp gethan,
und zwar zuerft in feiner Beurtheilung von Grimm’s Grammatif
in ben Berliner Jahrbügern für wiffenfhaftlige Kritik, Mai
182729). Die Entdeckung einer folden durch alfe indogermaniſchen
Sprachen hindurchgehenden A - Declination war besmegen auf
europãiſchem Boden fo ſchwer zu machen, weil bie Trübung bes a
in u im Lateiniſchen, in o im Griechiſchen auch in ben beiden an⸗
1) Stimm, Gramm. Thl. I, zweite Ausgabe, 1822, S. 810. —
2) Spalte 730 (In dem neuen Abbrud in Bopp's Vocaliemus. Berlin 1836
el).
82 Viertes Bud. Written Eupitel
dien Spenden dieſe Declinction fehe vervamlelt Kat. Dagegen
bot das Sanskrit, das biefe A-Deckinition in derſelben Market
bewahrt Hat, wie bie I- und U-Decktnation, Bobp’s Scharfſin
bie Mittel, bie Sache auch anf germaniſchem Beben aufzuhellen
Dieſe Entdecung war aber besiegen von folder Wichtigkeit, weil
fie zuſammengenommen mit Bopp'9 übrigen Ergebniſſen ſowohl für
die finrfen Dedinationen unter fi, als für bas Verhaäktniß der
ſtarken Declimationen gu ben ſchwachen die Forſchung erſt zum Ab⸗
ſchluß brachte. Die germaniſchen Deckinationen fügten ſich nun in
den ganzen Bau der indogermaniſchen Sprachen ſo ein: die ger⸗
maniſchen Declinatlonen ſcheiden ſich in ſolche, deren Stämme vo⸗
caliſch ſchliehen, und in ſolche, deren Stämme conſonantiſch ſchließen
Die erſtere Kiafſe bilden bie ſtarken Declinationen, und zwar it
ben drei Abtheilungen der Stämmte auf a (Grimm's erfte unb
zweite ftarte Declinatlon); ber Stämme auf i (Geimm’s vierte
flarte Declination) und der Stänmte auf u (SGrimm's dritte ſtarke
Declination). Unter den conſonantiſch ſchließenden bilden bie Haupt⸗
maſſe bie Stämme anf n (Grimm’s ſchwache Declinationen). Aber
dieſe Stämme anf n ſind keineswegs bie einzigen conſonantiſch
fließenden Derlinationsftämme in beit germaniſchen Gprathen.
Ebendahin gehören bie Stämme anf r (goffif dauhter u. f. w)
und fo mandes Andere, das fi mıf germaniſchem Boden anomal
ausnimmt. In feiner dergleichenden Grammatik hat Bopp bies
Alles eingehend erörtert, indem er die einzelnen Cafusbildungen
der germaniſchen Sprachen mit ben entſprechenden bes Sanskrit,
Griechiſchen, Lateiniſchen w. |. m. vermittelt. — In Bezug auf ben
unterſchied zwifgen ber Detlination bes ſtarken Subſtantivs und
Adjectivs war Grimm der Meinung, daß bie vollen Formen bes
Adjectivs (gothifch Dativ Sing. Maſc. und Neutr. blindamnes,
Venet. Sing. Fem. blindaiade, u. ſ. w) bie urſprunglichere Der
clination erhalten haben, welche in ben kürzeren Formen bes Sub ⸗
ſtantivs (Dativ. Sing. Maſcul. ſiaka, Neutr. vaurda; Gene. Sing.
Gem. gibde) mus abgeftumpft fi‘). Dagegen ſtellte Bory in feiner
1) Grimm, Gramm. I, zweite Aueg, 1822, ©. 807 fg.
Das Sanskrit u. beffen Einwirkung auf d. Erſorſch. d. germ. Sprachen. 818
Verglelchenden Grammatik im Jahr 1885 bie Anfit auf, daß ber
Unterfied ber germaniſchen ſtarlen Adjeetivdeclination von ber
Subftantivdechinatien daher rühre, daß fi das ſtarle Adjectiv ein
Bronomen einverleibt Habe, und dies Pronomen, obwohl mit dem
Adjectivſtamm feft verwachsen, feine pronominale Deckinationsmelfe
beibehalte 2).
Wie für die germanifdge Declination, fo wurden auch fir bie
Eonjugation Bopp’s Forſchungen von eingreifender Bedeutung.
Die germaniſchen ftarfen Konjugationen ſcheiden fi im Gothiſchen
in rebuplicierende (halda [id weibe], Praeteritum haihald; sl&pa
lich ſchlafeſ, Praeteritum saizlöp; töka [ich beräßte], Praeleritum
taitök, u. ſ. w.) und ablautende. Die vebuplicierenden find in
den anderen germaniſchen Sprachen durch Zuſammenziehung zu
ſcheinbar bloß ablautenden geworden. (Althochdeutſch haltu [custo-
dio] Praet. hialt; släfu [ih ſchlafe] Praeter. eltaf). Daraus und
aus der Vergleihung mit dem Sanskrit, dem Griechiſchen und
bateiniſchen Hatte Grimm 1822 in der zweiten Ausgabe des erften
Teils feiner Grammatil, wenn auch nur fragend und zweifelnd,
die Bermuthung geſchöpft, es möchten vielleicht alfe ablautenben
Eonjugationen der germanifchen Sprachen auf früger vorhandene
Retuplicationen zueüdzuführen fen. Bumäcft möchte er den Ab⸗
laut ö, uo (gothiſch fara [prefieisoor], Praeter. för; althochdeutſch
farı, fuor) ähnlich erflären, wie das althochdeutſche fa ber ehemals
reduplicierenden Praeterita. Und obwohl ihm dieſe Erflärung dann
doch wieder bedenllich ſcheint, fährt er fort: „Sollte man nicht
weiler gehen, allen und jeden Ablaut ſelbſt der übrigen ſtarken
Conjugationen aus anfünglicher Reduplication leiten?“ ). Und
nach einigen andern Muthmaßungen ſchließt er: „Ich häufe Hier
mehr Fragen und Zweifel, als ich jetzt ſchon beantworten und löſen
lann; doch ſcheint mix Im voraus gewiß, daß das Weſen des beut-
ſchen Ablauts nicht in dem hohlen Klang zu ſuchen iſt; dieſe Ver⸗
1) Bopp, Vergleichende Gramm. Erſte Ausg., Zweite Abtheilung, Berlin
1885, &. 367. Zweite Ausg. Bd. II (1859) S. 2 fg. — 2) Grimm ⸗
Gcamm. I, zweite Ausg. 18, ©. 1088.
— —
616 Viertes Buch. Drittes Kapitel.
ſchiedenheit der Vocale muß aus einer anfänglichen, ſinnlich-bedeut⸗
fameren Wortflerion entfpringen, ſei fie num ber Rebuplication
ähnlich ober nicht." Ja an einer fpäteren Stelle fagt Grimm mit
ausbrüdlichen Worten: „Sanskritiſche Verba mit wurzelhaftem
Vocal und einfachauslautender Confonanz erhalten im ‚Singular
Praeteriti neben der Neduplication einen Ablaut (melde Veränder⸗
ung indifhe Grammatifer Guna benennen, Bopp Annals p. 35),
nämlih a wird zu &, i zu 6, u zu 6; Dual und Plural behalten
den Wurzeloocal; 3. B. taträsa (timui) tutöpa (percussi) tutd-
pitha (percussisti) tutöpa (percussit), Plır. tutupima (pöreus-
simus) tutupa (percussistis) tutupus (percusserunt); und Wur ⸗
zeln mit kurzem a umd einfacher Confonanz nad) demſelben befiken
weiter bie Eigenheit, daß fie nur in L III. Singul. veduplicieren,
in DI. Singul,, im ganzen Dual und Plural Hingegen ftatt ber
Reduplication den Ablautö nehmen. Beiſpiele: tatäpa (arsi) töpitha
(arsisti) tatäpa (arsit) töpima (arsimus) tôpa (arsistis) toͤpus
(arserunt) [ftatt tatäpa, tatäpitha, tatäpa; Plur. tatapima,
tatapa, tatapus] von der Wurzel tap; ebenfo von svap, tras;
I. susväpa, tatäpa 1); II. svöpitha, trösitha; III. susväpa, ta-
tApa 1); ®lur. I. svöpima, trösima eto. Jener Vocalwechſel im
Sing. und Plur. eripnert beutlih am bie Verſchiedenheit des Ab⸗
lauts im Singular und Plural deutfher Conjugationen und noch
merhoürdiger die Gleichſetzung bes Plurals mit der IL. Singularis
gegenüber ber I. III. Singularis an die althochdeutſche und angel
ſächſiſche Weife: I. las IT. läsi II. las; pl. I. läsum&s, IL
läsut, III. läsun, wozu felöft die in deutſcher und indiſcher Sprache
eintvetende Abftumpfung ber Flexrion von I. II. Singularis
ſtimmt. Neuer Grund für die Zuſammenziehung bes Ablauts aus
früherer rebuplicierender Form“ 2). Uber wenige Sabre fpäter
gibt Grimm den Hier eingefhlagenen Weg wieder auf. Ju
dem 1826 erfchienenen zweiten Band der Grammatik heißt ed:
„Dur alle deutſchen Sprachen gilt aber die ausnahmsloſe Hegel:
Nebuplication, auf das Praeteritum Indicativi und Conjunctiri
1) So fießt da, — 2) Grimm, Gramm. I, zweite Ausg. 1822, ©. 1055 19
Das Sanskrit u. beffen Einwirkung auf b. Erforſch. d. germ. Sprachen. 617
befehränkt, nicht einmal in bas Participium übertretend, erſtreckt ſich
nie in bie übrige Wortbildung” 1). — „Jene Negel, der Mangel
aller aus dem Praeteritum gezogenen Wortbildungen ſpricht Mar
dafür, daß die allmählige Zufammendrängung ber Nebuplication
in die Doppeloocale ie und 6 bie Natur organifcher Ahlaute nie-
mals erreichte. Defto weniger bürfen die wahren Ahlaute aus
früheren Nebuplicationen erflärt werben. Die ablautenben Conju⸗
gationen find älter als bie rebuplicierenden und biefe, wie ſchon
ihr ſchwerfälliger langer Vocal ober ihre doppelte Conſonanz zu
erlennen gibt, aus jenen entſprungen“?). — „Den Ablaut aller
deutſchen Worthildung zum Grund gelegt, offenbaren ſich im allges
meinen drei Abftufungen, auf denen ber Sprachgeiſt vorrüdte. Die
erfte erkenne ih in aus reinen ablautenden Wurzeln gezeugten un⸗
einfachen, dennoch wiederablautenden Verbis. Als biefe Kraft er⸗
loſch, wandte ſich die Sprache zur Reduplication, ohne von den
Formen ſtarler Flexion ſonſt etwas nachzulaſſen. Mit der ſchwa⸗
chen Conjugation entſprang die dritte Stufe” 3). Dieſer Anſicht,
nach welcher alſo der Ablaut das Urſprünglichere, die Reduplication
etwas erſt fpäter Eingetretenes wäre, trat Bopp im Jahr 1827
entgegen. Nachdem er in feiner Kritif von Grimm’s Grammatik
deſſen frühere Anfiht und deren fpätere Zurüdnahme angeführt
und diefe Zurücknahme mißbilligt Hat, fährt er fort: „Es wäre
alſo nad) diefer Theorie bie Reduplication nur ein Erſatz für den
Ablaut, ein Erſatz, zu dem die Sprache ihre Zuflucht genommen hätte,
. als die Kraft, durch Vocalwechſel Vergangenheit auszubrüden, er⸗
loſchen war. Der Bufammenhang ber gothifchen Reduplication mit
der altindifchen und griechiſchen müßte alfo aufgehoben, oder fo ges
faßt werben, daß beide Sprachen bereits auf der zweiten der vom
Verfaſſer aufgeftellten Abſtufungen fi befänden, indem fie ber
Fähigfeit, durch Vocalwechſel grammatiſche Verhältniffe zu bezeich⸗
nen, ſehr frühzeitig beraubt geworben wären, und daher durch Me
duplication die Vergangenheit bezeichneten, bie fie in einem voll⸗
1) &rimm, Gramm, II, 1826, 6.72, — 2) Eben. S. 78. —
3) Een. 6. 73 fg.
818 Biertes Buch, Drittes Kapitel,
Tommmeren Zuftand durch Wocal-Wechfel mochten augedeutet haben.
Obwohl wir Teiner der mit dem Sanskrit verwandten Sprachen
die Moglichkeit abſprechen wollen, in manchen Punkten treuer als
jenes ben Urzuſtand ber Sprache aufbewahrt zu haben, fo lönnen
wir doch biefen Vorzug nicht dem Ablaut ber germanifchen Spra⸗
chen zugeftehen, ben wir ala ein Erzeugniß euphoniſcher Einwirkung
anfehen müſſen, von welcher bie Sprachen in ihrem Lebenslaufe in
dem Maß mehr und mehr abhängig werben, als das Bermußtfein
bes weſentlichen Antheils ſich ſchwacht, dem jeder Beſtandtheil der
Wurzel, beſonders der Stammooral, an der Grumbbebenhug
nimmit“ i). Wir fehen hier alſo Bopp die Anſicht vertreten, def
bie Nedupfication, wie im Sanskrit und Griechiſchen, fo auf is
den germanifhen Sprachen das Grimbgefeg ber Perfectbilbung ill,
und daß erft in einer jüngeren Periobe ber Spradentwidelung ber
Ablaut allmählih; deren Stelle eingenommen Hat. Die eigentlihe
Theorie aber, nach welcher Bopp den Ablaut entftehen läßt, hat |
fi erft in dem Jahrzehnd, bas bem Jahr 1897 folgt, volkftäudig
Hei ihm entwidelt. Wir fehen fie in den verfchiebenen Cehriften
Bopp's allmahlich fih Bilden, und wen wir die Anmerlungen
mit welchen Bopp feine im Jahr 1827 erſchienene Kritil von |
Grimm's Grmmatik neun Jahre fpäter in feinem Vocalismus wir -·
der abdruden ließ, mit bem Text vergleichen 2), fo nehmen wir bie
bedeutenden Fortſchritte wahr, die Bopp in jenen neun Jahren ix
der Auffaſſung des germanifchen Ablauts gemacht hat, Ihren Ar
ſchluß findet Bopp's Theorie erſt in ber zweiten Ausgabe der Ber
gleichenden Grammatik; ihre allmähliche Ausbildung aber verfolgt
man nicht bloß in der erften Ausgabe ber Vergleichenden Gram
matit, jondern auch in anderen Schriften Bopp's, namentlich in der
1884 erſchienenen Kritiſchen Grammatik ber Sanskritaſprache ia
lanerer Faſſung 9).
1) Bopp In den Berliner Jahtbuchern für wiſſenſch. Kriut 1997, der,
Sp. 269 (Vocalismus ©. 28 fg). — 2) Bl. 2. 8. Anm 9 (5 21%)
son Bopp’s Vocaliemus. — 3) Wal, Bopp, Krit, Grammatik der Bans-
krita-Sprache in kürzerer Fassung, Berlin 1834, Vorr. 8. VII &.
Das Gansteit u. beffen Einwirkung auf b. Erforfih. d. germ. Sprachen. 61P
Das Ergebniß von Bopp's Forſchungen in Bezug anf bie
ſtarken Zeitwörter der germaniſchen Sprachen war in ben Grund⸗
zugen folgendes: Das ſtarle Praeteritum ber germaniſchen Spra⸗
chen iR dieſelbe Form wie das ſanskritiſche und griechiſche redupli⸗
clerende Perfectum. Bei dem Theil ver germaniſchen ſtarken Berba,
die im gothiſchen Praeteritum vebuplicieren, liegt bie Verwandt ⸗
ſchaft mit dem ſanskritiſchen und griechiſchen Perfectum nahe. Aber
auch die ſchon im Gothiſchen nicht mehr reduplicierenden, ſondern
bloß ablautenden Verba waren in einer früheren Periede vedupli⸗
cierend und haben die Reduplication nur verloren. Der verſchie⸗
dene Vocal, ben der Stamm der ablautenden Verba in den ver⸗
ſchiedenen Tempnsformen zeigt, erflärt fi aus bloßen Mobifica-
tionen de3 eigentlien reinen Stammpocals, und biefe Mobiftcatter
nen find bewirlt werben durch das größere ober geringere Gewicht
ber Flexionsſylben. Der Vocal des reinen Stammes wirb nämlich
bald nad) ber oben geſchilderten Weiſe gefteigert, balb wird er ges
ſchwächt. Solche Säwädungen erfährt ſehr Häufig bes kurze a
ber Wurzel, indem es bald in ben leichteren Vocal n, Bald in ben
noch leichteren i verwandelt wird. uf biefe Art führt Bopp die
ablautenden, ſchon im Gothiſchen nicht mehr reduplicierenden Beit-
wörter theils auf ben Wurzelvocal a, theils auf i, theils aufm
zurück. Der Wurzelvocal iſt keineswegs Immer im Praeſens erhalten,
ſondern oft auch im Singular oder Im Plural des Praeteritums
Auf den Wurzelvocal a führen fi zueüd die VIL, X., XI. und
XII. Ablautsreihe Grinm’s. In bee X. (gothiſch gibe, gaf,
gbum, gibans), XI. (gothiſch stila, etal, stälum, siulanı) imb
XII. (gothiſch hilpe, halp, hulpum, hulpans) hat der Singular
des Praeteritums ben urſprünglichen Vocal der Wurzel, nämlich a,
bewahrt. Das u in stulans, hulpum, hulpans; das i in giba,
stüla, gibans find nur Schwachnngen des urfprüngligen a Da-
gegen erflärt ſich das lange & des Pluralis Praeteriti der X. und
ZL Ablautsreihe (gothiih gäbum, atllum; althochdeutich gäbu-
mös, stälum&s) aus ber Zufammenzichung einer früheren Redu⸗
plication (gargabem), wie it Genstrit aus tatanima (L Mur.
620 Viertes Buch, Drittes Kapitel.
Perfecti von tan, ausbehnen) tönima wird 2). In Grimm's
VD. Ablautreihe (gothiih fara, för, förum, farans) Hat das
Praeſens und das Participium Praeteriti bas urſprüngliche a ber
Wurzel bewahrt. Das 6 bes Praeteritums erflärte Bopp früher
Hin für eine Steigerung des wurzelhaften a, fo daß ſich gothiſch
för (aus älterem faiför) ganz fo zu fara verhalten würbe, wie im
Sanskrit das Perfectum Easära zur Wurzel Car (gehen) 2). Spi-
ter gab er diefe Erklärung auf und zog vor, in för, vöhs (id
wuchs) u. |. f. Zuſammenziehungen aus ben angenommenen redu⸗
plicierten Formen fa-far, va-vahs zu erkennen ?). So mie bie
bisher beſprochenen vier Ablautsreihen fi auf ben Wurzelvocal a
aurädführen, fo die VIIL. (gothiſch steige, staig, stigum, stigane)
auf iz die IX. (gothiſch giuta, gaut, gutum, gutans) auf u.
Den urfprüngligen Wurzeloocal hat in beiden ber Plural bes
Praeteritums erhalten (stigum, gutum), während das Praeſens
(steiga, giuta) und der Singular bes Praeteritums (staig, gant)
Steigerung des urſprünglichen Vocals erfahren Haben. —
Bon befonderer Wichtigkeit für die Erkenntniß dev germanifgen
Conjugation erwies fi die Anwendung, bie Bopp von der Ein
teilung der ſanskritiſchen Conjugationen auf bie germanifden
Zeitwörter machte. Es ergab ſich ihm, daß bie große Maſſe der
germaniſchen ftarfen Verba ber erften (umb fechften) Klaſſe der
ſanskritiſchen Zeitwörter angehört, welche bie Wurzel durch ein ein-
geſchobenes a mit ber Perfonalendung verbinden 4). Im Griechi⸗
fen entfpricht diefen beiden Verbalklaffen die Conjugation auf a;
im Lateiniſchen bie dritte Gonjugation. Das a, das urſprünglich
zwiſchen Wurzel und Endung teitt, wird im Gothiſchen öfters in
i gefchwächt, fo wie im Griechiſchen in o und e, im Lateiniſchen in
i und u. So entipricht gothiſches gib-i-th (2. Plur. Praeſ. In⸗
bie, ihr gebt) dem ſanskritiſchen böd-a-Fa (ihr wißt), dem griedi«
1) Bopp, Vergl. Gramm., 2. Ausg. Bd. II, 8. 481 fg. —
2) Bopp, Vergl. 'Gramm., I. Ausg., 4. Abthlg. 1842, &, 842 fg. —
8) Bopp, Vergl. Gramm. IL Ausg. Bd. II (1859) 8. 478.-— 4) Zucht
eusgefprogien in ben Jahrbüqhern f. wiſſenſch. Ariti, 1897, Gebr., Ep. 28.
Das Sanskrit u. beffen Einwirlung auf d. Erforſch. d. germ. Sprachen. 621
fen Ady-e-ve, dem lateiniſchen leg-i-tis. Ebenſo gib-a-m (wir
geben) bem ſanskritiſchen böd-A-mas (wir wifien), dem griechiſchen
Aty-o-ner, bem lateiniſchen leg-i-mus. Dagegen entipredhen bie
ſaͤmmtlichen ſchwachen Conjugationen ber germaniſchen Spraden
ben Beitwörtern ber zehnten Klaſſe des Sanskrit, welche zwiſchen
Wurzel und Endung aja einſchiebt (6ör-aja-ti, er ftiehlt, von sur,
ftehlen). Die Charakterbucftaben der drei [wachen Conjugationen
lgothiſch 1.) i, 2.) d, 8.) ai] find alfo nur verſchiedene Ahänberuns
gen eines und desſelben früheren aja. Ebenſo wie dies bei den
drei Arten ber griechiſchen Verba contracta auf do, dm und des
und bei ber erften, zweiten und vierten Conjugation des Lateini⸗
fen der Fall ift. Gehört demnach die unermeßliche Mehrzahl der
germanifhen Verba den angegebenen drei ſanskritiſchen Klaſſen an,
fo ergab fi, daß viele andere Erſcheinungen, die auf germanifchen
Gebiet das Ausfehen des Anomalen haben, fih daher erflären, daß
diefe anomal ſcheinenden Verba nur vereinzelte Weberrefte anderer
ſanskritiſcher Verballlaſſen find. So Hat fi in unferem ist eine
Form ber ſanskritiſchen zweiten Klaſſe erhalten, welche die Endun⸗
gen unmittelbar an die Wurzel fügt. (Deutſch is-t = Sanskrit
as-ti, griediih 2o-ri, lateiniſch es-t). Aber wir können natürlich
hier nicht Bopp's Entdeckungen in alfe ihre oft überraſchenden Ein-
zelheiten verfolgen und bemerken nur noch, daß auch die fon im
Jahr 1816 veröffentlite Entdeckung Bopp's über die Entſtehung
des germaniſchen [wachen Praeteritums aus einer Bufammenfegung
mit dem Hülfszeitwort thun in ber Vergleichenden Grammatik
eine ſchlagende gelehrte Begründung gefunden Hat‘). Eine Menge
von anderen treffenden Beobachtungen, die ſich in alfen Theilen von
Bopp's Vergleichender Grammatit finden, müffen wir Bier über⸗
gehen.
2) Der fortdanernde Einhup des Sanskrit anf die Erforfhung der ger-
manifden Sprachen.
Durch die Arheiten Bopp's und feiner Mitforſcher war bis
1) Bopp, Vergleichende Gramm,, 2. Ausg. Bd.ilI (1859) 8.398 u,
8. 503 — 506,
[2] Viertes Qu, Drities Kapliel.
ins Einzelne der ſtreng · wiſſenſchaftliche Beweis geführt von bem ar
gen Zuſauumenhang, in welchem bie germaniſchen Sprachen zit dem
Sanskrit uud den übrigen Idiomen ber inboenropäiicen Zamilie
ſtehen. Bon da as mußten natürlich bie Fortſchritte in ber Kenat-
niß des Sauakrit und feines Berhältniſſes zu den nerwanbten
Sprachen auch ber germauiſchen Forſchuug zu Statten kommen
Es war deshalb auqh für bie germaniſchen Studien won grefer
Bedeutung, daß ſich von Bonn, wo ſeit 1819 Auguſt Wilpelm
Sälegel für das Studium bes JInbdiſchen wirkte, und vom Berlin
aus, wo Bopp im Jahr 1821 feine Lehrthätigleit eröffnete, der
Betrieb des Sauskrit allmählich auf alle deutſchen Univerfitäten
verbreitete. Ohne daß wir ben großen Verdienſten anderer Völler
namentlih der Engländer uund Franzoſen, zu nahe tretem, bürfen
wär wohl fagen, daß im Lauf der legten vierzig Jahre Deutſchlaud
der Hauptfig des europäiſchen Sanskritſtudiums geworden ift Mir
haben hier natürlich nicht die Leiftungen auf bem Gehiel des
Sanakeit ſelbſt au verfolgen, fondern es Tiegt uns nur ob, ben
Einfluß des Sanshit auf bie germanifge Sprachforſchuug dacu⸗
ſtellen. Auf die Accentuation bes Sanskrit gründeten Abolf Holy
mann (1841) and C. W. M. Grein (1862) neue Theorien des
germanifhen Ablauts. Rudolf Weſtphal entwidelte (1868) ca
eigenthamliches Auslautsgeſetz bes Gothiſchen, wonach dieſe Sprade,
bevor fie in den Bereich unſrer Kenutniß tritt, eine zwieſache Um⸗
geſtaltung erfahren haben ſoll. Erſt hat fie eine Periode tun
gemacht, in ber fie unter den Conſonanten nur s und r im Au⸗
laut duldete. Jeder andere im Auslaut erſcheinende Eonfonant wurde
eutweber abgeworfen ober durch Anfügung eines = zum Julaut
gemacht. Später trat dann das Gothiſche in eine Periode, in br
& in urfprüngligen Endfilden mehrfilbiger Wörter Fein urfprüng
lich Kurzes a und i duldete, fonbern biefe Vocale wegfallen ließ ). -
Ueber "Grhamn’s Suutverihiehumgsgejek ſchrieben &. Enrtins (1858),
W. Scherer 2) (1868), Berth. Delbruc (1869); über bie Fleion
1) R, Westphal, Das Auslantagesets des gothischen, in ir
Zeitschrift für vergl. Sprachforschung von Aufrecht und Kchn,
Ba, IT (1858), 8. 161-190. — 2) ©. auf unten Rap. 7.
Das Sanskrit u, deſſen Eimseirkung auf d. Erforſch. & germ. Sprachen. 629
der Adjectiva im Dentſchen Leo Meyer (1868) ). — Wie in man ⸗
nigfachen Einzeluuterſuchungen wurde auch im Ganzen ber Verſuch
gemacht, die Ergebniſſe der Sanskritforſchung des germaniſchen
Grammatik zu gute Tonnen zu laſſen. Auguſt Schleier (geb.
zu Meiningen 1821, } zu Jena 1868)?) fahte in feinem Compendint
der vergleichenden Gremmatik der indogermaniſchen Sprachen, (Weir
mar L 1861; II. 1862) die Refultate Bopp's, Grimm's und
ihrer Mitforfger zufammen 9; in feiner Schrift: Die beuifge
Sprage, Stuttgart 1860 4), hob er aus ber vergleichenden Gram⸗
matit das heraus, was fi; auf das Neuhochdentſche und Mittel-
hochdeutſche bezieht. — Einen Verfuh, die Grammatik aller ger-
manifhen Sprachen auf Bopp's vergleichender Grundlage zeu zu
behandeln, begann Johann Kelle (Profeffor an ber Univerfität
Brag) in feiner Vergleihenden Grammatit der germanlſchen Spra⸗
Gen, deren erfter 1863 zu Prag erſchienener Band das Nomen barftellt.
— Bie auf die Grammatik, fo hatte natürlich auch auf die etymo⸗
logiſche Erforſchung des Woriſchatzes das Studium des Sanskrit
großen Einfluß. Auguft Friedrich Pott (geb. am 14. Nov.
1802 zu Nettelrede im Hannoverſchen, feit 1883 Profeffor der all⸗
gemeinen Sprachwiſſenſchaft an ber Univerfität Halle) lieferte in
feinen hieher gehörigen Schriften auch zur Erforſchung der germa-
niſchen Sprachen bedeutende Beiträge. Bon feinen Etymologiſchen
Forſchungen erſchien der exfte Band 1838, ber zweite 1886 zu
Lemgo. Die zweite Auflage, erjter Theil 1859 (Praepofitionen),
zweiter 1861 (Wurzeln, Einleitung) „in völlig neuer Umarbeitung“
1) Wir müfjen uns natürlich Hier begnügen, einige hervorragende Beir
fpiele diefer ſprachvergleichenden Tätigkeit anzuführen. Cine weiter gehende
Aufzäglung aller der Meineren Arbeiten, Beiträge zu Zeitſchriften u. f. w.,
die ſich vergleichend mit dem Gennantjäen befäftigen, würbe Bier um jo
werniger om Platze ſtin, als fie ſich weit über bie Grängen bes grrmantſchen
Getlets ausbreiten müßte. Dem nicht felten enthaften gerade ſolche Arbeiten,
die fich gar nicht ſpeciell wit dem getmaniſchen Sprachen Serhäftigen, auch
für anſer Gebiet ſtuchebate Berbahtungen. — 2) Bol. Auguß Sqleicher
Skügge won Dr. Salemen Lefmann. deiph. 1870. — 8) Zueite Ames.
1866. — 4) Zweite Ausg. 1869. J
624 Viertes Buch. Wierted Kapitel.
iſt ein ſelbſtändiges, von ber erſten Ausgabe ganz verſchiedenes
Berl. — Wie bie meiften bedeutenderen Richtungen in ber Wiflen-
ſchaft, fo fuchte auch bie vergleihende Sprachforſchung fi in be
fonderen Zeitfäriften Sammelpunfte für die Mitteilung des Er
forften zu gründen. So entftand im 3. 1846 unter der Leitung
von Alb. Hoefer (Brofeflor an ber Univerfitit Greifswalb) bie
Zeitſchrift für die Wifjenfchaft der Sprache“, von welcher bis zum
Jahr 1853 vier Bände erſchienen. Im J. 1852 gründeten Theo
dor Aufreht und Adalbert Kuhn die „Beitihrift für ver
gleichende Sprachforſchung auf dem Gebiete bes Deutſchen, Griehis
{den und Lateiniſchen“, die (vom dritten Jahrgang 1854 an unter
Kuhn's alleiniger Leitung) im J. 1869 bereits zu ihrem 19. Bande
gebiehen ift. Dazu kam dann noch (1862 fg.) Theodor Ben
fey’s „Orient und Occibent.“
Biertes Kapitel.
Die fäulmäßige Behandlung bes RNeuhochdeuniſchen in den Jahren
1819 bis 1840.
Es kann unfere Abſicht nicht fein, in einer Geſchichte ber
Wiſſenſchaft bie große Menge ber deutſchen Schulgrammatilen zu
beipredien, bie zwar theilweife ihren praltiſchen Zweck in ganz ach⸗
tungswerther Weife verfolgen, aber zur Förderung ber Wiſſenſchaft
nichts beigetragen haben. Wir werben uns vielmehr- auf einige
hervorragende Erſcheinungen beſchränken, die auch für die Wiffens
ſchaft nicht ohne Frucht waren. Dahin gehören vor allen die Ar
beiten der beiden Heyſe, zumal bie des jüngeren. Johann
Ehriftian Auguft Heyfe wurde geboren am 21. April 1764
zu Norbhaufen, ftubierte 1788 bis 86 zu Göttingen Theologie und
Padagogik und widmete fi dann ganz ber praktiſchen Ausübung
der Iegteren. 1792 wurbe es Lehrer am Gymnaſium zu Olben-
burg, 1807 Rector des Gymnaſiums zu Norbhaufen und Director
der zu errichtenden Tochterfchulen. Endlich im J. 1819 nahm er
Die ſchulmahige Behandl. bes Neuhochdeutſchen von 1819 5. 1840, 625
einen Ruf als Director einer höheren Töchterſchule in Magbeburg
an und ftarh daſelbſt am 27. Juni 1829 1). Heyfe war ein ſehr
geachteter Pädagoge, und von dieſer Seite her kam er aud zu
feinen deutſch⸗ſprachlichen Arbeiten. Der bebeutendften unter ihnen
gab ex ben Titel: „Theoretiſch⸗praktiſche deutſche Grammatik ober
Lehrbuch zum reinen und richtigen Sprechen, Lefen und Schreiben
der deutſchen Sprade. Für den Schul- und Hausgebrauch bear-
Keitet“, (Hannover 1814). Ihr Bwed follte fein, „nicht bloß ber
Jugend unter Anführung des Lehrers ein praftiices Lehr- und
Leſebuch ihrer Mutterſprache, fondern auch denlenden Gefchäftsleuten,
denen die Reinheit und Richtigkeit im Sprechen nicht gleichgültig
iſt, ein eben ſo vollſtändiges, als bequemes Nachſchlagebuch in
zweifelhaften Fällen zu verſchaffen“ 2). 1816 gab dann Heyſe
einen Auszug aus feinem größeren Werk unter dem Titel: „Kleine
theoretiſch⸗ praftifche deutſche Sprachlehre“ Heraus, und endlich im
J. 1821 ließ er noch feinen Kurzen Leitfaden zum gründlichen Un⸗
terriht in ber deutſchen Sprache folgen. Daß Heyſe mit dem
praltiſchen Geſchick des geübten Schulmanns gearbeitet hatte, bewies
der große Erfolg, den feine Bücher fanden. Ein beſonderes Glück
für dieſe aber war es, daß Heyſe ihre weitere Vervolllommnung
feinem Sohne Karl überlaffen Tonnte.
Doch bevor wir ung zu dem jüngeren Heyfe wenden, mollen
wir erft noch einen anderen einflußreichen Grammatiker befprechen,
nämlih Karl Ferdinand Beder. Geboren am 14. April
1775 zu Lyfer an der Mofel wurde Beer auf dem Gymnaſium
zu Paderborn gebildet und trat dann in das Priefterfeminar zu
Hildesheim. Doch bevor er die Priefterweihe nahm, gab er den
geiſtlichen Stand auf und wibmete fid (1799) in Göttingen dem
Studium ber Medien und der Naturwiſſenſchaften. Insbeſondere
ergriff ihn die Verbindung, melde damals die Naturphilofophie
zwiſchen Mebiein und Speculation anſtrebte. 1808 verheirathete
er ſich und hieß ſich als praktiſcher Arzt zu Hörter nieder. 1810
1) Hall Literatur- Zeitung 1829 Intelligenzbl, Nr. 76. —
9) Vorbericht, 6. III
Raumer, Gef, ber gem. Billologie 10
626 Biertes Bud. Viertes Kapitel,
ernannte ihn die weſtfäliſche Regierung zum Sous-Directeur ber
Salpeterfabrication im Harzbepartement. In ben Jahren der Be
freiung wurde er (1814) in bie Gentralhofpitaloermaltung zu
Frankfurt am Main berufen und nach deren Auflöfung fiebelte er
als praltiſcher Arzt nad; Offenbach über. Angefefene Freunde im
benachbarten Frankfurt veranlaßten ihn, ifre Kinder mit ben fein,
gen zu erziehen. Durch den zu ertheilenden Unterricht wurde er
zur Sprachwiſſenſchaft geführt. So entftand die Weihe feiner
jprachwiſſenſchaftlichen Schriften. In Hofer Achtung als Pädagey
und -patriotifh gefinnter Ehrenmann ſtarb Beer am 4. Sept.
1849 1). Wir führen num zuvörderſt Becer's ſprachwiſſenſchaft⸗
liche Hauptfgriften nah der Reihenfolge ihrer Entſtehung anf.
Bon ©. F. Grotefend und Herling veranlaft bearbeitete er zuerſt
(1824) die Wortbilbung 2). 1827 folgte ber „Organism ber
Sprache als Einleitung zur deutſchen Grammatil”, mit dem Neben
titel: Deutſche Sprachlehre. Erſter Band. Der zweite Band er
ſchien als deuiſche Grammatik 1829. 1831 folgte die „Schulgram⸗
matik der deutfhen Sprache ?), 1883 das Wort in feiner orgams
fen Verwandlung, 1836 — 89 die „Ausführliche deutſche Gram⸗
matif“, 1841 eine „neubearbeitete Ausgabe des „Organism ber
Sprache", 1842 und 43 die „Ausführlie deutſche Grammatil
als Kommentar der Schulgrammatif, zweite neubearbeitete Aus
gabe“, enblid 1848 „Der deutſche Stil.“ In allen biefen man
nigfachen Arbeiten fuchte Becer eine und diefelde Grundanſicht zur
Geltung zu bringen. Angeregt duch Wilhelm von Hum
boldt's geniale Forſchungen wollte Beder eine fundamentale Um⸗
geftaltung der Grammatik dadurch Herbeiführen, daß er nicht, wie
die bisherige Grammatik, die Form, fondern bie Bebentung
1) Rarl Fetd. Beder, der Grammatifer. Eine Skizze von G. Helm
dörfer. Frankf. a. M. 1854. — 2) Die beutfhe Wortbilbung ober die or⸗
ganiſche Entwidelung ber deutſchen Sprade in der Ableitung. Bon Dr. &
F- Beer. Frantf. a. M. 1824. Diefe Sqhrift Bidet zugleich das vierte
Stüd der Abhandlungen des franffurtiigen Gelehrtenvereines für deutſche
Sprache. — 3) Im J. 1879 erſchien die 9. Aufl, neu beach. vom Tpeod-
Beder.
Die ſchulmãͤßige Behandl. bes Neuhochbdeutſchen von 1819 5. 1840. 827
zur Grundlage feines Syſtems machte‘), Die Sprachformen,
fagt er, finden nur vermittelft ihrer Bedeutung einen gemein«
ſamen Vereinigungspunkt in dem Satze ). „Dadurch, daß bie
Grammatik von ber Betrachtung bes in dem Sattze ausgebrüdten
Gedantens ausgeht und alle bejondern Sprahformen aus dem
Sage entwidelt, werben zugleih alle Theile derſelben mit einander
in eine innere Verbindung und in eine lebendige Beziehung gejegt“ 2).
Die Sprade ift nämlich ein Organismus. : Denn „bie Verrichtung
des Sprechens geht mit einer inneren Nothwendigleit aus dem or.
ganiſchen Leben des Menſchen hervor“ ). „Da num jeves auf
orgamifche Weife erzeugte Product eines organiſchen Dinges nothe
wendig auch organiſch ift, fo müffen wir au in ber gefprochenen
Sprache nothwendig eine organifhe Natur anerkennen“ 5). „Die
Sprache ift nichts Anderes als ber in bie Erſcheinung tretende Ge
banfe, unb beide find innerlih mr Eins und Dasſelbe“ 9. Die
Sprache hat „zwei Seiten: eine innere, welde ber Intelligenz, und
eine äußere, welde der Erſcheinung zugewendet iſt. Bon jener
Seite angefehen ift die Sprache Gedanke, von diefer Seite ange
ſehen ift fie eine Vielheit mannigfaltiger Saute: wir nennen jene
die lo giſche, umd diefe bie phonetiſche — die Rautfeite — der
Sprache. ). „Alle Sprache ift, weil ſich in ihr nur ber menſch⸗
liche Gedanke ausprägt, nur Eine Sprade‘ 9. „Eine Gram⸗
matit, welde bie Verhältnifie bes Gedankens und der Begriffe zu
ihrer Grundlage macht, kann und muß, weil diefe Verhältnifje in
allen Sprachen dieſelben find, die Grammatil für alle Spraden
fein“ 9. Dies find die Fundamente, auf welden Beder das Ge
Bände feiner Grammatik errichtet. Wir können hier feine eingehende
Kritik feiner Anfihten geben, fondern begnügen uns, den Punkt zu
bezeichnen, durch welchen ſich dieſelben am weſentlichſten von benen
1) Ausfügrlige deutſche Grammatit I (1836) Bor. S. VII. —
2) Ebend. S. VII. — 8) Ebend. S. IX. — 4) Organiem ber Sprache
@) 1844, 6. 1. — 5) Ebend. 6.9. — 6) Ebend. S. 2. — 7) Ebend.
6.12, — 8) Ebend. S. 11. — 9) Aueſuͤhrliche deutſche Grammatik I
1836) Bor. ©. X.
(1836) u.
628 Wiertes Bud. Biertes Kapitel.
Wilhelm von Humboldts unterſcheiden, weil biefer Punkt
zugleich der ift, an welchem bie Unhaltbarkeit von Becker's Grund-
anſichten am fchlagendften zum Borfchein kommt. Die geiftige
Seite ber Sprache geht bei Beder in den logiſchen Denkformen
auf, die Bei allen Sprachen biefelben find; bie Unterſchiede ber
Sprachen fallen ber leiblich⸗phonetiſchen Seite anheim. Dagegen
legt W. von Humboldt ein Hauptgewicht auf bie „Innere Sprad-
form.“ „Es kann feinen, fagt er, als müßten alle Spraden
in ihrem intelfeftuelfen Verfahren einander gleih fein. Bei ber
Lautform ift eine unendliche, nicht zu berechnende Mannigfaltigfeit
begreiflich, da das ſinnlich und körperlich Individuelle aus fo ver
ſchiedenen Urſachen entfpringt, daß ſich bie Möoglichkeit feiner A
ſtufungen nicht überſchlagen läßt. Was aber, wie der intellektuelle
Theil der Sprade, allein auf geiftiger Selbſtthätigkeit Berußt,
ſcheint auch bei ber Gleichheit bes Zwecks und ber Mittel in allen
Menſchen gleich fein zu müffen; und eine grüßere Gleichförmigkeit
bewahrt biefer Theil der Sprache allerdings. Aber auch in ihm
entfpringt aus mehreren Urfachen eine bedeutende Verſchiedenheit
Einestheils wird ſie durch die vielfachen Abſtufungen hervorgebradt,
in welden, dem Grabe nad, die ſpracherzeugende Kraft, ſowohl
überhaupt, als in dem gegenfeitigen Verhältniß der in ihr hervor
tretenden Thätigleiten, wirkſam ift. Anderentheils find aber auf
hier Kräfte gefhäftig, deren Schöpfungen ſich nicht durch ben Ber
ftand und nad bloßen Begriffen ausmefien laſſen. Phantafie und
Gefühl bringen individuelle Geftaltungen hervor, in melden wieder
der individuelle Charakter ber Nation hervortritt, und wo, wie bei
allem Individuellen, die Mannigfaltigkeit der Urt, wie ſich bad
Nämliche in immer verſchiedenen Beftimmungen darſtellen Tann,
in's Unendliche geht” 1). — Wenn wir nun aud Beder’s Unter
nehmen im Weſentlichen als verfehlt bezeichnen müffen, fo ſchließt
dies doch nicht aus, daß die Schriften biefes ſcharfſinnigen Mannes
1) W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des mensch-
lichen Sprachbaues, Werke VI (1848) 8.98 fg. — Bgl. H, Steinthal,
Grammatik Logik und Psychologie, Berlin 1855,
Die ſchulmaßige Behandl. bes Neuhochdeutſchen von 1819 5. 1840. 629
durch mannigfache Anregung die Wiſſenſchaft geförbert Haben. Na-
mentlih auf dem Gebiet det Syntax find fie theils trog der un⸗
richtigen Grundanſicht, theils eben wegen berfelben Iehrreich.
Bir ehren nun zurück zu Karl Heyfe. Er war der Sohn
des oben beſprochenen Auguſt Heyſe und wurde geboren am
15. Oft. 1797 zu Oldenburg. Nachdem er auf den Gymnaſien
zu Olbenburg und Norbhaufen und in einem Privatinftitut zu Wer
vay feine Vorbildung erhalten Hatte, wurde er 1815 von Wilhelm
von Humboldt zum Führer feines jüngften Sohnes gewählt. Im
% 1816 gieng er nad Berlin, wo er vorzüglih F. A. Wolf,
Boech's und Solger’s, fpäter auch Hegel's und Bopp's Vorträge
hörte. 1819 bis 1827 war er Lehrer im Hauſe Mendelsſohn
Bartholdy's. Hierauf habilitierte er ſich (1827) in ber philoſophi⸗
ſchen Fakultät der Univerfität Berlin und erhielt bafelbft 1829
eine außerordentliche Profeſſur. Seine Vorlefungen erftredten ſich
über mehrere griechiſche und römische Klaſſiler und über Philofophie
ber Sprade. Er ftarb am 25. Nov. 1855 1). — Nach dem Tobe
feines Vaters (1829) übernahm K. Heyfe die Beforgung ber neuen
Ausgaben von befien Schriften. Er arbeitete biefelben aber in
folgem Maß um, daß man ihre fpäteren Ausgaben als feine eige-
nen Werte bezeichnen muß. So namentlich bie „fünfte, völlig um⸗
gearbeitete" Ausgabe ber „Theoretiſch⸗ praltiſchen deutſchen Gram⸗
matit· (I. 1888. IT. 1849) und bie „Theoretiſch⸗prattiſche deutſche
Schulgrammatik“ insbeſondere von der zwölften Ausgabe (1840)
an. Ebenſo das vom älteren Heyſe im J. 1804 herausgegebene
„Wörterbuch für Verdeutſchung und Erklärung der in unferer
Sprache gebräuchlichen fremden Wörter und Nebensarten” in feinen
fpäteren Ausgaben 2), Bon Anfang an felbftändige Arbeiten
Karl Heyſe's waren das Handwörterbuch ber deutſchen Sprache
1) Brodhauo, RealEncyft, (11) VII, 905. — Augeb. Allgem. Zeitg.
1855, Mr. 341 (aus der Voſſiſchen Zeitung). — Steinthal's Vorr. zu
Heyse’s System der Sprachwissenschaft. — 2) Nach R. Heyſe's Tode
beforgte (1859) bie 12. Ausgabe ſehr bereichert €. 9. F. Dahn, bie 18,
1865) A. Otto Walfter, bie 14. (1870) Guſt. Heyſe u. W. Wittich.
630 Viertes Bud. Biertes Kapitel.
(1838—49) und bie „Ruragefahte Verslehre ber deutſchen Sprache
(1820. Zweite umgenrbeitete Ausgabe 1825“). Dazu kam ba
noch ein wichtiges Wert K. Heyſe's, das erſt nad deſſen Tode von
GSteinthal (1856) Heransgegebene „Suiten ber Sprachwiſſen⸗
ſchaft.“ — Auch Heyſe geht in feinen Anfihten von W. von
Humboldt aus, doch ohne benfelben in Becer's Weiſe mike
verftehen. Schon 1829 erflärte er fih gegen Beder's Auffaffung
ber Sprade als eines bloßen Organismus. „Die Sprade, fagt
er, wird durch bie Benennung einer „„organtihen Verrichtung““
in bie Kategorie bloßer durch bas Naturleben geforberter bewußt ⸗
loſer Thätigteit herabgeſetzt. Der Menſch als ſelbſtbewußtes, geiftig
freies Wefen fteht auf einer höheren Stufe als alle Naturgefchäpfe
und diejenigen Yeußerungen bes Menſchen, welche Ausflüffe feiner
Spntelfigenz finb, birfen nicht als bloße Naturthätigkeiten betrachtet
werben“ 1). „Die Sprade, fagt er fpäter in feinem Syſtem ber
Sprachwiſſenſchaft, darf nicht aus einem vorausgefeßten Begriffs
foftem conftrutert werben; fonbern ihre Entwidelung muß als ein pfye
chologiſch⸗ phyſiologiſcher Proceß bargeftellt werben, in welchem beide
Seiten ſich vollftändig durchdringen“ ). „Das eigenthümliche
Leben der Einzelſprache zeigt ſich aber nicht allein in ber Verſchie⸗
denheit ber Lautform für bie Vorftellung, fonbern auch im ber in⸗
neren Anfhauungs« und Auffaflungsweife ber Vorftellungen und
Beziehungen jelbft, welche in jeder Sprade eine andere ift* 9).
Dagegen „ſchlägt bei Beder bie verheißene Phyſiologie der Sprache
in ein abftraltes Syſtem ber Logik um“ 4). Heyſe's Grunbanfih-
ten Bieten ihm nun aud bie Möglichkeit, zwiſchen Vollsmundart
und Schriftſprache gehörig zu unterſcheiden umb daraus bie Noth⸗
wendigkeit abzuleiten, daß bie Iegtere auch von ben eigenen Volls⸗
genoffen grammatifd erlernt werbe, ohne doch ben Iebenbigen Zu⸗
fammenhang mit ber Vollsſprache aufzugeben. Auch hier ſchließt
1) Berliner Jahrbücher für wissenschaftl. Kritik 1829, Bd. |,
Sp. 129. — 2) K. Heyse, System der Sprachwissenschaft, Berlin
1856, 8. 66. — 3) Deutfhe Schulgrammatik (12) 1840, Bon. S. X. —
4) System der Sprachwissenschaft. S. 6.
Die fhulmägige Vehandl. des Neuhochdeutſchen von 1819 5. 1840. 6B1
fi Hefe den Anfiten Wilhelm von Humboldts an. Nad-
dem biefer im feinem großen Werk über die Verſchiedenheit bes
menſchlichen Sprachbaus von ben Dichtern und Profailern und ih⸗
rem Einfluß auf bie Sprache geſprochen Hat, führt er fort: „Neben
biefen, lebendig in ihren Werken bie Sprade geftaltenden Bildnern
ſtehen dann die eigentlichen Grammatifer auf und legen bie legte
Hand an die Vollendung bes Organismus 1). Es ift nicht ihr
Geſchaft, zu ſchaffen; durch fie kann in einer Sprade, ber es fonft
daran fehlt, weder Flexion, noch Verſchlingung ber End- und Ans
fangslante vollsmäßig werben. Aber fie werfen aus, verallgemei⸗
nern, ebnen Ungleiäheiten und füllen übrig gebliebene Lücken.“ —
„Sole Bearbeitungen einer und berfelden Sprahe können in vers
ſchiedenen Epochen auf einander folgen; immer aber muß, wenn bie
Sprache zugleich vollsthũmlich und gebildet bleiben foll, bie Regel
mäßigfeit ihrer Strömung von dem Volle zu ben Schriftftellern
und Graumatilern, und von diefen zurüd zu dem Volle unumter-
brochen fortrolfen“ 2), Die Anführung ber letzteren Stelle leitet
Heyfe mit ben Worten ein: „Heißt ſich die Spriftſprache von ber
Vollsſprache ganz 108, fo läuft fie Gefahr zu erftarren und endlich
zur tobten Sprade zu werben. — Andrerſeits muß, damit der
Vollsdialekt nicht verwildere, jeber in ihm Aufgewachſene die Schrift-
ſprache der Nation erlernen, um an bem geiftigen Gefammtleben
der Nation Antheil zu haben und den bildenden Einfluß, welder
daraus hervorgeht, nicht zu verlieren“ ). Dies iſt der Geſichts⸗
punkt, von bem K. Heyſe die deutſche Sprache In feinen „theoretiſch-⸗
praltiſchen· Grammatilen behandelt. Sowohl bie hiſtoriſche Er⸗
forſchung der Sprache, als die Sprachphiloſophie dienen auch der
praltiſchen Grammatik zur Grundlage. Aber weder bie eine, noch
bie andere ift Zweck der Schulgrammatik. Vielmehr „fol ber
Schüler feine Mutterſprache in ihrem gegenwärtigen Buftanbe ver-
1) Ueber die Bebeutung biefes Wortes bei W. von Humboldt vgl. H.
Bteinthal, Grammatik Logik und Psychologie 1855, 8. 125 fg. —
2) W. von Humboldt, Wke. VI, 198 fg. — 8) K. Heyse, System
der Sprachwiss, 8, 230 fg.
682 vieries Vuch. Junftes Kapitel.
ſtehen und mit Sicherheit und Freiheit handhaben lernen“ )
Denn „bie gebildete Schriftſprache hat eigentlich nur eine ideale
Eriſtenz, ift mehr ober weniger ein Yünftliches Kultıre » Probuit.
Das Hochdeutſche z. B. wird vom Volle nirgends ganz rein ge
ſprochen; e8 muß erlernt werben, ſoweit fi bie Abweichungen
von dem Volksdialekt erftreiten“ 2).
Unter den übrigen Bearbeitern ber neuhochdeutſchen Sprache
nennen wir noch den ſchon früher erwähnten Joh. Gottlieb Radlof,
beffen 1820 erſchienene „Ausführligie Schreibungslehre ber teutjhen
Sprache, für Denkende* neben manchem Verlehrten auch mehreres
Richtige enthält; dann S. H. U. Herling, defien „Grundregeln des
deutſchen Stils ober der Periodenbau ber deutſchen Spradje” 1823
unb beffen „Syntar ber deutſchen Sprache“ 1880 erſchien; ferner
Friedrich Schmitthenner, der vom J. 1821 am die deutſche Sprache
in einer Reihe von Schriften behandelte, und enblih Marimilten
Wilhelm Ginger, beffen deutſche Sprachlehre für Schulen 1827
zum erften, 1869 ®) zum zehntenmal erſchien.
Sänftes Kapitel.
Das Leben und bie Werke der Brüder Grimm vom Jahr 1840
bis zu ihrem Tod.
1. Das £eben der Brüder Grimm vom Jahr 1840 bis zu ihrem Led.
Wir Haben bie Brüder Grimm in Kaffel verlaffen, wo fie feit
ihrer Göttinger Amtsentfegung in ftilfer Zurückgezogenheit ihren
wiſſenſchaftlichen Forſchungen lebten. Die ungeftörte Ruhe tat
wohl nach der Göttinger Zeit, die bei allem Schönen und Anre⸗
genden ihre Thätigfeit doch in bedeutendem Maß für amtliche Ge
1) 8. Heyfe's Vort. zur 12. Ausg. ber Schulgrammatik (1840) ©. ZIIL—
2) K. Hoyse, Syst. der Sprachwiss. 8.5. — 3) Die 10. Auflage, durqh
gejehen unb zum Theil überarbeitet von Dr. Ernft Gobinger, Prof. au ber
Kantoneſchule in St. Gallen, erſchien 1869.
Das Leben u. b. Werke ber Brüder Grimm v. 1840 b. zu ihr. Tod. 88
ſchäfte in Anfpruch genommen Hatte. Aber ohne eigenes Vermögen,
wie fie waren, konnten fie doch unmöglich in biefer unſicheren Lage
verharren. Da eröffnete die Thronbefteigung König Friedrich
Wilhelm's IV. von Preußen neue Ausfihten. Die Brüder erhiel-
ten (1840) einen Ruf nad Berlin und nahmen ihn an. Sm
März 1841 fiedelten fle dahin über. Cine gewiffe Abneigung, die
fie früherhin gegen Berlin gehabt Hatten, wich bald einer beſſeren
Meinung, und zumal Wilhelm pflegte Fremden gegenüber bie
Borzüge bes Berliner Lebens in das hellſte Licht zu fegen 1). Auch
Jacob wußte das viele Gute, das ber Aufenthalt in Berlin bot,
wohl anzuerkennen; aber doch fühlte er fi öfters nicht vecht in
feinem Element, wie er dies in ber Töftlihen Beglüdwünfhungs-
ſchrift zu Savigny's Doctorjubiläum (1850) fo anſchaulich aus⸗
ſpricht ). Er fühlte das Ungeſunde ber damaligen preußiſchen
Zuſtände um fo lebhafter, als er ben hohen Beruf Preußens für
Deutſchland wohl zu würdigen wußte *). Mannigfache größere
und kleinere Reifen unterbrachen J. Grimm's Aufenthalt in Ber-
In. So beſuchte er von dort aus Schweden und Italien 4. Als
im J. 1846 die Germaniften, d. h. die Forſcher auf dem Gebiet
ber deutſchen Geſchichte, bes deutſchen Rechts und ber deutſchen
Sprache und Literatur ſich zu Frankfurt am Main verſammelten,
wählten fie J. Grimm zu ihrem Vorſitzenden. Dasfelbe wieder⸗
holte fih im Jahr 1847 bei der Verſammlung in Lübel. Das
Jahr 1848 führte Grimm in das deutſche Parlament. So
ſehr aber auch Grimm von der veinften Liebe zum beutfchen
Volle erfüllt war und fo tiefe Blicke er in deſſen Natur und Ver
gangenheit gethan hatte, jo war doch in einer politifchen Ver⸗
1) 9. Grimm, Zur Rede 3. Grimm’s auf Wilhelm, in J. Grimm’s
Nleineren Schriften I, 183. — 2) Das Wort des Beſihes, in I. Grimm’s
Kleineren Schriften I, 117 fg. — 3) Bgl. I. Grimm’s Brief an Lachmann
vom 12. Mai 1840. Ebend. I, 182, und bie Widmung ber Gefdhichte ber
deutſchen Sprache an Gervinus (1848), ©. IV. — 4) Bol. Jialieniſche und
feandinavifhe Eindrücke, vorgelefen in ber Berliner Afademie ber Wiſſen⸗
ſqchaften 5. Dec. 1844, in I. Grimm's Kleineren Säriften I, 57 — 82.
634 Viertes Bud. ünftes Kapitel.
ſaumlung, welche bie ſchwierigſten praktiſchen Aufgaben ber Gegen
wart loſen follte, nicht feine Stelle. Er fah im manchen weſent⸗
lichen Fragen ſehr richtig, aber es fehlte ihm in Taum glaublichem
Maß das Verſtändniß ber unentbehrlichen politiſchen Formen.
Weber das Eine, noch das Audere wird läugnen, wer feine Fraul⸗
furter Rede über bie Geſchäftsordnung ) mit Unbefangenheit lieſt
Den Reſt feiner Jahre brachte J. Grimm in unermüblicher gelehr ⸗
ter Thätigleit in Berlin zu. Vorleſungen an ber Univerfität haben
er und Wilhelm nur einige Jahre gehalten, bei den Sitzungen der
Alademie ber Wiſſenſchaften aber fehlten fie Aufßerft felten. Wir
verbanten biefer Theilnahme eine Reihe werthvoller Abhandlungen.
Das Werk aber, das bie Brüder in ben legten Jahren ihres Le⸗
bens faft ganz in Anfprud nahm, war bas Deutſche Wörterbuf.
Da zerriß plöglih der Tod das Band, das von frühfter Kindheit
am bie Brüber jo innig vereinigt hatte. Am 16. December 1869
ftarb Wilhelm Grimm. Tief erſchüttert ließ fih Jacob Grimm
doch nicht nieberbeugen. Er vertiefte fih nur noch mehr in feine
Arbeit. Am 5. Juli 1860 Hielt er in ber Alademie ber Wiſſen⸗
ſchaften die Dentrebe auf feinen Bruber 2). Aber allmählich zeigten
Mich die Gebrechen des Alters. In ben legten Zeiten waren feine
Nächte nicht mehr ſo gut als früher. Er erwachte und Tonnte den
Schlaf nicht wiederfinden. „Wie ſchön find bie langen Sommer
tage, worauf fi Vögel und Menſchen freuen! Sie gemahnen an
die Jugendzeit, in der bie Stunden Licht einfaugen unb Kangfam
verfließen; was davon noch übrig war, wird vom Dunlel des
Winters und bes Alters ſchnell geiäludt. Nun bin ich bald 78,
und wenn ich ſchlaflos im Bette liege und wache, tröſtet mic bie
liebe Helle und flößt mir Gedanken ein und Erinnerungen. 3. uni
1862. ac. Grimm.“ Dieſe Worte fanden ſich auf einen Heinen
Zettel geſchrieben in feiner Brieftaſche 3). Bald nad ber Rüdtehr
1) Sienographiſcher Bericht über bie Verhandlungen der — Ratimak
verfammlung zu Frankfurt a. M., Bd. I, Franffurt 1848, ©. 166. —
2) Wieder abgebrudt in I. Grimm's Rleineren Sqhriften I, 188. — 3) 6
Grimm, Zur Rebe auf W. Grimm, in 3. Grimm's Kleineren Sqhrifien I, 186.
Das Leben u. b. Werke der Brüber Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 685
von einer Herdftreife im Jahr 1863 befiel ihn in Folge von Er⸗
taltung eine Leherentzündung. Diefe ſchien gehoben, da traf ein
Schlagfluß feine rechte Seite. Cr verfiel in einen Zuſtand von
Sälaftrumteneit. Sonntag den 20. September Abends zehn Uhr
that er ben legten Athentzug ').
2. 3. Grimm’s Arbeiten vom Jahr 1840 bis zum Jahr 1863.
Unter den feit 1840 erſchienenen Arbeiten J. Grimm’s find
zwei dem Titel nad; nur neue Ausgaben früherer Schriften, in der
That aber neue Werke: Die angefangene dritte Ausgabe bes erften
Theils ber deutſchen Grammatit (1840) und bie zweite Ausgabe
der beutfehen Mythologie (1844). Won ber letzteren Haben wir
fon früher gefproden. Die dritte Ausgabe der Grammatik er-
ſtredt fi leider nur über bie Lehre von ben Vocalen, biefe aber
behanbelt fie (auf 552 Selten) mit einer Neihhaltigteit, melde bie
vorangehende Bearbeitung noch weit übertrifft ). Ein anderes
Hauptivert, das bie legten Lebensjahre J. Grimm’s ausfüllte: das
mit feinem Bruber gemeinfam unternommene Deutſche Wörterbuch,
behalten wir einem befonberen Abſchnitt vor. Unter ben’ übrigen
Arbeiten 3. Grimm's aus biefem Zeitraum treten durch Umfang
und Bedeutung zwei hervor: Die Sammlung ber Weisthümer und
die Geſchichte der deutichen Sprade.
1. BWeisthümer gefammelt von Jacob Grimm, 1840 fg.
Wir haben bei der Beſprechung von Grimm’s Rechtsalterthü⸗
mern gefehen, welden Werth der große Forſcher auf die Aufzeih-
nungen ber ländlichen Rechte legt, bie ben Namen ber Weisthümer
zu führen pflegen. Seit ber Bearbeitung jenes Werks gieng er
mit dem Gebanfen um, biefe wichtigen Denkmäler bes altdeutſchen
NRechts zu ſammeln und durch ben Drud dem Untergang zu ent-
1) Ebend. S. 187. — 2) Da bie Ausfiht, biefe dritte Ausgabe zu
vollenben, immer mehr in bie gerne trat, geftattete Grimm (1852) einen
wörtlichen Wieberabbrud ber vergriffenen unb viel begehrten zweiten Aus-
gabe des erften Theiles und ber erfien Ausgabe bed zweiten Theiles ber
Grammatik.
686 Viertes Buch. ünftes Kapitel,
zeißen. Endlich im J. 1840 gelangte der Plan zur Ausführung.
In Verbindung mit Ernft Dronte und Heinrich Beyer gab Grimm
in biefem Jahr ben zweiten Theil feiner Weisthümer heraus
Der erfte erſchien (übrigens mit derſelben Jahrzahl 1840) durch
einen Zufall ein Jahr fpäter als ber zweite 1). Der britte folgte
1842, der vierte 1863. Der fünfte (1866) und ſechſte (1869) wır-
den erft nach Grimm's Tobe von Richard Schroeder Hinzugefügt.
Die brei letzten Bände biefes wichtigen Werks wurden mit Unter-
ftügung König Marimilian's IL durch die Miündjener hiſtoriſche
Commiffton herausgegeben. Das Gange enthält über zweitauſend
ſolche Rechtsaufzeichnungen, obwohl bie zahlreichen öſterreichiſchen
größtentheils ausgeſchloſſen find, weil fie einer befonderen Zufam-
menftellung entgegenfahen 2. „Tauſcht mid) nicht meine Vorliebe,
fagt Grimm am Beginn bes Werks, fo wird biefe Sammlung ums
fere Rehtsalterthümer unglaublich bereichern und beinahe umgeftal-
ten, wichtige Beiträge zur Kunde der deutſchen Sprade, Mytho⸗
logie und Sitte liefern, überhaupt aber gewiſſen Partien ber frühe⸗
ven Geſchichte Farbe und Wärme verleihen; denn es braucht nicht
erſt gefagt zu werben, daß ber Urfprung vieler in ben Ueherliefer-
ungen ber Weisthümer enthaltenen Gebräude weit über bas Da⸗
tum ihrer Aufzeichnungen Binausreiht“ 9). Grimm hatte bie Abficht,
bie Natur, das Alter und die vielfache Bedeutſamteit diefer Denl-
male ausführlich zu erörtern‘). Mber er ift micht zur Ansführe
ung biefes Planes gelommen, ba er vor Vollendung der Samm-
ung durch den Tod abgerufen wurde. Aber kurz und gebrunge
faßt ex noch einmal im letzten Jahr feines Lebens feine Grundan⸗
ſchauungen über Sprade, Glauben und Recht bes deutſchen Alter-
thums zufammen. „Als es gelang, die heimiſche Sprache in ifre
Ehre einzufegen, fagt er, als verſchollene Kunde bes Heidenthums
aus Lied und Sage neu erwacht war, ſchienen alle bisher geltenden
1) Grimm, Weisthümer, Thl. II, »Zur Nachrichte, 8. IIL Did
Vorrede zum 2ten Theil ift unterzeichnet ben 7. Dec. 1839, bie zum erfen
den 3. Jan. 1841. — 2) Weisthümer, gesamm. von J. Grimm, Thl
IV, Vorbericht 8. II. V.— 3) Ebenb. I, 8. IV. — 4) Ebenh. I,
8. II
Das Leben u. b. Werke ber Brüder Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 637
Borftellungen von der Nechtsgewohnheit unferer Vorfahren fortan
dürftig ober unhaltbar. Denn wie bie Sprade, eine Iautere Kraft
des menfhlihen Denkvermögens gewaltig entiprungen, in Poefle
und Rebe endlofe Wurzel geſchlagen hat, wie ber Glaube aus inniger
Naturanſchauung erzeugt in die Geſchichte der Völker verwebt und
fortgetragen wurde, müſſen auch Uebung und Brauch die vielgeftal-
tete Sitte bes Lebens zu förmlichem Recht erhöht und geweiht ha⸗
ben. Diefe Dreiheit der Sprade, des Glaubens und des Rechts
leiten fi aus einem und bemfelben Grunde Her, und um ber näm⸗
lien Urſache willen ift ihre ſinnliche Fülle im Verlauf der Zeit
verloren gegangen“ 1).
2. Geſchichte der beutfgen Sprade von Jacob Grimm 1848,
JGrimm's Geſchichte der deutſchen Sprache ift ein fehr eigen-
thümliches Buch, in deſſen Zuſammenhang ſich ſchwerlich jemand
finden wird, wenn er bie Entſtehungsgeſchichte bes Buches nicht
Tennt. Seinem nachdenkenden Lefer Tann entgehen, daß das Buch
eigentlid etwas ganz Anberes enthält, als der Titel erwarten läßt.
Der Berfafler verſucht zwar in ber Vorrede feinen Plan zu recht⸗
fertigen, indem er drei verſchiedene Arten unterfheidet, in denen
die Geſchichte der deutſchen Sprache geſchrieben werben könne. „Im
engſten Sinn, ſagt er, wäre ſie nur auf das, was wir heute in
Deutſchland herrſchende Sprache nennen, auf die hochdeutſche ange⸗
wieſen.“ In einem weiteren Sinn hätte fie alle „deutſchen Spra-
chen“ zu umfaflen, wie bies in Grimm’s Grammatik geſchehen ift.
Aber „wie niht Sicherheit, allein Fülle und Gewicht der Sprad-
geſetze durch Aufnahme aller Munbarten und Dialekte in ben Kreis
der Unterfugung fi fteigern, muß es dieſe noch in höherm Grade
fördern, wenn aud die Sprachen ber uns benachbarten und ur⸗
verwandten Völker zugezogen werben. Grit damit erlangt jenes
Bild, in welchem uns ſämmtliche deutſche Spraden bie vordere
Bühne einnehmen, feinen Grund für bie in der Tiefe aufgefteliten
ausländiſchen, und eine rechte Perſpective thut fih unfern Bliden
1) Ebend. IV, 8. III, geſchrieben ben 18, Dec. 1862,
638 Biertes Bud. Funftes Kapitel,
auf. Won foldem Stanb aus Habe id mid; nicht enthalten können,
diesmal bie Geſchichte unferer Sprache zu umternehmen“ 1). Aber
auch nad diefer Erklärung wird ber Lefer eine Menge Dinge in
dem Buch finden, die er Hier nicht erwartet, fo die ausführligen
Unterfuchungen über Völker, von beren Sprache wir wenig ober
nichts wiſſen; und andrerfeits wird er oft gerabe das vermiffen, was
er in dem Buche zu fuchen berechtigt ift, nämli bie eingehende
Berüdfihtigung der urverwandten Spraden. So müßte ohne Frage
bei der Aufgabe, die ſich Grimm Bier ftellt, ba8 Sanskrit eine Haupt
rolle fpielen. Aber gerade dem Sanskrit wird in Grimm's Wert
nur eine fehr beiläufige Berückſichtigung zu Theil. Alle diefe auf
fallenden Erſcheinungen finden ihre Erllärung, wenn wir auf die
Entftehung des Buches zurüdgehen. Es ift nämlich hervorgegangen
aus einer ethnographiſchen Hypotheſe, die Grimm ſchon einige Jahre
früger aufgeftelft Hatte. In einer Abhandlung über Jornandes
und die Geten bie er am 5. März 1846 in der Berliner Alademie
gelefen und in demfelsen Jahr zum Drud befördert hatte, verſuchte
ex ben Beweis zu führen, daß die alten thrakiſchen Geten und
die deutſchen Gothen ein und basfelbe Wolf feien. Diefe Hypo
thefe zu ftügen und weiter auszuführen, war ber Hauptzwed von
Grimm's Geſchichte ber deutſchen Sprache. Daß wir hiemit dem
Buche nicht zu nahe treten, ergibt ſich aus Grimm's eigenen Wor-
ten. Wo er im zweiten Band einen Rückblick auf feine Unterfud-
ungen vwirft, beginnt er die Zufammenfaffung feiner Gründe mit
den Worten: „Da ber Geten und Gothen Identität faft ein An
gel ift, um ben fi mein ganzes Werk dreht, und wie id bie
deutſche Sprache nad; ber gothiſchen geregelt Habe, nun au der
Vordergrund deutfher Geſchichte die Geten nicht entbehrt, will if
bier meine Anſicht, und welche Einwände ihr entgegenfteh, mode
mals überfhauen" 2). Aber trog allem Aufwand von Gelehrjamteit
amd Fühnfter Combination ift e8 Grimm nicht gelungen, feine Sr
potheſe auch nur wahrſcheinlich zu machen. Vielmehr hat er bei
1) J. Grimm, Gesch. der deutschen Sprache, Vorr. 8. IV. -
2) Ebend. ©. 800.
Das Lehen u. d. Werke ber Brüber Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 089
befonnenen und nüchternen Geſchichtsforſchern nur die Ueberzeugung
hervorgerufen, daß die hier von ihm angewendete Methode auf bie
bedenllichſten Abwege führt 1).
Müſſen wir alfo das Buch in Betreff der nächſten Aufgabe,
die es ſich ſtellt, fallen laſſen, fo bietet dasſelbe doch andere Sei-
ten, bie ihm einen weit höheren Werth verleihen. Grimm ift mit
den epochemachenden Werken, durch welche er der Wiſſenſchaft neue
Bahnen gebrochen hat, nit zum Abſchluß gekommen. Die neue
Ausgabe der deutſchen Grammatik brach 1840 ab, nachdem fie nicht
über ein Viertel des erften Bandes hinausgefommen war. Die
Mythologie, ſowie bie Rechtsalterthümer hätte Grimm in ben lei
ten Jahrzehnden feines Lebens im fehr erweiterter und theilweiſe
umgearbeiteter Geftalt ericheinen lafjen, wen er dazız gelangt wäre.
Mit einem umfafjenden Werk über die deutſche Sitte?) trug er
ſich ſchon feit Jahren, ohne zu deffen Ausführung zu kommen. Auch
der großartigfte Fleiß und bie gemwaltigfte Arbeitskraft, wie fie
Grimm auszeichneten, waren nit im Stande, allen diefen Anfor-
derungen gerecht zu werben. Da ergriff ber greife Forſcher bie
Gelegenheit, die ihm feine Geſchichte der deutſchen Sprache barbot,
um mit raſcher Hand wenigſtens einzelne Abſchnitte ber großen
Aufgaben auszuarbeiten, zu beren vollftändiger Bewältigung ihm
mehr und mehr die Hoffnung ſchwand. So Bietet das Werk in
den Kapiteln über bie Lautverſchiebung, über den Ablaut, über bie
Declinationsvocale, über die ſchwachen Nomina den Entwurf deffen,
was wir in ber britten Ausgabe der Grammatik zu erwarten ge
habt hätten, wenn ber Verfafler zu deren Vollendung gelangt
wäre. Wir haben hier das letzte Wort vor uns, das ber große
1) gl. Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte 1 (2) ©. 5,
m. Karl Müllenhoff in der Allgem. Encyflopäbie von Erſch u. Gruber, Erſte
Section, 64. Thl., ©. 483 fg. Ueber Grimm’s unkritiſche Methode in ber
eigentligen Gefgicteforfhung vgl. Waitz a. a. D. ©. 6 und befien. fonft fo
verehrungsvollen Vortrag: Zum Gedächtnis an Jacob Grimm, Göttingen
1868, 8. 25. 32. — 2) Bgl. u. 9. J. Grimm, Gesch. der deutschen
Sprache 8. 1016.
640 Biertes Bud, Fünfte Kapitel.
Sprachforſcher in diefen fırndamentalen Fragen geſprochen hat. Aus
ber Fülle feiner Studien Bietet er viel des Anregenden und Neuen,
und auch wo wir ihm nicht beiſtimmen können, werben wir fein
unverbrofjenes Fortarbeiten in Ehren halten. Insbeſondere unter:
zieht er hier die zerftreuten Sprachreſte der älteren germaniiden
Völker, der Langobarden, Burgunden u. ſ. w. einer erneuten Prü-
fung. Wie zur Grammatik, fo bietet das Werk mannigfage Et⸗
gänzungen zur deutſchen Mythologie, fo 3. B. einen bejonderen
Abſchnitt über die Edda. Ant anziehenbften aber find bie Borar-
beiten zu feinem Wert über die deutſche Sitte, die Grimm feiner
Geſchichte der deutſchen Sprache einverleibt hat. So bie friſchen
Schilderungen bes urfprüngliden Hirten» und Jägerlebens und im
Gegenfag dazu die des Aderbaues. Mit diefen Darftellungen der
Sitte und des Lebens fteht eine ber werthvollſten Seiten des gan⸗
zen Werkes in engfter Beziehung, nämlich bie Unterfuchung des
Wortſchatzes nad beftinmten Richtungen Bin, um ans ben Wörtern,
mit denen die Sprachen gewiſſe Dinge, 3. B. bie Metalle, das Vieh,
die Getraibearten u. ſ. w. bezeichnen, Schläffe zu ziehen auf die
Kultur und bie alten Verbindungen ber Völker. Zwar iſt auf
hier die größte Vorfiht nöthig, um ſich nicht übereilten Folgerungen
binzugeben. Aber jedenfalls hat Grimm hier ein ſehr fruchtbare
Gebiet betreten. Und fo können wir denn auf dieſes Wert Grimms
anwenden, was er felbft im allgemeinen von den deutſchen Arbei⸗
ten fagt: Es ſcheint mie insgemein eine löbliche Eigenſchaft deut
ſcher Arbeiten, daß fie nicht Alles abthun, noch vorſchnell zu Schlufle
bringen wollen, fonbern fi aud unterwegs gefallen, an unvorher
gefehener Stelle niederlaſſen und Beete anlegen, bie noch fortgrür
nen, nachdem das Hauptfeld ſchon in rüftigere Hände übergegangen
iſt; franzöſiſche umd feldft engliſche Bücher, welden an forgfamer
Ausgleihung des Inhalts mit der Form allzuviel Tiegt, pflegen,
wenn fie veralten, leicht entbehrlich zu werden“ 1).
1) J. Grimm, Gesch. der deutschen Sprache, Vorr. 8. XVI.
Das Leben u. d. Werke ber Brüber Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 641
3. Kleinere Arbeiten Jacob Grimm’s von 1840 bis 1868,
Bon den zahlreichen Heineren Schriften Grimm's aus den
Jahren 1840 bis 63 haben wir einige ſchon erwähnt, andere, wie
die Rede auf Lachmann, beſprechen wir in einem fpäteren Abſchnitt
Diefe Arbeiten find mit wenigen Ausnahmen Vorträge, die Grimm
in ber Berliner Akademie ber Wiſſenſchaften gehalten Hat. Wer
diefe zahlreichen Vorträge über bie verfchiedenartigften Gegenftände
vereinzelt betrachtet, der wird vielleicht denken, Grimm habe fih
doch gar zu fehr zerfplittert; wer fie aber mit Aufmerkfamfeit in
ihrer Gefammtheit überblidt, ber wird ſich Überzeugen, daß auch
bier, wie in der Geſchichte der deutſchen Sprache, der große For⸗
ſcher ſich gedrungen fühlte, der Welt wenigftens Bruchſtücke defjen
zu überliefern, wovon er nicht wußte, ob ihm die vollftändige Aus-
arbeitung noch vergönnt fein werde. So Bietet bie Sammlung
von Grimm's Kleineren Schriften !) einen außerordentlichen Neich-
thum ber mannigfaltigften Unterfuhungen, aber der Kenner wird
fie Teiht in die verſchiedenen großen Gebiete von Grimm's Forſch⸗
ungen einveihen. Auch hier begegnen wir zuerft einer Anzahl von
Abhandlungen aus dem Gebiet der Grammatik, dies Wort in dem
umfaffenden Sinn genommen, wie es Grimm’s Deutſche Gram-
matif thut. Und zwar gehören bieje grammatiſchen Unterfuhungen
theils den Lehren an, die Grimm in den vollendeten Abſchnitten
feines Hauptwerks fon behandelt hatte, und bilden infofern Vor⸗
arbeiten zur Fortſetzung der angefangenen neuen Ausgabe; theils
geben fie Bruchſtücke defien, was Grimm ung in bem nicht erſchie⸗
nenen fünften Bande geboten haben würde. Zur erjten Art rede
nen wir, obſchon nur theilweiſe, die Abhandlungen über Diphthon-
gen nad weggefalfnen Confonanten (1845) 2), über den Perfonen:
wechſel in ber Rede (1855) 3), über das Pedantiſche in ber deut⸗
ſchen Sprache (1847) 4), von Vertretung männlicher durch weib⸗
tie Namensformen (1858) 5). Die zulegt genannte Abhandlung
1) Heransgegeben von X. Müllenhoff, Bd. I-III, Berlin 1864-1886,
— 9) J. Grimm, Kleinere Schriften 3, 108. — 3) Ebend. 3, 236. —
4) &senb. 1, 327. — 5) Ebend. 3, 349.
Reumer, Geh. ber germ. Phlilogie. 4
642 Wiertes Bug, - Fünftes Kapitel.
bietet, nad Grimm’s Weife, mehr als bie Ueberſchrift veripriät.
Sie entwidelt zugleih, im Anſchluß an das reichhaltige fechfte Ra-
pitel des dritten Buhs der Grammatit, Grimm’s Anſichten über
das natürliche und das grammatifhe Geſchlecht. Auch zeigt fie und,
wie Grimm die Eigennamen zu behandeln gedachte und wie er auf
auf diefem Gebiet der Forſchung neue Antriebe gab. Er hatte
(1846) Förſtemann's Sammlung der althochdeutſchen Eigennamen
veranlaft. „Welchen Reiz, ſagt ber greife Forſcher jet (1858),
und welche anziehende Kraft hat unter allen ſprachlichen Unterſuch⸗
ungen eben die über bie Eigennamen, wie gejhäftig fein muß man
um jede bier auffteigende Frage zu behandeln; ich werde zwar oft
nod) die Eingänge finden, aber nit mehr den Genuß haben, bis
in die Mitte der Forſchung zu gelangen, geſchweige ihren Ausgang
zu ermitteln” 1). Dem fünften Band, den Grimm feiner Gram-
matif nod Hinzufügen wollte: der Lehre vom zufammengefegten
Sat, gehört die Abhandlung ‚über einige Fälle ber Attraction
(1857) 2) an. Manche Arbeiten, wie der Vortrag über Frauemna⸗
men aus Blumen (1852) 3), über die Namen des Donners (1853) ),
über ben Liebesgott (1851) 9) und über das Gebet (1857) ©), wen
den die Sprachforſchung auf Mythologie und Sitte an. Der Rechts⸗
wiſſenſchaft Hatte Grimm (1850) in feinem Nachweis, daß die mal
berg'ſche Gloſſe zur Lex Salica fränfiih und nicht keltiſch jei, feine
eindringende Forſchung zu gute kommen laſſen 7). Bon beſonde⸗
vem Intereſſe aber in Bezug auf Grimm's wiſſenſchaftliche Grund⸗
anſichten find einige linguiſtiſche Abhandlungen von alfgemeinerem
Inhalt, wie die Bemerkungen über Etymologie und Spradver
gleichung (1854) 8 und vor allen die Vorlefung über den Urfprung
der Sprade (1851) 9). Was die Löſung dieſes ſchwierigen Bro
1) Ebend. 3, 351. — 2) Ebend. 3, 312. — 3) Ebend. 2, 366. —
4) Ebend. 2, 402. — 5) Ebend. 2, 314. — 6) Ebend. 2, 489. — 7) u
ber Vorrebe zu Joh. Merkel's Ausgabe der Lex Salica, Berlin 1850. Sqhea
1846 Hatte X. Müllenhoff (in G. Waitz, das alte Recht der Salischen
Franken, Kiel 1846) den fränfifgen Urfprung der malberg’fäjen Gloſſe ge:
gen Leo's keltiſche Erflärungen vertreten. — 8) J. Grimm, Kleinere Schrif-
ten 1, 299. — 9) Ebend. 1, 255.
Das Beben u. d. Werke bes Wrüber Grimm v. 1840 b. zu ihr. Tob. 848
blems betrifft, To ſchließt fi Grimm. im Weſentlichen den Anfichten
Herder's an. Noch wichtiger aber als die Betrachtungen über das
eigentliche Thema biefer Vorleſung find uns darin für unferen
Zwei die Anſichten, die Grimm über bie geſchichtliche Entwickelung
der vorhandenen Sprache äußert. „Anfangs, fagt er, entfalteten
fi, ſcheint es, die Wörter unbehindert in idylliſchem Behagen, ohne
einen anderen Haft als ihre natürliche vom Gefühl angegebene Aufe
einanderfolge; ihr Eindrud war vein und ungeſucht, doch zu voll
und überladen, fo daß Licht und Schatten fi nicht vecht vertheilen
Tonnten. Allmählih aber läßt ein unbewußt waltender Spradgeift
auf die Nebenbegriffe ſchwächeres Gewicht fallen und fie verdünnt
und gekürzt der Hauptvorftellung als mitbeftimmenbe Theile ſich
anfügen. Die Flexion entfpringt aus dem Einwuchs Ientender und
bewegender Beſtimmwörter, die man wie halb und faft ganz ver-
deckte Triebräder von dem Hauptwort, das fte anregten, mitge-
ſchleppt werden und aus ihrer urſprünglich auch finnlichen Bedeu⸗
tung in eine abgezogene übergegangen find, durch die jene nur zu-
weilen noch ſchimmert. Zuletzt Hat ſich auch die Flexion abgenutzt
und zum bloßen ungefühlten Zeichen verengt, dann beginnt ber ein⸗
gefügte Hebel wieder gelöft und fefter beſtimmt nochmals äußerlich
gejett zu werden; die Sprade büßt einen Theil ihrer Elaſticität
ein, gewinnt aber für den unendlich gefteigerten Gedanlenreichthum
überall Maß und Negel. Erſt nad gelungener Berglieverung ber
Flexionen und Ableitungen, wodurch Bopp's Scharffinn jo großes
Berdienft errungen hat, hoben fih die Wurzeln hervor und es
warb Mar, daß die Flexionen größtentheils aus dem Anhang ber-
felden Wörter und Vorftellungen zufanmmengebrängt find, welche im
dritten Beitraum gewöhnlich außen vorangehn. Ihm find Praepo-
tionen und deutliche Zufammenfegungen angemefjen, dem zweiten
Flexionen, Suffixe und fühnere Compofition, der erfte ließ freie
Wörter ſinnlicher Vorftellungen für alle grammatiſchen Verhältniſſe
aufeinander folgen. Die ältefte Sprade war melodiſch, aber weit⸗
ſchweifig und haltlos, die mittlere voll gebrungener poetifcher Kraft,
die neue Sprache fucht, den Abgang an Schönheit durch Harmonie
des Ganzen ficher einzubringen, und vermag mit geringeren Mit-
41*®
644, Biertes Bud. Fünftes Kapitel,
teln dennoch mehr“ 1). Diefe Aeußerungen laſſen uns einen ber
tiefften Blide in Grimm's Anſichten über die Sprache tfun. Die
mittlere von feinen. brei Perioden hat ihn immer beſonders ange
zogen. In ihr „ſehen wir die Sprade für Metrum und Poefie,
denen Schönheit, Wohllaut und Wechſel der Form unerläßlich find,
aufs höchſte geeignet” 2). Aber trotzdem gibt er ihr nicht dem Preis
vor ber dritten Periode. „Da nun aber, fagt er, die ganze Natur
des Menden, folglich aud die Sprache dennoch in ewigem, unaufe
haltbarem Aufſchwung begriffen find, Tonnte das Geſetz biefer zwei-
ten Periode der Spradentwidlung nicht für immer genügen, fon
dern mußte dem Streben nad) einer noch größeren Ungebundenheit
des Gedankens weichen, welchem fogar duch die Anmuth und Macht
einer vollendeten Form Feſſel angelegt ſchien“ %). „Keine unter allen
neueren Sprachen hat gerade durch das Aufgeben und Zerrütten
aller Zautgefege, durch den Wegfall beinahe ſämmtlicher Flexionen
eine größere Kraft und Stärke empfangen als die engliſche“. „An
Reichthum, Vernunft und gebrängter Zuge läßt ſich feine aller noch
lebenden Sprachen ihr an bie Seite fegen“ %). „Die Schönheit
menſchlicher Sprache blüßte nit im Anfang, fondern in ihrer
Mitte; ihre reichſte Frucht wird fie erft einmal in der Zukunft
darreihen“ 4). Unſrer Aufgabe gemäß haben wir ung etwas Län
ger bei biefer Abhandlung aufgehalten und Lönnen nun nur noch
die wichtigften unter den übrigen Arbeiten Grimm’s erwähnen. Zur
Mythologie gehört der Vortrag Über zwei Gebichte aus der Zeit des
deutſchen Heidenthums (1842), deren Auffindung auf der Merſe⸗
burger Dombibliothet „buch den gerechteſten Zufall Herm Dr.
Georg Waig überwiefen worden iſt“ %). Einen wichtigen Beitrag
zu Mythologie und Aberglauben liefern ferner die Abhandlungen
über Marcellus Burdigalenfis (1847) 6) und über die Marcelliſchen
Formeln (1855) 7). Mit Neht und Sitte beichäftigen fi bie
Vorträge über deutſche Grängalterthümer (1843) &), über Schenken
1) Ebend. 1. 283 fg. — 2) Ebend. 1, 291. — 3) Ebend. 1, 291 fg.
— 4) Ebend. 1, 298. — 5) Ebend. 2, 2.— 6) Ebend. 2, 114. —
7) &bend. 2, 152, — 8) Ebend. 2, 30.
Das Leben u. d. Werke der Brüder Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 645
und Geben (1848) 1) und über bas Verbrennen ber Leichen (1849) 2).
Eine bebeutende Stelle nehmen die Arbeiten zur Literatur ein: die
Gedichte des Mittelalters auf König Friedrich den Staufer und
aus feiner fo wie ber nädftfolgenden, Zeit (1843) 3), die Rede auf
Schiller (1859) 4), und endlich der eingehende Vortrag über das
finniſche Epos (1845) 5). Dazu fommen noch die mehr allgemei-
nen Betrachtungen über Schule, Univerfität, Akademie (1849) 6)
unb bie Mebe über das Alter (1860) ). Blicken wir zurück auf
alles Angeführte, wozu nod eine Reihe Mirzerer Arbeiten kommt,
fo fegt uns ſchon bie Menge und Mannigfaltigkeit deſſen, was
Grimm neben feinen großen Hauptwerken zu leiften vermochte, in
Berwunderung. Aber unſer Erſtaunen fteigert fi, wenn wir fehen,
daß Grimm in diefe Arbeiten nicht nur eine Fülle von Geiſt aus-
gegoffen, fonbern fie auch mit einem folden Maß gründlichſter Ge—
lehrſamkeit ausgeftattet Hat, daß man kaum begreift, woher er die
Zeit zu alfen diefen umfafjenden Sammlungen genommen hat. Und
Grimm beſchränkt fi Hier nicht auf die Dircharbeitung des weit⸗
ſchichtigen germaniſchen Matertals, fondern er greift weit über bef-
fen Gränzen hinaus in das griehifche, ſlaviſche und finniſche Alter-
tum. Wir mögen in vielen Dingen anderer Anſicht fein als der
Berfaffer, wir mögen öfters feinen allzutühnen Combinationen nicht
folgen, ja in Manchem feine ganze Anſchauungsweiſe beftreiten:
aber bei dem alfen erhalten wir einen mächtigen Einbrud von dem
geiftigen Reichthum J. Grimm’s, wenn wir uns vergegenmwärtigen,
daß ſchon diefe feine „MHeineren“ Nebenarbeiten hinreichen würben,
um ihm eine der erften Stellen in der Geſchichte unferer Wiffen-
ſchaft zu ſichern.
3. dilhelm Grimm’s Arbeiten vom Jahr 1840 bis zum Yahr 1859.
Die Arbeiten aus Wilhelm Grimm’s letzter Periode ſchließen
fi meift denen aus ber vorangehenden an. Es find hauptſächlich
“ forgfältige und mit feiner Kenntniß hergeftellte Ausgaben mittel-
1) Ebend. 2, 173. — 2) Ebend. 2, 21l.— 3) Eben. 8,1. —
4) Ebend. 1,374. — 5) Ebenb. 2,75. — 6) Ebend. 1, 211. —
T) Eben. 4, 188,
646 Viertes Bug. Fünftes Kapitel.
hochdeutſcher und althochdeutſcher Schriften. Von ber goldenen
Schmiede des Konrad von Würzburg gibt er jetzt (1840) einen kri⸗
tiſchen Tert, indem er über ſeine eigene Ausgabe dieſes Gedichts
in den Altdeutſchen Wäldern (1815) bemerkt, daß fie „weiter leine
Berüdfichtigung mehr verdiene“ 1). Desfelben Dichters Silvefter
gibt er (1841) zum erftenmal vollitändig Heraus. Den Werner
vom Niederrhein (1839) und Athis von Prophilias, ein nur in
Brucftüden erhaltenes mitteldeutſches Gedicht aus dem erften Jahr⸗
zehnd des 18. Jahrhunderts (1846), behandelt er mit berfelben
gründlichen Sorgfalt, wie früher den Graf Rudolf. Am Tängften
aber beſchaftigt ihn fortgefegt Freidank. Er Hatte in feiner Aus
gabe desſelben (1834) die Vermuthung ausgeſprochen und zu bes
gründen geſucht, Freidank ſei Walther von ber Vogelweide. J.
Grimm Hatte (1848) die Richtigkeit dieſer Annahme bezweifelt 2).
Wilhelm ſuchte darauf, biefelde in feiner alabemifchen Vorleſung
„Ueber Freidant“ (1849) noch fefter zu begründen. (Einer ber er⸗
ften Kenner der altdeutſchen Literatur, Wilhelm Wadernagel, trat
ihm bei (1853) 9). Gin anderer anerfannter Forſcher aber, Franz
Pfeiffer, ſuchte (1855), W. Grimm’s Beweisführung zu wiberle
gen 4), vorauf dann W. Grimm (1855) in einem zweiten Nachtrag
über Freidant erwiderte. Mag man im Endergebnis W. Grimm
beiſtimmen ober nicht, darüber ift Alles einig, daß er feine Anfiht
mit Meifterfhaft vertreten Hat 5). — Die Auffuchung der Aehnligleiten
zwiſchen Freidank und Walther von ber Vogelweide hatte W. Grimm
1) Konrads von Würzburg Goldene Schmiede von W. Grimm
1840, Vorr. 8. VII. — 2) Gedichte des Mittelalters auf König Fried-
richI den Staufer (1848), in J. Grimm’s Kleineren Schriften 3, 8. 8fg.
u. 8. 100 fg.— 3) W. Wackernagel, Gesch. der deutschen Litteratur,
Zweite Abthlg., Basel 1853, 8. 279. — 4) Zur deutschen Litteratur-
geschichte, Drei Untersuchungen von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1855,
8. 37 fg. Deffen Freie Forſchung, Wien 1867, S. 163 fg. — 5) Epl.
Franz Pfeiffer a. a. ©. ©. 37; und Pfeiffer’ Urteil Über bie Trefflichteit
von W. Grimm's Ausgabe bes Freidank in deſſen „WB. Grimm’ (1860),
wieber abgebr. in Pfeiffer's Freie Forfhung (1867) ©. 388,
Das Leben u. d. Werke ber Brüber Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 647
auch auf eine nähere Erörterung ihrer Reime geführt !). Bei der
Gründlichfeit, mit der er feine Sache betrieb, wurde er dadurch zu
umfaffenden Unterſuchungen über den Reim veranlaft ?), deren Er-
gebniffe er in der Abhandlung „Zur Geſchichte des Reims“ (1850)
nieberlegte, einer Arbeit, bie in mehr als einem Punkte zeigt, wie
ſcheinbar Heine Dinge, mit folder Genauigkeit und Feinheit unter
ſucht, zu wichtigen und unerwarteten Aufihlüffen führen lönnen 3).
Die Unterfuhungen über das Metrifche im Freidank ſelbſt fanden ih⸗
en Abſchluß in der neuen Bearbeitung jenes Spruchgedichts, die
erſt nah W. Grimm's Tod (1860) erſchien. Außer den befprode-
nen mittelhochdeutſchen Dichtungen waren es vorzüglich einige der
älteften althochdeutſchen Denkmäler, womit fih W. Grimm im letz⸗
ten Abſchnitt feines Lebens eingehend beidäftigte und bie er in fei-
ner gründlichen Weife Herausgab, nämlich die Exhortatio ad ple-
bem christianam und bie Glossae Cassellanae (1848) und bie
„Mtbeutf hen Gefpräge" aus einer Vaticaniſchen Handſchrift des
neunten Jahrhunderts (1849) und einer Pariſer des zehnten (1851).
Wir haben hier natürlich nur einige der wichtigften unter den
vielen Mleineren Arbeiten W. Grimm’s hervorheben können. Eine
fortgefegte Beſchäftigung gewährte ihm das Nachſammeln zur Litera-
tur und Geſchichte der Märchen, wozu die Einleitung zu ben von
den Brüdern überfegten iriſchen Elfenmärden (1826) einen ſchönen
Beitrag geliefert hatte, und das feinen Abſchluß (1856) in der brit-
ten Auflage bes dritten Bandes der Kinder und Hausmärden fand *).
Den größten Theil feiner Zeit aber nahm im legten Jahrzehend
von W. Grimm’s Leben fein Antheil am deutſchen Wörterbuch in
Anſpruch.
1) Vridankes Bescheidenheit, von W. Grimm, 1834, Einleitung,
&. CXXVII. — Ueber Freidank von W. Grimm 1850, 8. 47 fg. —
‚D W. Grimm, Zur Geschichte des Reims 1852, 8.1.4. — 3) 95
verweife beifpielsweife auf das, was W. Grimm ©. 52. 89. 106 der genann-
ten Abhandtung über bie Reime ber Nibelungen fagt. — 4) Bgl.o. ©. 427 fg.
Bir werben nicht irre gehen, wenn wir aud an ben iriſchen Elfenmärden ben
Sauptantheil W. Grimm zufgreiben.
648 Biertes Bud. dünfies Kapitel.
4. Das Denifhe Wörterhu der Srüder Grimm 1852 bis 1863.
ALS die Brüder Grimm im Jahr 1837 wegen ihres Feſthal⸗
tens an ber umgeftürzten hannoveriſchen Berfaffung ihrer Aemter
entfegt worben waren, wurde ihnen von der Weidmanm'ſchen Buch⸗
handlung der Antrag gemacht, ihre „unfreiwillige Muße auszufül-
Ien und ein neues, großes Wörterbuch der deutſchen Sprache abzu-
faſſen.“ „Unmuße, fagt J. Grimm, und bie freiwilligfte war
genug da, fie wäre nimmer ausgegangen, was frommte ihrer mehr
und im Ueberſchwank zu bereiten? Beinahe hieß e8, alte warm
gepflegte Arbeiten aus dem Neft ftoßen, eine neue ungewohnte und
mit jenen, alfer nahen Verwandtſchaft zum Trotz unverträglide,
ihren Fittich heftiger ſchlagende darin aufnehmen. Auf deutſche
Sprade von jeher ftanden alle umfere Beftrebungen, den Gedan⸗
fen, ihren unermeffenen Wortvorrath ſelbſt einzutragen, hatten wir
doch nie gehegt, und ſchon ber mühſamen Zurüftungen ſich zu un
terfangen, Tonnte den für die Ausdauer unentbehrlihen Muth auf
die Probe ftellen. Aber im Vorſchlag Tag auch etwas Unwiderſteh⸗
liches, das fich gleich geltend machte und zum Voraus allen Schwie
rigfeiten, ben vor Augen ſchwebenden, wie folgen, die ſich erft,
wenn Hand angelegt werben follte, erzeigen würden und bie es
vorauszufehen unmöglich ift, die Spite bot. Wir erwogen und erwo⸗
gen, ein unabjehbares, von feinem noch angelegte, geſchweige vollbrach⸗
tes Wert, öffnete allenthalben die fernften Ausfihten. Es gab weder
ein deutſches Wörterbuch, noch einer andern neueren Sprade in
dem umfafjenden Sinn, den wir ahnten, weldem gerade jett mehr
als irgendwann mit treu aufgewandten Kräften Folge geleiftet, mit
reger Teilnahme entgegengelommten werben könnte.“ „Eingedenl
des uralten Spruchs, daß ein Bruder dem andern wie bie Hand
der Hand helfe, übernahmen wir williges und beherztes Entſchlufſes
ohne langes Fadeln, das dargereichte Geſchäft“ 1). Im Frühjahr
1888 wurde zu Kaffel der Vertrag zwiſchen den Brüdern Grimm
1) Deutsches Wörterbuch von J. Grimm und W. Grimm, I,
Bp. I fg.
Das Leben u. d. Werke ber Brüder Grimm v. 1840 6, zu ihr. Tod, 649
und Karl Neimer abgeihloffen 1). Ueber den Plan und Fortgang
des Werts erftattete im Herbft 1846 W. Grimm Bericht auf ber
Berfammlung der Germaniften zu Frankfurt am Main, die J.
Grimm zu ihrem Vorfigenden gewählt hatte. „Das Wörterbuch,
fagte er, fol die deutſche Sprache umfaſſen, wie fie fi in drei
Jahrhunderten ausgebilbet Hat: e8 beginnt mit Luther und ſchließt
mit Goethe. Zwei ſolche Männer, welde, wie bie Sonne dieſes
Jahrs den edlen Wein, die deutſche Sprache beides feurig und
lieblich gemacht haben, ftehen mit Recht an dem Eingang und Aus«
gang. Die Were der Schriftfteller, die zwiſchen beiden aufgetreten
find, waren forgfältig auszuziehen, nichts Bedeutendes ſollte zurüd-
bleiben. Ich brauche nicht zu fagen, daß die Kräfte Zweier, zumal
wenn fie über die Mitte des Lebens längſt hinweggeſchritten find,
nicht zureichen, diefen Schag zu heben, kaum zu bewegen: aber ganz
Deutſchland (auf Hier mahte das nördliche und fühlihe keinen
Unterſchied) Hat ung treuen Beiftand, manchmal mit Aufopferung
geleiftet; oft ift er uns ba, -mwo wir ihm nicht erwarteten, angebo⸗
ten, nur felten, wo wir ifn erwarteten, verfagt worden“ 2). Jacob
Grimm beftimmt dann in der Borrede zum Wörterbuch 3) ben Um-
fang desſelben näher dahin, daß es mit ber zweiten Hälfte des
15. Jahrhunderts beginnen folle. Außer den gedruckten deutſchen
Wörterbüchern, deren bebeutendere wir in früheren Abſchnitten be⸗
ſprochen haben, ftanden den Verfaflern Exemplare des Friſchiſchen
und des Abelungifen Wörterbuchs mit handſchriftlichen Zufägen
von oh. Heine. Voß und des Campe'ſchen Wörterbuchs mit Ein
tragungen von Meufebah zu Gebot ). „Neben diefen beiden,
unferm Wörterbuch voransgehenden und gar nicht für es angeleg-
ten Sammlungen, fagt I. Grimm, fommt num ber weit anſehn⸗
lichere Vorrath von mannigfalten Auszügen in Betracht, die ihm
unmittelbar zur Grundlage gereihen follten, zum Theil aus unfrer
eignen, unablaffenden Lefung der Quellen hervorgiengen, zum gro»
1) Ebend. Sp. LXVIIL. — 2) Verhanbfungen ber Germaniften zu
Frankfurt am Main — 1846, Frankf. a. M. 1847, ©. 14. — 31,
Sp. XVII. — 4) Eben. Sp. LXV.
650 Biertes Bud. Fünftes Kapitel.
Ben Theil aber durch Andere abgefaßt wurden, bie wir damit
beauftragt hatten, oder die fie von freien Stüden und nad) elgner
Wahl anboten“ 1). So ſammelt ſich um bie Brüber ein maffen-
haftes Material. „Wie wenn tagelang feine, dichte Flocken vom
Himmel nieberfallen, fagt J. Grimm, bald die ganze Gegend in
unermeßlichem Schnee zugebedt Tiegt, werde ih von der Maffe aus
allen Eden und Migen auf mich ambringender Wörter gleichſam
eingeſchneit· 2. Kein Wunder, baß er bisweilen „Alles wieder
abzufhütteln” dachte, aber um fo achtungswerther, daß er dennoch
in umabläffiger Arbeit aushielt. Das Werk follte weber eine bloße
Sammlung der noch gebräuchlichen Wörter, nad Art des Adelung'⸗
ſchen Wörterbuchs, noch auch ein Gloſſar zur Erläuterung veralte-
ter Ausdrüde fein, fondern es follte den ganzen Sprachſchatz der
legten vier Jahrhunderte umfaſſen in allen feinen Verzweigungen
und in ber vollftändigen geſchichtlichen Entwidelung der Bebentun-
gen. „Hinter allen abgezogenen Bedeutungen bes Worts liegt eine
finnlie und anfhaufie auf dem Grund, die Bei feiner Findung
die erfte und urſprüngliche war. Es ift fein leiblicher Beſtandtheil,
oft geiftig überdeet, erſtreckt und verflüchtigt, alle Worterklärung,
wenn fie gedeihen ſoll, muß ihn ermitteln und entfalten. Aufzu⸗
ſuchen ift er vor allem in dem einfachen Verbum und wiederum
zuerſt in dem ſtarken“ 3). „Diefe finnlichen Bedeutungen anzu.
geben und voranzuftellen, ift in dem ganzen Wörterbuch geftreht
worden, e8 war aber unmöglich, überall den bezeichneten Weg ein⸗
zuſchlagen, da es mande einfache und ſelbſt ftarke Verba gibt,
deren ſinnlicher Gehalt nicht mehr deutlich vorliegt”, und da wir
von manden Subftantiven nicht mehr ſicher wiffen, von welden
Verbum fie abzuleiten find *). Definitionen wurden meiſt unter
laſſen, ftatt ifrer wird bie Bedeutung durch ein beigefegtes latei ⸗
niſches Wort angegeben. Das Wörterbuch ift zwar für das ganze
Bol. Denn „bie Grammatif ihrer Natur nad iſt für Gelehrte,
Biel und Beſtimmung bes allen Leuten dienenden Wörterbuds find
1) &bend. Sp. LKVI. — 2) Eben. Sp. fg — I Ebend.
&p. XLV. — 4) Ebend. Sp. ZLVI.
Das Leben u. b. Werke ber Brüber Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tob, 51
neben einer gelehrten und Begeifterten Grundlage nothwendig auch
im ebelften Sinne praftijh" 2). Aber „das Wörterbuh braucht
gar nicht nad platter Deutlicfeit zu ringen und kann fi ruhig
alles üblichen Geräthes bedienen, defien die Wiſſenſchaft fo wenig
als das Handwerk entbehrt, und der Lefer bringt das Geſchick dazu
mit ober erwirbt fih’s ohne Mühe. Fragſt du den Schufter, ben
Bäder um etwas, er antwortet bir auch mit feinen Wörtern und
es bebarf wenig ober feiner Deutung. Auch ift gar Feine Noth,
daß Allen Alles verftändlih, daß Jedem jedes Wort erklärt fei,
er gehe am dem Unverſtandnen vorüber und wird es das nädjite-
mal vielleicht faffen“ 2). Darauf hin bedienen fih nun die Ver-
foffer ohne weiteres der ganzen wiſſenſchaftlichen Terminologie.
Bei den Philologen Haben fi längft lateiniſche Kunſtwörter eins
geführt, die fogar in üblicher Abkürzung von jedermann verftanden
werden und an benen ohne Nachtheil niemand ändert“ 3). „Mit
den Buchſtaben m. f. n. werben die brei Geſchlechter auf das ein-
fachfte Hezeichnet“ 3). Aber nicht Bloß der Kunftausbrüde der Tatei-
niſchen Grammatik, fondern aud der Abkürzungen, die Grimm in
feine deutſche eingeführt, bebient fi das Wörterbuch: ags. (angel-
ſãchſiſch), ahd. (althochdeutſch) u. f. w. Diefe Ahkürzungen und bie
der Inteinifhen Kunftausbrüde werden vor dem erften Band aufge⸗
löft, aber nicht bie ber althochdeutſchen, mittelhochdeutſchen und an -
deren altgermanifhen Schriften, wonach 3. B. O. den Otfrib,
MSH die Minneſänger in der Ausgabe von Hagen bedeutet u. ſ. w.
Wer in dieſen Fächern bewandert ift, verfteht ihre Titel und Ahr
Hingungen von felöft”, heißt es in ber Einleitung *). Und doch
follte das Wörterbuch nicht bloß für Gelehrte fein, fondern „allen
Leuten dienen“ und „im ebelften Sinne praltiſch“ fein 5). Aber
„man barf nur nit die fejlelnde Gewalt eines nachhaltigen Fülle
horns, wie man das Wörterbud) zu nennen pflegt, und den Dienft,
den es thut, vergleichen mit bem ärmlichen eines bürren Hand»
lerilons, das ein paarmal im Jahr aus dem Staub unter ber
1) Ebend. Sp. VI — 9) Ebend. Sp. XI. — 8) Ebend.
Sp. XXKVIIL — 4) Ebend. Sp, XCL. — 5) Cbend. Ep. VI.
652 Viertes Bud. Fünftes Kapitel,
Bank hervorgelangt wird, um ben Streit zu ſchlichten, welde von
zwei ſchlechten Scähreibungen ben Vorzug verdiene ober bie fteife
Verdeutſchung eines geläufigen fremden Ausbruds aufzutreiben" ').
„Einem Uhrwerke gleich Laßt ſich das Wörterbuch fiir ben Gehbrauch
des gemeinen Mannes nur mit derſelben Genauigkeit einrichten
die auch der Aſtronom begehrt, und wenn es überhaupt mugen fol,
gibt es kein anderes als ein wiſſenſchaftliches“ °).
Die Brüder vertheilten bie Arbeit in der Weife unter ſich
daß jeber beſtimmte Buchftaben übernahm, ohne daß ber Eine dem
Andren dreinreden ſollte. Jacob begann mit den Buchſtaben 4,
B, €; Wilfelm wählte D. Er hat vor feinem Abſcheiden (1859)
diefen Bucjftaben gerade noch vollendet. Jacob Kat anfer den
drei erſten Buchftaben auch noch E und enblih F bis zu dem Worte
„Frucht“ ausgearbeitet. Ueberbliden wir, was auf den 5768 deut⸗
lich, aber eng gebrudten Großoctavſpalten geboten wird, fo Lönnen
wir ohne alle Einſchränkung fagen, daß feine der lebenden europdis
ſchen Sprachen ein Wert aufzuweifen Hatte, das fih bem Grimm’
ſchen Wörterbuch an die Seite ftellen ließ. Die mit Recht ſtreng
alphabetiſch geordneten Wörter werben in der Weiſe behandelt, daß
eine etymologiſche Einleitung den Beginn macht. Daran fließt
ſich in gebrängter Kürze bie Vorgeſchichte des Worts während des
althochdeutſchen und mittelhochdeutſchen Zeitraums, doch mr als
Eingang zu der neuhochdeutſchen Entwickelung des Wortes. Dieſe
wird dann ſowohl in Beziehung auf die Geſtalt, als die Vebent
ung bes Worts nah alfen Seiten Hin geboten mit ber reidhften
Fülle der Belege vom 15. Jahrhundert an bis auf unfere Tage
Mag man aud die Kühnheit des Etymologiſierens tadeln, ber ih
53. Grimm in feinen alten Tagen wieder mehr hingab, als auf der
Höhe feiner Forfhung, fo wird man doch nicht Täugnen, daß unter
vielem Zweifelhaften ober geradezu Verfehlten ſich eine Denge tref-
fender Etymologieen und geiftvolfer Vermuthungen über den du
fammenhang der Wörter findet. Iſt auch die Entwidelung und
Ordnung der Bebentungen nicht immer gleich gelungen, fo öffnen
1) @bend. Sp. XUI. — 2) Ebend. Ep. XIV.
Das Leben u. b. Werke der Brüder Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 668
fich doch unzählige Einblicke in die geſchichtliche Entfaltung der Ber
deutungen, an bie vor bem Erſcheinen des Grimm'ſchen Wörter⸗
buchs niemand gedacht hat. Während fo das Buch eine unfchäg-
bare Quelle für die Erkenntniß unfrer Sprache feldft ift, bietet es
zugleich ein lexilaliſches Hülfsmittel für das Verftänbniß ber älteren
neuhochdeutſchen Literatur, wie wir ein foldes in den vorhandenen
dentihen Wörterbüchern auch nit von fern beſeſſen Hatten.
Wenn nun das Grimm'ſche Wörterbuch bei dem größten Theil
des deutſchen Publicums die freudige Aufnahme findet, welde die
gefeierten Verfaſſer ſich verſprechen durften, fo läßt ſich bod nicht
läugnen, daß andrerſeits auch Stimmen heftigen Tadels laut wur-
den. So in ben Rritifen von Chr. F. 2. Wurm (1852 fg.) und
don Daniel Sanders (1852 fg.). Man wird ben Ton, der von
dieſer Seite gegen die größten Meifter des Fachs angeſtimmt
wurde, nur im höchſten Maß mißbilfigen, und feinem Urtheils-
fähigen wird e8 einfallen, die Tabler an Geiſt und Wiſſen auch
aur von fern mit %. Grimm zu vergleichen. Aber dies Alles als
jelbftverftändlih vorausgejegt, werden wir uns doch nicht verhehlen
Tonnen, daß jene Angriffe jo mandes Wahre enthielten. Und je
weniger wir natürlich geneigt fein werden, die Angreifer irgendwie
als ebenbürtige Gegner J. Grimm's anzuerkennen, um fo mehr
drängt fih die Frage auf, wie es möglich war, daß eben dieſe
Männer doch mehr als Eine ſchwache Seite der Grimm'ſchen Ar-
beit aufzufinden vermochten. Inſofern ſich's nur um Einzelheiten
handelt, liegt die Antwort nahe. ‘Denn erftens Kann ein Wörter
buch gearbeitet fein, wie e8 will, fo wird doch immer, zumal bei
einer jo mafjenhaften Literatur, wie die neuhochdeutſche, nicht fehr
viel dazu gehören, Nachträge und Verbefferungen zu Tiefern. Zwei⸗
tens aber, — und hier treten wir der Hauptſache ſchon näher —,
iſt es eine ganz verlehrte Anfiht, wenn man meint, Grimm hätte
zeitlebens auf ein derartiges Werk hingearbeitet, fo daß alle feine
frügeren Leiftungen getwiffermaßen nur Worbereitungen zu biefem
legten und größten Lebenswert geweſen wären. Schon bie Ent-
ſtehungsgeſchichte des deutſchen Wörterbuchs, wie wir fie oben mit
Grinun s Worten dargelegt haben, lehrt uns das Gegentheil, und
654 Viertes Bud). Fünftes Kapitel.
Grimm's ganze Laufbahn bezeugt, daß er fi) als Forſcher weit
mehr mit den älteren germaniſchen Sprachen beſchäftigt hatte, als
mit dem Neuhochdeutſchen. Der tiefere Grund aber, warım ge
abe das Deutſche Wörterbuch auch im Großen und Ganzen weit
mehr Blößen bieten mußte, als die übrigen Hauptarbeiten Jacob
Grimm’s, wird ſich aus dem folgenden Abſchnitt von feldft ergeben.
5. Jacob Grimm. Schluß
Bir ftehen am Ende des größten Forſcherlebens, das uns bie
ganze Geſchichte unferer Wiſſenſchaft darbietet. Wir haben geigil-
dert, wie Jacob Grimm nach allen Seiten hin auf dem Gebiet
der deutſchen Sprache und Alterthumsforſchung neue Bahnen ge
broden hat. Die Treue der geſchichtlichen Darftellung fordert, daß
wir uns aud über die ſchwächeren Seiten des großen Forſchers
offen ausſprechen. Dieſe ſchwächeren Seiten ſtehen zu feinen großen
Eigenſchaften in naher Beziehung. Tritt uns vor allem ſeine un⸗
vergleichliche Combinationsgabe entgegen, ſo wollen wir andrerſeits
nicht läugnen, daß dieſe Combinationsgabe bei J. Grimm nicht
immer das richtige Gegengewicht methodiſch prüfender Kritik gefun⸗
den hat. Wir mußten dies namentlich bei der Geſchichte der deut⸗
ſchen Sprache und theilweiſe auch bei der deutſchen Mythologie
zugeben. Auch bei feinen Etymologieen hat J. Grimm in ber
legten Periode feines Lebens fih öfters wieder einer allzugroßen
Kühnheit üderlaffen, nachdem er in feiner deutſchen Grammatit
mehr als irgend ein Anderer dazu beigetragen hatte, die Etymolo⸗
gie der Willkür zu entheben und ihr eine wahrhaft wiſſenſchaftliche
Grundlage zu verſchaffen.
Aber weit tiefer noch als dieſe bisweilen ungezügelte Combi
nation greift eine andere Eigenthümlichkeit Grimm’s in das Ganze
feiner Forſchung ein. Wo es fih um geniale Erfaffung bes Um
mittelbaren, des unbewußt Naturwüchſigen handelt, da finde
Grimm in der ganzen Geſchichte unfrer Wiſſenſchaft nicht feines
leihen. Weit weniger aber ift feine Natur auf bie richtige Be
urtheilung bes verftandesmäßig Meflectierten angelegt. Dies zeigt
fich insbefondere an einer ſehr wichtigen Seite feiner Sprodforid-
Das Leben u. d. Werke ber Brüder Grimm v. 1840 5. zu ihr. Tod. 655
v
ung. Wir Haben gefehen, wie vom Beginn unfver Wiffenfhaft an
die Grammatiter ſich zur Aufgabe machen, die deutſche Schriftſprache
feftzuftellen. Wie verhält ih nun Grimm zu diefen Beftrehungen?
Hat er das Wefen unfrer Schriftiprahe und ihren ſpecifiſchen Un-
terſchied von den Volksmundarten richtig aufgefaßt? So fehr wir
Grimm verehren, können wir doch nit umhin, diefe Frage mit
Nein zu beantworten. Gleich bei feinem Auftreten als Gramma-
tifer (1819) hatte Grimm erflärt, daß er mit feinem Werk ganz
aus ber Reihe ber bisherigen deutſchen Grammatiler, als deren
hauptſächlichſten er Adelung nennt, heraustreten wolle. Inſofern
nun Grimm hiemit bie Art feiner Forſchung bezeichnet, hat er dieſe
Verheißung glänzend erfüllt. Wenn er aber dann fofort jede deut-
ſche Sprachlehre zum praltiſchen Gebrauch für verwerflich, wenn
er es für eine Thorheit exflärt, die „eigene Landesſprache un-
ter die Gegenftände des Schulunterricht? zu zählen", jo verkennt
er das Weſen der deutſchen Schriftiprade. Hätte Grimm neben
feinen hohen und genialen Gaben etwas mehr nüdternen Sinn
für die proſaiſche Wirklichkeit bejeffen, jo würden ihn feine eigenen
Beweisgründe vom Gegentheil deſſen überzeugt Haben, was er zu
bemeifen denkt. Schulunterricht in der eigenen Landesſprache zu
ertheilen, nennt ex „eine unfägliche Pebanterei, die es Mühe Toften
würde, einem wieder auferftandenen Griechen oder Römer nur bes
greiflih zu machen“, und melde die meiften mitlebenden Völker
durch den gefunden Blick, den fie vor ung voraus haben, nicht
kennen ?). So Grimm. In Wirlichkeit aber verhält fih bie
Sade gerade umgekehrt. Die Griehen und Römer Haben von
1) Die oft angeführte Stelle aus der Vorrede zu Gramm. I (2) 8.XIX
ändert an biejen Anſichten durchaus nichts Weſeniliches. Die entſcheidende
Frage iR: Bedarf auch der Deutfhe zum richtigen Gebrauch ber deuiſchen
Schriftſprache grammatiſcher Unterweifung ober barf er ſich „eine jelbfeigene,
Iebendige Grammatif nennen und fühnlih alle Spradmeifterregeln fahren
laffen“ ? Diefe Frage würde Grimm 1822 ganz fo beantwortet haben, wie
1819. Denn noch 1854 (Vorr. zu Bd. I des Deutschen Wörterbuchs
Sp. VII) erlärt er: „Die Grammatik ihrer Natur nad if für Gelehrte”,
lauguet alfo Moglichteit und Bedürfniß einer Elementargrammatit.
656 Viertes Buch. Fünftes Kapitel.
dem Zeitpunkt an, in weldem ſich bei ihnen eine Literaturſprache
ausgebildet hat, aud ihren Kindern grammatiihen Unterricht in
der eigenen Landesſprache ertheilen laſſen. Und was „die mit
lebenden Völter“ betrifft, fo ift der grammatifhe Unterricht in ber
eigenen Mutterſprache bei den Franzoſen und Engländern ein wer
ſentlicher Theil der Jugendbildung, und es genügt, darauf hinzu
weifen, daß die Meinen Schulgrammatifen, die zum Unterricht in
der Mutterſprache beſtimmt find, bei jenen Völkern eine Unzahl
von Auflagen erleben 1). Diefer Grundirrthum Grimm’s, nur das
Naturwüchſige anzuerfennen und alles Weflectierte zu verwerfen,
greift tief in alfe feine Werfe ein. So lange fid biefe, wie die
deutfhe Grammatif, weit überwiegend mit den älteren germaniſchen
Sprachen und nur ganz nebenbei mit ben neueren beichäftigten,
blieben die Wirkungen jenes Irrthums mehr im SHintergrunde.
Sobald aber Grimm mit dem Deutſchen Wörterbuch den Boden
des Neuhochdeutſchen betrat und Hier nicht bloß Sammlungen, fon-
dern auch Urtheile geben wollte, mußte die Frage thatjächlih zur
Entjgeidung kommen, ob wirklich jeder Deutſche, ohne allen Unter-
richt in feiner Mutterfprache, ſich „eine felbfteigene, lebendige Gram-
matif” nennen darf, wenn es fih um den Gebraud ber Schrift:
fprage Handelt. Auch im deutſchen Wörterbuh noch Hält Grimm
an der Anfiht feit, die Grammatik ſei nur fir Gelehrte, das
Wörterbuch dagegen für alle Leute ?), au „für ben Gebrauch des
gemeinen Mannes“ %). Dabei aber trägt er Fein Bedenken, fih
ohne Weiteres ber grammatiſchen Terminologie zu bedienen, ohne
ſich zu überlegen, daß die grammatiſchen Termini nichts als leere,
1) So erſchien von bem Abrégé de la grammaire frangaıse par
No&] et Chapsal 1855 bereits bie ſechounddreißigſte, und von Murrays
abridged english grammar 1854 bie einhunbertunbdreiundgwangigfle Auflage.
Der Werth diefer Buqher iſt ums natürlich hier ganz gleichgättig. &6 form
une einzig darauf an, zu zeigen, baß das, was Grimm für eine fpecifih
beutfpe Pebanterei Hält, fid bei ben größten und prattiſchſten Kulturvölletn
ganz ebenfo findet, wie bei und. — 2) Deutsches Wörterbuch I, Sp. VII.
— 3) Eben. I, Sp. XIV.
Das Leben u, d. Werke der Brüber Grimm v. 1840 b. zu ihr. Tod. 857
unverſtändliche Worte für jeden find, ber nicht mwenigftens in den
Elementen der Grammatik unterrichtet worden ift. Und wo nun
Grimm fi veranlaft fieht, ſelbſt grammatiſche Entſcheidungen zu
geben, ba ſehen wir ihn nicht felten den Confequenzen feines Grund⸗
irrthums verfallen. Weil er nichts wiflen will von einer neuhochdeut ⸗
ſchen Schriftſprache, die in den meiften Punkten bereits grammatiſch
feftgeftelft ift, glaubt er ſich Befugt, den anerkannten Sprachgebrauch
durch vermeintlich hiſtoriſche Conftructionen zu meiftern )Y. Wir
dürfen uns demnach ber Ueberzeugung nicht Länger verfäliehen,
daß Grimm das Weſen unfrer neuhochdeutſchen Gemeinfprace
verkannt hat. Trotz mandes fhönen und finnigen Ausſpruchs,
den er über fie thut, behandelt er fie doch immer wie eine rein
naturwüchfige Mundart, die jeder fo handhabt, wie es ihm in ben
Sinn Tommt, ohne daß der Grammatiker Ihm dreinreden darf.
Das ift aber unfre deutſche Gemeinſprache fo wenig, als irgend
eine Kulturſprache, zu deren Ausbilbung die Schrift mitgewirkt
hat. Wir brauchen nur zurüdzubliden auf die Entftehung und
Entwidelung unfrer Gemeinfprace, um ung zu Überzeugen, welde
Rolle das Schreiben babei gefpielt und welden Einfluß die Gramma-
tiler auf bie allmähliche Feſtſtellung derſelben gehabt Haben. Ehen
deshalb Kat die Schule ihren Antheil an der Erlernung ihres
fehlerfreien ſchriftlichen und mündlichen Gebrauchs. Wir find auf
diefe Frage etwas näher eingegangen, weil fie ſowohl in wifjen-
ſchaftlicher, als in praktiiher Beziehung von entſcheidender Bedeut⸗
ung ift. Haben wir uns aber einmal überzeugt, daß Grimm's
Anfiten hier einer wejentlien Umbilbung bedürfen, und find wir
gegen feine irrigen Annahmen gefihert, dann werben wir auch das
viele Schöne und Treffende, das er über unfre jetzige Sprade
fagt, richtig würdigen. Denn darin hat er volltommen Recht, daß
1) Bgl. z. B., wie Grimm bie längft zu Recht befichenden Formen der
Bogen, der Braten u. f. f. durch bie organiſchen Boge und Brate ver
drängen zu müffen glaubt. (J. Grimm, Von Vortretung männlicher durch
weibliche Namensformen (1858), in J. Grimm’s Kleineren Schriften III,
8. 389. Deutsches Wörterbuch II, 309. Ebend. II, 218).
Ranmer, Seſqh. der germ. Poilelotie. 42
658 Viertes Bud. Sechfes Kapitel,
die Mutterſprache nicht aus ber Grammatik entſpringt. Aber wäh
rend wir bei unſrer Mundart Herren unfrer Sprache find, greift
beim Gebraud der Schriftſprache Schule und Grammatit regelnd
ein, und es ift Aufgabe der Säule, die Grammatik fo zu behan-
deln, daß das ſchriftſprachlich Richtige angeeignet wird, ohne daß
dur den fhulmäßigen Betrieb der Mutterſprache die Quellen des
Sprachvermögens geſchädigt werben.
Haben wir auch fo Manches gegen Grimm einwenden müſſen
und haben wir ihm namentlih in Bezug auf das Weſen unferer
Gemeinſprache nicht beiftimmen Tönuen, fo fol ung doch dies Alles
das Bild des unvergleihlihen Mannes nicht trüben und uns nicht
hindern, feine unerreichte Größe freudig anzuerkennen. Cine folde
Verbindung von genialer Combinationsgabe und eifernem Fleiß,
von lebendiger Phantafie und eindringendem Scharffinn, von ftau-
nengwerther Gelehrfamfeit und ungetrübter Urſprünglichkeit der Auf-
faſſung ift in der Geſchichte unfrer Wiſſenſchaft ohne Gleichen. Ein
echt deutſcher Mann von tiefem, warmen Gemüth und unbeugfa-
men Charakter, jo fteht fein Bild in unferem Gedächtniß. Unſer
Wiffen und unfere Anſichten von der Sprade und ber Dichtung,
von dem Glauben und ben Rechtsanſchauungen unferer Vorfahren
haben duch Grimm’s Forſchungen eine neue Geftalt gewonnen.
Grimm hat uns den Sinn für unfer deutſches Alterthum wieder
geöffnet und dadurch auch für die Betrachtung unfrer Gegenwart
eine neue Grundlage geſchaffen. -
Sehfles Kapitel.
Die Bearbeitung ber deuiſchen Literaturgeſchichte.
Wir haben in einem früheren Abſchnitt den burchgreifenden
Einfluß dargeftellt, den die Häupter der romantiſchen Schule auf
die geſchichtliche und Fünftlerifge Auffaffung unferer Literatur geübt
haben. Aber eine eingehende Geſchichte der deutſchen Literatur ift
nicht von ihnen geichrieben worden. Vielmehr blieb diefe Aufgabe
Die Bearbeitung ber deutſchen Literaturgeſchichte. 660
noch laugere Zeit im den Händen minder begabter Geiſter, deren
vorbereitende Thätigleit aber nicht ohne Verdienft war. Ein Mann
diefer Art war Franz Horn (geb. zu Braunſchweig 1781, 1808
bis 1805 und dann wieder von 1809 an in Berlin, } 1837).
Hauptſuchlich angeregt durch die Romantiler wollte er doch nicht
zu deren Schule gerechnet fein ). Fühlen wir uns auch nicht
felten durch die ſelbſtgefällige Mebfeligkeit und das verichrobene
Weſen Horn's zurüdgeftoßen, fo dürfen wir doch bie Verdienſte
nicht verfennen, die er ſich durch Anregung des literaturgeſchicht⸗
lichen Jutereſſes und öfters auch durch treffende Beurtheilung lite⸗
rariſcher Erſcheinungen erworben Bat. So war er einer der erften,
die Uhland's Bedeutung richtig gewürdigt Haben 2). Unter Horn’s
Arbeiten heben wir hervor bie „Geſchichte und Kritik der beutfchen
Poefie und Berebfamteit, Berlin 1805", die „Umriſſe zur Geſchichte
und Kritik der ſchönen Literatur Deutſchlands während ber Jahre
1790 bis 1818, Berlin 1819”, und „die Poefie und Beredſamkeit
der Deutſchen, von Luther's Zeit bis zur Gegenwart“, vier Bände,
Berlin 1822—29. — Nicht, wie Franz Horn, von ber patrioti-
fen und veligiöfen, fondern von ber philojophifg-aefthetiichen Seite
Im Friedrich Bouterwek (geb. zu Ocker bei Goslar 1766,
1797 Prof. der Philoſophie in Göttingen, } 1828) zur Geſchichte
ber deutſchen Literatur. Für die umfafjende „Geſchichte der Künfte
und Wiſſenſchaften feit ber Wiederherſtellung berfelben bis an das
Ende des arhtzehnten Jahrhunderts“, zu welcher Joh. Gottfried
Eichhorn feine „Allgemeine Geſchichte der Cultur und Fitteratur .
des neueren Europa” (1796) als Einleitung ſchrieb, übernahm
Bouterwek die „Geſchichte der Poeſie und Beredſamkeit feit dem
Ende des breizehnten Jahrhunderts.“ Nachdem er (480110) bie
italieniſche, ſpauiſche, portugieſiſche, franzöſiſche und engliſche Litera⸗
tur in acht Bänden behandelt Hatte, ließ er (1812—19) in drei
meiteren die deutſche folgen. Tiefe der Auffafjung darf man bei
1) 5 Hom, Nachträge zu den Umriffen, Berlin 1821, ©. 332. —
2) $. Horn, Umriffe, 1819, ©. 257 fg. Auch Heinrich von Kleif’s ſchöpfe⸗
riſche Begabung erfannte Horn riätig. (Ebend. S. 158 fg.).
42*
680 Biertes Bud. Sedfes Rapiid.
Bouterwel nicht ſuchen. Aber ausgebreitete Beleſenheit, wie man
fie nur an der Hand der Göttinger Bibliothek erwerben konnte,
liegt feinem anſprechend umd fließend geſchriebenen Werk zu Grunde,
freilich mehr noch bei den auswärtigen Literaturen, als bei der
deutſchen. Einige fleißige Sammler find ar biefer Stelle nod zu
erwähnen, nämlid Chriſtian Friedrich Raßmann (geb. zu Werni-
gerode 1772, } 1831) und Karl Heinrich Jördens (geb..1757 zu
Fienſtedt im Mannsfeldiſchen, 1796 Mector zu Lauban, + 1885).
Unter den zahlreihen Schriften des Legteren nennen wir nur fein
Hauptwert: „Lexilon deutſcher Dichter und Proſaiſten“, fehs
Bände, 1806— 11.
Mit der wachſenden Kenntniß ‚der deutſchen Literatur werden
aud deren Darftellungen immer zahlreicher. Wir können hier un⸗
terſcheiden zwiſchen folden Schriften, bie dem ganzen Publicum
eine anfprehende Schilderung ber deutſchen Literatur bieten wollen,
und folden, bie bem eigentlichen Unterricht Beftimmt find. Natür-
lich find die Gränzen zwiſchen biefen beiden Arten nicht immer
ftreng gezogen. Bu ber erſten Art gehören bie „Vorlefungen über
die Geſchichte der teutſchen Nationallitteratur” von Ludwig Wach⸗
ler (1818) 1). Geboren zu Gotha 1767, feit 1815 Profeffor der
Geſchichte an der Univerfität Breslau 2), wirkte Wachler dort auf
ein zahlreihes Auditorium in anregender und wohlmeinend patrio-
tifcher Weile. In diefem Sinn hielt er auch feine eben genannten
mehr rhetorifcen, als ftreng wiffenfhaftlihen Borlefungen über bie
. beutfche Literatur, Dem Unterricht ber reiferen Jugend beftimmte
Friedrich Auguft Piſchon (geb. zu Kottbus 1785, + als Con⸗
ſiſtorialrath zu Berlin 1857) feine verdienſtlichen literaturgeſchicht⸗
lien Scheiften, fein „Hanbbuch ber deutſchen Profa, in Beifpielen
von der früheften bis zur jegigen Zeit“, (Exfter Theil 1818), feine
Dentmäler der deutſchen Sprache (1838 fg.) umd feinen „Leitfaden
zur Geſchichte der deutſchen Literatur" 1830 3). Ebendahin gehört
das „Handbuch der deutſchen Sprache und Litteratur" von J. ©.
1) Zweite Aufl. 1834. — 2) + 1838. — 8) Dreigefnie verm.
Aufl., bearb. von 8. 3. H. Palm, 1868.
Die Bearbeitung ber deutſchen Literaturgeſchichte. 661
Kunifh (in Breslau), drei Theile 1822— 24, und die „Geſchichte
ber deutſchen National» Literatur” von Karl Herzog (in Jena)
1831. ud) find hieher zu reinen die Tabellen zur Geſchichte der
deutj hen Sprade und National - Litteratur von Armin Guben,
1831, und die fleißigen „Syndroniftifgen Tabellen zur verglei-
enden Ueberſicht der Geſchichte der deutſchen National » Literatur”
von Karl Eitner (in Breslau) 1842—56.
In die Klaffe der Lehrbücher gehörte urfprüngli auch der
„Grundriß zur Geſchichte der deutſchen National» Litteratır. Zum
Gebrauch auf gelehrten Schulen entworfen von Auguft Koberftein,
Leipzig 1827." Aber mit der Zeit erhob fid dies Buch weit über
feine erfte Anlage. Auguft Koberftein, geb. 1797 zu Rügen⸗
walde in Pommern ftubierte Philologie auf der Univerfität Berlin
und wurde dann 1820 Adjunkt und 1824 Profeſſor an der Lan⸗
desſchule zu Pforte. Saft fünfzig Jahre wirkte er an diefer An-
ftalt als Lehrer der deutſchen Sprache und Literatur in ſegensrei⸗
Ger Weife, indem er namentlich aud die ältere deutſche Sprache
und Literatur auf gründliche Art in den Bereich feines Unterrichts
zog. Er ftarb am 8. März 1870 zu Köſen. Sein Hauptwerk,
der eben genannte Grunbriß, hatte bei feinem erften Erſcheinen nur
299 Seiten, in feiner vierten „durchgängig verbeflerten und zum
größten Theil völlig umgearbeiteten Ausgabe” (1847—66) aber ift
er zu brei ftattlihen Bänden von zufammen 3388 Seiten ange
wachen. Bei weitem den meiften Raum nehmen die reiähaltigen
Anmerkungen ein, bie in ihren trefflich gewählten Belegitellen ein
wahres Schaghaus für die Geſchichte der deutſchen Literatur bilden.
Aber au die Sprade und insbeſondre die Metrik zieht Koberftein
in den Bereich feiner Darftellung. Koderftein war in jüngeren
Jahren vorzüglich angeregt worden durch Ludwig Tieck's Schriften.
Auch fpäterhin bewahrte er dem geiftvollen Dichter, deſſen feſſelnde
Perfönlichkeit einen unauslöſchlichen Eindruck auf ihn gemadt
hatte, ein liebevolles Andenken 1). Doch ließ er fi dadurch in der
1) Bgl. Koberſtein's Brief an Tied vom 14. Nov. 1839 in: Briefe an
Ludwig Tied, Her. von Holtei, Ob. II, Breslau 1864, ©. 181 fg.
082 Viertes Bud. Sechſtes Kapitel.
Folgezeit von einer ftrengen Beurtheilung ber romantiſchen Schule
nicht abhalten, während er andrerfeits auch bie bebeutenben Geiten
der Romantiker eingehend würdigte.
Auf Roberftein’s Grundriß folgte, ber Zeit des Erſcheineus nad,
ein Wert, das es nicht auf ein Lehrbuch, fondern auf eine Kumfl-
gerechte Geſchichte ber deutſchen Dichung abgefehen hatte umb zu
diefem Biele einen in dieſer Weife noch nicht verſuchten Weg ein-
ſchlug: Die „Geſchichte der poetiſchen National-Literatur ber Deut-
fen von ©. ©. Gervinus.“ Georg Gottfried Gervinus,
ge. am 20. Mai 1805 zu Darmftadt, beſuchte das bortige Gym⸗
nafium, wurde dann zum Kaufmann beftimmt, verlieh jedoch dieſe
Laufbahn und bezog 1824 die Univerfität zu Gießen, Oftern 1825
die zu Heidelberg. Hier wurde er durch Friedr. Chriſtoph Schlofier
für die hiſtoriſchen Studien gewonnen. 1880 habilitierte er ſich
an ber Univerfität Heidelberg, 1836 folgte er einem Auf an bie
Univerfität Göttingen als Ordentlicher Profeſſor der Geſchichte aud
Literatur. Aber am 14. Dec. 1887 wurde er feiner Stelle entjegt
und des Landes verwielen, weil er mit ſechs feiner Collegen fih
muthig und offen gegen ben Verfaſſungsbruch des Königs Eraft
Auguft von Hannover erflärt hatte. Er lebte ſeitdem wieder in
Heidelberg, wo er 1844 zum Honorarprofeffor ernannt wurde.
Nachdem er fih fon’ immer als Schriftfteller im liberalen und
nationalen Sinn eifrig am ber deutſchen Politik betheiligt Hatte,
rief ihm das Jahr 1848 nach Frankfurt erſt als Vertraueusmann
ber Hanfeftäbte beim Bundestag, dann als Mitglied der National⸗
verfammlung. Aber ſchon im Auguft 1848 trat er aus dieſer aus,
gieng im December besfelben Jahres nad Italien und lebie dann
wieder feinen ſchriftſtelleriſchen Arbeiten in Heidelberg 1).
Wir Haben es zwar Hier zunächft nur mit Gervinus umfaſſendem
Wert über die poetiſche Nationalliteratur der Deutſchen zu thuu, deſſen
fünf Bände in ben Jahren 1835 His 42 erſchienen, und dem er in
ber „vierten gänzlich umgearbeiteten Ansgabe” 2) (1858) ben Titel
1) Brochaus, Real-Encykl. (11) VI, 943 fg. — 2) Ich bemerk, ba
Die Bearbeitung bes deutſchen Literalurgeſchichte. 868
gab: „Geſchichte der deutſchen Dichtung.“ Aber um dies Wert
richtig zu würdigen, müffen wir einen Blick werfen auf deſſen
Stellung in Gervinus ganzer Thätigkeit. Das, was den Sinn
dieſes bedeutenden Mannes vor allem anzieht, ift der Staat. Dem
öffentlichen Leben, der politiſchen Entwidelung ber Völler ift fein
Forſchen und fein Darftellen in erfter Linie gewidmet. Bon ber
politiſchen Geſchichte Tommt er Her, und zu biefer Zehrt er nach
Vollendung feiner großen literaturgeſchichtlichen Arbeiten auch wie⸗
der zurüd. Aber als ein hochgebildeter Mann und als ein Schü—
ler und Verehrer Schloſſer's weiß er den Werth, den bie ſchöne
Literatur ſowohl an fih, als im Leben der Völker hat, wohl zu
würdigen. Sein hiftorifher Blick fagt ihm zugleih, daß die Ent-
wieelung der deutſchen Dichtung mit dem Höhepunkt, den fie auf
der Scheide des 18. und 19. Jahrhunderts in Goethe und Schiller
erreicht, einen gewiffen Abſchluß gefunden Hat, und fo wählt ex ſich
die Geſchichte diefer Dichtung als einen würdigen und in fi abge-
ruudeten Gegenftand zu einer umfafienden und kunſtgerechten hifto-
riſchen Darftellung. Die deutſche Dichtung ift ihm aber nichts
Bereinzeltes, fondern fie ift nur ein Abſchnitt der großen Gefanmmt-
entwidelung, welche das geiftige Leben der Menfchheit genommen
hat. „Bei den Griechen allein, fagt er, war die Dichtung, wie alle
Kunft, von Feiner Religion, von keinem Stande und keiner Wifjen-
ſchaft eingeengt, nur da Tonnte fie ihre ebelften Kräfte im voliften
Maße entwideln, nur da Sitten, Glauben und Wiffen geftalten
und für alles echte Beſtreben in der Kunft fpäterer Zeiten und
Völker gefeggebend werben. Diefer Höhepunkt war erreicht, als
die homerifchen Gedichte ihre letzte Geftaltung erhalten hatten und
die früheren Tragiter in Athen die Neinheit der alten Kunft noch
bewahrten. Als die Pythia den Euripibes für weiſer als den So-
pholles erfläcte, war bie griechiſche Dichtung anf ber gefährlichſten
Spige; von ba an gewann ber Gebanle an ben Werken der Ein-
bildungskraft einen ftets überwiegenberen Einfluß, den die Einwir⸗
es nur bei den drei erflen Bänden heißt: „gänzlid) umgearbeitete“, bei ben
beiden lehten aber „verbefierte Ausgabe."
664 Biertes Bud. Geiffieh Kapitel.
fung ber philofophifgen Schulen und bie Berpflanzung ber ſchönen
Literatur unter die praltiſchen und materiellen Römer nährte und
fleigerte. Dies geſchah, als das Chriſtenthum geprebigt ward,
das dem Menſchen eine neue innere Welt bes-Gemüthes erſchloß
Das Mittelalter fiel dann in einen ſchneidenden Gegenfag gegen
die Zeiten bes Wltertfums. Die reife und volle Bildung bes
Geiftes gieng verloren; Gefühle, Einbilbungstraft, Berftand erhiel-
ten eine getrennte, einfeitige Pflege; dies führte in allen Zweigen
der geiftigen Thätigfeit, in Meligion, in Wiſſenſchaft und Staat zu
den feltfamften Verirrungen; die Aufgabe ber neueren Zeit war
dann, aus dieſen Verirrungen zu einer gefunden und harmoniſchen
Thätigfeit des Gelftes und feiner einzelnen Kräfte zurüdzuführen“ 1)-
— „Es ift ein einziger großer Gang zu der Quelle der wahrhaf-
ten Dichtkunſt zurüd, auf dem alle Nationen von Europa die
Deutſchen begleiten, oft überholen, am Ende aber eine nad, ber
andern zurüdbleiben. Staliener, Spanier, Franzoſen und Englän-
der blieben auf biefem Wege in verſchiedener Weife bei ber grie-
chiſch⸗römiſchen oder bei der alerandrinifen Bildung haften; die
Deutſchen allein fegten ben fteileren, aber belohnenderen Weg fort
und gelangten zur ſchönſten Blütezeit griechiſcher Kunſt umd Weis-
heit zurüd. Goethe und Schiller führten zu einem Kunſtideal
zurüd, das feit den Griechen niemand mehr als geahnt Hatte. Se
weiter fie barin gebiehen, deſto unverholener ward bei zwar ftei-
gender Selbftänbigfeit ihre Berwunderung für bie alte Kunſt, bei
fteigendem Selöftgefühl in ihrer Umgebung, ihre ehrfürctige Be
fcheivenheit den Alten gegenüber. Sie leiteten mit Bewußtſein auf
bie Vereinigung bes Reichthums ber Neueren an Gefühlen und
Gedanken mit der Form der Alten, und dies eben war ber Punkt,
nad) deſſen Erreichung bei den Griechen die Kunſt ausgeartet war").
Dies ift die eine Gedankenreihe, die wir nicht aus dem Auge ver ⸗
lieren dürfen, wenn wir die Entwidelungen und Urtheile in Ger⸗
vinus Gedichte der deutſchen Dichtung richtig verftehen wollen.
1) Geroinus, Geſch. ber deutſchen Dichtung (4) I, 9 fg. — 2) Ehen.
S. 10.
Die Bearbeitung ber deuiſchen Literaturgefchichte. 665
Dazu aber müffen wir noch eine andere fügen. Im Anſchluß an
Ariftoteles findet Gervinus in der Dichtkunſt nur die Gattungen
des Epos und des Dramas zu beachten. Die lyriſche Poeſie iſt
wie die dibaktifche, nırm eine „Nebengattung.“ „In der Iyrifchen
Boefte muß jeber, der die Geſchichte der Dichtung kennt, Rhapſodie
und Romanze als die BHiftorifhen Anfänge und Wurzeln von
Epos und Drama ausſcheiden. Dann bleibt nichts Weſentliches
übrig als die muſilaliſche Lyrik, die in allen einfachen ungefünftel-
ten Zeiten mehr der Muſik zugetheilt wird als der Poeſie, weil
jene die Hauptſache darin ift“ '). In jenen beiden allein zu beach⸗
tenden Gattungen nun haben die Griechen im Epos, die Engländer
im Drama das Höchſte erreicht. „Homer hat im Gebiete der
Dichtung die Rolle des prophetiichen Offenbarers gefpielt, und mit
entſchiednerer Wirkfamteit, als vielleicht ivgend ein anderer Prophet
im Gebiete der Religion. Wenn man au feine Spuren aus
Schwãche und Verkehrtheit vielfadh verließ, fo wagte man niemals
fein geheiligtes Anfehn und die ewige Giltigfeit feiner Geſetze an⸗
zutaſten ober zu bezweifeln“ 2). Und Shafefpeare „fieht jeder, ber
ihn für fi, und neben ihm die Geſchichte der Dichtung in ihrem
ganzen Umfange kennt, im Mittelpunkte der neueren dramatiſchen
Kiteratur auf der Stelle ftehen, die Homer in ber Geſchichte ber
epiſchen Poefie einnimmt, als ben offenbarenden Genius der Gat-
tung, deſſen Bahn und Weife nie ungeftraft verlaffen werben
Kann“ ®). Shalefpeare's Verherrligung hat deshalb auch Gervinus
(1849) fein zweites literaturgeſchichtliches Haupiwerk gewidmet.
&o Bietet das Höchſte aller Zeiten, mas auf dem Gebiet ber
Ditung geihaffen worden ift, Gervinus den Maßſtab zur Beur-
theilung ber einheimiſchen Erzeugniffe. Vor allen find ihm die
Griechen, wie uns ihr Verftändnis durch Winckelmann und Goethe,
dich F. A. Wolf v. W. von Humboldt aufgefchloffen worden ift,
der Kanon der Kunft und Dichtung. Auf diefer Grundlage fhil-
1) Geroinus, Grundzüge der Hiſtorit, Leipg. 1887, ©. 56. — 2) Ger-
vinus, Geſch. der deutſchen Dichtung (4) I, 350. — 3) Gervinus, Shafe:
ſpeare (2) 1, ©. 8.
2086 Biertes Bud. Sechſtes Kapitel.
dert er uns mit ftaunenswerther Beleſenheit die Entwidelung der
deutſchen Literatur von den älteften Zeiten bis in den Anfang un
jeres Jahrhunderts.
So fehr ſich übrigens Geroinus bejtrebt, allen Erſcheinungen
hiſtoriſche Gerechtigkeit widerfahren zu Laffen, fo gelingen ihm doch
natürlich die Bartieen am beften, die feine ganze Sympathie für fih
haben. Ich erinnere beifpielöweife an ſo inanche meifterhafte Shil- .
derung aus der Literatur bes achtzehnten Jahrhunderts. In mars
Gen anderen Theilen, fo bei ber Literatur des 17. Jahrhunderts,
weiß er aus einem weitfhichtigen und wüſten Material lehrreiche
Blide in die Bildung bes Zeitalter zu gewinnen. Sehr eigen
thümlich ift fein Verhältnis zu unfrer mittelalterlichen Dichtung
Wir müffen uns hier vor allem erinnern, daß Gervinus (1835)
einer ber erften war, bie eine wiſſenſchaftliche Darftellung unfrer
alten Dichtung unternommen haben, und daß er an dieſe Darftel-
lung nit von Seite germanijcher Sprachſtudien, fondern verfunten
in Die Welt der alten Griechen herankam. Wir werden es bann
höchſt anerkennenswerth finden, daß fein hiſtoriſcher Sinn fi den
Dentnalen unfrer alten Literatur fo weit zu nähern gewußt hat,
mie wir e8 in feinem Werke ſehen. Auch läßt ihn fein an ben
Griechen gebildetes Urtheil das Bedeutende und Gefunde ſicher
herausfinden, wie dies namentlid feine Hervorhebung Walther's
and der Nibelungen zeigt. Undrerfeits aber gelingt es ihm nict,
ſich in die Art und Weife unfrer deutſchen Dichtung völlig zu ver-
fegen und fie von innen Heraus in ihrer eignen Kraft und Schön
heit zu erfaſſen. Statt fie zu nehmen, wie fie ift, Läßt er fid) üher-
all zu ſehr von bem Streben beherrſchen, nachzuweiſen, daß unfte
alte Poefie do bei weitem mit zu der Vollendung gelangt it,
wie bie ber Griechen. Daran zweifelt aber ohnehin Fein Dam
von Einfiht; nur daß er das, was Gervinus bier unfrer alt
deutſchen Poeſie gegenüber fo ſcharf betont, auf die Dichtung aller
Völler und Zeiten anwenden wird. Denn wo findet ſich dem
überhaupt eine Dichtung, die fi an innerer Harmonie und Boll:
endung mit der griechiſchen meffen könnte?
Auch bei feiner Geſchichte der deutſchen Dichtung ftand Gewi⸗
Die Bearbeitung ber deutſchen Literaturgeſchichte. ST
nus ein politifches Ziel vor Augen. „Unfere Dichtung, fagt er,
hat ihre Zeit gehabt; und wenn nicht das deutſche Leben ſtill
ſtehen fol, fo müffen wir die Talente, die num kein Biel haben,
anf die wirflide Welt und den Staat Ioden, wo in neue Materie
neuer Geift zu gießen ift. Ich, fo viel an meinen Heinen Kräften
gelegen ift, ich folge diefer Mahnung ber Zeit. Bon mir wird
man es nad) diefem Werke glauben, daß Sinn und Siebe für Kumft
und Dichtung mit meiner ganzen Eriftenz verwachſen tft, und ich
werde e3 wohl, ohne der Proſa beſchuldigt zu werden, fagen dür⸗
fen, daß uns die inneren Nöthigungen unferer Buftände anrathen,
uns fürderhin mit dem Genuffe unferer alten Poefien zu begnügen,
die ermattete Probuftionsfraft auf einen anderen Boben zu ver-
pflanzen, wo fie neue Nahrung findet, und wenn wir das Alt
erworbene in ber Literatur nicht mit dem Renzuerwerbenden tm
Staate zugleich verbinden können, lieber jenes aufzugeben, als die
ſes“ 1). Ans diefen Worten der im Jahr 1840 geſchriebenen Wid⸗
mung an Dahlmann tritt ung der tüchtige Mann und der eifrige
Bolititer entgegen. Zugleich aber zeigen fie uns bie ſchwächere
Seite des ganzen Werts, das die Poefie viel zu fehr als eine An-
gelegenheit des ftaatlichen Lebens und viel zu wenig als ein Ber
dürfnis des inneren Menſchen behandelt. Hiemit aber fteht ein
anderer Umſtand in naher Beziehung. Wir wollen es durchaus
nicht tabeln, daß Gervinus bie Poefie, wie bie Muſik und alle
Künfte anf die Wirkung hin prüft, die fie auf das Staatsleben
Haben. Wir freuen uns vielmehr des männlichen Tons, in wel-
dem ex dies in feinem Shalefpeare und in feiner Geſchichte der
deutſchen Dichtung thut. Aber das Band, das den Staat mit ber
Voeſie verknüpft, iſt die Volksthümlichleit, wie fie ſich in der ganr
zen geiftigen Anlage des Volles und vor allem in feiner Sprache
ausprägt. Diefer Angelpunkt der ganzen Frage tritt bei Gerviaus
viel zu ſehr in den Hintergrund. — Ich bin bei dem Werk won
Gervinus, feiner hervorragenden Bedeutung entſprechend, länger
1) Geroiaus, Neuere Geſchichte ber poetiſchen National ⸗Zit. ber Deutſchen,
I, Leipz. 1840, ©. VII.
668 VBiertes Buch. Sechſtes Kapitel,
verweilt. Eben biefer Bedeutung wegen habe ih nicht unterlafien,
meine abweichende Ueberzeugung unumwunden auszufpreden. Aber
ih bin weit entfernt, den hohen Werth dieſes in ſich gefchloffenen
und nad) den verſchiedenſten Seiten hin fruchtbar anregenden Wer⸗
te3 zu verkennen.
Man Tann fih kaum einen größeren Gegenſatz denen, als
den zwiſchen Gervinus’ eben befprochenen Werk und Bilmar’s Ge
ſchichte der deutſchen National - Literatur. Dort eine Strenge der
Kritik, die und öfters verlegt; hier eine kindlich gläubige Aufnahme
des dargebotenen Schönen, die uns Bin und wieber das richtige
Maß der Beurtheilung vermiffen läßt. Auguft Friedrich Chri⸗
ftian Bilmar, geb. 1800 zu Solz in Kurheſſen, ftubierte Theo⸗
logie zu Marburg und wurde nah mannigfachen anderen Berwen-
dungen 1888 Director des dortigen Gymnaflums. 1850 wurde er
als Gonfiftorialrath nach Kaffel berufen, kehrte aber 1855 als or-
bentliher Profeſſor der Theologie nah Marburg zuräd 1) und ſtarb
daſelbſt im J. 1868. Mit Vilmar's politiien und kirchlichen Hin-
deln Haben wir hier nichts zu thun. Wer fie kennt, der wird fih
um fo mehr über ben umbefangenen und für alles Schöne em-
pfänglien Sinn freuen, ber in Vilmar's Geſchichte ber deutſchen
Nattonalliteratur herrſcht. Entſtanden aus Borlefungen, die ber
Berfaffer im Winter 1843/44 vor einem größeren Kreife in Mar⸗
burg hielt, verbindet dies (1845 zuerſt erichienene) 2) Buch gründ-
liche Sachkenntnis mit einer höchſt anmuthigen Darftellung und
hat nicht wenig dazu beigetragen, bie Theilnahme an unſrer alten
Dichtung zu verbreiten.
In demſelben Jahrzehnd, wie Vilmar, begann (1848) W.
Wadernagel feine gediegene Geſchichte der deutſchen Literatur,
von der wir fon in einem früheren Abſchnitt geſprochen haben
und von der wir bier nur hervorheben wollen, daß fie im meifter-
Hafter Weife die fortlaufende Erzählung mit den Erforderniffen des
Lehrbuchs zu vereinigen weiß und nicht bloß bie Poeſie, ſondern
1) Brochaus, Real-Enchti. (11) XV, 182 fg. — 2) Zwölfte Buflage
1868.
Die Bearbeitung ber deuiſchen Literaturgefchichte. 689
and die Proſa mit der grünbliäften Kenntnis ſowohl der Sprache,
als der Literatur eingehend behandelt. — Das folgende Jahrzehnd
brachte uns (1856 fg.) Karl Goebeles „Brumbriß der Geſchichte ber
deutfen Dichtung aus den Quellen“. Karl Goedeke, geb. zu
Celle 1814, ftudierte in Göttingen Philologie in jener Zeit, in wels
der dort bie Brüber Grimm im Verein mit Benede, Otfeieb Mül-
Ir, Ewald, Dahlmann und Gervims bie philologiſchen und Hifto-
riſchen Stubien vertraten. Er Iehte dann in Gelle, Hannover und
feit 1859 in Göttingen ). Nachdem er einzelne Theile der bent-
fgen Literatur, — Deutſchlands Dieter von 1818 bis 1843 (1844),
Elf Bücher deutſcher Dichtung von Sebaftian Brant bis auf bie
Gegenwart (1849), deutſche Dichtung im Mittelalter (1854) —,
bearbeitet hatte, ließ er (jeit 1856) feinen Grundriß folgen. Die
Aufgabe, bie er ſich Hier ftelit, bezeichnet er als „weſentlich dieſelbe,
die Koch 2) ſich geftelft und für feine Zeit in ausgezeichneter Weife
gelöft Hatte“ >), und, fügen wir Hinzu, es ift Goedeke gelungen,
dieſe Aufgabe in noch vorzüglicherer Weife für unſre Zeit zu löſen,
als fie Koch für die feinige gelöft hatte. Die Anorbnung gewährt
einen ſicheren Weberblid, die gedrungenen Paragraphen faſſen alles
Hauptfächliche Har zufammen, und bie überaus reichhaltigen literari⸗
[gen Nachweiſungen machen das Buch jedem, ber fi mit dem
Studium der deutſchen Literatur beihäftigt, geradezu unentbehrlich.
In der Beurtheilung der einzelnen Literaturperioben geht der Ver⸗
faffer ſelbſtändig feinen eigenthümlichen Weg. Er ſieht die deutſche
Literatur fortwährend von fremden Einflüffen irregeleitet. „Der
Kampf mit diefen fremden Elementen madt das bewegende Leben
in der Literatur ans.“ Nur einmal tft e8 gelungen, das frembe
Element fi völlig anzueignen, im Zeitalter ber Reformation.
„Auch die Meformationszeit ftand unter dem Ginfluffe fremder
Bildung, aber fie wußte fi} derfelden wie ureigner zu bemädtigen.
Sie gewährt durch die über das ganze Wolf verbreitete dichteriſche
Thätigfeit, die durchgängig einen einheitlichen Charakter aufweiſt,
zum erſten und legten Male das Bild einer vollsmäßigen Dice
1) Brodgaus, Real-⸗Enchtl. (11). — 2) 1790-98. ©. 0. 6.288. —
3) Goedeke, Grundrifz Vorw. 8. VII.
70 Wiertes Buch Sechſtes Kapitel.
tung, bie nur weil äufere geſchichtliche Hemmungen eintraten, fh
nicht zur Vollendung durcharbeiten konnte.“ Die Geſchichte der
lirchlichen Vollsdichtung“ „von der Reformation Bis zum breißige
führigen Kriege“ bildet deshalb aud den reichhaltigften Abſchnitt
bes ganzen Werks. Doch ift dem übrigen Theilen dieſelbe gavif
fenhafte Sorgfalt zugewendet, und namentlich bietet die Darftellung
Goethe's und Schiller's eine mufterhafte Verbindung literaturge ⸗
ſchichtlicher Schilderung und bibliographiſcher Sorgfalt. —
Einen anderen Weg, als die Bisher Beſprochenen, ſchlug Hein-
rich Kurz (geb. von deutſchen Eltern zu Paris 1805, feit 1889
BProfeffor an der Kantonsſchule zu Aarau) 1) ein, um das „größere
Publicum“ mit der Geſchichte ber deutſchen Literatur bekaunt zu
machen. Er fügte nämlich in feine Darftellung umfangreiche Bro-
ben ber gefilverten Schriftfteller ein, fo baf feine „Geſchichte der
deutſchen Literatur“ (1851 fg.) 2) zugleich eine reichhaltige Auswahl
aus den Erzeugniſſen der Literatur Bietet. Mit umfafjender Literar
turkeuntnis verbindet Kurz geſundes Urtheil und eine anziehende
und lebendige Darſtellung. Sein politiſcher Standpunkt ift ber
deniolratifche. Unter ben übrigen Geſchichten ber deutſchen Literatur
errähnen wis noch das Handbuch der deutſchen Literaturgeſchichte ·
von Ludwig Ettmüller (1847), das auch die angelſächſiſchen, alt⸗
ſtandinaviſchen und mittelnieberländtihen Schriftwerke umfaßt; die
„Geſchichte der deutſchen Poefie nach ihren antilen Elementen“ von
Karl Leo Cholevius, Oberlehrer am Kneiphöftſchen Stadtghunma⸗
fium in Königsberg (1854); und die Schriften von Joſeph von
Eichendorff (1856) 3) und non Wilhelm Lindemann (1865) *), welche
die Geſchichte der deutſchen Literatur aus dem Tatholifihen Gefihts-
punkt barfteffenr 5).
1) Brochaus, Real-Encgft. (11) IX, 187. — 2) Fünfte Aufl. 1869. —
3) Zweite Aufl. 1861. — 4) Zweite Aufl. 1869. — 5) Es kann Sier nicht
unfere Aufgabe fein, bie große Menge ber balb fürzeren, bald ausführlicheren
Geſchichten ber deutſchen Literatur zu verzeichnen. Wir nennen mur mad die
Säriften von I. W. Schäfer, K. F. Rinne, O. Roqnette, G. H. F. und derd
Scholl, W. Buchner, W. Puh, Werner Hahn, O. Lange, K. ©. Helbig, Herd.
Seinede, H. Kluge.
Die Bearbeitung ber beutfchen Literaturgefhichte. 671
Dürften wir auch ſolche Werke in unſeren Bereich ziehen, in
denen die Geſchichte der deutſchen Literatur nur einen Theif eines
größeren Ganzen bildet, jo müßten wir hier nod die Schriften von
Nofenkranz, Gräffe, Johannes Schere und Anderen beſprechen.
Aber wir dürften dann auch die Werke nicht ausſchließen, in denen
die Darftellung der Literatur in die politiſche Geſchichte verflochten
wird, wie in F. Chr. Schloſſer's epochemachenden Schriften, und
ebenfo wenig bie, welche in ſyſtematiſcher Form das Wefen ver
deutj hen Poefie zu ergründen fuchen, wie dies Solger, Hegel,
Biſcher, Carriere und Andere in ihren Darftellungen der Aeſthetik
thun, und bies würde uns weit über bie uns geftedten Gränzen
hinausführen.
Gehen wir nun über zu den Schriften, die fi mit einzelnen
Theilen der deutſchen Literaturgeſchichte befaſſen. Es Tann da na-
türlich nicht umfere Aufgabe fein, ein vollſtändiges Verzeichnis alf
der zahliofen größeren und kleineren Arbeiten zu liefern, bie fih
mit literaturgeſchichtlichen Fragen beihäftigen. Worauf es uns an⸗
tommt, wird vielmehr nur fein, einen Einbli in die umfaſſende
und weitverzweigte Thätigfeit zu geben, die auf biefem Gebiete
bereit. Beginnen wir mit den Arbeiten, bie ſich auf bie älteren
Perioden unferer Literatur beziehen, fo haben wir vor allem auf
das zurückzuverweiſen, was wir in frühern Abſchnitten bereits er⸗
wähnt haben. Ein großer Theil der Arbeiten der Brüder Grimm
und ihrer Genofjen gehört ja ber Erforſchung unfrer alten Litera-
tur an, und insbeſondere find hier noch einmal die Schriften. Lud⸗
wig Uhland's Hervorzuheben. Anderes wieder behalten wir dem
folgenden Kapitel vor, worin wir einen Weberblic über die neuere
Entwidelung der germaniſchen Philologie geben werben. Wir ber
grügen uns deshalb, an diefer Stelle dem anderwärts Gefagten
nur noch Folgendes hinzuzufügen. In die Alteften Zuftänbe unſe⸗
rer Poefie ſucht K. Müllenhoff in feiner Abhandlung de- antiquier
sima Germanorum poesi chorica (1847) einzubringen. Ueber
den Urfprung der deutſchen Literatur handelte (1864) W. Scheer:
Derjelde gab einen gründlichen Beitrag zur Geſchichte der althodh
deutſchen Literatur in: feinem „Leben Willirams“ (1866) Die
672 Biertes Bud. Sechſies Kapitel,
„Geſchichte der deutſchen Poefie im Mittelalter" Hatte fon 1830
vom Standpunkt der Hegel'ſchen Philofophie K. Roſenkranz ger
ſchrieben.
Die Einzelforſchungen zur Geſchichte unſerer mittelalterlichen
Poeſie lönnen wir eintheilen nach den Gebieten der Epil, der dyril
und des Dramas. Die Erforſchung unſrer einheimiſchen Helden⸗
dichtung behalten wir dem nächſten Kapitel vor. Zur übrigen er⸗
zählenden Poeſie erwähnen wir A. 3. €. Vilmar’s Schrift über
die Weltchronik des Nubolf von Ems (1839), Franz Bfeiffer's
Nachweis über die romaniſche Duelle von Lamprecht's Alexander
(1856) und Jul. Zacher's Unterfuhungen über die Aleranderfage
(1859 fg.), dann K. Bartſch's Unterfuhungen über Karlmeinet
(1861), Albrecht von Halberſtadt (1861) und Herzog Ernft (1869),
endlich A. Schulz (San Marte's) mannigfahe Bemühungen um
Wolfram von Eſchenbach (1836 fg.). — Für die Mrik ift hewor⸗
zuheben Ferdinand Wolf’s grünbliches Wert über die Laie,
Sequenzen und Leiche (1841), dann Franz Pfeiffer’s eindrin-
gende Unterfuhungen über Walther und Freidank (1855). Außer⸗
dem führen wir beifpielsweife noch an bie Arbeiten von Mar
Rieger (1868), R. Menzel (1865) und K. Lucae (1867) über
Walther von der Vogelweide, die von R. v. Liliencron über Neib-
hart (1848), die von K. Meyer über Reinmar von Zweter (1866),
und die von W. Scherer über Spervogel (1870). — Ueber das
Drama des Mittelalters und das fi daran anſchließende Bolls-
ſchauſpiel der neueren Zeit ſchrieben Guft. Freytag, Adolf Pigler,
8. Hafe, Em. Weller, H. Holland, H. Neidt. — Wir haben mm
noch einige Schriften anzufüßren, bie fi nicht mit beſtimmten
Gattungen der Poeſie, fondern mit dem Antheil einzelner Lanbfeafr
ten an ber altdeutſchen Poeſie beſchäftigen. So der Vortrag 8.
Weinhold's über den Antheil Steiermarts an ber deutſchen Didt-
kunſt des 13. Jahrhunderts (1860), die Arbeiten von Ignaz Bin
gerle über Tirol, und die Geſchichte der altdeutſchen Dichtkunſt in
Boyern von H. Holland (1862) 1). Schließlich nennen wir hier
1) Dahin gehört auch das begonnene Werk von Sof. ©. Toecano del
Die Bearbeitung ber deutſchen Literaturgefchichte. 673
no ein Wert, das ohne die Poefie zum Gegenftand zu haben,
doch tiefe Blide in das Wefen und die Entwidelung der altdeut-
fen Dichtung thun läßt, nämlih K. Weinhold’s ſchönes Buch
über die deutſchen Frauen im Mittelalter (1851).
Die Geſchichte der ganzen neuhochdeutſchen Literatur, vom Ausr
gang des 15. ober vom Beginn bes 16. Jahrhunderts bis zur
Gegenwart, ift faft nur im der Geſchichte der gefammten deutſchen
Literatur behandelt worden. Einen gründlichen Anfang zu einer
ſolchen Arbeit bilden die allgemeinen Einleitungen und die biogra-
phiſchen Mittgeilungen in K. Goedeke's ſchon erwähnten „EI
Büchern beutfher Dichtung“ (1849) ). Bon Martin Opig an
ftelt ©. F. Gruppe (geb. zu Danzig 1804, feit 1825 in Berlin)
die Geſchichte der beutjchen Poefie in „Leben und Werke deutſcher
Dichter“ 2) (1864 fg.) mit vielfeitig gebilbetem Geſchmack dar. Ins⸗
befondere richtet er fein Augenmerk auf die durch Opig neu ber
gründete Form der deutſchen Poeſie und die fpätere Erfüllung die⸗
fer Form mit einem echt poetifchen Inhalt.
So Wenige bis jetzt die Geſchichte der ganzen neuhochdeutſchen
Kiteratur ober auch nur bie ber Poeſie der letzten drei Jahrhun⸗
derte zum Gegenftand befonderer Werke gemacht haben, fo zahlreich
find die Darftelfungen ber deutſchen Literatur des 18. u. 19. Jahr⸗
hunderts. Diefe allerdings fehr Iodende Periode unferer Literatur-
geſchichte ift in den mannigfaltigften Beziehungen und von den ver-
ſchiedenſten Stanbpuntten aus bearbeitet worben. Aber eben weil
fih Hier Gegenftand und Verfaffer fo nahe berühren, daß ſich's oft
weniger um Forfhung, als um Anfihten und Standpunkte han-
beit, gehören dieſe Arbeiten Häufig mehr der Geſchichte der Litera-
tur und unferer politifhen Entwidelung, als der Geſchichte der
wiſſenſchaftlichen Forſchung an. Jedenfalls laſſen fi die Schriften
Banner über Deftreih (1849) und ber Anfang von A. Kahlert’s Schrift über
Schleſien's Antheil an ber deutſchen Poeſie (1835). — 1) Einzelne Gat-
tungen Hat in einer Auswahl mit biographiſch- literariſchen Notizen Bearbeitet
Janaz Hub. So „bie deutſche komiſche und humoriſtiſche Dichtung feit Ber
ginn des XVI. 356.“ (1855) u. 9. — 2) &b. I—IV, Münden 1864 —
1868.
Raumer, Bei. der nerm. Phlclogie 43
614 Biertes Bud. Sechſtes Kapitel.
biefer Art nur dann richtig würdigen, wenn man zugleich die Wand ⸗
lungen unter politifgen Verhältniffe eingehend ſchildern lann. So
Iodend num eine ſolche Aufgabe fein würde, jo müflen wir ihr doch
an dieſer Stelle entjagen und uns begnügen, bie wichtigften hieher
gehörigen Erſcheinungen mit wenigen Worten vorzuführen. Gleich
am Eingang fieht Wolfgang Menzel's (geb. 1798 zu Walde
burg in Schleſien, feit 1825 als Schriftfteller in Stuttgart lebend)
viel beſprochene „Deutfhe Literatur“ (1827, gweite vermehrte Auf ⸗
lage 1836), die man ebenfo, wie jeine fpäter (1858—59) erſchie⸗
nene „Deutſche Dichtung von ber älteften bis auf die neueſte Zeit‘,
und alle Schriften Menzel's nicht als wiſſenſchaftliche Leiftungen,
fonbern als Ergüffe einer raſtloſen politiſch⸗ patriotiſchen Agitatlon
betrachten muß. — Wir überlafen auch bie literaturgeſchichtlichen
Beftrebungen Heine’, Laube's, Gutzlow's, Theod. Mundt's, Herm.
Marggraff's u. ſ. w. und ebenſo die Ruge's und Echtermeyer's der
politiſchen und literariſchen Geſchichte jener Tage und wenden uns
ſogleich zu einem Werte, das bie Geſchichte ber neueren deutſchen
Literatur in wiſſenſchaftlichem Zuſammenhang darftellt: Julian
Schmidt's Geſchichte der deutſchen Literatur ſeit Lefſing's Zob.
Julian Schmidt, geb. 1818 zu Marienwerder, ſtudierte
1836—40 auf der Univerſitat Königsberg Philologie und Ge
ſchichte· Nachdem er ſeit 1842 als Lehrer an ber Lutſenſtädtiſchen
Realſchule in Berlin gewirkt Hatte, überfiebelte er 1847 nach Leipzig
als Mitherausgeber der „Grenzboten“, deren Eigenthum ex 1848
gemeinfam mit feinem Freund Guftan Freytag erwarb. 1861 kehrte
er wieber nad Berlin zurück 1), — Will man die Leiftungen Julian
Schmidt's richtig beurtheilen, fo muß man vor allem bie verihie
denen Zeiten dieſes redlich fortarbeitenden Schriftitellers gehürig
unterſcheiden. So Bat er fein erſtes größeres Wert: Geſchihte
ber Romantik im Zeitalter der Meformation und Revolution (1850),
ſpater ſelbſt preisgegeben 2). Aber auch fein Hauptwerk ift et
1) Brochaus, Real⸗Encykl. (11) XIII, 298 jg. — 2) ©. ben Brief
an Freytag vom 31. Dct. 1855 in der Vorr. zum 3. Bb. der Geſchichte ber
deutſchen Lit. im neungehuten Jahrh. (1855) ©. XI.
Die Bearbeitung der deutſchen Literaturgefdhichte. 675
allmählich das geworben, als was es ung jetzt vorliegt. Aus einer
Neihe kritiſcher Artikel, die er in den Grenzboten veröffentlicht Hatte,
bildete der Verfaſſer feine „Geſchichte der deutſchen Literatur im
neunzehnten Jahrhundert” (2 Bände 1853). Schon die zweite
Auflage (3 Bände 1855) durfte ſich eine „durchaus umgearbeitete"
nennen. Später griff dann der Verfaſſer bis auf das Jahr 1781
zurüd und gab der vierten Auflage ben Titel: Geſchichte der deut-
fen Literatur feit Leſſing's Tod. Auch die fünfte Auflage (1866.
67) war wieder eine „durchweg umgearbeitete.” So hatte fih das
Bud) immer weiter von feinem journaliftiihen Urſprung entfernt
und zu einem hiſtoriſchen Werk umgeftaltet 1). Der Verfafier be-
folgt hier die ftreng dronologifhe Methode, und wenn aud die
mehr gruppierende, wie wir fie in ben meiften Geſchichten der Lite-
ratur finden, ohne Zweifel ihr gutes Recht hat, fo wird man doch
dem Verfaſſer zugeftehn, daß es ihm gelungen ift, durch bündige
Schilderung ber gleichzeitig auftretenden Erſcheinungen und geſchickte
Benutzung der zahlreichen Briefwechſel und biographiſchen Mittheil⸗
ungen eine anſchauliche Darſtellung der leiſe fortrückenden geiſtigen
Zuftände zu geben. Jahresring um Jahresring ſehen wir den
Baum der deutſchen Literatur vor unferen Augen wachen. Die
wefentlichite Anregung hat Julian Schmidt von Gervinus erhalten.
Aber bei aller Verwandtſchaft der Anfichten geht er doch feinen
felöftändig eigenthümlichen Weg. Er beſchränkt fih nit auf die
Dichtung, fondern er zieht auch die Geſchichte der Speculation und
der gefammten Wiſſenſchaft, infofern fie in das Leben der Nation
eingreift, in feinen Bereih. An dem Gang der Literatur zeigt er,
wie die Dichtung in Goethes und Schillers Blütezeit an der
Spike des deutſchen Lebens ftand, wie fie aber ſeitdem anderen
Beftrebungen, vor allem den politiſchen ben erften Platz hat räu-
men müffen, fo daß fie jegt micht mehr im Vordergrund unjrer
1) 3% brauche wohl nicht erft zu bemerfen, daß in bem Journaliſtiſchen
des Journaliſten an ſich fein Tadel liegt, fo wenig als in dem Redneriſchen
bes Redners. Uber ein Hiftorifches Werk Hat fi von Beidem zu unter:
fgeiben.
—.
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© won)
*
OXFORD
43°
676 Biertes Bud. Sechſtes Kapitel.
Intereſſen feht. Als politiſches Ziel erſcheint ihm die Einigung
Deutſchlands durch Preußen. Wäre hier der Ort, fo würden wir
allerdings gegen mande Seiten des geiftvollen Werts. unfre Ein-
wendungen machen. Aber dies follte uns nicht Kindern, ung der
ſittlichen Tüctigfeit zu freuen, die das ganze Werk durchdringt.
In einer fpäteren Arbeit (1860 — 64) Hat dann Schmidt auch bie
Geſchichte des geiftigen Lebens in Deutſchland von Leibniz bis auf
Leſſing's Tod dargeftellt, und in feinen „Bildern aus dem geiftigen
Leben unferer Zeit“ (1870) gibt er in einzelnen Bügen fortfegende
Erzänzungen zu feinem Hauptwerk.
Unter den übrigen Bearbeitungen ber neueren deutſchen Liter
raturgeſchichte führen wir an das Werk von Joſeph Hille
brand: „Die beutfhe Nationalliteratur feit dem Anfange des
achtzehnten Jahrhunderts, beſonders feit Leſſing, Bis anf die Ge
genwart, hiſtoriſch und äſthetiſch-kritiſch dargeftellt“ (8 Bde, 1850
51) 1). Dann bie fehr forgfältige „Entwidelung der deutſchen
Poeſie von Klopftod’s erftem Auftreten ‚His zu Goethe's Tode“
(1856 fg.) von Joh. Wilhelm Loebell, vor deren Vollendung
der Verfaſſer leider (1863) durch den Tod abgerufen wurde ?).
Im Anſchluß an die englifge und franzöfiſche Literatur behandelt
Hermann Hettner die „Geſchichte der deutſchen Literatur im
achtzehnten Jahrhundert“ (1862 fg.) auf der Grundlage umfaflen-
der Studien und mit fein gebilbetem Urtheil als Ausbrud des fih
frei machenden @eiftes. Das „goldne Alter der deutſchen Boefie“
ſchildert (1861) in einem originellen Buh Mori; Rapp. —
„Im volltommenften Widerſpruch“ gegen die Anſicht von Geri-
nus, „unfere deutſche Nationalliteratur jei im Verfall begriffen
ober habe mit Schiller, Goethe und den Klaffitern den geiftigen
Boden fo erſchöpft, daß er, um fich zu erholen, einige Zeit brach
liegen müfje“, fuht Rudolf Gottſchall's Bud: „Die beutige
Nationalliteratur in der erften Hälfte des neunzehnten Jahrhun⸗
1) Zweite verb. und mehrfach umgearb. Ausg. 1850. 51. — 2) Der
dritte (leßte) Band, nad Löbell's Tob durch A. Koberftein herausgegeben,
umfaßt Leffing.
Die Bearbeitung der deutſchen Kiteraturgefchichte. 677
derts“ (1855) 1), den Wert und die Wichtigleit der „Modernen“
(feit 1830) darzuthun. Die deutſche Literatur der Gegenwart bes
gleitet Rob. Prutz mit orientierenden geſchichtlichen Darftellungen.
(1847. 1859). — Bom religiös + ethiſchen Geſichtspunkt behandelt
Heinrih Gelzer die deutſche poetiſche Literatur. feit Klopftod
und Leffing (1841) 2), und K. Barthel (1850) „die deutſche Na-
tionalfiteratur ber Neuzeit”, b. h. feit 1813 9).
Die Schriften über einzelne Theile der neuhochdeutſchen Litera⸗
tur bilden bereits eine ſtattliche Bibliothek. Es Tann natürlich hier
nicht unfre Aufgabe fein, die Taufende von größeren und Mleineren
dahin gehörenden Schriften zu regiſtrieren. Wir müffen vielmehr
deren Verzeichnung den bibliographifchen Werken über die Geſchichte
ber deutſchen Literatur überlaſſen). Uns Tiegt nur ob, einen
Ueberblit über diefe ganze jo umfangreiche und fo bedeutende Thä-
tigfeit zu geben. Obwohl natürlich hier, wie überall, auch Spreu
unter den Waizen gemiſcht ift, fo fanın man doch auch auf biefem
Gebiet mit Genugthuung wahrnehmen, welche Früchte für die
gründliche Erkenntniß eine vernünftige Theilung der Arbeit trägt.
Die einzelnen Forſcher Haben ſich ihr Arbeitsfeld auf die verſchie⸗
benfte Weile abgegränzt. Bald find es gewiſſe Seiten der Litera-
tur, die eine gefonberte Behandlung erfahren; bald beſchränkt ſich
die Unterfuhung auf eine beftimmte Landſchaft; am häufigſten aber
find e8 einzelne hervorragende Geftalten der Literatur, denen ſich
bie Forſchung und Darftellung zuwendet. In der erften Beziehung
erinnern wir an bie ſchon beſprochenen ausgezeichneten Arbeiten
Uhland's über das Vollslied. Für das deutſche Kirchenlied des
16. Jahrhunderts Vieferte Philipp Wadernagel (1855) eine
mufterhafte Bibliographie 9), und Eduard Emil Koch verfaßte
(1847) eine in ihren verichiebenen Auflagen fi fortſchreitend er⸗
weiternde und verbeffernde Geſchichte des Kirchenlieds und Kirchenge⸗
1) Zweite Aufl. 1861. — 2) Zweite umgearb. Aufl. 1847 fg. —
3) Achte Aufl. 1870. — 4) Insbejondere ift Hier auf die bibliographiſchen
Abſchnitte in Goedele's Grundriß zu verweilen. — 5) Die Herausgabe
neuhochdeutſcher Texte beſprechen wir in einem fpäteren Abſchnitt.
678 Viertes Bud. Sechſtes Kapitel.
ſangs '). Obwohl verzugäweife auf bie Muſik gerichtet, müſſen
bier auch die grundlegenden Arbeiten Karl von Winterfelb’s
(1843 fg.) erwähnt werben 2), Um die Bibliographie der älteren
neuhochdeutſchen Literatur machte fih Emil Weller verbient.
Die dramatiſche Poeſie gehört vorzugsweiſe der neuhochdeut⸗
ſchen Zeit an, obwohl ſie mit ihren Anfängen in das Mittelalter
zurückreicht. Das wichtigſte für dieſen Zweig der Literatur hat
man in den Werken über die Geſchichte unſrer geſammten Dichtung
zu ſuchen. So namentlich bei Gervinus und Goedeke. Bon Ein⸗
zelnſchriften nenne ich noch die Vorleſungen über die Geſchichte des
deutſchen Theaters von Rob. Prutz (1847), die Geſchichte der deut
ſchen Schauſpielkunſt von Ed. Devrient (1848 fg.), und die Schrif⸗
ten von Joſ. von Eichendorff, Joſ. Bayer u. A. über die Ger
ſchichte des deuten Dramas 3).
Einen ſehr einflußreihen Zweig der neuhochdeutſchen Literatur
bilden die Zeitſchriften. Eine leider nit zu Ende geführte Ge-
ſchichte des deutſchen Journalismus begann (1845) Mob. Prutz
Ueber die Göttinger gelehrten Anzeigen während einer hundertjäh-
rigen Wirffamteit ſchrieb (1844) Alb. Oppermann; über Nicolas
Allgemeine deutſche Bibliothel gab Guſtav Parthey (1842) wichtige
Aufſchlüſſe.
Aus dem 17. Jahrhundert wählte ſich O. Schulz die Sprad-
geſellſchaften (1824), F. W. Barthold (1848) und &. Kraufe
(1855) die fruchtbringende Geſellſchaft, Julius Tittmann die Rürm-
berger Dichterſchule (1847), L. Cholevius „bie bebeutendften bent
ſchen Romane des fiebzehnten Jahrhunderts” zum Gegenftand einer
beſondern Darſtellung. — Für das 18. Jahrhundert heben wir
hervor die Geſchichte des Göttinger Dichterbunds von Rob. Prut
1) Dritte Aufl. 1866 fg. — 2) Ohne uns tiefer auf bie Geſchichte
der Muſik einzulaffen, erwähnen wir hier nur noch bie Arbeiten Gottl. von
Tucher's über den kirchlichen Geſang. — 3) Die Gedichte ber eingeluen
Theater müfjen wir Hier übergehen und führen nur beifpielaweife an die
Säriften von I. Val. Teihmann Über das Theatet in Berlin (1863), von
K. Dunder über Iffland (1859), H. Lanbe über das Burgtheater in Wien
(1868), und von €, Pasqus Aber Goethe's Theaterleitung im Weimar (1869).
Die Bearbeitung ber beutjchen Literaturgeſchichte. 679
(1841), J. C. Mörikofer’s Schweizeriſche Literatur bes achtzehnten
Jahrhunderts (1861), Braunſchweigs ſchöne Literatur in den J.
1745—1800 von 8 &. W. Schiller (1845), „Weimars Mufen-
hof in ben J. 1772 His 1807“ von W. Wacsmuth (1844), und
Herm. Hettner, die romantiſche Schule in ihrem inneren Zufam-
menhange mit Goethe und Schiller (1860).
Wenn wir die Schriften, bie fih die Darftellung einzelner be-
beutender Dichter oder Profailer zur Aufgabe maden, mit dem
Reformationszeitalter beginnen, fo müſſen wir zunörberft vom ben
Lebensbeſchreibern Luther's abfehen, da dieſe weniger der Literatur
geſchichte, als der Geſchichte der Kirche und des Staats angehören
und ähnlich verhält es fi mit den Biographen Hutten's. Hans
Sachs hat bis jet noch feine ausführlie und umfafiende Dar-
ftellung gefunden *). Ueber Fiſchart fügen wir bem ſchon ermähn-
ten Buch W. Wackernagel's (1870) Hinzu A. F. © Bilmar’s
Artitel ,Fiſchart· in Erſch's und Gruber's Eucyllopädie?) (1860).
Auch von den übrigen deutſchen Schriftitellern des 16. und begin-
nenden 17. Syahrhunderts fanden bereits nicht wenige ihre beſon⸗
dere Darftellung. So ſchrieb K. Goebele über Burkhard Walbis
(1852), 8. Grüneifen über NiN, Manuel (1837), Dav. F. Strauß
über Nitod. Friſchlin (1856) 9. — Noch zahlreicher find die Bio-
graphieen deutſcher Schriftfteller aus dem 17. und beginnenden
18. Jahrhundert. Wir führen beiſpielsweiſe die Arbeiten über
Opitz von Hoffmann von Fallersleben, von Fr. Strehlle (1856),
8. Weinhold (1862) und Herm. Palm (1862), die über Fleming
1) Die für ihre Zeit verdienſtliche „Lebensbejhreibung Hans Saqhſens“
(1765) von Salomon Raniſch genügt natürtich ben jebigen Anforderungen
nicht mehr. Unter ben neueren Arbeiten über Hans Sachs erwähnen wir bie
Särift von J. 2. Hoffmann (Nürnberg 1847), bie Bibliographie von Emil
Weller (1868) und 3. ©. W. Hertel’ Mittheilung über die in Zwidau aufs
gefundenen Handſchriften bes Hans Sachs (1854). — 2) 1,51, ©. 169191.
— 3) Wir fügen noch Hinzu bie Arbeiten von K. G. Helbig (1847 fg.) und
von R. Paſſow (1852) über Ayrer, von O. Zaubert über Paul Schede
1859. 1864), von W. Thilo Über 2. Helmbold (1851).
680 Biertes Bud. Sechſtes Kapitel.
von Guft. Schwab (1820), Barnhagen (1826) und J. M. Lappen-
berg (1853. 1865), über Paul Gerhardt von E. C. ©. Langbeifer
(1841), über Leibniz von G. E. Guhrauer (1846) und über
Abraham a Sancta Clara von Th. von Karajan (1867) an N).
Die weit überwiegende Thätigfeit aber wandte fih ber großen
Zeit unfrer neueren Siteratur feit der Mitte des 18. Jahrhunderts
zu. Schon die ſchwächeren Vorboten berjelben fanden eine ein-
gehende Bearbeitung. So insbeſondere Gottſched durch TH. W.
Danzel (1848) 2). Das Hauptjählicfte Intereſſe aber vereinigte
fi, wie Billig, auf unfre drei größten Klaſſiker: Leffing, Goethe
und Schiller. Weber Lejling’s Leben und Werte begann (1850)
Theodor Wild. Danzel (geb. 1818 zu Hamburg, 1845 Pri-
vatdocent an ber Univerfität Leipzig, geft. daſelbſt 1850) 3) ein
grünbliches Wert, das nad) feinem frühgeitigen Tode Gottſchalk
Eduard Guhrauer (geb. 1809 zu Bojanowo im Poſenſchen,
1843 Prof. an der Univerfität Breslau, geft. daſelbſt 1854)°) mit
ähnlicher Sorgfalt vollendete (1853. 54). Zu einer geſchicten Ten-
denzſchrift verarbeitete (1859) Adolf Stahr Leffing’s Leben. Eine
befondere Meine, zum Theil fehr werthvolle Literatur, wie wir hier
nur andeuten bürfen, fammelte fi um Leffing’s Nathan und um
feine philoſophiſchen und theologiſchen Schriften. Wir nennen un
ter den Schriften über den Nathan nur die von W. Wadernagel
1) Um einen Begriff zu geben von bem Reichthum biefer Literatur,
wollen wir in ber Anmerkung noch einiges Weitere zufammenftellen. Ueber
Joh. Scheffler ſchrieben A. Kahlert (1858) und Franz Kern (1866), über
Wecherlin €. Höpfner (1865). Balthaſar Schuppius fand feine Lebeneber
ſchreibet in Alex. Bial (1857) und €. W. Grebe (1860). Weber Andr.
Gryphius Handelten Zul. Herrmann (1851) und Onno Klopp (1852); über
Lohenſtein W. Paſſow (1852); über Chriſtian Weiſe Herm. Palm (1854)
und E. W. Hormemann (1853); über Günther Hoffmann von Fallereleben
(1832) und O. Roquette (1860); über Liscom Schmidt von Lübel (1827),
8. Guſt. Helbig (1844), ©. C. 3. Liſch (1845) und J. Claſſen (1846). —
2) Früher fon (1833) Gellert durch H. Döring, ber außerdem eine große
Menge von Biographien unfrer Klaſſiler verfahte. — 3) ©. bie beireffen-
ben Artikel in Brodhaus Meal-Encpfl. (11).
Die Bearbeitung der deutſchen Literaturgeſchichte. 681
(1855), David Strauß (1864) und Kuno Fiſcher (1864), über Leſ⸗
ſing's philoſophiſche Anfihten die von Heinr. Nitter (1847) und
Robert Zimmermann (1855), über Leſſing's theologiſche Beſtrebun⸗
gen die von 8. Schwarz (1854), ©. N. Röpe (1860) und Aug.
Boden (1862), endlich über Lefjing in alle den angegebenen Ber
siehungen die von C. Hebler (1862). — Durch das Meijterwert
feiner Selbſtbiographie (1811 fg.) Hatte Goethe feinen Lebenshe-
ſchreibern die Arbeit ebenfo ſehr erſchwert, als erleichtert. An eine
volfftändige Biographie des großen Dichters und Forſchers haben
ſich gewagt H. Döring (1838. 1840-41) J. W. Schäfer (1851),
H. Biehoff (1847-53) !) und Ernſt Julius Saupe, ber (1854)
Goethe's Leben und Werte in chronologiſchen Tafeln“ darſtellte 2).
Weit größer aber ift die Zahl derer, bie einzelne Seiten von
Goethe's Leben und Thätigfeit gefhilbert Haben. Die vollſtändige
Aufzählung diefer Schriften, wie auch die der vielen über einzelne
Goetheſche Dichtungen, namentlih über den Fauſt erſchienenen,
müffen wir ber deutſchen Literaturgeſchichte überlafien ). Wir
möüffen dies um fo mehr, als treffliche Beiträge zum Verſtändniß
Goethe's nicht Bloß in den Schriften zu ſuchen find, bie ſich aus-
ſchließlich mit ihm beſchäftigen, fondern in einem großen Theil der
ganzen gleichzeitigen und nachfolgenden Literatur. — Wie um
Goethe, fo ſammelt fi um Schiller eine große und vielfach ver-
diente Schaar von Biograpfen und Erfärern. Aus eigener un
1) Dritte verb. Aufl. 1858. — 2) Das Werk des Englänbere Lewes
gehört natürlich nicht in eine Darftellung befien, was bie Deutfhen auf
dem Gebiet ber Literaturgeſchichte geleiftet Haben. — 3) Nur um einen
Begriff von dem Reichthum biefer Literatur zu geben, wollen wir einige ber
hiehergehörigen Namen verzeichnen. Theils durch Mittheilung biographiſchen
und literariſchen Materials, theils durch erläuternbe Darfiellungen machten
fich um das Verflänbniß Goethe's verdient: F. W. Riemer, J. P. Edermann,
F. v. Müller, C. Vogel, Adf. Schöll, O. Jahn, H. Dünper, Chr. Schuchardt,
H- Beilsmann, 8. Zügel, €. G. Carus, A. Nicolovius, B. R. Abelen, ©.
©. Gervinus, €. F. Göſchel, K. Rofenkranz, W. Danzel, R. Virchow, ©.
Hirzel, K. E. Schubarth, I. 9. D. Lehmann, Berth. Auerbach, K. Gutlow,
Adf. Stahr, R. Springer, O. Vilmar, J. W. Appell u. A.
682 Biertes Bud. Sechfes Kapitel.
mittelbarer Erinnerung ſchrieben Schillers naher Freund Gottfried
Körner (1812) und feine Schwägerin Karoline von Wolzogen
(1880) Schillers Leben. E. Hoffmeifter ftellte (183842) „Sail
ler's Leben, Geiftesentwiklung und Werke im Zufanmenhang“ dat,
ein Bud, das dann fpäter (1846) von H. Biehoff mit Ergänun
gen herausgegeben wurde. Guſtav Schwab erzählte (1840) Schi
Vers eben mit feinem Verftänbnig. Mit Bergung bes inzwiſchen
veröffentlichen werthvollen Materials verfaßte ba Emil Pallesle
(1858 fg.) eine ausführliche Biographie des Dichters. Die Ber
zeichnung der überaus zahlveichen und zum Theil ſehr verbienft
lichen Schriften, die fi mit einzelnen Seiten von Schiller's Leben
ober Werten beicäftigen, müffen wir der Literaturgeſchichte über
laſſen ').
Faſſen wir die übrigen Vertreter der deutſchen Literatur bes
18. und 19. Jahrhunderts in's Auge, jo finden wir zwar einet-
feits, daß die heroorragendften unter ihnen am häufigften und zum
Theil auch vortrefflich beſprochen werben, aber andrerſeits, daß der
Werth der biographiſchen Leiſtung nicht immer mit ihrem Gegen⸗
ſtand in geradem Verhältniß ſieht. Ginen vorzüglichen Biogra-⸗
phen hat Windelmann (1866) an Karl Juſti gefunden. Das
Leben Wieland's wurde von J. G. Gruber (1827—28), das Her
1) Wir heben nur beifpiefeweife hervor: Schiller's Flucht von Stun
gart von Andr. Streicher (1836), Schiller's Jugendjahre von E. Bons (1856),
beffelben Verſaſſers Bud über den Zenienfampf (1851), KR. Tomafhel
(1862) und €. Tweſten (1863) über Schillers Verpältnig zur Wiffenfhaft
und 3 Zanffen über Schiller ale Hiſtorilet (1863), Wurzbad’s Sqhilerbuch
(1859) und Paul Trömel’s Schillerbibliothek (1865), Adelb. von Kellere
Beiträge (1859) und Nachleſe (1860) zur Schillerliteratur. Wir Annen pier
um fo weniger an eine eigentliche Darſtellung ber Schillerluetatur benien,
als wir bei Schiller, wie bei Goethe, neben den vielen Schriften über Silke
auch bie höchſt verbienfllichen Bemühungen um bie Herausgabe Schilierſcher
oder mit Schiller in Beziehung flehender Briefe anführen müßten. Damit
aber würden wir aus ber Geſchichte ber Wiſſenſchaft in bie Geſchichte der
Literatur ſelbſt geraihen, was uns weber unfte Aufgabe, noch ber uns zu
Gebote ſtehende Raum geflatiet.
Die Bearbeitung der deutſchen Literaturgeſchichte. 683
der's von feiner Wittwe Carolina (her. durch J. &. Müller 1820)
mit liebevoller Hingebung dargeftellt. Herder's Lebensbild von
feinem Sohn Emil Gottfr. von Herder (1846) blieb unvollendet.
Unter ben übrigen Herber betreffenden Schriften erwähnen wir
bier nur noch Reinhold Köhler's Unterſuchungen über Herber’s Cid
(1867). Klopſtod's Leben behandelte J. G. Gruber (1832). Außer⸗
dem beſitzen wir über ihn eine große Anzahl von zum Theil vor⸗
züglichen Einzelardeiten von F. ©. Mörikofer, Koberftein, David
Strauß und Anderen. Hamann wurde (1857 fg.) von €. 9.
Gildemeifter zum @egenftand eines umfaffenden Werkes gewählt.
Schubart erhielt (1849) an David Strauß einen anziehenden Biogra-
phen. Bürger wurde von H. Pröhle (1856), Claudius von W. Herbit
(1857) !), Boie von K. Weinhold (1868), Leopold Stolberg von
Th. Menge (1862) eingehend behandelt. Außerdem erwähnen wir
nod die Schriften von G. G. Gervinus über G. Forſter (1848),
von F. Kreyßig über Möfer (1857), von M. Kayferling über
Moſes Mendelsjohn (1862), von A. Stöber (1842) und von O.
3. Gruppe (1861) über Lenz, von Mor. Müller über Mujäns
(1867), von Henriette Feuerbach über Uz (1866). Weber Sean
Banl Hefigen wir die Schriften von €. Förfter (1868) und von R.
D. Spagier (1883 fg.); über Hebel bie von Berth. Auerbach
(1846) und F. Becker (1860). Hölderlin's Leben beſchrieb (1846)
Chph. Th. Schwab. — Unter den Romantikern fanden Tieck an
R. Köpfe (1855), Kleiſt an A. Wilbrandt (1863) verbiente Bio-
graphen. Aus der darauf folgenden Periode befigen wir über
Schenkendorf das Buch von A. Hagen (1863), über Uhland bie ge-
diegenen Mittheilungen feiner Wittwe (1865) und außerdem die
Schriften von 8. Mayer (1867), F. Notter (1863) und A.; über
Nüdert das „biographifce Denkmal” von K. Beyer (1868) umd bie
Schriften von C. Kühner (1870) und C. Fortlage (1867), über Guſt.
Schwab die Biographie von K. Mlüpfel (1858), über Platen außer
feinem eigenen Tagebuch; (1860) die Schrift von J. Mindwig
1) 3. Ausg. 1863. Außerdem wurde Claudius von I. H. Deinhardt
(1864) und von €. Mondeberg (1869) beſprochen.
684 Vieries Bud. Siebentes Kapitel.
(1838) und die Biographie von K. Goedele (1846), über Lenau die
Biographie von Schurz (1855), über Heine das Buch von A.
Strobtmann (1867). Endlich für die neuefte Zeit fügen wir noch
Hinzu K. Goedeke's Schrift über Geibel (1869).
Obwohl wir bie Geſchichte der Wiſſenſchaft Hier nicht zur &i-
teraturgefhichte ziehen dürfen, Tönnen wir doch die biographiſche
Behandlung unfrer großen Denker von unfrer Darftellung nicht
ausſchließen. Wir ermähnen deshalb hier noch das Leben Kant's
von F. W. Schubert (1842), Fihte'3 von feinem Sohn J. H.
Fichte (1830), Schelling's von F. Schelling und &. 2. Plitt (1869),
Hegel’3 von K. Roſenkranz (1844), fowie die Darftellung Hegels
(1857) und Wilhelm von Humboldt's (1856) von R. Hayın,
endlich die Schriften von J. Kuhn (1884), Ferd. Deyds (1849)
und Eberh. Birngiebl (1867) über F. H. Jacobi, und das Leben
Schleiermacher's von W. Dilthey (1870).
Wie wir gleih am Beginn dieſes Ueberblids gefagt Haben,
war unfre Abſicht durchaus nicht, ein Mepertorium der biograpfir
ſchen Literatur zu geben. Wir wollten vielmehr nur einen Einblid
in den Reichthum diefer Literatur gewähren. Dies aber konnten
wir nur dadurch erreihen, daß wir möglichſt viele Thatſachen in
den engen uns zu Gebote ftehenden Raum zufammenbrängten.
Siebentes Kapitel.
Der Foribau der germanifhen Philologie in ben neuſten
Jahrzehnden.
Wir haben in früheren Abſchnitten die Gründer der neueren
germaniſchen Philologie und ihre älteren Genoffen gejchilbert.
Ihnen ſchließt ſich in den letzten Jahrzehnden eine neue Generation
von Schülern an, deren Geſchichte gegenwärtig noch nicht gefhrier
ben werben kann. Wir begnügen uns deshalb, die hauptſächlichſten
Erſcheinungen dieſes Zeitabſchnitts nur in einem gebrängten Ueber
blick vorzuführen 1). Die Stellung der Einzelnen zur Wiſſenſchaft
1) Bi führen unfee Darflelung bis zum Sqhlußz bes Jahres 1869 mb
Der Fortbau ber germ. Philologie in den neuften Jahrzehnden. 685
hat fi im Lauf der Jahre weſentlich geändert. Bis zum Erſchei⸗
nen von Grimm's Grammatit (1819) war, mit wenigen Ausnah-
men, das Stubium bes Altdeutſchen in Deutſchland eine unwiſſen⸗
ſchaftliche Liebhaberei. Durch Grimm's Grammatit, im Verein mit
Lahmann’s und Bopp's Arbeiten, wurde es zur Wiſſenſchaft er-
hoben. Es faßte num Fuß auf unfren Univerfitäten. Die einzelnen
Meifter bildeten Schüler. Hier tritt als Univerfitätslehrer Lach
mann vor allen hervor. Als klaſſiſcher Philolog von Fach wendet
er bie dort geübte ftrenge Methode auch auf die Behandlung bes
Altdeutſchen an und ftellt mit unerbittliher Schärfe an feine Schü-
ler ganz beftimmte und Teineswegs leicht zu erfüllende Forderungen.
Aber auch auf anderen Univerfitäten gibt es Meifter, bie ihre
Schüler finden. So vor allen in Göttingen Jacob Grimm, und
neben ihm fein Bruder Wilhelm und Benede; in Münden Schmel-
ler und Maßmann; in Tübingen Uhland; in Breslau Hoffmann
von Fallersleben. Noch aber bleibt Tängere Zeit das Studium
des Altdeutſchen eine Sache freier Neigung. In das Ganze unfrer
höheren Schulbildung ift e8 noch nicht eingefügt. Der erfte Schritt
hiezu geſchah, als (1831) im Königreich Hannover von den Candi-
daten des Gymmafiallehramts geſchichtliche Kenntniß ber deutſchen
Sprade verlangt wurde. Auch dürfen wir Hier für bie Anerken⸗
nung der germaniſchen Philologie als eines weſentlichen Theiles
der philologifgen Wiſſenſchaft die 1861 zu Frankfurt geplante,
1862 in Augsburg zur Ausführung gebrachte Gründung einer
germaniſtiſchen Section in der Berfammlung deutſcher Philologen
und Schulmänner erwähnen. Bon befonderer Bebeutung aber war
das preußiſche Neglement vom 12. Dec. 1866, welches von den
Lehrern des Deutſchen an den oberen Klaſſen der Gymnafien
Kenntniß der hiſtoriſchen Entwidelung der deutſchen Sprache for-
dert ). Hiemit ift die allmähliche Aufnahme der deutſchen Philo⸗
törmen nur nod) einzelne in den erfien Monaten bes 3. 1870 erſchienene Schriften
erwähnen. — 1) Reglement für bie Prüf. d. Ganbidaten bes Höheren Schulamts,
Berlin 1867, ©. 16, Die eigenthumliche dort gefellte Alternative wird ſich
von felbft umgeflalten, wenn die deutſche Philologie ihre Aufgabe richtig er⸗
686 Viertes Bud. Siebentes Kapitel,
Togie in deu Kreis ber Höheren Schulbildung angebahnt, und es wird
nun, was das Altdeutſche betrifft, nur darauf anlommen, daß wir
nit etwa, wie man früherhin den Zweck ohne die Mittel wollte,
fortan über den Mitteln den Zweck vergefien. Bon entſcheidender
Pedeutung aber wird fein, daß man aufhört, die deutſche Pfilolo-
gie auf das Altdeutſche zu beſchränken, während doch gerabe eine
ihrer wefentlicften Aufgaben die richtige Auffaffung und bie ange
meſſene Behandlung des Neuhochdeutſchen ift.
Der allmahlichen Ausbreitung der alideutſchen Studien ent-
ſprach eine Weihe größerer Unternehmungen auf dieſem Gebiete.
Bor allem greifen Hier mehrere dem Fach ausſchließlich gewidmete
Beitihriften fördernd ein. So zuerft die von Haupt herausgege⸗
dene gehaltvolle „Zeitihrift für deutſches Alterthum“ (1841 $g.).
Ihr ftellt fih gegemüber mit ber Abficht, einem größeren Publicum
au dienen und bie Ausſchließlichteit der Lachmann'ſchen Schule zu
befämpfen, bie 1856 von Franz Pfeiffer ) gegründete, gleid-
falls ſehr veihhaltige „Germania. Dazu kommt dann (1869)
als dritte die „Beitjcgrift für deutſche Philologie Herausgegeben von
Eruſt Höpfner in Breslau und Julius Bader in Halle”,
bie ſich an folde Lejer wendet, bie bereits einen Grund in dieſen
Stubien gelegt Haben ). Wie bie Zeitſchriften, fo kamen in den
fannt gaben wird. Daum aber wird man fich aud überzeugen, daß beutid:
philologiſche Kenminifje, — ſelbſtoerſtändlich innerhalb der Grängen bes Gr
reichbaren, — allen philologiſchen Lehrern der Mittelſchule unentbehrlich find.
— 1) Bom 14. Jahrgang (1869) an übernahm X. Bariſch die Rebartion. —
2) Bon anderen Zeitfepriften, welde Beiträge zur germanifhen Philologie
Bringen, haben wir bereits erwähnt Kuhn's Zeitſchrift für vergleichende Sprach
forſchung und Benfey’s Orient und Decident. Wir nennen hier mod ben
vom Germaniſchen Muſenm herausgegebenen Anzeiger für Kunde ber beutigen
Derzeit (1858 fg.), bas Jahrbuch für romaniſche und engliſche Literatur von
adf. Ebert (1858 fg.), die Zeitſchrift für Wölferpfpologie und Sprochwiſſen-
ſchaſt von M. Lazarus und H. Steinthal (1860 fg.), das Auhio für des
Stubium ber neueren Sprachen von 2. Herrig (1846 fg.), bie Zeitſchrift für
Stenograppie und Orthographie von G. Michaelis (1853 fg.), den Deutfen
Sprachwart von M. Moltfe (1855 fg.). Schr viele andere Zeitfhriften von
Der Fortbau ber germ. Philologie in ben neuen Jahrzehnden. 887
neneren Jahrzehnden mehrere große Sammelwerke unſrer Wiſſen⸗
ſchaft zu Statten. Um Veröffentlichung altdeutſcher Texte erwarb
ſich die Baſſe ſche Buchhandlung in Quedlinburg durch ihre „Bib⸗
liothel der geſammten deutſchen National ⸗Literatur“ (1835 fg.), bie
Göſchen ſche (Cotta, 2. Roth) durch bie „Dichtungen des deutſchen
Mittelalters“ (1843 fg.) und der literariſche Verein in Stuttgart
durch feine „Bibliothek“ (1843 fg.) namhafte Verdieuſte. Mit
„Wort- und Sacherklärungen“ für gänzlich Umwvorbereitete verfehen
die Deutſchen Claffiter des Mittelalters" von Franz Pfeiffer
(1864 fg.) die Hauptfägliäften mittelhochdeutſchen Dichtungen, wäh⸗
rend Jul. Zacher's „germaniftiihe Handbibliothek“ (1869) folde
Ausgaben derſelben beabfihtigt, welche bem ſchon Worbereiteten ein
gründliches Verftänbnig bes Dichters erleichtern follen. Pfeiffer's
Deutſchen Claſſilern des Mittelalters” folgten dann in demfelben
Verlag (&. 9. Brochaus in Leipzig) Deutſche Dichter des 16. Jahr⸗
hunderts und Deutſche Dieter des 17. Jahrhunderts, mit Ein-
leitungen und Anmerkungen, herausgegeben von K. Goedele und
Julius Tittmann, und eine Bibliothek der deutſchen National»
literatur bes 18. und 19. Jahrkunderts, mit Ginleitungen und
Erläuterungen von Weinhold Kühler, Herm. Hetiner, Julian
Schmidt, Moriz Earriere u. A.
Bevor wir zur Darſtellung der beſonderen Gebiete übergehen,
mũſſen wir Ciniges ſagen über bie Fortbildung ber geſammten
germaniſchen Sprachforſchung. Obwohl hier Grimm's Grammatil
fortdauernd die Grundlage aller Studien bleibt, iſt man doch im
legten Menſchenalter nach zwei Seiten hin über Grimm hinaus⸗
geſchritten. Erſtens nämlich im Anſchluß an Bopp durch die tie-
feren Einblicke, welche die vergleichende indogermaniſche Grammatik
und insbeſondere das Sanskrit auch in den Bau der germaniſchen
Sprachen gewährt. Wir haben dieſe Seite bereits in einem frü-
algemeinerem Inhalt, bie wir nicht ale aufzäglen können, Tiefen bisweilen
auch werthvolle Beiträge zur germanifchen Philologie. Wir wollen hier nur
ned, bie fortgefegte und kundige Berüdfidtigung erwähnen, bie Zurnde's Liter
rariſches Gentralblatt den Erſcheinungen ber germaniſchen Philologie wähmet,
688 Biertes Bud. Siebentes Kapitel.
deren Abſchnitt zuſammenfaſſend dargeſtellt 1). Zweitens aber
ſuchte man, in das Weſen der Laute und die Vorgänge der laut⸗
lien und amberweitigen ſprachlichen Umwandlungen ſelbſt tiefer
einzubringen, wodurch zugleich eine ftrengere Scheidung der münds
lichen und ſchriftlichen Fortpflanzung der Sprache bedingt wurde.
Hieher gehören die Arbeiten Theodor Jacobi's (1848) und 9.
B. Rumpelt’s ?) (1860 fg.), fowie Adf. Holgmann’s Abhand⸗
Kung über den Umlaut (1841), Wilh. Scherers ſcharfſumige
und einem hohen Ziele zuſtrebende Unterfuhungen „Zur Geſchichte
ber deutſchen Sprache“ (1868) gehören theils diefer, theils der zuerft
genannten Seite der Forſchung an.’
Wir erwähnen hier, bevor wir zur Darftellung der einzelnen
Gebiete übergehen, noch einige Schriften, bie mehrere germaniſche
Spraden zufammenfaflen; die Schriften von Schleier und von
Kelle Haben wir ſchon früher angeführt 9. Ahnen find hier noch
beizufügen bie Grammatik der altgermanifhen Sprachſtämme von
Morig Heyne (1862), die philoſophiſch- hiſtoriſche Grammatil
ver deutſchen Sprage von R. Weftphal (1869), die „Altdeutſche
Grammatik, umfaſſend die gothiſche, altnordiſche, altſächſiſche, angel
ſachſiſche und althochdeutſche Sprache“ von Adolf Holtzmann
deren erſte (1870) erſchienene Abtheilung die ſpecielle Lautlehre
umfaßt, und Oskar Schade's „Altdeutſches Wörterbuch“ (1866).
Auch dürfen wir K. G. Andreſen's Regiſter zu Grimm's Gram-
matil (1865) in ber Reihe dieſer Schriften anführen.
Das sothiſche.
Das Gothiſche, die Grundlage der ganzen germaniſchen Sprach-
forſchung, hat im legten Menſchenalter eine Reihe vorzüglicer Ar⸗
beiten aufzumeifen. Gleich am Eingang ſteht die umfaſſende Aus
gabe aller gothiſchen Spradrefte von H. €. von der Gabelent
und J. Löbe (1843—47) mit trefflihem Gloffar und volfftän-
diger gothifcer Grammatil. Eine neue und geſicherte Grundlage
1) 6.0.6. 621fg. — 2) Deutsche Grammatik, I. Lautlehre 1860. -
Das natürliche System der Sprachlaute — mit bes. Rücksicht auf
deutsche Gramm, 1869. — 3) &. 0. ©. 628,
Der Fortbau ber germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 689
für die Textkritik gab (1854. 1857) der genaue Abdruck des Coder
argenteus durch den Schweden Andreas Uppftröm (f 1865),
der dann (1861 fg.) auch die in Palimpfeften erhaltenen gothiſchen
Texte einer ebenfo forgfältigen Vergleichung unterzog. Bon Maß—⸗
mann’3 Ulfilas (1857) haben wir ſchon geſprochen 1); Handaus-
gaben Tieferten Ign. Gaugengigl (1848) und F. W. Stamm
(1858), welcher Iegteren in den neuen Auflagen?) Morig Heyne
die Fortſchritte der Wiffenfhaft zu gute Tommen Tief. Eine Se
paratausgabe ber Skeireins beforgte (1862) Aler. Vollmer. Go-
thiſche Wörterbücher verfaßten Ernft Schulze (1848. 1867) und
mit außgebreiteter Sprachvergleihung Lorenz Diefenbad (1851).
Ein umfaffendes Wert über die Lautgeftaltung der gothifhen Sprache
veröffentlichte (1869) Leo Meyer. Ueber die Ausſprache des
Gothiſchen Hatte W. Weingärtner (1858), Franz Dietrih (1862)
geſchrieben. Das Verhältniß der gothiſchen Bibelüberfegung zum
Grundtert unterſuchte mit kritiſcher Schärfe Ernft Bernhard (1864 fg.).
Sehr wichtige neue Aufſchlüſſe über das Leben und die Lehre des
Ufilas gab (1840) Georg Waitz, und W. Beſſell gelangte
(1860) zu einer von der bisherigen abweichenden Anficht über das
Geburtsjahr des Ulfilas.
Athoddentfd.
Wir haben in früheren Abſchnitten die Arbeiten von Graff,
Jac. und W. Grimm, Lahmann, Schmeller, H. Hoffmann und
Maßmann auf dem Gebiet des Althochdeutſchen erwähnt. Diefen
haben wir hier vor allem drei größere Werke hinzuzufügen, nämlich
„St. Gallens altteutſche Sprachſchätze“ (1844—46) von Heinr.
Hattemer (f 1849), die „Denkmäler deutfcher Poefte und Profa
aus dem VIIL— XII. Jahrh. (1864) von Karl Müllenhoff?)
1) ©. o, 6. 592. — 2) Vierte Aufl. 1869. — 3) Geb. 1818 zu
Marne in Süderdithmarſchen, ftub. feit 1837 zu Kiel, Leipzig und Berlin
Pphilologie, ſchließt fich vorzugeweiſe an Lachmann an; wirb 1843 Privat-
docent, 1854 ord. Prof. ber deutſchen Sprache, Literatur und Alterthums-
kunde in Kiel, 1858 an Hagen's Stelle nach Berlin berufen (Brochaus Real⸗
Encyti. (11) X, 450).
Raumer, Geſch. der germ. Phllologie. 4
60 Viertes Buch. Siebentes Kapitel.
und W. Scherer, bie einen weſentlichen Fortſchritt in der Kritil
und Erklärung diefer Heinen, aber für Sprache und Geiſtesgeſchichte
äußerft wichtigen Ueberrefte bezeichnen, und Joh. Kelle's Aus
gabe bes Otfrid (I. 1856), die in ihrem zweiten Band (1869)
eine forgfältige Darftellung von Otfrid's Sprache beginnt. Neuen
Zuwachs erhielten die althochdeutſchen Quellen durch zwei von
Th. von Karajan (1857) herausgegebene Segens- und Beſchwör⸗
ungsfprühe und Kranz Pfeiffer's Bienenfegen (1866). Das ſ. 9.
althochdeutſche Schlummerlied dagegen, das G. Bappert (1858)
veröffentlichte, erwies fih als ein Machwerk des 19. Jahrhun⸗
derts. — Unter den übrigen Arbeiten auf althochdeutſchem Gebiet
führen wir nod an Abf. Holgmann’s Ausgabe des Iſidor (1836),
dann was K. Müllenhoff (1861), Konr. Hofmann (1863),
€. W. Grein (1865) für das Weſſobrunner Gebet, W. Müller
(1843), 8. Müllenhoff (1858), K. Barti (1858), Jul Fei⸗
falit (1858) und Fr. Zarnde (1866) für Muspilli, W. Müller
(1843), Chr. Wilbrandt (1846), Al. Vollmer und Konr. Hofmann
(1850), €. W. Grein (1858), Adf. Holgmann (1864) und Mar
Nieger (1864) für das Hilbebrandalied gethan Haben, und ermäh-
nen noch K. Roth's Denkmäler der deutſchen Sprade vom 8.—14,
Jahrh. (1840) und Feußner's alliterierende Dichtungsrefte der had:
deutſchen Sprache (1845). Für Veröffentlihung und Sichtung alt-
hochdeutſcher Gloffen waren (neben H. Hoffmann, Graff, W. Grimm,
BD. Wadernagel, Mafmann) ©. Waig, 8. C. Bethmann, Mi.
Holgmann, Konr. Hofmann, Franz Dietrich, Ant. Birlinger, Mar
Rieger, M. U. Walz und Andere thätig — Um die Literatur ber
Uebergangszeit vom Althochdeutſchen zum Mittelhochdeutſchen machte
ſich (neben Maßmann) beſonders of. Diemer !) verdient durch
feine Ausgabe der Kaiſerchronik (1849), der deutſchen Gedichte des
XI. und XII. Jahrhunderts (1849) und der deutſchen Umdichtung
von Genefis und Exodus (1862). Ebendahin gehören mehrere
Arbeiten Dslar Schade's (Crescentia 1858; monumentorum de
1) &eb. 1807 zu Stainz in Steiermart, 1850 Borfland der Unider
fuätebibliothet in Wien, gef. 1869. (S. über ihn W. Scherer's ſchönen
Nekrolog in ber Wiener Preffe vom 22, Juni 1869).
Der Zortbau der germ. Philologie in ben ncußen Jahrzehnden. GBA
cas 1860; fragmenta 1866), Ric. Heinzel’3 Heinrih von Met
(1867) und Karl Roth's (1847), H. E Bezzenberger's (1848)
und Joſ. Kehrein's (1865) Ausgaben des Annoliebes. — Einen
wichtigen Beitrag zur Lehre von den althochdeutſchen Flexionen gab
Franz Dietrich in feiner Abhandlung über die ftarke Declination (1859).
Scliegli erwähnen wir nod die althochdeutſche Grammatik non
8. A. Hahn (1852, neu bearbeitet vom Adalb. Jeitteles 1866) 1)
und 2. Frauer's Lehrbuch ber althochdeutſchen Sprache und Lite
ratur (1859. 1869).
Altfähfifh, Angelfähffh, Frieſiſch, Alinordiſch. Aunen.
Um das Altſächſiſche machte ſich (nad Schmeller) befon-
ders verdient Morig Heyne durch feine Altniederdeutſchen Dent-
mäler, deren erfter Theil ben Heliand (1866) und deren zweiter
(1867) die leineren altnieberbeutfhen Dentmäler enthält. Eine
Ausgabe bes Heltand Hatte au (1855) J. R. Köne beforgt. Die
deutſchen Alterthumer im Heliand behandelte (1845. 1862) A. 3. €.
Bilmar. Die Quellen des Heliand unterfuhte E. Windiſch
(1868). Beiträge zum Berftändnis des Heliand Tieferten außerdem
Konr. Hofmann (1863), E Behringer (1863),C.W. M. Grein (1869).
Die angelfähfifgen Quellen machten durch kritiſche Aus-
gaben zugänglid C. W. M. Grein Gibliothek der angelſächſiſchen
Poeſie (1857 fg.), Mor. Heyne (Beovulf 1863. 1868), Rein—
Hold Schmid (Gefeke der Angelſachſen 1832. 1858). Außerdem
- nennen wir noch als Herausgeber 8. W. Bouterwek (f 1868.
Caedmon 1849 fg., altnorfumbr. Evang. 1857, Sereadunga
1858) und als Verfaſſer angelſächſiſcher Lefebücher 2. Ettmülfer
(1850) und Mar Rieger (1861). Eine an Umfang Meine, aber
für die deutſche Heldenfage äußerſt werthvolle Bereicherung erhiel-
ten die angeljäcftfden Quellen durch das von dem Engländer
G. Stephens (1860) veröffentlichte Bruchſtück einer angelſächſiſchen
Dichtung von Walter ımd Hildgund, das K. Müllenhoff in Ver⸗
bindung mit Franz Dietrich (1865) verbeſſert und erläutert her⸗
ausgab ?). Für die lexikaliſche Bearbeitung bes Angelſachfiſchen
1) Dritte Aufl. 1870. — 2) In Haupt's Zeitschrift XII, 264 fg.
44°
692 Biertes Buch. Siebentes Kapitel.
iſt an erfter Stelle zu nennen €. W. M. Grein’s Sprachſchatz
der angelſächſiſchen Dichter (1861-64), dann 2. Ettmüller'3 Lexi-
con Anglosaxonicum (1851) und Mar Rieger's Wörterbuch zu
feinem Leſebuch (1861). — Griümdliche Unterfuchungen über ein-
zelne Fragen der angelſächſiſchen Literatur und Grammatik Kieferte
Franz Dietrid, und K. Müllen hoff begann die kritiſche
Siätung der angelſächſiſchen Poeſie. Unter den Hiftoritern, die
fich um das Angelſächſiſche verdient machten, ift neben J. M. Lap⸗
penberg und H. Leo, bie wir ſchon früher erwähnten, Reinhold
Pauli hervorzuheben.
Eine treffliche Bearbeitung fand das Frieſiſche in K. von
Richthofen's Ausgabe der Frieſiſchen Rechtsquellen und dem
dazu gehörigen Wörterbuch (1840). Außerdem erwähnen wir noch
A. L. J. Micelfen’s Beihülfe für die nordfrieſiſchen Gefege und
bie Bearbeitung der friefiigen Laut» und Flexionslehre in Mor.
Heyne's Grammatif der altgermanifhen Sprachſtämme (1862).
Auf dem Gebiet des Altnordifchen mußten fich einige
deutſche Gelehrte duch die Gründlichkeit ihrer Arbeiten aud bie
Anerkennung ber Skandinavier zu erwerben. Wir nennen Bier
vor allen Theodor Möbius und Konrad Maurer. Mi
bius gab heraus die Blömstrvalla Saga (1855), Analeota Nor-
roena (1859), die ältere Edda (1860), Fornsögur (in Verbind⸗
ung mit Gubbr. Vigfusſon 1860), Ares Isländerbuch (1869),
ein Altnordiſches Gloffar zu einer Auswahl von Profaterten (1866)
umb verzeichnete in feinem Catalogus librorum Islandicorum et
Norvegicorum (1856) auf das forgfältigfte den ganzen altnor⸗
diſchen Quellenſchatz. Maurer fhrieh die Gefchichte der Belehrung
des norwegiigen Stammes (1855 fg.) und erläuterte in einer
Reihe gelehrter Abhandlungen alte isländiſche und norwegiſche Ber-
Hhältniffe mit unübertroffener Gründlichkeit; auch veröffentligte er
bie Gull-Thöris Saga (1858) zum erftenmal und isländiſche
Vollsſagen der Gegenwart verdeutſcht (1860). Eine anſchauliche
Darftelfung des altnorbifhen Lebens gab (1856) K. Weinhold.
Franz Dietrich machte ſich durd fein Alnordiſches Leſebuch
(1848. 1864) und eindringende Unterſuchungen über einzelne Fra⸗
Der Fortbau der germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 698
gen um das Studium bes Altnorbifchen verdient. Außerdem nen»
nen wir noch 2. Eitmüller (Altnord. Leſebuch 1861), Herm. Lu⸗
ning (Edda 1859), Friedr. Pfeiffer (Altnord. Leſebuch 1860),
K. F. Köppen, R. von Lilieneron, E. Roffelet, Ferd. Juftt, Theo⸗
phil Rupp. Unter ben Hiftorifern, deren Forſchungen fi dem nor-
difchen Alterthum zumanbten, Haben wir ſchon früher Dahlmann
hervorgehoben; unter den Juriſten ift Bier (außer Konr. Maurer)
noch W. Ed. Wilda zu nennen.
Wir fließen hier die Arbeiten an, bie ſich mit ben älteften
Schriftarten der germanischen Völfer befhäftigen. Nah W. Grimm's
ſchon beſprochenen grundlegenden Leiftungen über die Runen (1821.
1828) find zunädft zu erwähnen bie Unterfuhungen von Mund
und J. Grimm) (1848), fo wie bie von 8. Mällenhoff?)
(1849), über bie Inſchrift bes 1734 hei Gallehuus gefundenen
goldenen Horns. Durch biefe Arbeiten wurde feitgeftellt, daß jene
Runeninſchrift nit Skandinavien, ſondern einem Volle des füd-
lichen Hanptaftes der Germanen angehört. Daß aud bie fühger-
maniſchen Völker ihre Sprachen durch Runen ausgebrüdt Haben,
wurde durch weitere Entdeckungen glänzend beftätigt. Insbeſondere
dur die bei Charnay an der Saone ausgegrabene burgundiſche
Silderfpange aus dem 5. Jahrhundert, fo wie durch den (1838)
bei Pietraoffa in der Walachei gefundenen Ming 3) und bie bei
Norbenborf in ber Nähe von Augsburg (1848) entdeckten Gegen-
fände mit Runeninſchriften. Um ihre Entzifferung, fo wie um
die der germaniſchen Golbbracteaten erwarb fih Franz Dietrich
(1865 fg.) wefentfice Verbienfte‘). — Ueber bie Runen in ihrem
Verhaältniß zum mahrjagenden Loofen ſchrieben (1852) R. von Li-
Hencron und K. Müllenhoff. Das ganze Syſtem ber Runen be
1) Bericht der Akad. der Wiss. zu Berlin. 1848. 8. 39—58. —
2) Vierzehnter Bericht der Schleswig-Holſt. Geſellſchaft x. im Januar 1849
erftattet von K. Müllenhoff, S. 16 fg. — 3) Bl. u. A. 3. Zader, das
gothiſche Alphabet (1855) ©. 44 fg. — 4) Pfeiffer's Germ. X. (1865)
8. 257—305. XI. (1866) 8.177— 209. Haupt's Zeitschr. XIII. (1867)
8. 1128. Ebend. XIV. (1869) 8. 73-104. Bgl. au Frz. Dietrich,
Die Blekinger Inschriften, Marb. 1868,
[73 BVieries Bud. Siebentes Kapitel
handelte (1857) Franz Joſ. Lauth. Das Verhältniß von Bulfilo's
Schriftzeichen einerjelts zu den Runen und andrerſeits zu den an-
‚tilen Alphabeten unterſuchten A. Kirchhoff (1851. 1854) und Zur
lius Zacher (1855).
Mittelniederdeutfg. aitieluiedetlãudiſch. Ea⸗liſch.
Wir haben früßer geſehen, wie das Niederdeutſche im Lauf
des 17. Jahrh. die Natur einer Schriftſprache einbüßt, wie es dam
aber als Vollsmundart auch zu ſchriftſtelleriſchem Gebrauch von
nemem verwendet wird. Auf das Niederdeutſche als Volksmundart
lommen wir fpäter zurück; Bier befpredgen wir nur die Bemuhun⸗
gen um das Mittelniederdeutſche in feinen mannigfachen Mund ⸗
arten und mit feinen Ausläufern bis um bie Mitte des 17. Jahrh
Um bie Herausgabe und Erläuterung niederdeutſcher Quellen mach⸗
tem ſich (neben Hoffmann von Fallersleben und Maßmann) ver-
dient Adelb. von Keller (Karlmeinet 1858), 8. Bartſch
(Berthold von Holle 1858), Alb. Höfer (Denkm. 1850 fg.),
A. Lübben (Reinle de Vos 1867. Beno 1869), 3. M. La
penderg (Lauremderg 1861), 2. Eitmüller, F. Satendorf, Friedr
Pfeiffer, 8. Ph. Ch. Schönemann, K. Regel, Phil. Ed. Wadernagel,
J. Geffken, C. Möndeberg, K. Schröder. Die Natur der nieder⸗
deutſchen Sprachquellen bringt es mit ſich, daß hier bie verſchie⸗
denartigften vorzugsweiſe dem Inhalt gewidmeten Beſtrebungen
auch für bie Sprachforſchung von Wichtigkeit find. So haben wir
auf dem Gebiet der Rechtsbucher Homeyer's klaffiſche Ausgabe des
Sachſenſpiegels fon angeführt. Ebenſo bieten geſchichtliche Werte
und Urkunden der Sprachforſchung reichen Stoff. Wir führen in
erſterer Hinficht nur das großartige, von K. Hegel geleitete Um
ternehmen der Herausgabe der deutſchen Stäbtehroniten an, be
welchem bie ſprachliche Seite für Magdeburg von Janicke und
Wiggert, für Braunſchweig von 2. Hänfelmann ımd 8. Schil
Ier Beforgt wird. In Bezug auf bie Urkunden erwähnen wir nun
beiſpielsweiſe J. M. Lappenberg's vielfache Leiftungen. Züde
tige Beiträge zu einem niederdeutſchen Wörterbuch lieferte K. Schil⸗
ler. Eine voliftänbige lerikaliſche Bearbeitung bes Niederdeutſche⸗
Der Fortbau ber germ. Philologie in den neuſten Jahrzehnden. 695
aber hat bis jett noch nicht zu Stande kommen wollen. Das
angefangene Wörterbuch der niederdeutſchen Sprache von J. G. 8.
Kofegarten (1856 fg.) gerieth ſchon nach den erften Lieferungen
in’3 Stoden. Neuerdings haben A. Lübben in Oldenburg und
8. Schiller in Schwerin ein mittelnicberbeutjches Wörterbuch
gemeinfam unternommen, von dem wir uns etwas Tüchtiges ver-
ſprechen dürfen, Schließlich erwähnen wir noch den Anfang einer
niederdeutſchen Bibliographie, den [nach K. F. A. Scheller's (1826)
mißrathenem. Buch] C. M. Wiechmann in „Meflenburgs altnie⸗
derſächſiſcher Literatur“ (1864) gemacht hat.
Für das Mittelniederländiſche war (neben Hoffmann
von Fallersleben, J. Grimm und Mone) beſonders Ed. von
Kausler thätig, deſſen Denkmäler altniederländiſcher Sprache
und Literatur (1840 — 66) die noch nicht herausgegebenen Theile
der Comburger Handſchrift veröffentlichten. Außerdem lieferten
Beiträge zur mittelniederländiſchen und älteren neuniederländiſchen
viteratur Sul. Zacher, K. Regel, E. Martin, K. Bartſch, Ferd.
Wolf, Ph. Ed. Wadernagel u. A.
Was das Englifche betrifft, jo kann Bier natürlih nur von
der wiſſenſchaftlichen Erforſchung desſelben die Rede fein, nicht von
den unzähligen praktiſchen Hilfsmitteln zu deſſen Erlernung. An
erſter Stelle müfjen wir hier nennen die „Hiftorifche Grammatit
der englifhen Sprade" von C. Frieder. Koch (1863 fg.) und
neben ihr die Arbeiten von Ed. Mätzner (Engl. Gramm. 1860fg.;
Mtengl. Sprahproben 1867 fg., in Verbindung mit 8. Goldbech).
Außerdem führen wir an F. 9. Stratmann’s Dietionary of the
engl. langu. of the 13. 14. and 15. oenturies 1864 fg. Unter
den übrigen lexikographiſchen Arbeiten heben wir hervor bie eng-
liſchen Wörterbüger von J. ©. Flügel (1830 fg.) und von N. J.
Lucas (1854 fg.) und das etymologifhe Wörterbuch ber engliſchen
Sprache von Ed. Müller (1865 fg.). Außerdem machten fih um
die Erforſchung des Engliſchen verdient Nic. Delius, Tyho Momm-
fen, Adf. Ebert, Benno Tſchiſchwitz, K. Elze, W. Herkberg,
8. Lemde, 8. Herrig, Bernd. ten Brink, ©. Nagel, ©. Helms u. A.
696 Viertes Bud. Siebentes Kapitel.
Aittethochdentſch.
Auf dem Gebiet des Mittelhochdeutſchen haben wir die Brüder
Grimm und alle ihre Genoſſen thätig geſehen. Der Meiſter des
Faches über war Lachmaun. Bon ihm haben Freund und Feind
gelernt 1). Die Anerkennung dieſer Meifterihaft bedingt aber
durchaus nit, daß wir Lachmann's Anfihten überall beiftimmen.
Vielmehr fordert die fortſchreitende Wiffenfhaft, daß wir biefe
Anfihten mit Freiheit und Unbefangenheit prüfen und nur das
fefthalten, was ſich bewährt.
Das dringendfte Bedürfnig auf dem Gebiet des Mittelhod-
deutſchen war die Herftellung eines volfftändigen Wörterbuds.
Benede, W. Wadernagel und Heinr. Hoffmann Hatten treffliche
Vorarbeiten geliefert. Ein Gloffarium zu Walther von der Vogel⸗
weibe verfaßte (1844) C. A. Hornig. Aber der Verſuch eines Gefammt-
wörterbuchs von Adf. Ziemann (1838) war noch ſehr ſchwach.
Das Verdienft, zuerft ein umfaffendes und wiſſenſchaftliches Wör-
terbuc des Mittelhochdeutſchen Hergeftellt zu haben, erwarben ſich
(1854— 1866) Wilhelm Müller 2) und Friedr. Zarnde?).
Im Anſchluß an fie, zugleich aber geftägt auf ſelbſtändige grünb-
lie Studien arbeitet Matthias Lerer (1869 fg.) am einem
mittelhochdeutſchen Handwörterbuch. — Eine mittelhochdeutſche
Grammatik ſchrieb K. A. Hahn (1842, neu ausgearbeitet von
Friedr. Pfeiffer 1865) ©).
1) Bgl. Franz Pfeiffer in den Münchener Gel. Anzeigen 1851, I. Ep.
701. — 2) Geb. 1812 zu Holgminben, ſtud. feit 1882 in Göttingen als
Schüler Otfr. Müller’s, 3. Grimm’s und Benede's Philologie, wird 1841
Privatbocent, 1856 ord. Prof. ber deutſchen Sprache und Lit. in Göttingen
(Brodgaus Real-Encyf. (11) X, 461). — 3) Geb. 1825 zu Zahrenflorf
in Meflenburg, find. feit 1844 in Roſtock, Leipzig und Berlin Philologie,
wird 1852 Privatdocent, 1858 orb. Prof. ber deutſchen Sprache u. Sit. in
Leipzig. (Brodhaus, Real-Encytl. (11) XV, 658). 4) Die Verbreitung
bes Unterrichts in ben Älteren deutſchen Sprachen rief eine Reihe kleinerer, zum
Theil ſehr tüchtiger grammatiſcher Hülfemittel Yervor. Ich nenne hier nur
bie Hicher gehörigen Schriften don A. F. €. Vilmar, 8. Müllenhofj, Oster
Schade, U. Koberfiein, Gotil. Stier, E. Martin, Jul, Zupiha. Ueber bie
Ausfprache bes Mitielhochdeutſchen ſchrieb (1858) Reinhold Bechftein.
Der Fortban ber germ. Philologie in den neuſten Jahrzehnden. 697
Gehen wir num über zur Herausgabe mittelhochdeutſcher Werke,
fo müſſen wir vor allem ausſprechen, daß auf biefene Gebiet in
den legten Jahrzehnden ungemein viel geleiftet worden iſt. Wir
beginnen mit ber deutſchen Heldendichtung. Den Mittelpunft der
Forſchung bildet hier das großartigfte Werk der ganzen altveut-
ſchen Poeſie: Das Nibelungenlid. Die Unterfuhung dieſer
Dichtung greift tief ein in die Geſchichte unfrer Wiſſenſchaft, und
wir wollen deshalb etwas näher darauf eingehen. . Wir haben in
einem früheren Abſchnitt gefehen, wie Lahmann aus dem überlie-
ferten Text zwanzig einzelne Lieber ausfonderte, aus deren Zu-
fommenfügung das Ganze entftanden fein ſollte. "Er ließ babei
von ben 2316 Strophen ber kürzeſten Handſchrift (A) nur 1437
als echt gelten, während er 879 als eingejchoben bezeichnete. Seine
Ausſcheidungen ftüßte er auf Gründe, die er theils aus dem In⸗
halt, teils aus ber Form der verworfenen Strophen entnahm.
Bald nad; Lachmann's Tode kam nun aber ein weiterer eigenthüm⸗
Her Umftand zum Vorſchein. J. Grimm wies nämlich (Nov.
1851) in einer Beurtheilung der britten Ausgabe von Lachmann's
Nibelungen Noth ) nad, daß die Strophenzahl in jedem ber
zwanzig Lachmann'ſchen Lieder (mit einer einzigen Ausnahme) duch
die Zahl Sieben theilbar fei. Da nun Lachmann fon in feiner
erften Ausgabe der Nibelungen (1826) durch das ganze Werk je
die fiebente Strophe mit einem größeren Anfangsbuchftaben ber
zeichnet Hatte und da er überdies auch in feinen Unterfuhungen
über antike Metrik ber Siebenzahl eine befondere Bedeutung bei-
maß, jo konnte e8 feinem Zweifel unterliegen, daß er auch für
feine Vollslieder Heptaben zu Grunde gelegt Hatte J. Grimm,
ber ſich ſchon im feiner Rede auf Lachmann (Juli 1851), bei aller
Anerkennung feines Scharffinns, aus fachlichen Gründen gegen
feine Behandlung der Nibelungen ausgefprohen Hatte ?), erflärte
in ber obigen Beurtheilung 9): „Sicher hat bei Lachmann, als er
feine zwanzig Lieber ordnete und den Athetefen nachſpürte, Rück⸗
ficht auf Inhalt, zuweilen auf Versbau und Grammatit überwo⸗
1) @öttingifge gel. Anzeigen 1851, ©. 17479. — 2) Kleinere
Schriften von J. Grimm, Bd. I. (1864) 8. 156 fg. — 3) ©. 1752.
698 Viertes Bud. Siebentes Kapitel.
gen; zugleich aber müffen, es läßt ſich nicht anders denken, bie
Heptaden ihm eine Richtſchnur gewefen fein, wider die man fih
fträubt. Dem freien ungehemmten Athemzug bes Epos ſcheinen
folde gleihförmige, halbnaturwüchſige Zahlen entgegen, und die
Kritik des Inhalts wird für ihre aften Zweifel aus neuen von der
Form dargereichten Beftätigung ziehen dürfen.” Dieſe Angriffe
J. Grimm’s auf Lachmann's Zerlegung der Nibelungen mußten
um fo ſchwerer in’3 Gewidt fallen, als vachmann fi „unbegreif-
licher Weife gar nicht, weder in Schriften, noch mündlich“ i) über
feine Heptaben erflärt hatte. Einige Jahre nachher (im Januar
1854) griff Adolf Holtzmann?) die Anſichten Lachmann's
aud von Seite der Hanbfäriftenfrage an, indem er nachzuweiſen
ſuchte, daß bie Hohenems» Mindener Handſchrift (A) keines-
wegs den älteften Text biete, ber bann, wie Lachmann meinte, in
der St. Galler Handſchrift (B) eine erfte und in der Hohenems-
Laßberg'ſchen (C) eine zweite erweiternde Ueberarbeitung erfahren
habe, daß vielmehr der ausfürlihe Tert von C dem urfprünglid-
ften am nädften ftehe, und A nur eine willfürliche Verſtümmelung
bes älteften Textes fei?). Man fieht leicht, daß diefer Nachweis
Lachmann's Kritik, infofern fie fih auf bie Handſchriften ftägte,
1) Ebend. ©. 1749. gl. I. Grimm's Erflärung in Zarnde's Gentrel-
Blatt 1858, Sp. 275. 276. — 2) Geb. 1810 in Rarlsruge, 1852 Profe
for ber beutfehen Sprache und Literatur in Heidelberg, gef. 1870. — 3) Der
Nachweis, da C den älteſten ums zugänglichen Zert biete, A von den brei
Haupthandſchriften den jüngften, |. bei Holgmann &. 5—54. Das Bar
haͤliniß der Handſchriften ſtellt Holbmann (S. 58 fg.) je dar: An der Erik
fteht ein uns verlorener Tert Z. Bon dieſem ſtammt einerſeits C, anbrer:
ſeits ber Zert, deffen abkürgende Ueberarbeitung B ift, und A ift dann mie:
der eine Verftümmelung von B. Alſo nad) dem Schema:
Der dortbau ber germ. Philologie in den neuften Jahrzehnden. 699
den Boden entziehen mußte. Denn wo Lachmann in den Sprüngen
und ſchroffen Webergängen ber Handſchrift A Spuren der noch
nicht vollendeten Zufammenarbeitung ber urſprünglichen Lieber zu
ſehen glaubte, da Haben wir es nad Holgmann mit den Nahe
Täffigteiten eines Abſchreibers zu thun, der durch willkürliche Aus⸗
Taffungen den Zufammenhang, den ihm feine Vorlage bot, zerftörte,
Diefer Punkt war es deshalb auf, um den fortan der Streit fid
drehte, während man Holgmann’s eigene Hupothefe, daß Konrad,
der Schreiber Biſchof Pilgrim's von Paſſau, um 970—9841) bie
Grundlage unfres Nibelungenliebes verfaßt Habe, mehr zur Seite
liegen Tieß. — Durch felbftändige Unterfuhungen war Friedrich
Zarnde zu ganz ähnlichen Ergebniffen über die Handferiften der
Nibelungen gelangt, wie Holgmann. (Er veröffentlichte dieſelben
in einem Vortrag, ben er am 28. Juli 1854 in ber Aula zu Leip-
sig hielt. „Mein Urtheil über A, fagt er bort, Hatte ih fo zu-
fammengefaßt: A iſt bie gewiffenlofe ftümperhafte und naſeweiſe
Abſchrift einer Vorlage, die B an Werth übertraf” ?). „In ber
Handfhriftenfrage" ſchließt ſich Zarncke „vollftändig dem von Holk-
mann gewonnenen Refultate an”, keineswegs aber deſſen Anſichten
über die Entftehung bes Gedichts >).
Gegen Holgmann und Zarnde trat no in bemfelben Jahr
Karl MällenHoff in die Schranten. In feiner Abhandlung:
„Zur Geſchichte der Nibelunge Not”, (Dec. 1854) +) fuchte er
Lachmann's Anfihten nach allen Selten Hin zu vertheibigen. Die
" von J. Grimm angegriffenen Heptaden erklärt er im Anſchluß an
Moriz Haupt daher, daß bei dem muſikaliſchen Vortrag der epl-
fen Lieder immer je fieben Strophen fih in ähnlicher Weife ger
gliedert Hätten, wie in ber lyriſchen Strophe die beiden Stollen
und der Abgefang, fo da immer 2+2 Strophen biefelde Melodie
und bie drei darauf folgenden eine andere gehabt hätten ). In
1) Holtsmann, Untersuchungen über das Nibelnngenlied, 1854,
8. 190. — 2) Zur Nibelungenfrage. Ein Vortrag von F. Zarncke,
Leipz. 1854, 8. 20. — 3) Gbend. 6. 91. — 4) Im der Allgem. Mo-
nateschrift für Wissenschaft und Literatur, Braunschweig 1854, Dec.
8. 877-979. — 5) Ebend. S. 885. 886,
700 Biertes Buch. Giebentes Kapitel,
Betreff der Handſchriften Hält er bie Priorität von A aufrecht. Am
eingehendften erläutert er die Entwickelung der deutſchen Helben-
dihtung von ihrer Entftehung in der Zeit der Völkerwanderung
bis in's 18. Jahrhundert. Beſonders müſſen wir hier hervor
Heben, wie Müflenhoff ſich die Entftehung folder Werke wie unfre
Nibelungen aus den alten Heldenlievern denkt. „Ift nun das
Epos, fagt er, die directe, bie neue höfiſche Kunft aber eine in-
birecte Fortſetzung ber alten Poeſie, fo müffen Gedichte wie bie
Nibelungen und Kubrun in denſelben Kreifen entftanden fein, wie
mein und Parzival“ 1), „Die Nibelungen können ihrer Sprache
wegen nur in ben ebelften Kreifen des Landes entftanden fein“ 2.
Als Zwiſchenſtufe zwiſchen den einzelnen nur münblic fortgepflang-
ten Helbenliebern und dem großen epiſchen Ganzen nimmt Müllen⸗
hoff die Aufzeichnumg einzelner Lieder und daraus hervorgehenb die
Eniſtehung epifcher Lieberbücher an). Aus folgen „Liebergruppen“,
wie fie diefe „Liederbücher“ enthielten, find dann durch die Hand
eines „Ordners“ unfre Nibelungen zufammengefügt worden )
Trotz dieſer eigenthümlichen Anfichten über die Entſtehung des Ger
dichtz ſchüeßt ſich jedoch Müllenhoff in Bezug auf deſſen Zerlegung
genau an Lachmann an d).
Eine Widerlegung Holgmann’s umd Zarnde's in Bezug auf
die Handiäriftenfrage verfuhten Mar Mieger:) (1855) um
NR. von Liliencron”) (1856). Rieger gelangt zu bem Er-
gebniß, „daß jeder andre Tert ſchlechter ift als A, mb C ber
ſchlechteſte von allen“ 9). Nichtsdeſtoweniger räumt ex ein, „daß
Lachmann den Werth ber übrigen Handſchriften gegen A unter
{hät Habe“ 9) und meint, „eine Ausgabe, die in umfaſſender Weile
mit feinem Sinn A aus den übrigen Handſchriften zu ergänzen,
zu reinigen und zu beffern unternähme, wäre gewiß eine ſehr in
1) @bend. 6. 898. — 2) Ebend. ©. 894. — 3) Ebend. ©. 895
1. — 4) Ebend. ©. 942. — 5) Ebend. ©. 884. — 6) Zar Kritik
der Nibelunge von Max Rieger. Giefsen 1855. — 7) Ueber die
Nibelungenhandschrift_C. Sendschreiben an — Goettling vonR. v.Li-
lieneron. Weimar 1856. — 8) Rieger a. a. ©. S. 30. — 9) Gb.
©. 118. gl. 6. 108,
Der Zortbau ber germ. Philologie in den neuften Jahrzehnden. 701
tereffante Arbeit und wenn bie Nibelungen ber jegigen deutſchen
Bildung fo nahe ftünden, wie fie follten, eine naturgemäße und
dankbare* 1). Lilieneron fuchte, durch eine ausführliche Vergleihung
darzuthun, daß O nur durch eine abjihtliche Umarbeitung von A
entftanden fein könne, ſowohl was den Snhalt 2), als was bie
Form betreffe?), wobei er im letzterer Beziehung namentlich die
Ausfülung ber in A noch fo häufig fehlenden Senkungen hervor
bob 4). Aber dich alle diefe Bemühungen liefen ſich Holtzmann
und Zarnde nicht überzeugen, wie fie dies theils in erneuten Ent⸗
gegnungen 5), theils dadurch kund thaten, daß fie num ſelbſt Aus⸗
gaben des Nibelungenliebes auf Grundlage der Hohenems ⸗Laßberg'⸗
ſchen Handſchrift (C) beforgten, Zarnde 1856 9), Holgmann 1857.—
Wir haben Hier no zwei Männer zu erwähnen, bie Lachmann's
Anfichten und ihrer Vertheidigung entgegentraten, nämlich Wilh.
Müller und Heinrich Fiſcher. Der Exftere hatte ſchon 1845 7)
eine Vermittlung zwifchen der Anfiht, daß unfre Nibelungen das
Wert Eines Berfaffers feien, und Lachmann's Liedertheorie zu ber
gründen gefuht, indem er annahın, daß „die Ditung von Rhapfo-
dieen* den Mebergang vom eigentlichen Volkslied „zu den größeren
ganz zufammenhängenden Epen machte). Im Anſchluß daran be⸗
Mämpfte er jeht (1855) Lachmann's und Müllenhoff's Anſichten 9).
1) Ebend. ©. 118 fg. — 2) Lilieneron a. a. O. S. 10 fg. —
3) Ebend. S. 122 fg. — 4) Eben. ©. 175 fg. Dgl. dagegen Zarnde im
Gentralblatt 1856, S. 641, und Bartsch, Untersuch, üb. das Nib. 1865,
8. 281. — 5) Holgmann, Kampf um ber Nibelunge Hort, Stuttgart 1855,
und deſſen Kritifen in den Heibelberger Jahrbüchern (namentlich 1859,
Nr. 31. — Zarnde, Beiträge zur Erklärung und Geſchichte bes Nibelungens
liedes, Leipzig 1857, und deſſen Kritiken im Literariſchen Gentralblatt (1854,
Sp. 115, Zuftimmung zu Holgmann; 1855, Sp. 128 und 398 gegen Müllen-
hoff; 1858, Sp. 59 gegen Rieger; 1856. Ep. 639 gegen Lilieneron). —
6) Dritte Aufl. 1868. — 7) W. Müller, Ueber die Lieder von den
Nibelungen, in ben Göttinger Studien 1845, Abthlg. II, 8. 275—836.
(Schon früher (1841) hatte W. Müller eine mythologiſche Erklärung ber
Nibelungenfage verſucht.) — 8) Ebenb. ©. 310. Vgl. S. 276. — 9) Vgl.
beſonders W. Müller's Beleuchtung von Lachmann's Kriterien unechter Stro:
phen, @ötting. gel. Anz. 1855, ©. 700 fg.
702 Bierted Bud. Siebentes Kapitel.
Doch ‚nur die Unhaltharkeit der Lachmanu'ſchen Hypotheſe“, ale
nur, daß das Gedicht von der Nibelungen Noth feine Sammlung
von Liedern fein kann, wollte er zeigen, nicht aber, daß es, fo wie
es vorliegt, Einen Verfaſſer habe“ ?). Dagegen gelangte Heinrich
Fiſcher (1859) zu dem Ergebnis: „Das Nibelungenlied ift das
Wert Eines Dicters, und die Handſchrift O enthält, von einzelnen
BVerderbniffen abgefehen, den urfprünglichen Text“ ?).
Eine neue Wendung nahm der Streit über bie GEntftehung
des Nibelungenliedes, als Franz Pfeiffer in einem Vortrag
ben er am 30. Mai 1862 in der Zaiferlihen Afabemie zu Wien
hielt 3), die Anſicht durchzuführen ſuchte, der von Kürenberg, von
dem wir eine Anzahl lyriſcher Strophen befigen, habe etwa in
den Jahren 1120 His 1140 das Nibelungenlied gebichtet ). Er
ftügt diefe Annahme auf folgenden Schluß: Unter ben beutfcen
Dichtern des 12. und 13. Jahrhunderts galt das Gebot, daß der
Erfinder einer Weife zugleich deren Eigenthümer war. Ein Anderer
durfte fie wohl umgeftalten, aber nicht unverändert zu eigenen
Diätungen verwenden. Nun ift. die Nibelungenftrophe keineswegs,
wie man bisher angenommen hat, ein allgemeiner vollsmäßig gi
iger Vers, fondern, da fie vor ber Mitte des 18, Zahrhunderts
kein erzählendes Gebicht zeigt aufer den Nibelungen, das Kunftwert
1) ®. Müller in den Götting. gel. Anzeigen 1855, ©. 699. —
2) Nibelungenlied oder Nibelungenlieder? Eine Streitschrift von
Heinrich Fischer. Hannover 1859, 8. 149. — 34 führe hier noch bie
Abhandlung von Ed. Paſch an (zuerſt als Programm ber Realſchule zu Perle:
berg erſchienen, dann wieber abgebrudt in der Berliner Zeitschr. für das
Gymnasialwesen 1864, I, 8. 81 fg.). Das Ergebnis bes Verfafjers iR:
„Weder A ift Grundtert von C, noch C Grundtert von A, fonbern beiten
liegt ein gemeinſchaftlicher Tert zu Grunde; und zwar ſieht ſowohl C als
aud A zu bemfelben in dem Verhältniß einer Ueberarbeitung“ (8. 106 fg.)-
— 3) Almanach der kais. Akademie der Wissenschaften 1862,
8. 171-218. — 4) Ebend. 8, 187. 208. — Einen anderen Verſuch, das
Niselungenlied einem genannten Dichter zuzufgreiben, Hatte (1839) R. Roib
gemacht, indem er Rudolf von Ems für deſſen Verfaſſer erklärte (S. Deutjche
Predigten bes XIT. u. XIII. Ihs. Herausgegeben von K. Rath, Quedlinburg
und Leipz. 1839, ©. 6).
Der Fortbau ber germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 708
eines Einzelnen. Wer ihr Erfinder war, Tann nicht zweifelhaft
fein. Es muß ber Kürenberger gewejen fein. Denn bie Strophen,
die wir von biefem befigen zeigen vollftändig dieſelbe Form, wie
die des Nibelungenliedes. Diefe Form gehörte alfo dem Küren-
berger als ihrem Erfinder, und da fi nad) dem oben angeführten
Grundſatz fein Anderer diefer Form bedienen durfte, fo muß er
auch Verfaſſer des Nibelungenliedes fein. Unfer Nibelungenlieb,
wie wir e8 noch befigen, ift jedoch nicht das Originalwerk des Kür
renberger's, ſondern eine Umdichtung feines Werkes, die nicht vor
dem Jahr 1190 gemadt worben ift.
Drei Jahre nad Pfeiffer's Vortrag erfienen (1865) bie
umfaffenden „Unterfugungen über das Nibelungenlied” von Karl
Bartſch, von welchen derſelbe fon im September 1862 auf ber
Bhilologenverfammlung zu Augsburg vorläufige Mittheilungen ge
geben Hatte. Vorbereitet durch feine Forſchungen über die Um«
arbeitungen ber beutjhen Dichtungen aus dem kerlingiſchen Sagen-
kreiſe unterfucht Bartſch, ob nicht den überlieferten Texten unferer
Nibelungen ein älteres Werk zu Grunde liege Er richtet dabei
fein Augenmert Hauptfählig auf die Reime und den Versbau.
Aus der Vergleichung der verfdiedenen Texte ergibt fi ihm, daß
deren Abweihungen in den gemeinfamen Strophen fehr häufig da-
duch entjtanden find, daß man einen älteren ungenauen Reim
durch einen genaueren zu exfegen fuchte, wobei dann der eine Ueber⸗
arbeiter diefen, der andere jenen Weg einſchlug. Indem nun
Bartſch die freieren Neime, die fih aus den ums überlieferten
jüngeren Texten noch gewinnen laſſen, an' der Entwidelungsgefdichte
des Neimes prüft, wie fie uns im zahlreichen Dichtungen bes
12. Jahrhunderts vorliegt, gelangt er zu folgendem Ergebnis: Die
Abfaſſung des Nibelungenliedes in feiner urfprünglichen Geftalt
haben wir um 1140—1150 zu fegen. Gewiß hat es im ber erften
Hälfte des 12. Jahrhunderts Volfslieber aus dem Kreiſe der bur-
gundiſchen Sage gegeben, daneben aber au eine mündlich fort-
gepflanzte Erzählung derjelben Begebenheiten. Auf Grundlage bei-
der dichtete der Kürenberger um 1140 das Nibelungenlied. Hierin
ſchließt fih Bartſch den Gründen Franz Pfeiffers an, indem er
704 Biertes Bud. Siebentes Kapitel.
biefelden noch mehr zu befeftigen ſucht. Das um 1140 entftanbene
Original erfuhr etwa 1170— 1180 eine erſte Ueberarbeitung, und
diefe Weberarbeitung wurde dann zwiſchen 1190 und 1200 von
neuem umgeftaltet und zwar ziemlich gleichzeitig durch zwei Dichter,
die unabhängig von einander arbeiteten. Die eine Umgeftaltung
liegt ung vor in ber St. Galler Handſchrift (B) und der mit ihr
verwandten Gruppe, zu welcher aud die Hohenems - Mürndener
Handſchrift (A) gehört. Denn die in Handſchrift A fehlenden
Strophen find nur aus Nacläffigteit vom Schreiber ausgelafien.
Die andere Umgejtaltung Bietet die Hohenems -Laßberg'ſche Hand-
ſchriſt (0) und ihre Verwandten. Ihr Urheber arbeitet mit mehr
Eonfequenz, als der der eriteren Umgeftaltung, hat aud eine be
deutende Anzahl neuer Strophen hinzugedichtet, welche der gemein
famen Grundlage beider Umgeftaltungen fehlten; aber bie erftere
Umgeftaltung (B u. f.f.) ift der Vorlage treuer geblieben. Auch
beweift die große Anzahl von Handſchriften, in denen fie fi er
halten Hat, daß fie bie verbreitetfte und beliebtefte war. „Höchftes
Biel der Kritit wäre nun allerdings, den verlorenen Driginaltert
beider Bearbeitungen wieberzugemwinnen.“ Aber dies Biel zu er-
zeichen, müffen wir verzichten, weil die Bearbeiter zu weit ausein⸗
andergehen. Wir müſſen uns deshalb an bie beiden gleichberechtig⸗
ten Bearbeitungen halten, in denen das Werk vorliegt. „Ausgaben
beiber Texte werben daher Tünftig neben einander beftehen Können.“
Auf Grundlage der St. Galler Handſchrift (B) Hat dann Bartſch
(1866) !) feine Ausgabe des Nibelungenliebes veranftaltet, deren
einmal populär gewordenen Titel (Nibelungenlied) er jedoch dem
Schluß der Handſchrift O entlehnte Vier Jahre darauf lich
Bartſch feine große Ausgabe des Gebichtes folgen: Der Nibelunge
Nöt mit den Abweichungen von der Nibelunge Liet den
Lesarten sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuch.
Erster Theil, Text. 1870 2).
1) 2. Aufl. 1869. — 2) Unfere Mufgabe war Hier, eine überfigtlide
Darſtellung des Ganges zu geben, ben ber Streit über bie Entſtehung dee
Nibelungenliebes genommen hat. Cine volfländige Bibliographie Hätte natür⸗
Der Fortbau ber germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 706
Ueberbliden wir bie Thätigteit ber Ieten zwanzig Jahre auf
dem Gebiet der Nibelungenkritik, fo ſehen wir, daß ein jehr großer
Theil der Forſcher Lachmann's Herftellung der angeblichen zwanzig
Lieder, aus denen das Gedicht zuſammengeſetzt fein foll, verwirft.
Fragen wir aber ambererjeits, ob es irgend einem ber anderen
Forſcher gelungen fei, die Gegner von feiner Anſicht über die Ent-
ftefung des Nibelungenlieds zu überzeugen, fo müflen wir auch
dies verneinen. Auch nah dem Erfdeinen von Holtzmann's und
Zarndes, Pfeiffer's und Bartſch's Unterſuchungen Hält ein bebeu-
tender Theil der Forſcher im Wefentlihen an Lachmann's Aufftel-
lungen feft. Die kleine Schrift von Julius Zupiga gegen Pfeiffer
(1867), die Abhandlung von K. Meyer „Zur deutfhen Helden-
ſage“ ') legen hievon nicht Bloß für ihre Verfafler, fondern auch
für deren Meifter Zeugniß ab. Wir erkennen bies um fo fidherer,
wenn wir auch 1866 noch W. Wadernagel, obwohl er bei Beur-
theilung der einzelnen Lieber dem höfiſchen Element einen meiter
gehenden Einfluß zuſpricht als Lachmann, doc weſentlich deſſen
Standpunkt vertreten fehen ?). Wir find num weit entfernt, dieſes
durchgreifenden Zwieſpalts wegen die Bedeutung ber Unterfuchungen
über den Urfprung bes Epos zu verfennen. Wir ehren den darauf
verwandten Scharffinn und hoffen, daß wir der Löſung des über
aus ſchwierigen Problems immer näher rüden werben. Aber für
die Praxis ergibt fi uns aus dem Verlauf der Unterſuchungen
lich auch auf alle Einzelftagen Rüdficht zu nehmen. So auf bie Unterfuchuns
gen ber Hiflorifer Über das Geſchichtliche, wie bie von €. 2. Dümmier über
Pilgrim von Paffau (1854), von ©. Waiß über ben Kampf ber Burgunder
und Hunen (1860). Ebenſo können wir bie Schriften über ben dichteriſchen
Werth des Nibelungenliebes, wie bie von 2. Bauer (1830), von Dr. Timm
(1852), von Hugo Wislicenus (1867) Hier nur berügren. Dgl. bie Biblio:
graphiſche Zufammenflelung in Zarnde's Ausgabe bes Nibelumgenliede,
3. Aufl, 1868, Einleitung S. XXI— LI. — 1) Deuthche Biertetjaprefgrift
1869, ©. 26-49. Bgl. bei, ©. 35. — Bol. auf W. Scherer's Abhanb:
kung „Weber das Nibelungenlieb“ in ben Preuß. Jahrbilchern, Bb. XVI
(1865), ©. 253 fg., beſ. ©. 253. 263, und besfelben Schrift über Sper-
vogel (Wien 1870) ©. 22 fg. — 2) Sechs Bruchstücke einer Nibelun-
genhandschrift, her. von W. Wackernagel. Basel 1866.
Raumer, Geiö. der germ. Philologie, 45
706 Biertes Bud. Giebentes Kapitel.
Über die Entftehung bes Nibelungenlieds bie Lehre, daß wir das
Wert vor allen Dingen fo Iefen müflen, wie es im der Blütezeit
der mittelhochdeutſchen Dichtung, in der erften Hälfte bes 13. Jahr⸗
hunderts gelefen worden if Mögen wir uns dann immerhin, ein
Jever in feiner Weiſe, ben ums unzugänglicen Zuſtand unfrer
Heldendichtung fo vollkommen denken, als es uns gefällt. Ber
derben wir ums aber die Freude an dem, was wir wirklich haben,
dadurch, daß wir es herabwürdigen gegenüber dem, was wir nicht
mehr haben, fo gleichen wir dem Hund in der Fabel, der das
Stüd Fleiſch, das er im Maule trug In den Fluß fallen ließ, um
nad} dem zu ſchnappen, das er im Wafferfpiegel erblidte.
Gehen wir zu den anderen Theilen unfrer Heldendichtung
über 1), fo find vor allen der Gudrun vielfache Bemühungen zu-
gewandt worden. Ausgaben bes Tertes veranftalteten Adolf Bier
mann (1835), J. Vollmer (1845), Karl Bartih (1865), L. Ett⸗
mülfer (1841), Karl Müllenhoff (1845) und W. von Ploennies
(1858), die drei legten mit dem Verſuch, echte und unechte Theile
nachzuweiſen. Kritiſche und erläuternde Bemerkungen zur Gudrun
Hieferten außer ben eben genannten Serausgebern Konrad Hofmann
(1867) und Ernft Martin (1867). Um die übrigen Dichtungen
der deutſchen Heldenſage machten ſich verdient Moriz Haupt 2),
Karl Mulllenhoff ), Ernſt Martin‘), Oskar Janicke 5), Adoif
Holtzmann %), Th. von Karajan 7), K. Goedele ©), Adelbert von
Keller 9, K. Frommann 10), Fr. Zarnde!t), Franz Stark !2), Oslar
1) Auch Hier iſt zurädguverweifen auf das, was oben über W. Grimm,
F. 9. von ber Hagen, Uhlanb m. A. gefagt worden if. — 2) Verdffent
lichungen und Bemerkungen in Haupt’s Zeitfchrift für deutſches Alterthum. —
3) @bend., und Antheil am Martin’s, Zänide's und Zupiha's Heldenbuch. —
4) Deutsches Heldenbuch II (Alpharts tod u. A.) Berlin 1866. —
5) Deutsches Heldenbuch I (Biterolf u. A.). Berlin 1866. — 6) Der
grosse Wolfdieterich. Heidelberg 1866. — 7) Frühlingsgabe, Wien
1839 (Bruchstücke des Walther von Spanien). — 8) Konine Ermen-
rikes döt, Hanov. 1851. — 9) Daa deutsche Heldenbuch nach dem
muthmasslich ältesten Drucke. Stuttgart 1867. — 10) Haugäie-
terich und Wolfdieterich. (In Haupt's Zeitschr. IV, 1844, 8, 401-469).
Der dortbau der germ. Philologie in ben neuſten Jahrzehnden. 707
Schade 1), Julius Zupiga ?). Beiträge zur Unterjuhung ber
deutfchen ‚Heldenfage gaben K. Mültenhoff ?), W. Müller, Emil
Sommer, Mar Rieger, A. Raßmann, K. Meyer u. 9.
Wir haben abſichtlich die deutſche Heldendichtung etwas ein-
gehender behandelt. Die übrigen Gebiete faffen wir kürzer zu⸗
ſammen. Unter ben Herausgebern mittelhochdeutſcher Werle, —
wir nehmen den Ausdrucdk mittelhochdeutſch Hier noch im weiteſten
Sinn — ift vor allen zu nennen Franz Pfeiffer‘. Talent
und Zleiß vereinigten fi, um ihn zu einem mufterhaften Heraus»
geber zu machen. Wir können hier bloß feine Hauptarbeiten an-
führen: Barlaam und Joſaphat 1843, Boner’3 Edelſtein 1844,
Marienlegenden 1846, Wigalois 1847, Mai und Beaflor 1848,
Heingelein von Konftanz 1852, Jeroſchin 1854, Walther dom der
Vogelweide 1864. Zu diefen kritiſch und zum Theil auch eregetiſch
behandelten Werken kommt dann noch ber forgfältige Abdruck ber
Weingartner (1843) und Heidelberger (1844) viederhandſchrift.
Aber trotz diefer Höchft bedeutenden Thätigfeit für die Dichter liegt
doch das größte und eigenthümlichfte Verdienſt Pfeiffer's darin,
daß er fih mit gleichem Erfolg auch den Profailern zumenbete.
Seine deutſchen Meyftifer des. 14. Jahrhunderts (I. 1845. II. Meis
fter Echart 1857), feine Ausgabe der „Theologia deutſch“ 1851,
des Berthold von Negensburg 1862, des Konrad von Megenberg
1861, brechen für bie deutſche Proſa des 13. und 14. Jahrhunderts
— 11) Kaspar von der Roen (in Pfeiffer's Germania I, 1856,
8.58 fg.). — 12) Dietrichs erste Ausfahrt. Stuttgart 1860. —
1) Sigenot, Hanov. 1854. Laurin, Leipz. 1854. — 2) Deutsches
Heldenbuch. Fünfter Teil. Dietrichs Abenteuer von Albr. v. Ke-
menaten u.s.w. Berl. 1870. — 3) Haupt's Zeitschr. X, 146 fg. XII,
253 fg. 413 fg. — 4) Geb. 1815 zu Betilach bei Solothurn, beginnt
1834 zu Münden das Stubium ber Mebicin, vertauſcht bie aber unter
Mofmann’s Leitung mit dem ber deutſchen Philologie; dann laͤngere Zeit
auf Reifen mit der Sammlung handſchriftlichen Materials unermübli bes
ſchaftigt; 1846 Bibliothekar in Stuttgart; 1857 Prof. der deutſchen Sprache
und Sit. an der Univerf. Wien; gefl. 29. Mai 1868. (Pfeiffer's Biographie
von X. Bartſch, vor bem Briefwechfel zwiſchen Laßberg und Upland. Wien 1870.)
45*
708 Viertes Bug. Giebentes Kapitel.
eine neue Bahn. — Nächſt Pfeiffer nennen wir Karl Bartid 1)
als einen der gemandteften und Beftausgeräfteten Herausgeber
mittelhochdeutſcher Werke. Unter feinen hierhergehörigen Arbeiten
erwähnen wir feine Ausgaben von des Strider’s Karl (1857) der
Erlöfung (1858), der mitteldeutſchen Gebihte (1860), bes Mele-
ranz (1861), des Albrecht von Halberftabt (1861), ber Liederdichter
des XI. bis XIV. Jahrhunderts (1864), des Herzog Ernſt (1869).
Weiter find als Herausgeber mittelhochdeutſcher (und mitteldeutfcher)
Werke zu nennen K. Frommann (Herbort 1837), Adelb. von Kel-
ler (Walther von Rheinau 1855. Martina 1856. Konrad's von
Wurzb. Troj. Krieg 1858); Theod. von Karajan ?2) (Ulx. von
Lichtenſt. 1841. Helbling 1844 u.%.); K. A. Hahn) (Rangelet. "Otte
mit beim Barte. Kleinere Gedichte des Strider. Gedichte des 12. u.
18. Jahrhunderts. Baffional. Jüngere Titurel), 8. Köpke (Paſſional),
Emil Sommer‘) (Gute rau 1842. Flore 1846), H. Rüdert
(Wälfe Gaſt 1852. Philipp's Marienleben 1853. Lohengrin
1858), Fedor Beh (Hartmann von Aue 1867 fg.), 2. Ettmüller
(Hadlaub 1840. Frauenlob 1843), F. Keinz (Meier Helmbrecht
1865), W. Wilmanns (Walther 1869), G. H. F. Scholl (Türkn,
Erone), Fr. Liſch, Yof. Bergmann, Franz Roth, K. Roth, H. Weis
mann, J. Seifalit, W. Müller, Mar Rieger, Ernft Strehlke, Ian.
1) Geb. 1832 zu-Sprotteu, ſtud. zu Breslau und Berlin Philologie,
insbefonbere german. und roman. Sprachen; 1855 au german. Mufeum in
Nürnberg angeſiellt; 1858 ord. Prof. der deutſchen und roman. Philologie in
Roſtock; ebenfo thätig auf dem Gebiet der romaniſchen, namentlid) provenzeli-
ſchen und altfeanzdf. Philologie, wie auf dem ber germaniſchen [Brodhaus (11).
— 2) Geb. 1810 zu Wien, 1850 Prof. ber deutſchen Sprache und Lit. an
der Univ. Wien, 1848 Mitglied, 1866 Präfibent ber Afabemie ber Wiſſen⸗
ſchaften zu Wien (Brodhaus, Real-Encyhkl. (11) VIII, 636). — 8) @eb. zu
‚Heidelberg 1807, ſtud. daſelbſt, 1839 Privatdocent, 1847 außerord. Profeffor
an ber bortigen Univerfität, 1848 Prof. in Prag, 1852 in Wien, + 1857
(Eonftant von Wurzbach, Biogr. Lerikon bes Kaiſerthums Defterreidh, Thl. VII
Gien 1861), &. 201). — 4) Geb. zu Oppeln 1819, ſtud. in Breslau
und Berlin deutſche Philologie, 1844 Privatdoc. in Halle. + 1846 (Reuer
Nekrol. der Deutfhen, Jahrg. 1846, I, 456 fg.)
Der Fortbau ber germ. Philologie in den neuften Jahrzehnden. 709
Bingerle, Weinhold Bechſtein, Elard Hugo Meyer, Jul. Zupita,
8. Schädel u. A
Die Erforf gung ber Sprache bes 12.—15. Jahrhunderts warf
ſich mehr und mehr auf bie Unterjugung der einzelnen Mundarten.
Namentlih war Franz Pfeiffer in biefer Richtung thätig.
Dies führte ihn nicht nur (1862) zur erneuten Anregung der noch
nicht abgefähloffenen Frage nach der Entftehung ber höfiſchen Sprache,
fondern es veranlaßte ihn auch (1845) zur Nachweiſung der vom
Mittelhochdeutſchen unterſchiedenen mitteldeutichen Mundart, welcher
eine Reihe von Werken des 12.— 14. Jahrhunderts, wie bie bes
Herbort von Fritslar, bes Frauenlob und anderer Schriftfteller
des mittleren Deutſchlands angehören. Diefer Nachweis war um
fo wichtiger, als mit jener mitteldeutſchen Mundart das Neuhoch⸗
deutſche in naher Beziehung fteht. Weberhaupt aber war die Uns
terfuhung der alten Mundarten von befonderem Werth für die
Uebergangszeit des 14. und 15. Jahrhunderts. Zur Kenntniß der
Sprache des 14. Jahrhunderts Hatte ſchon früher (1829 fg.) Auguft
KRoberftein einen gründlichen Beitrag geliefert in feinen Unterſuchun⸗
gen über bie Sprade des Sudenwirt. Für die Literatur jener
Jahrhunderte ift im neuerer Zeit ſehr viel geſchehen. Es treten
darin hervor das weltliche und geiftlihe Lied, das Drama, bie
Didaktik und vor allen die Profa. Die bebeutendften Leiftungen
für das Lieb greifen wefentlih in bie entſchieden neuhochdeutſche
Zeit hinüber, and wir wollen fie deswegen dort anführen. Für
das Drama find bei weiten bie wictigfte Veröffentlihung Adel-
bert von Keller’31) Faftnachtsipiele aus dem 15. Jahrhundert
(1853 fg). Außerdem waren auf biefem Gebiet (neben Mone)
tätig F. Stephan, 2. und Reinhold Bechſtein, Adf. Pichler, K. Bartſch,
A. F. C. Bilmar, Mar Rieger, H. Werner, Ben. Greiff u. A. Für
1) Geb. 1812 zu Pleidelsheim in Würtemberg, ſtud. 1830 — 34 in
Tübingen Theologie, wibmet ſich zugleich unter Uhland's Leitung dem Stu
bium ber miitelalterl. Ziter., 1835 Privatbocent, 1844 orb. Prof. ber deut⸗
ſchen Lit. in Tübingen, ſehr thätig für Herausgabe alideutſcher und altromas
niſcher Dichtungen (Brodjaus (11) WIN, 754 fg.).
710 Viertes Bud. Siebentes Kapitel.
bie didaltiſche und erzählende Poefie des 14. Jahrh. erwähnen wir
Theod. v. Karajan's Abhandlung über den Zeichner (1854) und
8. J. Schröer's über Heinrih von Mügeln (1867), für bie bes
15. Jahrh. U. W. Strobel's (1839) und vor allem Friedrich
Barnde’s in ſprachlicher und fachlicher Hinſicht gleich wichtige
Ausgabe von Brant's Narrenſchiff (1854). Außerdem machten
ſich um Herausgabe hieher gehöriger Dichtungen verbient Abelb.
von Keller, W. Holland, 8. U. Barad, TH. Merzdorf u. A.
Was die Profa betrifft, fo Haben wir Pfeiffer’ Verdienſte
ſchon erwähnt. Wir nennen hier noch als Herausgeber beut-
fer Predigten und anderer geiftliher Schriften des 12.—
15. Jahrhunderts K. Roth (1839), Herm. Leyfer (1838), Frz.
8. Grieshaber (1842 fg), Joh. Kelle, Karl Schmidt, Herm.
Palm, W. Preger, Reinhold Bechſtein (Beheim's Eoangelienbuch
1867), Joſeph Haupt (1864). Um die weltliche didaktiſche und
erzählende Profa machten fi) verdient Abelb. von Keller (Geste
Rom. deutſch 1841. Niclas von Wyle 1860. Steinhöwel 1860)
und W. 2. Holland (Buch der Beiſpiele 1860), 8. D. Haßler
u. A. Bon bejonderer Wichtigkeit war im 13.—15. Jahrh. die
Nehtsprofa, zuerft noch mittelhochdeutſch im Schwabenfpiegel, ben
W. Wadernagel (1840), 3. 2. A. von Lafderg, ein Sohn Joſephs
von Laßberg (1840) und H. ©. Gengler (1851) herausgaben;
dann immer mehr munbartlih auseinandergehend. In letzterer
Hinficht find auch für die Sprachforſchung namentlich die zahlreichen
Weisthümer fehr wichtig, für deren Sammlung und Herausgabe
J. Grimm's großes Werk eine weit verbreitete Thätigfeit anregte.
Ebenfo die feit dem 13. und 14. Jahrh. immer überwiegender
deutſch abgefaßten und in neuerer Zeit mit großem Fleiß heraus⸗
gegebenen Urkunden und Staatsakten. Wir dürfen auf alle dieſe
Schriften, deren Inhalt einem anderen Gebiet angehört, nicht näher
eingehen und erwähnen nur beifpielsweile 2. Frz. Höfer's Auswahl
der älteften Urkunden deutſcher Sprache im Archiv zu Berlin
(1835), indem wir zugleich auf die ungemeine Wichtigkeit hinweiſen,
welche die durch Jul. Weizſäcker (1867) begonnene urkundlich treue
Herausgabe der Reichstagsalten auf für die Sprachforfhung hat.
Der Fortbau der germ. Philologie in ben neuſten Jahrzehnden. 711
Ebenſo müffen wir die nähere Darftellung deffen, was für bie
Herausgabe der deutſchen Geſchichtsquellen gethan worben iſt, ber.
Geſchichte der Geſchichtsforſchung überlaffen und uns begnügen,
das bebeutendfte Hierher gehörige Unternehmen zu erwähnen: Die
Sammlung der deutſchen Städtechronilen durch K. Hegel (1862 fg.),
wobei für bie ſprachliche Seite auf hochdeutſchem Gebiet Matthias
Lerer thätig war.
Aenhochdentſch.
Wir knüpfen hier an das an, was wir bei Gelegenheit des
Grimm'ſchen Wörterbuchs geſagt haben, und erwähnen zuerſt, daß
jenes großartige Unternehmen nach dem Tode ſeiner berühmten
Grimder an Karl Weigand, Rudolf Hildebrand und
Moriz Heyne Fortſetzer gefunden Hat, die es mit deutſchem
Fleiß und deutſcher Grünblichteit im Geifte feiner Urheber weiter⸗
führen. Unter ben Heineren Wörterbüchern der neuhochdeutſchen
Sprade zeichnet fi das von Karl Weigand (1857 fg.) durch
wiſſenſchaftliche Zuverläffigkeit aus). Won den zahlreichen für
praltiſche Zwede beftimmten Wörterbüchern nennen wir nur bei
fpielsweife die von Daniel Sanders (1860 fg.), I. H. Kaltſchmidt,
F. A. Weber u. ſ. w. In Betreff der Synonymik betrat 8. Weis
gand in gründlicher Weiſe (1840, 1852) den geſchichtlichen Leg.
Ein praktifes Hülfsmittel Bietet Chriſt. F. Meyer's Handwörter-
buch deutſcher ſinnverwandter Ausdrücke (1849). Reiches Material
für die Anfänge des Neuhochdeutſchen gewähren die Arbeiten von
Lorenz Diefenbach (1857. 1867) 9).
Die Grammatit des Neuhochdeiltſchen wurde weniger zu
wiſſenſchaftlichen als zu praltiſchen Zweden bearbeitet. In wiſſen⸗
ſchaftlicher Beziehung haben wir hier zu nennen außer der ganz
ungenügenden Grammatik der deutſchen Sprache bes 15. bis
17. Jahrh. von Joſ. Kehrein (1854 fg.) bie Neuhochdentſche Gram-
matif (Buchftaben und Endingen) von K. A. Hahn (1848), die
D) Der Heyſe ſchen Wörterbücher haben wir [on früher (S. 629) Er⸗
wähnung gethan. — 2) Glossarium Latino - Germ. modine & infimas
aetatis 1857, und Novum Glossar. 1867.
712 Viertes Bud. Siebentes Kapitel.
deutſche Syntax von Theodor Vernaleken (1861 fg.), F. Zinnom,
die abgeftorbenen Wortformen- der deutſchen Sprache (1843), Adalb.
Syeitteles über bie neuhochdeutſche Wortbildung (1865) und Aehn⸗
lies. Doc gehören die meiften derartigen Schriften nicht ſowohl
der Wiſſenſchaft ausſchließlich, als vielmehr einer gewiſſen Vermit⸗
telung zwiſchen Wiffenfhaft und Praxis an!). (Die Arbeiten über
die Sprache einzelner deutſcher Schriftfteller erwähnen wir zum
Theil an anderen Orten. Hier führen wir nur an die Schrift von
ZU O. 8. Lehmann über Goethe's Sprache (1852) und die von
R. Guſtaf Andreſen über die Sprade J. Grimm's (1869)). Um
fo zahlreicher find bie ganz ber Praris beftinmten Bearbeitungen
der neuhochdeutſchen Sprache: die bald größeren, balb Heineren
und Meinften deutſchen Schulgrammatiten. Wir haben natürlich
in einer Geſchichte der Wiſſenſchaft nicht die Aufgabe, diefe zum
Theil recht verdienftlien Bücher vollftändig aufzuzählen, da es in
ber Regel nicht in ihrer Abſicht liegt, bie Wiſſenſchaft zu bereichern.
Wir benügen uns, nur einige davon beifpielsweife anzuführen.
So die von Otto Schul, K. A. Jul. Hoffmann, F. Ko,
F. Bauer, U. Engelien, Lor. Englmann, O. Lange, 9. Bohm und
W. Steinert, u. f.w. Ich Habe abſichtlich auch einige ber Hleinften,
für den allgemeinften Elementarunterrict beftimmten Grammatilen
mitgenannt, ohne doch in das weite Gebiet der eigentlich päbago-
giſchen Literatur Kinüberzugreifen. Der Werth der einzelnen Bücher
ift natürlich Hier, wie überall, ein fehr verſchiedener. Aber bie
ganze Erſcheinung, daß trog Grimm’s Verdammungsurtheil ſich
nicht nur die älteren Schulgrammatiken, wie bie von Heyfe, im
ausgebehnteften Gebrauch erhalten haben, fonbern auch nod eine
große Menge neuer und ſtark begehrter „Grammatilen der ein
heimiſchen Sprache für Schulen und Hausbebarf* Kinzugelommen
tft, beweiſt zur Genüge, daß ber große Forſcher ſich in ber Auf
faffung unfrer neuhochdeutſchen Schriftſprache geirrt hat. Er hat
ganz Recht gegenüber bem thörichten Gedanken, als könne die Gram-
1) In biefe Gattung gehört aud das Buch von 2. Edler: Die deutige
Sprachbildung (I. 1847, IL. 1849). -
Der Fortbau ber germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 718
matif die Sprache erzeugen, über bie Aufgabe der praktiſchen Gram⸗
matik, vegelnd in die Sprache des Schülers einzugreifen, wird von
ihm verlannt, weil er das Weſen der feit vielen Menſchenaltern
ſchulmäßig behandelten Schriftſprache umd das der rein naturwid-
figen Vollsmundart nit unterſcheidet. Zu diefer Verirrung kam
dann die weitere, in den lautlihen Veränderungen ber Sprade
nur das phyſiologiſch gefegmäßige, nit aber das Hiftörifh freie
Element in Anfchlag zu bringen, fo daß man zulegt bei dem con-
ſtruierenden Umfturz unfrer zu Recht beftehenden Schriftſprache an⸗
Iangte, ber fi in ber fogenannten hiftorifhen Schreibweiſe geltend
machen wollte. Einer unfrer vorzüglichſten Sprachforſcher, 8. Wein-
hold, führte die Hei Grimm zu Teiner völligen Klarheit gebiehene
Anſicht confequent dur (1852) i), umd gab fo den Anlaß, bie
Grundlagen derjelden zu unterfuchen und ihre Unhaltbarkeit ſowohl
aus bem Wefen ber fpradlichen Ueberlieferung überhaupt, als aus
der Geſchichte unfrer Schriftiprage zu erweiſen. Wir birfen ung
bier in die Einzelnheiten dieſes Streites nit näher einlaffen und
begnügen ung, einige der bedeutenderen auf ihn bezüglichen Schrif-
ten und Abhandlungen in der Anmerkung 2) anzuführen.
1) Weinhold ſelbſt ift übrigens fpäter von feiner damaligen Anſicht
qurüdgefommen. &. die Verhandlungen der fünfundzwanzigsten Ver-
sammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Halle 1867,
Leipzig 1868, 8. 135. — 2) Wir nennen hier bie Schriften und Abs
Handlungen von ©. Michaelis (1854 fg.), G. Anbreien (1855 fg.), F. ©.
deldbauſch (1856), 2. Ruprecht (1854 fg), K. 9. J. Hoffmann (1855 fg.),
Gottl. Stier (1856 fg), K. Klaunig (1857), W. Sqherer (1866), 8. J.
Söärder (1868 fg.), Jul. Zacher (1861 fg.), H- Rrak (1858 fg.), H. B. Rum-
pelt (1869), Franz Linnig (1869), W. Wilmanns (1869), A. Egger (1869),
Ich mußte mi bei meinen Angaben nothwenbig befcränfen und verweiſe
deshalb auf die zufegt angeführten Abhandlungen von W. Wilmanns in ber
Berliner Zeitfehr. für das Gymnaſialweſen XXIII, 1, und von A. Egger in der
Zeitſcht. für bie öfter. Gymn. 1869, IX u. X. Natürlich babe ih nur
folge Schriften angeführt, welche die orthographifche Frage zum Gegenftand
ihrer Erörterung machen, nicht aber die Anleitungen zur deutſchen Orthograppie,
wie bie von ©. H. Högg, Ferd. Scholl, Lor. Englmann, M. U. Beder,
gar
714 Biertes Bud. Siebentes Kapitel,
Für bie Geransgabe meufogbeuticer Terte find vortrefflice
Leiftungen zu verzeichnen, fo ungemein viel auch andrerjeits noch
zu thun übrig bleibt. Wir Beginnen mit der Lieberbichtung, welde
ben Ausgang des Mittelalters und ben Beginn der neueren Zeit
miteinander verknüpft. Für das weltliche Volkslied find Hier (neben
Upland) 1) vor alfen Hervorzuheben „Die hiſtoriſchen Vollslieder
ber Deutigen vom 13. bis 16. Jahrh. gefammelt und erläutert
von R. v. Liliencron“ (1865—69). Unter den Anderen, bie
ſich um das Voltslied verbient gemacht haben, nennen wir F. Leon.
von Soltau (1836), R. Hildebrand (1856), Ph. Mar Körner
‚ (1840), 2, Erk (1856), F. 8. Mittler (1855), ©. Scherer (1854 fg.),
Em. Weller (Lieder des 30jähr. Krieg 1855), Jul. Opel und Abf.
Cohn (dev breißigjäßr. Krieg, 1862), U. F. €. Vilmar (1867),
N". Goebele und Jul. Tittmann (1867) 2), und als Herausgeber
älterer Liederbücher K. Haltaus (Häpferin 1840), Jof. Bergmann
(Ambrafer Liederbuch 1845), Oskar Schade (Bergreien 1854). Wie
zeitlich, fo ſcheiden ſich auch räumlich die Volkslieder in verſchiedene
Gruppen, und bier berüßrt fi ihre Sammlung öfters mit der
mundartligen Forſchung, obwohl der größte Theil der Vollslieder
fi der deutſchen Gemeinſprache bedient 3). Wie Hoffmann von
Fallersleben bie ſchleſiſchen, ſo ſammelte Franz W. von Ditfurth
franliſche (1855), E. Meier ſchwäbiſche (1855), Ed. Fiedler anhalt-
deſſauiſche (1847), Frang Tſchiſchta und Jul. Mag Schottth (1844),
Ant. von Spaun (1845) öſtreichiſche Volkslieder u. f. f. . Eine
befondere Gattung bes Voltsliebs bildet das Kinderlied. Wir füh-
ven bier vor allen an €. L. Rochholz alemanniſches Kinberlied
und Kinderfpiel (1857), dann €. Maier's deutſche Kinberreime
(A851) u. 4.
2) S. 0. S. 577 fg. Bgl. auch Hoffmann von Fallersleben
S. 589 fg. — 2) Der Zeit vor 1840 gehören an die Gamlunges
von D. 2. B. Wolff (1830), F. K. von Erlach (1834 fg), A. Kregfhmer,
Maßwann und Zuccalmaglio (1838 fg.), 2. Ext und W. Irmer (1838). —
3) Bol. Schleſiſche Voltelieder, her. von Hoffuann von Fallerslehen, ©. IV.
— 4) Son 1817 hatte Joſ. ©. Meinert Volkeliedet in bes Mundart bes
Kuhländihens (im oberen Obertgaf) herausgegeben. ö
Der dortbau ber germ. Philologie in ben meuften Jahrzehnden. 715
Für das geiftli—he Lied ift ein mufterhaft grundlegendes Wert
„Das deutſche Kirchenlied von der älteften Zeit bis zu Anfang des
17. Jahrhunderts von Philipp Wadernagel (1864 fg.), eine
Lebensarbeit, die der Verfaſſer feinem Heineren Werl vom 3.1841
folgen ließ. Katholiſche Kircenlieder gab gefammelt heraus of.
Kehrein (1859 fg.).— Mit dem geiftlihen Lied in naher Beziehung
ſteht das geiſtliche Schaufpiel. Wir erwähnen Hier die Weihnadt-
fpiele, die 8. Weinhold (1858), K. J. Schröer (1858) heraus⸗
gegeben Haben, und das von P. Gall Morel (1863) veröffentlichte
Spiel von ©. Meinrab?).
Bon einer anderen Seite fteht mit dem Vollslied das Sprid-
wort in Verwandtſchaft. Die Unterfuhung besfelben greift einer-
feits tief in die früheren Perioden unferer Sprache und Literatur
zurück, andrerſeits verzweigt fie fi in die mundartliche Forſchung.
In erfterer Beziehung erinnern wir an W. Grimm’s Ausgabe
bes Freidank und erwähnen zugleih Jgn. Zingerles Schrift
über die deutſchen Sprißmörter im Mittelalter (1864). In leg
terer verweilen wir auf unferen fpäteren Abfchnitt über die Er-
forſchung der Mundarten, indem ein großer Theil der dort auf
geführten Schriften auch munbartlihe Sprichwörter mitzutheilen
pflegt. Wir wollen hier nur beifpielsweife G. Schambach's platt-
deutſche Sprichwörter der Fürſtenthümer Göttingen und Gruben-
Hagen (1851. 1868) und H. Friſchbier's preußiihe Sprichwörter
(1865) anführen. Sammlungen, die fih über den ganzen deutſchen
Sprihmwörterigag verbreiten, unternahmen W. Körte (1837), Sof.
Eifelein (1840), 8. Simrod, 8. F. W. Wander (1836. 1867),
Zur Erforſchung der älteren deuten Sprihmwörterfammlungen
lieferten (neben Hoffmann von Fallersleben) Beiträge Jul. Zacher,
3. Latendorf, J. Frand u. A. Die bibliſchen Sprichwörter der
deutſchen Sprache behandelte (1860) K. Schulze, die beutichen
Rechtsſprichwörter J. H. Hillebrand (1858), Ed. Graf und Ma-
thias Dietherr (1864). An das Sprichwort fließt fih an bie
1) gl. o. S. 672 u. S. 709. Die Grängen ber Älteren und neueren Zeit
laufen Hier oft ſehr in einander.
716 Viertes Yud. Siebentes Kapitel
ſprichwörtliche Redensart, wie fie viele Sprihwörterfammlungen
mitbehandeln 1). Dem Sprichwort verwandt find die zum de
meingut geworbenen Ausſprüche befannter Urheber, wie fie G. Büd-
mann in feiner Schrift „Geflügelte Worte, der Citatenſchatz des
deutſchen Volkes“ (1864 fg.) zufammenftellt.
Eine eigenthümliche Stellung nimmt das Meifterlied ein.
Unfre Kenntnis besfelben vermehrten K. Bartſch (Kolmarer Hand-
ſchrift 1862), Adelb. von Keller (Spangenberg 1861), Ign. Zins
gerle, Adf. Holgmann u. U.
Unter den Ausgaben neuhochdeutſcher Schriftfteller fallen na-
türlich nur ſolche in unferen Bereich, an denen fih die philolo-
giſche Behandlungsweife bethätigt hat. Dahin gehören aus ber
Literatur des 16. Jahrhunderts bie von H. E. Bindſeil kriitiſch
bearbeitete Ausgabe von Luthers Bibelüberfegung (1850) und
8. Frommann's auf den gründliäften Studien ruhende Bolls
ausgabe besjelben Buches (1867 fg). Unter ben Schriften über
Luther's Sprache Heben wir hervor nächſt ben einzelnen Mittheil-
ungen Frommann's (1862) das Wörterbuch zu Luther's Schriften
von Ph. Dietz (1870), und bie Schrift von E. Opig über die
Sprade Luthers (1869) 9. Demnächſt nennen wir E Bödings
teefflihe Ausgabe von Hutten’s Werten (1859 fg.). Außerdem
machten ſich um bie Literatur des 16. und beginnenden 17. Jahr⸗
haunderts verdient K. Goedele (Gengenbach 1856, Hans Sachs
1870), Heinr. Kurz (Murner 1848, Waldis 1862, Widram 1865,
Fiſchart 1866 u. A.), Ost. Schade (Sativen und Pasquille 1856 fg.),
H- M. Rottinger (Ruff 1847 fg), K. Haltaus (Teuerdant 1836),
1) Die fliegende Gränze zwiſchen beiden erkennt man in Ebmumb Hi
fers „Wie bas Volt ſpricht— (1855 fg.). An die ſprichwörtlichen Redensarten
grängen dann wieber gewiſſe ftehenbe Ausbrudsweifen wie fie z. B. D. von
Reinsberg-Düringsfelb unb C. von Wurzbach gefammelt haben. — 2) Eine
den philologiſchen Forderungen entſprechende Ausgabe von Luthers Werken
Befigen wir noch nicht. Die Erlanger Ausgabe (1826 fg.) Hat fid im weile:
ten Verlauf immer mehr verbeffert. Insbeſondere unterſcheidet ſich die don
€. 2. Enders bejorgte zweite Ausgabe ber erfien Abtgeilung (1862 fg.) zu
iprem Vortheil von ber erfien.
Der dortbau ber germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 717
Herm. Palm (Rebhun 1859), Herm. Oeſterley (Schimpf und
Ernft 1866. Wendunmuth 1869), Dav. Strauß (Frifhlin 1857),
Adelb. v. Keller (Anabis 1857. Ayrer 1865). 2. Holland (Heinr.
Jul. von Braunſchweig 1855), J. M. Lappenberg (Murner's
Ulenfpiegel 1854), Reinhold Kühler (Hans Sachs 1858), U. F. C.
Bilmar (Fiſchart 1846. 65), ©. v. Below und Jul. Zacher (Fiſchart
1849), Emil Weller (Fiſchart 1854), Aug. Kühne (Fauſtbuch 1868),
Jul. Tittmann (Schaufpiele 1868), W. Hopf (Hans Sachs 1856)
u. A. Schließlich wollen wir hier noch des Buchhändler J. Scheible
gebenten, deſſen zahlreiche Veröffentlichungen (Fauſtbücher, Fiſchart,
Fliegende Blätter u. ſ. w.) zwar den Anforderungen der Wiſſen⸗
ſchaft nicht genügen, aber doch ſo manches ſeltene Buch vorläufig
wieder zugãnglich machten.
Als Herausgeber von Werken des 17. und beginnenden 18.
Jahrh. nennen wir J. DM. Lappenberg (Fleming 1863 fg.), Adelb.
v. Keller (Simpliciſſimus 1854 fg.), Herm. Palm (Gryphius,
Dornroſe 1855), Heinr. Kurz (Simpliciſſimus 1862 fg), ©. €.
Guhrauer (Leibniz deutſche Schriften 1838), Reinhold Köhler
(Kunft über alle Künfte 1864), €. ©. ©. Langbeder (Paul Ger-
hardt 1841), Phil. Wadernagel (Paul Gerhardt 1855. oh. Heer-
mann 1856), J. F. Bachmann (Paul Gerhardt 1866). Der Iek-
ten großen Periobe unferer Literatur im 18. und 19. Jahrh. ift
erft feit Lachmann's Leffing (1838) eine ſtreng philologiſche
Behandlung zu Theil geworden. Eine mufterhafte Arbeit der Art
ift die von Karl Goedeke im Verein mit A. Elliſſen, R. Köh—
ler, W. Müldener, H. Oefterley, H. Sauppe und W. Vollmer
unternommene biftorifch »Tritiihe Ausgabe von Schillers Werken
(1867 fg.). Sehr verdienftlige Beiträge zur Kritik des Schiller'-
fen Textes Hatte (1855 fg.) Joachim Meyer 1) geliefert. Für
Goethe's Tert gibt es einige fehr gute Ginzelarbeiten, fo bie
über Kritit und Geſchichte des Goetheichen Tertes von Mic. Ber-
nays (1866) und Herm. Sauppe'3 Goethiana (1870). Bon Lad
1) Geb. zu Nürnberg 1808, ſtud. 1820 bis 1824 zu Erlangen Tpeofogie
unb Philologie, von 1824 bie 1859 Lehrer am Cymnaflum zu Rürnberg,
gef. bafelöft am 28. Jan. 1865.
718 Viertes Bud. Siebentes Kapitel.
mann's Leffing beſorgte (1853 fg.) W. v. Maltzahr eine neue ber
veidjerte Ausgabe. Unter ben übrigen kritiſch-philologiſchen Tert⸗
behandlumgen führen wir noch an Ed. Böding’s Ausgabe von
A. W. von Schlegel's Werken (1846 fg.), Reinhold Köhler's Les
arten zu H. von Kleiſt (1862), und Karl Halm's Ausgabe von
Hölty’s Gedichten (1869).
Die germanifgen Eigennamen.
Wir haben gefehen, wie bie deutſchen Eigennamen glei von
den erften Anfängen unfrer Wifjenfhaft an das Intereſſe der
Menſchen auf fi gezogen haben. Aber ebenfo zeigte fi), daß es
ein Irrthum war, wenn man glaubte, in dies dunkle und ſchwierige
Gebiet eindringen zu können, ohne vorher fefte Grundlagen für
die gefammte germanifhe Sprachforſchung gelegt zu haben. Dieſer
Irrthum hat fi bis in die neuere Zeit fortgepflanzt und findet
ſich ſelbſt Heute noch bisweilen hei kenntnißloſen Dilettanten. Eine
neue Epoche begründet auch in biefer Beziehung das Erfcheinen
von Grimm’s Grammatil. Außer J. Grimm ſelbſt machte fih
unter dem älteren Geſchlecht namentih W. Wadernagel
(1837 fg.) um die Erforſchung der germanifhen Eigennamen ver-
dient. Zur Erflärung der altgermaniihen Völfernamen lieferte
Kaſp. Zeuß (1837 fg.) trefflie Beiträge. Worauf e8 nad) gründ-
licher grammatiih- und lerikaliſch- hiſtoriſcher Durchforſchung
des ganzen germaniſchen Sprachgebiets vor allem ankam, war die
Sammlung der Eigennamen in ihren älteſten ums zugänglichen
Formen aus den Quellen. Die Berliner Alademie der Wiffen-
ſchaften ftellte deshalb, auf J. Grimm's Anregung, im J. 1846
die Preisaufgabe, die 5i8 zum J. 1100 vorkommenden germa-
niſchen Eigennamen zu fammeln, jedoch mit Ausihluß ber angel
ſächſiſchen und altnordiſchen. E. Förſtemann, ber feine Thä-
tigfeit ſchon feit längerer Zeit dem Studium der Eigennamen ger
wibmet Hatte, bewarb ſich um diefen Preis, und aus der von ihm
eingereichten und von ber Akademie belobten Arbeit erwuchs dann
(1856. 1859) fein Altdeutſches Namenbud;, deſſen erſter Band die
Perfonennamen und beffen zweiter die Ortsnamen in dem vom
ber Berliner Akademie verlangten Umfang, jedoch mit einigen
Der Fortbau der germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 719
erweiternden Zugaben enthält. Cine vorzügliche Behandlung erfuß-
ren (1866. 1868) die Kofenamen der Germanen buch Franz
Stark. Zunächſt erwähnen wir dann noch K. Müllenhoff's
ſcharfe Bemerkungen über germaniſche Eigennamen. Außerdem
haben Beiträge zur Erforſchung der germanifcen Eigennamen ge
Hefert Mor. Heyne (altnieverd. Eigennamen 1867), W. Erecelins
(altſächſ. und altfrief. Eigennamen 1864), XTheod. v. Raraian
(1852) u. 9.2); zu ben Ortsnamen F. 2. ©. Weigand (Ober⸗
heſſen 1852), Paul. Caffel (Thüringen 1854 fg.), J. Petters
(Deuti Böhmen 1868), U. Gatſchet (Schweiz 1865 fg.), Joſ.
Bender (1846), K. Roth (1850 fg.), Adolf Bacmeifter (1867)
u. A.; zu ben deutſchen Familiennamen Hoffmann von Fallers⸗
leben (1843 9.), A. F. C. Vilmar (1855 fg.), K. G. Andreſen (1862),
L. Ruprecht (1864), 2. Steub (1869. 1870)2). Schließlich erwäh⸗
nen wir noch A. F. Pott's umfaſſendes Werk über die Perſonen⸗
namen (1858), inſofern es ſich auch auf die germaniſchen Eigen⸗
namen bezieht.
Die deutſche Aetrik.
Die alt» und mittelhochdeutſche Metrik gründet ſich auf die
Arbeiten Lachmann's 3). Es kam deshalb vor allem darauf an,
daß die Anfichten Lachmann's in weiteren Kreifen belannt wurden.
Dies geſchah einerfeits, indem Mag Rieger (1858) +) und Oster
Schade (1854) 9) bie bereits gebrudten, aber in verſchiedenen
Werten zerftreuten Beobachtungen Lachmann's überſichtlich zuſam⸗
1) Auch einige populäre, für ein größeres Publicum beftimmte Schriften
über die Eigennamen haben bie Ergebnifje ber Wiſſenſchaft in verdienſtlicher
Weiſe verwertet. So Dtto Abel, bie beutj hen Perjonen-Ramen (1853);
G. Michaelis, Wörter. ber gebräuchlichſten Taufnamen (1856) u. A. —
2) Was 2. Steub als geifivoller Schriftſteller für unfre Wiſſenſchaft geleiftet
hat, bürfen wir Hier nur andeuten. Männer von Geift und Wiſſen, wie
Steub, Freytag, Riehl, Bacmeifter, bilden ein wichtiges Bindeglied zwiſchen
der Literatur und der Wiffenfhaft. — 3) ©. o. ©. 5479. — 4) In ®.
von Plönnies Ausg. ber Kubrun, Leipz. 1853, ©.242—303. — 5) Wei-
mar. Jahrb. für deutsche Sprache von Hoffmann v. Fallersleben und
Osk. Schade I. (Hannover 1854) 8. 1—57.
720 Viertes Bud. Siehentes Kapitel
menftellten, andrerſeits durch die Veröffentlichung eines Lahmann-
fen Manuftripts über altdeutſche Metrik in Pfeiffers Germania
(1857) 1). Auch die Darftellungen der mittelhochdeutſchen Metrit
von F. Zarnde (1856) 2) und Franz Pfeiffer (1864) °) ſchließen
ſich in den Hauptſachen an Lachmann an, indem fie zugleich defien
Lehre weiter zu bilden ſuchen. Zur althochdeutſchen Metrik lieferte
einen Beitrag Rich. Hügel's Abhandlung über Otfrid's Bers-
Betonung (1869). Zu neuen Beobachtungen auf dem Gebiet der
mittelhochdeutſchen Metrik gab insbefondere die Herausgabe mittel-
hochdeutſcher Dichtungen Anlaß. — m die ältefte Metrik ber
indogermaniſchen Völker ſucht R. Weftphal („Bur vergleichenden
Metrik der indogermaniſchen Völker“ 1860) 4) einzubringen. Den
faturnifhen Vers und die altdeutſche Langzeile unterſucht (1867)
K. Bartſch. Beiträge zur alliterierenden germanifhen Metrik lie⸗
ferten Franz Dietrih u. 4. — Die neuhochdeutſche Metrit hat
zahlreiche Behandlungen erfahren, ohne doc bis jegt zu einer all-
gemein anerkannten wiſſenſchaftlichen Grundlage zu gelangen. Un-
ter den antififierenden Darftellungen nennen wir das Lehrbuch ber
deutſchen Verskunſt von Joh. Mindwig (1848 fg.). Worauf es
vor allem ankam, war die Unterfuhung bes wirflih vorhandenen
neuhochdeutſchen Versbaus und feiner geſchichtlichen Entftehung.
Werthvolle Beiträge hiezu lieferten DO. F. Gruppe (1858 fg.) 9)
und Ernſt Höpfner (1866) 6). Zur genauen inductiven Untere
fugung “des Versbaus umfrer größten Dichter macht F. Zarnde's
1) Germania, her. von Pfeiffer 1857, 8. 105—108. — 2) Das
Nibelungenlied her. v, F. Zarncke, Leipz. 1856, Einl. 8, XLI fg. —
3) Walther von der Vogelweide, her. v. Franz Pfeiffer, Leipz. 1864,
8. XXXVI fg. — 4) In Kuhn's Zeitschr. IX. (1860) 8. 437 fg. —
5) Deutſche Ueberſeherkunſt. Mit befonberer Rückſicht auf bie Nacbilbuig
antiler Maaße, nebft einer hiſtoriſch begründelen Lehre von deutſcher Silben:
meffung. Hann. 1859. 2. Ausg. 1866. — 6) Reformbestrebungen auf
dem Gebiete der deutschen Dichtung des XVI. und XVII. Jahrh.,
Berlin 1866, Göpfner weit insbeſondere auch mad), wie unter den deut:
ſchen Grammatifern des 16. Jahrh. Laurentius Albertus unb weit mehr
noch Johannes Cajus bie Lehre bes Martin Opig vorweggenommen haben.
Der dortbau ber germ. Philologie in den neuften Jahrzehnden. 721
Schrift „über den fünffüßigen Jambus "mit befonderer Rüdficht
auf feine Behandlung durch Leffing, Schiller und Goethe" (1865)
einen trefflihen Anfang. Auch Rudolf Weftphal’s „Theorie der
neuhochdeutſchen Metrik“ (1870) gründet ſich, bei einbringender
Kenntniß der griechiſchen Metrit, auf die Erforſchung bes eigent-
lich deutſchen Versbaues, wie er fi vor allen bei Goethe und
Schiller findet. Einen Verſuch, die deutſche Verskunft ſyſtematiſch
und geſchichtlich darzuftellen, madte (1861) J. Imm. Schneider.
„Die deutſche Verskunft nad) ihrer geſchichtlichen Entwidelung“ der
arbeitete mit Benugung von A. F. €. Vilmar's Nahla €. W. M.
Grein (1870).
Die Erforſchung der deutſchen Yolksmandarten.
Wir haben früher das Intereſſe für die Vollsmundarten
Schritt Halten fehen mit der Ausbildung und Feſtſetzung ber deut⸗
ſchen Schriftſprache i)Y. Dieſelbe Erſcheinung ſetzt fi fort im
19. Jahrhundert. Auf die großartige Entfaltung unſrer Literatur
am Ende des 18. und im Beginn bes 19. Jahrh. folgen neben
der Fortbildung ber ſchriftſprachlichen Dichtung unzählige Verſuche,
die Vollsmundart in die Literatur einzuführen. Darunter einige,
wie Hebel's allemanniſche Gedichte und Fritz Reuter's plattdeutſche
Erzählungen, von folder Vortrefflichleit, daß man an ben alte
griechiſchen Gebrauch beftimmter Mundarten für gewilje Zweige
der Dichtung denken könnte, wenn nicht unſre mundartliche Dicht⸗
ung der alten Wurzeln, aus denen die griechiſche erwuchs, ent⸗
behrte, und wenn nicht ihre Vertreter durchweg ſchriftſprachlich
gebildete Männer wären ?). Wie die literariſche Verwendung, fo
gewinnt bie wiſſenſchaftliche Erforſchung der Vollsmundarten in
unfrem Jahrhundert einen Umfang und eine Tiefe, wie nie zuvor.
Als das Mufter diefer mundartligen Forſchung Haben wir Shmel-
ler kennen Iernen®). An Schmeller’s Vorgang fliegt fih an,
was die neuere Zeit auf dem Felde ber wiſſenſchaftlichen Erforſch⸗
1) S. 0. ©. 242 fg. — 2) Am erfien könnte man noch an Theofrit
und ähnliche Dichter des aleranbrinif—hen Zeitaltere denfen, und doch wide
aud hier bie Vergleichung nur fehr theilweife zutreffen. — 3) ©. o. &.555fg.
Raumer, Geld. der germ. Phllelogle, 46
122 VBierted Buch. Siebentes Kapitel.
ang ber deutſchen Vollsmundarten geleiftet hat. Bor allen find
hier zwei Gelehrte zu nermen: &. Karl Srommann!) und
Karl Weinhold. Der erftere machte ſich vorzüglich verdient
durch feine Zeitſchrift: „Die deutſchen Mundarten“ (1854—1859),
worin er die Forſcher und Freunde dieſes Gebiets unter trefflicher
Leitung vereinigte 2), und duch feine neue Ausgabe von Schmel-
ler's Bayeriſchem Wörterbuch (1869 fg.). Karl Weinhold?)
legte die Grunbfäge feiner mundartlichen Forſchung zuerſt (1868)
dar in ſeiner Schrift „Ueber deutſche Dialectforſchung. Die Laut⸗
und Wortbildung und die Formen der ſchleſiſchen Mundart“, wel-
cher er (1855) „Beiträge zu einem fölefifhen Wörterbuch“ und
(1863) feine „Grammatik der deutſchen Mundarten“ folgen ließ.
Der erfte ber beider bis jetzt erfchienenen Theile diefes grund-
legenden Werts umfaßt das alemanniſche (1868), der zweite (1867)
das bayriſche Gebiet. Was bie neuere mundartliche Forſchung
(ſeit Schmeller's Auftreten) vor ber früheren auszeichnet, ift die
wiſſenſchaftliche Verknüpfung des Mundartlichen mit der geihiät
lichen Gntwidelung ber deutſchen Sprache. Für diefe Art ber
Forſchung find deshalb Unterſuchungen über den früheren Zuftand
ber deutſchen Dialekte, wie fie namentlich Franz Pfeiffer ge
pflegt hat, von befonderem Werth. Unter dem neueren dahin ein⸗
ſchlagenden Arbeiten nennen wir als Beiſpiel Heinrich Rückert's
1) Geb. 1814 zu Koburg, ſtud. 1835 fg. zu Heidelberg und Göttingen
Philologie, bereift 1840 —42 Deutfchland, Italien und die Schweiz zu wil:
ſenſchaſtlichen Sweden, wird 1853 Wibfiothefar, 1865 jiweiter Borland de
Germanifgen Mufeumd zu Nürnberg. — 2) Gegründet wurde biefe Zeit:
ſchrift durch Joh. Anſelm Pangtofer, aber ſchon nad) Erfceinen bes erften
Doppeieftes flach biefer (1854), und nun übernahm Frommann die Zeit:
fgrift und gab ihr durch feine treffliche Leitung und feine fortlaufenden Zu
gaben bie hervorragende wiſſenſchaftliche Bedeutung. (Wgl. die deutſchen
Mundarten. Erf. Jahrg. S. 99 fg. u. ©. 93fg.). — 3) Geb. 1823 zu
Reichenbach in Schleſien, Hub. 1842 —46 zu Breslau und Berlin Philo—
logie, Habilitiert fi) 1847 in Halle für deutſche Sprache u. Lit., wird 1849
anßerord. Prof. in Berlin, 1850 ord. Prof. in Krafau, 1851 in Graz, 1861
in Riel (Brochaus, Real-Entyft. (11) XV, 358).
Der Fortbau der germ. Philologie in ben meuften Jahrzehnden. 728
eindringende Darftellung der ſchleſiſchen Mundart im, Mittelalter
(1866 fg.) ). Ebendahin gehören mande von ben Gloffaren zu
älteren deutſchen Texten, fo namentlich die ſchon früher erwähnten
zu den Chroniken der deutſchen Städte 2). Es Liegt in der Natur
ber Sache, daß ſich Hier die Forſchungen über bie älteren gefchriebenen
Sprachen und die neueren Vollsmundarten berühren. Zaft in
alten wiſſenſchaftlichen Leiftungen über Vollsmundarten ift dies ber
Fall. So in den trefflihen lexilaliſchen Arbeiten von A. F. C
Vilmar über die kurheſſiſchen (1868) und von Matthias
Lerer über die kärntiſchen Mundarten (1862). Bor allem kann
die wiſſenſchaftliche Darftellung ber mundartlichen Grammatik
des Zurückgehens auf die ältere, ſchriftlich überlieferte Sprache
nicht entbehren. Wie in Weinhold’s umfafjendem Werk, fo ſehen
mir daher au in den wahrhaft wiſſenſchaftlichen Arbeiten über
die Grammatik einzelner Mundarten diefen Weg eingefchlagen.
So in R. Nerger's Grammatit des mellenburgiſchen Dialeftes
(1869). — Neben der wilfenfhaftlihen Erforſchung der Mund»
arten fett ſich auch in neuerer Zeit die bloße Aufzeichnung mund⸗
artliher Proben mit Hinzufügung populärer GErflärungen fort.
Ein umfangreiches und als Stoffjammlung danfenswerthes Unter»
nehmen ber Art find „Germaniens Völferftimmen" von J. Mat-
thias Firmenich (1843fg.). Wir dürfen hier natürlich keine
Aufzählung der überreichen mundartlichen Literatur geben, verwei-
fen vielmehr in biefer Beziehung auf die bibliographiſchen Zuſam⸗
menftellungen Hoffmann’s von Fallersleben (1836) 3) und Paul
Trömel's (1854) *), fowie auf deren Fortfegungen von Frommann d),
Joſ. Mar. Wagner 6), Bari) u. A. e). Wir erwähnen nur
1) Zeitſcht. des Vereins für Geſch. Schleſiens Bd. VII fg. Vgl. auch
H. Rüdert in der Zeitschr. f. deutsche Philol. I. (1869), 199 fg. —
2) ©. o. 6.694. 711. — 3) Die deutsche Philol., 1836, 8. 171 fg. —
4) Anzeiger für Bibliographie — her. von Jul. Petzholdt, Jahrg.
1854. — 5) In Frommann’s Deutschen Mundarten 1854 fg. —
6) Ebend. 1859, 380 fg. — 7) In Pfeiffer's Germania Bd. VIII.
(1863) fg. — 8) Um einen Begriff von ber ausgebreitelen Thätigfeit auf
diefem Gebiet zu geben, wollen wir außer ben bereits früher erwähn-
46*
724 Biertes Bud. Siebentes Kapitel.
noch die Verſuche, die Verbreitung der deutſchen Mundarten char⸗
tographiſch darzuftellen von K. Bernhardi (1844), W. Strider
ten wenigfiens noch einige ber Männer nambaft machen, bie unfre Kennt:
niß deulſcher Munbarten vermehrt haben. Um bie nieberbeutigen Munbarten
machten fid) verdient G. Schambach (Göttingen und Grubenfagen 1858),
X. Miltenoff (Holfein 1854), I. Fr. Danneil (Altmark 1859); für Mel
lenbutg I. Muffäus (1829), 3. ©. C. Ritter (1892), Zul. Wiggers (1856.
1858), R. Schiller (1862 fg.); ferner Ed. Krüger (Emden 1848), Alb. H
fer (Pommern), J. U. Lehmann (Provinz Preußen), 3. Woefte (Weftfalen),
3. ©. Honcamp (Meftfalen), Joh. Müller (Hildespeim 1855), Tiling und A
Gremifgenieberfähf. Wörterb., VI. Theil 1868 fg.); um das Nieberrei:
niſche Joh. Müller und W. Weib (Hagen 1836. 38), 3. Gerling (Kiene
1843). Fur die friefifgen Mundarten waren thätig Eirt. H. Stürenburg
(Offrief. 1857), Enno Heltor (Dfifrief.), Chriſt. Johauſen (Nordfrief. 1862).
Beiträge zur Kenntniß ber ſchwäbiſchen und alemannifchen Mundarten Tiefer:
ten 3. Chph. Schmidt (Shwäb. 1831), Abelb. von Keller (Schwäb. 1855),
Mor. Rapp (Sqhwab. 1855), Ant. Virlinger, (Augsburg 1862 fg., Alemann.
1868), Aug. Stöber (Eiſaß), Vonbun (Borariberg), Alb. Schott (Monte Rofa
1840. 42). Insbeſondere find hier noch hervorzuheben bie WVerbienfte der
Schweizer um bie Erforſchung ihrer Mumbarten. Wir erwähnen vor allen
Til, Tobler (Appenzell 1837), dann Z. Zyro (Bern) 3. €. Möritofer (1864),
2. Tobler (Saanen) u. 9. Eine Über das ganze Land verbreitete Geſellſchafi
fammelt bort ſyſtematiſch für die Darftellung ber Munbarten und hat (durch
Fritz Staub) eine anziehende Probe ihrer Thätigfeit gegeben in ber Echrift:
Das Brot im Spiegel ſchweigerdeutſcher Volteſprache und Gitte (1868). Im
Mebrigen verweiſen wir auf den „Necdenfchaftsbericht des Schweizeriſchen Idio—
titons an bie Mitarbeiter abgeftattet von der Gentral:Commilfion im Herbſi
1868.° Sie die Bayerifh-öftreihijdren Mundarten waren tätig 3.8. Chäpf
und Ant, 3. Hofer (Tirol 1862— 66), K. Loria (Wien 1847), Ign. u.
Caſtelli (nieberöfit. 1847), Hugo Mareta (öftt. 1861 fg), Ign. Petiers
(Deuti Böhmen), 3. dv. Schönwerth (Oberpfalz 1869). Beiträge zur Kennt:
miß der Munderten des mittleren Deutfeplands lieferten R. Regel (Rufla
1868), G. Brüdner (Henneberg 1843), F. Sterhing (Henneberg), U. Sqhlei—
ger (Sonneberg 1858), ©. K. Frommann (Nürnberg 1857), P. Klein (uw
semburg 1855), Gangeler (Zuremburg), X. Gottl. Anton (Laufig 1825 —
89), Goull. Stier (Sachſ. Kurkreis 1862), I. B. Sartorius (Würzburg 1862),
Iof. Kehrein (Mafjau 1862), Schwalb (Saar 1833 fg.), I. Wegeler (Coblen
1869), . Wulder (zum Heſſ. u. Tpüring. 1868). — Die Mundarten ber
Der dortibau der germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 725
(1849), Berghaus (1847 fg.) umb Kiepert (1848 fg.) umb Nic.
Böcdh's treffliche Unterfuhungen über „der Deutſchen Vollszahl
und Sprachgebiet in ben europäiſchen Staaten“ (1869).
Die dentfhe Aythologie.
Wir haben gefehen, wie buch Grimm's deutſche Mythologie
dieje Wiſſenſchaft eigentlich erft gefhaffen wurde, und wie bann
Simrock auf der Grundlage von Grimm's Forſchungen die deutſche
Mythologie in Verbindung mit der nordiſchen barftellte. Durch
Grimm's Schriften wurde eine ausgebreitete Thätiglelt auf dem
Gebiet der germanifhen Mythologie hervorgerufen, indem man
einerfeitS der Mythologie felbft erneute Unterfuhungen widmete,
andrerfeit8 die Sagen und Märden des deutſchen Volkes fammelte.
— Bon unberehenbarem Einfluß auf bie Erforſchung der germa-
niſchen Mythologie war der wichtigſte Fortſchritt, den die indiſche
Philologie im legten Menfchenalter gemaht hat. Während dieſe
ſich früherhin faft nur mit den epiſchen ober noch jüngeren Dich
tungen beſchäftigte, wandte fie nun ihre Thätigleit ber Herausgabe
und Unterfuhung der Vedas zu. Durh Mar Müller, Albrecht
Weber, Theod. Aufrecht, Theod. Benfey, A. Roth u. A. wurde ein
großer Theil jener urfprünglichften Religionsurkunden des indiſchen
Volles veröffentlicht. In ihnen lagen nun die älteften Schöpfungen
des indogermanifchen Geiftes vor, und wenn fie au zunädft nur
dem indiſchen Volle angehören, fo ftehen fie doch ber Urzeit des
noch vereinigten indogermanifchen Stammes bebeutend näher, als
die Aufzeichnungen irgend eines anderen Volles 1). Auf fie geftügt
Deutſchen in Ungarn behandelte K. F. Schröer (1858 fg.); die ber fiebens
bürgifpen I. 2. Schuller (1840 fg), Joſ. Haltrih, J. Mäg, die ber Sette
Commune (außer Schmeller) ; Joſ. Bergmann (1848 fg.); bie ber Gottſcheewer,
R. 3. Schröer (1868); die ber Luſerner Ign. Zingerle (1869); das Deutjäe
im Großherzogthum Poſen Theobor Bernd (1820); das Deutſche in Livland
DB. von Gutzeit (1864). — 1) Welde Bebeutung bie religidfen Schrife
ten der alten Eranier, wie fie uns durch bie Arbeiten Burnouf's, Juſtus
Olehauſen s, Spiege’s, Zof. Müllers, Weſtergaard's, Theod. Benfey's,
126 Vieries Buch. Siebentes Kapitel.
Tonnte man daher den Berjud einer vergleihenden Mythologie
der indogermanifchen Völler wagen, und zwar mit günftigeren
Ausfihten, als dies früherhin von William Jones und Anderen
bei noch ganz unzureichenden Mitteln geſchehen war. Die haupt ⸗
fäglicften Vertreter diefer Wiſſenſchaft find Adalbert Kuhn
in Berlin und Max Müller in Oxford. Nachdem der erftere
in einer Reife von Abhandlungen, bie theils in feiner eigenen,
theils in Haupt's Zeitſchrift erihienen, einzelne indogermaniſche
Mythen vergleihend beſprochen Hatte, veröffentlichte er 1859 feine
ſcharfſinnige Schrift über die Herablunft des Feuers und des
Göttertrang. Mar Mülfer legte feine geiftvolfen und aus ber
umfafjendften Kenntniß der Vedas geſchöpften Anfichten theils in
einer Reihe fpäter (1867) gefammelter Abhandlungen, theils (1864)
in ber zweiten Folge feiner Vorlefungen über die Wifjenfchaft der
Sprade nieder.
Eine ausgebreitete und fehr verdienſtliche Thätigfeit wandte
fi dem Sammeln der Sagen und Märden des Volles zu. Nah
dem Vorbild der Brüder Grimm ſuchte man, mit möglichfter Treue
und mit Ausfhluß jeder eigenmädhtigen Zuthat in den verſchiedenen
Gegenden Deutſchlands zu ſammeln, was fih an Sagen, Märden
und alten Gebräuden unter dem Volke erhalten Hat. Man konnte
aber babei, je nad) ber Abſicht des Sammlers, einen doppelten Zwed
im Auge haben, erftens nämlich den, durch diefe einfache und echte
Poeſie alle die zu erfreuen, die fi den Sinn dafür bewahrt haben,
und zweitens den, Material für die mythologiige Forſchung zu
bieten. Wird nur das erfte Erforderniß: Treue der Wiedergabe,
gewahrt, jo werben fi zwar beide Abfichten immer in die Hände
arbeiten. ber doch wird es nicht gleichgültig fein, von welcher
Anſchauung mar ausgeht. ALS ein Mufter der Gattung, welde
im Geift der Brüder Grimm Poeſie des Vollkes ſucht und zugleid
reichen Stoff für die Mythologie findet, nennen wir die „Sagen,
Gerd. Zuftr’s, M. Haug’s u. A. aufgeflofien worden find, mittelbar oder
unmittelbar für die Religion der Germanen haben, wird die weitere Fotſch
ung lehren.
Der Zortbau der gern. Philologie in den neuflen Jahrzehuden. 727
Märchen und Lieber der Herzogthümer Schleswig- Holftein und
Lauenburg“ von Karl Müllenhoff (1845). Dagegen gehen
Adalbert Kuhn in den „Märkiſchen Sagen und Märchen“
(1848) und in ben „Weſtfäliſchen Sagen, Gebräuden und Märchen“
(1859) und Kuhn und W. Schwarg in den „Norddeutſchen
Sagen, Märden und Gebräuchen“ (1848) vorzugsweile darauf
aus, Spuren des alten Glaubens in den Ueberlieferungen bes
Bolfes zu finden. — Um die Verbreitung und die verſchiedenen Spiel-
arten eines Bolfsglaubens kennen zu lernen, iſt die möglichſte Boll-
ftändigleit der Sammlungen von großem Werth. Einen ſehr ver
dienftlihen Berfuh der Art macht W. Mannharbt in feinem
Roggenwolf (1866) 1).
Wenn Märden und Sagen für die Erforſchung bes vorchriſt⸗
lichen Vollksglaubens verwendet werben follen, jo ift natürlich die
erfte Borfrage, ob diefelben wirklich uraltes Eigentfum bes Volles
oder ob fie nicht etwa erft in fpäterer Beit aus ber Fremde ein-
geführt find. Im letzteren Fall ift die Annahme, daß fie Reſte
der einheimiſchen Mythe feien, ſelbſtverſtändlich ausgeſchloſſen. Von
H In Bezug auf die Riteratur der deutſchen Sagen und Märdien ver:
weife ih auf Simrod's Handbuch der deutſchen Mythol. (3) Bonn 1869,
S. 8 fg. Um einen Begriff von der ausgebreiteten Thätigkeit auf diefem
Gebiet zu geben, füge ih aus Simrod zu ben ſchon oben genannten aud bie
Namen ber Übrigen Männer bei, bie fi) um bies Gebiet verbient gemacht
Haben: 3. W. Wolf (niederländ. Sagen 1843 u X.), Bernh. Baader (Baden),
3- Panzer (Bayern), K. dv. Leoprechting (Ledrain), F. Schönwerth (Ober:
platz), W. Börner (Drlagau), Reuſch (preuß. Samland), I. F. 2. Woeſte
(Graf. Mark), Herrm. Harrys (Niederfahf.), I. F. Vonbun (Vorarlberg),
Emit Sommer (Thüringen), 2. Bechſtein (Thüringen, Franken, Deftr.),
Abalb. v. Herrlein (Speffart), Ign. Zingerle (Tirol), 3. N. v. Alpenburg
(Tirol), Th. Vernalelen (Alpen. Deftr.), €. 2. Rochholz (Schweiz), 2. Eurke
Balder), I. H. SHmig (Eifel), Iof. Haltrich (Siebenbiirgen), €. Meier
¶Sqwaben), $. Müher (Siebenbürgen), Ant. Birlinger (Schtwaben), 9. Prohle
(Harz), €. Deede (übel), A. Stöber (Eifah), I. B. Grohmann (Böhmen
und Mäfren), K. Haupt (Laufig), A. Wibſchel CThüringen), A. Lutolf
(Schweiz).
7128 Vierte Bud. Siebentes Kapitel,
epochemachender Bebeutung waren in diefer Beziehung Theodor
Benfey's Unterfuhungen über die Verbreitung der indifchen Mär-
chen, die er in ben Zugaben zu feiner Ueberſetzung des Pantſcha⸗
tantra (1859) nieberlegte und in denen er nachwies, daß ein ſehr
großer Theil unfrer Märchen und Novellen erſt während des Mit
telalter8 durch Uebertragung aus Indien nad Europa gelangt ift.
Seitdem ift die Frage nad dem Urfprung umb der geſchichtlichen
Verbreitung diefer Erzählungen in den Vordergrund getreten und
die größte Vorſicht bei Benugung derſelben für mythologiſche Zwede
als oberftes Gebot anerkannt worden. Doc wird babei zweierlei
nicht außer Acht zu laſſen fein. Erſtens, daß neben jenem fremd-
ländifhen Zufluß ſich die einheimiſche Sage aus uralter Zeit er-
halten Hat; und zweitens, daß zwar nit für die Mythenforfhung,
wohl aber für die Geſchichte der Poefie eine ſehr weientliche Frage
die ift, in wie welt aud jene aus ber Fremde eingeführten Er-
zaͤhlungen durch die dichtende Kraft bes deutſchen Volkes zu deut-
fen Erzeugnifen umgebildet worden find t).
Wir fehen, das Gebiet der deutſchen Mythenforſchung ift ein
nad den verſchiedenſten Seiten hin no lange nicht erfchöpftes.
Tragen von unabjehbarer Tragweite harren noch ihrer Löfung.
Uber dies hindert nicht, die fehr verdienſtlichen Leiftungen, die wir
auf dieſem Gebiet bereits befigen, gebührend anzuertennen. Wir
heben hier nur die Arbeiten von K. Weinhold, K. Müllenhoff,
W. Müller, W. Schwark, W. Mannhardt 2) hervor.
1) Hier ſchliehen ſich die Unterfugungen über bie Literatur der No—
vellen u.f.f. am die über die Märden und Sagen an. Ein Gebiet, um
deſſen Erforfhung fi die Brüder Grimm, Uhland, F. H. von der Hagen,
Valentin Schmidt, K. Simrod, Maßmann, Fel. Liebreht, Reinhold Köhler
und Andere verbient gemacht haben. — 2) Die Zahl der Männer , bie fih
auf Grimm’s Spur in ber germanifhen Mythenforſchung verſucht haben,
iR cine fehr große. Nicht wenige von ben Sammlern deutſcher Sagen
und Märden, die in einer frägeren Anmertung (6. 727) aufgeführt
worden find, Haben es zugleich auf Beiträge zur deutſchen Mythologie
abgefegen, und meben ihnen Haben fo mande Andere dies Gebiet am
Der Foribau ber germ. Philologie in ben neuften Jahrzehnden. 729
Die germanifhe Philologie in den Hiederlanden, in England und in
Ikandinavien.
Wir müffen uns hier vor allem deffen erinnern, was wir
glei am Beginn unfres Werkes gefagt haben, daß wir nämlich
nit die Geſchichte der germaniſchen Philologie bei den Nieber-
ländern, Engländern und Standinaviern ſchreiben wollen, ſondern
daß wir jene Völfer nur infofern in unferen Bereich ziehen, als
ihre Leiftungen einen wejentligen Einfluß auf die Entwidelung
unfrer Wiſſenſchaft in Deutſchland gehabt haben. Wir haben ger
fehen, in welchem Maß die deutihe Wiſſenſchaft im 17. und 18,
Jahrhundert, ja bis in den Beginn unfres Jahrhunderts hinein von
den Arbeiten der niederländiſchen, englifhen und ſtandinaviſchen
Forſcher Beftimmt worden ift. Trotz der fehr verbienftlichen Leift-
ungen unfrer Gelehrten und ihres theilweifen Einfluffes auf bie
außerdeutf hen Arbeiten Tonnten wir doch nicht verfennen, daß bald
Niederländer oder Engländer, bald Schweden oder Dänen uns in
der Erforfhung ber altgermanifhen Sprachen voraus waren. In
unferem Jahrhundert hat fi dies Verhältniß umgekehrt. Durch
J. Grimm's bahnbrechende Arbeiten iſt Deutſchland auf dem Ge
biet unfrer Wiſſenſchaft an die Spitze getreten. Nicht als wenn
die anderen Völfer nicht gleichfalls ſehr bedeutende Leiſtungen auf
zuweilen hätten. Im Gegentheil, gerabe das ift das Erfreuliche
an bem gegenwärtigen Zuftand unfrer Wiſſenſchaft, daß bie ver-
ſchiedenen germaniſchen Völker in ebelem Wetteifer an dem gemein.
famen Ausbau derſelben arbeiten. Aber fo wertvoll aud bie
Bereierungen find, die wir von den Stanbinaviern, Engländern
und Nieberländern erhalten, jo werben wir doch ohne Selbſt⸗
täuſchung fagen können, daß der Einfluß, den die deutſche Wiſſen⸗
gebaut. Wir nennen nur beifpielsweile FJ. Panzer, ©. ® Rode
holz, Hugo Wislicenus, Wolfg. Menzel, Theophil Rupp, Anton Ouike
mann.
730 Viertes Bud. Siebenles Kapitel.
ſchaft gegenwärtig auf die übrigen Völker übt, größer ift, als ber
entgegengejegte.
In ben Niederlanden erhielt die Erforſchung der alten ein-
heimiſchen Sprade und Literatur durch bie deutſche Wiſſenſchaft
einen neuen Aufſchwung. Hier, wie überall, waren e8 vor allem
J. Grimm's Arbeiten, die für die neue Forſchung die Grundlage
boten. Außer feiner Grammatik regte noch insbeſondere feine
Ausgabe des Reinaert (1834) den Eifer für die mittelnieder⸗
ländiſche Dichtung an. Neben Grimm hatten vorzüglich zwei
deutſche Gelehrte einen unmittelbaren Einfluß auf die nieder
ländifge Forſchung: Hoffmann von Fallersleben und Mone !).
In den fühlichen Niederlanden, wo die Theilnahme an der
einheimiſchen Forſchung feit lange gefhlummert Hatte, verband
ſich jet das Intereſſe an der älteren mieberländifchen Dich—
tung mit dem Kampf für die lebende vlaemiſche Boltsfprace.
Diefelden Männer, welche in Flandern und Brabant das Recht
der einheimiſchen vlaemifchen Sprache gegen die Uebergriffe des
Franzöſiſchen vertheidigten, fürberten auch die Herausgabe und das
Berftändni der alten mittelniederländifgen Dichtungen. An ihrer
Spige ftand der trefflihe J. F. Willems (} 1846), neben mel-
Gem Ph. Blommaert, €. P. Serrure, J. H. Bormans, F. 4.
Snellaert, J. David (f 1866) u. U. für die Herausgabe mittel
nieberländifcer Quellen thätig waren. — Wie in den ſüdlichen
Niederlanden, fo erwachte auch in den nördlichen ein neuer Eifer
für das Studium ber einheimifhen Sprache und Literatur, umd
zwar hier in ftreng wiſſenſchaftlicher Weife und im ausgeſprochenen
Anflug an die deutſche Forſchung 2). Bor allen ift hier zu nen
nen M. de Bries. Durch feine gelehrten Arbeiten und als
Lehrer der nieberländiihen Sprache und Literatur an der Univerfität
Leiden gründete er eine neue Epoche ber einheimiſchen Wiſſenſchaft.
Unter ben erfteren nennen wir feine Ausgabe von Jacob's van
1) Bgl. die Inleiding zu Jacob van Maerlant’s Spiegel historiael,
uitg. door M. de Vries en E. Verwijs, 8.1. — 2) Bpl. &. Marlin
in ber Zeitschr. f. deutsche Philol. 1, 158.
Der Fortbau der germ. Philologie in den neuſten Jahrzehnden. 731
Maerlant Spiegel historiael, die er (1863) in Verbindung mit
€. Verwijs bejorgte, fein mittelniederländiſches Wörterbuch
(1864 fg.) und das von ihm und 8. . te Winkel (+ 1868)
herausgegebene (neu) niederländiſche Würterbud (1864) fg. Neben
be Bries nimmt W. J. 4. Jonckbloet, namentlich auf dem
Gebiet der mittelnieberländifhen Literaturgefhichte eine hervor⸗
ragende Stelle ein. Außer ihnen könnten wir nod eine Reihe
anderer Mitarbeiter nennen, wie A. €. Oudemans, P. J.
Harrebomde, den trefflihen Sammler der niederländiſchen Sprid«
wörter, u. A. Zugleich erwähnen wir hier die fortdauernde Thätig-
teit ber Sriefen auf dem Felde ihrer Sprache und Geſchichte.
In England mad fi auf dem Gebiet der germanifchen Philologie
ein doppelter Einfluß geltend: der ſtandinaviſche und der deutſche.
Der ſtandinaviſche durch Raſt, der deutſche durch Grimm. Im
J. 1830 überſetzt Benj. Thorpe Raſk's angelſächſiſche Gram-
matik in's Engliſche, und noch im J. 1865 läßt er eine verbeſſerte
Ausgabe dieſes Werks erſcheinen. Ebenſo findet Raff’s isländiſche
Grammatik (1843) einen Ueberſetzer in G. Webbe Daſent, und
noch mehrere andere engliſche Arbeiten ſchließen ſich unmittelbar an
Raſk an. Andrerſeits iſt der bedeutendſte engliſche Forſcher auf
dieſem Gebiet, J. Mitchell Kemble (+ 1857) nicht nur ein
Verehrer, fondern aud ein perſönlicher Schüler J. Grimm’s, und
Kemble'3 Ausgaben des Beovulf (1833. 1835) find für die ger-
manifhe Philologie in England epochemachend. Jedenfalls ift es
erfrenlig, daß die don Skandinavien und von Deutſchland aus-
gegangene Anregung in Verbindung mit dem alten Trieb, fih mit
dem einheimiſchen Alterthum antiquarifh zu beihäftigen, umfrer
Wiſſenſchaft bereits reihe Früchte getragen Hat. Eine Reihe von
angelfähfiigen Denkmälern ift von J. Mitchell Kemble, Beni.
Thorpe, J. ©. Cardale und Anderen theils zum erftenmal, theils
in verbefferter Geftalt herausgegeben worden. Was die gram⸗
matiſche und lexilaliſche Bearbeitung der angelſächfiſchen Sprache
betrifft, fo können J. Bosworth's Leiftungen jetzt nicht mehr ge-
nügen. — Mit befonderem Eifer hat fi die Thätigfeit der eng-
liſchen Gelehrten den mittleren Beiträumen ihrer Sprade und
132 Viertes Buch. Siebentes Kapitel.
Literatur zugewendet, und es wären hier bie Arbeiten von J. O.
Halliwell, Thomas Wright, A. J. Ellis und Anderen zu erwäß-
nen. Eine Entwicdelungsgeſchichte der engliichen Sprache auf Grund-
Tage der neueren Forſchungen ſchrieb (1841) Rob. Gordon Latham.
— Neben der einheimifgen Sprache und Literatur Hat fi bie
engliſche Forſchung mit Vorliebe dem Skandinaviſchen zugewandt
und auf dieſem Gebiet Bebeutendes geleifte. Wir Heben hervor
die Schriften von &. Webbe Dafent, ©. Stephens und ind
befondere Rihard Cleasby's (+ 1847) umfaffende Vorarbeiten
zu einem Wörterbuch der altnordiſchen Profafprade.
Unter den Standinaviern treten in unfrer Periode neben den
Ssländern, Dänen und Schmweben die Norweger mit trefflicen
Leiftungen auf dem Gebiet unfrer Wiffenfhaft hervor. Nach ber
Lostrennung Norwegens von Dänemart (1814) entwickelt ſich dort
ein ſtarkes und edles Nationalgefühl und in deſſen Gefolge ein
Hoher Aufſchwung der einheimifhen Sprach- und Alterthums ⸗
forfhung. An der Spike ftand P. Andr. Mund (} 1863);
vereint mit ihm find Rudolf Keyfer und K. Unger thätig,
denen fi in neuerer Zeit Sophus Bugge würdig anfchliekt.
Einerfeits dur gründliche Erforſchung der nordiſchen Sprade,
Literatur und Geſchichte, andrerſeits durch vorzügliche Ausgaben
altnordiſcher Quellen ftehen diefe norwegiſchen Gelehrten unter ben
Germaniften unfrer Zeit mit in erfter Reihe. Ohne Vorurtheil
nehmen fie an, was ihnen die deutſche Forſchung, namentlich
J. Grimm bietet. Dabei aber gehen fie ihren felöftändigen Weg.
Insbeſondere bringt Mund ein helleres Licht in bie alten ſtandi⸗
naviſchen Sprachzuſtände, indem er nachweiſt, daß das f. g. Alt
nordifhe (die Sprache der Edben u. ſ. mw.) nit die gemeinfame
Stammſprache des ganzen ſtandinaviſchen Norbens, fondern nur
die Sprache der Norweger und Isländer war, während das Alt
ſchwediſche und Altdäniſche zwar jenem Altnorwegifhen nah ver
wandt, aber doch davon verſchieden war 1). — Ein fehr brands
1) Bei der nahen Verwandiſchaft ber altſtandinaviſchen Sprachen hatte
tropdem das Jslandiſche den daniſchen Spracjforfhern einen Apnlichen Dienf
Der Fortbau ber germ. Philologie in den neuften Jahrzehnden. 738
bares Wörterbuch des Altnordiſchen Lieferte oh. Fritzner. Um
die Unterfugung der wichtigen norwegiſchen Vollsmundarten machte
fih JIvar Hafen verdient 1).
Die tsländifhen Gelehrten ftehen aud in unfrer Periode,
wie von Anbeginn, in nächſter Beziehung zu den däniſchen. Kopen⸗
hagen bildet den Mittelpunkt für Beide. Man Hält Hier, ben
Fortſchritten der anderen Völker gegenüber, noch lange an Raſt
feft. Aber auf der von Raſt gelegten Grundlage entwidelt fi
eine höchſt verbienftliche Thätigfeit für Erforſchung der altnordiſchen
und älteren däniſchen Sprade und Literatur. Wir nennen hier
nur als Herausgeber altnorbifger und älterer däniſcher Quellen
die länder Zinn Magnusfon (f 1847), Yon Sigurds—
fon, Speinbjörn Egilsfon (f 1852), Konr. Gislafon
und Gudbrandr Bigfusfon, und die Dänen C. €. Rafn,
Svend Grundtvig und P. G. Thorfen. Um genaue Er-
forſchung der altnordiſchen Grammatik, namentlih der Lautlehre
machte ſich unter den ſchon genannten Konr. Gislaſon, und
neben ihm K. J. Lyngby, verdient. Epochemachend für den Sprach⸗
ſchatz der Dichter waren die Leiſtungen Sveinbjörn Egilsſon's,
für den der Proſa die Gudbrandr Vigfusſon's. Sowohl bie
ſprachliche als die ſachliche Seite des ſtandinaviſchen Alterthums
machte der Düne Niels Matth. Peterfen zum Gegenftand
feiner Forſchung. Der daniſchen Sprache widmete Chriſtian
Molbech feine Bemühungen.
In Schweden ift es weniger das Altnordiſche Cim engeren
Sinne), als das Altſchwediſche und die Runeninſchriften, was die
Gelehrten beſchäftigt. Als höchſt verbienftlih find hier in erfterer
Beziehung zu nennen bie Leiftungen von J. Er. Rydquiſt,
K. Säve, Sälyter und Guft. Edv. Klemming; in le
gefeiftet, als wenn fie in ihm eine ältere Nieberfegung ihrer eigenen Sprache
befägen. ©. o. ©. 101. — 1) Ueber die irrige Auffaffung des treffligen
Keyfer, als gehöre bie alinordiſche Literatur mehr den Norwegern als ben J8-
ländern an, vgl. Konr. Maurer in ber Zeitschr. für deutsche Philol. I,
3 fg.
734 Vierted Bud. Siebentes Kapitel.
terer die von J. ©. Liljegren, Ri. Dybed, 8. Säve und
Andre. Uppſtröm ). Die grundlegenden Arbeiten des zuletzt
genannten auf dem Gebiet der gothifchen Tertkritit haben wir ſchon
in einem früheren Abſchnitt rühmend erwähnt.
SHhlunf
Werfen wir noch einen Blick auf die Stellung, welde die
germanifhe Philologie gegenwärtig im reife der verwandten Wif-
ſenſchaften und im Leben einnimmt. Ws Theil der gefammten
Sprach⸗ und Literaturforihung fteht fie in veger Wechſelwirkung
mit allen philologifhen Studien. Bor allen ift e8 die ihr ver»
ſchwiſterte romaniſche Philologie, welde die bebeutendften Anveguns
gungen von der germaniſchen empfangen und ihrerſeits wieder
manigfach fürdernd auf die germanifce zurückgewirkt hat. Aber auch
mit den anderen Zweigen der indogermanifgen Philologie fteht
die germaniſche in engfter Beziehung. Wie alle philologiige Wif-
ſenſchaft, Hat fie fi geſchult an ber ftrengen und ausgebildeten
Methode der Haffiigen Philologie. Die Erforfhung des Sanskrit
und des Zend ift ihr, wie allen indoeuropäiſchen Studien, gewinn-
Dringend gewejen. Die wiſſenſchaftliche Unterfuhung einerjeits des
Litauiſchen und der ſlaviſchen Sprachen, anbdrerfeits des Keltiſchen
bat aud der germanifchen Philologie gedient. Anbrerjeits haben
alle diefe Wiffensgebiete die unverfennbarften Einwirkungen von
Seite der germaniſchen Philologie erfahren.
Aber nicht darin allein liegt der Wert der germanischen Philologie,
daß fie ein Glied bildet in ber Kette der gefammten Sprad- und
Literaturforſchung. Ihre weſentlichſte Bedeutung in unferem Bater-
1) ®gl. Thd, Möbius, Ueber die altnord. Philologie im skan-
dinav. Norden. Lpz. 1864.
Sqhluß· 785
land gibt ihr die Stellung, welche fie im Kreife ver Wiſſenſchaften
einnimmt, deren Gegenftand das deutſche Volk ift. Sie fteht in
der engften Beziehung zu dem großartigen Aufſchwung, ben die
Erforſchung der deutſchen Geſchichte nach allen Seiten Hin genommen
hat. Die Thaten und Schidfale des deutſchen Volkes, fein Recht,
feine Kunft, feine gefammte Kultur werden in unfrer Zeit mit
einer Grünblicfeit erforſcht, einer Wärme und Lebendigkeit darge⸗
ftellt, von der frühere Jahrhunderte kaum eine Ahnung hatten.
In dieſem reife nimmt die Erforſchung der deutſchen Sprade und
Literatur eine der wictigften Stellen ein. Nad) langen Wander
ungen in ber Fremde find wir endlich wieber in unfrer eignen
Heimath eingefehrt. Nicht als ſollten wir uns abſchließen gegen
alfe übrigen Völter. Ein ſolches Verfahren könnte nur zu Ver-
Kimmerung und Barbarei führen, und Nichts würde fo fehr dem
Geift und Bildungsgang unferes Volkes widerſprechen. Ein Kultur.
volk fteht im lebendigen Zufammenhang mit den Völkern der Ver-
gangenheit und Gegenwart, auf denen die Entwidelung der Menſch⸗
heit ruht. Es lernt von ihnen allen und nimmt die überflommenen
Elemente in feine Bildung auf.
Bei alle dem aber behauptet ein ebles und Iebensfähiges
Bolt feine Eigenart. Auch ihm ift feine Aufgabe in der Geſchichte
ber Menſchheit zugewieſen, und um fie zu löſen, muß es bie auf
genommenen Bildungselemente in feiner eigenen Weife verarbeiten
und mit den ihm eingepflangten Kräften verſchmelzen. Nirgends
zeigt fih jene Aufrechthaltung der eigenen Art troß ber manig-
faltigften und tieften Einwirkung des Fremden fo entſcheidend, wie
in der Sprade. Auf ihr ruht die Erhaltung des Volfes, und dies
um ſo vormwiegender, wo nicht mehr phyſiſche Verwandtſchaft und
nationale Religion die Gränzen eines Volles umſchreiben. So
aber ift es mit ben Kulturvölkern unferes Beitalters. In dem
unfhägbaren Werth unfrer Sprade liegt zugleich die hohe Bedeu⸗
tung, welde die Wiſſenſchaft von diefer Sprahe und ihrer Literatur
bat. Bon den höchſten Spigen bes geiftigen Lebens bis in bie
weiteften Kreiſe der allgemeinen Volksbildung erftredt fie ihre
Wirkſamleit.
736 Schluß.
Ber möchte bie Wiffenfgaften, bie ums das Weſen und bie
Entwidelung unferes Volles auffäließen, gegen einander abwägen,
ober der einen ben Vorzug vor der anderen ertheilen? Aber wie
die Sprache der tieffte Ausdruck unferes Volkes ift, fo ift die Wif-
ſenſchaft von dieſer Sprache und den in ihr niedergelegten Geiftes-
werfen gleichfam bas Herz der Wiſſenſchaften, bie fih bie Exfor-
{hung unferes Volfes zur Aufgabe gejegt haben.
Regiſter.
Die fehe zablreien Namen der belden Iepten Kuptiel, bie fich leicht an Ort und Sielle
auffinden Tafien, find mar tfellwelfe in daS afphabetifge Regifter aufgmommen.
Adelung, Friebr. 263. Bergmann 246.
Abelung, Joh. Chriſtoph 210. 487. Bernd 487.
Afzelius 469. Bernhard 689.
Albertus 65. Veſold 75.
Amman 185. Beſſell 689.
Anbrene 108. 148. Befleldt 498.
Andreſen 712. Biefler 231.
Ambt 814. 315. Bilderdijt 468.
Atnim 372. Binder 246.
Arntiel 182. Binbfeil 716,
Arr 830. Bidrner 154.
Aufreht 624. Bod 248.
Auffep 588. Dich, 285.
Aventinus 19, 61. Böding 716.
Barrington 195. Vöbifer, 3. 186,
Barthel 677, Bobmer 254. 266.
Bartholin, Alb. 149. Boie 273.
Bartholin, Rasmus 149. Boifferde 494.
Bartholin, Thom. d. &. 149. Bopp 606. 687.
Bartgolin, Thom. d. j. 19. - Botin 480.
Bartſch 672. 694. 703. 708. Bouterwel, Friedr. 659.
Bauer 491. Bouterwel, 8. W. 691.
Bäumlein 605. Borhorn 9.
Bebel 12. Breitinger 254. 266.
Becanus 89. Brentano 372.
Beder, K. Gerd. 625. Brower 59,
Beder, Theo. 626. Bruns 380.
Benede 455. 540. Bureus 105.
Benfey 624. 728. Bürger 282.
Benfon 189. VBüfsing, Ant. F. 252.
Benzel 202. Büpging, I. Guſt. 332. 401,
738 Regifer.
Gamben 98. Fabricius 258.
Campe 487. dichie 314.
Cafaubonus 99. Finsfon 198.
Caſparſon 263. Firmenich 728.
Caſiricomins 98. Fifher 701.
Geitis 18, Flacius 88.
Chyiraeus 245. Flögel 288,
Cholevius 670. dorſtemann 718.
- &lajus 68. ger 9.
Clauberg 87. Frand, Bernh. 180.
Glensby 732. Frangt, Fabian 62.
Clignett 194. 467. Freher 50.
Gonring 49. Freytag 672.
Conybeare 468, Feid 178,
Granmer 96. driſch 189, 244.
Eurtius 622. Frommann 716. 722.
Dahlmann 605. Fulda 209. 216. 246. 247. 249. 330,
Däpnert 244. Gabeleng 688,
Danzel 680. Garbie, be Ia 151.
Daſypodius 84. Gaſſat 38,
Delbrüd 622. Gatterer 49.
Denis 273. Gebauer 605.
Diecmann 176. Geier 469.
Diefenbach 689, TIL. Geliert 268.
Diemer 690. Gelger 677.
Dietrich 691. 692. 693. Gerbert 258.
Docen 343, 351. 395. 498. 486. @erfienberg 272.
Eberhard 488. Gervinus 682.
Chart 168. Geöner Cont. 97.
Egilefon 738. Gesner, Joh. Math. 205.
Eichendorff 670. Giefebreht 605
Eichhorn, 3. Gottfr. 659. Girbert 72.
Eichhorn, Karl Friede. 494. Giſeke 289.
Einarfon 198, Gleim 269.
Eitner 661. Gley 253.
Elichmann 9. Gebete 669. 673. 717.
Ellis 468, Golbaft 52,
Elſtob 195. Golbmann 330.
Elwert 287. Gbraneſon 199.
Erichſen 197, Görres 365.
Erichſon 258. Goethe 283. 290. 298. 321, 49%.
Eigenburg 268. Gotihold 493.
&ttmäller 605. 670. 691. 698. 698. Gättling 498.
uers 498. Goitſchau 676.
Regißer. 439
Gottfejeb 204. 266. Heynag 209.
Gößinger, €. 632. ‚Heyne 688. 689. 691. 711.
Gößinger, Mar W. 632. ‚Heyfe, 3. Ch. A. 491. 69.
Gdz 605. Heyſe, Karl 625. 629.
Grau 205. Hides 129.
Staff 598. Hildebrand TIL,
Gräter 284. 329, 435. 496. Hillebrand 676.
Grein 622. 691. 692. ‚Höfer, Albert 624. 694.
Grimm, Brüder 378, 494. 495. 632. Höfer, Matthi. 491.
648. ‚Hoffmann von Fallersleben 581. 585.
Grimm, Jacob 879. 499. 585. 609. 598. 602.
635. 654, 693. 697. Hofftenius 60.
Grimm, W. 380. 534. 645. ‚Holymann 622. 688. 698. .
Groote, 605. Homeyer 605.
Grotefend 491. Höpfner 686. 720.
Gxotius 95. ‚Horn 659.
Grundtoig 469. Hottinger 187.
Gruppe 673. 720. Sumbofbt 626. 628. 630.
Gryphiander 75. Hunger 48,
Guben 661. Hupel 246.
Gueing 72. Hutten 81.
Guhrauer 680. Huydecoper 193.
‚Hageborn 268. ‚Hwitfelb 101.
‚Hagen 381. 400. 413. 414, 579, Jacobi 688.
‚Halborsfon 198. 471. Jahn 314. 317.
Haltaus 248. Jamiefon 468.
Hamann 276. Jariſamer 64.
Sarnif 419. Ihre 200.
Harsbörffer 71. Ingram 468.
‚Safe 672. Joscelin 97. 183.
‚Hielein 246. 605. Jehnſon 195.
‚Hattemer 689. Jondbloet 781.
Haupt 589. 601. 686. Joneſon, Arngr. 103.
Heinfius 488. 490. Zonsfon, Finne 198.
‚Heinze 209. Zonsfon, Run. 103.
Helwig 87. Jordens 660.
deniſch 86. Zunius 106,
Hennig 246. Kanne 862.
‚Herder 216. 276. 290. Karajan 554. 690.
‚Herling 632. Rausler 695.
er 47. Rate, ten 199.
derzog 661. Kelle 623. 690.
Hettner 676. Keller 694. 709.
Heupel 182. Relpius 243.
440 Regifter.
Remble 731. zübben 694. 695.
Keyßler 182. Lucae 672.
Kilianus 90. Züning 698.
Kinderling 258. Qutger 31. 32.
Kling 605. &ye 194.
Kiopfod 234. 270. 272. Modler 85.
Anittel 252. Maaß 489.
Koberftein 661. 709, Magnus, Joh. 105.
Rob, Ed. Em. 671. Magnus, DL. 105.
Koch, Erduin Jul. 288. Magnusfon, Ami 149. 197.
Ko, Frieder. 695, Magnusfon, Zinn 733.
Köffinger 330. Magnusion, Gubhm. 198.
Köhler 182. 183. Mailsth 330,
Kolbe 489. Mallet 272.
Koltop 64. Mannhardt 727.
Köppen 605, Manning 195.
arachenberger 62. Mafmann 590. 595.
Kromayer 72. Mätner 695.
Kuhn 624. 727. Maurer 692.
Auniſch 661. Meier 248.
Rurz 670. Meisner 243.
LSachmann 457. 540. 595. 602. 696. Meifter 252.
697. Menzel, R. 672.
Lacomblet 605- Menzel, Wolfgang 674.
Lambarde 97. Mercator 92.
Lambed 165. Merula 93.
Zange 605. Meufeba 596.
Langebet 198, Meyer, Joachim 717.
Zappenberg 605. 694. Meyer, X. 672. 705.
Laßberg 584. Meyer, Leo 623. 689.
2zlus 25. Michaeler 252. 263.
Leibniz 155. 159, 248. Milius 98.
Leichtlen 605. Möbius 692.
Leo 605. Moller 182.”
Leſſing 273. Mone 500. 588.
Lerer 696, 723. Mohnike 605.
gilieneron 672. 700. 714. Morhof 155.
Limmaeus 75. Moriz 242.
Lindemann 670. , Mortenfen 101.
Lindenbrog 49. Möfer 284.
Kipfins 98. 95. Müllenhoff 639. 642. 671. 689. 691.
CJele 98. 692. 693. 699. 727.
Löche 688, Müller, Chriſtoph Heint. 258.
Lochell 876. Mälter, Joh. 289. 331.
Regifter.
Müller, Pet. Erasm. 469.
Müller, Wilh. 696. 701.
Mund 732.
Münfter 28.
Murro 11,
Myller, Chriſtoph Heint. 258.
Naft 209. 250.
Nicolai 246. 282.
Nowel 97.
Nyerup 196.
Oberlin 263.
Dechele 604.
Dlafeſon, Jon 198.
Olafsſon, Magn. 103. 148.
Dlafsfon, Of. 198.
Dlafefon, Steph. 148.
Dlearius 72.
Delinger 64.
Opig 60. 70.
Detter 330.
Palthen 176,
Banzer 287. 830.
Parker 96,
Paſch 702.
Pauli 692.
Pauli, ©. 60.
Paus 198.
Vercy 195.
Peringſtidld 154.
Very 494.
Peterſen 252,
Peutinger 17.
Be, Vernh. 181.
Pez, Hier. 181.
Pfaff 500.
Pfeiffer, gram 672. 686. 687. 702.
707. 709. 722,
Pfeiffer, Friedr. 698.
Pigler 672.
Piſchon 660.
Pontanus 94.
Popowitſch 209. 246.
Bott 628.
Prof) 248.
441
Primiſſer 581. 605.
Brup 677. 678,
Mablof 487. 490. 492. 632.
Rafn 738.
Raphelengius 95.
Rapp 676,
Raſt 469. 470. 507.
Raßmann 660.
Ratihius 71.
Rawlinſon, Chriſtoph 139.
Rawlinſon, Richard 195.
Reinbed 491,
Reinwald 330. 435.
Rejenius 146,
Rhenanus 23,
Richey 244.
Richthofen 692.
Rieger 672. 691. 700.
Ritfon 468.
Roſenkranz 672.
Rofigaard 150,
Roth, Georg Mic, 490.
Roth, R. 702.
Rüdert 722.
Rubbed 153.
Rüdiger 242.
Rugman 152.
Rumpelt 688.
Rydquiſt 738,
Sandvig 196.
Scaliger 95.
Schade 589. 688. 690.
Sqede 182.
Scheffer 158.
Scherer 622. 671. 672. 688. 690.
Säe 178.
Sqiller 695.
Schilter 176.
Schimmelmann 286.
Schlegel, Aug. Wild. 304. 322. 326,
851. 452. 607. 622,
Sälegel, Feier. 804, 822. 325. 354.
Söleider 628.
Sälöger 286,
442
Sämeller 555.
Schmid, Joh. Caſp. 245.
Sqhmid, Joh. Phil. 179.
Schmid, Reinhold 691.
Schmidt, Julian 674.
Sqhmitthenner 632.
Sqhobinger 52.
Shöngurh 604.
Shöning 197.
Schottelius 72.
Säubert 493.
Sulz 672.
Säulge 689.
Schuppius 205.
Shüge, Joh. Friedr. 491.
Schüge, Gottfr. 263. 271.
Sqhwarb 727.
Scott 468.
Seyvert 246.
Sichard 47.
Simrod 602.
Stinner 189.
Stulaſon 103,
Smith 139.
Somner 100.
Sotberg 202.
Spangenberg 55.
Speibel 75.
Spelman, Henry 99.
Spelman, John 99.
Stade 173.
Stalder 491.
Start 719.
Stein 494.
Steinbach 187.
Steinheil 491. 500,
Steppanius 102.
Stevin 95.
Stieler 187.
Stjernhjelm 151.
Stoſch 241.
Gtrobtmann 244.
Stubad; 605.
Stumpf 30.
Regifier.
Suhm 195.
Soeinsion 103. 197.
Thomaſius 205.
Thortelin 469.
Toorlacius, Börge 469.
Thorlacius, Stuli 197.
THorlacius, TH. 149.
Thorpe 731.
Thwailes 138. 139.
Tied 296. 322. 323.
Torfafon 148. 149.
Trithemius 15.
Troil 204.
Tichudi 30.
Zurmair 19, 61.
Tumer 468.
Ugland 568. 671.
Uppfiräm 689.
Badianus 29.
Vater 492.
Bebel 101.
Veeſenmeyer 330.
Verelius 152.
Bernalefen 712.
Bibalin 149.
Bigfusfon 738.
Bilmar 668. 672. 691. 728.
Vorſt 183.
Voß 488.
Boffins, Ger. 108. 111.
Voſſius, Iſaak 117.
Bries 780.
Vulcanius 92.
Wadhler 660.
Wachter, Ferd. 605.
Wachter, Joh. Georg 188.
Wadentober 296,
Badernagel, Phil. 671. 715.
Badernagel, With. 597. 668. 705.
Wagenſeil 183.
Bagner 205.
Wait 639. 644. 689.
Wanley 133.
Weber 468.
Regifler.
Wehner 75. Windiſch 691.
Weigand 711. Binterfeld 678.
Weinhold 672. 678. 692. 722. Wiemayr 490.
Weller 672. 678. Wolf, derd. 672,
Werlauff 469. Wolf, Friedt. Aug. 290.
Weftpfal 622. 688. 721. Bolte 489.
Wielod 9. Worm 102. 147.
Wiarda 248. Bader 672. 686. 687.,
Wiedeburg 257. Zahn 830.
Bieland 231. 269. Zarnde 696. 699. 710. 720. "
Biggert 605. Zaupfer 245.
Bilde 698. Zeune 320,
wiltins 189. Ziemann 605. 696, .
Billems 730. Zingerle 672,
Billenbüger 252. Zupiba 705.
Wimpheling 10. 16.
Dont von @. 19. Jacob in Erlangen.
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